Die Geburt des Russländischen Imperiums: Herrschaftskonzepte und -praktiken im 18. Jahrhundert [1 ed.] 9783412518202, 9783412518189


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Die Geburt des Russländischen Imperiums: Herrschaftskonzepte und -praktiken im 18. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412518202, 9783412518189

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA JOACHIM VON PUTTKAMER FRITHJOF BENJAMIN SCHENK BAND 53

Die Geburt des Russländischen Imperiums HERRSCHAFTSKONZEPTE UND -PRAKTIKEN IM 18. JAHRHUNDERT

VON RICARDA VULPIUS

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gefördert von der Gerda Henkel Stiftung Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte die Publikation unter dem Geschäftszeichen VU 70/1-1 und VU 70/1-2.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlagabbildung: Ein Kosake im Süden des Russländischen Reiches, eingesetzt zur Bewachung einer Festungslinie mit Wachturm im Hintergrund. Chromolithographie aus dem frühen 19. Jh. N.M. Štukaturova: Kostjum narodov Rossii v grafike 18-20 vekov iz fondov Gosudarstvennoj central’noj teatral’noj biblioteki. Moskau 1990, 44. Korrektorat: Anja Borkam Satz: büro mn, Bielefeld Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51820-2

I N H A LT

VORWORT  ..................................................................................................................  7 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS  . . .........................................................................  10 VERZEICHNIS DER KARTEN  ............................................................................  11 1 EINLEITUNG  ........................................................................................................  1.2  Das Thema  .......................................................................................................  1.2  Die Terminologie  . . ..........................................................................................  1.3  Theoretische und methodologische Fragen  ..............................................  1.4  Der Forschungsstand und die Quellen  . . .....................................................  1.5  Der Aufbau der Arbeit  ................................................................................... 

13 13 22 27 42 48

2. DAS KONZEPT DER UNTERTANENSCHAFT ALS INSTRUMENT DER IMPERIUMSBILDUNG  .................................  2.1  Die Entstehung des Konzepts von Untertanenschaft  .............................  2.2  Die Kriterien russländischer Untertanenschaft  . . ......................................  2.3  Untertanenschaft, Staats- und Imperiumsbildung  . . .................................  2.4 Zusammenfassung  . . ........................................................................................ 

51 53 73 80 99

3. DIE GEISELHALTUNG ALS IMPERIALES UND KOLONIALES INSTRUMENT  . . ..........................................................  3.1  Globalgeschichtliche Betrachtung  . . ............................................................  3.2  Mongolischer Transfer? Die mittelalterliche Geiselpraxis im ostslawischen Raum  ....................  3.3  Die Herausbildung der Geiselhaltung im Moskauer Reich  ..................  3.4  Die neue Dimension im 18. Jahrhundert: Amanatstvo und Zivilisierungsmission  . . ....................................................  3.5 Amanatstvo in verschiedenen Modellen  . . ..................................................  3.6 Zusammenfassung  . . ........................................................................................  4. KONZEPTE UND PRAKTIKEN DER ZIVILISIERUNG UND EINGLIEDERUNG  ...................................................................................  4.1  Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘  . . ............................  Zusammenfassung  ..........................................................................................  4.2  Das Territorium: Festungsbau und Festungslinien  .................................  Zusammenfassung  ..........................................................................................  4.3  Die Religion: Staatliche Missionierungspolitik  ......................................  Zusammenfassung  .......................................................................................... 

101 102 107 115 136 145 189

193 194 231 233 279 282 319

6

Inhalt

4.4  Wirtschaft und Lebensweise: Offensive für Sesshaftigkeit  ..................  Zusammenfassung und Ausblick  ........................................................................  4.5  Herrschaft und Recht: Transformation indigener Strukturen  ...............  Zusammenfassung und Ausblick  ........................................................................  4.6  Politische Kultur: Loyalität durch Gnade und Gabe  ..............................  Zusammenfassung  . . ................................................................................................ 

321 373 377 452 456 493

5. SCHLUSSBETRACHTUNG  . . ...........................................................................  495 6. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS  .. .......................................  519 6.1 Quellen  . . ............................................................................................................  519 6.2 Sekundärliteratur  ............................................................................................  528 7. ABBILDUNGSNACHWEISE  ..........................................................................  595 8. REGISTER  . . ............................................................................................................  599 8.1 Personenregister  .. ............................................................................................  599 8.2  Geographische und ethnische Bezeichnungen  .. .......................................  605

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 2018 von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-­Maximilians-­Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Auf dem Weg dorthin haben mir viele Menschen und Institutionen geholfen. Ihnen möchte ich an dieser Stelle für ihre Begleitung, Unterstützung, ihre Hinweise und Ratschläge von Herzen danken. An erster Stelle gilt mein Dank Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, der mir als Leiter des wissenschaftlichen Mentorats meines Habilitationsprojektes nicht nur die nötigen Freiräume gewährte, mich aktiv bei der Realisierung meines Vorhabens unterstützte, sondern mich auch immer sein Vertrauen spüren ließ, dass meine viele Jahre währende Forschung zu einem guten Ende kommen werde. Auch Prof. Dr. Christoph Neumann und Prof. Dr. Martin Aust haben mir als Mentoren wertvolle Hinweise und Tipps gegeben und das Manuskript abschließend kritisch begutachtet. Martin Aust stand mir als langjähriger Freund und Gefährte in der Wissenschaft jederzeit als anregender Gesprächspartner zur Verfügung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft schuf mir mit der „Eigenen Stelle in Teilzeit“ luxuriöse Bedingungen für das wissenschaftliche Arbeiten als ­Mutter von drei Kindern. Die Bayerische Gleichstellungsförderung und die Gerda Henkel Stiftung machten es mit großzügigen Forschungsstipendien möglich, das umfangreiche Projekt zu einem Abschluss zu führen. Allen drei Einrichtungen gebührt mein großer Dank. Über zehn Jahre hinweg konnte ich mich auf die Hilfe der Mitarbeiter der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin verlassen, und hier ganz besonders auf die Fernleihe, die mir Materialien aus den entlegensten Regionen der Welt beschaffte. Markus Bresgott von der Digitalisierungsabteilung danke ich für sein Geschick, mit dem er jedes Problem bei der Digitalisierung alter Abbildungen überwand. Unentbehrlich für mein Projekt war der kollegiale Austausch. An erster Stelle möchte ich John LeDonne und dem viel zu früh verstorbenen Marc Raeff danken, die mich beide nicht nur entscheidend zu meinem Thema inspirierten, sondern deren reges Interesse an meinem Projekt und deren kritische Anmerkungen in langen Briefen noch in der Frühphase meiner Arbeit wichtige Weichen stellten. Michael Khodarkovsky danke ich für den immer wieder fruchtbaren Austausch von Sapporo bis Philadelphia, Willard Sunderland für ein grundlegendes Gespräch in Washington D. C. und mehr noch als allen anderen Andreas Kappeler, der mir über zehn Jahre hinweg nicht nur mit seinem Rat zur Seite stand, sondern auch einzelne Kapitel gegenlas und kritisch kommentierte. Darüber hinaus verdanke ich wesentliche Impulse imperiumsgeschichtlichen Konferenzen, so insbesondere der von Tomohiko Uyama organisierten Konferenz

8

Vorwort

zum „Asiatischen Russland“ in Japan, der von Matthias Middell geleiteten Tagung zur Globalisierung im 18. Jahrhundert am Comer See, der vergleichs- und beziehungsgeschichtlichen Imperiumskonferenz, die Martin Aust, Aleksej Miller und ich in Moskau veranstalteten, der begriffsgeschichtlichen Konferenz von Ingrid Schierle, Denis Sdvižkov und Aleksej Miller in Moskau, der von Ulrike Jureit durchgeführten Tagung zu Raumbildern, Ordnungswille und Gewaltmobilisierung in Hamburg und dem von Damien Tricoire organisierten Workshop zum Zusammenhang von Aufklärung und Kolonialismus in Halle. Die Konzeption und Teile der Arbeit konnte ich auf zahlreichen Forschungskolloquien präsentieren und zur Diskussion stellen. Dabei habe ich von Fachkollegen wertvolle Kritik, Anregungen und Hinweise erhalten. Danken möchte ich stellvertretend den Leitern und Teilnehmern der Forschungskolloquien am Davies Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard University, an der LMU München, an der Humboldt-­Universität zu Berlin, an den Lehrstühlen von Bielefeld, Konstanz, Tübingen, Bonn, Freiburg, Basel und Erlangen, am Hamburger Institut für Sozialforschung und besonders dem kleinen, aber sehr feinen Publikum von Hoddesdon, dem jährlichen Treffpunkt der britischen 18th Century Study Group. Neben den bereits genannten Personen haben zahlreiche Kollegen und Freunde mein Forschungsprojekt mit Hinweisen auf Literatur, auf bestimmte Quellen oder durch intensive Gespräche bereichert. Stellvertretend ­seien hier genannt Reinhard Frötschner, Dominik Geppert, Caroline Hasselmann, Charlotte Henze, Ulrich Hofmeister, Kerstin S. Jobst, Gleb Kazakov, Colum Leckey, Maximilian Müller-­ Härlin, Frithjof Benjamin Schenk, Silke Strickrodt, Denis Sdvižkov, Vanessa de Senarclens, Ulrike Wels und Martina Winkler. Eine Sternstunde in meinem Leben schenkten mir Ulrike von Arnim, Anne Dietrich und Maximilian Müller-­Härlin mit dem „Symposium der Freunde“ anlässlich der Abgabe meiner Habilitationsschrift, auf dem ich meine Ergebnisse vor Juristen, Literaturwissenschaftlern, Medizinern, Wirtschaftswissenschaftlern und Bauingenieuren vorstellen durfte. Mit kritischem Blick und wertvollem Feedback haben das Manuskript der Arbeit bzw. einzelne Kapitel gelesen Franziska Davies, Charlotte Henze, Ulrich Hofmeister, Stephan Iro, Matthias Graf von Kielmansegg, Ekaterina Makhotina, Maximilian Müller-­Härlin, Frithjof Benjamin Schenk, Dittmar Schorkowitz und Axel Vulpius. Meine Schwester Carola Vulpius hat die gesamte Habilitationsschrift Korrektur gelesen. Ihnen allen, die diese Arbeit neben ihrem eigenen ­dichten Berufsleben untergebracht haben, gebührt mein großer Dank. Den Herausgebern der Reihe „Beiträge zur Geschichte Osteuropas“ danke ich für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe und für ihre hilfreiche Kritik, ganz besonders unter ihnen Frithjof Benjamin Schenk, der mir nicht nur zum prägnanten Titel dieser Arbeit verhalf, sondern mich durch alle Höhen und Tiefen während der letzten zehn Jahre begleitet und mich nach ganzen Kräften unterstützt hat. Ich

Vorwort

9

danke dem Böhlau-­Verlag für seine professionelle Begleitung in der Schlussphase der Manuskripterstellung, dem Korrektorat für seine Sorgfalt und Ausdauer und ganz besonders der Gerda Henkel Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung des Drucks. Neben meinen Eltern, die mir immer zur Seite standen, und meinen drei Kindern, die mein Leben unermesslich glücklich machen, gilt mein größter Dank last, but not least meinem Mann Matthias. Ohne seinen Beistand, seinen Zuspruch und seine Liebe hätte ich d­ ieses Buch bestimmt nie beenden können; ihm ist es gewidmet. Die Schreibweise nichtdeutscher Termini richtet sich in dieser Arbeit nach der gängigen wissenschaftlichen Transliteration, wobei die russische Rechtschreibung an die heutigen Normen angepasst wurde. Der Lesbarkeit zuliebe wurde eine Ausnahme bei der Transliteration häufig verwandter Ortsbezeichnungen oder Ethnonyme wie „Kasachen“ oder „Baschkiren“ gemacht. Statt der wissenschaftlichen Formen „Kazachen“ und „Baškiren“ kamen hier die „Duden“-Transkriptionen zum Einsatz. Bei den Kasachen kommt erschwerend hinzu, dass es diese Bezeichnung in den Quellen nicht gibt, da Kasachen auf Russisch bis ins 19. Jahrhundert als kirgiz-­kajsaki bezeichnet wurden. Alle auf das Zarenreich bezogenen Datumsangaben werden entsprechend dem damals gültigen Julianischen Kalender angegeben.

A BK Ü R Z U NGSV E R Z EIC H N IS

AAĖ

Akty, sobrannye v bibliotekach i archivach Rossijskoj Imperii Archeografičeskoju Ėkspedicieju Imperatorskoj Akademii Nauk AI Akty istoričeskie, sobrannye i izdannye Archeografičeskoju Kommissieju DAI Dopolnenija k Aktam istoričeskim, sobrannyja i izdannyja Archeografičeskoju Kommissieju FOG Forschungen zur osteuropäischen Geschichte JbfGO Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas KabRO Kabardino-­Russkie Otnošenija v 16 – 18 vv. KRO Kazachsko-­Russkie Otnošenija MERSH Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History MipsK Materialy po istorii političeskogo stroja Kazachstana MpiB Materialy po istorii Baškortostana MpiB ASSR Materialy po istorii Baškirskoj ASSR MpiK SSR Materialy po istorii Kazachskoj SSR PiB Pis’ma i Bumagi Petra Velikago PSPR Polnoe Sobranie Postanovlenij i Rasporjaženij po vedomstvu Pravoslavnago Ispovedania Rossijskoj Imperii PSRL Polnoe Sobranie Russkich Letopisej PSZRI Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii, serija 1 RD agO Russko-­Dagestanskie Otnošenija RM ongO Russko-­Mongol’skie Otnošeniija RTurkO Russko-­Turkmenskie Otnošenija SIRIO Sbornik Imperatorskago Rossijskago Istoričeskago Obščestva SGGD Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjaščichsja v Gosudarstvennoj kollegii inostrannych del

V E R Z EIC H N IS DE R K A RT E N Abb. 2 Abb. 7 Abb. 13 Abb. 14

Der Nordkaukasus mit der Festung Tersk Der Nordpazifikraum mit Kamčatka und Russisch-­Amerika Die Umkreisung baschkirischer Siedlungsgebiete durch Festungslinien Die Orenburger Festungslinie vom Kaspischen Meer bis zum Altaj-­ Gebirge Abb. 18 Die Bukej-­Horde und Zentralasien im 19. Jahrhundert Abb. 19 Die Festungslinien im Nordkaukasus und die russländische Südgrenze von 1829

1. EI N L EI T U NG

1.1  Das T hema Nach dem großen Sieg über Schweden im Nordischen Krieg ließ sich Zar Peter I. 1721 den Titel eines „Imperators“ verleihen. War das Land bislang als Moskauer Rus’, als Zartum oder Staat, als Rus’(s)isches Land oder als Russland bezeichnet worden, verwandelten die Zeitgenossen es nun begrifflich in ein „Imperium“. Bedeutete dies einen Einschnitt? Wenn ja, was veränderte sich dadurch? Hatte es vorher etwa in der Wahrnehmung der Staatselite noch kein Imperium gegeben? Und was verstanden die Zeitgenossen Peters I. und seiner Nachfolgerinnen unter einem Imperium? Legte das damalige Verständnis die Grundlage für ein imperiales Bewusstsein, das bis heute in Russland fortwirkt? Der Historiker Reinhart Koselleck hat gewinnbringend vorgeschlagen, z­ wischen solchen Begriffen zu unterscheiden, die aus den Quellen stammen, und solchen, die in der historischen Analyse verwandt werden. Blickt man im Sinne dieser Unterscheidung auf den Terminus Imperium als Kategorie analytischer Erkenntnis und fragt mit dem heutigen Imperiumverständnis nach der Entstehung des russländischen Vielvölkerreiches, so gilt die Eroberung der beiden westlichsten Bastionen der Goldenen Horde, nämlich der Chanate von Kazan (1552) und Astrachan (1556), durch das Moskauer Großfürstentum als sein Beginn.1 Zwar waren auch schon zuvor nicht-­russischsprachige und nicht-­orthodoxe ethnische Gruppen im Norden inkorporiert worden. Doch handelte es sich bei den Chanaten der Horde zum ersten Mal um die Einverleibung souveräner Staaten mit dynastischer Legitimation und einer fremden Hochkultur, deren Mitglieder einer nicht-­christlichen Religion, nämlich dem Islam, anhingen und die über eine den Russen vergleichbar ausdifferenzierte Sozialstruktur verfügten.2 Die Achtung, die die russische Seite allen drei Chanaten der Goldenen Horde, Kazan, Astrachan und dem im 17. Jahrhundert eroberten Sibir’ (Sibirien), entgegenbrachte, drückte sich auch darin aus, dass diese in russischen Quellen seit 1 K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 19; H osking , Russia, 3 f. – Ausführlich zur Definition von Imperien weiter unten (1.2). 2 K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 19; ders ., Vom Moskauer Fürstentum, 157 – 178. – In den jüngst erschienenen Überblickswerken russländischer Imperiumsgeschichte sehen auch Nancy Kollmann, Valerie Kivelson und Ronald Grigor Suny in der Eroberung von 1552 eine neue Qualität in Moskaus imperialer Geschichte. Zugleich betonen sie aber, dass schon die gewaltsame Expansion des Moskauer Fürstentums imperiale Züge trug. Die Herrschaft über nicht-­slawische und nicht-­christliche Untertanen habe schon um 1450 begonnen. K ollmann , The Russian Empire, 41, 55; K ivelson /S uny , Russia’s Empires, 54, 61 – 62.

14

Einleitung

jeher als „Zartümer“ bezeichnet worden waren. Als das Moskauer Großfürstentum den Kampf um die Vorherrschaft über die Chanate gewonnen hatte, beanspruchten die Moskauer Herrscher entsprechend die Titel „Zar von Kazan, Astrachan und Sibirien“ für ihre eigene Herrschertitulatur. Während die Bezeichnung „Zar und Großfürst von ganz Russland“ durch die Umbenennung in „Allrussländischer Imperator“ ab 1721 in der offiziellen Titulatur in den Hintergrund trat, blieben die drei tatarischen Zarentitel bis zum Ende des Reiches im Februar 1917 erhalten. Sie brachten deutlich den Anspruch zum Ausdruck, dasjenige Reich beerbt zu haben, unter dessen Herrschaft die Russen selbst über zweihundert Jahre lang gestanden hatten.3 Doch trotz dieser eindeutigen Anzeichen, den Untergang eines alten Reiches für die Entstehung eines neuen genutzt zu haben, finden sich in den Quellen des späten 16. und in jenen des 17. Jahrhunderts noch wenig Hinweise auf ein Bewusstsein der Zaren und ihrer Regierungselite, Herrscher über ein Imperium zu sein – über ein Reich, das sich in verschiedene Peripherien mit jeweils unterschiedlichen ethnischen Gruppen unterteilen lässt.4 Der neue Staat vermochte oder intendierte nicht, auf imperiale Weise zu sprechen. Vielmehr basierte die Politik mit wenigen, wenngleich nicht unwichtigen und in dieser Arbeit noch zu thematisierenden Ausnahmen nach wie vor auf den Prinzipien des Patrimonialstaates, der votčina, die die politischen Beziehungen ­zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen während der Teilungszeit der Fürstentümer der Kiever Rus’ bestimmt hatten.5 Nach diesen Prinzipien waren die Untertanen in ihrer Beziehung zum Herrscher grundsätzlich gleichgestellt. Eine prinzipielle Unterscheidung ­zwischen Ländereien mit russischer und nicht-­russischer, mit orthodoxer und nicht-­orthodoxer Bevölkerung fand nicht statt.6 Dabei hatte sich mit der Eroberung Sibiriens bis an Chinas Grenze sowie mit der Übernahme der linksufrigen Ukraine weit über die Chanate von Kazan und 3 K appeler , Formirovanie Rossijskoj imperii, 94 – 112; S zeftel , The Title of the Muscovite ­Monarch, 59 – 81; de M adariaga , Tsar into Emperor, 351 – 381; U spenskij , Car’ i imperator; S olodkin : O prinjatii Borisom Godunovym titula Sibirskogo carja, 55 – 57. 4 R aeff , Patterns of Russian Imperial Policy, 157; K ollman , The Russian Empire, 55. – Eine Ausnahme bildet das Testament Ivans III. von 1503/1504: Unter den Untertanen des Großfürsten werden ausdrücklich zahlreiche nicht-­russische ethnische Gruppen wie die Mordvinen, Čeremissen, Ostjaken und Vogulen genannt. Duchovnye i dogovornye gramoty velikich i udel’nych knjazej 14 – 16 vv., 356 f.; K appeler , Ethnische Minderheiten im Alten Russland, 135. 5 F iljuškin , Problema Genezisa Rossijskoj Imperii; K amenskij , Poddanstvo, Lojal’nost’, P ­ atriotizm; V odoff , Contribution à l’histoire du vacabulaire politique. 6 Dies schloss jedoch nicht aus, dass nach dem Gesetzbuch von 1649 verschiedenen ethnischen Gruppen unverletzliche Rechte auf bestimmte Ländereien verliehen wurden. Uloženie Kap. 16, Art. 13 – 14. In: PSZRI Bd. 1, Nr. 1 (29. 1. 1649), 1 – 161, hier 76; K ivelson , Claiming Siberia, 30; dies .: Cartographies of Tsardom, 202 – 203.

Das Thema

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Astrachan hinaus bereits ein umfassendes Herrschaftsgebilde in Gestalt zahlreicher verschiedener ethnischer Gruppen, Konfessionen und halbselbständiger politischer Einheiten gebildet – ein Imperium de facto.7 Da das Moskauer Reich jedoch weitgehend am patrimonialen Diskurs festhielt, hat Aleksandr Filjuškin vorgeschlagen, für diese Phase den Begriff des neonatal’naja Imperija einzuführen, eines „Imperiums im Säuglingsstadium“.8 Erst vor ­diesem Hintergrund wird die Bedeutung erkennbar, die – so die Argumentation der vorliegenden Arbeit – dem 18. Jahrhundert in der Entwicklung des Russländischen Reiches zukam: Es ist das Jahrhundert, in dem sich die Kluft ­zwischen einem Imperium als analytischer Erkenntnis- und einem solchen als Quellenkategorie schließt. In dieser Zeitspanne, eingerahmt von der Zarenherrschaft Peters I. und Katharinas II., vollzog sich durch die Übernahme des zunächst dichotomischen Konzepts von Zivilisiertheit und Barbarei aus dem ‚westlichen Europa‘ ein tiefgreifender Wandel tradierter Denkweisen und Praktiken der russländischen Elite.9 Er resultierte erst jetzt in der Herausbildung eines umfassenden imperialen Bewusstseins und erlaubt in d­ iesem Sinne, für das 18. Jahrhundert von der Geburt des Russländischen Imperiums zu sprechen.10 Dieser Wandel drückte sich – so die zentralen Thesen der Arbeit – erstens darin aus, dass Peter I. und sein Gefolge mit der Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit einen Zivilisierungsdiskurs gegenüber nicht-­christlichen ethnischen Gruppen im Süden und Osten anstieß, bei dem die eigene russische sowie akkulturierte russländische Bevölkerung als Modell Pate stand, einschließlich der bäuerlichen und unabhängig davon, dass Peter I. auch einen Diskurs der Selbst­ zivilisierung anstieß.11 Zweitens blieb es nicht bloß beim Diskurs, vielmehr schlug 7 Den Ausdruck de facto Empire verwendet K ollmann , The Russian Empire, 41. 8 F iljuškin , Problema Genezisa Rossijskoj Imperii, 379. – Jane Burbank und Frederick Cooper sprechen vom „patrimonialen Imperium“. B urbank /C ooper , Imperien der Weltgeschichte, 252. 9 Die Anführungsstriche bei der Bezeichnung ‚westliches Europa‘ verweisen auf den Konstruktionscharakter derartiger geographischer Zuordnungen. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. wurden ein positiv konnotiertes ‚westliches‘ Europa und entsprechend dazu ein ‚Osteuropa‘ ‚erfunden‘ sowie ,Russland‘ zunehmend Letzterem zugeordnet und damit mental aus dem ‚westlichen‘ Europa ausgeschlossen. W olf , Inventing Eastern Europe; K lug , „Europa und europäisch“ im russischen Denken; K appeler , Russland und Europa – Russland in Europa. 10 Jean-­Paul G uichard gab seinem 2018 erschienenen Buch den Titel „L’Émergence de l’Empire Russe. L’Europe byzantine jusqu’à Catherine II“, behandelt darin jedoch die außenpolitische Entwicklung des Zarenreiches über vier Jahrhunderte und hier insbesondere die territorialen Erwerbe im Westen. 11 Ausführlich zu der Frage, was die Akteure unter ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisierung‘ verstanden, in den einzelnen Kapiteln, in Kap. 4.1 und in der Schlussbetrachtung. – Die Bezeichnung ‚nichtrussische Völker im Süden und Osten des Zarenreiches‘ ist kein Quellenbegriff und bezieht eine Vielzahl heterogener ethnischer Gruppen ein. Die Bezeichnung dient nur der grundlegenden Unterscheidung z­ wischen der Politik gegenüber den inkorporierten oder eroberten christlichen

16

Einleitung

sich der Wandel beginnend mit Peter I., intensiviert unter den Kaiserinnen Anna und Elisabeth und nur noch graduell gesteigert unter Katharina II ., auch in einer Politik der ‚Zivilisierung‘ nieder. Diese ‚Zivilisierungspolitik‘ bedeutete drittens im Kontext der russländischen Tradition von Staatsbildung den Beginn vielfältiger Strategien, nicht-­christliche ethnische Gruppen mit dem Ziel verändern zu wollen, sie mit dem Titularvolk zu ‚verschmelzen‘ oder sie mindestens so nah wie möglich an ­dieses heranzuführen. Im Zuge dieser Akkulturierungs- und partiellen Assimilierungsabsichten mündete der Wandel imperialer Denkweisen und Praktiken teilweise in eine Herrschaft mit kolonialem Charakter. Damit plädiert die Arbeit viertens dafür, russländische Herrschaft schon für das 18. Jahrhundert, wenn auch zeitlich und geographisch begrenzt, gegenüber der komparativen Kolonialismusforschung zu öffnen.12 Und fünftens wird in der Arbeit als treibende Kraft hinter dem Wandel zu kolonialer Politik die russländische Rezeption einzelner Narrative der Aufklärung identifiziert. Mit dieser Analyse soll daher ein Beitrag dazu geleistet werden, das Zarenreich aus der Perspektive der Historiker in die weltweite Forschung zum umstrittenen Zusammenhang von Kolonialismus und Aufklärung einzubeziehen.13 Mit den genannten Thesen wird in mehrerlei Hinsicht anderslautenden Auffassungen in der Forschung entgegengetreten oder für Modifizierungen plädiert. Zum ­Ersten ist es das Anliegen, einen Beitrag zur Periodisierungsdebatte zu leisten und damit jüngeren Auffassungen zu widersprechen, wonach die petrinische Epoche nicht als bedeutender Einschnitt für die russländische Imperiumsgeschichte aufzufassen sei. Eine Reihe von Historikern führte in den letzten zwei Jahrzehnten gewichtige Argumente dafür an, warum die frühere Einteilung, wonach die Frühe Neuzeit mit der petrinischen Epoche und festgemacht an Peters Ausrufung zum „Imperator“ im Zarenreich zu ihrem Ende gekommen sei, nicht zu halten und

Völkern ‚im Norden und Westen‘ und jener gegenüber den nicht-­christlichen Völkern ‚im Süden und Osten‘. Mehr Details zu den ethnischen Gruppen im Süden und Osten weiter unten (1.3). 12 In der internationalen Kolonialismusforschung wird das Zarenreich bislang wenig berücksichtigt. E ckert , Kolonialismus; R einhard , Kleine Geschichte des Kolonialismus. – Schon 1976 klagte Urs Bitterli darüber, dass westliche Historiker gern vergessen, „daß auch die Geschichte Rußlands Phasen kolonialistischer Ausbreitung gekannt hat“. B itterli , Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, 59. Weitere Autoren, die die die Einbeziehung des Zarenreiches in die allgemeine Kolonialismusforschung fordern, sind J obst , Orientalism; dies .: Where the Orient Ends?; ­K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier; ders ., Colonial frontiers in Eighteenth Century Russia; John Darwin bezeichnet das Zarenreich ab dem 18. Jh. als „colossal colonialist“. D arwin , After Tamerlane, bes. 119. 13 Erste Ansätze dazu in V ulpius , Civilizing Strategies. – Die Debatte zum komplexen Verhältnis von Aufklärung und Kolonialismus begann Michèle D uchet schon vor fast fünfzig Jahren: Anthro­pologie et Historie, bes. Kap. 18. Einen ­kurzen Überblick über die Debatte seither vermittelt T ricoire , Introduction, 2 – 5.

Das Thema

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vielmehr durch die Beschreibung einer Phase relativer Kontinuität von grob 1500 bis etwa 1800 zu ersetzen sei.14 Die traditionelle Einteilung mit ihrem Fokus auf Peter I. habe sich ausschließlich am Zentrum anstatt gleichermaßen an den Provinzen orientiert, sie habe an Stelle der breiten Bevölkerung nur die Elite in den Blick genommen und sei dem Eindruck einer tiefgreifenden Säkularisierung erlegen, obwohl de facto religiöse Glaubensüberzeugungen und Praktiken weiterhin von großer Bedeutung geblieben s­ eien. Auch die Heiratspolitik der herrschenden Dynastien der Rjurikiden und Romanows verweise insofern auf eine konsistente Entwicklung von 1495 bis 1797, als nur in dieser Phase mit wenigen Ausnahmen die Bräute für die Zaren nicht aus dem Ausland, sondern aus den Reihen der eigenen Dienstleute ausgesucht worden s­ eien. Mithin sei es erst mit der Verfahrens­ änderung durch Zar Paul I. gelungen, das Ringen hochrangiger Familien um Macht und Einfluss bedeutend einzuschränken.15 Vor allem aber wird damit argumentiert, dass die bislang Peter I. zugeschriebenen Neuerungen bei näherem Hinsehen alle ihren Durchbruch bereits im 17. Jahrhundert und damit vor ihm gehabt hätten.16 Dazu wird die Trennung des Staates von der Person des Zaren genauso gezählt wie die Etablierung ‚des Westens‘ als dem künftig prägenden ‚Anderen‘ für die Herausbildung einer russischen nationalen Identität.17 Auch die Hervorhebung des Ausmaßes petrinischer Expansion halte einem Vergleich mit dem Umfang früherer Expansionen nicht stand.18 Vor allem aber wird mit Blick auf die Kategorie des Imperiums behauptet, es habe im 18. Jahrhundert keine, im Vergleich mit der Entwicklung früherer Jahrhunderte bedeutsamen Einschnitte gegeben.19 Vielmehr könne frühestens Ende des 18., wenn nicht überhaupt erst im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert die Rede davon sein, dass die russländische Elite das Zarenreich als Imperium auffasste. Diese Sichtweise, dass es erst im 19. Jahrhundert zu einer imperialen Politik gekommen sei, ­welche die Lebensweise und Herrschaftsstile inkorporierter nicht-­christlicher ethnischer Gruppen zu verändern suchte, hat Anhänger unter Historikern der Frühen Neuzeit wie der Neuzeit gefunden.20 14 W augh , We have never been modern; K ollmann , The Russian Empire, 6; O strowski , The End of Muscovy. 15 M artin , The Petrine Divide and the Periodization. 16 T roebst , Schwellenjahr 1667?; P lokhy , The Origins of the Slavic Nations, 296. 17 Diese Elemente hatte einst Vera Tolz als Beiträge Peters I. hervorgehoben. T olz , Russia, 42 – 43. 18 O strowski , The End of Muscovy, 430 – 431. 19 L e D onne , Building an Infrastructure of Empire; O strowski , The End of Muscovy, 431. – Ilya Gerasimov sieht frühestens ab Katharina II. die Entwicklung hin zu einer dezidiert imperialen Politik. G erasimov , The Great Imperial Revolution, 33. 20 Vgl. neben Ostrowski auch K ollmann , Comment: Divides and Ends, 324; und B aberowski , Auf der Suche nach Eindeutigkeit, 487/488.

18

Einleitung

Vor dem Hintergrund dieser Debatte ist es ein besonderes Anliegen der Arbeit, die Qualität des Wandels imperialer Politik im 18. Jahrhundert und insbesondere die Ära Peters I. als imperiumsgeschichtlichen Epocheneinschnitt herauszuarbeiten.21 Am Beispiel der Imperiumsgeschichte soll damit zugleich gezeigt werden, dass es hilfreicher ist, Periodisierungen stärker an einzelnen Politikfeldern festzumachen als mit generalisierenden Rundumschlägen die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem zu negieren. Die Debatte führt zudem dazu, auch in der vorliegenden Arbeit durchweg hohe Aufmerksamkeit der Frage zu widmen, inwiefern die konkreten imperialen Herrschaftskonzepte und -praktiken der russländischen Elite im 18. Jahrhundert Altbekanntes fortsetzten oder Neues einleiteten. Zum Zweiten widerspricht die Arbeit der Auffassung, wonach der mit der Europäisierung und Verwestlichung einhergehende Zivilisierungsdiskurs Peters I. sowie das Bemühen um eine ‚Zivilisierungspolitik‘ das ganze Reich in gleicher Weise umfasst habe. Nach dieser Meinung habe es im 18. Jahrhundert keine Unterscheidung z­ wischen einer Selbst- und einer Fremdzivilisierung gegeben; beides habe vielmehr auf ein und demselben Diskurs beruht.22 Diese Sichtweise verdeckt jedoch, dass die Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit die russländische imperiale Elite dazu bewog, sich nicht nur wie bisher fremde Herrschafts- und Kulturräume anzueignen, sondern vor allem zu versuchen, diese nach dem Maßstab der Lebensweise der russischen oder russländisch akkulturierten Bevölkerung des ‚Mutterlandes‘ umzugestalten. Eine Betrachtung, die nicht z­ wischen Selbst- und Fremdzivilisierung unterscheidet, läuft Gefahr, einer einheitsstaatlichen Sichtweise in der Tradition der Nationalgeschichtsschreibung russischer Historiker des 19. Jahrhunderts zu verfallen. Darüber hinaus wird der (allgemein unbestrittenen) russischen/russländischen Zivilisierungsmission des 19. Jahrhunderts ihre Entstehungsphase und bedeutende Vorgeschichte genommen.23 Zum Dritten werden die Auffassungen zum Verhältnis von Imperium und vorgestellter Nation im russländischen Fall mit Blick auf das 18. Jahrhundert hinterfragt. Es wird die Ansicht bezweifelt, wonach innerhalb des Zarenreiches begrifflich noch kein Unterschied z­ wischen ethnisch homogen verstandenen Gruppen (nacija) und einem die Bevölkerung des ganzen Imperiums umfassenden Staatsvolk gemacht 21 James Cracraft, der zwar die petrinische Ära als epochalen und revolutionären Einschnitt für die russische Geschichte ansieht, ließ die Sphäre imperialer Politik weitgehend außen vor. C racraft , The Revolution of Peter the Great; ders .: The Petrine Revolution in Russian Culture; ders ., Empire versus Nation. 22 B aberowski , Auf der Suche nach Eindeutigkeit, 487, 495; H ildermeier , Geschichte Russlands, 549 – 557; O sterhammel , „The Great Work of Uplifting Mankind“, 392 – 395. 23 Zur Idee einer russischen/russländischen Zivilisierungsmission im 19. Jh. B assin , Imperial ­Visions; H ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren.

Das Thema

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und sie vielmehr noch als Synonyme betrachtet worden ­seien.24 Und es wird die Auffassung zurückgewiesen, es habe sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter der russländischen Elite mental eine mit Werturteilen aufgeladene geographische Teilung des Reiches in einen europäischen und einen asiatischen Teil durchgesetzt, bei der Letzterer die Gestalt eines kolonialen Gegenübers angenommen habe.25 Wie die vorliegende Arbeit hingegen zeigt, war sich die russländische Elite des 18. Jahrhunderts sehr wohl der Nicht-­Kongruenz von russisch dominiertem Staatsvolk und nicht-­russischen Peripherien, von russländischer Untertanenschaft (Zugehörigkeit zum Imperium) und nicht-­russischer ‚Nations‘zugehörigkeit im Sinne der Zugehörigkeit zu einer einzelnen ethnischen Gruppe (nacija) innerhalb des Zarenreiches bewusst.26 Gleichzeitig zielten die von ihr entwickelten Herrschaftskonzepte und -praktiken gegenüber den nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Süden und Osten nicht darauf, sich ein geographisch fixiertes koloniales Gegenüber zu schaffen. Der koloniale Ansatz ihrer Politik ergab sich nicht aus einer geographischen Lokalisierung einer Kolonie, sondern leitete sich aus der Annahme der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber nicht-­christlichen ethnischen Gruppen ab, deren Lebensweise nach den Interessen der Metropole transformiert werden sollte. Das langfristige Ziel dieser Transformation war es, wie die Arbeit zeigt, zum einen das wahrgenommene Defizit an Zivilisiertheit zu überwinden, zum anderen die verschiedenen ethnischen Gruppen mit dem russischen oder russländisch

24 Aleksej Miller arbeitet für den Begriff nacija im 18. Jh. nur die Bedeutungen von Staatsvolk, Adelsnation und Synonym zum souveränen Staat heraus. M iller , Istorija ponjatija nacija v ­Rossii, 9 – 11; ders ., The Romanov Empire and the Russian Nation, 314; ders ., Nacija, 41 – 43. 25 B assin , Russia between Europe and Asia. Bassins Behauptung, wonach sich im 18. Jh. das Bild einer russischen Metropole westlich des Urals und einer „asiatischen Kolonie“ in Sibirien herausgebildet habe, ist nicht überzeugend. In Bassins Hauptquelle, den Schriften des Historikers und Geographen Vasilij N. Tatiščevs, findet sich als Grund für die Grenzziehung z­ wischen Europa und Asien im Ural allein der Hinweis auf die Verschiedenheit von Flora und Fauna diesseits und jenseits des Gebirges. Eine zivilisatorische Abgrenzung ­zwischen Europa und Asien nimmt Tatiščev nicht vor. T atiščev , Izbrannye Trudy po Geografii Rossii, 112, 114 – 115, 130 – 132. – Schon Vera Tolz und Willard Sunderland verwiesen darauf, dass sich die Sichtweise von der Existenz einer ‚Metropole‘ und einer ‚Kolonie‘ im Russländischen Reich des 18. Jh. nicht durchsetzen konnte. T olz , Russia, 155 – 161; S underland , Imperial Space, 55. 26 Mit dem Begriff nacija bezeichnete die russländische Elite jede ethnisch homogene Gruppe innerhalb des Russländischen Imperiums. In einem administrativen Vermerk von 1759 hießt es: „welcher Nation oder welchem Glauben er auch immer angehörte, sofern er russländischer Untertan war“ (no kakoj by nacii i very ni byl, […] tol’ko b byl rossijskoj poddannoj). In: Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 573. – Weitere Beispiele: Gramota imp. Anny na imja chana Bol’šogo žuza Žulbarsa o prinjatii ego v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 66 (19. 9. 1738), 129; Iz žurnal’noj zapisi besedy chana Nurali i sultana Ajčuvaka s orenburgskim gubernatorom D. Volkovym vo vremja priezda chana v g. Orenburg. In: KRO Bd. 1, Nr. 256 (9. 10. 1763), 652 – 659, hier 654.

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akkulturierten Staatsvolk zu verschmelzen und damit den imperialen Raum mit dem Raum eines russisch geprägten Einheitsstaates zu fusionieren.27 Mit der Analyse aktiver russländischer Akkulturierungs- und partiell sogar Assimilierungspolitik plädiert die Arbeit daher dafür, bisherige Annahmen zu den Anfängen erster Russifizierungsstrategien und Praktiken gegenüber Nicht-­Russen im Süden und Osten des Reiches zu modifizieren.28 Zum Vierten werden mit der Position dieser Arbeit, wonach russländische Herrschaft in ihrer Politik des 18. Jahrhunderts gegenüber einigen Peripherien phasenweise als Kolonialherrschaft zu bezeichnen ist, gleich drei voneinander divergierende Auffassungen der Sekundärliteratur in Frage gestellt. Einige sind der Auffassung, dass schon das Moskauer Reich im umfassenden Sinne eine koloniale Politik verfolgt habe, andere vertreten die Meinung, dass erst im 19. Jahrhundert von Kolonialismus die Rede sein könne, und wieder andere stellen in Frage, ob und inwiefern das Russländische Reich überhaupt jemals eine den westeuropäischen Mächten vergleichbare koloniale Politik betrieben habe.29 Mit dieser Arbeit 27 Damit stützen die Ergebnisse dieser Arbeit die Argumentation von Willard Sunderland, wonach die so nachhaltige konzeptionelle Überlappung von vorgestelltem imperialen und nationalen Raum des Zarenreiches im 18. Jahrhundert entstand. Erst im 19. Jahrhundert begannen einige Wissenschaftler und Politiker damit, diese symbiotische Beziehung z­ wischen nationalem Territorium und Imperium zu bedauern und zu Gunsten anderer Konzepte abzulehnen. S underland , Imperial Space, 33 – 66. 28 Erst jüngst wurde das 18. Jh. in einem der Russifizierung gewidmeten Band weitgehend übergangen. G asimov (Hg), Kampf um Wort und Schrift. – Auf den Charakter des jeweils intendierten Akkulturations- oder Assimilationsprozesses, den die Quellen bereits Anfang des 18. Jh. mit ‚russifizieren‘ (obruset’/obrusět’’) angeben, wird als Querschnittsthema in den einzelnen Kapiteln eingegangen. Unter Einbeziehung der Forschungsdebatte zum Begriff der ‚Russifizierung‘ führt die Schlussbetrachtung die Ergebnisse zusammen. – ‚Akkulturation‘ (das Ergebnis) und ‚Akkulturierung‘ (der Prozess) leiten sich von lat. ad und cultura her und bezeichnen lediglich die Hinführung zu einer (anderen) Kultur. Davon zu unterscheiden ist das viel weitergehende Ziel der ‚Assimilation‘ und ‚Assimilierung‘ von lat. assimilatio, mit dem die Ähnlichmachung, die vollständige Angleichung oder das Aufgehen in einer anderen Kultur bezweckt wird. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 1, 403 und Bd. 2, 545; B itterli , Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, 161 – 167. 29 Die Position, dass bereits das Moskauer Reich koloniale Politik betrieben habe, vertreten u. a. R ywkin , Russian Central Colonial Administration; Dietrich Geyer spricht für das 19. Jh. von einem ‚innerstaatlichen Kolonialsystem‘, für die Zeit davor allgemein von ‚kolonialen Herrschaftsverhältnissen‘: G eyer , Der russische Imperialismus, 14, 239 f.; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier; A kimov , Les voivodes sibériens; ders .: Severnaja Amerika i Sibir’; K ivelson , Cartographies of Tsardom. – Von einem kolonialen Verhalten des Zarenreiches ab dem 19. Jh. sprechen K olarz , La Russie et ses colonies; G aluzo , Das Kolonialsystem des russischen Imperialismus; R aeff , Un empire comme les autres?; B aberowski , Auf der Suche nach Eindeutigkeit, 486 f.; ders ., Rußland und die Sowjetunion, 197, 199; M artin , Law and Custom in the Steppe; K ­ appeler , Russlands zentralasiatische Kolonien, 140; L uehrmann , Alutiiq Villages under Russian and U. S. Rule; C ooper , Colonialism in Question, 60; H appel , Nomadische Lebenswelten und zarische Politik, 28 f. – Zur Diskussion, warum es im Zarenreich im 19. Jh. keine ‚Kolonialbehörde‘ gab:

Das Thema

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h­ ingegen wird die These vertreten, dass die russländische Zarenregierung bereits ab dem 18. Jahrhundert phasenweise koloniale Herrschaft im Sinne der weiter unten dargelegten Definition ausübte. Dagegen fehlten im Jahrhundert davor sowohl das zur Definition elementare Bewusstsein von der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit als auch der Wille, indigene Lebensweisen nachhaltig umzugestalten.30 Beides prägte entscheidend die Fremdsteuerung nicht-­russischer ethnischer Gruppen im 18. Jahrhundert. Zum Fünften schließlich ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die bisherige Analyse, wie aufklärerische Gedanken im Zarenreich adaptiert wurden, zu modifizieren. So war es nicht der einzig bedeutende Ertrag der Aufklärungsrezeption, dass für die russländische Elite fortan das Verhältnis zu Westeuropa auf der Tagesordnung stand.31 Vielmehr weitet diese Arbeit den Blick und lenkt ihn auf die Art und Weise, wie die Rezeption ausgewählter Gedankenstränge der Aufklärung sich auf die imperiale Politik des Reiches auswirkte. Der Begriff der Aufklärung wird dabei trotz seines hochgradig positiv konnotierten Ursprungs weder per se als ein positives noch als ein negatives Phänomen betrachtet.32 Zudem ist es kein Anliegen, ein Urteil darüber zu fällen, ob einzelne Autoren der Aufklärung kolonialistische oder antikolonialistische Einstellungen aufweisen.33 Aufklärung wird auch nicht

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S underland , The Ministry of Asiatic Russia; R emnev , Rossijskaja vlast’ v Sibiri. – Die Auffassung, dass grundsätzlich zu bezweifeln ist, ob das Russländische Reich als Kolonialreich zu bezeichnen ist, teilen u. a. W esseling , The European Colonial Empires 1815 – 1919.; T repavlov , Imperija kak soobščestvo narodov, 125. – Darüber hinaus wird von manchen Autoren die Meinung vertreten, zwar noch nicht in der petrinischen Ära, wohl aber im späten 18. Jh. Elemente kolonialer Herrschaft zu erkennen: B rower , Turkestan and the Fate of Russian Empire, 14; S tolberg , „Der Mond ist kein Kochtopf‘, 17 – 18. Michael Khodarkovsky widmet sich demselben Thema mit einem anderen Ergebnis und unterscheidet nicht ­zwischen einer imperialen und einer kolonialen Herrschaftsphase des Russländischen Reiches in der Frühen Neuzeit. K hodarkovsky , Between Europe and Asia. H ildermeier , Traditionen „aufgeklärter“ Politik. Zum positiv konnotierten Charakter von ‚Aufklärung‘ bzw. des französischen Terminus Siècle des Lumières M ortier , ‚Lumière‘ et ‚Lumières‘, 13 – 59. – Die bekannteste Kritik an der Aufklärung erfolgte im 20. Jh. durch A dorno /H orkheimer , Die Dialektik der Aufklärung. Auf der Kritikerseite stehen Philosophen der Postmoderne, die den Fortschrittsanspruch der Aufklärung mit einem Projekt gleichsetzen, das in einem „homogenisierenden und totalitären Diskurs“, einer „abstrakten und imperialistischen Fiktion“ und dem Willen bestanden habe, gegen die Vielfalt der Welt vorzugehen. G ray , After the New Liberalism, 120 – 124; G hachem , Montesquieu in the Caribbean, 7; M ac I ntyre , Der Verlust der Tugend; W okler , Projecting the Enlightenment, 108 – 128. – Eine Tendenz der aufklärerischen Philosophie, andere Kulturen auszugrenzen und in d­ iesem Sinne die Wurzeln für den modernen Kolonialismus gelegt zu haben, sehen S pivak , A Critique of Postcolonial Reason; M etha , Liberal Strategies of Exclusion, 59 – 86; ders ., ­Liberalism and Empire; H ulme , The spontaneous hand of nature, 16 – 34. – Andere meinen, dass der Rassismus ein unverzichtbarer Bestandteil der Philosophie der Aufklärung gewesen sei. E ze , Race and the Enlightenment. – Die Grenzen des aufklärerischen Kampfs gegen die Sklaverei betont S ala -­M olins , Les Misères des Lumières. – Auf der Seite der Verteidiger wird

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als ein monolithisches Konzept verstanden.34 Vielmehr wird Aufklärung als eine Sammlung von Narrativen betrachtet, die im Kern durch ein neues, selbstreflektiertes Verständnis von der historischen Bedeutung und Besonderheit Europas zusammengehalten wurden, dem die Idee des Fortschritts zu Grunde lag.35 Jenseits philosophischer und literaturwissenschaftlicher Studien zu Autoren der Aufklärung geht es in dieser Arbeit infolgedessen um die Fragen, inwieweit historische Akteure einzelne Narrative der Aufklärung rezipierten und für w ­ elche Politik sie diese in Anspruch nahmen. Dann wird nicht nur deutlich, dass Konzepte wie jene von der Zivilisation und der stadialen ­Theorie, also der Positionierung der Menschheit auf verschiedenen Stufen einer Zivilisationsleiter, nachhaltig die imperiale Herrschaft im Zarenreich prägten. Vor allem wird erkennbar, wie diese Konzepte, fernab vom Elfenbeinturm philosophischer Debatten, von der russländischen Elite genutzt wurden, um ihre partiell koloniale Politik zu legitimieren oder aber um ihr Grenzen zu setzen. Genau dieser Aspekt der Verbindung philosophischer Gedanken mit der politischen Geschichte ist bei der Klärung des Verhältnisses von Aufklärung und Kolonialismus ein Desiderat der Forschung. ­Bislang beteiligten sich an der Diskussion vor allem Literaturwissenschaftler und Philosophen, am wenigsten aber Historiker des Kolonialismus.36

1.2  Die Terminologie Elementar für alle genannten Aspekte ist die Frage, ­welche Definitionen den Begriffen Imperium, Kolonialismus und Kolonisation zu Grunde gelegt werden. Die Vielzahl der in der Vergangenheit und Gegenwart gemeinhin als ‚Imperien‘ bezeichneten Herrschaftsgebilde erschwert es, eine Definition zu finden, die „vom Alten Rom auf die Kolonialismuskritik verwiesen, die gerade von den Philosophen der Aufklärung selbst ausgegangen sei. M uthu , Enlightenment against Empire. – Jürgen Osterhammel erkennt bei den philo­sophes des 18. Jh. keinerlei koloniale Brille, vielmehr hätten europäische Schriften über Asien erst ab 1800 einen imperialistischen Charakter angenommen. O sterhammel , Die Entzauberung Asiens, 67. – Andere Autoren legen Wert auf die Differenzierung ­zwischen einer moderaten und einer radikalen Aufklärung. Nur Letztere habe die ideellen Grundlagen für moderne Demokratien gelegt. I srael , Radical Enlightenment; ders ., Enlightenment Contested; ders ., ­Democractic Enlightenment; K nott /T aylor , General Introduction, XV ‒XXI . – Eine aktuelle Streitschrift zur Debatte: T ricoire /P ečar , Falsche Freunde. Eine kurze Zusammenfassung der Debatte in ­T ricoire , Introduction, 1 – 5; sowie bei C arey /F esta , Introduction. 34 Dies ist einer der wichtigsten Vorwürfe, die gegenüber Kritikern von Auffassungen ‚der‘ Aufklärung erhoben wird. C arey /F esta , Introduction, 5 – 6; C onrad , Enlightenment in Global History. 35 Vgl. E delstein , The Enlightenment, bes. 2 f. – Edelstein geht es allerdings um ‚das‘ Aufklärungsnarrativ im Singular. Angesichts der Heterogenität und des Wandels der Ausdrucksformen von Aufklärung erscheint es mir hilfreicher, von Narrativen im Plural zu sprechen. 36 T ricoire , Introduction, 1; C arey /F esta , Introduction, 13.

Die Terminologie

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bis zu den Vereinigten Staaten“ jedem Fall gerecht wird.37 Trotz der Einsicht, dass es „zwar Allgemeines gibt, aber immer nur in der Gestalt von Besonderem“,38 sind Studien zu Imperien und Angebote zu ihrer Definition längst unüberschaubar geworden.39 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird unter Imperium ein zusammengesetzter Herrschaftsverband verstanden, dessen Metropole durch Gewaltandrohung, Verwaltung und indigene Kollaboration mehrere periphere Territorien und deren kulturell fremde Bevölkerung kontrolliert sowie universale Ansprüche erhebt.40 Zugleich hat die jüngere Forschung deutlich gemacht, dass Imperien genauso wenig wie Nationen gegebene, statische Entitäten sind. Vielmehr können die Übergänge vom Imperium zum Einheits- oder Nationalstaat sowie umgekehrt fließend sein, so dass die beiden Phänomene am ehesten als Idealtypen anzusehen sind, ­zwischen denen es zahlreiche Varianten nationalisierender Imperien sowie imperialisierender Einheits-/Nationalstaaten gibt.41 Um den prozesshaften, zuweilen situativen Charakter mitzudenken, verzichten manche Autoren sogar ganz auf den Imperiumsbegriff und wählen lieber den Ausdruck der ‚imperialen Formation‘, der ‚imperialen Situation‘ oder jenen der ‚imperialen Muster‘.42 Unabhängig von der Begriffswahl gibt es keinen Streit darüber, dass imperiales Denken und Handeln in erster Linie Differenz voraussetzt: zum einen Differenz, die innerhalb eines Herrschaftsverbandes z­ wischen ‚sich‘, einer vorgestellten, oft sprachlich und religiös homogenen und mit der Metropole verbundenen Machtelite, 37 Siehe exemplarisch M ünkler , Imperien; B urbank /C ooper , Imperien der Weltgeschichte. 38 R einhard : Geschichte der Staatsgewalt, 19 – 20. 39 Einen Literaturüberblick bietet der Anhang in W ilson (Hg.), A New Imperial History, 363 – 373. – Zu Imperien allgemein H owe , Empire; E isenstadt , The Political Systems of Empires; D oyle , Empires; B urbank /C ooper , Imperien der Weltgeschichte. – Für die Zeit vor 1800: P agden , Peoples and Empires; M uldoon , Empire and Order. – Überblick über Definitionen vermitteln M otyl , Imperial Ends, bes. 15 – 30; O sterhammel , Imperialgeschichte; M otyl , Thinking About Empire. – Einen hilfreichen Einstieg in die Begriffsgeschichte von „Imperium“ bietet L ieven , Empire, bes. Kap. 1, 3 – 26; daneben B ecker , Russia and the Concept of Empire. 40 Diese Definition orientiert sich an der weit ausführlicheren Definition Jürgen Osterhammels, wonach ein Imperium ein „großräumig[r], hierarchisch geordnete[r] Herrschaftsverband polyethnischen und multreligiösen Charakters [ist], dessen Kohärenz durch Gewaltandrohung, Verwaltung, indigene Kollaboration sowie die universalistische Programmatik und Symbolik einer imperialen Elite (zumeist mit monarchischer Spitze) gewährleistet wird, nicht aber durch gesellschaftliche und politische Homogenisierung und die Idee allgemeiner Staatsbürgerschaft“. O sterhammel , Europamodelle und imperiale Kontexte, 172.– Im Falle des Russländischen Reiches bestand der universale Anspruch seit dem 16. Jh. vor allem darin, Schutzmacht des christlich-­orthodoxen Glaubens zu sein. 41 K umar , Nation-­States as Empire, Empires as Nation-­States; L eonhard /v .H irschhausen , Empires und Nationalstaaten; B erger /M iller (Hg.), Nationalizing Empires. 42 Stoler, On Degrees of Imperial Sovereignty, 128; dies ./M c G ranahan /P erdue (Hg.), Imperial formations; J ulian , Patterns of Empire. – Ein Plädoyer für die Bezeichnung ‚imperiale Situation‘, die weiter unten noch kritisch betrachtet wird, findet sich bei C vetkovski , Introduction, bes. 18.

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und all denjenigen ‚Anderen‘ wahrgenommen wird, die von dieser Kerngruppe (erneut zumeist sprachlich und religiös) abweichen und die den Peripherien zugeordnet werden.43 Zum anderen setzt imperiale Herrschaft auch eine Politik der Diffe­ renz gegenüber der Vielfalt der von der Kerngruppe abweichenden Völkerschaften ein und regiert unterschiedliche ethnische Gruppen auf unterschiedliche Weise.44 In welchem Verhältnis steht nun eine s­ olche, auf Differenz basierende Politik zur kolonialen Herrschaft? Auch dem Kolonialismus liegt eine Politik zu Grunde, die auf Differenz aufbaut. Imperiale Politik wird hier als Oberbegriff verstanden, unter den koloniale Herrschaft zu subsumieren ist. Mit anderen Worten: Nicht jede imperiale Herrschaft ist auch zugleich kolonial. Koloniale Herrschaft hingegen wird in aller Regel nur von Imperien ausgeübt. Als entscheidende Kriterien für koloniale Herrschaft und modernen Kolonialismus dienen der vorliegenden Arbeit die Merkmale aus der weithin anerkannten Definition von Jürgen Osterhammel. Osterhammel nähert sich umfassend dem Phänomen des Kolonialismus, reduziert aber den Kern des Terminus auf drei Kriterien: erstens den Versuch der Fremdsteuerung einer gesamten Gesellschaft, der Beraubung ihrer historischen Eigenentwicklung und ihrer Umpolung auf die Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren; zweitens die spezifische Bewusstseinshaltung der Kolonialherren, sich für kulturell höherwertig zu halten und daraus den universellen Umgestaltungsauftrag abzuleiten bzw. zu rechtfertigen; und drittens die Erwartung an die Kolonisierten, sich an die vorgegebenen Werte und Gepflogenheiten zu akkulturieren.45 Diese drei Kriterien (Fremdsteuerung, Superioritätsbewusstsein und Akkulturationserwartung) bilden die Messlatte, an der im folgenden Herrschaftskonzepte

43 H all , Cultures of Empire, 16. – Im Falle des Russländischen Reiches gab es die Besonderheit, dass die Machtelite polyethnisch zusammengesetzt war. Gleichwohl war sie in einem hohen Maße sozial und kulturell homogen und bildete zumindest im 18. Jh. in der eigenen Vorstellung einen ausreichend großen Kontrast gegenüber den als anders wahrgenommenen nicht-­christlichen ethnischen Gruppen. Der eigene Zusammenhalt ergab sich vor allem aus der Zugehörigkeit zum Christentum, zur vorgestellten ‚zivilisierten Welt‘ und durch das Teilen einer gemeinsamen politischen Kultur im Sinne des ‚dynastischen Reichspatriotismus‘. K appeler , Bemerkungen zur Nationsbildung der Russen, 29 – 30. 44 B arkey , Empire of Difference; B urbank /C ooper , Imperien der Weltgeschichte. – Brian Boeck hat für die zarische Politik der Differenz gegenüber den verschiedenen Gruppen im Reich den treffenden Begriff der „separate deals“ geprägt. B oeck , Imperial Boundaries, 30. 45 O sterhammel , Kolonialismus, 19 – 20. Osterhammels ausführliche Definition von Kolonialismus lautet: „Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung z­ wischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“ O sterhammel , Kolonialismus, 21.

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und -praktiken der russländischen Elite im 18. Jahrhundert dahingehend beurteilt werden sollen, ob sie bloß imperialer oder aber, spezifischer noch, kolonialer Natur waren. Mit ­diesem Vorgehen soll der Begriff des Kolonialen mit Blick auf das Russländische Reich in ähnlicher Weise, wie dies schon seit langem für den Imperiums-­ Begriff gefordert und inzwischen vielfach eingelöst wurde, von Werturteilen befreit, einem rein analytischen Zugriff geöffnet und das Zarenreich der komparativen Imperiums- und Kolonialismusforschung besser zugänglich gemacht werden.46 Vor allem erscheint der Begriff des Kolonialen im Falle des Russländischen Reiches dort erkenntnisfördernd, wo eine Politik, die auf Unterwerfung, Gehorsam und Tribut ausgerichtet war, von einer solchen unterschieden werden kann, die darüber hinaus­ging. Koloniale Herrschaft liegt nach dem Verständnis dieser Arbeit erst dann vor, wenn von der politischen Zentrale eines Reiches versucht wird, gravierend und zumeist unter Anwendung von Gewalt oder Gewaltandrohung in die inneren Belange der Unterworfenen auf der Basis eines kulturellen Überlegenheitsgefühls einzugreifen, ihre bisherige Lebensweise nach vorgegebenen Mustern nachhaltig zu verändern und diese Umgestaltung ausschließlich oder nur unter marginaler Berücksichtigung indigener Interessen an den Bedürfnissen der Metropole auszurichten.47 Damit wird zugleich deutlich, dass Kolonialismus hier – wie auch in der Definition von Osterhammel – vorrangig als Herrschaftsbeziehung aufgefasst und analysiert wird. Hingegen wird der geographisch vom Mutterland getrennten territorialen Ausprägung, die in der Regel mit dem Übersee-­Kolonialismus verbunden wird und sich am Begriff der Kolonie festmacht, im Falle des Russländischen Reiches als Voraussetzung dafür, koloniale Herrschaft festzustellen, geringe Bedeutung beigemessen. Mit Blick auf die fließenden Übergänge ­zwischen Metropole und Peripherien, die für Kontinentalimperien so typisch sind und einer strikten geographischen Abtrennung zuwiderlaufen, lassen sich eindeutige Zuordnungen von Peripherien des Zarenreiches zu den Kategorien Herrschafts-, Stützpunkt- und Siedlungskolonien im Sinne Osterhammels für das 18. Jahrhundert nicht oder nur unbefriedigend vornehmen.48 Im Falle der Peripherien im Süden und Osten des Russländischen Reiches 46 G erasimov /G lebov /K aplunovski /M ogilner /S emyonov , In Search of a New Imperial ­History; G erasimov /K usber /S emyonov (Hg.), Empire speaks out. – Jörn Happel bettet gelungen das Zarenreich in die Kolonialgeschichte ein. H appel , Nomadische Lebenswelten und zarische Politik, bes. 27 – 35; ders ., Kolonialisierte Lebenswelten. 47 Zu Recht weist Osterhammel darauf hin, dass Kolonialregierungen oft die Mittel fehlten, um ihre Ziele zu erreichen, dies jedoch für den theoretischen Zusammenhang der Begriffsbestimmung nebensächlich ist. Entscheidend für letztere ist nur der nachweisliche Wille der Metropolen, sich periphere Gesellschaften dienstbar zu machen. O sterhammel , Kolonialismus, 19. 48 Mit der Bezeichnung ‚Siedlungskolonie‘ wird beschrieben, dass Vertreter der Titularnation sich in den inkorporierten Gebieten selbst niederlassen und durch ihre Siedlung und Lebensform Rechte und Interessen der Einheimischen missachten. Im Falle von ‚Herrschaftskolonien‘ erfolgt keine Besiedlung durch Vertreter der Titularnation. Das Land dient entweder der strategischen

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Einleitung

handelte es sich vielmehr um Gebiete, auf die die Metropole je nach Umständen entweder durch Grenzkolonisation oder reichsbildende Eroberungskriege Ansprüche erhob, die aber territorial nicht trennscharf von der Metropole abgegrenzt wurden.49 Um diese Besonderheit gegenüber dem Übersee-­Kolonialismus zum Ausdruck zu bringen, ließe sich in Analogie zu Clemens Ruthners Überlegungen zum Habsburger Reich daher auch für das Russländische Reich von einem „innerkontinentalen Kolonialismus“ sprechen, ein Begriff, mit dem die wandernde Grenze ­zwischen Kernland und Peripherie mitgedacht wird.50 Statt des Kolonie-­Begriffes erscheint es geeigneter, mit dem Begriff der frontier als Alternative zur Bezeichnung der geographischen Dimension imperialer wie kolonialer Herrschaft im Zarenreich zu arbeiten.51 Unter frontier wird mit Jürgen Osterhammel eine „bewegliche Grenze der Ressourcenerschließung“ oder, präziser noch, „ein sich großräumig manifestierender Typus einer prozesshaften Kontaktsituation“ verstanden, „in der auf einem angebbaren Territorium mindestens zwei Kollektive unterschiedlicher ethnischer Herkunft und kultureller Orientierung meist unter Anwendung oder Androhung von Gewalt Austauschbeziehungen miteinander unterhalten, die nicht durch eine einheitliche und überwölbende Staats- und Rechtsordnung geregelt werden“.52 Eines dieser Kollektive steht dabei in der Rolle des

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Absicherung imperialer Politik oder/und der wirtschaftlichen Ausbeutung. ‚Stützpunktkolonien‘ sind das Resultat von Flottenaktionen. Vgl. O sterhammel , Kolonialismus, 17 – 18. – Höchstens Mischformen der von Osterhammel definierten Kolonietypen ließen sich für das 18. Jh. im Russländischen Reich festmachen, so in den südlichen Steppen, wo sich Elemente der Siedlungs- und Herrschaftskolonie ausmachen lassen, sowie in Teilen von Fernost, im Nordpazifikraum und in Russisch-­Amerika, wo sich Merkmale von Herrschafts- und Stützpunktkolonien finden. Sibirien (ohne Fernost) könnte phasenweise und mit Einschränkungen als Siedlungskolonie bezeichnet werden. – Osterhammel steht der Annahme von einem Kolonialismus ohne Kolonien kritisch gegenüber, will sie aber auch nicht ausschließen. O sterhammel , Kolonialismus, 22. Lineare territoriale Abgrenzungen ergaben sich zwar in den südlichen Steppengebieten durch den Bau der Festungslinien, wurden jedoch nicht als dauerhafte Grenzziehungen aufgefasst. Detailliert dazu in Kap. 4.b. R uthner , K. u. K. Kolonialismus als Befund, bes. 111. – Der Historiker Otto Hoetzsch schrieb bereits 1946 über das Zarenreich: „Es war ein kontinentales Kolonialreich ohne Meer.“ H oetzsch , Russland in Asien, 125. Hoetzschs Aussage würde aufgrund des Zusatzes „ohne Meer“ so heute nicht mehr geteilt werden. Vgl. z. B. A lekseev , The Destiny of Russian America; W inkler , Das Imperium und die Seeotter. Frederick J. T urner führte den frontier-­Begriff in seinem 1893 erschienenen Buch „The Frontier in American History“ ein. Die Debatte zum Vergleich mit dem Osten des Zarenreiches hält bis heute an. T readgold , Russian Expansion; W ieczynski , The Russian Frontier; L e D onne , The Frontier in Modern Russian History; K hodarkovsky , From Frontier to Empire; B assin , Turner, Solov’ev, and the „Frontier Hypothesis“; K appeler , Rußlands Frontier in der Frühen Neuzeit; R ezun u. a. (Hg.), Frontir v istorii Sibiri i Sverenoi Ameriki; R ieber , Changing Concepts; F rank , „Innere Kolonisation“ und frontier-­Mythos; S tolberg , The Genre of Frontiers and Borderlands; H äfner , Von der frontier zum Binnenraum. O sterhammel , Die Verwandlung der Welt, 465, 471.

Theoretische und methodologische Fragen

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Invasors, dessen Vertreter vorrangig Interesse an der Aneignung und Ausbeutung von Land oder/und anderen natürlichen Ressourcen haben.53 Mit einer solchen „beweglichen Grenze der Ressourcenerschließung“ lässt sich im russländischen Fall der in vielen Gebieten im Süden und Osten angestrebte oder realisierte Prozess der Landnahme beschreiben, der zugleich auch mit dem Begriff der ‚Kolonisation‘ wiedergegeben wird. Anders als beim Kolonialismus, mit dem ein Herrschaftsverhältnis bezeichnet wird, wird mit Kolonisation der Prozess beschrieben, bei dem Siedler Land in Besitz nehmen, um es anschließend nach eigenen Vorstellungen zu n­ utzen.54

1.3  Theoretische und methodologische Fragen Wie aber sind im Falle eines Kontinentalreiches mit fließenden Übergängen von Kerngebiet und Peripherie Grenzkolonisation sowie eine damit einhergehende koloniale Politik vom Staatsausbau zu unterscheiden? Musste nicht zwangsläufig mit dem für die Frühe Neuzeit charakteristischen Ausbau des Staates, der Rezeption von zentralistischen Herrschaftskonzepten wie dem ‚Absolutismus‘, dem Kameralismus, dem Merkantilismus sowie der Unifizierungs- und Rationalisierungspolitik eine Herrschaftsweise einhergehen, die elementar in das Leben der Untertanen auch an seinen Grenzgebieten eingriff?55 In der Tat geht 53 Mit der frontier-­Definition als einem „sich großräumig manifestierenden Typus einer prozesshaften Kontaktsituation“ entfallen die meisten Argumente, die in jüngerer Zeit gegen seine Anwendung und gleichzeitig für jene des Alternativbegriffes der ‚Grenzländer‘ (borderlands) eingebracht wurden. Die Vorstellung einer „Kontaktsituation“ gibt den umstrittenen Charakter der bezeichneten Zonen z­ wischen kolonialer und indigener Welt genauso wieder wie die Möglichkeit der Verflechtung der lokalen Akteure. Daneben bleibt die Möglichkeit, z­ wischen frontier als einer Kontaktsituation z­ wischen machtpolitisch ungleich starken Kollektiven auf der einen Seite und ‚Grenzländern‘ auf der anderen Seite zu unterscheiden, bei denen sich zwei oder mehrere Kolonialmächte Gebiete einander streitig machen. O sterhammel , Die Verwandlung der Welt, 473. – Gegen den frontier-­Begriff und für jenen der borderlands sprechen sich aus H ämäläinen / T ruett : On Borderlands. 54 H ausmann , Kolonisation; O sterhammel , Kolonialismus, 7 – 16. – Wichtige Studien zur Kolonisation des Zarenreiches sind P eretjatkovič , Povol’že v 15 i 16 vv.; ders .: Povolž’e v 17 i načale 18 veka; B agalej , Očerki iz istorii kolonizacii; L jubavskij , Obzor istorii russkoj kolonizacii; S underland , Taming the Wild Field; B reyfogle /S chrader /S underland (Hg.), Peopling the Russian Periphery; E tkind , Internal colonization. 55 V ocelka , Geschichte der Neuzeit, 175 – 180; W esseling , The European Colonial Empires, 142 – 144. – Der Begriff Absolutismus wird in Anführungszeichen gesetzt, weil umstritten ist, inwieweit auf den Begriff und das historiographische Konstrukt ‚Absolutismus‘ nicht besser verzichtet oder er zumindest nicht auf das Zarenreich angewandt werden sollte. Anders als in Westeuropa fehlte im Moskauer Reich ein starkes Ständewesen, so dass es dort zu keinem Sieg des Fürsten über die Stände kommen konnte. Genau dies aber wird gemeinhin mit dem Aufkommen

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Einleitung

die Arbeit davon aus, dass Grenzkolonisation und Staatsaufbau eng miteinander verbunden waren. Es handelt sich dabei um ein zentrales Charakteristikum des empire-­building im Falle von Kontinentalreichen. Infolgedessen wird der engen Verflochtenheit von Staats- und Imperiumsausbau große Aufmerksamkeit gewidmet. Auch die oben genannten Herrschaftsformen und politisch-­wirtschaftlichen Konzepte spielten für die russländische Regierungspolitik im 18. Jahrhundert eine herausragende Rolle.56 Zugleich wird an dieser Stelle jedoch die Vorstellung abgelehnt, mit ‚Staatsausbau‘ sämtliche Prozesse zu bezeichnen, bei denen nicht-­russische ethnische Gruppen, die teils seit Jahrhunderten, teils aber auch erst im 18. Jahrhundert in das Reich einverleibt worden waren, innerhalb weniger Jahrzehnte ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, politisch-­gesellschaftlich fremdgesteuert und auf die politischen, militärischen wie wirtschaftlichen Bedürfnisse und Interessen des Zentrums umgepolt wurden oder werden sollten. Damit nämlich würden just jene Vorgänge, die in der Forschung zu maritimen Imperien analytisch wie selbstverständlich unter Kolonialismus subsumiert werden, im Falle des Russländischen Reiches allein aufgrund seiner kontinentalen Ausdehnung als Bestandteile eines ‚absolutistischen‘ oder kameralistischen Staatsausbaus verhandelt.57 Aber nicht nur das Gebot komparativer Imperiums- und Kolonialgeschichte gebietet hier eine andere Perspektive. Hinzu kommt die nicht zuletzt von den Post-­ Colonial Studies angemahnte Aufgabe des Historikers, sich nicht die Betrachtungsweise einer Akteursgruppe zu eigen zu machen.58 Vielmehr müssen gerade zentrale Begrifflichkeiten einer multiperspektivischen Betrachtung standhalten. So würde ‚Staatsausbau‘ als Bezeichnung der russländischen frontier-­Politik im 18. Jahrhundert die Perspektive der nicht-­russischen Bevölkerung im Süden und Osten des Reiches weitgehend ignorieren. des ‚Absolutismus‘ verbunden. Hans-­Joachim Torke führte für das Moskauer Reich die Bezeichnung ‚autokratischer Absolutismus‘ ein. T orke , Absolutismus, 9 – 11. – Zur Absolutismusdebatte siehe H inrichs , Abschied vom Absolutismus?; D uchhardt , Das Zeitalter des Absolutismus, 159 – 165. 56 R aeff , The Well-­Ordered Police State (1975); ders ., Seventeenth-­Century Europe in Eighteenth-­ Century Russia?; ders .: The Well-­Ordered Police State (1983). 57 Paradigmatisch steht für diesen Zugang das Gemeinschaftswerk „Nacional’nye okrainy Rossijskoj imperii“. Gleichwohl stellt die Studie eine große Forschungsleistung dar, zumal seit Kappelers Standardwerk imperiale russländische Herrschaft kaum je in verschiedenen Peripherien synchron und umfassend beleuchtet wurde. Agadžanov/Trepavlov (Hg.), Nacional’nye okrainy Rossijskoj imperii. 58 C hambers /C uri (Hg.), The Post-­colonial Question; H all , Introduction, bes. 5; K ennedy , Imperial History and Post-­Colonial Theory. – Die Wende zur postkolonialen Forschung hat längst alle ,westlichen‘ Historiographien erreicht. Zum Ursprung H all , Wann war „der Postkolonialismus“?; C onrad /R anderia (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. – Zur produktiven Beeinflussung dieser Studie durch die postkoloniale Forschung siehe weiter unten (1.3).

Theoretische und methodologische Fragen

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Eine ähnliche Kritik gilt der Verwendung von Begriffen wie ‚interner‘, ‚innerer‘ oder Binnen-­Kolonisation.59 Unter diesen Begriffen auch die von den Interessen der Metropole geleitete Aneignung von Siedlungsräumen fremder Kollektive und Kulturen zu fassen, birgt in sich die Gefahr, die Relevanz einer von der Metropole ausgehenden expansiven Kolonisierung auszublenden. Eine s­ olche schloss die Herrschaft über fremde ethnische Gruppen ein und kam in d­ iesem Sinn eher einer ‚äußeren‘ Kolonisierung wie Kolonialisierung gleich.60 Mit der Bezeichnung ‚Binnenkolonisation‘ fiele man hingegen in die bereits erwähnte Tradition der großen russischen Historiker des 19. Jahrhunderts zurück, die wie Nikolaj Karamzin, Sergej Solov’ev, Vasilij Ključevskij und Sergej Platonov das Narrativ verbreiteten, wonach die ‚russische‘ territoriale und imperiale Expansion nicht als gewaltsame Eroberung, sondern als friedliche Aneignung erfolgt sei. Darüber hinaus betriebe man in der Tradition der genannten Historiker mit derartigen Begriffen Nationalgeschichte, insofern bei ihnen die Geschichte des russländischen Vielvölkerreichs schlicht zur russischen Geschichte wurde.61

Herrschaft im Vielvölkerreich: Ethnische wie geographische Diversität Aber nicht nur die enge Verwobenheit von Staats- und Imperiumsaufbau stellt im Falle des Russländischen Reiches eine große Herausforderung dar. Das Zarenreich reihte sich darüber hinaus insofern in die Gruppe europäischer Imperien ein, gleich ob Übersee- oder Kontinentalreiche, als zu gleicher Zeit an verschiedenen Peripherien unterschiedliche Herrschaftsformen Bestand hatten. Diese für Imperien so typische Eigenschaft abgestufter politischer Hierarchien, heterogener Rechtsstrukturen 59 So zuletzt E tkind , Internal colonization. 60 Vgl. die Kritik an dieser Herangehensweise aus kulturwissenschaftlicher Sicht von F rank , „Innere Kolonisation“ und frontier-­Mythos, und S tolberg , „Der Mond ist kein Kochtopf“, 16 – 17. – Steven Sabol nutzt den Begriff der „inneren Kolonisation“, versteht darunter jedoch vor allem den kolonialen Charakter der Politik des Russländischen Reiches und der USA . Die Begriffswahl „Kolonisation“ ist darüber hinaus irreführend, insofern es Sabols zentrales Anliegen ist, gerade die Ähnlichkeiten des russländischen wie US -amerikanischen Vorgehens mit jenem der kolonialen Überseeimperien des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. S abol , The touch of civilization. 61 R eddel , S. M. Solov’ev and Multi-­National History; B yrnes , Kliuchevskii on the Multi-­National Russian State; B ecker , Contributing to a Nationalist Ideology. – Besonders bekannt sind die Sätze Ključevskijs geworden: „Die Geschichte Russlands ist die Geschichte eines Landes, das sich selbst kolonisiert. Das Kolonisationsgebiet in ihm erweiterte sich zusammen mit seinem Staatsterritorium.“ K ljučevskij , Russkaja Istorija, Bd. 1, 22. – Kritik an dieser herkömmlichen Sicht haben u. a. bereits Willard Sunderland und Michael Khodarkovsky geübt: S underland , Taming the Wild Field; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier.

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Einleitung

und regional höchst unterschiedlicher politischer Herangehensweisen bedeutete im Falle des Russländischen Reiches die Gleichzeitigkeit von schlicht imperialen Herrschaftsformen gegenüber seinen nicht-­russischen oder nicht angestammten russischen Untertanen im Norden und Westen, so in Smolensk seit 1654, in Estland und Livland seit 1710, in Karelien/Alt-­Finnland seit 1721/1743, in den Teilungsgebieten Polens seit 1772, 1775 und 1795, und solchen, bei denen sich imperiale Herrschaftsphasen mit kolonialen abwechselten, so in Ostsibirien, Fernost, im Nordpazifikraum, in Russisch-­Alaska, in den südlichen Steppen und im Nordkaukasus.62 Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen ausschließlich russländische Herrschaftskonzepte und -praktiken gegenüber jenen ethnischen Gruppen des Russländischen Reiches, bei denen im 18. Jahrhundert versucht wurde, ihre Lebensweise ausgerichtet an den Interessen der russländischen Metropole tiefgreifend und mit dem Bewusstsein eigener zivilisatorischer Überlegenheit zu verändern und die damit, so die These, gemäß der vorangegangenen Definition phasenweise kolonialer Herrschaft unterlagen. Die je nach ethnischer Gruppe unterschiedliche Herangehensweise der Zarenregierungen wird in dieser Arbeit dabei als eine Folge der Wahrnehmung auf Seiten der russländischen Elite gedeutet, inwieweit die jeweiligen ethnischen Gruppen als bereits ‚zivilisiert‘ angesehen wurden bzw. inwieweit sie teilweise, wie im Falle der baltischen Provinzen, sogar als Vorbild für die angestrebten Veränderungen des russländischen Kernlandes dienen konnten.63 Zugleich muss jedoch nicht nur unterschieden werden, ­welche der russländischen Konzepte und Praktiken 62 Die 1654 inkorporierte Hetmants-­Ukraine stellt einen Sonderfall dar. Zwar bietet die Politik ihr gegenüber Parallelen zum kolonialen russländischen Vorgehen gegenüber den Autonomien der Nogaier, Kalmücken und Kasachen. Doch aufgrund der sprachlichen, religiösen und kulturellen Nähe der Hetmanatsbevölkerung sah ein großer Teil der ukrainischen Elite die Fremdheit gegenüber der großrussischen Bevölkerung als überwindbar an und strebte zum Teil eine umfassende Integration in das Zarenreich an. Daher verblassten die Unterschiede der beiden ethnischen Gruppen, so dass der Begriff des Kolonialen nicht taugt. Plokhy, The Origins of the Slavic ­Nations, 250 – 298; Kohut, Russian Centralism and Ukrainian Autonomy. – Zur Diskussion um die Ukraine als „europäische“ oder „innere Kolonie“, die schon in der Ukrainischen Sowjetrepublik der 1920er Jahre geführt wurde, vgl. Kononenko, Ukraine and Russia. – Ein weiterer Sonderfall ist das Chanat der Krim. Nach der russländischen Annexion von 1783 verlor es die politische Selbständigkeit, konnte aber seine Verwaltungsstruktur zunächst beibehalten. Der tatarischen Elite wurde wie im Baltikum Landbesitz und Privilegien garantiert sowie zumindest im Prinzip der Zugang in den russländischen Adelsstand gewährt. Die muslimische Geistlichkeit behielt die Kontrolle in religiösen und erzieherischen Fragen. Es kann daher für das 18. Jahrhundert kaum von einer gesamtgesellschaftlichen ‚Umpolung‘ unter ausschließlicher Berücksichtigung externer Interessen gesprochen werden. Allerdings veränderte sich die Politik im 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf weit über die Hälfte der Krimtataren ihre Heimat verließ und ins Osmanische Reich emigrierte. Fisher, The Crimean Tatars; Paščenja, Gosudarstvennoe upravlenie v Rossii i Krymu; O’Neill, Claiming Crimea; Chajredinova, Inkorporacija krymskotatarskich soslovij, bes. 110 – 115 63 So auch K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 67 – 70.

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in welcher Großregion besonders zum Einsatz kamen. Vor allem ist innerhalb der Großregionen, wie ‚dem Osten‘ oder ‚dem Süden‘ des Reiches, sowohl z­ wischen unterschiedlichen Zeitphasen als auch z­ wischen den Politikformen gegenüber den verschiedenen ethnischen Gruppen zu differenzieren.

Nicht-russische ethnische Gruppen im Osten Mit Blick auf die Politik gegenüber den nicht-­russischen ethnischen Gruppen ‚des Ostens‘, gemeint sind hier konkret Ostsibirien, der Ferne Osten und der Nordpazifikraum, unterscheidet die Arbeit z­ wischen dem Regierungskurs gegenüber den Burjaten und Jakuten auf der einen und jenem gegenüber kleineren ethnischen Gruppen des Fernen Ostens wie den Čukčen, Korjaken, Itel’menen, Aleuten, den Bewohnern der Kurilen und der Kodjak-­Insel auf der anderen Seite.64 Erstere waren zu Teilen nach der brutalen militärischen Bezwingung im 17. Jahrhundert in der Lage, sich im Laufe des 18. Jahrhunderts an russländische Anforderungen anzupassen, dabei Freiräume für ihre inneren Belange zu bewahren und wirtschaftlich zu erstarken.65 Im jakutischen wie burjatischen Falle geht diese Arbeit daher für das späte 18. Jahrhundert von einer imperialen Politik aus, nicht mehr von Phasen kolonialer Herrschaft.66 Anders sah es bei den im hohen Norden sowie am und im Pazifik lebenden ethnischen Gruppen der Čukčen, Korjaken, Jukagiren, Itel’menen, Aleuten und Kodjaken sowie auch bei Teilen der autochthonen Bevölkerung Alaskas aus.67

64 Einen Überblick zu den Völkern ‚des Ostens‘ im Zarenreich bieten S uvorova (Hg.), Aziatskaja Rossija; D ahlmann , Sibirien. – Nominell war Sibirien mit der Auflösung des sibirischen Amtes (sibirskij prikaz) von 1763 in das Russländische Reich eingeordnet. Doch die Unterschiede in den geographischen Verhältnissen, die Kommunikationsprobleme aufgrund der Distanzen sowie die anders gearteten Sozial- und Wirtschaftsstrukturen der verschiedenen ethnischen Gruppen ließen den Versuch scheitern, Sibirien und den europäischen Teil des Reiches auf g­ leiche Weise zu verwalten. Für ganz Sibirien (mit Ausnahme von Perm’ und Vjatka) wurde 1803 ein Generalgouverneur eingesetzt. 65 F irsov , Položenie inorodcev; F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 48 – 83; Borisov, Reformy samoupravlenija jakutov; G lebov , Siberian Middle Ground. – Sbornik dokumentov po istorii Burjatii; P avlinov /V itaševskij /L evental , Materialy po obyčnomu pravu; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 2; Z alkind , Obščestvennyj stroj burjat; ders ., Učastie predstavitelej korennogo naselenija; S underland , Russians into Iakuts? 66 Zur russländischen Politik der Einbindung und Stärkung der burjatischen Elite Z alkind , Jasačnaja politika carizma v Burjatii; dies ., Učastie predstavitelej korennogo naselenija Zabaikal’ja, 110 – 117; dies ., Obščestvennyj stroj burjat. – Zur russländischen Politik gegenüber der jakutischen Elite B orisov , Jakutskie ulusy; G lebov , Siberian Middle Ground, 121 – 154. 67 Die Čukčen, Korjaken, Jukagiren, Itel’menen (oder Kamčadalen) sowie die Yupiks (asiatische Eskimos) lebten auf der Halbinsel Čukotka und auf Kamčatka. Kodjak ist die größte Alaska

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Einleitung

Zwar unterschied sich die Politik ihnen gegenüber je nach geographischer Lage, russländischem Interesse und Intensität des Widerstands.68 Doch führten die Zarenregierungen hier im gesamten 18. Jahrhundert nicht nur die Bezwingungsmethoden West- und Ostsibiriens aus dem vorangegangenen Jahrhundert fort, ließen ‚widerspenstige‘ (also nicht tributwillige) Einheimische mit Kanonen bekämpfen, Kinder gewaltsam als Geisel nehmen und die Männer zu Zwangsarbeit verpflichten, so dass die Zahl der Stammesangehörigen sich auf diese Weise sowie durch die Übertragung von Krankheiten drastisch reduzierte.69 Vor allem wurden gerade Itel’menen, Aleuten und Kodjaken wirtschaftlich derart ausgebeutet und ihre Ökonomie nachhaltig auf das russländische Interesse des Walross- und Seeotterfangs hin ausgerichtet, dass sie nicht länger in ihren traditionellen Strukturen überleben konnten und zunehmend in die Abhängigkeit von russländischer Überlebenshilfe gerieten.70 Während diese Aspekte kolonialer Herrschaftspolitik in der Literatur gut bekannt sind, werden in der vorliegenden Arbeit bislang wenig beleuchtete transregionale Praktiken in den Blick genommen, wie sie sich insbesondere in Form der Geiselnahme mit ihrer großen Tragweite für die indigene wie für die russländische Seite manifestierten.

Nicht-russische ethnische Gruppen im Süden und Südosten Ein Schwerpunkt der Arbeit gilt den russländischen Herrschaftskonzepten und -praktiken gegenüber den ethnischen Gruppen im Süden und Südosten des Reiches, von denen der größere Teil entweder halbjährig oder ganzjährig als Nomaden lebte. Zu den russländischen Untertanen des 18. Jahrhunderts in den südlichen Steppen zählten die Baschkiren, Kalmücken, die Kleine und Mittlere Horde der vorgelagerte Insel, die von Grigorij Šelichov zur Basis russländischer Expansion nach Alaska gemacht wurde. 68 A lekseev /A lekseeva /Z ubkov /P oberežnikov (Hg.), Aziatskaja Rossija, 389 – 411; Z uev , Russkaja politika v otnošenii aborigenov; ders ., K voprosu o prisoedinenii k Rossii; ders ., Prisoedinenie Čukotki k Rossii. 69 Z uev , Russkie i aborigeny na krajnem severo-­vostoke. – Besonders groß waren die demographischen Verluste bei den Jukagiren, den Korjaken und Itel’menen sowie bei den Aleuten und ­Kodjaken. K abuzan /T rojtskij , Čislennost’ i sostav naselenija Sibiri; G ibson , Russian Dependence upon the Natives of Alaska, 80 – 81; S lezkine , Arctic Mirrors, 65. – Schätzungen zufolge halbierte sich die Bevölkerung der Aleuten ­zwischen Mitte und Ende des 18. Jh. Captain-­Lieutenant Golovin: Obzor russkich kolonii v Severnoj Ameriki. In: Morskoj sbornik 57 (1862), 38. Hier zitiert nach G ibson , Russian Dependance, 382, Fn. 27. 70 F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 131 – 154; G ibson , Russian Dependence; G rinëv / M akarova , Promyslovoe osvoenie, Bd. 1, 68 – 108; G rinëv , Russkie promyšlenniki na Aljaske; ders ., Aljaska pod krylom dvuglavogo orla; B lack , The Russian Conquest of Kodiak; dies ., Russians in Alaska, 1732 – 1867; L uehrmann , Alutiiq Villages, bes. 63 – 95; M iller , Kodiak Kreol.

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Kasachen sowie die Nogai-­Tataren. Während Teile der Baschkiren nominell bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts Untertanen des Zaren geworden waren, setzte ihre Bezwingung mit kolonialen Methoden erst in den 1730er Jahren ein.71 Die Politik gegenüber den Baschkiren erhält in dieser Arbeit dabei insofern ein besonderes Gewicht, als vor allem zu ihrer Bezwingung eine im globalen Vergleich einzigartige russländische koloniale Praxis angewandt wurde: die Umzingelung durch Festungslinien. Die Kalmücken, die als westmongolische Stämme unter dem Druck der Ostmongolen und Kasachen nach Südwesten gewandert und im frühen 17. Jahrhundert die Steppe nördlich des Kaspischen Meeres in Besitz genommen hatten, wurden von russländischer Seite ab Mitte des 17. Jahrhunderts als Untertanen angesehen.72 Auch ihre Unterjochung im Wechselspiel von imperialen und kolonialen Methoden erfolgte im 18. Jahrhundert und spielt im Rahmen der Arbeit insofern eine zen­ trale Rolle, als sowohl durch den Versuch, sie sesshaft zu machen, als auch durch die erfolgreichen Bemühungen, ihre Herrschaftsstrukturen auszuhöhlen, Muster zarischer Politik geschaffen wurden, auf die s­ päter gegenüber anderen ethnischen Gruppen noch zurückgegriffen werden sollte. Eine ähnliche große Rolle spielt für die Arbeit die russländische koloniale Politik gegenüber der Kleinen und Mittleren Horde der Kasachen.73 Zusammen mit der Großen Horde der Kasachen, deren Lebensmittelpunkt im Siebenstromland im Osten lag, besiedelten die Kasachen die riesigen Steppengebiete, die sich z­ wischen dem südlichen Ural und dem Kaspischen Meer im Westen, den Gebirgen des Altai und Tienschan im Osten sowie den Oasen Mittelasiens erstreckten. Diese Lage, die für das Zarenreich mit Blick auf den Handel mit Indien und China geostrategisch von größtem Interesse war, bestimmte von Peter I. bis Katharina II. maßgeblich russländische imperiale Politik.74 Sie führte dazu, dass Fragen und Probleme der Bezwingung und Beherrschung der Kasachen die russländische imperiale Elite im 18. Jahrhundert mehr und intensiver beschäftigten als diejenigen aller anderen ethnischen Gruppen des Südens und Ostens. Besonderes Gewicht erhält dabei in der vorliegenden Arbeit die russländische Politik gegenüber der Kleinen Horde der Kasachen. Sie trat nicht nur als erste von den drei Horden bereits in den 1730er Jahren in die zarische Untertanenschaft ein, sondern stand auch durch ihr Siedlungsgebiet, das östlich und südlich des

71 D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria; S teinwedel , Threads of Empire. 72 Khodarkovsky, Where Two Worlds Met; Batmaev, Kalmyki v XVII‒XVIII vekach; ­Kundakbaeva, „Znakom milosti E. I. V.“ . 73 O lcott , The Kazakhs; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier; S underland , Taming the Wild Field; B ekmachanova , Prisoedinenie Central’noj Azii. 74 N oda , The Kazakh Khanates between the Russian and Qing Empires.

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Einleitung

Ural-­Flusses den russländischen Siedlungen am nächsten lag, besonders intensiv im Kontakt mit der gen Süden kolonisierenden russländischen Bevölkerung.75 Von den Nogai-­Tataren, die infolge der Moskauer Expansion des 16. Jahrhunderts in drei Horden zerfallen waren, galten nur die Anführer der Großen Nogai-­ Horde seit 1557 nominell als Untertanen des Zarenreiches.76 Sie stellten zwar angesichts ihrer Zersplitterung (und teilweisen Unterstellung unter das Krim-­Chanat) für die russländische imperiale Politik im 18. Jahrhundert keine große Herausforderung mehr dar. Doch spielen sie in dieser Arbeit als Adressaten kolonialer russländischer Politik insofern eine Rolle, als erstmals bei ihnen die russländische Seite ihre ‚Zivilisierungspolitik‘ mit rechtlicher Diskriminierung verband.

Nicht-russische ethnische Gruppen im Nordkaukasus Die dritte Region, die in die Analyse von Herrschaftskonzepten und -praktiken imperialer wie kolonialer Politik einbezogen wird, ist der Nordkaukasus.77 Unter den über fünfzig ethnischen Gruppen der nördlichen Gebirgsregion sind für die russländische Politik des 18. Jahrhunderts die čerkessischen (adygischen) Kabardiner von größter Bedeutung.78 Umworben vom osmanischen Sultan, persischen Schah, kumykischen Šamchal und krimtatarischen Chan gehörten die Kabardiner, die im Vorgebirge westlich des Flusses Terek siedelten, neben den Kumyken aufgrund ihres hohen Grades gesellschaftlicher Ausdifferenzierung sowie ihrer mächtigen Fürstenschicht zu den politischen Schwergewichten der Region. Mit der Aufnahme kabardinischer Fürsten

75 Der Ural-­Fluss wurde bis ins späte 18. Jh. in russischen Quellen Jaik genannt. Für die Zeit vor dem Pugačev-­Aufstand von 1773 bis 1775 wird er auch in dieser Arbeit so bezeichnet. Zarin Katharina II. ließ den Fluss in Ural umbenennen, um damit jegliche Erinnerung an den Aufstand auszulöschen. Entlang des Flusses war ausgiebig gekämpft worden und auch die Eigenbezeichnung der ansässigen Kosaken enthielt bis zum Aufstand den alten Flussnamen (Jaik-­Kosaken). 76 T repavlov , Istorija Nogajskoj Ordy. 77 S mirnov , Politika Rossii na Kavkaze v XVI ‒XIX vv.; K azemzadeh , Russian Penetration of the Caucasus;. K injapina /B liev /D egoev (Hg), Kavkaz i Srednjaja Azija; Istorija narodov Severnogo Kavkaza s drevnejšich vremen; Istorija narodov Severnogo Kavkaza; M alachova , ­Stanovlenie i razvitie Rossijskogo gosudarstvennogo upravlenija; K hodarkovsky , Colonial frontiers; L e D onne , The Grand Strategy; V inogradov , Specifika Rossijskoj Politiki; K okiev , Metody kolonial’noj politiki carskoj Rossii; P ollock , Empire by Invitation?; B obrovnikov /B abič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj imperii; A bašin /A rapov /B ekmachanova (Hg.), Central’naja Azija v sostave Rossijskoj imperii; Rossija – Srednjaja Azija, Bd. 1; M uchanov /­ A jrapetov /­V olchonskij , Doroga na Gjulistan. 78 S mirnov , Kabardinskij vopros v russko-­tureckich otnošenijach; M al ’bachov /D zamichov , Kabarda vo vzaimootnošenijach Rossii s Kavkazom; D zamichov , Adygi v politike Rossii na Kavkaze; K okiev , Metody kolonial’noj politiki; G rabovskij , Prisoedinenie Kabardy k Rossii; G apurov /S aralieva , Kabarda v kavkazskoj politike Rossii.

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in die russländische Untertanenschaft von 1588 verbindet sich im Moskauer Reich der Beginn der Geiselhaltung.79 Ihrer Analyse sowie der Weiterentwicklung der ­Praxis, die von der Kabardei ausging, wird großes Gewicht beigemessen. Im 18. Jahrhundert wurden die Kabardiner im Kampf z­ wischen dem Osmanischen und dem Russländischen Reich um die Vorherrschaft im Nordkaukasus zum geopolitischen Spielball.80 Erst nach dem Friedensvertrag von Kučuk Kajnardja (1774), in dem sich die Osmanen von der Kabardei lossagen und die direkte russländische Kontrolle über sie akzeptieren mussten, konnte die russländische Seite imperiale wie koloniale Konzepte und Praktiken, die sie in anderen imperialen Peripherien bereits erprobt hatte, zur Anwendung bringen. Dazu zählte zum Beispiel die gegenüber den Baschkiren angewandte Praxis, Festungslinien zur kolonialen Bezwingung einzusetzen.

Die Akteure und ihre Bezeichnungen Die Begegnungen mit den genannten ethnischen Gruppen (im Russischen stets als „Völker“, narody, bezeichnet) stellten die russländische Elite nicht nur vor das Problem, wie sie die jeweilige Gruppe benennen, sondern vor allem auch, wie sie die Art ihres gemeinschaftlichen Zusammenlebens auffassen sollte. In der Namensgebung orientierte man sich grundsätzlich an der Selbstbezeichnung der ethnischen Gruppen, auch wenn dies nicht selten mit Missverständnissen, Pauschalisierungen und Falschzuordnungen einherging, die Historiker in ihrer Auswertung zur Vorsicht mahnen.81 Das größere Problem stellte sich für die russländischen Akteure dadurch ein, dass die Herrschaftsstrukturen der vorwiegend nomadischen ethnischen Gruppen ganz offensichtlich von der Staatsstruktur der sesshaften, Ackerbau

79 Wie bei so vielen Völkern des Zarenreiches divergieren auch mit Blick auf die Kabardiner die Auffassungen, wann der erste kabardinische Untertanenschaftseid geleistet wurde. Mehr dazu in Kap. 2.3. 80 Zwar gab es auch im Süden mit den Dsungaren und der Qing-­Dynastie sowie im Nordpazifikraum mit den Briten und Spaniern imperiale Konkurrenz. Doch mündete von den hier betrachteten drei Großregionen nur im Nordkaukasus das Ringen um Vorherrschaft in zahllose (russländisch-­ osmanische) Kriege. 81 Ethnische, soziale und wirtschaftliche Identitätszuschreibungen wurden im 18. Jh. auf russländischer Seite oft vermengt oder vertauscht. So finden sich in zahlreichen russländischen Quellen staatlicher Institutionen ethnische Termini, obwohl eigentlich soziale Kategorien gemeint waren. Mit ‚Čuvašen‘ wurden meist turksprachige, lastenpflichtige, Jasak-­zahlende Personen bezeichnet, mit ‚Tataren‘ entweder turksprachige Dienstleute (služilye ljudi) oder allgemein bloß Muslime. In Wirklichkeit konnten sich dahinter Tataren, Čuvašen oder Kasachen verbergen. Vgl. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 84; S ultangalieva , The Russian Empire, 53 – 53; K hodarkovsky , ,Ignoble Savages and Unfaithful Subjects‘; ders ., Four Degrees of Separation, 265 – 266.

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und Handel betreibenden Bevölkerung der Metropole divergierten. Besondere Sensibilität ist daher gefordert, um nicht kolonialen Denkmustern zu verfallen, die gemäß der im 18. Jahrhundert aufkommenden Vorstellung, alle ‚Völker‘ auf einer Zivilisationsleiter verorten zu können, nicht-­staatsähnliche kollektive Verbände begrifflich zu vor-­staatlichen Kollektiven machten. Vor d ­ iesem Hintergrund wird in der Arbeit zurückhaltend mit dem Begriff des ‚Stammes‘ umgegangen. Dieser Begriff wird von der Anthropologie als wissenschaftliche Kategorie inzwischen abgelehnt, da in vielen Fällen europäischer Kolonialadministration des 19. Jahrhunderts mit ihm Rückständigkeit assoziiert wurde.82 Darüber hinaus wird auch der im Deutschen mehrdeutige Volksbegriff (mit dem politisch diskreditierten Adjektiv ‚völkisch‘) sowie der umstrittene Begriff der ‚Ethnie‘ nach Möglichkeit gemieden. Beide werden ersetzt durch den Begriff der ‚ethnischen Gruppe‘ zur Bezeichnung solcher Kollektive, deren Mitglieder durch eine gemeinsame Vergangenheit, manifestiert in geschichtlicher Überlieferung, Brauchtum, Sprache, Religion und Lebensgewohnheiten, zusammengehalten werden. In besonderer Abgrenzung zum Begriff der Ethnie soll damit auf den situativen Charakter von Ethnizität verwiesen, die Gefahr einer in der Forschung oftmals kritisierten Essentialisierung minimiert sowie vor allem die Implikation vermieden werden, in Ethnien bereits Vorläufer moderner Nationen zu sehen.83 Mit der Einführung der für diese Arbeit wichtigsten Regionen und ethnischen Gruppen wird deutlich, dass es ein zentrales Anliegen und der besondere Anspruch der Studie ist, imperiale russländische Politik in einem transregionalen Ansatz zu analysieren.84 Dahinter steht die Frage, ob und inwiefern es bestimmte Konzepte 82 B éteille , The Idea of Indigenous People; S neath , Tribe, Ethnos, Nation. – Allerdings verwandte die russländische imperiale Elite des 18. Jahrhunderts den Terminus Stamm (plemja) selten, und wenn überhaupt, dann in einem wertneutralen, kategorialen Sinne, der sich sowohl auf asiatische ethnische Gruppen und deren Unterschiede als auch auf die Russen selbst beziehen konnte. Siehe z. B. den Bericht eines russländischen Übersetzers von 1761 kitajcy, s nimi, kirgiscami, edinoplemenny […], a ne tak, kak russkie ot nich, kirgiscov, plemenem ili rodom sovsem otdeleny. Raport perevodčika F. Gordeeva komendantu Troickoj kreposti P. Rodenu o poezdke v stavku sultana Ablaja s cel’ju vyjasnenija vzaimootnošenij kazachov Srednego žuza s Kitaem. Sekretnejšij. In: KRO Bd. 1, Nr. 240 (3. 7. 1761), 620 – 624, hier 621. 83 Vgl. die Debatte in der Zeitschrift Ab Imperio, die David S neath mit seinem Artikel „Tribe, Ethnos, Nation: Rethinking Evolutionist Social Theory and Representations of Nomadic Inner Asia“ auslöste, der seinerseits auf seinem Buch „The Headless State: Aristocratic Orders, Kinship Society, and Misrepresentations of Inner Asia. New York 2007“ aufbaute. Siehe besonders die Beiträge von Sergej Abašin, Munkh-­Erdene Lkhamsuren, Adrienne Edgar und Sergei Glebov: Forum Ab Imperio, Debating the Concepts of Evolutionist Social Theory. In: Ab Imperio 4 (2009), 80 – 109 (Sneath), 110 – 175 (Forum). – Kritik an der Verwendung des Begriffes ‚ethnische Gruppe‘ übt B rubaker , Ethnicity without Groups, 7 – 27. 84 Zwar reicht der transregionale Ansatz dieser Studie nicht über den Süden und Osten des Zarenreiches hinaus, doch stellt sich die Frage, ob nicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die russländische imperiale Elite bereit und willens war, ihr mittlerweile etabliertes Überlegenheitsgefühl

Theoretische und methodologische Fragen

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und Praktiken der russländischen Elite gab, die in gleicher oder ähnlicher Weise in verschiedenen Peripherien zur Anwendung kamen, und dies trotz der Heterogenität und Fragmentiertheit des Russländischen Imperiums, der Flexibilität und des Pragmatismus der russländischen Elite sowie der Besonderheiten der jeweiligen indigenen Akteure und Umstände vor Ort. Der geographisch wie ethnisch breitgefasste Ansatz der vorliegenden Studie darf gleichzeitig nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Interaktion der nicht-­ russischen ethnischen Gruppen im Süden und Osten mit der russländischen imperialen Elite asymmetrisch beleuchtet wird. Im Zentrum steht die Frage, wann und wie innerhalb der russländischen Elite ein imperiales Bewusstsein und imperiale und koloniale Herrschaftskonzepte und -praktiken entstanden sind und sich verändert haben. Dieser, in seinem Akteursfokus eingeschränkte Blick der Studie folgt daraus, dass frühneuzeitliche Imperien in erster Linie von Eliten geschaffen wurden.85 Daraus ergibt sich, dass es in dieser Arbeit vorrangig um die Denkweise und das Agieren einer sehr schmalen Schicht des politischen, militärischen und administrativen Staatspersonals in der Regierungszentrale wie in den Peripherien geht, w ­ elche bei verschiedenen Anliegen vorübergehend auch von Vertretern der Zarenregierung ohne staatliche Anstellung unterstützt wurden.86 Unter dem Begriff der imperialen russländischen Elite, die in keiner Weise einen monolithischen Block bildete und deren zuweilen konfligierende Auffassungen und Vorgehensweisen jeweils in den Kapiteln gesondert thematisiert werden, sind mithin all jene zu verstehen, die strategisch wie operativ den Imperiumsaufbau und seine Aufrechterhaltung betrieben. Das reichte von Mitarbeitern des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg über die Befehlshaber von Truppen entlang der sibirischen Festungslinie, die Kaufleute und Seefahrer, die im Nordpazifik im Namen des Zaren Inseln in russländischen Besitz und dafür indigene Geiseln nahmen, über den Gouverneur von Astrachan bis hin zum Geographen und Chronisten der Orenburg-­Expedition. Der Begriff der imperialen Elite schließt damit grundsätzlich auch diejenigen mit ein, die als Wissenschaftler und

auch auf die Bevölkerung westlicher Peripherien zu projizieren. So lassen sich in der Begründung, mit der Katharina II . die Teilung Polens rechtfertigte, Elemente eines Zivilisierungsdiskurses finden, wonach Unordnung, Anarchie und religiöser Fanatismus bekämpft und die Bevölkerung vor ‚Verwilderung‘ geschützt werden müsse. Allerdings sind der Analogie Grenzen gesetzt. Dem Diskurs folgte nicht eine vergleichbare Politik der gesamtgesellschaftlichen Fremdsteuerung, wie sie gegenüber den Völkern des Ostens und Südens praktiziert wurde. Z ernack , Polen und Rußland, 263 – 315. Ich danke Aleksej Miller für die gedankliche Anregung. 85 O sterhammel , „The Great Work of Uplifting Mankind“, 370. 86 Es wird noch näher darauf einzugehen sein, dass Denkweise und Praktiken der Elite gleichwohl nicht isoliert, sondern nur unter Einbeziehung der Interaktion mit der indigenen Bevölkerung analysierbar sind.

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Einleitung

Forschende über das Imperium als Imperium schrieben, sich mit ihm identifizierten und direkt politischen Entscheidungsträgern zuarbeiteten. Zugleich aber spielt die große Anzahl an Ethnographen und Völkerkundlern, die im Laufe des 18. Jahrhunderts mit wissenschaftlichem Eifer an zahllosen Expeditionen und Erkundungsreisen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor allem in Sibirien, Fernost und im Nordkaukasus teilnahmen, im Rahmen dieser Arbeit eine untergeordnete Rolle. Zwar sorgten auch sie dafür, in der imperialen Zentrale Wissen über die ethnischen Gruppen in den Peripherien zu verbreiten und stärkten in d­ iesem Sinne die imperiale Macht. Doch sind ihre Statistiken, Topographien und Reiseberichte im Vergleich zu den schriftlichen Hinterlassenschaften, über die wir bei ihren Zeitgenossen aus dem unmittelbaren Umfeld politischer und militärischer Entscheidungsträger des Zarenreiches verfügen, von deutlich anderer Natur. Das Bewusstsein eigener zivilisatorischer Überlegenheit steht in den wissenschaftlichen Arbeiten der Ethnographen und Völkerkundler nicht im Zentrum. Sie sind überwiegend geprägt von Rationalismus und einem vorurteilsarmen, wissenschaftlichen Ethos, in dem ein tiefer Respekt vor der Schöpfung und der menschlichen Vielfalt zum Ausdruck kommt.87 Aus dem Vorgehen der russländischen Wissenschaftler zu schließen, es habe im 18. Jahrhundert im Zarenreich allgemein noch kein Bewusstsein zivilisatorischer Überlegenheit gegeben, führt allerdings in die Irre.88 Vielmehr machen die Unterschiede der verschiedenen Akteursgruppen im Zarenreich deutlich, dass die Berufsgruppen sich jeweils unterschiedlichen Welten verbunden fühlten.89 Nur wenige Wissenschaftler sahen sich im Dienst oder als Werkzeuge imperialer Politik. Hingegen reflektierten Vertreter der russländischen imperialen Administration ihre Erfahrungen der Begegnungen mit nicht-­christlichen ethnischen Gruppen im Süden und Osten seit Beginn des 18. Jahrhunderts nicht nur vor dem Hintergrund des Paradigmas der Zivilisiertheit, sondern leiteten daraus auch Strategien zu deren Veränderung ab. Der Austausch ­zwischen dem wissenschaftlichen Milieu einerseits und den politisch-­administrativ-­militärischen Kreisen des Zarenreiches andererseits blieb im 18. Jahrhundert auf wenige Ausnahmen beschränkt. Von 87 Manche russländische Wissenschaftler des 18. Jh. weisen zwar beispielsweise auf das Wissensgefälle z­ wischen sich und Vertretern sibirischer Stämme mit schamanischen Glaubenstraditionen hin. Doch leiten sie daraus keine politischen Implikationen ab. S lezkine , Naturalists versus Nations; D ahlmann , Von Kalmücken, Tataren und Itelmenen; B ucher , Wahrnehmung und Beschreibung des Schamanismus; K öhler , Russische Ethnographie und imperiale Politik; G lebov , Siberian Ruptures. 88 K öhler , Russische Ethnographie und imperiale Politik. Siehe die Rezension des Buches von V ulpius in Sehepunkte; G lebov , Siberian Ruptures. – Zur Verquickung von deutscher und russländischer Ethnographie und Völkerkunde im 18. Jh. V ermeulen , Before Boas. 89 Zur nahezu hermetischen Abgeschlossenheit des „ethnographischen Diskurses“ gegenüber politischen Diskursen siehe auch P ogosjan , „O zakone svoem i sami nedoumevajut“.

Theoretische und methodologische Fragen

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einer verbreiteten Komplizenschaft ­zwischen Ethnographen und kolonialer Herrschaft, wie es Edward Said für den von ihm eingeführten Begriff des Orientalismus bei Briten und Franzosen ausgemacht hat, kann im russländischen Kontext daher keine Rede sein.90 Grundlegend für das Verständnis von ‚russländischer Elite‘ in dieser Arbeit ist die Berücksichtigung ihrer polyethnischen Zusammensetzung. Unter russländischer Elite werden deutschbaltische Gutsbesitzer genauso subsumiert wie turkstämmige Dolmetscher oder Dienstleute aus muttersprachlich russischen F ­ amilien.91 Aus ­diesem Grund wird das Adjektiv ‚russisch‘ (russkij) in der vorliegenden Arbeit auch nur dann verwandt, wenn es um die Bezeichnung der russischen Sprache, um angestammte Einwohner russisch-­orthodoxen Glaubens mit russischer Mutter­ sprache oder um die Herausbildung des Moskauer Großfürstentums in seinem vor-­polyethnischen Zustand geht. In allen anderen Fällen, insbesondere bei der Bezeichnung des Staates und seiner politischen, militärischen und kulturellen Elite wird konsequent die deutsche Übersetzung des russischen Terminus r­ ossijskij, also ‚russländisch‘, verwandt, das Land selbst als ‚Reich‘ oder ‚Imperium‘, nicht jedoch als ‚Russland‘ bezeichnet. Ein solcher Sprachduktus erscheint nicht nur geboten, weil er der Differenzierung der Quellensprache im 18. Jahrhundert folgt. Es ist d­ ieses Zeitalter, in dem mit der Ausformung des petrinischen Reiches das Adjektiv rossijskij zur Bezeichnung des polyethnischen Staates in die Alltagssprache eingeht und auch das Reich fortan als Rossijskaja imperija („Russländisches Imperium“) bezeichnet wird.92 90 S aid , Orientalism. Said bahnbrechendes und die Forschung bis heute prägendes Buch zeigt, dass westliche Imperien stereotype Ansichten über die asiatischen Völker und ihre Kulturen entwickelten, um damit gleichzeitig koloniale Ansprüche zu rechtfertigen. – Ausnahmen unter den russländischen Wissenschaftlern des 18. Jh. waren die Geographen, Kartographen und Historiker Ivan Kirilov, Vasilij Tatiščev sowie Petr Ryčkov, die sich sowohl als Forscher wie als Vertreter imperialer und zuweilen kolonialer zarischer Politik einbrachten. Mehr zu den Akteuren in den jeweiligen Kapiteln der Arbeit. – Zur üblichen Komplizenschaft ­zwischen Ethnographen, Ethnologen bzw. späteren Anthropologen und dem Kolonialismus in westeuropäischen Überseereichen siehe v . T rotha , Was war Kolonialismus?, 84; A sad , Anthropology and the Colonial ­Encounter. – Zur Frage nach Anhaltspunkten von Orientalismus bei Ethnologen und Anthropologen im 18. Jh. des Zarenreiches S chimmelpenninck van der O ye , Russian Orientalism. 91 Vgl. die ähnliche Auffassung mit Blick auf Deutschbalten bei K usber , Imperiale Wissenschaften und Expansion. 92 Allerdings ist bis heute noch manches an dem Ursprung und der Bedeutung von rossijskij rätselhaft. Zum einen tauchte rossijskij/rosijskij bereits im 16. Jh. das erste Mal auf (Metropolit Makarij schrieb an Ivan IV . vom rosijskoe carstvie und von rosijskie cari. PSRL Bd. 13, Teil 1, Moskau 1965, 195). Zum anderen war rossijskij im frühen 17. Jahrhundert in polnisch-­ukrainischen Kreise mit einer Bedeutung gängig, die meist alle orthodoxen Slaven einschloss, so zum Beispiel bei dem Abt Leisej Petenec’kyj und dem Theologen Zarcharij Kopystens’kyj. R othe , What is the Meaning of „Rossijskij“ and „Rossija“, 111; S ysyn , The Image of Russia and Russian-­Ukrainian Relations, bes. 117 – 118. – Auch im Zarenreich des 18. Jahrhunderts erfolgte die Unterscheidung

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Einleitung

Vor allem aber spiegelt sich in der Begrifflichkeit das anwachsende Bewusstsein der imperialen Elite für die ethnische Vielfalt des Reiches wider und bildet damit das Thema dieser Arbeit ab.

Analyse imperialer Herrschaft und postkoloniale Forschung Da in der vorliegenden Studie die Interaktion von russländischer Elite und Vertretern nicht-­russischer ethnischer Gruppen im Süden und Osten asymmetrisch beleuchtet wird, zudem der Schwerpunkt nicht auf den Begegnungen, Kollaborationen und Grenzgängern liegt, sondern ‚lediglich‘ Konzepte und Praktiken der russländischen Seite im Fokus stehen, könnte gegen die Arbeit der Vorwurf erhoben werden, „erneut“ eine Studie vom „Stapel“ der „alten“ Historiographie „weißer“ Politik gegenüber indigenen ethnischen Gruppen zu sein, in der als Akteure in erster Linie Kolonisierer oder Kolonialherren in Erscheinung treten, während Indigenen vor allem der Objekt-­Status zugewiesen wird.93 Tatsächlich spielen indigene Akteure in der vorliegenden Arbeit nur insofern eine Rolle, als es ihnen gelang, auf die Konzepte und Strategien der imperialen russländischen Elite einzuwirken, sie abzuändern, ihre Ausführung zu verhindern oder überhaupt erst hervorzubringen. Genau mit diesen Aspekten jedoch kann der große Ertrag der postkolonialen Forschung auch für das Thema dieser Arbeit, in dem es nicht primär um einen Middle Ground, um die Suche nach hybriden Kulturen oder Identitäten geht, fruchtbar gemacht werden.94 So wird zu Recht von der postkolonialen Forschung angemahnt, Strategien imperialer Eliten nicht mit ihrer erfolgreichen Umsetzung gleichzusetzen und mithin die zu Kolonisierenden im Sinne Edward Saids zu passiv Reagierenden zu degradieren.95

­zwischen den Adjektiven russkij und rossijskij nicht immer stringent und war kontextabhängig. S chierle , Ponjatie „Rossija“ v političeskoj kul’ture XVIII veka; dies ., Učenie o duche i charaktere narodov, 135. 93 W hite , The Middle Ground, xxvii. 94 Der Begriff des „Middle Ground“ stammt von Richard White. White bezeichnet damit „the place in between: in between cultures, peoples, and in between empires and the nonstate world of villages. It is the area between the historical foreground of European invasion and occupation and the background of Indian defeat and retreat.“ W hite , The Middle Ground, xxvi. White weist jene Historiographie zurück, die eine scharfe Dichotomie z­ wischen (weißen) Kolonisierern und indigenen Kolonisierten konstruiert. – Überzeugende Analysen zum Middle Ground im Nordkaukasus, am Don, in den südlichen Steppengebieten und in Jakutien, die auch das 18. Jh. berücksichtigen, legten vor B arrett , At the Edge of Empire; B oeck , Imperial Boundaries; G lebov , Siberian Middle Ground, 121 – 154; M alikov , Tsar, Cossacks, and Nomads; K hodarkovsky , Bitter Choices; C ampbell , Knowledge and the Ends of Empire. 95 S aid , Orientalism, bes. 1 – 28.

Theoretische und methodologische Fragen

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Stattdessen sind zum einen die Diskrepanzen z­ wischen den Erwartungen der imperialen Akteure oder Kolonialherren auf der einen und dem tatsächlichen Verhalten indigener ethnischer Gruppen auf der anderen Seite zu berücksichtigen, mithin Machtansprüche und Machtverhältnisse zu unterscheiden.96 Zum anderen müssen die Uneindeutigkeiten der frontier-­Gesellschaften, die Akteurswechsel ­zwischen den einheimischen und indigenen Welten sowie ihre gegenseitige Beeinflussung stets im Auge behalten und mitgedacht werden.97 Besondere Sensibilität gilt dem Aspekt, dass in die Konzeptionen und Praktiken der russländischen Elite beständig auch Erfahrungen einflossen, die die russländischen Akteure erst durch den Kontakt mit Indigenen allgemein sowie insbesondere mit lokalen indigenen Eliten gesammelt hatten.98 Insofern sieht sich die Arbeit, wenn auch nicht im thematischen Fokus, so doch in der methodischen Herangehensweise und multiperspektivischen Sensibilität den Erträgen der postkolonialen Forschung verpflichtet, um – wo immer dies ersichtlich ist – die direkte oder indirekte indigene ‚Mitschrift‘ in den imperialen Herrschaftskonzepten und -praktiken der russländischen Elite zu berücksichtigen.99 Hingegen würde der Bogen überspannt, wenn man aus der berechtigten Abwehr einer strikten Trennung von Metropole und Peripherie forderte, sich in der Forschung nur noch einem „Set verschiedener imperialer Situationen“, zumal synchroner Situa­ tionen auf lokaler Ebene, zuzuwenden.100 Die Semantik der Augenblicklichkeit, die mit dem Begriff der ‚Situation‘ einhergeht, birgt in sich die Gefahr, jahrhundertealte konzeptionelle und praktische Traditionslinien imperialer russländischer Herrschaft sowie Modifikationen derselben nicht wahrzunehmen. Wie in dieser Arbeit anhand verschiedener Politikfelder gezeigt wird, entstanden die Grundlagen imperialer Methoden der russländischen Elite gerade nicht erst aus konkreten Begegnungen oder einem synchron gedachten „Set verschiedener imperialer Situationen“. Vielmehr wurden viele der thematisierten Praktiken über die Jahrhunderte hinweg von Regierung zu Regierung tradiert, erprobt und je nach dem Wandel von Konzepten, Bedingungen und Widerständen den Umständen angepasst und weiterentwickelt. Eines dieser grundlegend neuen Konzepte war die Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit.

96 S toler , Along the Archival Grain, 182 – 234; P agden , The Uncertainties of Empire. 97 B habha , Of Mimicry and Man; G ruzinski , La Pensée métisse; W hite , Wild Frenchmen and Frenchified Indians; F eichtinger /P rutsch /C sáky (Hg.), Habsburg postcolonial, darin v. a. die Beiträge von Anil B hatti und Peter N iedermüller ; H árs /M üller -­F unk /R eber /R uthner (Hg.), Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten. 98 Dazu am Beispiel kolonialer Begegnungen in der ‚Neuen Welt‘ J enning , The Invasion of North America; dies ., The Ambiguous Iroquois Empire; Eccles, The Canadian Frontier, 1534 – 1760; D owd , Wag the Imperial Dog. 99 Schon früh forderte dies Ronald Robinson, der den Begriff des ‚kollaborativen Systems einführte‘: R obinson , Non-­European Foundations. 100 So jüngst C vetkovski , Introduction, 18.

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Zudem birgt die Herangehensweise, jede Interaktion von Metropole und Peripherie nur für sich als eine ‚imperiale Situation‘ zu betrachten, die Gefahr, Herrschaftskonzepte und -praktiken, die durch die imperiale Elite von einer Peripherie auf die nächste übertragen wurden, nicht zu erkennen. Forschungen, die sich der Mikro-­Ebene der Begegnungen von Individuen oder Kleingruppen zuwenden, sind daher zwar unabdingbar, müssen aber zugleich durch s­ olche ergänzt werden, die größere Zusammenhänge sowohl auf der transregionalen als auch auf der diachronen Ebene in den Blick nehmen, ohne dabei die imperiale Vielfalt im Zentrum wie in den Peripherien zu nivellieren.101 In ­diesem Sinne plädiert die Arbeit dafür, den situativen Ansatz in der Imperiumsgeschichte stärker als bislang mit dem Fokus auf administrative Kontinuitäten und Transfers zu verbinden.102

1.4  Der Forschungsstand und die Quellen Die vorliegende Arbeit basiert auf zahlreichen Vorarbeiten. Grundlegend ist nach wie vor das Überblickswerk zum Vielvölkerreich, mit dem Andreas Kappeler 1992 die Multiethnizität des Zarenreiches ins Blickfeld der Forschung rückte und in dessen Folge, begleitet von der Entstehung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in den vergangenen Jahrzehnten das russländische Imperium als Gegenstand der Histo­ riographie Hochkonjunktur erlangte.103 Nur selten wurden dabei jedoch mit Blick auf das 18. Jahrhundert transregional imperiale Herrschaftskonzepte und -praktiken der russländischen Regierungen und imperialen Elite untersucht. Aufbauend auf den Pionierstudien von Boris Nolde, Marc Raeff, Frederick Starr, Yuri Slezkine und einer weiteren Arbeit von Andreas Kappeler widmeten sich in jüngerer Zeit vor allem Michael Khodarkovsky und Willard Sunderland am Beispiel der russländischen Politik gegenüber Land und den ethnischen Gruppen der südlichen Steppen und des Nordkaukasus grundlegenden Fragen imperialer russländischer Herrschaft und Kolonisation.104 Ihnen verdankt die vorliegende Arbeit wesentliche Einsichten und Impulse.

101 So jüngst auch die Forderung von O sterhammel , Die Verwandlung der Welt, 663. 102 Aleksej Miller plädiert zwar für den situativen Ansatz in der Imperiumsgeschichte, um mit ihm sowohl den ethnischen als auch den regionalen Ansatz zu überwinden. Gleichzeitig will er die Interaktionen z­ wischen den verschiedenen Peripherien nicht isoliert voneinander betrachten, sondern auch Erfahrungen und Transfers auf Seiten der Zentralbehörden einbeziehen (S. 17). M iller , Between Local and Inter-­Imperial. Erfahrungen und Transfers gilt es jedoch nicht nur im geographischen, sondern auch im diachronen Sinne zu beachten. 103 Neben der bereits genannten Literatur siehe die Forschungsüberblicke in V ulpius , Das Imperium als Thema der russischen Geschichte; W eeks , Nationality, Empire, and Politics. 104 N olde , La Formation de L’Empire Russe; R aeff , Patterns of Russian Imperial Policy; ders ., Uniformity, Diversity, and the Imperial Administration; S tarr , Tsarist Government; K appeler ,

Der Forschungsstand und die Quellen

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Zugleich geht diese Studie in zweifacher Weise über die genannten Arbeiten hinaus. Zum einen werden mit ihr erstmals umfassend die Folgen h­ erausgearbeitet, die sich aus der Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit für die imperiale Politik des Russländischen Reiches im 18. Jahrhundert ergaben. Zum anderen erlaubt der transregionale Ansatz der Arbeit, einige imperiale Konzepte und Praktiken, die bislang gar nicht behandelt oder nur gestreift werden konnten, ins Zentrum des Interesses zu rücken, ihrer jeweiligen Entstehungsphase nachzugehen, sie in einem transregionalen Zusammenhang zu analysieren und ihren besonderen Wandel vor dem Hintergrund der zentralen Thesen der Arbeit im Laufe des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Großer Profit konnte aus zahlreichen Monographien gezogen werden, die sich der binären Interaktion ­zwischen der russländischen Zentrale und einzelnen ethnischen Gruppen im Süden oder Osten des Reiches widmeten.105 Auch Studien zum Middle Ground bildeten eine wichtige Grundlage. Gemeint ist die Gemengelage, die sich aus den Interessen und Handlungen verschiedener Steppenvölker, der angestammten oder angesiedelten kosakischen Bevölkerung sowie der Vertreter der russländischen Administration unter anderem entlang des Jaik/Ural-­Flusses und im Nordkaukasus ergab.106 In Fragen zum Konzept und zur Entwicklung von Zivilisierungstheorie, Zivilisierungspolitik und Zivilisierungsmission(en) kann die Untersuchung auf den herausragenden Studien Jürgen Osterhammels aufbauen.107 Eine besondere Rolle spielt dabei Osterhammels Aufsatz von 2005, in dem erstmals eine theoretische Grundlage für das Konzept von Zivilisierung und Zivilisierungsmission geschaffen wurde. Bereichernd erwies sich für die vorliegende Arbeit zudem, dass jüngst Ulrich H ­ ofmeister in Rückgriff auf Osterhammels Gedanken eine thematisch verwandte Studie zu russischen Vorstellungen einer Zivilisierungsmission gegenüber Zentralasien für das späte 19. Jahrhundert vorlegte, so dass Kontinuitätslinien wie Brüche im diachronen Vergleich von Zivilisierungsideen besser herausgearbeitet werden konnten.108 Wenig ergiebig zeigt sich die Literaturlage dort, wo es um den Zusammenhang ­zwischen der Rezeption aufklärerischer Ideen und der imperialen sowie kolonialen Politik im Zarenreich geht. Während die Historiographie zur ‚russischen

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Rußlands erste Nationalitäten; S lezkine , Arctic Mirrors; K hodarkovksy , Where Two Worlds Met; ders ., Russia’s Steppe Frontier; S underland , Taming the Wild Field. Siehe die bereits zitierten Arbeiten sowie A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi; B asin / S ulejmenov , Kazachstan v sostave Rossii. B arrett , At the Edge of Empire; B oeck , Imperial Boundaries; M alikov , Tsar, Cossacks, and Nomads; C ampbell , Knowledge and the Ends of Empire. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens, 235 – 270, 394 – 404; ders., „The Great Work of U ­ plifting Mankind“; ders., Europe, the „West“; ders., Welten des Kolonialismus. H ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren, 2019.

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Aufklärung‘ die imperiale oder gar koloniale Dimension, die mit ihrer Rezeption durch russländische Akteure verbunden war, bislang ausgeblendet hat, beschäftigt das Thema die Forschung mit Blick auf westeuropäische Kolonialreiche schon seit längerem.109 Wertvolle Anregungen für diese Arbeit ergaben sich daher aus dem Austausch mit der Forschung zur portugiesischen und spanischen Politik des 18. Jahrhunderts in Südamerika sowie zur französischen Herrschaft über Madagaskar.110 Wichtige Impulse erhielt die Arbeit durch die im Jahr 2000 gegründete russischund englischsprachige Zeitschrift Ab Imperio, deren Redaktion sich als Vorreiter einer neuen Forschungsrichtung mit der Bezeichnung ,Neue Imperiumsgeschichte‘ (Novaja Imperskaja Istorija) sieht.111 Diese sich weltweit entwickelnde Forschungsrichtung sowie Anregungen aus der kulturhistorischen Russlandforschung haben das hier zu skizzierende Projekt wesentlich inspiriert. Ein Anliegen besteht darin, das Phänomen Imperium nicht wertend zu betrachten. Weder kann es hilfreich sein, Imperien in der Tradition des 19. Jahrhunderts und seiner Nationalbewegungen oder in jener der marxistischen Imperialismus-­Theorie als ein zu überwindendes bzw. s­ päter überwundenes Entwicklungsstadium anzusehen; noch sollen Imperien mit imperialer Nostalgie als per se friedenswahrende, ethnische und religiöse Konflikte ausgleichende Staatsgebilde betrachtet werden, mit deren Ende sich zuvor unterdrückte Gewaltpotentiale Bahn brachen. Vielmehr geht es um die Herausforderung, sich dem russländischen Imperium als einem vormodernen Phänomen 109 Auch in den jüngeren Arbeiten zur Aufklärung im Zarenreich bleiben die Folgen der Aufklärungsrezeption für die russländische imperiale Politik unberücksichtigt. H amburg , Russia’s Path Toward Enlightenment; L ehmann -­C arli , Aufklärung in Russland, 114 – 116; S chippan , Die Aufklärung in Russland; W irtschafter , Thoughts on the Enlightenment; R enner , Russland. – Den Einfluss aufklärerischer Gedanken auf die Wahrnehmung der ethnographischen Andersartigkeit durch russländische Wissenschaftler hat Yuri Slezkine thematisiert. S lezkine , Naturalists versus Nations, bes. 39 – 45. – Jüngere Studien zum umstrittenen Verhältnis von Aufklärungsgedanken, ihrer Rezeption und Kolonialismus in anderen Weltregionen sind T ricoire , Der koloniale Traum; P ečar /T ricoire (Hg.), Falsche Freunde; B elmessous , Assimilation and Empire; C arey /­T rakulhun , Universalim, Diversity, and the Postcoloinal Enlightenment; C arey /F esta , Introduction; S tewart , Journey to Empire; O sterhammel , Welten des Kolonialismus; W eber , Bárbaros; G hachem , Montesquieu in the Caribbean; M arshall , Taming the Exotic. 110 Diesen Austausch ermöglichte eine von Damien Tricoire organisierte Konferenz zu Aufklärung und Kolonialismus, deren Beiträge sich finden in T ricoire , Enlightened Colonialism. Siehe darin v. a. die Aufsätze von Damien Tricoire, Maria Regina Celestino de Almeida, Lía Quarleri und Klemens Kaps. 111 Gerasimov/Glebov/Kaplunovskij/Mogil’ner/Semenov, V Poiskach Novoj Imperskoj Istorii. – Die ‚Neue Imperiumsforschung‘ hat sich unter dem Einfluss der Post-­Colonial Studies und insbesondere der New Imperial History der britischen Imperiumsforschung herausgebildet. Demnach werden das britische Mutterland und überseeische Kolonien nicht länger separat betrachtet, sondern die tiefgreifende Wirkung imperialer Politik und deren Rezeption in den Kolonien auf britische Eliten und britische Politik im Mutterland herausgearbeitet. Vgl. Wilson, Introduction; Hall, Civilising Subjects. – Einen Überblick zur weltweiten Entwicklung der ‚Neuen Imperiumsgeschichte‘, zu ihrem Potenzial und ihren Forschungsperspektiven bei v. Hirschhausen, A New Imperial History?

Der Forschungsstand und die Quellen

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mit der Sprache und den Konnotationen des 21. Jahrhunderts anzunähern, die nach wie vor vom Zeitalter des Nationalismus und von den zumeist anti-­imperial eingestellten Nationalbewegungen geprägt sind. Dafür ist es entscheidend, die Wahrnehmungen und Deutungen der Zeitgenossen ins Zentrum der Analyse zu stellen und mithin eine Sprache der Selbstbeschreibung des Reiches im Wandel des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten.112 Insofern spielt die Begriffsgeschichte, wie sie von Reinhart Koselleck anhand seines mehrbändigen Werks „Geschichtliche Grundbegriffe“ entworfen, durch fruchtbare Kritik in den Folgejahrzehnten zur Wortfeldforschung und Geschichte semantischer Felder weiterentwickelt und durch wertvolle Beiträge von Historikern des Russländischen Reiches zu zentralen Begriffen des 18. Jahrhunderts bereichert wurde, in jedem Kapitel der Arbeit eine wichtige Rolle.113 Aus dem Blickwinkel der Arbeit folgt, dass sowohl ­solche Quellen im Vordergrund stehen, mit denen die Zarenregierungen den rechtlichen und administrativen Rahmen für das Zusammenleben im Vielvölkerreich legten, als auch s­ olche, in denen die Reflexion der imperialen Elite über ihre transregionalen Herrschaftskonzepte und -praktiken zum Ausdruck kommt. In ­diesem Sinne lassen sich grob vier Gruppen von Quellen ausmachen: Die erste Quellengruppe umfasst Dokumente, in denen es um Rechtsnormen verschiedener rechtsetzender Organe geht. Dazu zählen namentliche Erlasse der Zaren, Gesetze der Regierungen, Urkunden und Beschlüsse des Senats, des Synods oder einzelner Kollegien ebenso wie offizielle diplomatische Vereinbarungen, indigene Treueide von Anführern ethnischer Gruppen und Beschlüsse indigener Entscheidungsgremien. Die zweite Quellengruppe umfasst Dokumente der ausführenden Verwaltung. Dazu gehören nicht nur Anweisungen, Anordnungen und Vermerke vom Kolleg für auswärtige Angelegenheiten und von der jeweiligen regionalen Administration, sondern vor allem Briefwechsel der verschiedenen hierarchischen Ebenen unterein­ander und solcher ­zwischen lokalen Vertretern der Administration und der indigenen Elite. Einige dieser Dokumente tragen informativ-­dokumentarischen

112 Ab-­Imperio Redaktion, Jazyki Samoopisanija Imperii; A ust , Vergleich und Sprachen der Selbstbeschreibung. 113 K oselleck , Einleitung, 13 – 25; ders ., A Response to Comments; ders ., Begriffsgeschichten; R ichter , The History of Political and Social Concepts; B ödeker , Reflexionen über Begriffsgeschichte; R eichardt , Wortfelder – Bilder – semantische Netze; T hiergen (Hg), Russische Begriffsgeschichte; Ž ivov (Hg.), Očerki istoričeskoj semantiki russkogo jazyka. – Wertvolle Beiträge zur Begriffsgeschichte des Russländischen Reiches lieferte Ingrid Schierle in zahlreichen Aufsätzen sowie mit dem von ihr und Denis Sdvižkov herausgegebenen zweibändigen Sammelband. S chierle /S dvižkov , „Ponjatija o Rossii“. – Kritisch in jüngster Zeit zum Wert der Begriffsgeschichte S perling , „Schlafende Schöne“?; die Replik dazu von A ust : Kommentar.

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Einleitung

Charakter (Tabellen, Ortsinformationen, deskriptive Berichte), andere sind Strategiematerialien (Projekte, Pläne, Meinungen), wieder andere sind Rechenschaftsberichte gegenüber einer höheren staatlichen Stelle. Die dritte Quellengruppe setzt sich aus Dokumenten mit stark persönlichem Charakter wie Memoiren, Erinnerungen, Tagebüchern, Handschriften und Reiseaufzeichnungen zusammen, während der vierte genutzte Quellentypus russische Chroniken umfasst.114 Erste Anlaufstelle zur Einsicht von Quellen mit rechtsnormativem Charakter bildeten die 48 Bände der „Vollständigen Gesetzessammlung des Russländischen Imperiums“ (Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii), die jedoch – anders als ihr Name suggeriert – weit mehr als bloß Gesetzestexte und damit auch zahllose Quellen des zweiten Quellenkorpus versammelt.115 Wesentliche Ergänzungen wurden zudem den „Sammelbänden der Kaiserlichen Russischen Historischen Gesellschaft“ (Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskago Obščestva) entnommen.116 Darüber hinaus sind wir Historiker, die zur Imperiumsgeschichte des Russländischen Reiches im 18. Jahrhundert arbeiten, unseren Kollegen aus dem ausgehenden Zarenreich sowie aus der Sowjetunion vor allem der 1930er bis 1970er Jahre zu großem Dank verpflichtet: Sie trugen unzählige wertvolle Dokumente aus den zentralen und lokalen Archiven des Zarenreiches bzw. der Sowjetunion zusammen, veröffentlichten sie und versahen sie mit kenntnisreichen Einführungen und Kommentaren. Ausgiebig spiegeln diese Quellensammlungen sowohl die zeitgenössischen Wahrnehmungen, Strategien und Praktiken der Regierungszentrale als auch jene ihrer administrativ, militärisch und wirtschaftlich agierenden Vertreter in den Peripherien wider.117 Vorrangig entstammen die veröffentlichten Quellen den Beständen des Russländischen Staatlichen Archivs Alter Akten (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov), denen des Russländischen Staatlichen Militär-­Historischen Archivs (­ Rossijskij Gosudarstvennyj Voenno-­Istoričeskij Archiv), dem Russländischen Staatlichen 114 Die eingesehenen Bestände des dritten Quellenkorpus finden sich im Literaturverzeichnis. Russische Chroniken wurden innerhalb der Vollständigen Sammlung Russischer Chroniken (PSRL ) eingesehen. 115 PSZRI Bd. 1 – 46, St. Petersburg 1830. 116 SIRIO Bd. 1 – 148, St. Petersburg 1876 – 1916. 117 Die wichtigsten Quellenbände dieser Art (hier nur die Kurztitel) für Sibirien, Fernost, den Nordpazifikraum, Russisch-­Amerika waren für die vorliegende Arbeit Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke v XVIII veke; Kolonial’naja politika Moskovskogo gosudarstva v Jakutii XVII v.; Russkie otkrytija v tichom okeane; E fimov /O rlova (Hg.), Otkrytija russkich zemleprochodtcev. – Für die südlichen Steppen: KRO Bd. 1; KRO Bd. 2; MpiK SSR; MipsK; Istorija Bukeevskogo chanstva. 1801 – 1852 gg.; MpiB ASSR; RTurkO; Nogajsko-­Russkie otnošenija v XV ‒XVIII vv.; Russko-­Nogajskie Otnošenija i Kazačestvo v konce XV ‒XVII veke. – Für den Nordkaukasus: KabRO Bd. 1 – 2; Russko-­Osetinskie otnošenija v 18 veke; RDagO Bd. 1 – 3. – Über die genannten Regionen hinaus erwiesen sich als wertvoll RMongO Bd. 1 – 3.

Der Forschungsstand und die Quellen

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Historischen Archiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv) und dem Archiv des St. Petersburger Instituts der Geschichte des Russländischen Akademie der Wissenschaften (Archiv Sankt-­Peterburgskogo Instituta Istorii Rossijskoj Akademii Nauk). Einige der publizierten Quellen lagern in Archiven der jeweiligen Regionen. Auch Dokumente von externen Beobachtern sowie Textzeugnisse von Vertretern nicht-­russischer ethnischer Gruppen finden sich in manchen der Dokumentenbände, dann zumeist publiziert sowohl im Original als auch in der russischen Übersetzung.118 Texte zeitgenössischer Übersetzer von Briefen nicht-­russischer Elitevertreter sind allerdings nur mit Vorsicht als Primärquellen zu betrachten. Angesichts der Probleme, die mit der damaligen Übersetzung ins Russische verbunden waren, können sie nur eingeschränkt als vertrauenswürdige Abbilder der Reaktionen indigener Akteure gelten.119 Sicht- und Verhaltensweisen indigener Bevölkerungsgruppen (und hier vorrangig die ihrer Eliten) scheinen aber auch in den Dokumenten durch, die von russländischen Akteuren angefertigt wurden. So werden dort indigene Widerstände bzw. strategische Überlegungen der russländischen Seite, wie diese zu überwinden ­seien, breit thematisiert. Mit der Einschränkung, dass es stets die russländische Brille ist, die über Thema und Tenor entschied, ist auf diese Weise eine ‚indigene Mitschrift‘ in der Konzipierung wie auch in der Durchführung imperialer russländischer Praktiken enthalten.120 Mindestens so interessant wie die Fragen, auf w ­ elche Weise die Staatsdiener die indigene Bevölkerung wahrnahmen, über welches Wissen sie dabei verfügten und ­welche Folgerungen sie aus ­diesem Wissen zogen, ist dabei die Frage, worüber sie jeweils schwiegen.121

118 So finden sich beispielsweise kasachische Texte im Original wie in der Übersetzung im Dokumentenband KRO Bd. 1. Diese Texte entstanden aus den Federn persönlicher Sekretäre (abyz), die sich jeder kasachische Chan, Sultan und bedeutendere Stammesführer hielt. Zu den Problemen der mangelhaften Ausbildung vieler dieser Sekretäre, die sich oft in schlechter Textqualität niederschlug, siehe K ireev /A lejnikova /S emenjuk /Š oinbaev , Predislovie, XV. 119 Vielen Übersetzern mangelte es an ausreichenden Kenntnissen. Darüber hinaus lässt sich für den Historiker nicht erkennen, inwieweit der Übersetzer das Originalzitat oder den Originaltext nicht dem Erwartungshorizont des Adressaten, in der Regel der administrativen russländischen Elite vor Ort, bereits angepasst, scharfe Formulierungen abgemildet oder weggelassen hatte. Zur Problematik mangelhafter Übersetzungsfertigkeiten aus zeitgenössischer russischer Sicht T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733], in: Izbrannye ­proizvedenija, 89. Daneben K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 69 – 75; S chierle , „Sich sowohl in verschiedenen Wissensgebieten als auch in der Landessprache verbessern“. Zum Problem von Übersetzungen im spanischen kolonialen Kontext R afael , Contracting Colonialism. 120 Die Nichtschriftlichkeit vieler nicht-­christlicher Völker der russländischen Peripherien im 18. Jh. erschwert es, Primärquellen nicht-­russischer Akteure einzubeziehen, um aus ihnen weitere Kenntnisse über die imperialen russländischen Praktiken zu erhalten. 121 S toler , Along the Archival Grain, 17 – 53; L andwehr , Geschichte des Sagbaren, bes. 173; ­T ricoire , Enlightened Colonialism?

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Einleitung

1.5  Der Auf bau der Arbeit Die zu Beginn dieser Einleitung gestellte Frage, ob es vor 1721 in der Wahrnehmung der Staatselite noch kein Imperium im Sinne einer Politik der Differenz gegeben habe, bildet den Ausgangspunkt für das zweite Kapitel. Es ist der grundlegenden Frage gewidmet, inwiefern und unter ­welchen Bedingungen nicht-­russische Bevölkerungsgruppen zu Untertanen des Zaren wurden bzw. werden konnten. Das Kapitel berührt mithin den fundamentalen Aspekt, wie das russische Konzept von Untertanenschaft vor dem 18. Jahrhundert überhaupt ausgesehen hatte. Lassen sich in den konkreten Aufnahmemodalitäten und über den anschließenden rechtlichen Status Unterschiede z­ wischen der Aufnahme russischsprachiger Gruppen in den Herrschaftsbereich des Moskauer Fürstentums und späteren Moskauer Reiches auf der einen Seite und jenen der Nicht-­Russen auf der anderen Seite ausmachen? Spiegelt sich im Konzept der Untertanenschaft ein imperialer Charakter des Zarenreiches oder eher der eines Einheitsstaates? Und w ­ elche Wandlungen lassen sich vor dem Hintergrund des Untertanenschaftskonzepts der vergangenen Jahrhunderte für das Konzept und den Umgang mit russländischer Untertanenschaft im 18. Jahrhundert herausarbeiten? Im dritten Kapitel wird die wesentliche These der Arbeit, der epochengeschichtliche Einschnitt in der imperialen Politik des Russländischen Reiches durch die Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit, gleichsam en miniature an einem zentralen Element nachvollzogen, bei dem sich Untertanenschaft von Russen von solcher nicht-­christlicher ethnischer Gruppen im Süden und Osten unterschied: bei der russländischen Methode der Geiselnahme. Da dieser imperialen Praxis für die dauerhafte Festigung russländischer Expansion im Falle aller betrachteten ethnischen Gruppen eine elementare Bedeutung zukam, und dies teilweise sogar bis ins 19. Jahrhundert hinein, ihr hingegen in der Historiographie bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, ist der Methode ein eigenes Kapitel gewidmet. Mit Hilfe der Entstehungsgeschichte der Geiselhaltung seit der Kiever Rus’ geht es zunächst um die Widerlegung der bislang kaum hinterfragten Auffassung, das Moskauer Großfürstentum habe die Methode von den Mongolen übernommen, so dass auch die nähere Ausgestaltung der Praxis von mongolischer Prägung gewesen sei. Daran anschließend wird die These ausgeführt, dass die imperiale Geiselhaltung über den Nordkaukasus aus dem osmanischen Kontext des 16. Jahrhunderts heraus vom Moskauer Reich übernommen wurde und anschließend ein spezifisch russisches bzw. russländisches Gepräge annahm. In dieser Ausgestaltung kam die Geiselhaltung im De-­facto-­Imperium des 16. und 17. Jahrhunderts vom Nordkaukasus bis nach Kamčatka zum Einsatz. Erst vor dem Hintergrund der Kenntnisse über die Moskauer Prägung der Geiselhaltung wird das Ausmaß ihres Wandels begreifbar, der sich im 18. Jahrhundert vollzog: der Wandel im Blick auf die Geisel,

Der Aufbau der Arbeit

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die nicht länger als aufzubewahrende Pfandobjekte betrachtet, sondern als Objekte von Zivilisierungsabsichten und kolonialer Ausbeutung entdeckt wurden. Damit sind die Voraussetzungen für das vierte und mit Abstand längste Kapitel geschaffen, das in sechs, jeweils solitär angelegten Unterkapiteln verfasst ist und die Veränderungen imperialer Herrschaftskonzepte und -praktiken im 18. Jahrhundert in großer thematischer Breite behandelt. Während sich bei den Kapiteln zur Untertanenschaft und Geiselhaltung jeweils erst am Ende Zusammenfassungen finden, ließ es der weit größere Umfang des vierten Kapitels sinnvoll erscheinen, Zusammenfassungen hier bereits an das Ende eines jeden Unterkapitels anzufügen. Im ersten Unterkapitel (4.1) werden alle drei Schritte zur Ausbildung eines russländischen Zivilisierungsdiskurses mit imperialer Dimension im 18. Jahrhundert nachverfolgt: das Aufkommen eines Begriffsfeldes zur ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘, die Selbstzuschreibung, dass die russländische Bevölkerung/ der russländische Staat zivilisiert sei (unbenommen eines parallel laufenden, von Peter I. angestoßenen Diskurses, die eigene Bevölkerung zivilisieren zu wollen), sowie der Wille, ausgehend von der angenommenen eigenen Zivilisiertheit und Zivilisation nicht-­russische Andere zu zivilisieren. In den fünf sich anschließenden Unterkapiteln geht es darum zu zeigen, wie aus der geistigen Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit praktische Politik erwuchs, die zuweilen kolonialen Mustern folgte. Dabei stehen in erster Linie die Genese und die Veränderung bestimmter Diskurse und Praktiken der russländischen Elite im Zentrum. Fragen nach der Wirkung, dem Ausmaß und der Nachhaltigkeit der Praktiken kommen zwar zum Zuge, spielen jedoch insgesamt eine untergeordnete Rolle. Zunächst (4.2) wird die Strategie der russländischen Elite untersucht, die alte Tradition des Baus von Verteidigungslinien an der südlichen frontier des Reiches im 18. Jahrhundert für eine neue Territorialpolitik zu n­ utzen, mit der fundamental in das Leben bereits untertäniger, nicht-­christlicher ethnischer Gruppen eingegriffen wurde, um d­ ieses nach russländischen Interessen und Bedürfnissen neu zu ‚ordnen‘. Das folgende Unterkapitel (4.3) arbeitet die Bedeutung der von Peter I. begonnenen Christianisierungsoffensive heraus, bei der es nur vordergründig um religiöse Anliegen ging, tatsächlich aber um den Übergang von einer Eroberungs- zu einer ‚Zivilisierungspolitik‘. Das vierte Unterkapitel (4.4) handelt von der Ausweitung dieser Offensive durch den Eingriff in Lebensweise und Wirtschaftsform indigener Untertanen. Das fünfte Unterkapitel (4.5) thematisiert die schleichende Aushöhlung und Transformation indigener Herrschafts- und Rechtsstrukturen gemäß russländischen Interessen und auf der Grundlage der Überzeugung zivilisatorischer Überlegenheit. Das sechste und letzte Unterkapitel (4.6) umrahmt alle vorangegangenen, insofern es grundlegende Konzepte und Praktiken der russländischen Herrschaftskultur untersucht, die zur Herstellung von Loyalität und teilweise zur ‚Zivilisierung‘ nicht-­russischer Bevölkerungsgruppen im Süden und Osten eingesetzt wurden.

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Einleitung

Während im Kapitel zur Geiselhaltung der transregionale (und diachrone) Ansatz der Arbeit vom Nordkaukasus über die südlichen Steppen, Sibirien, Fernost, Nordpazifik und Russisch-­Alaska weitgehend ausgewogen zur Geltung kommt, bringen es sowohl regional bedingte Unterschiede als auch der thematische Umfang des vierten Kapitels mit sich, zeitlich und nach Regionen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen. Bei der territorialen Kolonialisierung stehen die südlichen und südöstlichen Steppenvölker im Zentrum; doch wird mit Blick auf den Transfer der neuen Raumpolitik auch der Nordkaukasus einbezogen. Bei der Christianisierungsoffensive der petrinischen Ära geht es primär um ethnische Gruppen Sibiriens und Fernost, am Rande auch um jene der mittleren Wolga. Bei den Eingriffen in Lebensweise und Wirtschaftsform stehen die Steppenvölker und der Nordkaukasus im Vordergrund, hingegen werden hier die ethnischen Gruppen im Nordpazifikraum und in Russisch-­Alaska nur gestreift. Nach einem k­ urzen Überblick über unterschiedliche russländische Vorgehensweisen gegenüber den Herrschaftsstrukturen nicht-­russischer ethnischer Gruppen vom Nordkaukasus bis zu den Jakuten und Itel’menen werden die Aushöhlung und Transformation indigener Herrschafts- und Rechtsstrukturen im Detail am Beispiel der Kalmücken und Kasachen analysiert. Das letzte Unterkapitel bezieht sich mit seinen Ausführungen zur russländischen Herrschaftskultur, Loyalität durch Gnade und Gabe herzustellen, wieder auf sämtliche nicht-­russische ethnische Gruppen im Süden und Osten des Reiches.

2 . DA S KONZ E P T DE R U N T E RTA N E NSC H A F T A LS I NST RU M E N T DE R I M PE R I U M SBI L DU NG

Im 18. Jahrhundert wurde nicht nur territorial das Russländische Imperium entscheidend ausgebaut. Neben der Eroberung der baltischen Provinzen, dem Ausgreifen nach Fernost und Russisch-­Amerika, der Aneignung der südlichen Steppen, der Krim und der Teilungsgebiete Polens schälten sich in dieser Epoche vor allem seine besonderen Charakteristika, Institutionen und machtpolitischen Praktiken heraus.1 Eine der schwierigsten, gleichzeitig aber auch wichtigsten Aufgaben für das Zarenreich war die Festlegung, unter ­welchen Bedingungen die jeweils indigenen Bevölkerungsgruppen und ihre Anführer im Falle von Annexionen zu Verbündeten, Schutzbefohlenen oder Untertanen des Reiches werden konnten oder mussten. Der Umgang mit dieser Frage hatte entscheidenden Einfluss auf den Erfolgsgrad imperialer Expansion. Darüber hinaus prägte er maßgeblich den Weg, den das Kontinentalreich bei der Formung seines Staatsvolkes einschlug. Anhand der Entwicklung des Konzepts der Untertanenschaft soll daher im Folgenden gezeigt werden, wie zwei große Prozesse im Zarenreich gleichzeitig und engstens miteinander verflochten konzeptionell zum Abschluss kamen: der Prozess der russländischen Staatsbildung sowie derjenige der Imperiumsbildung. Während das Konzept der russländischen Untertanenschaft mit Blick auf ‚Einbürgerung‘ durch individuelle freiwillige Immigration in der Literatur bereits untersucht worden ist, blieb die imperiale Dimension weitestgehend ausgeblendet.2 In seiner Pionierstudie zur Untertanenschaft im Russländischen Reich kam der liberale russische Rechtshistoriker des frühen 20. Jahrhunderts, Vladimir Gessen, zu dem Ergebnis, dass bis zur petrinischen Zeit für einen Ausländer der einzige Weg zum Eintritt in die Untertanenschaft die Konversion zur Orthodoxie

1 Zur Bedeutung des 18. Jh. für den Ausbau russländischer imperialer Praktiken K amenskij ­Poddanstvo, Lojal’nost’, Patriotizm, bes. 60. 2 Die nach wie vor wichtigste Studie stammt von G essen , Poddanstvo, bes. 203 – 206. Daneben W oltner , Untertanenschaft von Westeuropäern; N ikolaev , Poddanstvo Rossijskoj Imperii. – Eric Lohr behandelt zwar auch die imperiale Dimension von Untertanenschaft, geht aber kaum auf das 17. und 18. Jahrhundert ein. L ohr , Russian Citizenship. – Zu den Ursprüngen des Untertanenschaftkonzepts im 15. und 16. Jahrhundert T repavlov , Prisoedinenie narodov k Rossii, 198 – 205; Š ablej , Poddanstvo v Aziatskoj Rossii.  – In einem anderen Werk berücksichtigt Trepavlov auch das 18. Jahrhundert, geht dabei allerdings der Frage nach, wie die indigenen ethnischen Gruppen ihre jeweilige Untertanenschaft auffassten, nicht hingegen dem Aspekt, wie die russländische Konzeption von Untertanenschaft aussah. T repavlov , „Belyj Car’“, 134 – 197.

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Das Konzept der Untertanenschaft als Instrument der Imperiumsbildung

gewesen sei.3 Gessen ließ damit außer Acht, dass bis 1700 bereits unzählige nicht-­ orthodoxe ethnische Gruppen dem Russländischen Reich ‚beigetreten‘ waren, also die Untertanenschaft mit dem Eid auf den Herrscher angenommen hatten, ohne ihren Glauben zu wechseln. Im Gegenteil, sie waren sogar angewiesen worden, ihren Eidesschwur in ihrem eigenen Glauben zu leisten.4 Die Vernachlässigung der imperialen Dimension von Untertanenschaft ist insofern überraschend, als im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert durch imperiale Expansion eine weit größere Anzahl an Untertanen gewonnen werden konnte, als Ausländer durch individuelle freiwillige Immigration zu neuen Untertanen wurden. Eine Sicht auf das Konzept der Untertanenschaft, die nur die ‚Einbürgerung‘ vereinzelt erfolgter, freiwilliger Immigration berücksichtigt, muss daher unvollständig bleiben bzw. zu falschen Schlussfolgerungen führen. Was verstand die russische und russländische Seite überhaupt unter Untertanenschaft in ihrem Reich? Welchen Ursprung hatte d­ ieses Verständnis und woran lässt es sich festmachen? Wie wurde es begrifflich gefasst? Welche Bedeutung kam dem Konzept von Untertanenschaft im imperialen Kontext zu? Und w ­ elchen Veränderungen unterlag es im 18. Jahrhundert? Im folgenden interessieren mithin nicht nur rechtliche Fragen der ‚Mitgliedschaft‘ innerhalb des zarischen Herrschaftsverbandes. Statt einer formalen institutionellen Analyse geht es primär um politische Konzepte und Praktiken, die während und nach der Aufnahme der nicht-­ russischen und nicht-­christlichen ethnischen Gruppen in die Untertanenschaft zur Anwendung kamen. Eine Herangehensweise, die sich auf rechtliche Fragen beschränkte, würde an dem Problem scheitern, dass der Moskauer Staat trotz beständiger Immigration und fortgesetzter imperialer Expansion die Aufnahme in den Untertanenverband bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ungeregelt ließ bzw. von Fall zu Fall verschieden handhabte. Und selbst im 18. Jahrhundert findet sich keine Gesetzgebung, die allgemein verbindlich festgelegt hätte, wie eine einverleibte ethnische Gruppe in die Untertanenschaft inkorporiert wurde und ­welche Rechte und Pflichten damit verbunden waren. Inkonsistenz im Vorgehen russländischer Regierungen und terminologische Unsicherheiten machen eine juristisch eindeutige Definition des Untertans für die Frühe Neuzeit unmöglich. Um mit dem bereits zitierten Historiker Vladimir Gessen zu sprechen: „Es ist für das 18. Jahrhundert im höchsten Grade schwierig, auf die Frage zu antworten, wer eigentlich Untertan und wer Ausländer ist.“

3 G essen , Poddanstvo, 203 – 206. 4 Ausführlich zum Eidesschwur nach dem eigenen Glauben weiter unten.

Die Entstehung des Konzepts von Untertanenschaft

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2.1  Die Entstehung des Konzepts von Untertanenschaft Das russländische Konzept von Untertanenschaft im 18. Jahrhundert erfassen zu wollen, wirft daher die Frage auf, welches Verständnis bis dahin vorherrschte bzw. seit wann es im Moskauer Reich überhaupt eine Vorstellung von Untertanenschaft gab. Der amerikanische Historiker Eric Lohr greift die Inkorporation der Hetmanats-­ Ukraine von 1654 als Paradigma für die Aufnahme in die Untertanenschaft im Prozess imperialer Expansion heraus.5 Er beruft sich dabei auf die Analyse des russischen Rechtsgelehrten Boris E. Nol’de. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass Nol’de den Fall der Hetmanats-­Ukraine lediglich als Ursprung für die Ausbildung des Systems „russischer regionaler Autonomien“ bezeichnete.6 Zweifelsfrei spielte das Abkommen von Perejaslav, wie man den Rechtsakt der Aufnahme des Kosaken-­Hetmanats nach dem Ort seines Abschlusses benennt, eine herausragende Rolle in der Ausgestaltung des Konzepts von russischer und russländischer Untertanenschaft. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Das Abkommen entsprach jedoch keiner Stunde null einer imperialen Expansion des Reiches. Vielmehr lagen auch ihm bereits ‚Blaupausen‘ zur Aufnahme in die Untertanenschaft vor, die viel weiter in die Geschichte des Moskauer Reiches und seiner Formierung zurückreichen. Denn gerade im 15. und 16. Jahrhundert finden sich entscheidende Elemente, die das Konzept der Untertanenschaft bis ans Ende des Zarenreichs prägten. In ihrer Kenntnis liegt der Schlüssel zum Verständnis auch von Untertanenschaft im 18. Jahrhundert. Die Begründung des Imperiums wird gemeinhin mit der Eroberung der Chanate der Goldenen Horde, Kazan und Astrachan, Mitte des 16. Jahrhunderts in Verbindung gebracht. Nachdem zuvor die Moskauer Regierung bereits über eine polyethnische Bevölkerung geherrscht hatte, annektierte Zar Ivan IV. mit den beiden Chanaten erstmals Staatswesen mit einer fremden, nicht-­ostslawischen und vor allem nicht-­christlichen Hochkultur. Doch auch in diesen Fällen setzten die erobernden Russen ein Unterwerfungsmittel ein, das keineswegs neu, sondern ihnen schon seit langer Zeit vertraut war, den Treueid. Moskauer Truppen hatten im Frühjahr 1551 die westlich der Wolga gelegenen Gebiete bei Kazan umzingelt, Versorgungswege abgeschnitten, mit dem Bau der Festung Svijažsk begonnen und die Bevölkerung militärisch angegriffen. Die Bewohner des als „Bergseite“ bezeichneten Wolga-­ Ufers beschlossen daraufhin, sich ‚freiwillig‘ dem Moskauer Vertreter von Svijažsk zu unterstellen. Die russische Seite transformierte diesen ‚Unterstellungswunsch‘ umgehend in eine Aufnahme in die Untertanenschaft des Moskauer Zaren: 5 L ohr , Russian Citizenship, 29. 6 N ol ’de , Essays in Russian State Law, 873. Das russische Original erschien unter N ol ’de , Očerki russkago gosudarstvennago prava.

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Das Konzept der Untertanenschaft als Instrument der Imperiumsbildung

Die zarischen Dienstleute ließen alle Menschen von der Bergseite (gornich ­ljudei), „die Fürsten, Mirza, Hundertschafts- und Zehntschaftsführer (sotnych knjazei und desjatnych), die Čuvašen, Čeremissen, Mordwinen, Mišaren (Možjary) und Tarchane“ dem Moskauer Zaren „nach ihrem Glauben“ (po svoei vere) schwören (pravdu gosudarju dajut), dass sie und ihre Kinder dem Zaren und Großfürsten „unaufhörlich unterstehen“ (neotstupnym byti), „ihm dienen und in allem das Gute erstreben“ wollten (služiti i choteti vo vsem dobra); dass die lastenpflichtigen Leute sowohl „Tribut wie Abgaben“ (dani i obroki) zahlten, die der Herrscher festlege, und dass sie bei sich keinerlei russische Gefangene hielten.7 Zwar hatte sich eine große Anzahl von Vertretern der tatarischen Oberschicht durch die Flucht auf die andere Flussseite des Kazaner Chanats dem Eid entzogen.8 Die Eroberung des gesamten Kazaner Chanats sollte sich auch noch anderthalb Jahre hinziehen. Doch entscheidend ist an dieser Stelle nicht die Anzahl der Inkorporierten oder die Geschwindigkeit, mit der sich die Annexion vollzog, sondern die Frage, wie und mit ­welchen Mitteln sich die Moskauer Seite politisch und kulturell fremde ethnische Gruppen einverleibte. Patricia Seed hat mit ihrem Buch zu Formen europäischer Eroberung und Inbesitznahme von Land und Leuten gezeigt, wie unterschiedlich Briten, Franzosen, Spanier und Holländer ihre Eroberungen in der Frühen Neuzeit zu festigen suchten.9 Die Mittel, um imperiale Herrschaft über Einheimische (und ihr Land) zu etablieren, basierten auf Praktiken, Gesten, Vorgängen oder Reden, die ihnen aus ihrem eigenen landsmannschaftlichen Kontext vertraut waren. 7 Letopisec Načala Carstva Carja i Velikogo Knjazja Ivana Vasilv’eviča. In: PSRL Bd. 29, Moskau 1965, 62. – Die in der Chronik aufgezählten Gruppen, die einen Eid leisteten, machen deutlich, wie wenig die Moskauer Seite zu dieser Zeit soziale, ethnische und funktionale Kategorien auseinanderhielt. Mirza war in Übernahme aus dem Persischen ein aristokratischer Titel turksprachiger Völker, Tarchan ein aus dem mongolischen oder osmanischen Kontext stammender Titel, der einen privilegierten Stand bzw. einen von Abgaben befreiten Stand bezeichnete. Die übrigen Gruppenbezeichnungen waren ethnischer, funktionaler oder sozialer Natur. Mehr zum Tarchan-­ Titel in Kap. 4.6. – Der Treueid, den die Menschen der „Bergseite“ des Kazaner Chanats leisteten, unterschied sich von dem Treueid, den s­ päter die Tataren von der anderen Seite des Flusses, der Lugovaja-­Seite, abgaben. Während die „Bergseite“ sich angesichts der militärischen Bedrohung ‚freiwillig‘ ergeben hatte und dafür das Privileg einer dreijährigen Freistellung von Abgaben erhielt, gab es für die Tataren der anderen Seite, die ihren Treueid erst nach ihrer militärischen Niederlage leisteten, keinerlei Vergünstigungen. Mit dieser unterschiedlichen Behandlung der Kazaner Bevölkerung je nachdem, ob es sich bei ihr um einen ‚freiwilligen‘ oder gewaltsam erzwungenen Untertanenschaftsbeitritt handelte, statuierte das Moskauer Reich ein Exempel, nach dem sich auch das Vorgehen bei späteren Unterwerfungen richtete. T repavlov , „Belyj Car’“, 140 – 142. 8 Trepavlov spricht von einer „Mehrheit tatarischer Aristokraten“. T repavlov , „Belyj Car’“, 140. Andreas Kappeler verweist auf Ergebnisse der Sowjethistoriographie, die – einem Zeugnis der „Kazaner Historie“ folgend – betonten, dass sich „einige Fürsten und Mirza“ dem Eid entzogen hätten. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 72. 9 S eed , Ceremonies of Possession, bes. 5, 16 – 41.

Die Entstehung des Konzepts von Untertanenschaft

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Bei den Engländern entstammte das Ritual zur imperialen Inbesitznahme der Gärtnerrhetorik, den Landbesitzerpraktiken und den landwirtschaftlichen Fruchtbarkeitsritualen: Eigentumsansprüche ergaben sich auch zu Hause aus beackerten und umzäunten Feldern sowie aus darauf errichteten Häusern. Bei den Franzosen spielten Prozessionen nach dem Modell eigener Königskrönungen eine große Rolle, bei den Holländern wurden Ansprüche in erster Linie durch Karten und hochdetaillierte Beschreibungen fixiert, bei den Portugiesen legte eine elitäre Tradition islamischer und hebräischer Astronomie und Mathematik es nahe, territoriale Ansprüche durch die dort zu beobachtende exakte Beschreibung der Gestirne zu manifestieren. Für maritime Imperien war es charakteristisch, Herrschaftsansprüche mittels überwiegend territorial orientierter Praktiken zu vollziehen. Für Kontinentalimperien wie das Zarenreich lag es hingegen nahe, andere Rituale zu wählen. Die Russen rammten keine Fahnen in den Erdboden des Chanats, sie lieferten keine ausgegrabene Grasnarbe in Moskau ab, sie beschrieben nicht die vor Ort zu beobachtende Position der Sterne, sie fertigten keine detaillierte Landkarte an, und sie vollzogen ihren Herrschaftsanspruch auch nicht durch das feierliche Vorlesen entsprechender Dokumente gegenüber den Chanatsbewohnern. Bei ihrer Expansion entdeckte die zarische imperiale Elite bis weit ins 18. Jahrhundert hinein weniger ‚neues Land‘, als dass sie auf mehr oder weniger bekanntem Terrain die Herrschaft über die dort lebenden indigenen Personenverbände erlangen und mehr Tributzahler für den Zaren gewinnen wollte.10 Land spielte im Moskauer Reich nur eine Rolle als Boden, auf dem sich die einverleibte Bevölkerung befand. Infolgedessen ging es darum, Rituale zur Festigung der eigenen Herrschaft so auszurichten, dass daraus die Bindung der Menschen an den neuen Herrscher hervorging. Vor ­diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Moskauer imperiale Elite die Einverleibung von Menschen im Zuge imperialer Expansion von Beginn an und primär anhand des Schwurs der Einheimischen vollzog. Mit der Ableistung des Treueids verband sich das fundamentale Anliegen, den Menschen eine neue politische Identität zu verleihen. Bis zum Ende des Zarenreiches sollte daher d­ iesem Ritual eine elementare Bedeutung zukommen. Allerdings reicht das Herrschaftsverständnis, wonach für das Zarenreich weniger das ‚neue‘ Land als vielmehr die neu inkorporierten Menschen eine Rolle spielten, noch nicht aus, um die Bedeutung des Treueids für die russische und russländische Geschichte zu erklären. Vielmehr erscheint im Sinne von Patricia Seed auch im Fall des Zarenreiches die Suche nach früheren Traditionen wichtig, um zu erfassen, warum als das entscheidende Kriterium für Inkorporation nur der 10 S lezkine , Naturalists Versus Nations, 27; S underland , Imperial Space, 35 f.; W inkler , From Ruling People to Owning Land, 323; K ivelson , Cartographies of Tsardom, bes. Kap. 7.

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Das Konzept der Untertanenschaft als Instrument der Imperiumsbildung

Rückgriff auf die Praxis des Treueids in Frage kam und welches Verständnis damit einherging. Aufschlussreich ist der Blick auf innerrus’ische Praktiken im Mittelalter. Tatsächlich nämlich hatte der Eid in Form des Treueids schon zu Zeiten des Kiever Reiches eine große Rolle gespielt. Nach der 988 erfolgten Annahme des Christentums eigneten sich die Fürsten der Rurik-­Dynastie die Praxis der Treueidleistung in Verbindung mit christlichen Symbolen an: Vor allem der Kreuzkuss als heiligste Form des Treueids setzte sich gegen andere Formen wie das Küssen von Ikonen, die Berührung von Reliquien oder den Schwur bei erhobener rechter Hand über der Bibel durch.11 Im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert avancierte der Kreuzkuss, vollzogen vom ‚Kreuzküsser‘ (krestoceloval’nik), zum Kernstück der Unterstellung ostslawischer Adliger in den Dienst der Moskauer Fürsten. Im Zuge des Kampfes z­ wischen Litauen und Moskau um die Vereinigung der rus’ischen Länder kam der Treue jener Adligen, deren Wurzeln in den Gebieten nahe der Grenze z­ wischen Litauen und Moskau lagen, eine besondere Bedeutung zu. Das russische Eidritual besiegelte entweder den Übertritt aus einem anderen Herrschaftsgebiet in das eigene oder die Vereidigung des Dienstadels in den umkämpften Gebieten. Die Vereidigung war zu einem Mittel geworden, um die neuen Adligen in den eigenen Hof zu inkorporieren, sie an sich zu binden und damit für innere Stabilität zu sorgen.12 Mit dem ersten Sieg, der 1380 über ein tatarisches Heer errungen wurde, baute das Moskauer Großfürstentum seine Vorrangstellung erheblich aus. Ein Jahrhundert s­ päter folgte die gewaltsame Annexion Novgorods (1478) sowie zwei Jahre ­später die formale Lösung Moskaus aus der Herrschaft der Goldenen Horde. An die Stelle des Konzepts von der gedachten Einheit von Herrscher und seiner Gefolgschaft (družina), die noch aus den Zeiten der Kiever Rus’ stammte, trat in diesen Zeiten des erstarkenden Moskauer Großfürstentums das Bedürfnis, dem immer größer werdenden Reich einen anderen Zusammenhalt als früher zukommen zu lassen. Die Idee des treuen Dienstes des Adels gegenüber dem Fürsten blieb zwar erhalten. Sie wandelte sich aber insofern, als Großfürst Ivan III. jeglichen Gedanken der Gegenseitigkeit aus dem Treueid entfernte. Zudem setzte er gewaltsam 11 Zum Aufkommen und zur Bedeutung des Kreuzkusses S tefanovič , Krestocelovanie; D ewey / K leimola , Promise and Perfidy; F edorov , O forme prisjagi v Rossii. 12 S tefanovič , Der Eid des Adels gegenüber dem Herrscher, 502. – Der Eid gilt gemeinhin als „ethnologisches Urphänomen“ (Gerhard Dilcher). Erstmals nachgewiesen ist der Untertaneneid für das Jahr 534 in der Merowingerzeit. Er spielte anschließend in vielen Kulturen eine große Rolle, nicht zuletzt im germanisch-­deutschen Rechtsleben. Zur Bedeutung und Entwicklung des politischen Eides in der europäischen Verfassungsgeschichte D ilcher , Eid; F riesenhahn , Der politische Eid; P rodi , Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte; ders ., Das Sakrament der Herrschaft; R eiling , Untertaneneid; M unzel -­E verling , Eid.

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durch, dass jeder, der einmal gegenüber dem Moskauer Herrscher einen Treueid geleistet hatte, daran für immer gebunden blieb. Den Bojaren blieb künftig ein Abzugsrecht verwehrt.13 Zudem wurde Anfang des 15. Jahrhunderts der Brauch aus den Zeiten des Kiever Reiches abgeschafft, den Treueid auch mündlich ablegen zu dürfen. Als Beeidigung duldete die K ­ irche fortan nur noch Kreuzkussurkunden (krestoceloval’nye zapisi) und verschriftlichte und formalisierte damit die Herrschaftsbeziehungen z­ wischen Großfürst und Adel.14 Aus den einstigen Gefolgsleuten, den „lieben Brüdern“ des Fürsten, wurden gleichsam „von Natur aus“ dienstverpflichtete Untertanen. An die Stelle von Freundschaft und Gegenseitigkeit trat die volle und unbedingte Ergebenheit des Adels gegenüber dem Herrscher.15 Wenn auch der in den Urkunden festgehaltene Kreuzkuss zur Beeidigung des Herrschaftsverhältnisses anfänglich noch nicht als direkter Ausdruck des Untertaneneids zu bezeichnen ist, so gibt es doch keinen Zweifel daran, dass sich der Kreuzkuss spätestens im 15. Jahrhundert de facto in einen Untertaneneid verwandelte.16 Ein Aufruf von Großfürst Vasilij III. gibt dies treffend wieder, auch wenn er bereits vom Anfang des 16. Jahrhunderts stammt. Demnach wurden alle zum Kreuzkuss aufgefordert, „die dem Moskauer Staat angehören wollen“ (chto chočet sidet’ v Maskovskom gosudarstve). Diejenigen, die den Kreuzkuss nicht leisten wollten, sollten aus Moskau verschwinden.17 Petr Stefanovič hat überzeugend nachgewiesen, dass die sakral überhöhte, persönliche Bindung der Adligen an den Moskauer Großfürsten nicht in einer sozial-­ständischen Tradition der Vasallität stand, dass sie kein Vertragsverhältnis begründete, wie dies im Geiste des Lehnswesen ­zwischen Lehnsherr und Vasall in Westeuropa gängig war. Dort war der vasallitische Treueid als Ausdruck der sozial-­ständischen Beziehungen ­zwischen Fürst oder König und adligem Gefolge seit Ende des 8., Anfang des 9. Jahrhunderts sogar konstitutiv für das Vasallentum.18 13 K aštanov , Gosudar’ i poddannye na Rusi, 227; A lef , Das Erlöschen des Abzugsrechts der Moskauer Bojaren; D ewey /K leimola , Promise and Perfidy, 334. 14 S tefanovič , Der Eid des Adels gegenüber dem Herrscher, 498. 15 Ausführlich zur Praxis des Kreuzkusses S tefanovič , Religiozno-­ėtničeskie aspekty; ders ., Krestocelovanie. 16 S tefanovič , Der Eid des Adels gegenüber dem Herrscher, 503. 17 O krestnom celovanii i o izmene. Novyj Letopisec. In: PSRL Bd. 14, Moskau 1965 [Abdruck der Ausgabe von St. Petersburg 1910], Nr. 169, 62. 18 Der Lehnseid hatte sich allerdings erst im Zuge fortschreitender Feudalisierung aus dem Treueid heraus entwickelt. Die Verwandtschaft z­ wischen Untertanen- und Lehnseid blieb daher sprachlich lange Zeit spürbar, wenngleich die Forschung auch für das Mittelalter von zwei qualitativ voneinander klar zu trennenden Treueiden ausgeht. Zur Debatte der Rechtshistoriker zum Charakter des Treueides unter Karl dem Großen: H olenstein , Die Huldigung der Untertanen, 25 – 27, 115 – 118; M unzel -­E verling , Eid, Sp. 1249 – 1261.

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Im russischen Fall hingegen stand das mit dem Kreuzkuss vollzogene Eidritual im Moskauer Großfürstentum für eine politische Abmachung, w ­ elche nicht als Vertrag, sondern ausschließlich als eine nur durch Gnade seitens des Herrschers gewährte Aufnahme in den eigenen Herrschaftsverband aufgefasst wurde. Yuri M. Lotman, der Begründer der Tartu-­Moskau-­Schule der Semiotik, hat diese Analyse von Stefanovič nicht nur bestätigt, sondern auch auf einer kulturwissenschaftlichen Ebene erläutert. Demnach handelte es sich in der russischen mittelalterlichen Perspektive bei der Vorstellung von der zarischen Macht um eine Ausformung himmlischer Herrschaft, in der sich „die ewige Wahrheit“ verkörperte. Rituale der Macht hatten jenen der göttlichen Ordnung zu ähneln. „Vor ihrem [der Herrschaftsmacht] Angesicht trat der einzelne Mensch nicht als eine verhandelnde Seite auf, sondern ähnelte einem Wassertropfen, der sich ins Meer ergießt. Indem er sich [der Macht] übergibt, fordert er nichts im Austausch außer das Recht auf die eigene Übergabe.“ 19 Dieses Grundkonzept von der Gnade des Herrschers bei der Aufnahme neuer Untertanen wurde bereits bei der 1478 erfolgten endgültigen Unterwerfung Novgorods offensichtlich. Zar Ivan III. bestand auf der Vorstellung, kein Herrscher zu sein, der mit seinen Untertanen Verträge schließt, sondern einer, der ausschließlich Gnade (milost’) gewährt. Während die Vertreter Novogrods den Zaren auf dezidierte Vertragsbedingungen verpflichten wollten (krest by celoval), lehnte Ivan III. es mit Verweis auf die Unterwerfung als Gnadenakt kategorisch ab, seinerseits irgendeine Verpflichtung einzugehen.20 Dieselbe Vorstellung vom Charakter zarischer Herrschaftsmacht als Quelle von Gnade, niemals aber von Zugeständnissen, findet sich in zahlreichen Variationen durch die Jahrhunderte hinweg.21 Bis in die Neuzeit hinein bildete sie einen zen­ tralen Bestandteil russisch- bzw. allmählich russländisch-­imperialen Denkens.

19 L otman , Semiosfera, 377 [Übersetzung von R. V.]. 20 F lorja , Ivan Groznyj, 98. 21 Ein besonders markantes Beispiel, bei dem das Moskauer Gnadenkonzept auf Widerstand stieß, bei dem die russländische Seite aber dennoch durchsetzen konnte, dass der Zar sich nicht vertraglich zu binden hatte, war das Abkommen von Perejaslav, das 1654 z­ wischen Moskau und dem Kosaken-­Hetmanat geschlossen wurde. Mehr dazu weiter unten. – Selbst den ‚Kapitulationen‘ von 1710, mit denen das Zarenreich die baltischen Provinzen einverleibte, wurde im offiziellen Diskurs der petrinischen Ära kein Vertragscharakter zugestanden. Stattdessen hieß es, der Zar habe rechtmäßige Ansprüche auf Livland und Estland im Sinne eines angestammten Patrimoniums (votčina). Er habe nur von seinem Recht Gebrauch gemacht, den zuvor von Schweden unterdrückten Einwohnern Schutz zu gewähren. Mit d­ iesem Narrativ wurde an das alte Gnadenkonzept angeknüpft. Damit war zugleich die Basis für den künftigen Streit z­ wischen der Zarenregierung und den baltischen Provinzen gelegt, der sich um die Frage drehte, ob die Nachfolger Peters I. rechtlich an den Inhalt der Kapitulationen von 1710 gebunden waren. P iirimäe , The Capitulations of 1710.

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Entsprechend sind die Termini ‚Barmherzigkeit‘ (miloserdie) und vor allem ‚Gnade‘ (milost’) in Dokumenten staatlicher Herkunft die wohl am häufigsten anzutreffenden Quellenbegriffe. Ein Beispiel für die Fortdauer des Konzepts auch im 18. Jahrhundert bietet die Anweisung von Alexander Ivanovič Rumjancev, Gouverneur von Astrachan und Kazan, an Vassilij Nikitič Tatiščev von 1736, in der er Tatiščev erläutert, wie dieser mit Baschkiren umzugehen habe, die gegen die Modalitäten ihrer zarischen Untertanenschaft rebellierten: „I. K. H. [Ihre Kaiserliche Hoheit] lässt nicht zu, dass sie [die Hoheit] mit Aufständischen einen Vertrag abschließt, ihnen [den Aufständischen] steht es nur an, um Barmherzigkeit zu bitten. […] Lassen Sie nicht zu, dass mit ihnen irgendein Vertrag eingegangen wird, sondern machen Sie ihnen auf geeignete Weise klar, dass es ungehörig gegenüber I. K. H. autokratischer Herrschaft sowie gegenüber der Allerhöchsten Kaiserlichen Ehre ist, wenn sie mit ihren Untertanen […] Verträge schließt.“ 22

Das Gnadenkonzept ist auch der tiefere Kern der Denkfigur, die der amerikanische Historiker Bruce Grant als gift of empire für die russländische Haltung im Nordkaukasus im 19. Jahrhundert herausarbeitet, ohne dass er die tief zurückliegende Tradition dahinter offenbart.23 Für die Analyse imperialen Denkens im 18. Jahrhundert im Rahmen dieser Arbeit spielt die Vorstellung vom Gnade gewährenden Herrscher weit über das Kapitel zur Untertanenschaft hinaus eine zentrale Rolle.24 In jedem Fall waren noch vor der Begründung des Vielvölkerreiches, noch im Zuge der Festigung der herausgehobenen Stellung des Moskauer Großfürstentums im Ringen darum, wer die Nachfolge der Herrschaft der Goldenen Horde antritt, die wichtigsten Bestandteile des Konzepts von Untertanenschaft im innerrussischen Kontext angelegt. Diese Bestandteile kamen größtenteils, vielleicht sogar bereits vollständig zum Tragen, als Ivan III. im 15. Jahrhundert Feldzüge ins sogenannte Jugorsker Gebiet in Westsibirien anordnete und dort nicht-­russische ethnische Gruppen wie die Ostjaken und Wogulen bzw. deren Anführer einverleiben ließ.25

22 Pis’mo A. I. Rumjanceva V. N. Tatiščevu s opredelenijami na predstavlennye emu Tatiščevym trebovanija vosstavšich baškir. In: MpiB Bd. 6, Nr. 137 (6. 8. 1736), 240 – 242, hier 241 [kursiv von R. V.]. 23 G rant , The Captive and the Gift. 24 Siehe besonders Kap. 4.6. 25 Bedrängt durch den Moskowiter Feldzug unterwarfen sich die beiden Ugorsker ‚Fürsten‘ Kalpak und Tečik 1465 dem Moskauer Großfürsten, vermutlich in Form eines noch nicht verschriftlichten Treueides. In der Chronik fallen zwar keine Begriffe, die einer Eidleistung entsprochen hätten (dat’ rotu oder dat’ pravdu), aber der gesamte Vorgang legt nahe, dass 1465 dennoch ein Eid geschworen wurde: Die Jugorsker ‚Fürsten‘ wurden eigens nach Moskau zu Großfürst

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Definitiv fanden sie Anwendung, als es im 16. Jahrhundert erstmals darum ging, wie schon erwähnt die Vertreter des kulturell hochstehenden, muslimisch geprägten Herrschaftsgebildes des Kazaner Chanats zu inkorporieren. Es war dasselbe Konzept von Untertanenschaft mit dem Treueid und der Gnadenvorstellung als seinen beiden konstitutiven Elementen – und dies ist im interimperialen Vergleich das Besondere –, die bei der Inkorporation der Träger der Hochkultur des Kazaner Chanats als auch beim ‚Sammeln der Länder der Kiever Rus’‘ durch das Großfürs­ tentum Moskau in den Jahrzehnten zuvor zum Tragen kamen.26 Hier, bereits in der Genese des Moskauer Herrschaftsverbandes, liegt der Schlüssel zum Verständnis für die unauflösliche Verflechtung der späteren Herausbildung eines mehrheitlich russisch geprägten Einheitsstaates und eines russländischen Imperiums. In den folgenden Jahrhunderten blieb das Grundkonzept im Prinzip unverändert bestehen, wurde lediglich ausdifferenziert und stärker formalisiert.27 Ging es

Ivan III. gebracht, der ihnen nach mongolischer Art den Fürstentitel für ihr Jugorsker Gebiet verlieh (ich požaloval jugorskim knjaženiem) und sie zu sich zurück nach Hause entließ, nachdem er die Tributabgabe mit ihnen geklärt hatte. Diesem Ritual folgten 1483 die Anführer weiterer ethnischer Gruppen vom linksufrigen Teil des unteren Ob. Ustjužskij letopisnyj svod. Moskau-­ Leningrad 1950, 86 u. 95. – Bei der 1499 erfolgten Unterwerfung von ‚Fürsten‘ aus Jugorien wird der Treueid in der Chronik dezidiert erwähnt (knjazej i zemskich ljudej k rote privedoma po ich vere). ­Voskresenskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 8, St. Petersburg 1859 [Nachdruck von 1973], 237. – Insgesamt sind die Inkorporationsformen nicht-­russischsprachiger Völker vor der Eroberung von Kazan und Astrachen’ noch wenig untersucht. Erste Ansätze bei Kappeler, Ethnische Minderheiten im Alten Rußland. 26 Mit dem Ausdruck ‚Sammeln der Länder der Kiever Rus’‘ wird der Expansionsprozess des Moskauer Fürsten- und späteren Großfürstentums beschrieben, mit dem ein Großteil der Fürstentümer einverleibt wurde, die vor dem Einfall der ‚Goldenen Horde‘ dem Herrschaftsverband der Kiever Rus’ unterstanden hatten. Keineswegs wird damit die Aussage verbunden, die Moskauer Fürsten und Großfürsten hätten sich das Patrimonium ihrer Dynastie ‚wiedergeholt‘. Vielmehr muss unterschieden werden ­zwischen einerseits der Kiever Rus’ als einem Herrschaftsverband, in dessen Tradition sich heute sowohl Russen als auch Ukrainer und Belorussen sehen, und andererseits dem Moskauer Fürstentum, das ausschließlich die Russen als Wiege ihres späteren Staates betrachten. Kritik am Begriff ‚Sammeln der Länder der Kiever Rus’‘ übt K ollmann , The Russian Empire, 48 – 49. 27 Die Ausdifferenzierung des Konzepts lässt sich anhand der Unterwerfungstexte, auf die ein Eid zu schwören war, anschaulich nachvollziehen. Beispielhafte Texte von Eidleistungen im imperialen Kontext finden sich in KabRO Bd. 1 – 2, hier Bd. 1, Nr. 143 (6. 9. 1642), 215; Kolonial’naja politika Moskovskogo gosudarstva, Nr. 9 (1642 – 1654), 10 – 11; PSZRI Bd. 1, Nr. 69.114, Absch. 69, 255 (31. 8. 1651); PSZRI Bd. 3, Nr. 1585, Absch. 25, 320 – 322 (14. 5. 1697); KRO Bd. 1, Nr. 70, (19. 8. 1740), 168/169; Ebd. Nr. 254, 646 (1762); KRO Bd. 2, Nr. 63, 114 (März-­April 1786); RD agO Bd. 2, Nr. 267 (nicht s­ päter als Mai 1786), 195; MpiK SSR Bd. 4, Nr. 19, (5. 4. 1787), 83; RD agO Bd. 2, Nr. 356 (12. 4. 1803), 265 – 267; Ebd. Nr. 372 (28. 2. 1807), 279 – 280; KRO Bd. 2, Nr. 119 (1823) 207. – Zum Wortlaut der Treueide, die alle Einwohner des Zarenreiches bei Thronbesteigung eines neuen Zaren zu leisten hatte, PSZRI Bd. 7, Nr. 4646 (2. 2. 1725), 412; Bd. 7, Nr. 5070 (7. 5. 1727), 788 – 789; Bd. 8, Nr. 5509 (28. 2. 1730), 253; Bd. 11, Nr. 8473 (25. 11. 1741), 538; Bd. 11, Nr. 8473, (25. 11. 1741), 538; Bd. 15, Nr. 11391 (25. 12. 1761), 875 – 876; Bd. 16,

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zunächst noch häufig um überprüfbare Klauseln, was der Eidleistende alles nicht tun dürfe, gewannen allmählich positive Klauseln mit detaillierteren Formeln zur Beschreibung innerer Haltungen und Verpflichtungen für den Eidleistenden die Oberhand. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Eide im imperialen Kontext immer spezifischer auf die Eidleistenden zugeschnitten. In komprimierter Form sind es die folgenden fünf Charakteristika, mit denen das Konzept von Untertanenschaft zu beschreiben ist, wie es sich bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelt und formalisiert hatte: Das erste und wichtigste Kennzeichen bildete der besagte Treueid. Über das mit ihm verbundene Gnadenkonzept hinaus zeigt sich im Vergleich zu Monarchien im ‚westlichen Europa‘ eine weitere Besonderheit: Während in Mittel- und Westeuropa Treueide auch gegenüber unmittelbaren Herren üblich waren, bemühte sich die Zarenregierung spätestens seit dem 18. Jahrhundert um das Eidmonopol. Schwüre, die bislang beispielsweise von Gutsbesitzern, Bischöfen oder anderen niederen weltlichen oder geistlichen Oberhäuptern eingefordert werden konnten, suchten die Zaren fortan strikt zu unterbinden. Der Treueid sollte als Kernstück autokratischer Hoheitsansprüche angesehen werden.28 Diese Politik wird dazu beigetragen haben, dass die Ableistung des Treueids von der Bevölkerung ausschließlich mit dem Herrschaftsanspruch des Zaren bzw. des sich ausbildenden Staates in Verbindung gebracht wurde. Das zweite wesentliche Kennzeichen russländischer Untertanenschaft Anfang des 18. Jahrhunderts ist die aus früheren Zeiten fortwirkende Vorstellung von einer in hohem Grad persönlichen Bindung des Untertans an den Herrscher.29 Dieses personengebundene Untertanenschaftskonzept hatte eine Tradition hervorgebracht, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt: Von Anfang an enthielt der Untertaneneid im Falle der imperialen Expansion eine Ewigkeitsklausel. Diese Klausel drückte sich zum einen darin aus, dass von „ewiger“ Gültigkeit des Eides gesprochen wurde, zum anderen darin, dass dieselbe Treue, die gegenüber dem zeitgenössischen Herrscher geschworen wurde, auch Geltung haben sollte für die Kinder und Kindeskinder des aktuellen Herrschers. Für diesen Zweck wurden Kinder und Enkel, sofern sie schon existierten, auch innerhalb des Eidtextes eigens aufgezählt.30 Nr. 11582 (28. 6. 1762), 3 – 4; Bd. 24, Nr. 11391 (25. 12. 1761), 875 – 876; Bd. 24, Nr. 17635 (12. 12. 1796), 230 – 232; Bd. 26, Nr. 19779 (12. 3. 1801), 583 – 584. 28 R ustemeyer , Dissens und Ehre, 135 – 137. Dort auch Beispiele für Vergehen gegen das Verbot, Treueide unterhalb der Ebene des Autokraten zu n­ utzen. 29 Das Konzept, wonach jeder Untertan persönlich dem Herrscher diente, war schon im Gesetzeswerk von 1649 (Uloženie) festgehalten worden. Č ernaja , Ot idei „služenija gosudarju“ k idee „služenija otečestvu“, 31. 30 Vermutlich wurde damit eine Tradition fortgeführt, die sich schon während des Kiever Reiches entwickelt hatte. Schon damals ließ man den Treueid auch auf die Nachfolger eines Herrschers

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Und doch musste der Eid trotz der Ewigkeitsklausel bei jedem Herrscherwechsel von Neuem geleistet werden, und zwar sowohl bei einem Thronwechsel auf der russländischen Seite als auch bei einem Herrscherwechsel auf Seiten der jeweils unterworfenen ethnischen Gruppe. Dieses Vorgehen verliert bei genauerem Hinsehen seine Widersprüchlichkeit. Es ergibt dann Sinn, wenn die Aufnahme in den Herrschaftsverband als Akt der Gnade begriffen wird. Ein solcher Gnadenakt konnte nur von einer Person, die als von Gott auserwählt betrachtet wurde, gewährt werden, nämlich von der Person des Zaren. Damit hing die Aufnahme in die Untertanenschaft unauflöslich mit der Gestalt des Herrschers selbst zusammen. Der Eid als die Vergegenwärtigung dieser personalen Klammer musste folglich jeweils nach dem Abgang eines Herrschers und dem Antritt eines Nachfolgers erneuert werden.31 Unabhängig von einer erneut fälligen Eidleistung blieb jedoch mit der einmal erfolgten Aufnahme in die Untertanenschaft auch für jeden Nachfolger des Monar­ chen der prinzipielle Anspruch bestehen, Herrschaft über eben diese Untertanen ausüben zu können. Hier wird die Zwitterstellung des Konzepts z­ wischen personaler und institutionell verankerter bzw. allmählich staatlicher Bindung deutlich, wie sie im 15. Jahrhundert ihren Ursprung nahm und noch bis ins beginnende 19. Jahrhundert hinein fortbestand. Auf sie wird noch ­später zurückzukommen sein. Zusammengefasst galt jedenfalls aus russländischer Sicht trotz der zu wieder­ holenden Eide der Grundsatz „Einmal Untertan, immer Untertan“.32 leisten, obwohl der Herrscher selbst noch lebte. Damit konnte der Eid gleichsam als ‚dynastischer Treueid‘ angesehen werden. Vgl. D ewey /K leimola , Promise and Perfidity, 328. 31 Dasselbe Prinzip galt aus Sicht der Moskauer Diplomaten beim Abschluss von Verträgen und Waffenstillstandsabkommen: Diese waren nur so lange gültig, wie der Herrscher, unter dem sie abgeschlossen wurden, lebte. Nach dem Thronantritt seines Nachfolgers mussten neue Verträge bzw. neue Waffenstillstandsabkommen geschlossen werden. Im Zarenreich galt diese Norm weitaus länger als in Westeuropa, wo Verträge der Herrscher schon im 16. Jahrhundert zunehmend weniger als personen-, sondern primär als staatsgebunden angesehen wurden. G rabar , The History of International Law in Russia, 10. 32 V. Prokopovychs Analyse der Begriffssemantik von večnoe poddanstvo (‚ewige Untertanenschaft‘) führt hingegen in die Irre. Prokopovych erkennt in der Aufnahme in die Untertanenschaft nicht die aus der russischen historischen Tradition erwachsene Dualität, einerseits ein Gnadenakt des Herrschers und damit an seine Person gebunden zu sein, andererseits aber seit dem 15. Jh. Ausdruck des nichtpersonen-, sondern dynastischen und im Laufe der Zeit allmählich staatsgebundenen Verhältnisses zu sein, bei dem der Zusatz ‚ewig‘ den Anspruch formuliert, über die Lebzeiten des aktuellen Herrschers anzudauern. P rokopovych , The Problem of the Juridical Nature of the Ukraine’s Union with Muscovy. – Auch im germanischen Raum des späten Mittelalters wurde der Untertaneneid bei jedem Regierungsantritt eines neuen Landesherrn eingefordert. Der Treueid wurde allerdings nicht mit dem Anspruch geleistet, ‚ewig‘ gültig zu sein. Er war von vornherein nur an die jeweilige Obrigkeit gebunden. Diese begrenzte Gültigkeit erklärt sich durch die für den germanischen Raum vorherrschende Charakteristik häufiger Herrschaftswechsel innerhalb ein und desselben Gebietes. H olenstein , Die Huldigung der Untertanen, 278 ff., 385 f. und 509.

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Drittens kam der Unterwerfungsakt als Gnadenakt erst dann zu seinem Abschluss, wenn er in einer vom russländischen Herrscher ausgestellten Urkunde seine Bestätigung gefunden hatte, nämlich in der sogenannten Gnadenurkunde (žalovannaja gramota). Dieses Dokument war für die russländische Seite von großer Bedeutung. Es fixierte nicht nur alle Bedingungen und Verpflichtungen, die die Aufnahme mit sich brachte. Vor allem sollte die Gnadenurkunde den bereits erwähnten „auf ewig“ konzipierten zarischen Herrschaftsanspruch für die Nachkommen bezeugen können. Als Vorlage für die Gnadenurkunde diente die frühere Praxis unter den Mongolen. Auch bei ihnen wurde nach der Eidleistung eine Urkunde ausgegeben, die über die Unterwerfungsbedingungen und die gewährte Nutzung von Land Auskunft gab, genannt jarlyk bzw. jarlyk na knjaženie. Und auch sie war nach jedem Herrscherwechsel – sei es auf mongolischer Seite oder auf Seiten eines rus’ischen oder russischen Fürsten – erneut auszustellen und einzuholen, indem die Fürsten zur Hauptstadt des Mongolenreiches, zum Chan nach Saraj, zu reisen hatten (ezdit’ za jarlykami).33 Auch in der schon 1551 erfolgten Aufnahme eines Teils des Kazaner Chanats findet sich bereits der Hinweis auf die Ausstellung einer Gnadenurkunde mit goldenem Siegel. Darin wurde zum Beispiel festgeschrieben, dass die Tributabgabe (jasak) in den ersten drei Jahren ausgesetzt werden durfte.34 Nimmt man viertens die Modalitäten der Eidleistung, wie sie im 18. Jahrhundert erfolgte, genauer unter die Lupe, so fallen weitere, aus dem Mittelalter fortwirkende Prinzipien des Untertanenschaftskonzepts auf. Bereits im 14. wie auch ­später im 18. Jahrhundert hatte der Eid „nach dem eigenen Glauben“ geleistet zu werden.35 Diese Regel galt grundsätzlich auch zu den Zeiten, in denen im Zuge 33 Die Urkunde, die Zar Ivan IV. seinem Boten Dmitrij K. Nepejcin mitgab, um die Herrscher des Sibirischen Chanats 1555 zum Treueid zu führen, trug sogar noch die mongolische Bezeichnung für ‚Gnadenurkunde‘ (žalovannyj jarlyk). Damit wird die unmittelbare Übernahme der mongolischen Praxis durch das Moskauer Reich deutlich, auch wenn sich anschließend allmählich der Begriff gramota gegen jarlyk durchsetzte. Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 1, 371; ­T repavlov , Prisoedinenie narodov k Rossii, 200; ders ., Lojal’nost v obmen na jarlyk. 34 So heißt es in der Chronik zur Unterwerfungsurkunde von 1555: i požjaloval by ich gosudar’, v jasakech polechčil i dal by im žjalovalnuju svoju gramotu; […] dal im gramotu žjalovalnuju so zlatoju pečjat’ju, a jasaki im otdal na tri gody. Letopisec Načala Carstva Carja i Velikogo Knjazja Ivana Vasilv’eviča. In: PSRL Bd. 29, 62. – Aber nicht nur die Moskauer Seite, auch manche der in die Untertanenschaft aufgenommenen ethnischen Gruppen maßen der Gnadenurkunde große Bedeutung bei. Die Čuvašen legten ihre Urkunde mit dem goldenen Siegel in ein speziell dafür angefertigtes Holzetui, das sie zur besseren Haltbarkeit in der Erde vergruben. D imitriev , Čuvašskie predanija o Kazanskom chanstve, 113; T repavlov , „Belyj Car’“, 142. 35 Schon für 1396 ist verbürgt, dass ‚Tataren‘ einen Eid entsprechend ihrer Religion zu schwören hatten (a Tatarove rotu pili po svoej vere). Patriaršaja ili Nikonovskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 11. Moskau 1965 [Abdruck der Ausgabe von St. Petersburg 1897], 163. Vgl. auch G olden , Turkic Calques in Medieval Eastern Slavic, 108. – Dasselbe galt für ‚Fürsten‘ aus Jugorien (k rote

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der Eroberung der Chanate von Kazan und Astrachan im 16. sowie vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die staatliche Seite massive Bekehrungsfeldzüge unterstützte oder selbst initiierte.36 Bei der Aufnahme in die Untertanenschaft trat der Missionsgedanke zurück. Das Interesse der russländischen Seite konzentrierte sich in erster Linie auf die Maximalisierung der Wahrhaftigkeit des Eides.37 Dafür sollte der Schwur unter Anrufung der eigenen Gottheiten der Eidleistenden erfolgen sowie möglichst ein Gegenstand hinzugezogen werden, der für die Heiligkeit des Eides als Bürge diente. Deutlich wird damit der Versuch der russischen und russländischen Seite, sich um Analogien für die ihr vertraute Tradition des Kreuzkusses zu bemühen sowie nach einem dem Kreuz oder der Bibel vergleichbaren heiligen Gegenstand der jeweiligen Glaubensrichtung zu suchen. Die Gesandten der Zaren unternahmen große Anstrengungen, um entsprechend geeignete Gegenstände für alle Eidleistenden aufzutreiben. Im Falle der Muslime erschien dies vergleichsweise einfach: Analog zur christlichen Vorstellung von der Bibel als heiligem Text bot es sich an, Muslime den Eid unter Handauflegung auf den Koran leisten zu lassen.38 Lamaistische Buddhisten küssten eine Abbildung Buddhas oder hielten sich diese an die Stirn.39 Schwieriger war das Unterfangen bei ‚Animisten‘ und Schamanisten, vor allem dann, wenn diese vor der Unterwerfung

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privedoma po ich vere). Voskresenskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 8, St. Petersburg 1859 [Nachdruck von 1973], 237. – Schriftlich fixiert wurde die Verpflichtung für alle jasak-­zahlenden Untertanen, ihren Treueid nach dem eigenen Glauben abzuleisten, erstmals im Gesetzesbuch (uloženie) von 1649. Sobornoe uloženie, Art. 161 (29. 1. 1649), Absch. X O sude. In: PSZRI Bd. 1, Nr. 1, Absch. 161, 41. Nur im Zuge des petrinischen Missionierungsfeldzuges muss wohl kurzzeitig von der Regel Abstand genommen worden sein. Statt des Schwurs auf den Koran hatten Muslime einen Eid auf die Bibel zu leisten. Nach Peters Tod kehrte man wieder zur alten Praxis der Eidableistung nach dem eigenen Glauben zurück. Imennyj, ob’’javlennyj iz Verchovnago Tajnago Soveta Senatu. O privode k prisjage v vernosti Kazanskago uezda jasačnych Tatar, po obrjadam ich very. In: PSZRI Bd. 8, Nr. 5321 (7. 8. 1728), 72. Der eigene Glaube und in welcher Form sie einen Eid leisten, sei genaustens herauszufinden, „damit von ihnen keinerlei Betrug und Lügerei ausgeht“ (čtob u nich nikakogo obmana i lukavstva ne bylo). Nakaznyja stat’i Nerčinskim Voevodam. Ob upravlenii zemskimi i voennymi delami. In: PSZRI Bd. 3, Nr. 1542 (18. 2. 1696), Absch. 9, 238. Für den Schwur der Muslime auf dem Koran wurde seit dem 16. Jh. eigens eine Koran-­Ausgabe im Moskauer Kreml aufbewahrt. Siehe Š midt (Hg.), Opisi carskogo archiva XVI veka i archiva posol’skogo prikaza 1614 god. M. 1960, 42: Jaščik 218: A v nem […] kuran tatarskoj, na chom privodjat tatar k šerti. Hier zitiert nach K eenan , Muscovy and Kazan, 553; Z ajcev , Problema udostoverenija kljatvennych objazatel’stv musul’manina, 5. Dies war die Vorgehensweise kalmückischer Eidleistender in den Jahren 1673, 1724 und 1731. PSZRI Bd. 1, Nr. 540 (27. 2. 1673), 924; Bd. 7, Nr. 4576 (Sept. 1724), 352 – 354, hier 353; Bd. 8, Nr. 5699 (17. 2. 1731), 382 – 383, hier 383. – Ein oiratischer Gesandte erklärte 1621 gegenüber Moskau, dass die Oiraten den Eid dadurch bekräftigten, dass sie ein Messer ableckten und einen Pfeil erst an ihre Köpfe, dann an ihre Herzen hielten. Zapis’ priema v Posol’skom prikaze posla ojratskogo tajdži Bajbagiša abyza Bukeneeva, priechavšego s predloženiem šertovat’ carju

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durch die Moskowiter noch nie einer fremden Macht unterstanden hatten und gar nicht wussten, was ein Eid war. Hier wurde bei abgezogenem Bärenfell oder zerteiltem Hund geschworen, Gold geschluckt oder auf Eisen gebissen.40 Das Bärenfell, vor dem die Chanty zu schwören hatten, wurde zuvor mit einem Beil, einem Messer und anderen Waffen belegt; während des Eides selbst ließ man den Schwörenden ein Stück Brot auf einem scharfen Messer reichen. Von einem Eidbrecher nämlich wurde angenommen, beim Essen zu ersticken, die Beute eines Bären zu werden oder an einer Messerklinge zu sterben. Die Jakuten schritten z­ wischen zerhackten Teilen eines Hundes, warfen sich währenddessen Erde in den Mund und schworen damit, bei Eidesbruch ein ähnliches Schicksal wie das des Hundes auf sich zu nehmen. Jenissej-­Kirgisen nahmen entweder Brot vom Messer oder tranken Gold.41 Um die Wahrhaftigkeit zu bekräftigen, musste zudem ein Geistlicher aus der jeweils anderen Religion hinzugezogen werden, sei es ein Lama bei den lamaistischen Buddhisten oder ein Achun bei den Muslimen.42 Von ihnen wurde erwartet, sowohl für die Richtigkeit der Anrufung der jeweiligen Gottheit zu bürgen als auch künftig vor der eigenen Glaubensgemeinschaft zu bezeugen, dass der Eid geleistet worden war. Da bei den ‚Naturreligionen‘ bürgende Autoritäten fehlten, entfiel bei ihnen diese Möglichkeit zusätzlicher Absicherung. Um so eingehender mussten die Bräuche jeder inkorporierten ethnischen Gruppe studiert werden. Als Moskauer Gesandte Kirgisen vorwarfen, ihren Treueid nicht einzuhalten, antworteten deren Anführer (knjazcy) 1625 gegenüber dem Bojarensohn Petr Sabanskij offenherzig: „Dieser Eid [den die Tomsker Voevoden sie schwören ließen] ist sowohl den Anführern (knjazcy) als auch ihren Horden unlieb (neljuba), da man sie den Eid nicht Michailu Fedoroviču. In: Meždunarodnye otnošenija v Central’noj Azii, Bd. 1, Nr. 11, 53 – 55, hier 55; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 71 Fn. 52. 40 B achrušin , Jasak v Sibiri v 17 v. In: Naučnye trudy Bd. 3, 2. Teil, 49 – 85, hier 65 – 66. 41 L antzeff , Siberia in the Seventeenth Century, 96; F edorov , Pravovoe položenie narodov vostočnoj Sibiri, 21. – Der Brauch, „Gold zu trinken“, geht auf schamanische Glaubensvorstellungen und die Praxis der Verbrüderung bei den Mongolen seit dem 12. Jh. zurück. Im Falle einer Verbrüderung zweier Personen aus verschiedenen Stämmen, die miteinander einen Freundschaftsvertrag schlossen, wurden nicht nur Geschenke ausgetauscht, sondern zur Bekräftigung des Treuebündnisses auch Teilchen zerkleinerten Goldes geschluckt. V ladimircov : Obščestvennyj stroj mongolov, 60 – 61; F edorov , O forme prisjagi v Rossii, 403. – In der persischen Welt gab es die Tradition, zur Wahrhaftigkeit eines Eides Schwefel zu sich zu nehmen. G olden , Turkic Calques in Medieval Eastern Slavic, 109. – Ein Teilnehmer der zweiten Kamčatka-­Expedition unter Vitus Bering (1733 – 1743), Stepan P. Krašeninnikov, berichtete, dass man häufig auch einfach nur vor der Gewehrmündung habe schwören oder die Formel habe sprechen lassen: „Es ist die Wahrheit, dass ich Dich nicht anlüge“. K rašeninnikov , Opisanie zemli Kamčatki, 457. 42 So bürgte für den Eid des mongolischen lamaistischen Altyn-­Zaren ein Lama (lamaistisch-­ buddhistischer Mönch). RMongO Bd. 1, Nr. 102 (3. 6. 1634 – 12. 5. 1635), 203 – 214, hier 209. Beim Eid des kasachischen Chans der Kleinen Horde, Nurali-­Chan, bürgte ein Achun (muslimischer Geistlicher). KRO Bd. 1, Nr. 70 (19. 8. 1740), 134 – 168, hier 152. Vgl. auch Zajcev, Problema udostoverenija.

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nach kirgisischem Brauch, sondern nach dem der Ostjaken schwören ließ“.43 Und ein Schwur der Kirgisen, abgeleistet nach dem Brauch der Ostjaken, entband die Kirgisen ganz offensichtlich von der Pflicht, ihn einzuhalten. In ­diesem Fall war die Suche der Moskauer Dienstleute nach dem einzig ‚richtigen‘ Brauch gescheitert. Als fünftes wesentliches Charakteristikum des Konzepts von Untertanenschaft sind die im Eid festgehaltenen Pflichten von Untertanenschaft zu benennen. Im Kern bezeugen Wortwahl und Inhalte der Eidestexte des 18. Jahrhunderts, in welch enger Verbindung sie zu jenen früherer Jahrhunderte standen. Die wesentlichen Elemente des Treueides blieben für alle Untertanen immer dieselben: Nichts ‚Böses‘ gegen den Herrscher zu unternehmen, über ‚böse‘ Absichten Dritter umgehend zu berichten, mit keinem Gegner gemeinsame Sache zu machen sowie mit Leib und Leben für den Herrscher einzustehen und für ihn gegebenenfalls in den Krieg zu ziehen. Und doch gab es auch Unterschiede z­ wischen dem Treueid, den die russisch-­ orthodoxe Bevölkerung im Falle des Herrscherwechsels zu leisten hatte, und jenem, den Vertreter nicht-­christlicher ethnischer Gruppen bei ihrem Beitritt oder einem neuen Thronantritt schworen. Schon seit dem 16. Jahrhundert hatten sich die Unterworfenen nicht-­christlichen Glaubens auf zwei handfeste ­­Zeichen ihres neuen politischen Status zu verpflichten. Sie wurden auch in der Gnadenurkunde festgehalten. Die eine Pflicht bestand in der erwähnten Zahlung von Tribut an den Zaren, genannt jasak (früher dan’).44 Die andere Verpflichtung bestand in der Abgabe von Menschen als Leibpfänder, genannt amanaty (Geisel), die auf russländischer Seite als Sicherheitspfand für den Gehorsam gehalten und von Zeit zu Zeit auszutauschen waren.45 Diese Methode der Geiselnahme und Geiselhaltung wurde ausschließlich bei der Inkorporation nicht-­christlicher ethnischer Gruppen im Süden und Osten des Reiches praktiziert und hatte keinerlei Tradition im innerrussischen Kontext bzw. bei der Herausbildung des Moskauer Großfürstentums. Ein weiterer Aspekt, bei dem ein Unterschied z­ wischen der orthodoxen und der nicht-­christlichen Bevölkerung vollzogen wurde, betraf die ‚bedingte Selbstver­ fluchung‘. Dabei ging es um die schon von Ivan  IV. eingeführte Regel, wonach

43 B achrušin , Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v XVII v. Sibir’ i Srednjaja Azija v XVI ‒ XVII vv. In: Naučnye trudy, Bd. 4, 46 – 47. 44 Die Tributabgabe (jasak) spielte in den imperialen Peripherien eine unterschiedlich große Rolle. Die größte Bedeutung hatte sie zweifellos in Sibirien, Fernost und im Nordpazifikraum. Auch die Kasachen standen dem Text der Unterwerfungsurkunde nach in der Pflicht der jasak-­ Ablieferung, doch verzichtete die russländische Seite viele Jahrzehnte lang auf deren Eintreibung, um die Loyalität der Kasachen nicht zu gefährden. KRO Bd. 1, Nr. 28 (19. 2. 1731), 40; Nr. 33 (3. 10. 1731 – 14. 1. 1733), 48 – 86; Nr. 40 (1732), 94 – 97; Nr. 274 (27. 4. 1770), 696 – 699. 45 Für die Kabardei ist die russländische Praxis der Geiselnahme bereits für das 16. Jahrhundert verbrieft. Vgl. O zova , Institut amanatstva v Kabarde. – Ausführlich zur Geiselpraxis in Kap. 3.

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der Schwörende für den Fall seines Eidbruchs mit einer Verfluchung zu bestrafen war.46 Während mit Antritt der Romanov-­Zaren ab 1610 bei der orthodoxen Bevölkerung auf diese Verfluchung verzichtet wurde, hatten Muslime, lamaistische Kalmücken und Angehörige der ‚Naturreligionen‘ den Treueid mit der Formel einer Selbstverfluchung zu leisten.47 Analog zum Schwur nach dem eigenen Glauben sollte im Sinne der vermuteten größeren Wirksamkeit dabei auch die Verfluchung nach dem eigenen Glauben erfolgen.48 Mit diesen fünf Aspekten (Gnade statt Vertrag, persönliche Bindung trotz Ewigkeitsklausel, Gnadenurkunde in mongolischer Tradition, Eid nach dem eigenen Glauben, Eidinhalt und Untertanenschaftspflichten) ist der Kern des russländischen Untertanenschaftskonzepts im imperialen Kontext umschrieben. Da mit d­ iesem Kern der innerrussische Treueid lediglich fortentwickelt und, abgesehen von der in der praktischen Auswirkung nicht relevanten Sonderbehandlung bei der Selbstverfluchung, nur um ein Element ergänzt wurde, das ausschließlich im imperialen Kontext Geltung und Bedeutung hatte (die institutionalisierte Geiselnahme), kann sinnvoll nicht von irgendeiner ‚ersten‘ Inkorporation nicht-­russischer ethnischer Gruppen als Blaupause für ‚Einbürgerungen durch imperiale Expansion‘ gesprochen werden. Vielmehr nahm das Konzept russischer und russländischer Untertanenschaft seinen Ursprung in der politischen Kultur des Moskauer Fürstentums. Letzteres war stark geprägt sowohl von der Kultur des Kiever Reiches als auch von der langjährigen Oberherrschaft der Mongolen.49 Gleichwohl kam der 1654 erfolgten Aufnahme der Hetmanats-­Ukraine, auf die Eric Lohr, wie erwähnt, in seinem Buch zu „Empire and Citizenship“ Bezug nimmt, eine große Bedeutung zu: Erstmals nämlich prallte hier die russische Tradition der Aufnahme in die Untertanenschaft nach dem Prinzip der Gnade auf westeuropäische rechtliche Traditionen, die im Polnisch-­Litauischen Reich vorherrschten: 46 Zapis’ (…) dannaja (…) Gosudarju i Velikomu Knjazju Vasiliju Ioannoviču (…). In: SGGD č. 1, Nr. 162 (1. 12. 1532), 448 – 450; R ustemeyer , Dissens und Ehre, 130. 47 Šertnaja zapis’ po kotoroj kljalis’ Magometanskago zakona poddannye v vernosti (…). In: SGGD č. 3, Nr. 131 (1648), 440 – 442; Šertnaja zapis’ po kotoroj novopožalovannye Knjaz’ja Nagajskoj Ordy kljalis’ v vernosti i poddanstve Gosudarju carju Alekseeju Michajloviču. In: SGGD č. 3, Nr. 145 (Okt. 1651), 467 – 470. 48 Als Beispiele siehe Šertnaja zapis’ bzw. Zapis šertnaja in: SGGD č. 3, Nr. 181 (4. 2. 1655), 534 – 536; č. 4, Nr. 21 (8. 6. 1661), 74 – 75; č. 4, Nr. 107 (15. 1. 1677), 343 – 350; R ustemeyer , Dissens und Ehre, 131. 49 Damit wird eine vermittelnde Position in der Frage bezogen, in welchem Verhältnis mongolische Einflüsse und fortwirkende Traditionen der Kiever Rus’ das Untertanenschaftskonzept formten. Fest steht nur, dass der Treueid genuin ostslawische Wurzeln hatte, die Tradition der Gnadenurkunden hingegen mongolische Praxis fortsetzte. Zur Kontroverse um das politische Erbe der mongolischen Herrschaft auf das Moskauer Reich siehe die Kritika-­Ausgabe 1 (2000): H alperin , Muscovite Political Institutions; G oldfrank , Muscovy and the Mongols; O strowski , Muscovite Adaptation of Steppe Political Institutions.

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Dort hatten Unterwerfungsabkommen Vertragscharakter und beruhten auf gegenseitigen Verpflichtungen. Es war daher nur folgerichtig, dass die Kosaken des Hetmanats – ähnlich wie rund zweihundert Jahre vor ihnen die Einwohner Novgorods – vor ihrem Unterwerfungseid den Gesandten des Zaren, Vasilij Buturlin, aufforderten, er möge auch seinerseits im Namen des Zaren einen Eid schwören, wonach ihre Rechte und Freiheiten nach der Aufnahme in die Untertanenschaft des Zaren gewahrt blieben. Die Antwort des Zarengesandten Buturlin konnte abweisender nicht ausfallen: Es ist für uns keine angemessene Angelegenheit, einen Eid im Namen unseres Herrschers zu schwören (to nepristojnoe delo, čto za gosudarja im vera činit’); es war noch nie Brauch bei uns, dass [russische] Untertanen Eide für [ihren] Herrscher schwören (čto za nich, gosudarej, poddannym vera davat’); vielmehr schwören die Untertanen einen Eid gegenüber dem Herrscher (a dajut veru gosudarju poddannye).50

Auch wenn die Kosaken sich am Ende damit zufrieden gaben, dass ihnen lediglich versprochen wurde, dass der Zar ihre Rechte und Freiheiten bewahren werde und die Regierungsvertreter dazu ein entsprechendes Dokument verfassten, so war hier das Grundproblem angelegt, das das russisch-­ukrainische Verhältnis noch über Jahrhunderte belasten sollte: Während aus Sicht der Kosaken das Abkommen von Perejaslav einschließlich der ­später ausformulierten ‚Artikel‘ zu ihren ‚Rechten und Freiheiten‘ Vertragscharakter besaß, gewährte der Zar diese Freiheiten in der jahrhundertealten Tradition des Moskauer Untertanenschaftskonzepts lediglich aus Gnade. Aus dieser Sicht konnte die Aufrechterhaltung der kosakischen Freiheiten keine Frage von Rechtsansprüchen sein, die auf der Gegenseitigkeit eines Unterwerfungsvertrages beruhten, sondern lediglich eine Frage von Geltungszeit.51 50 Statejnyj spisok russkogo posol’stva vo glave s V. Buturlinym o toržestvennoj vstreče poslov naseleniem Ukrainy, o Perejaslavskoj rade, uslovijach vossoedinenija Ukrainy s Rossiej i o prinjatii prisjagi naseleniem ukrainskich sel i gorodov. In: Vossoedinenie Ukrainy s Rossiej, Bd. 3, Nr. 205 (9. 10. 1653 – 5. 2. 1654), 423 – 490, hier 465. 51 Bei der Interpretation des Abkommens von Perejaslav wurde in der Literatur das auf zarischer Seite historisch gewachsene Verständnis, wonach die Aufnahme nur als Gnadenakt zu begreifen ist, zumeist vernachlässigt. V ulpius , Vorübergehende Allianz oder dauerhafte Unterwerfung? – In der Literatur werden mindestens sieben verschiedene Interpretationen des Perejaslav-­Abkommens herausgearbeitet, das je nach Lesart des Autors als ‚vorübergehende Allianz‘, ‚Personalunion‘, ‚Realunion‘, ‚Vasallenstatus‘, ‚Protektorat‘, ‚Autonomie‘ oder ‚Inkorporation‘ ausgelegt wird. D avies , The Road to Pereiaslav; B asarab , Pereiaslav 1654; B raichevskyi , Annexation or Reuni­ fication; P rokopovych , The Problem of the Juridical Nature; F leischhacker , Die politischen Begriffe der Partner von Perejaslav; G ünther , Der Vertrag von Perejaslav; N ol ’de , Essays in Russian State Law, bes. 886. – Zu zeitgenössischen russischen und ukrainischen Debatten zu Perejaslav vgl. P lokhy , The Ghosts of Pereyaslav.

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Das Abkommen von Perejaslav ist aber noch über das Aufeinanderprallen verschiedener Rechtstraditionen und der damit verbundenen erstmaligen expliziten Stellungnahme Moskauer Regierungsvertreter hinaus bedeutsam. Die Art und Weise, wie die zarische Seite das Anliegen der Kosaken aufgriff und knapp siebzig Jahre lang bei jedem Herrscherwechsel die ‚Artikel‘ gegenüber ‚Kleinrussland‘, wie das Hetmanat nach der kirchenpolitischen Bezeichnung für den dort gelegenen Kirchenbezirk alsbald genannt wurde, bestätigte, mag auf den ersten Blick verwundern. Dies galt umso mehr, als die ‚Artikel‘ eine regionale Autonomie beinhalteten, wie sie in d­ iesem Umfang bis dato noch keinem einverleibten Volk zugestanden worden war.52 Zudem erfolgte die Unterwerfung erklärtermaßen als Akt der Gnade des Moskauer Herrschers, so dass es aus rechtlicher Sicht des Zarenreiches keine Notwendigkeit gegeben hätte, diese traditionsreichen kosakischen ‚Rechte und Freiheiten‘ fortwährend zu bestätigen. Vielmehr zeigt sich im Falle des Hetmanats, zu welcher Flexibilität die russländische imperiale Elite bei allem prinzipiellen Festhalten am Grundkonzept der Gnade bereit war. Diese Flexibilität wurde dann an den Tag gelegt, wenn die langfristige Einbindung der neu unterworfenen ethnischen Gruppe noch in Gefahr schien bzw. die zarische Seite sich mit Widerständen konfrontiert sah. In ­diesem Sinne darf Perejaslav sehr wohl als Blaupause bezeichnet werden – und zwar sowohl als Blaupause für die Flexibilität, mit der Inkorporationen allgemein gehandhabt wurden, als auch für die konkrete Ausgestaltung von regionaler Autonomie innerhalb des Reiches überhaupt. Tatsächlich erwiesen sich das Inkorporationsmodell der Hetmanats-­Ukraine sowie die schleichende Aushöhlung kosakischer Selbstverwaltung noch vor dem Seitenwechsel Ivan Mazepas als Muster für künftige imperiale Strategien des Zarenreiches im 18. Jahrhundert.53 Vergleichbare Strategien kamen auch bei den sozial hochausdifferenzierten Kalmücken und den Kasachen der Kleinen Horde zum Tragen. Mit einer Kombination aus Flexibilität und Zugeständnissen einerseits und der allmählichen Zersetzung 52 Die Gewährung von Autonomie für sich genommen und die damit einhergehende Ausstattung des ukrainischen Hetmans mit vom Zaren abgeleiteter begrenzter Befehlsgewalt stellte im Zarenreich allerdings keine Premiere dar. Bereits im 16. Jh. war vor der Eroberung von Kazan Šach-­Ali (Sil-­ Alej) eben dort mehrfach als Marionettenchan eingesetzt worden. Ähnliches galt für Šal-­Ali und Derviš-­Ali 1554 in Astrachan. Istorija Tatarskoj ASSR, 68 – 100; C hudjakov , Očerki po istorii Kazanskogo chanstva; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 51, 69 f., 72, 74 – 76, 78, 80, 131; N olde , La formation de l’Empire russe, Bd. 1, 4 – 47; A lišev , Istoričeskie sud’by narodov Srednego Povolžja, 83. – Fürst Išterek wurde 1600 als Fürst eines nogaischen Protektorats von des Zaren Gnaden eingesetzt. N ovosel ’skij , Bor’ba Moskovskogo gosudarstva s tatarami, 40; Nogajsko-­Russkie otnošenija v XV‒XVIII vv., 111. 53 Hetman Mazepa stellte sich Anfang des 18. Jahrhunderts in einer Koalition mit den Schweden unter Karl XII. gegen Zar Peter I., um ‚Kleinrussland‘ wieder aus der Abhängigkeit vom Moskauer Reich herauszuführen.

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indigener Strukturen andererseits gelang es der russländischen imperialen Elite, Kalmücken und Kasachen dauerhaft in die Reichsstrukturen einzubinden.54 In ­diesem Sinne kennzeichnet das Abkommen von 1654 (und die in den Jahrzehnten danach folgende Politik) den erfolgreichen Moskauer Kurs, einen zunächst von indigener, in ­diesem Fall kosakischer Seite angestrebten außenpolitischen Vertrag in ein innerstaatliches Unterwerfungsabkommen umzuwandeln.55 Allerdings kann an dem mittel- und langfristigen Erfolg des russländischen Kurses keineswegs geschlossen werden, dass die Kosaken oder die anderen ethnischen Gruppen der südlichen Steppen die zarische Auslegung akzeptiert hätten. Ganz im Gegenteil, allen russländischen Auslegungen zum Trotz betrachteten die Kosaken ihre ‚Unterstellung‘ unter den Zaren auch Jahrzehnte ­später noch als einen in westeuropäischer Tradition geschlossenen Vertrag, der beide Seiten mit Rechten und Pflichten versah und der folglich bei Vertragsverletzung seine Gültigkeit verlor. Mehrfach diente die Argumentation der Vertragsverletzung der Kosakenelite als Grund, die Einbindung in den zarischen Machtbereich rückgängig machen zu wollen, so zuletzt unter der Führung von Hetman Ivan Mazepa. Nicht minder unterschied sich das Moskauer Verständnis von „ewiger Untertanenschaft“ von demjenigen der Nogaier, Baschkiren, Kalmücken, Kasachen und Kabardiner. Die Steppenvölker des Südens und die Bergvölker des Nordkaukasus standen seit Jahrhunderten in einer Tradition politischer Allianzen, die häufig wechselten und von Anfang an nur für eine kurze Geltungsdauer geschlossen waren. Seit dem Zerfall der Goldenen Horde, innerhalb derer die Beziehungen z­ wischen den verschiedenen Teilen des Reiches mit Hilfe der bereits erwähnten jarlyk-­Dokumente geregelt wurden, basierten die Allianzen seit dem späten 15. Jahrhundert auf dem sogenannten šert’. Dieser Terminus leitet sich aus dem arabisch-­türkischen šart’ ab und bedeutete zunächst einmal nur „Vereinbarung“, „Bedingung“.56 In der im russischen Kontext ersten Erwähnung des Begriffs in einer Urkunde von 1474 wird als šert’ der Eid bezeichnet, mit dem der mächtige Chan des Krim-­ Chanats, Mengli Girei, gegenüber dem erstarkten Moskauer Großfürsten Ivan Vasil’evič versprach (molvja krepkoe slovo), sich an die im jarlyk vereinbarten Abmachungen zum Nichtangriffspakt und zur Militärallianz zu halten, während der 54 Weitere Details in Kap. 4.5. 55 Allerdings ging die Moskauer Regierung in den ersten Jahrzehnten nach dem Abkommen von Perejaslav keineswegs zielstrebig vor. Von einer engeren Anbindung an die Metropole des Zarenreiches kann frühestens ab der Übernahme des 1662 gebildeten ‚Amts für Kleinrussland‘ (prikaz Maloj Rossii, Malorossijskij prikaz) durch A. S. Matveev und die 1671 erfolgte Inkorporierung des Amtes in das ‚Außenamt‘ (posolskij prikaz) gesprochen werden. S ofronenko , Malorossijskij prikaz; T orke , The Unloved Alliance, 50 – 51. 56 V asmer [F asmer ], Ėtimologičeskij Slovar’,Bd. 4, 431; ders ., Russisches Etymologisches Wörter­ buch, Bd. 3, 393.

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Moskauer Großfürst seinerseits in Anwesenheit eines Chan-­Vertreters zur Bekräftigung und Einhaltung des ‚Brudervertrages‘ das Kreuz küsste.57 Es handelte sich folglich zu d­ iesem Zeitpunkt auch aus russischer Sicht bei šert’ noch um einen außenpolitischen Vertrag, den zwei Seiten miteinander eingingen und der für jede Seite klar definierte Vertragspflichten vorsah. Von einem ‚Eintritt‘ des Krim-­Chans in die Moskauer Untertanenschaft war selbst nach russischer Auslegung zu dem Zeitpunkt keine Rede.58 In der Folgezeit aber griffen die Moskauer Herrscher immer wieder auf den šert’-Begriff zurück und begannen, mit ihm sämtliche Eide zu bezeichnen, die Vertreter muslimischer und ‚heidnischer‘ ethnischer Gruppen in Sibirien, den südlichen Steppen und dem Nordkaukasus in Zusammenhang mit zarischen Abkommen leisteten. Der Ausweitung in der Verwendung des šert’-Begriffes im 16. Jahrhundert folgte auch ein Wandel in der Auslegung: Aus dem šert-­Verständnis als einem Eid zur Einhaltung von Friedensverträgen oder vorübergehenden Allianzen mit festgelegten gegenseitigen Verpflichtungen wurde dem Moskauer Verständnis nach und im Rückgriff auf die eigene mittelalterliche Tradition ein Abkommen, mit dem die bedingungslose Unterwerfung unter die Gnade des russischen Herrschers fixiert wurde. Der šert verwandelte sich aus Moskauer Sicht in einen Treueid mit all den weiter oben beschriebenen Charakteristika einschließlich der Ewigkeitsklausel, wenn Vertreter nicht-­christlicher ethnischer Gruppen Schutz beim Moskauer Herrscher suchten. Insofern war es nur folgerichtig, dass die zarische Seite dazu überging, der ‚Eidesurkunde‘, die im Zusammenhang mit dem šert erstellt wurde (šertnaja gramota), dieselbe Bedeutung aufzudrängen, die zuvor schon mit der Gnadenurkunde im Kontext des mittelalterlichen Treueides verbunden worden war, nämlich die bedingungslose und dauerhafte Eingliederung in den Untertanenverband des russischen und s­ päter russländischen Herrschers zu fixieren.59 57 K aramzin , Istorija gosudarstva Rossijskago, Bd. 6, 55 und Anm. 124 (dort auch der Wortlaut des šert). Siehe auch S reznevskij , Materialy dlja slovarja drevne-­russkago jazyka po pis’mennym pamjatnikam, Bd. 3, 1587. 58 T repavlov , Prisoedinenie narodov k Rossii, 198 – 205; ders ., „Šertnye“ dogovory, č.1, 28 – 30. 59 Das Moskauer Verständnis von der Gleichstellung der šert’-Ableistung mit dem Schwur des Treueides zeigt sich besonders deutlich bei Thronwechseln. So waren Regierungsvertreter bei Thronantritten angehalten, alle orthodoxen Einwohner als Zeichen ­­ der Treue gegenüber dem neuen Monarchen zum Kreuzküssen zu führen, die ‚Fremdgläubigen‘ (inovercy) hingegen zur Ableistung des šert (k šertvovaniju) – einer Prozedur, die sich über Monate hinzog. PSZRI Bd. 2, Nr. 624 (10. 2. 1676), 6 – 7. – Anfang des 18. Jahrhunderts wird die sprachliche Unterscheidung ­zwischen kljatva na vernost’ zur Kennzeichnung eines mit dem Kreuzkuss verbundenen Eides und šert’ als einem Eid für Nicht-­Christen aufgehoben. Fortan gilt für alle die sprachlich vereinheitlichte Form, einen „Treueid auf die Untertanenschaft“ zu leisten (prisjaga na poddanstvo). PSZRI Bd. 6, Nr. 3778 (April 1721), 383 – 387; Bd.7, Nr. 4646 (2. 2. 1725), 412; Nr. 5070 (7. 5. 1727), 788 – 789. Vgl. zum šert-­Thema T repavlov , Dobrovol’noe vchoždenie v sostav Rossii, 160; ders ., Prisoedinenie narodov k Rossii; Š ablej , Poddanstvo v Aziatskoj Rossii, 99 – 122; B achrušin ,

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Da die Veränderung der Semantik des šert-­Begriffes schleichend und intransparent erfolgte, die russländische Seite sich hütete, zu Beginn ihres Kontaktes mit einer ethnischen Gruppe allzu deutlich auf ihr Verständnis hinzuweisen, kam es zu einer vorhersehbaren und lang anhaltenden Reihe einkalkulierter Missverständnisse. Unter den nicht-­christlichen ethnischen Gruppen des Südens und Ostens existierte bis weit in das 18. Jahrhundert hinein das ursprüngliche Verständnis von šert im Sinne eines zweiseitigen Vertrages fort. Demnach wähnte man sich in dem vorübergehend konzipierten Status eines zarischen Protektorats.60 So wurde für die Kabardiner im Nordkaukasus mit dem nach Moskauer Lesart 1557 erfolgten ‚Eintritt‘ in die ‚Untertanenschaft‘ (učinenie v cholopstvo) lediglich eine vorübergehende außenpolitische Orientierung zum Moskauer Staat festgelegt, eine Art militärisch-­politischer Union. Zum Verdruss der zarischen Seite setzten die Kabardiner de facto auch danach das frühere Lavieren z­ wischen dem persischen Schah, dem osmanischen Sultan und dem Moskauer Zaren fort.61 Selbst die erst im 18. Jahrhundert aufgenommenen kasachischen Chane der Kleinen und Mittleren Horde hielten ihre Untertanenschaftsverpflichtungen nicht ein, gaben weder russländische Gefangene frei noch ließen sie russländische Karawanen wie vereinbart friedlich über ihre Weidegebiete ziehen.62 Wenn einem Untertaneneid gegenüber dem Zaren aber kein Gehorsam gegenüber der Zarenregierung folgte, wenn jeder eine andere Auslegung seines Eides bzw. der Unterwerfungs- oder Unterstellungsbedingungen hatte, drängen sich mehrere Fragen auf: Welchen Wert hatte der Status nomineller Untertanenschaft für die russländische Seite überhaupt, wenn er real nicht umgesetzt wurde oder Jasak v Sibiri, In: Naučnye trudy Bd. 3, 2. Teil, 65; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 53 – 54; ders ., „Third Rome“ or a Tributary State, 366 – 368. 60 Der russische Historiker Vadim Trepavlov möchte daher den Begriff šert’ grundsätzlich nicht als Eintritt in die zarische Untertanenschaft verstanden wissen. Er verweist darauf, dass auf den Treueid faktisch keine Untertanenschaft folgte, sondern bloß Protektoratsverhältnisse herrschten. Damit wird er allerdings weder dem zeitgenössischen russischen Verständnis von šert’ noch dem inhärenten Bindungsanspruch gerecht, den die Moskauer Seite erhob. Gerade die Dehnbarkeit des russischen Untertanenschaftsverständnisses, durch die mit einem Begriff verschiedene Stufen der Unterstellung bezeichnet wurden, erlaubte es, s­ päter ohne Begriffsänderung und übergangslos in eine Stufe engerer Anbindung übergehen zu können. T repavlov , Prisoedinenie narodov k Rossii, 200. 61 B ennigsen -­B roxup (Hg.), The North Caucasian Barrier; K hodarkovsky , Of Christianity, Enlighten­ment, and Colonialism; D zamichov , Adygi v politike Rossii; B obrovnikov /B abič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii; K almykov , Integracija Kabardy i Balkarii. 62 Zu den Kasachen: A pollova , Prisoedinenie Kazachstana k Rossii; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier. Zu Moskaus Politik gegenüber den Nogai-­Tataren: Nogajsko-­Russkie otnošenija v XV‒XVIII vv.; K appeler , Moskau und die Steppe; T repavlov , Istorija Nogajskoj Ordy. – Zu den Baschkiren: D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria; S teinwedel , Threads of Empire. – Zu den Kalmücken: K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, bes. 67 – 73; S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken.

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werden konnte? Wie sah die russländische imperiale Elite jenseits des Gnadenkonzeptes den Status der von ihr inkorporierten, aber ‚nicht folgsamen‘ nicht-­ christlichen ethnischen Gruppen? Inwiefern gab es aus ihrer Sicht möglicherweise unterschiedliche Grade von Untertanenschaft? Und w ­ elche Kriterien müssen aus Sicht des Historikers erfüllt sein, um überhaupt von einer realen Untertanenschaft inkorporierter ethnischer Gruppen im Zarenreich sprechen zu können?

2.2  Die Kriterien russländischer Untertanenschaft Der russische Historiker Vadim Trepavlov und der ihn rezipierende Pavel Š ­ ablej haben sich jüngst Gedanken gemacht, wie der gängige russische Begriff für Untertanenschaft im 18. Jahrhundert, poddanstvo, angesichts seiner unterschiedlichen Wahrnehmung im Zentrum und in den Peripherien sowie angesichts des verschiedenen Grades seiner Realisierung analytisch zu fassen ist. In einem ersten Schritt benennt Trepavlov als Voraussetzung für den Status von Untertanenschaft zum einen den Abschluss eines entsprechenden Abkommens sowie zum anderen die Verwendung des Begriffes, welcher diesen Status bezeichnet. 63 Um ­zwischen nomineller und realer Untertanenschaft zu unterscheiden, schlägt Trepavlov vier Kriterien vor: erstens die Einbeziehung eines Territoriums oder eines Volkes in die höchste staatliche Symbolik – so vor allem in den offiziellen Zarentitel oder in das große Staatswappen; zweitens die Besteuerung der jeweils ‚aufgenommenen‘ ethnischen Gruppe; drittens die Ausdehnung der zarischen Gesetzgebung sowie die Zuständigkeit innerstaatlicher Institutionen auf das Gebiet der formal inkorporierten ethnischen Gruppe; und viertens die Zugehörigkeit des Territoriums zu einer der Verwaltungseinheiten des Herrschaftsverbandes oder Staates.64 Diese Kriterien sind aus mehreren Gründen hilfreich. Mit ihnen wird erstmals der Versuch unternommen, den komplexen Prozess imperialer Inkorporationen im Russländischen Reich in verschiedene Bestandteile zu zerlegen. Die Kriterien eignen sich dazu, die Ungleichzeitigkeit von formaler Aufnahme in die poddanstvo (Untertanenschaft) und tatsächlicher Einbindung in das administrative System des Zarenreiches kenntlich zu machen und den politischen Durchdringungsgrad anhand analytischer Kriterien zu bestimmen. Schließlich sind sie hilfreich, um die verschiedenen Wahrnehmungen auf russländischer Seite und auf Seiten der inkorporierten ethnischen Gruppen an einheitlichen Maßstäben zu messen. 63 T repavlov , Prisoedinenie narodov k Rossii, 198 – 205; ders ., „Belyj Car“,134. – Zu den russischen Begrifflichkeiten von Untertanenschaft ausführlich weiter unten. 64 T repavlov , Dobrovol’noe vchoždenie v sostav Rossii, 155 – 163.

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Und doch können die genannten Kriterien der Komplexität und Heterogenität des russländischen Untertanenschaftkonzepts, wie es sich bis zum 18. Jahrhundert entwickelt hatte, nicht ausreichend gerecht werden. Trepavlovs Versuch, den Übergang von der nominellen zur realen Untertanenschaft administrativ zu fassen, ist idealtypisch und aus der heutigen Kenntnis abgeschlossener Staatsbildung gedacht. Er vernachlässigt jedoch die wichtige Dimension der Intentionen der Zeitgenossen und deren Interpretationen. Er berücksichtigt zu wenig, was das jeweilige Interesse der russländischen Zentrale an den Einheimischen der verschiedenen Regionen ausmachte und inwiefern d­ ieses Interesse bestimmte Aspekte der Untertanenschaft wichtig werden ließ und andere Aspekte zurückstellte, ohne dass damit unbedingt ein unterschiedliches Niveau an Eingliederung der Untertanen einherging oder angestrebt wurde. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: In Sibirien und Fernost bedeutete die immer wiederkehrende Vorgabe, die Indigenen „sanftmütig“ (laskovo) in die Untertanenschaft zu führen, dass man die autochthone Bevölkerung vor die Alternative stellte, entweder freiwillig in die Untertanenschaft einzutreten und damit jasak in Form edelster Zobelfelle zu zahlen oder getötet zu werden. In den südlichen Steppen bedeutete die Anweisung, „sanftmütig“ (laskovo) in die Untertanenschaft zu führen, dass man die kalmückischen oder kasachischen Chane mit Geschenken nur so überhäufte, bevor man ihnen vorsichtig und mit viel Überredungs- und Verhandlungskünsten die russländische Untertanenschaft anbot. Galt im Osten die Devise „Gib oder stirb“, waren jasak-­Zahlungen im Süden nur einzufordern, wenn die Einheimischen diese freiwillig erbrachten. Bei Unwille sollte nichts verlangt werden, obwohl die jasak-­Zahlung eigentlich sogar als Bedingung der Untertanenschaft in der Gnadenurkunde festgelegt worden war.65 Dieses unterschiedliche Vorgehen hing mit den je nach Region variierenden Interessen der Zarenregierungen zusammen. Im Osten war der Zweck imperialer Expansion in erster Linie das ‚weiße‘ Gold. Im Süden ging es darum, eine geopolitisch bedeutsame Region zu sichern, um den Handel mit Indien und China sowie den Pferdeimport zu ermöglichen. Im Osten ging man mit Waffengewalt vor und erzwang die Untertanenschaft nach dem Recht des Siegers. Im Süden und im Nordkaukasus versuchte man die Steppen- und Bergvölker dadurch in das Reich einzubinden, dass man die ethnischen Gruppen gegeneinander ausspielte. 65 Gramota imp. Anny chanu Abulchairu i vsemu kazachskomu narodu o prinjatii ich v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 28 (19. 2. 1731), 40 – 41, hier 40. Allerdings war die jasak-­ Verpflichtung der Kasachen gegenüber den anfänglichen Plänen der russländischen Regierungsvertreter abgeschwächt worden. In der Aufnahmeurkunde hieß es, sie sollten „jasak so zahlen, wie es die Bachkiren machten“, während vorher noch die Rede davon gewesen war, dass jählich 4000 Fuchsfelle abzuliefern waren. Pis’ma chanob Abulchaira (…) imp. Anne o prinjatii imi rossijskogo poddanstva. In: KRO Bd. 1, N. 27 (2. 1. 1731), 37 – 40, hier 38.

Die Kriterien russländischer Untertanenschaft

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Abb. 1: „Die Ablieferung des jasak in Tjumen‘“. Zeichnung von Semën U. Remezov aus seinem „Služebnaja čertežnaja kniga“ von 1699 – 1701

Die Kriterien von Trepavlov können damit nur bedingt die Frage beantworten helfen, wann und ob die russländische Seite selbst nur eine nominelle oder eine reale Untertanenschaft anstrebte. Gerade dieser Aspekt wird in der Literatur bei der Analyse russländisch-­imperialer Politik immer wieder als eine entscheidende Frage dargestellt. Die Antworten sind je nach Personenverband häufig umstritten.66 Weitet man aber den Blick auf die russländische Praxis im Umgang mit dem Untertanenschaftskonzept auf das gesamte Zarenreich, so wird offensichtlich, wie

66 Als Beispiele für die Auseinandersetzung in der Forschungsliteratur zur Frage, wie der jeweilige Status einer ethnischen Gruppe innerhalb des Russländischen Reiches zu beurteilen ist, können die Ausführungen zur Kleinen Horde der Kasachen und jene zu den Nogaiern dienen. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 145 – 146; Nogajsko-­Russkie otnošenija v XV‒XVIII vv., 97 – 101; T repavlov , Istorija Nogajskoj Ordy, 627 – 647.

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sehr die Interessen der Zarenregierungen und ihrer imperialen Elite je nach Region variierten und welch unterschiedliche Prioritäten sich daraus für das jeweilige Vorgehen ableiteten. Dann wird erkennbar, dass diese jeweils unterschiedlichen Blickwinkel ein derart flexibles und pragmatisches Vorgehen nahelegten, dass sich abgesehen von der Forderung nach Treue und Gehorsam kein Bestandteil des Untertanenschaftskonzepts benennen ließe, dem die imperiale Elite in allen Regionen fortwährend dieselbe Aufmerksamkeit schenkte. Will man daher das russländische Konzept von Untertanenschaft nach den Maßstäben der Zeitgenossen verstehen, erscheint es angebracht, es erneut aus seiner historischen Entwicklung heraus zu begreifen. Erst mit dem Verständnis zarischer Untertanenschaft als einem Gnadenakt des Herrschers wird erklärlich, warum jegliche Versuche, dem Phänomen rechtlich oder administrativ zu Leibe zu rücken, unbefriedigend bleiben müssen. Aus dem Konzept des Gnadenaktes hingegen wird verständlich, dass poddanstvo nur als eine situative Kategorie zu fassen ist, die je nach Region und auch innerhalb dieser je nach Bedingungen flexibel gehandhabt wurde und keine Idealtypen zulässt. Poddanstvo, und hier soll der russische Begriff beibehalten werden, um deutlich zu machen, dass nicht von Untertanenschaft als analytischer Kategorie, sondern von dem spezifisch russländischen Verständnis die Rede ist, war von Anfang an ein dynamisches System.67 Unter ein und demselben Begriff wurden bewusst verschiedene Grade der Einbürgerung gefasst. Diese waren nicht konturenscharf auseinanderzuhalten, sondern gingen ineinander über. Gerade diese Stufenlosigkeit, die der Politik der Zarenregierungen große Flexibilität ermöglichte, war weniger eine Schwäche als vielmehr die große Stärke des Konzepts.68 Zweifelsohne bedeutete die Deklarierung von Untertanenschaft in vielen Fällen noch nicht eine reale Unterwerfung.69 Viele Beziehungen z­ wischen den Russen und indigenen ethnischen Gruppen, so besonders bei den Baschkiren im 17. und bei den 67 Diese Aussage trifft auch schon für die Jahrhunderte zu, bevor der Begriff der poddanstvo im 17. Jahrhundert aufkam. Zum russischen Untertanenschaftsbegriff vor poddanstvo weiter unten. – Zum flexiblen und uneinheitlichen Tempo der Integrationspolitik des Moskauer Fürstentums nach der jeweils offiziell deklarierten Einverleibung indigener Volksgruppen siehe K appeler , Ethnische Minderheiten im Alten Rußland, bes. 145. 68 Das Plädoyer, poddanstvo als situative Kategorie zu begreifen, ist etwas anderes als das Prinzip der separate deals, mit dem Eric Lohr die russische Praxis beschreibt, mit jeder einverleibten Gruppe eine spezifische Abmachung von Rechten und Pflichten zu vereinbaren. Der Begriff der separate deals verweist zu Recht darauf, dass es keinen allgemeingültigen Kodex von Pflichten und Rechten für alle durch Immigration oder Annexion einverleibten Untertanen gab, suggeriert aber, dass derartige Abkommen, einmal abgeschlossen, dauerhaft die jeweilige Untertanenschaft charakterisierten. ‚Situative Untertanenschaft‘ verweist dagegen darauf, dass es bei ein und demselben Abkommenspartner im Laufe der Zeit zu gänzlich verschiedenen Formen der Untertanenschaft kam. Vgl. L ohr , Russian Citizenship, 20, 30 – 31. 69 Žanat B. Kundakbaevas Formulierung von einer „Untertanenschaftsorientierung“ (prinjatie poddanničeskoj orientacii) zur Bezeichnung des Stadiums ­zwischen einer nominellen, aber (noch)

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Kasachen im 18. Jahrhundert, formierten sich auf der Protektoratsebene. Auch ist im Sinne vorheriger Ausführungen der Analyse Pavel Šablejs zuzustimmen, wonach bei vielen ethnischen Gruppen aufgrund des pragmatischen russländischen Vorgehens der Eindruck vorherrschte, poddanstvo sei als ‚freies Vasallentum‘, als eine vorübergehende Allianz mit dem Zarenreich in der Gestalt eines Bündnispartners anzusehen und nicht als eine bedingungslose und immerwährende Unterwerfung. Die Tatsache, dass der Charakter der Untertanenschaft von der russländischen Seite nicht scharf umrissen wurde, barg zweifellos Probleme. So konnte die ­flexible zarische Politik tatsächlich als Funke für Aufstände dienen, wenn sie – wie es die Baschkiren im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert empfanden – vermeintliche Vertragsbedingungen einseitig verletzte.70 Die Vorteile dieser flexi­blen Untertanenschaftskonzeption überwogen aber bei weitem die Nachteile. Entgegen der Auffassung von Šablej führte nämlich das Fehlen gesetzlicher Normen für das russländische Verständnis von Untertanenschaft aus dem Geist des Konzepts der Gnade heraus eher zum Erfolg russländisch-­imperialer Politik als zu deren Scheitern. Die Flexibilität und der Pragmatismus im Umgang mit poddanstvo waren im Verbund mit militärischer Stärke der entscheidende Trumpf der Zaren und ihrer imperialen Elite, um die territoriale Expansion unaufhörlich fortzusetzen und zu festigen. War einmal aus russländischer Sicht die „ewige“ Untertanenschaft schriftlich fixiert, sei es infolge des Siegerrechts, am Ende einer erfolgreich betriebenen Zersetzungspolitik oder einer interimperialen Bedrohungslage, die indigene ethnische Gruppen die Zuflucht im Russländischen Reich suchen ließen, so blieb poddanstvo auch im Falle einer bloß nominellen Herrschaft als Verkörperung eines Anspruchs auf eine reale Herrschaft bestehen. Die Zuschreibung der poddanstvo war daher weit mehr als die rechtliche Statusbeschreibung eines Individuums, mit dem die Zugehörigkeit zum Russländischen Reich beschrieben wurde. Poddanstvo war selbst ein Instrument russländischer Expansionspolitik. Poddanstvo stand für eine Rechtsposition, mit der anschließend Strafexpeditionen (poiski) und Einmischungen in die inneren Angelegenheiten gerechtfertigt werden konnten und wurden – gerade um eine reale Untertanenschaft überhaupt erst zu erreichen.71 nicht realen Untertanenschaft erscheint hier besonders geglückt. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 279. 70 Š ablej , Poddanstvo v Aziatskoj Rossii, 99 – 122. 71 Der Leiter der Orenburger Kommission, Ivan Nepljuev, fasste den Wert der Eidleistung auch bei „unbeständigen Völkern“ wie der Mittleren Horde der Kasachen 1742 folgendermaßen zusammen: „Wenn man sich auch auf ihre Eidesleistungen nicht verlassen kann, als einem überaus unbeständigen und untreuen Volk, so wird doch dadurch [mittels des Eides] das ewige Recht auf die Untertanenschaft I. K. H. [Ihrer Kaiserlichen Hoheit] bekräftigt (večnoe pravo o poddanstve).“ Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del o merach, predprinjatych v otnošenii chana Abulmambeta v svjazi s ego namereniem prinjat’ džungarskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 105 (18. 11. 1742), 269 – 273, hier 270. – Auch der Unterwerfungseid der

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Im Falle von ‚widerspenstigen‘ ethnischen Gruppen wie den in Fernost lebenden Čukčen, bei denen zunächst nur ein Teil ihrer Anführer und deren Anhänger Mitte des 18. Jahrhunderts in die Untertanenschaft überführt werden konnte, behaupteten Vertreter der Zarenregierung sogar forsch und trickreich, sämtliche Čukčen ­seien Untertanen des Zaren geworden. Mit dem Historiker Andrej Zuev kann hier zu Recht von einem „präventiven Charakter“ von poddanstvo gesprochen werden: Russländische Untertanenschaft wurde nicht bloß für einige Vertreter der Čukčen, sondern ungefragt in einem dem tatsächlichen Eid vorauseilenden Bindungsanspruch für die gesamte ethnische Gruppe der Čukčen deklariert. Dies verhalf aus Sicht der zarischen Seite anschließend zu dem Recht, dem etablierten Anspruch mit Waffengewalt Geltung verleihen zu dürfen.72 Die Politik des pragmatischen Umgangs mit poddanstvo kam besonders stark zum Ausdruck in einer Region höchster interimperialer Rivalität: in Süd- und Südwestsibirien. Hier duldeten die russländischen Zaren über Jahrhunderte hinweg eine doppelte und in einzelnen Fällen sogar eine dreifache Untertanenschaft. Barabiner-­Tataren und Jenissej-­Kirgisen waren ab Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Untergang des dsungarischen Reiches Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl Untertanen des russländischen Zaren als auch des dsungarischen Chans. Sie zahlten beiden Herrschern Tribut und verpflichteten sich, Kämpfer im Angriffsfalle beiden Seiten zur Verfügung zu stellen (dvoepoddanstvo).73 Nach der Vernichtung des Dsungarischen Reiches durch die Qing-­Dynastie in den 1750er Jahren setzte die russländische Seite die doppelte Untertanenschaft über die ethnischen Gruppen im Süden des Altaj-­Gebirges fort, jetzt zusammen mit dem Chinesischen Reich. Die Konfrontation mit der Qing-­Dynastie wurde vorerst vermieden, um nicht den gewinnträchtigen Landhandel mit China zu verderben. Am Ende erntete auch hier die Zarenregierung den Erfolg ihrer Flexi­ bilität und konnte in den 1860er Jahren die alleinige russländische Untertanenschaft in der Region etablieren.74 Ähnliches galt sowohl für Teile Dagestans, die Nogai-­Tataren von 1557 demonstriert die Bedeutung des Vorgangs aus Moskauer Sicht. Zwar hatten die Nogai-­Tataren ein völlig anderes Verständnis von ihrem Eid, doch kehrte Moskau beharrlich auf die (aus seiner Sicht) einmal etablierte Rechtsposition zurück und nutzte sie als Argument für eine nachhaltige Unterwerfung. K appeler , Moskau und die Steppe, 87 – 105. 72 Z uev , Russko-­Čukotskie peregovory 1778 goda. 73 Der Begründer des dsungarischen Chanats und ihr erster Herrscher, kontajša Ėrden Batur, schlug 1640 dem Moskauer Vertreter erstmals offen vor, die Kirgisen doppelt Tribut zahlen zu lassen. Die Moskauer Seite reagierte nicht negativ. RMongO Bd. 2, 208. 74 Boronin, Dvoedanničestvo v Sibiri; ders., Čelkancy meždu Rossiej i Džungariej; ders., Russko-­ džungarskie posol’skie svjazi; ders., Vopros o dvoedancach; ders., Dvoedanničestvo i dvoepoddanstvo; ders., Vopros o dvoedancach; Šerstova, Problema pereorientacii aborigennogo ­naselenija; Moiseev, Priem v Rossijskoe poddanstvo južnych Altajcev. – Die dreifache Untertanenschaft hielt sich jedoch nur im 17. Jahrhundert und betraf Oiraten, Chotogoicy und Teleucy.

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in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einerseits Untertanen des persischen Schahs und andererseits s­ olche des Moskauer Zaren waren, als auch für Teile der Mittleren Horde der Kasachen, die Mitte des 18. Jahrhunderts zeitweilig als Untertanen den russischen Zaren sowie der Qing-­Dynastie unterstanden. Auch in diesen beiden Fällen errang die russländische Seite auf Dauer die alleinige Untertanenschaft.75 Pragmatismus herrschte in besonderem Maße bei den Vertretern der imperialen Elite in den Peripherien vor. Anders als in früheren Jahrhunderten legten die zentralen Regierungsbehörden im 18. Jahrhundert großen Wert darauf, die Überführung indigener Bevölkerungsgruppen in die Untertanenschaft des Zaren so deutlich wie möglich zu deklarieren, um auf diese Weise ihre Feldzüge zur ‚Befriedung‘ der Region und zur Absicherung russländischer Interessen legitimieren zu können. Russländische Gesandte und Unterhändler vor Ort wählten hingegen häufig die Verschleierungstaktik und verschwiegen gegenüber der autochthonen Bevölkerung die wahren Implikationen von Eidleistungen und jasak-­Zahlungen. Sie suchten damit Aufstände zu verhindern und vor allem die von der Zentrale eingeforderten jasak-­Einkünfte abzusichern. Auf diese Weise hielt sich gerade in Sibirien, Fernost und im Nordpazifikraum bei vielen indigenen ethnischen Gruppen der Eindruck, bei der Abgabe von Fellen und dem Erhalt von Perlen und Messern handele es sich mehr um ein Tauschgeschäft als um eine Tributzahlung an den Herrscher, dem man auf ewig untertan geworden sei. Die Nogaier traten unter Fürst Išterek im 17. Jahrhundert mit der Forderung auf, ein Anrecht auf so viel Geschenke zu haben, wie sie der ‚Zar der Krimtataren‘ und der Sultan des Osmanischen Reiches erhielten.76 Auch bei den Kasachen sahen sich viele nur so lange in einem ‚freiwilligen‘ Bündnis mit dem Russländischen Reich, wie sie dafür wertvolle Säbel, Mäntel und Hüte aus Zobelfellen erhielten. Russländischen Vertretern der Peripherien war dieser Trugschluss oft bewusst. Doch gerade mit ­diesem verdeckten Vorgehen erwies sich häufig die Strategie als erfolgreich, das Fangnetz nomineller Untertanenschaft zunächst unscheinbar auszuwerfen, um dann im zweiten Schritt allmählich und ausgerichtet an russländischen Bedürfnissen 75 Im Falle Dagestans findet sich opčee cholopstvo als Quellenbegriff. Očerki Istorii Dagestana Bd. 1, 135 – 136; K uševa , Narody Severnogo Kavkaza, 307/308; Istorija narodov Severnogo Kavkaza s drevenejšich vremen, 343. – Im Falle der Mittleren Horde der Kasachen war die russländische Seite allerdings nicht bereit, die doppelte Untertanenschaft längerfristig zu akzeptieren. Mit allen Mitteln versuchte die Zarenregierung, sie so rasch wie möglich zu eigenen Gunsten zu beenden. Dahinter stand die Sorge, im Falle einer nachgiebigen Politik möglicherweise auch die Kleine Horde der Kasachen, die bereits vergleichsweise fest in ausschließlich zarischer Untertanenschaft stand, an die Qing-­Dynastie zu verlieren. KRO Bd. 1, Nr. 84 (6. 5. 1742), 197 – 198; Nr. 105 (18. 11. 1742), 269 – 273; Nr. 216 (16. 1. 1758), 549 – 550; Nr. 217 (29. 1. 1758), 550; Nr. 219 (19. 5. 1758), 552 – 561; Nr. 230 (31. 8. 1759), 598. 76 N ovosel ’skij , Bor’ba Moskovskogo gosudarstva s tatarami, 139.

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Das Konzept der Untertanenschaft als Instrument der Imperiumsbildung

und militärischen Kapazitäten die Fäden einer realen Untertanenschaft wie im Falle eines Fischernetzes engmaschiger zusammenzuziehen.77 Zusammenfassend lässt sich daher bei aller sinnvollen Unterscheidung z­ wischen nomineller und realer Untertanenschaft festhalten, dass sich die nominelle Aufnahme in die russländische Untertanenschaft nicht im Vollziehen von Formalien erschöpfte, insbesondere nicht mehr seit dem ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Vielmehr bildete der Akt der Aufnahme selbst die Begründung eines dauerhaften Anspruchs der russländischen Seite auf die indigene Bevölkerung, ganz gleich, ob die zarische Herrschaft über die nominell neuen Untertanen tatsächlich ausgeübt werden konnte oder nicht, und auch unabhängig von der Frage, ob die Aufnahme durch Gewaltanwendung oder auf vordergründig freiwilliger Basis erfolgt war. Der Akt der Aufnahme in die Untertanenschaft verkörperte einen Bindungsanspruch der russländischen Seite. Er konstruierte eine neue politische Identität der einheimischen Bevölkerung, die es aus russländischer Sicht auch dann noch zu wahren galt, wenn die Träger dieser neuen Identität ihren Willen, zum Reich zu gehören, aufgegeben hatten. Aus russländischer Sicht legitimierte der einmal erfolgte Akt der Aufnahme jegliche Maßnahmen, die dazu dienten, die Untertanenschaft zu verstetigen bzw. die administrative Durchdringung zu verstärken, sobald die eigenen Kapazitäten dazu vorhanden waren. Gerade die von russländischer Seite nicht festgelegten Stadien administrativer Durchdringung erlaubten eine je nach Region oder ethnischer Gruppe flexibel handhabbare Auslegung von poddanstvo.

2.3  Untertanenschaft, Staats- und Imperiumsbildung Nachdem im ersten Unterkapitel gezeigt werden konnte, dass im Konzept russländischer Untertanenschaft kein prinzipieller Unterschied z­ wischen ‚natürlichen‘ (prirodnye) russischen Untertanen und solchen, die durch imperiale Expansion zu Russländern geworden waren, angelegt war, stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, w ­ elche Auswirkungen von der zunehmenden Verstaatlichung im 18. Jahrhundert für das Konzept ausgingen und was dies jeweils für ‚alte‘ wie ‚neue‘ Untertanengruppen bedeutete.

77 Das Bewusstsein für die jeweils unterschiedliche Auslegung des Begriffes der Untertanenschaft auf indigener und auf russländischer Seite zeigt sich in den Worten des Kommandanten A. V. Suvorov, der mit Blick auf Čerkessen und deren Wunsch nach Eidableistung 1779 anmerkte: „Untertanenschaft: Dieser Terminus hat in der lokalen Sprache nicht so eine große Bedeutung wie in der russländischen.“ Nogajsko-­Russkie Otnošenija v XV‒XVIII vv., 98. – Ausführlich zur russländischen Gabepraxis gegenüber den ethnischen Gruppen im Süden und Osten in Kap. 4.6.

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Im Rahmen der fünf Charakteristika des russländischen Untertanenschaftskonzepts war auf die Zwitterstellung z­ wischen personaler und dynastischer bzw. ­später staatlicher Bindung hingewiesen worden, die im Treueid angelegt war: Trotz der im Treueid vorgesehenen Ewigkeitsklausel, die auf die institutionelle Dauerhaftigkeit des russländischen Herrschaftsverbandes verweist, musste der Eid bei jedem Herrschaftswechsel wiederholt werden. Dies wurde bereits als Ausdruck einer personengebundenen Untertanenschaft ausgelegt. Dieselbe Regelung galt aber auch für die ‚natürlichen‘ Untertanen. Auch von ihnen wurde gefordert, bei jedem Zarenwechsel erneut einen Eid zu leisten, obwohl der Eidestext bereits besagte, dass er auch für die Nachfolger des neuen Zaren/der neuen Zarin Geltung haben sollte. In dieser Zwitterstellung z­ wischen personengebundener und institutionell verankerter Untertanenschaft befanden sich folglich alle Untertanen gleichermaßen. Doch damit ist die Ausgangslage des Konzepts von Untertanenschaft im 17. Jahrhundert und damit vor dem Prozess der Verstaatlichung noch nicht genügend erfasst. Um den Prozess der Verstaatlichung, der sich im 18. Jahrhundert vollzog, und seine Folgen für alle Untertanen anschaulich werden zu lassen, muss vielmehr die Begriffsgeschichte als Hilfsmittel herangezogen werden. Erst durch die Analyse der verschiedenen Begrifflichkeiten und der mit ihnen verbundenen Semantik von Untertanenschaft und Untertanenverhältnis zum Monarchen im innerrussischen wie im imperialen Kontext des 17. Jahrhunderts wird deutlich, wie die von Peter I. forcierte Staatsbildung jene Überlappung verstärkte, die in der historischen Tradition des Konzepts von russländischer Untertanenschaft bereits angelegt war: die Fusion des Untertanenschaftskonzeptes für ‚natürliche‘ Russen und akkulturierte Russländer einerseits mit jenem für Menschen nicht-­christlicher Kulturen andererseits, die im Zuge imperialer Expansion im Süden und Osten inkorporiert worden waren.78 Die personenbezogene Zuordnung russländischer Untertanen hatte sich bis weit in das 17. Jahrhundert hinein in Formulierungen niedergeschlagen wie ‚unter der hohen herrscherlichen Hand sein‘ (byt’ pod gosudarevoju vysokoju rukoju) oder jemanden ‚in die Hand des Herrschers führen‘ (privesti pod gosudarevu ruku). Die ‚hohe herrscherliche Hand‘ symbolisierte mithin den Schutz durch die Macht und Stärke, die mit der Person des Zaren und seinem Herrschaftsanspruch verknüpft wurde. Ein von ihm unabhängig existierender Staatsverband wurde noch nicht angedacht. Wie aber wurden die Menschen genannt, die zu Untertanen des Zaren wurden? Und was lässt sich aus den Bezeichnungen für das Verständnis von Untertanenschaft vor der Verstaatlichung zarischer Herrschaftsgewalt ableiten? 78 Zur Ergiebigkeit, zentrale Quellenbegriffe zu analysieren, um politisch-­soziale Systeme im Zusammenhang mit Untertanenschaft auch im deutschen Sprachraum zu entschlüsseln, vgl. B lickle , Untertanen in der Frühneuzeit.

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Im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert hießen sämtliche Untertanen des Zaren, die mittels imperialer Expansion ‚eingebürgert‘ worden waren, unabhängig von der Frage, ob sie der Ober- oder Unterschicht ihrer jeweiligen ethnischen Gruppe angehörten, des Zaren ‚Knechte‘ (cholopy): „Er nahm sie sich als Knechte“, „Knechte des Zaren […] auf Jahrhunderte“ (On vzjal sebe v cholopi, cholopi carja […] vo veki).79 Damit stellt sich zunächst einmal die Frage nach der zeitgenössischen Semantik des Knechtbegriffes. Auffällig ist an seiner Verwendung, dass damit auf denselben Terminus zurückgegriffen wurde, mit dem schon in früheren Jahrhunderten die unfreien Leute eines Gutsbesitzers bezeichnet worden waren, oder jene, die als militärische Hilfskräfte mit einem Würdenträger ins Feld zogen. In beiden Fällen handelte es sich aber um sozial-­ständische, nicht um herrschaftsbezogene Beziehungen. Die Verwendung desselben Terminus zum einen für unfreie Leute im sozial-­ ständischen Bereich sowie zum anderen als Untertanbegriff im herrschaftsbezogenen Kontext legt nahe, dass damit zugleich auch eine Analogie zur B ­ eschreibung des Beziehungsverhältnisses zum Ausdruck kam: eine Ähnlichkeit z­ wischen der Herrschaftsbeziehung des Zaren und seiner Untertanen (cholopy) zur sozial-­ ständischen Beziehung ­zwischen einem Gutsbesitzer und seinen ‚Knechten‘ (cholopy). Tatsächlich zeigt sich die Verwischung von Grenzen z­ wischen Beziehungen, die aus dem sozial-­ständischen und solchen, die aus dem herrschaftsbezogenen Kontext stammen, auch mit Blick auf den russischen Gegenbegriff zum Knecht, nämlich den Begriff für Gutsbesitzer wie Herrscher: Nicht nur die Besitzer von unfreien Leuten (Knechte, cholopy) wurden als Gosudar’ (Herr) bezeichnet, so in den Gerichtsbüchern von 1497 und 1550 unter den Herrschern Ivan III. und Ivan IV. Auch der Inhaber der Herrschaftsgewalt, der Moskauer Großfürst, ließ sich spätestens seit dem 15. Jahrhundert als Herr (Gosudar’ und Gospodin’) ­anreden, seit den 1470er Jahren als Gosudar’ und Gospodar’. Vor ­diesem Hintergrund der Analogie wird auch das Verhalten russischer Würdenträger verständlich: Großfürst Ivan III. legte im ausgehenden 15. Jahrhundert als erster russischer Herrscher Wert darauf, nicht nur im innerrussischen, sondern auch im diplomatischen Umfeld mit dem Titel des ‚Herrn‘ (Gosudar’) angesprochen zu werden. Als Folgeschritt lag es nahe, dass russische Würdenträger den im sozial-­ständischen Kontext mit ‚Herr‘ (Gosudar’) korrespondierenden Ausdruck 79 Ein frühes Beispiel sind čerkassische Fürsten, die 1552 bei Zar Ivan IV . um ihre Aufnahme in die Untertanenschaft baten. Er „nahm sie als seine Untertanen auf“ (vzjal sebe v cholopi) und versprach, sie vor dem Krim-­Chan zu ­schützen. Drei Jahre ­später kam eine zweite čerkassische Delegation, die er „für immer“ und „mit Kindern“ als zarische Untertanen aufnahm (a oni cholopi carja i velikogo knjazja i z ženami i z det’mi vo veki). Patriaršaja ili Nikovoskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 13, 1. Hälfte, Moskau 1965 [Abdruck der Ausgabe von St. Petersburg 1904], 259.

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des ‚Knechts‘ (cholop) auch als Selbstbezeichnung gegenüber ihrem ‚Herren‘ im Kontext der Herrschaftsbeziehung annahmen.80 Marshall Poe und Anton Gorskij haben überzeugend die Semantik ausgewertet, die dem cholop-­Begriff im Sinne ergebener oberster Würdenträger des russischen Herrschers innewohnte. Demnach wurde mit dem Terminus cholop keine Selbsterniedrigung der russischen Oberschicht zum Ausdruck gebracht, sondern vielmehr politisch beabsichtigt, die Stellung des Moskauer Großfürsten zu erhöhen: Es ging um einen auch terminologisch ausgeführten Kampf um die Anerkennung des Moskauer Herrschers, der insbesondere mit dem Titel des Zaren (car’ ) beanspruchte, dem mongolischen Chan gegenüber als ebenbürtig angesehen zu werden. Eine ‚Erhöhung‘ des Herrschers erhöhte damit zugleich die Ehre derjenigen, die d­ iesem Herrscher dienten.81 Insofern ergibt es Sinn, dass der Knechtbegriff im innerrussischen Kontext nur der Elite vorbehalten war, nicht aber den einfachen russischen Untertanen offenstand. Diese hatten sich gegenüber dem Herrscher vielmehr als ‚Waisen‘ (sirota) zu bezeichnen. Für Untertanen, die im Zuge imperialer Expansion im Süden und Osten aufgenommen worden waren, galt die genannte Unterscheidung nach sozialen Krite­ rien Anfang des 17. Jahrhunderts noch nicht. Sie alle hatten sich vorerst unterschiedslos „Knechte“ (cholopy) des Zaren zu nennen. Analog zur innerrussischen Semantik liegt es auch bei dem Knechtbegriff im imperialen Kontext nahe, dass damit nicht die Absicht verbunden wurde, jenseits des Gnadenkonzepts den neuen, nicht-­christlichen Untertanen einen explizit erniedrigenden Status zu verleihen. Die Annahme einer erniedrigenden Absicht verbietet sich schon allein deshalb, weil der cholop-­Begriff im innerrussischen Kontext ja nur der Oberschicht vorbehalten war. Vielmehr ist zu vermuten, dass die Bezeichnung primär erneut den Blick auf die Herrlichkeit des Herrschers lenken und Ehre daraus abgeleitet werden sollte, ihm untertänig sein zu dürfen. Zudem mochte man hoffen, mit dieser Ehrvorstellung anderen, die noch keine Untertanen geworden waren, einen Ansporn zu geben, auch in die Untertanenschaft einzutreten. Vom Terminus cholop zur Bezeichnung neuer Untertanen war es linguistisch ein kurzer Weg zum Sammelbegriff für den Zustand, in dem sich alle befanden, die im imperialen Kontext ‚aufgenommen‘ worden waren: zur cholopstvo (wörtlich ‚Knechtschaft‘). Diese erste Bezeichnung für Untertanenschaft im Moskauer 80 Nikolaj S. Borisov nennt als frühestes Beispiel für die Selbstbezeichnung eines Würdenträgers als ‚Knecht‘ (cholop) die Anrede, die der Fürst Fedor Chovanskij 1489 gegenüber Großfürst Ivan III. verwandte. B orisov , Ivan III., 574. – Im diplomatischen Verkehr bezeichnete sich Ivan III. erstmals 1493 gegenüber Alexander von Litauen als „Herr/Herrscher der ganzen Rus’“ (Gosudar’ vseja Rusi). Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen, 77. 81 G orskij , O proischoždenii „cholopstva“ moskovskoj znati; P oe , What Did Russians Mean when They Called Themselves „Slaves of the Tsar“?; F lorja , Ivan Groznyj, 99.

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Reich etablierte sich im frühen 17. Jahrhundert. Sie galt für sämtliche neu inkorporierte Untertanen in Sibirien, Fernost, im Altaj-­Gebirge, in den südlichen Steppengebieten und im Nordkaukasus.82 Bislang hat der Begriff cholopstvo in der Forschung wenig Beachtung gefunden. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass die Konnotation der imperialen Untertanenschaft stets von der zweiten, für den innerrussischen Kontext weit wichtigeren Bedeutung des Begriffes überlagert wurde, nach der bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert cholopstvo den Stand der Knechtschaft bezeichnete und s­ päter auch als Synonym für Leibeigenschaft verwandt wurde.83 Der Untertanenschaftsbegriff cholopstvo in seiner imperialen Dimension blieb stets begleitet von Ausdrucksformen, die den personengebundenen Charakter der Unterstellung betonten – so mit dem Ausdruck ‚unter der hohen Hand in ewiger Knechtschaft sein‘ (byt’ pod vysokoju rukoju v večnom cholopstve) oder ‚unter der hohen Hand in direkter Knechtschaft auf ewig und unwiderbringlich sein‘ (byti pod vysokoju rukoju v prjamom cholopstve naveki neotstupnym). Die bildliche Vorstellung von der ‚hohen Hand‘ und die terminologische Analogie zur sozial-­ ständischen Beziehung von Herr und Knecht unterstrichen gleich zweifach das Konzept der engen Herrschergebundenheit. Doch es sollte just diese Ähnlichkeit zur Herr-­Knecht-­Beziehung sein, die den Anfang vom Ende der Verwendung von cholopstvo als Bezeichnung für imperiale Untertanenschaft einleitete.

Von der cholopstvo zur poddanstvo Der mächtige Chan des Altyn-­Chanats in der nordwestlichen Mongolei, Badma Ėrdeni, auch Ombo Ėrdeni genannt, war Mitte der 1630er Jahre sehr an einer Zusammenarbeit mit dem Moskauer Zaren interessiert. Als Nachfolger des Begründers des Reiches der Altyn-­Chane ging es ihm darum, sich einerseits militärische Unterstützung gegen innermongolische Konkurrenten zu sichern und andererseits

82 KabRO Bd. 1, Nr. 49 (vor dem 25. 6. 1614), 80; RM ongO Bd. 1, Nr. 91 (zw. 3. 6. 1632 u. 11. 11. 1632), 184; Kolonial’naja politika Moskovskogo gosudarstva, Nr. 6 (14. 5. 1641), 9; MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 51 (24. 11. 1663), 175/176; PSZRI Bd. 3, Nr. 1585 (14. 5. 1697), Absch. 25, 320 – 322; Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 1, Nr. 119 (7. 9. 1709), 506 – 515, hier 508. 83 Eine der wenigen Ausnahmen in der Forschungsliteratur ist Vadim V. Trepavlov, der sich mit cholopstvo im Sinne von zarischer Untertanenschaft in seiner imperialen Dimension im Kontext der nogaischen Horde im 16. Jh. auseinandersetzt. T repavlov , Istorija Nogajskoj Ordy, 644 – 647. – Der russische Schriftsteller Aleksandr N. Radiščev verwandte in seiner 1790 auf Russisch erschienenen Schrift „Reise von Petersburg nach Moskau“ den Begriff cholop synonym mit einerseits ‚Diener‘, ,Knecht‘ (rab) und andererseits ‚Leibeigener‘ (krepostnoj). R adiščev , Reise von Petersburg nach Moskau, 256.

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Zugang zu den Handelsmärkten der sibirischen Städte zu erhalten.84 Als die zarischen Unterhändler ihm daraufhin den Text einer Eidesurkunde für Nicht-­Christen (šertnaja gramota) vorlegten, auf dass er in die zarische Untertanenschaft eintrete, reagierte er empört: „Knechtschaft (cholopstvo) ist bei uns unehrenhaft.“ Es sei nicht vorstellbar, dass er, der „Goldene Zar“ (so der mongolische Titel wörtlich, den die Moskauer aus der turksprachigen Übersetzung altan han übernommen hatten), einen Eid darauf leiste, sich in die „Knechtschaft“ des „großen Herrschers“ zu begeben. „Und wenn es nicht möglich ist, das Wort Knechtschaft abzuändern, kann ich, Altyn-­Car nicht unterschreiben.“ (I to de slovo cholopstvo l’zja li peremenit’ inak, a tak de mne, Altynu-­carju, otnjud’ ne pisatca.)85 Die Moskauer Seite bemühte sich, dem mongolischen Chan verständlich zu machen, dass bereits viele „Staaten“ (gosudarstva) vor ihm sich unter die „hohe zarische Hand“ des Herrschers begeben hätten. Demjenigen, den der Herrscher (Gosudar’) als Knecht (cholopom) bezeichne, gebühre Ehre und nicht Unehre.86 Die Mühen waren vergeblich: Alle Verhandlungen über einen persönlich zu leistenden šert des mongolischen Altyn-­Chans endeten erfolglos. Stattdessen sorgte der mongolische Zar, der die Moskauer Vertreter nicht zu sehr vor den Kopf stoßen wollte, dafür, dass sein geistlicher, lamaistischer Führer zusammen mit seinem Bruder in seinem sowie im Namen seines ganzen Landes (za vsju svoju zemlju) den Treueid (šert’) leisteten.87 Damit war der mongolische ‚Zar‘ jedoch selbst kein Untertan (cholop) des Moskauer Zaren geworden. Dies war eine Niederlage, die die zarischen Diplomaten nicht hinnehmen wollten. Der nun folgende Schlingerkurs offenbart einerseits Moskaus Flexibilität, andererseits verweist er auch auf die Grenzen des zarischen Pragmatismus. Solche waren in dem Augenblick erreicht, wo es um den Kern des Untertanenverständnisses ging, um das Gnadenkonzept. Zunächst galt es, dem Altyn-­Chan einen neuen Begriff anzubieten, damit er sich doch noch bereit erkläre, den Treueid persönlich abzulegen. Nach langen Verhandlungen rangen sich Ende Oktober 1637 die Moskauer Diplomaten dazu durch, dem „Goldenen Zaren“ einen Terminus für die zarische Untertanenschaft vorzulegen, der noch nie zuvor einem nicht-­christlichen Oberhaupt, sondern bislang wohl nur dem georgischen (und 84 Ombo Ėrdeni war der zweite der Altyn-­Chane, der nach seinem Vorgänger und Begründer des Reiches der Altyn-­Chane, Šoloj Ubaši, von ca. 1628 bis 1657 die nordwestliche Mongolei beherrschte. Š astina , Altyn-­chany Zapadnoj mongolii; dies ., Russko-­mongol’skie posol’skie otnošenija XVII veka, 19 – 21, 35. 85 Statejnyj spisok posol’stva tomskogo syna bojarskogo B. Kartaševa k lame Dain Mergen-­lanzu. In: RMongO Bd. 2, Nr. 8 (28. 8. 1636 – 23. 4. 1637), 50 – 64, hier 58 (13. 12. 1636). 86 Ebd. 87 Ebd., 57 – 59; Zapis’ priema carem Michailom Fedorovičem mongol’skich poslov Mergena Degi s tovariščami. In: RMongO Bd. 2, Nr. 25 (18. 2. 1638), 94 – 97, hier 96 – 97.

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damit christlichen) Fürsten Alexander Ende des 16. Jahrhunderts angeboten worden war: Er möge als ‚Untertan‘ (poddannyj) in die zarische ‚Untertanenschaft‘ (poddanstvo) eintreten.88 Leider ist den Quellen keine Reflexion darüber zu entnehmen, was für ein Verständnis mit diesen Bezeichnungen verbunden wurde. Allerdings scheint es der mongolische Altyn-­Chan selbst gewesen zu sein, der als Erster den neuen Begriff aufbrachte, um ihn der Moskauer Seite abzutrotzen. Noch bevor die zarischen Gesandten den Terminus der poddanstvo anboten, bezeichnete er sich in einem Brief an den Moskauer Herrscher bereits als poddanoj tvoj (‚Dein Untertan‘).89 Erst nachdem die Moskauer Gesandten diese Kühnheit zu übergehen und auf der alten Bezeichnung der cholopstvo zu bestehen versucht hatten, dabei jedoch auf Granit gestoßen waren, erklärten sie sich bereit, dem mongolischen ‚Zaren‘ anzubieten, als poddannyj den Eid zu leisten.90 Fest steht damit nur so viel: Dem neuen Begriff hing mindestens in den Augen des Altyn-­Chans ein neuer Status an: Er galt als ehrenhafter als der Status des cholop. Doch selbst dieser Schritt half der Moskauer Seite in ihrem Anliegen nicht weiter. Auch unter den Bedingungen der neuen Bezeichnung war der mongolische Zar nicht bereit, zur Bekräftigung des šert’ persönlich seine Hand auf den Eidestext zu legen: „Im mongolischen Lande kommt es nicht vor, dass ein Zar einem Zaren einen Eid leistet (ne povelos’, čto car’ carju šertuet).“ 91 Stattdessen wies er darauf hin, dass der Eid, den der Lama und sein Cousin für ihn geschworen hatten, vollständig ausreiche und er auch so bereit sei, sämtliche Anweisungen des großen Zaren zu befolgen.92 88 Zapis’ priema v Posol’skom prikaze poslov Altyn-­chana i lamy Dain Mergen-­lanzu Mergena Degi s tovariščami. In: RMongO Bd. 2, Nr. 24 (27. 10. 1637), 92 – 94. – Georgische Gesandte verwandten den Begriff der poddanstvo bereits 1588/1589, als sie russländischen Gesandten die Gründe erläuterten, warum der georgische ‚Zar‘ Alexander in die zarische „Untertanenschaft“ eingetreten sei (gosudarju bil čelom v poddannye; Gruzinskaja zemlja potomu gosudarju i bila čelom, v poddanstve učinilasja). Es handelt sich vermutlich um die erste Erwähnung des Begriffes der poddanstvo im russischen/russländischen Kontext überhaupt. Posol’stvo iz gruzii k­ njazaja Kaplana, starca Kirilla i Kuršita. In: B elokurov (Hg.), Snošenija Rossii s Kavkazom, Nr. 6 (1588 – 1589), 53 f. – Den Herausgebern des Slovar’ russkogo jazyka XI‒XII vv. waren diese frühen Funde von poddanstvo nicht bekannt, sie nennen das Jahr 1645 als erste Erwähnung. Slovar’ russkogo jazyka XI ‒XVII vv., Bd. 15, 248. 89 Pis’mo Altyn-­chana carju Michailu Fedoroviču o požalovanii ego služilymi ljud’mi i žalovan’em i o vernoj službe russkkomu carju. In: RMongO Bd. 2, Nr. 14 (nicht ­später als 4. 2. 1637), 72 – 73. 90 Statejnyj spisok peregovorov tomskogo voevody I. I. Romodanovskogo s Dural-­tabunanom i poslom Altyn-­chana Mergen Degoj s tovariščami. In: RMongO Bd. 2, Nr. 20 (23.4. –5. 6. 1637), 78 – 88, hier 87. 91 Ebd., 82. 92 Zapis’ priema v Posol’skom prikaze poslov Altyn-­chana i lamy Dain Mergen-­lanzu Mergena Degi s tovariščami. In: RMongO Bd. 2, Nr. 24 (27. 10. 1637), 92 – 94.

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Für die Moskauer Seite war die Position des Altyn-­Chans unannehmbar. Untertanenschaft verlangte im Sinne des Gnadenkonzeptes die persönliche, uneingeschränkte Unterwerfung. Eine s­ olche konnte nur durch eine persönliche Unterschrift geleistet werden. Auf der Begriffsebene war Flexibilität in begrenztem Maße möglich, in der Frage der Unterwerfung nicht. Als sich der Altyn-­Chan gegenüber den Moskauer Gesandten auch noch weigerte, sich im Sinne Moskauer diplomatischer Gepflogenheiten als Erstes nach der Gesundheit des Moskauer Zaren zu erkundigen und stattdessen verlangte, dass man zuerst nach der seinigen zu fragen habe, stand das Scheitern eines Eintritts in die zarische Untertanenschaft endgültig fest.93 So wünschenswert es aus Moskauer Sicht gewesen wäre, nach dem sibirischen Chanat auch die Horde des Altyn-­Chans zu inkorporieren – der „Goldene Zar“ war weder willens, zu einem zarischen cholop zu werden noch einverstanden, sich in einen poddannyj zu verwandeln. Am Ende wurde schließlich eine Gnadenurkunde erstellt, die den Begriff der cholopstvo genauso wenig wie den der poddanstvo enthielt, sondern schlicht davon sprach, dass sich der Altyn-­Chan unter die „hohe Hand in die zarische barmherzige Befehlsgewalt und in den ewigen und unwiederbringlichen Gehorsam“ begebe. Damit bestand kein Zweifel mehr, dass der Eintritt in die Untertanenschaft gescheitert und vielmehr ein ‚Freundschaftsvertrag‘ geschlossen worden war.94 In der Literatur werden zur Herkunft der Begriffe von poddanyj und poddanstvo zwei Möglichkeiten diskutiert. Als eine Variante ist denkbar, dass die Diplomaten die Begriffe aus dem Polnischen von den Termini poddany und poddanstwo ableiteten. Diese Bezeichnungen werden den Moskauer Diplomaten durch den Kontakt mit dem Polnisch-­Litauischen Reich spätestens seit Mitte des 16. Jahrhunderts vertraut gewesen sein.95 Aus russländischer Sicht eignete sich die polnische Semantik des Begriffs, der sich vom Lateinischen subditus (‚unterworfen‘) ableitete, ganz besonders für einen Transfer: Auch das altpolnische poddany enthielt die doppelte Bedeutung, einerseits die Zugehörigkeit eines Bauern zum Staat sowie andererseits den vom Feudalherren sozial-­ständisch abhängigen Bauern zu kennzeichnen.96 93 Statejnyj spisok posol’stva tomskogo syna bojarskogo V. Starkova k Altyn-­chanu. In: RMongO Bd. 2, Nr. 28 (5. 9. 1638 – 26. 4. 1639), 103 – 133, hier 107. 94 Žalovannaja gramota carja Michail Fedoroviča o prinjatii Altyn-­chana v russkoe poddanstvo. In: RMongO Bd. 2, Nr. 26 (28. 2. 1638), 97 – 102. – Entgegen der erst im 20. Jh. angefertigten Dokumentenbenennung ist in der Quelle von poddanstvo keine Rede. 95 Die erste Verwendung des Adjektivs poddany findet sich 1558 in den Pamjatniki diplomatičeskich snošenij Moskovskogo gosudarstva s Pol’sko-­Litovskim. Bd. II, St. Petersburg 1887. In: SIRIO Bd. 59 (1887), 541 – 542. Vgl. K aštanov , Gosudar’ i poddannye na Rusi v XIV‒XVI vv., 219; Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 15, 248. Kaštanov verweist darauf, dass auch in Übersetzungen ausländischer Briefe ins Russische Anfang des 17. Jh. der Begriff poddannyj verwandt worden sei, besonders in der ersten handgeschriebenen Zeitung auf Russisch, der Vesti-­Kuranty. Vgl. K aštanov , Gosudar’ i poddannye na Rusi v XIV‒XVI vv., 219. 96 Słownik Staropolski Bd. 6, 236 – 237.

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Damit ließ sich die Zwitterstellung einer Zugehörigkeit, die einerseits personengebunden war, andererseits sich auf einen zugleich transpersonal gedachten Herrschaftsverband bezog, auch in den neuen Begriff transferieren. Allerdings gab es einen wesentlichen Unterschied z­ wischen dem polnischen und dem späteren russischen und russländischen Verständnis: Poddanstwo bezog sich in Polen-­Litauen ausschließlich auf das Abhängigkeitsverhältnis ­zwischen dem polnischen König und den Bauern. Als ‚Unterworfener‘ (poddany) wurde nur derjenige bezeichnet, der auf der sozial untersten Stufe der Gesellschaft stand. Für einen Vertreter des polnisch-­litauischen Adels kam die Semantik des Status eines ‚Unterworfenen‘ hingegen nicht in Frage. Eine andere Variante könnte sein, dass die Moskauer Diplomaten die Termini aus dem russischen Wortstamm der Tributpflichtigkeit ableiteten: ‚tributpflichtig sein‘ (byti pod daniju). Bei dieser Herleitung verwiese poddannyj darauf, dass eine Person Abgaben zu Gunsten desjenigen leistet, dem sie sich zum Tribut unterstellt hat (dannik).97 Da der Terminus der poddanstvo – anders als in der Forschung bislang bekannt – nicht erst im Kontext der Verhandlungen mit den Kosaken des Polnisch-­Litauischen Reiches von 1654 verwendet wurde, sondern, wie hier dargelegt, bereits erstmals im georgischen Umfeld sowie anschließend im Zuge der Verhandlungen mit dem mongolischen Altyn-­Chan auftauchte, sind Zweifel angebracht, ob grundsätzlich der lateinisch-­ polnischen Herleitung der Vorzug zu geben ist.98 Allerdings zeigt die weitere Verwendung des Terminus im Laufe des 17. Jahrhunderts, dass seine Einführung zweifelsfrei in der Kontinuität der cholopstvo-­Semantik und damit im Kontext der beschriebenen Absicht stand, die Position des Zaren zu erhöhen. Daher scheint es überzeugender, von einer Betonung der Unterwerfung und damit von der polnisch-­lateinischen Herleitung des Begriffs auszugehen als von einer Bekräftigung der Tributunterstellung, wie es eine Ableitung aus dem russischen Wortstamm nahelegen würde. Fortan jedenfalls bezeichnete der Begriff der poddanstvo die angestrebte oder erfolgte Inkorporation jeder hochangesehenen Kategorie von Untertanen, unabhängig von der Frage, ob diese Untertanen Christen oder Nicht-­Christen waren. Er kam immer dann in Gebrauch, wenn ein Herrschaftsverband mit einem hohen Grad an sozialer und politischer Ausdifferenzierung in die reale Untertanenschaft oder zumindest in eine Art Protektoratsverhältnis überführt werden sollte oder überführt wurde. Bei den bereits erwähnten Verhandlungen von 1654 zur Aufnahme der Hetmanats-­Ukraine stand entsprechend nurmehr der Begriff der poddanstvo zur Debatte. Das Gleiche galt zwei Jahre s­ päter für die Aufnahme des moldawischen 97 T repavlov , „Belyj Car“, 135. 98 Trepavlov hält die innerrussische Ableitung für genauso wahrscheinlich wie die polnisch-­ lateinische: T repavlov , „Belyj Car“, 135. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch M arasinova , K istorii političeskogo jazyka, 7.

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Fürsten und wieder zwei Jahre s­ päter für diejenige des kurländischen Herzogs. Auch in den Verhandlungen von 1661 mit kalmückischen Aristokraten lamaistisch-­ buddhistischen Glaubens (Tajši)99 oder beim Eidesschwur auf den Zaren durch den kabardinischen Fürsten Kaspulat M. Čerkasskij von 1676 ging es ausschließlich um den Begriff der poddanstvo.100 Bei der Aufnahme von sibirischen Rentierhaltern, Jägern und Nomaden hingegen hielt die zarische Seite das ganze 17. Jahrhundert lang noch am Begriff der cholopstvo fest.101 Diese gleichzeitige Verwendung zweier Begriffe für Untertanenschaft im imperialen Kontext ab Mitte der 1630er Jahre, poddanstvo für Würdenträger und ihr Gefolge, cholopstvo für ethnische Gruppen ohne eine dem russländischen Hochadel vergleichbare soziale Schicht, korrespondierte mit der Verwendung von zwei Begriffen für die Selbstbezeichnung der Untertanen gegenüber dem Herrscher im innerrussländischen Kontext zur selben Zeit. Wie bei poddanstvo und cholopstvo waren auch für die Verwendung der Begriffe cholopy (für Würdenträger) und sirota (für die einfache Bevölkerung) allein soziale Kriterien ausschlaggebend.102 99 Tajši war bei den Kalmücken nach dem Chan der höchste aristokratische Titel. Er wurde für den Anführer des umfangreichsten kalmückischen Herrschaftsbereichs (ulus) verwandt, bezeichnete aber auch die Stellung als Chan-­Anwärter oder Vize-­Chan. Im Russischen wird der Titel meist mit Tajša wiedergegeben. S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 272 – 274. – Allgemein war Tajši (oder auch Tajša) die Bezeichnung eines Anführers bei mongolischstämmigen Völkern. 100 PSZRI Bd. 1, Nr. 180 (29. 6. 1656), 384 – 390; PSZRI Bd. 1, Nr. 316 (9. 12. 1661), 561 – 564. Zur Aufnahme des kurländischen Herzog in die poddanstvo: Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv ­Drevnich Aktov (CGADA) f. 63, 1658 g., d.4; eingesehen durch R uchmanova , K istorii peregovorov prinjatii kurljandii v poddanstvo Rossii, 161. Zur Aufnahme eines kabardinischen Tajši KabRO Bd. 1, Nr. 229 (8. 1. 1676), 357. – V. Prokopovych kam bereits 1955 zu einer ähnlichen Analyse der Begriffssemantik von poddanyj/poddanstvo im 17. Jh., wurde in der Folgezeit jedoch kaum mehr rezipiert. Prokopovych kannte allerdings nicht den Kontext, in dem poddanstvo erstmals 1637 aufkam, übersah daher die Kontinuität zu cholopstvo und kam zu falschen Schlussfolgerungen. P rokopovych , The Problem of the Juridical Nature, 960 – 980. 101 Belege für die Verwendung von cholopstvo noch gegen Ende des 17. bzw. sogar noch Anfang des 18. Jh.: PSZRI Bd. 2, Nr. 1099 (16. 12. 1684), 644 – 645; Bd. 3, Nr. 1542 (18. 2. 1696), Absch. 5, 237 (hier wurde allerdings sowohl cholopstvo als auch poddanstvo verwandt); Bd.3, Nr. 1585 (14. 5. 1697), Absch. 25, 320 – 322; Bd. 4, Nr. 1802 (30. 6. 1700), 61 – 64; Bd. 4, Nr. 1822 (5. 1. 1701), Absch. 6, 95; Kolonial’naja politika Moskovskogo gosudarstva, Nr. 119, 506 – 515 (7. 9. 1709); MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 51, 175 – 176 (24. 11. 1663). – Baschkiren sprachen gegenüber einem russischen Behördenvertreter sogar noch 1737 von cholopstvo: MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 430, 39 (18. 3. 1737) u. Nr. 432 (1737). – Mit Blick auf die Kabardiner wurde 1676 erstmals der Begriff poddanstvo verwandt: KabRO Bd. 1, Nr. 229, 357 (8. 1. 1676). 102 Bei Diplomaten außerhalb des Zarenreiches wird die Unterscheidung z­ wischen cholopstvo und poddanstvo für Verwirrung gesorgt haben. Gesandte eines mongolischen Fürsten wählten 1689 für das Bittgesuch ihres Herren zur Sicherheit eine Variante mit beiden Begriffen: byt’ pod vašeju velikich gosudarej pod vysokoj samoderžavnoju rukoju v poddanstve v večnom cholopstve. In: Otpiska irkutskogo veovody Leontija Kisljanskogo v Sibirskij prikaz (…). In: Sbornik dokumentov po istorii Burjatii, vyp. 1, Nr. 125 (nicht vor 1. 8. 1689), 359 – 361, hier 360.

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Welche Auswirkungen hatte nun die allmähliche Verstaatlichung, die Peter I. so vorantrieb, auf die Begrifflichkeiten und die dahinterstehenden Konzepte von Untertanenschaft? Für einen Reformer wie Peter I., der zum einen das Russländische Reich nach kameralistischen Prinzipien grundlegend neu zu organisieren gedachte, zum anderen eine schlagkräftige reguläre Armee benötigte und dafür auf die Rekru­ tierung von Soldaten aus der breiten Bevölkerung angewiesen war, stand schnell fest, dass die genannten Differenzierungen keinen Sinn mehr ergaben. Für die Armee war er auch auf Knechte (cholopy) angewiesen, die ihren Herren entflohen waren. Die Einbindung der Knechte in die Armee und damit deren Nichtrückgabe an ihre einstigen Herren ließ sich nur dann realisieren, wenn gleichzeitig die Knechtschaft (cholopstvo) als soziale Kategorie des Ständerechts abgeschafft wurde. Mit der Abschaffung der Knechtschaft ergab allerdings auch der sprachliche Rekurs auf die sozial-­ständische Herr-­Knecht-­Beziehung im Verhältnis Monarch-­Würdenträger keinen Sinn mehr. Zudem ließ das aus dem Kameralismus erwachsende Ziel des Zaren, die Bevölkerung in ihrer Beziehung zur Person des Monarchen zu vereinheitlichen, Unterscheidungen z­ wischen cholopy und sirota ebenfalls obsolet werden.103 Vor d­ iesem Hintergrund wies der Zar 1702 an, dass fortan alle Einwohner des „Russländischen Zartums“ sich in ihren Bittschriften an den Monarchen einheitlich und ohne Angabe ihres Ranges als ‚niedrigster Diener/Knecht/Sklave‘ (nižajšij rab) zu bezeichnen hätten. Eine Unterscheidung ­zwischen ‚Waisen‘ (sirota) und ‚Knechten‘ (cholopy) durfte nicht mehr vorgenommen werden.104 Doch damit nicht genug, die Anweisung richtete sich ausdrücklich nicht nur an die ‚natürlichen‘ Russländer, an Bojaren, Dienst- und Kaufleute. Sie galt in gleicher Weise auch für Nicht-­Russen und sogar Nicht-­Christen, also s­ olche, die als ‚Fremdländer‘ (inozemcy) bzw. in den folgenden Jahrzehnten als ‚Fremdgläubige‘ (inovercy) bezeichnet wurden. Damit vollzog sich gleich auf zwei Ebenen ein wesentlicher Schritt zur Herausbildung einer Vorstellung von einem einheitlichen Untertanenverband: Zum einen jenseits sozialer Schichten und zum anderen jenseits ethnischer Herkunft und religiöser Zugehörigkeit sollte zumindest nominell die Distanz z­ wischen dem Thron und den Untertanen für alle gleich sein und die Bevölkerung allein durch den Reichspatriotismus und die Institution des Autokraten als oberstem Herrn zusammengehalten werden.105 Das für Imperien konstitutive Prinzip der Politik 103 M arasinova , Vlast’ i ličnost’, 258 – 263. 104 PSZRI Bd. 4, Nr. 1899 (1. 3. 1702), 189. – Zur Diskussion, mit welcher Semantik der rab-­Begriff verbunden war, vgl. M arasinova , Vlast’ i ličnost’, 260 – 263; K amenskij , Poddanstvo, Lojal’nost’, Patriotizm, 75 – 81. 105 M arasinova , Vlast’ i ličnost’, 257 – 260. Kritik an dieser Interpretation der Einführung einer einheitlichen Bezeichnung als raby übt K amenskij , Poddanstvo, Lojal’nost’, Patriotizm, 75 – 82.– In der Diskussion über die Frage, ob unter Peter I. noch die personengebundene oder bereits die staatsgebundene Treue eingefordert wurde, vertritt Margarete Woltner die Position, dass unter

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der Differenz sollte aufgehoben, das Ziel eines Einheitsstaates in die Vorstellung der Untertanen gerückt werden. Vor dem Hintergrund d­ ieses Konzepts waren die weiteren Angleichungen nur folgerichtig. Wenn mit Blick auf das Verhältnis der Untertanen zum Monarchen ­zwischen hohen Würdenträgern und der breiten Bevölkerung keine Unterschiede mehr gemacht werden sollten, brauchte auch beim Untertanenschaftsbegriff bei den Nicht-­Russen nicht mehr nach sozialem Stand differenziert zu werden. Damit wurden auch innerhalb der Untertanenschaft von Nicht-­Russen soziale Unterscheidungen zumindest auf der begrifflichen Ebene obsolet: Cholopstvo kam als Bezeichnung für die Untertanenschaft von Nicht-­Christen niederen Ranges aus dem Gebrauch. Poddanstvo etablierte sich als einheitlicher Begriff für alle, die im Zuge imperialer Expansion in die zarische Untertanenschaft aufgenommen wurden, gleich, ob es sich um Nomaden in den Steppen, um Rentierhalter in Fernost oder um deutschbaltische Adlige in Livland und Estland handelte.106 Und nicht nur beim Begriff für das Konzept von Untertanenschaft erfolgte eine Angleichung. Fortan wurden ‚natürliche‘ Russen genauso wie inkorporierte ‚Fremdländer‘ und ‚Fremdgläubige‘ begrifflich vereinheitlicht als ‚Untertanen‘ (poddannye) bezeichnet. Nur als Selbstbezeichnung in Bittschriften gegenüber dem Zaren galt dieser Begriff vorerst noch nicht. Erst Katharina II. führte die Selbstbezeichnung „treuer Untertan“ (verny poddanyj) 1786 ein und schaffte damit den von Peter I. eingeführten Terminus des ‚Dieners/Knechts‘ (rab) ab.107 Noch unter Peter I. wurde auch die sprachliche Unterscheidung z­ wischen einem auf christliche Weise geleisteten Treueschwur (kljatva na vernost’), der mit dem

Peter die Annahme der Orthodoxie für den Erwerb der Untertanenschaft an Bedeutung verloren habe und stattdessen von der Forderung eines Bekenntnisses zum russländischen Staat abgelöst worden sei. Klaudio S. N. Ingerflom vertritt hingegen mit Hilfe einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung der Treueide für Einheimische und westliche Ausländer die Auffassung, dass Peters Herrschaftsvorstellung weiterhin personengebunden gewesen sei und es daher verfrüht sei, von einer staatsgebundenen Treue zu sprechen. V. N. Benda verweist auf die Bedeutung der neuen Form der erstmals gesetzlichen Fixierung des Untertaneneides. Zuvor s­ eien es nur ustavy gewesen, jetzt aber sei die Fixierung in einem Manifest erfolgt (18. 8. 1721). In d­ iesem Manifest wurde allerdings noch festgehalten, dass der Eid gegenüber dem russländischen gosudar’ (und nicht gegenüber dem Staat) zu schwören war. W oltner , Untertanenschaft von Westeuropäern in Russland bis Peter einschließlich, 47 – 60; I ngerflom , Istoriografičeskij mif o vernosti „gosudarstvu“ pri Petre Velikom; B enda , „Prisjaga na vernost’…“. 106 Die wohl letzte Erwähnung von cholopstvo stammt von 1737 und findet sich im baschkirischen Kontext. Zapis’ baškira Nogajskoj dorogi Krykkulinskoj vol. Mullagula Topanova ufimskomu posadskomu čeloveu I. N. Djukovu na večnoe cholopstvo s kreščeniem v christianskuju veru. In: MpiB ASSR, Bd. 3, Nr. 430 (18. 3. 1737), 359; Zapis’ baškira Sibirskoj dorogi, Selžeutskoj vol. Afonasija Kelčjurina orenburgskomu kupcu Ivanu Il’inu na večnoe cholopstvo s kreščeniem v christianskuju veru. In: Ebd. Nr. 432 (6. 4. 1737), 361. 107 PSZRI Bd. 22, Nr. 16329 (19. 2. 1786), 534.

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Kreuzkuss vollzogen wurde, und dem šert’ als einem Eid für Andersgläubige aufgehoben. Stattdessen hatten spätestens ab den 1720er Jahren alle einen sprachlich vereinheitlichten „Eid auf die Untertanenschaft“ zu leisten (prisjaga na poddanstvo).108 Dass auch eine völlig andere Konzeption von Untertanenschaft grundsätzlich möglich gewesen wäre, zeigt sich, wenn man das Vorgehen des Zarenreiches mit der Politik des Britischen Imperiums vergleicht. Für Engländer wäre die Aufnahme der indigenen Bevölkerung in britischen Siedlungskolonien, ob in Kanada, Neu-­ England, Australien oder in Indien, in den Staatsverband ‚frei geborener Engländer‘ unvorstellbar gewesen. Statt der Aufnahme (und allmählichen Akkulturation) indigener ethnischer Gruppen in die eigene Bevölkerung und in die eigene Sozialstruktur war es für die britischen Regierungen ganz im Gegenteil entscheidend, fortlaufend auf die Segregation der Engländer von der einheimischen Bevölkerung zu achten.109 Ein anderes Bild bot allerdings das vorrevolutionäre Frankreich. Insbesondere in ‚Neufrankreich‘ (Kanada) verfolgte die französische imperiale Elite nicht nur einen integrativen Ansatz, der dem russländischen ähnlich war. Vor allem bemühte sich die französische koloniale Elite über viele Jahrzehnte sowohl im 17. als auch phasenweise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um eine vollständige Assimilation der autochthonen Bevölkerung an die französische Bevölkerung. Auch wenn die Bildung des französischen Staatsvolkes während der entscheidenden Phase des Imperiumaufbaus im 18. Jahrhundert schon weiter fortgeschritten war als diejenige im Russländischen Reich, zeigen sich ­zwischen beiden Imperien erstaunliche Parallelen. Erkennbar sind die Parallelen nicht nur bei dem Versuch, die Inkorporation kulturell fremder ethnischer Gruppen nach dem Konzept allgemeiner Untertanenschaft bzw. Staatsangehörigkeit zu vollziehen. In beiden Reichen offenbarten sich zudem die Grenzen und die Ambivalenz dieser Versuche. Wenn im Russländischen Reich des 18. Jahrhunderts trotz eines einheitlichen Untertanenschaftsstatus weiterhin z­ wischen ‚Fremdgläubigen‘ (inovercy) und ‚natürlichen Russländern‘ (prirodnye Rossijane) unterschieden und selbst nach der Konversion die ‚Neugetauften‘ nicht automatisch

108 PSZRI Bd. 6, Nr. 3778 (April 1721), 383 – 387; Bd.7, Nr. 4646 (2. 2. 1725), 412; Nr. 5070 (7. 5. 1727), 788 – 789. – Der ehemalige Moskauer Staatsmann Grigorij K. Kotošichin verwandte in seiner im schwedischen Exil geschriebenen Denkschrift „Über Russland unter der Zarenherschaft von Aleksej Michajlovič“ (O Rossii v carstvovanie Alekseja Michajloviča) bereits 1666/67 den Begriff poddannye für Vertreter sämtlicher sozialer Schichten, angefangen vom Bojaren und Fürsten bis hin zu den einfachen Leuten. Kotošichin, O Rossii, 1. – Wie die Belege zeigen und anders als Kaštanov es behauptet, war es jedoch erst die Politik Peters I. Anfang des 18. Jh., mit der eine die gesamte Bevölkerung des Zarenreiches umfassende Semantik von poddanstvo geschaffen wurde. K aštanov , Gosudar’ i poddannye, 220. 109 D arwin , Das unvollendete Weltreich, bes. 241.

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zu ‚Russländern‘ wurden, sondern weiterhin als ‚Neugetaufte‘ oder sogar ‚getaufte Fremdgläubige‘ (kreščennye inovercy) galten, so blieb auch in Frankreich trotz der Assimilierungspolitik die Unterscheidung ­zwischen ‚natürlichen Franzosen‘ und ‚unnatürlichen Franzosen‘ bzw. ‚eingebürgerten Ausländern‘ bestehen.110 In beiden Fällen zeigen sich daher die Ansätze eines für den kolonialen Diskurs typischen Phänomens, wonach Grenzen z­ wischen Kolonialherren und Kolonialisierten zwar oftmals verwischt, aber doch nicht ganz aufgehoben werden.111 Vor allem jedoch demonstriert der Blick über das Zarenreich hinaus, dass keineswegs der Gegensatz ­zwischen maritimen und kontinentalen Reichen ausschlaggebend dafür war, ob eine Politik der Integration oder der Segregation betrieben wurde, sondern dass vielmehr die historischen Traditionen und die Gründe für die jeweilige imperiale Expansion entscheidend für die eine oder andere Politik waren. Die Begriffsgeschichte ist nicht nur erhellend, um die unter Peter I. angestrebte Fusion von Imperium und Protonationalstaat anhand der Schaffung eines terminologisch einheitlich gefassten Untertanenverbandes nachzuvollziehen. Darüber hinaus vermag sie auch den parallel laufenden Prozess der Verstaatlichung von Untertanenschaft zu verdeutlichen. So spiegeln die Begrifflichkeiten wider, wie sich die zunächst vorherrschende Zwitterstellung russländischer Untertanenschaft (einerseits personengebunden, andererseits transpersonal gebunden) allmählich zu einer eindeutigen Bindung an die Körperschaft wandelte, deren Existenz zunehmend unabhängig von der Person gesehen wurde, die diese verkörperte.112 Während 1696 noch mit Formulierungen wie ‚unter der hohen Hand sein‘ (byt‘ pod vysokoju rukoju v večnom cholopstve)113 kein Hehl aus der personengebundenen Untertanenschaft gemacht wurde, zeigten nur wenige Jahrzehnte ­später die Bezeichnungen ‚Russländische Untertanenschaft‘ (Rossijskoe poddanstvo, erstmals bereits 1722)114 sowie ‚Russländische Untertanen‘ (poddannye Rossijskie, 1731),115 ­welche Veränderungen Peter I. zur Trennung von Staat und Herrscher eingeleitet hatte.116 Zwar gab es gegen Mitte des 18. Jahrhunderts mit

1 10 S ahlins , Unnaturally French; ders ., Interview. 111 B habha , Of mimicry and Man. – Ein vertiefter russländisch-­französischer Vergleich des Konzepts von Untertanenschaft in seiner imperialen Dimension sowie der damit verbundenen Politik in der vorrevolutionären Zeit wäre ein reizvolles Thema für künftige Forschungen. 112 Zur Entpersonalisierung von Herrschaft und den Schwierigkeiten im Zarenreich R aphael , Recht und Ordnung, 37 – 40, 67 – 74. 113 PSZRI Bd. 3, Nr. 1542 (18. 2. 1696), Absch. 5, 237. 114 Iz zapisi A. Tevkeleva po povodu vyskazyvanija Petra I o privlečenii kazachov v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 24 (1722), 31. 115 PSZRI Bd. 8, Nr. 5704 (19. 2. 1731), 386 – 387. 116 Zur Bedeutung der petrinischen Ära für die allmähliche Trennung des Begriffs vom Herrscher von dem des Staates siehe Č ernaja , Ot idei „služenija gosudarju“ k idee „služenija otečestvu“.

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Formulierungen wie ‚in der Untertanenschaft seiner Kaiserlichen Hoheit sein‘ (byt’ v poddanstve ego imperatora Veličestva, 1741)117 hier und da immer noch Anklänge an ein personengebundenes Verständnis. Doch spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich das Konzept von der Bindung der Untertanenschaft an die staatliche Verfasstheit wie dem ‚Imperium‘ oder dem ‚Thron‘ endgültig durchgesetzt: Nun befanden sich Untertanen ‚in der Untertanenschaft des Allrussländischen Imperiums‘ (byt’ v poddanstve Imperij Vserossijskoj, 1802)118 oder standen ‚in der Fürsorge des allrussländischen Thrones‘ (ostat’sja pod pokrovitel’stvom vserossijskogo prestola, 1812)119.

Von der Untertanenschaft zur Protektion und Fürsorge Der Prozess der Verstaatlichung war der wichtigste, nicht jedoch der einzige Trend, der das Konzept von Untertanenschaft im 18. Jahrhundert prägte. Andere Veränderungen gingen von der russländischen Aneignung (west-)europäischer Begriffe und damit verbundener Konzepte der Früh- und Spätaufklärung aus. Dazu zählte der Ausdruck der ‚Protektion‘ (protekcija). Dieser vom lateinischen protectio (Schutz, Verteidigung) abgeleitete Begriff, einer der zahlreichen Neologismen, die über den ukrainisch-­polnischen Sprachraum ins Russländische Reich eindrangen und von Peter I. und seinem Gefolge aufgegriffen wurden, erhielt im russländischen Kontext zwei Bedeutungsebenen.120 Zum einen stand er für eine Vorstufe zur ‚vollständigen Untertanenschaft‘. Wenn die kasachische Horde „die vollständige Untertanenschaft“ (točnoe potdanstvo) nicht wünsche, so Zar Peter I. in einer Anweisung an seinen damaligen Übersetzer Aleksej Tevkelev, dann solle dieser sich bemühen, sie ungeachtet hoher Ausgaben bis zu 1 Million [Rubel] mit einem Brief dazu zu verpflichten, „in die Protektion des Russländischen Reiches einzutreten“ (vstupit’ pod protekcieju Rossijskoj imperii).121 Zwar blieb in ­diesem Fall offen, was Peter I. sich genau unter einer

1 17 118 119 120

RTurkO Nr. 29 (17. 3. 1741), 62. PSZRI Bd. 27, Nr. 20442 (3. 10. 1802), 265 – 269. RD agO Bd. 2, Nr. 397 (7. 2. 1812), 298/299.

Bereits Petr P. Šafirov, Feofan Prokopovič, Grigorij F. Dolgorukov und Boris I. Kurakin verwendeten protekcija. Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, 1; P rokopovič , Slova i reči; D olgorukov , in: PiB Bd. 2, 544; K urakin (1707). In: Archiv F. A. Kurakina, Bd. 1, 189, 197, 202. Vgl. C hristiani , Über das Eindringen von Fremdwörtern in die russische Schriftsprache, 20/21; S mirnov , Zapadnoe vlijanie na russkij jazyk, 246; V asmer , Russisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, 446. 121 Iz zapisi A. Tevkeleva po povodu vyskazyvanija Petra I o privlečenii kazachov v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 24 (1722), 31.

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‚Protektion‘ vorstellte. Doch offensichtlich war, dass den Kasachen (der Kleinen Horde) die Möglichkeit eines Status eröffnet werden sollte, der unterhalb der Verpflichtungen lag, die eine ‚volle Untertanenschaft‘ mit sich brachte.122 Zum anderen und sehr viel häufiger verwandte die russländische Elite die Bezeichnung protekcija synonym zu poddanstvo, ungeachtet des anderen Verständnisses auf Seiten indigener ethnischer Gruppen.123 Die Verpflichtungen, die sich mit dem Konzept der Untertanenschaft verbanden, wie die persönliche Eidleistung nach dem eigenen Glauben, die Tributabgabe und die Geiselstellung, wurden mal mit poddanstvo, mal mit protekcija, mal mit beiden Bezeichnungen direkt in einem Atemzug genannt.124 Damit offenbarte sich erneut die jahrhundertealte russische und russländische Tradition, das Konzept zarischer Untertanenschaft pragmatisch-­flexibel zu handhaben: Der schillernd gebrauchte Begriff der protekcija konnte vielfältig interpretiert werden. Es gab keine Kriterien, die einen Unterschied ­zwischen protekcija und poddanstvo festlegten. Vielmehr konnte das eine, auf den ersten Blick unverbindliche Verhältnis in die andere, deutlich engere Bindung nahtlos übergehen. Entscheidend blieben aus russländischer Sicht der Akt der Aufnahme selbst sowie der damit verbundene dauerhafte Bindungsanspruch. Die Bezeichnung und nähere Ausgestaltung konnten variieren.125 122 Auch mehrere Jahrzehnte s­ päter noch finden sich Belege, dass begrifflich z­ wischen ‚Protektion‘ und ‚Untertanenschaft‘ unterschieden wurde. So heißt es in einem Brief des Orenburger Gouverneurs Ivan Nepljuev an den dsungarischen Herrscher Galdan-­Ceren, der kasachische Abulchair-­ Chan sei zunächst lange in der ‚Protektion des Russländischen Reiches‘ gewesen, seit 1738 aber ‚Untertan durch Schwur‘. Pis’mo načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Galddan-­Cerenu s trebovaniem ne vmešivat’sja v dela kazachov, prinjavšich rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 95, (2. 9. 1742), 228 – 229, hier 228. – Auch nogaische Horden erbaten 1771 von Katharina II. um einen Protektionsstatus, nicht aber um Untertanenschaft: čtob byt’ nam v protekcii, a ne v poddanstve vašego veličestva. Zitiert aus einem Archivbeleg in Nogajsko-­Russkie otnošenija v XV ‒XVIII vv., 99. 123 Zur Frage, wie die nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Süden und Osten des Reiches ihre Bindung an das Russländische Reich wahrnahmen, die sie mit ihrem ‚Beitritt‘ eingingen, siehe T repavlov , „Belyj Car“, 134 – 197. 124 Ein Beispiel: Obwohl der kasachische Abulchair-­Chan zunächst um Aufnahme in die allrussländische protekcija gebeten hatte, raisonniert der russische Beauftragte A. Tevkelev darüber, ob man bei Abulchairs Wunsch zur Aufnahme in die russländische poddanstvo [sic!] von einer „festen, treuen poddanstvo“ ausgehen könne. KRO I, Nr. 33 (3. 10. 1731 – 14. 1. 1733), 48 – 86, hier 49; Ebd. Nr. 43 (10. 4. 1733), 99 – 100; Siehe außerdem Ebd. Nr. 47 (10. 2. 1734), 103; Ebd. Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114; Ebd. Nr. 92 (7. 6. 1742), 217 – 218; besonders bemerkenswert Ebd. Nr. 178 (11. – 25. 7. 1749), 450 – 473; RDagO Bd. 1, Nr. 1 (20. 4. 1719), 27 – 28; Ebd. Nr. 3 (21. 1. 1720), 28 – 29; Ebd. Nr. 38 (28. 10. 1723), 53; Ebd., Nr. 85 (17. 5. 1751), 85; KabRO Bd. 2, Nr. 207 (19. 6. 1769), 290 – 291; Ebd. Nr. 225 (19. 12. 1777), 324 – 326. 125 Trepavlovs These führt in die Irre, wonach der Neologismus protekcija Anfang des 18. Jh. an die Stelle des Begriffes šert’ in der Bedeutung eines Protektorats getreten sei. Richtig ist, dass der Begriff šert’ im 18. Jh. nicht mehr gebraucht wurde. Doch missachtet er zum einen, dass šert’ schon im 17. Jh. aus Moskauer Sicht nicht mehr die Semantik eines Protektorats

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Und dennoch kam mit dem Terminus protekcija für russländische Untertanenschaft eine neue Nuance auf, die sich in den kommenden Jahrzehnten noch deutlich verstärkte. Die Rezeption aufklärerischer Gedanken schlug sich darin nieder, dass neue Termini wie pokrov (Schutz, Schirm) und vor allem pokrovitel’stvo (Schutz, Schirm, Fürsorge, Gönnerschaft) eingeführt wurden. Diese neuen Bezeichnungen waren eine späte Folge der unter Peter I. vollzogenen Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit, auf das in dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen wird.126 Mit dem neuen Paradigma breitete sich innerhalb der russländischen imperialen Elite das Selbstbewusstsein aus, gegenüber den unterworfenen indigenen ethnischen Gruppen im Süden und Osten in der Rolle des Zivilisierers und damit in der Verpflichtung zu stehen, sie auf ein höheres Zivilisationsniveau führen zu müssen. Dabei verknüpfte sich ab den 1730er Jahren die Überzeugung, zu ­diesem Auftrag verpflichtet zu sein, mit der Idee, die Menschen nicht bloß zu dem für sie vermeintlich ‚besten Weg‘ zwingen zu wollen, sondern auch zu versuchen, sie ‚von innen heraus‘ für die Veränderungen einzunehmen. Vor ­diesem Hintergrund rückte spätestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts der Gedanke der ‚Fürsorge‘ ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Seit der Herrschaftszeit von Zarin Katharina II. schlug sich der neue Diskurs begrifflich darin nieder, dass ethnische Gruppen, die im Zuge imperialer Expansion inkorporiert wurden, statt wie zuvor in die „Untertanenschaft“ (poddanstvo) nun primär „in die Fürsorge“ (v pokrovitel’stvo) der Zarin aufgenommen wurden. Wie schon protekcija wurde dabei auch pokrovitel’stvo mit einer variierenden Semantik verwandt: Selten galt der Begriff als Ausdruck einer eindeutig unterhalb der Untertanenschaft angesiedelten Zugehörigkeit zum Reichsverband (im Sinne eines Protektorats),127 häufig wurde er entweder in einem Atemzug mit poddanstvo 128 oder als Synonym für

innehatte, sondern schlicht die Eidleistung nicht-­christlicher Vertreter auf die zarische Untertanenschaft bezeichnete, was sich auch darin zeigte, dass šert’ Anfang des 18. Jh. durch den Ausdruck prisjaga na poddanstvo (Untertaneneid) ersetzt wurde. Zum anderen übersieht er die weitverbreitete russländische Praxis, protekcija im 18. Jh. synonym bzw. in einem Atemzug mit poddanstvo zu verwenden, ohne auch nur irgendeine Abstufung zur ‚vollständigen Untertanenschaft‘ vorzunehmen (siehe die Belege in den vorherigen Fn.). T repavlov , „Belyj Car’“, 138 und 147. 126 Vgl. Kap. 4.1. 127 PSZRI Bd. 21, Nr. 15.835 (29. 9. 1783), 1013 – 1017 (Protektorat über den georgischen Zaren); Bd. 19, Nr. 13636 (12. 8. 1771), 294 (Protektorat über die Krimtataren). 128 PSZRI Bd. 25, Nr. 18.990 (2. 6. 1799), 674 – 675; Bd. 25, Nr. 19.107 (1. 9. 1799), 780; Bd. 26, Nr. 19.994 (28. 8. 1801), 763 f.; KabRO Bd. 2, Nr. 213 (9. 8. 1771), 299 – 304, hier 303; Nr. 220 (24. 4. 1775), 312; Nr. 221 (nach 1775) 318 – 319; RDagO Bd. 2, Nr. 248 (1783), 183; Nr. 258 (2. 3. 1786), 190 (hier pokrov und poddanstvo in einem Atemzug); Donešenie G. I. Šelichova irktuskomu general-­gubernatoru I. V. Jakobiju. In: Russkie otkrytija v Tichom okeane, Nr. 18

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poddanstvo gebraucht.129 Zuweilen drückte pokrovitel’stvo auch unmittelbar bloß den Gedanken der zarischen Gnade, des Schutzes und der Fürsorge aus – meist mit dem Zusatz, wie erstrebenswert es sei, unter die „besondere Fürsorge“ der Zarin zu gelangen.130 Diese Kategorien der Fürsorge, des Fortschritts und der Vorstellung unterschiedlicher Zivilisationsstufen, die sich mit der Spätaufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten, konnten nicht ohne Auswirkung auf das Untertanenschaftskonzept bleiben. Das zuvor inklusiv und vereinheitlichend gedachte Konzept Peters I. wurde teilweise wieder aufgebrochen, paternalistischen Denkund Vorgehensweisen der Weg gebahnt. Als Beispiel für die ‚Politik der Fürsorge‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert kann das Vorgehen gegenüber der Kleinen Horde der Kasachen gelten. Aus russländischer Sicht war es das Ziel, die fortbestehende kasachische Widerspenstigkeit zu brechen und die Nomaden gefügig zu machen. Während einerseits die zarische Seite eigenmächtig den kasachischen Chan auf russländischem Boden festsetzen ließ, gab man andererseits der kasachischen Elite die Möglichkeit, sich in russländische Verwaltungsstrukturen einzubringen und dafür ein reguläres Gehalt zu beziehen.131 Daraus jedoch die These abzuleiten, wie es der Historiker Dov ­Yaroshevskij tut, dass erst diese Politik dem Ziel gedient habe, den Kasachen die „volle“

(19. 4. 1787), 206 – 214, hier 207; KRO Bd. 2, Nr. 64 (1786); RussTurkO Nr. 85 (1801), 137; Nr. 91 (9. 5. 1802), 143. 129 PSZRI Bd. 23, Nr. 16937 (27. 1. 1791), 206 – 207; RDagO Bd. 2, Nr. 167 (30. 9. 1769), 131 – 132; Nr. 241 (3. 7. 1783), 179 – 180; Nr. 250 (1783), 184; Nr. 272 (26. 8. 1786), 198 – 200; KabRO Bd. 2, Nr. 208 (8. 8. 1769), 291 – 292; Bd. 2, Nr. 212, (vor d. 15. 10. 1770), 295 – 299; KRO Bd. 2, Nr. 66 (1786); Nr. 86 (1803), 152 – 163; Nr. 105 (7. 10. 1820), 185 – 186; Nr. 117 (10. 2. 1823), 204; MpiB ASSR Nr. 497 (11. 1. 1770), 473 – 484; RTurkO Nr. 98 (13. 3. 1803), 153; Nr. 100 (1803), 157; Nr. 103 (16. 4. 1803), 159 – 160; Nr. 141 (23. 11. 1819), 208; Nr. 146 (25. 1. 1820), 217: O ­ ni, prinjav vysokoe pokrovitel’stvo imperatora Aleksandra I, počtut sebja dovol’no ščastvlivymi, kogda budut nosit’ imja poddannogo vserossijskogo gosudarja; Nr. 149 (12. 4. 1820), 221 – 226; Nr. 150 (21. 4. 1820), 226 – 228. – Nach der Jahrhundertwende wurde poddanstvo sogar zunehmend von pokrovitel’stvo verdrängt. 130 PSRZI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 417 – 433, hier § 285 und 286; Bd. 29, Nr. 22.371 (28. 11. 1806), 884 – 891; KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 312; RD agO, Bd. 2, Nr. 267 (nicht ­später als Mai 1786), 195; Nr. 316 (10. 2. 1796), 227 – 230; KRO Bd. 2, Nr. 66 (1786), 118; Nr. 123 (13. 5. 1824), 214; Nr. 88 (10. 5. 1805), 164; Nr. 89 (20. 9. 1805), 165; Nr. 120 (7. 1. 1824), 209. – Insgesamt verringerte Katharina  II . mit dieser Verwischung der Grenzen des Eintritts in die ‚Fürsorge‘ oder in die ‚Untertanenschaft‘ die bislang elementare Bedeutung des Treueides. Sie sah in ihm zunehmend ein Ritual, das dann seinen Wert verlor, wenn es nicht auch der inneren Haltung des Einzelnen entsprach. Angesichts von Widerständen im polnischen Adel gegen den Eid nach dem Kościuszko-­Aufstand befahl sie sogar, den Treueid ausschließlich „von den Anwesenden und Willigen (ot naličnych i userdnych) abzunehmen“. SIRIO Bd. 16, St. Petersburg 1875, 62. 131 Ausführlich zu ­diesem Pilotprojekt einer ‚Politik der Fürsorge‘ in Kap. 4.5.

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Untertanenschaft zu „gewähren“, kann nicht überzeugen. Yaroshevskij geht davon aus, dass unter den Zarinnen Anna und Elisabeth bewusst das Konzept einer nur „begrenzten Untertanenschaft“ gewählt worden sei. So sei es lediglich darum gegangen, kasachische Überfälle auf russländische Untertanen zu minimieren, indem man Kasachen „Lösegeld“ in Form von Gehältern oder Geschenken überreicht habe. Erst unter Katharina II. und ihren Orenburger Gouverneuren Dmitrij Volkov und Osip Igel’strom sei die neue Politiklinie aufgekommen, mit der man versucht habe, aus Untertanen, die „nur dem Namen nach“ ­welche waren, loyale Untertanen zu machen.132 Wie schon zuvor Trepavlov und Šablej legt auch Yaroshevskij seiner Analyse nicht das Untertanenschaftsverständnis der Zeitgenossen zu Grunde. Vielmehr bemisst er vom heutigen Verständnis aus die partizipatorischen Möglichkeiten, über ­welche die Kasachen in ihrer jeweiligen Phase russländischer Untertanenschaft verfügten. Dabei geht er analytisch von einem Konzept aus, das weniger als Untertanenschaft denn als Staatsbürgerschaft zu bezeichnen ist. Katharina II . ging es bei ihrer Politik gegenüber den Kasachen jedoch gar nicht primär um deren Ausstattung mit besonderen Partizipationsrechten. Im Zentrum stand bei ihr die Suche nach neuen Mitteln, um die beständigen Raubüberfälle der Kasachen zu stoppen und ihre Loyalität gegenüber dem Zarenreich dauerhaft zu sichern. Nicht die Intensivierung der Untertanenschaft an sich war ihr Anliegen. Es ging um eine neue Politik aus dem Geist der Aufklärung, die weniger auf physische Gewalt setzte, um die Kasachen zu ‚gehorsamen Untertanen‘ zu erziehen, als vielmehr darauf, ‚ihre Herzen‘ zu gewinnen und sie durch eine Politik der zarischen ‚Fürsorge‘ und Einbeziehung in die Belange des Staates ihre Lebensweise verändern zu lassen.133 Das Ziel war damit dasselbe wie schon zu Beginn der Aufnahme der Kasachen in die zarische Untertanenschaft in den 1730er Jahren, nur die Mittel waren andere. Erneut war es freilich die Flexibilität des russländischen Untertanenschaftskonzepts, die auch diesen Wechsel in der Wahl der Mittel erlaubte.

132 Y aroshevsky , Attitudes toward the Nomads of the Russian Empire. 133 Der Orenburger Gouverneur Osip A. Igel’strom blickte Ende der 1780er Jahre mit Abscheu auf die vorherige russländische Politik des organisierten Raubens bei den Kasachen zurück, die als ‚Strafexpedition‘ bezeichnet worden war, tatsächlich aber in der Regel Unschuldige traf. Igel’strom verfolgte stattdessen das Ziel, „selbst bei den wildesten Völkern Vertrauen in den Nutzen des Imperiums“ aufzubauen. In ­diesem Geist warb er bei den Kasachen um ihre Beteiligung in den für sie eingerichteten ‚Grenzgerichten‘. MpiK SSR 1785 – 1828, Nr. 33 (10. 5. 1789), 108 – 127, hier 110/111. Mehr dazu in Kap. 4.5.

Zusammenfassung

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2.4  Zusammenfassung Das zarische Konzept von Untertanenschaft im imperialen Kontext des 18. Jahrhunderts ist nur mit einem Rückblick auf die Entstehung des innerrussischen Konzepts von Untertanenschaft im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert zu erfassen. Die wesentlichen Charakteristika entwickelten sich aus den Modalitäten des Treueides, der seit dem russischen Mittelalter die Grundlage für den Akt der Aufnahme in den Untertanenverband des Herrschers bildete. Seit der Herausbildung des Moskauer Großfürstentums war die Auffassung von der Ungleichheit der Beteiligten entscheidend. Der Herrscher gewährte die Gnade, jemanden in sein Reich aufzunehmen. Im Gegensatz zu einem Vertragsabschluss z­ wischen Gleichberechtigten handelte es sich nach Moskauer Lesart um eine vollständige Unterwerfung jenseits rechtlicher Beschränkungen. Kennzeichnend war die personale Bindung der Untertanenschaft, die für frühneuzeitliche Herrschaftsgebilde typisch ist. Im Zarenreich hielt sie sich länger und ausgeprägter als im westlichen Europa, trotz der im Eidestext enthaltenen transpersonalen Ewigkeitsklausel der Untertanenbindung. Als Zeugnis russischer und s­ päter russländischer Untertanenschaft und mit Rückgriff auf die mongolische Tradition des jarlyk diente die vom Großfürsten bzw. Zaren auszustellende Gnadenurkunde. Zur Maximalisierung der Wahrhaftigkeit des Eides hatte der Schwur nach dem jeweils eigenen Glauben der zu Inkorporierenden zu erfolgen. Diese Bestandteile des Konzepts von Untertanenschaft wurden aus dem innerrussischen Kontext übernommen, als es im 16. Jahrhundert erstmals darum ging, Vertreter einer fremden, nicht-­christlichen Hochkultur zu inkorporieren. Es war dasselbe Konzept von Untertanenschaft mit dem Treueid als seinem konstitutiven Element, und dies ist das Besondere im interimperialen Vergleich, das bei der Inkorporation der fremden ethnischen Gruppen des Kazaner Chanats wie beim ‚Sammeln der Länder der Kiever Rus’‘ durch das Großfürstentum Moskau in den Jahrzehnten zuvor zum Tragen kam. In dieser inklusiven Tradition, die im 17. Jahrhundert fortgesetzt wurde, liegt die Voraussetzung dafür, dass der weitere Ausbau des Russländischen Imperiums im 18. Jahrhundert auf das Engste mit der Heraus­bildung des russländischen Einheitsstaates verbunden war, die zeitlich parallel laufenden Prozesse teilweise sogar miteinander verschmolzen. Dieses bedeutsame Erbe des 18. Jahrhunderts, der inklusive Charakter imperialer Diskurse und staatlicher Politik, prägte trotz mancher Gegenströmungen die russländische Geschichte bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert hinein und wirkt bis heute fort. Dabei war das Anliegen der Zarenregierung, nicht-­russische ethnische Gruppen, die im Rahmen imperialer Expansion inkorporiert worden waren, mit der eigenen Bevölkerung zu fusionieren, im interimperialen Vergleich keineswegs einzigartig. Auch die französische imperiale Elite artikulierte in „Neu-­Frankreich“ (Kanada)

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streckenweise dasselbe Anliegen und verfolgte bereits im 17. Jahrhundert eine ähnliche Politik. In wohl keinem anderen europäischen Imperium aber bestimmte das Fusionsanliegen so lang anhaltend und wirkungsmächtig die Debatten und die imperiale Politik wie im Russländischen Reich. Mit Hilfe der Begriffsgeschichte wird erkennbar, wie sich das frühneuzeitliche Konzept von Untertanenschaft von seiner anfänglichen Zwitterstellung z­ wischen personaler und beginnender staatlicher Bindung löste und sich im Laufe des 18. Jahrhunderts von einer personengebundenen Untertanenschaft zur Staatsangehörigkeit entwickelte: Auszugehen ist von cholopostvo als dem ersten russischen Begriff für Untertanenschaft, in dem die terminologische Ähnlichkeit zur sozial-­ ständischen Beziehung z­ wischen Herrn (gosudar’) und Knecht (cholop) den personengebundenen Charakter trotz seiner Verwendung im herrschaftsbezogenen Sinne offenbart. Als der mongolische Altyn-­Zar Ombo Ėrdeni in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Begriff cholopstvo für seinen Treueid ablehnte, führte die russländische Administration den Begriff poddanstvo ein. Dieser blieb bis 1917 in Gebrauch und diente seit der petrinischen Zeit jenseits sozialer und politischer Unterschiede als allgemeingültiger Begriff für Untertanenschaft. Er spiegelte seither die Herausbildung des Konzepts von einem russländischen Staatsvolk wider, das die alteingesessene Bevölkerung genauso umfasste wie die neu inkorporierten nicht-­russischen ethnischen Gruppen. Diskrepanzen z­ wischen einer nominell etablierten und einer real zuweilen kaum erkennbaren Untertanenschaft nahm die zarische Administration in Kauf. Der zeitgenössische Untertanenschaftsbegriff umfasste verschiedene Grade an ‚Einbürgerung‘, die stufenlos ineinander übergehen konnten. In d­ iesem Sinne handelte es sich bei der russländischen Untertanenschaft im 18. Jahrhundert, abgesehen von ihren grundlegenden Bestandteilen, um eine situative Kategorie, die je nach Region und Bedingungen vor Ort flexibel ausgestaltet werden konnte. Russländische imperiale Akteure nutzten genau diese Flexibilität des Konzepts, um immer neue Ansprüche zu etablieren und damit fortwährend dem Reich neue Untertanen zuzuführen. Nur ein Bestandteil des Untertanenschaftskonzepts gab der Inkorporation neuer Untertanen im Süden und Osten des Reiches schon seit dem 16. Jahrhundert eine eindeutig imperiale Note: Neben der Tributzahlung hatten die Vertreter nicht-­ christlicher annektierter indigener ethnischer Gruppen der russländischen Staatsmacht als Leibpfänder fungierende Geisel aus dem Kreise ihrer angesehensten Familien zu übergeben, die in regelmäßigen Abständen auszutauschen waren. Dieser Methode, die für den Aufbau und die Konsolidierung des russländischen Imperiums im Süden und Osten von elementarer Bedeutung war, ist das folgende Kapitel gewidmet.

3. DI E GEISEL H A LT U NG A LS I M PE R I A LES U N D KOL ON I A L ES I NST RU M E N T

Das Konzept von der zarischen Untertanenschaft galt in seinen Grundprinzipien von Anfang an für alle, die der russländischen Herrschaft unterstanden oder sich ihr unterstellen wollten. Im Falle der Untertanenschaft von Nicht-­Christen aber wurde neben dem Treueid (prisjaga/šert’) und der Tributzahlung (jasak) noch die zusätzliche Anforderung erhoben, Geisel zu stellen.1 Zur Abgabeverpflichtung des jasak gab es für gebürtige Russen, oder für Angehörige anderer ethnischen Gruppen, solange sie Christen waren, die vergleichbare Pflicht, Steuern zu zahlen oder ihrem jeweiligen Herrn zu dienen. Zur verpflichtenden Geiselstellung, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelte, gab es hingegen im innerrussischen Kontext bzw. in der Herrschaftsweise über ­solche, die zwar als Nicht-­Russen im Zarenreich lebten, aber Christen waren, keine Analogie. Die Bedeutung der Geiselhaltung lag primär darin, dass im Gegensatz zum Treueid, der nur auf dem Papier festgehalten werden konnte, die Geiselnahme ein sichtbares ­­Zeichen der machtpolitischen Suprematie darstellte. In d­ iesem Punkt deckten sich auch weitgehend die Vorstellungen der indigenen Geiselsteller mit jenen der russländischen Geiselhalter. Bei den meisten weiteren Implikationen, die die Geiselhaltung mit sich brachten, gingen sie auseinander: Aus zarischer Sicht symbolisierten die Geisel das Versprechen dauerhafter Untertanenschaft in Form von Loyalität und Gehorsam. Für indigene ethnische Gruppen oder ihre Anführer ging es hingegen bei der Geiselstellung regional variierend meist um anderes – so um ­­Zeichen eines vorübergehenden Protektorats verbunden mit dem Anspruch auf militärischen Schutz, um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen oder um eine lästige Vorbedingung zum Erhalt von Geschenken.2 Aus russländischer Sicht diente die Geiselhaltung vom 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein als das entscheidende Mittel, um den zarischen Anspruch auf Untertanenschaft auch bei nicht-­christlichen ethnischen Gruppen durchzusetzen und die russländische Expansion dauerhaft zu festigen. Die Ausführungen, die erstmals diese imperiale Methode von ihren Ursprüngen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts und mit einem Schwerpunkt im 18. Jahrhundert beleuchten, können zweierlei deutlich machen. Erstens offenbart die Geiseleinforderung wie nichts anderes, dass die Zarenadministration über ihre imperialen Peripherien mit zweierlei Maß 1 Im Unterschied zum modernen Geiselbegriff in seiner terroristischen Variante wird die historische Bezeichnung im Sinne des Leibpfandes im Deutschen mit dem männlichen Artikel versehen: ‚der Geisel‘ bzw. im Plural ‚die Geisel‘. L utteroth , Der Geisel im Rechtsleben. 2 T repavlov , „Belyj Car’“, 134 – 197; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 63 – 69.

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herrschte: Bei der Einverleibung der christlich geprägten Hetmanats-­Ukraine, der baltischen Provinzen oder derjenigen Polens wurden keine Geisel genommen. Zweitens kann am Beispiel des Umgangs mit der Geiselhaltung studiert werden, wie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eine russländische Zivilisierungsmission herausbildete – eine Politik, die eine umfassende Transformation der Lebensweise der indigenen Bevölkerung im Süden und Osten vorsah.

3.1  Globalgeschichtliche Betrachtung Geiselnahmen gehören zu den Archetypen des Rechts. Schon in der Bibel wird beschrieben, wie Joseph als Garanten Simeon bei sich behielt, als er seine Brüder mit der Anweisung zurücksandte, den jüngsten Bruder Benjamin nachzuholen. Hinweise auf Geiselnahmen finden sich in den frühesten Quellen Chinas, Babyloniens und Indiens, bei den Assyrern ebenso wie bei den Timuriden.3 Ganz besondere Bedeutung erlangten Geiselnahmen unter den Römern. Von Anfang an nutzten sie die Geiselhaltung zum Aufbau ihres Imperiums, griffen allerdings stets nur auf die einseitige Geiselnahme zurück. Dies bedeutete, dass allein die Römer Geisel (obsides) erhielten, selbst aber keine stellten.4 Unterworfene ethnische Gruppen wurden gezwungen, mit Rom ein Bündnis einzugehen (foedera iniqua), und hatten als Besiegte die Pflicht, Geisel zu stellen (so 201 v. Chr. die Karthager und 189 v. Chr. die Ätholer). Bekannt wurde der Geisel Polybios aus Griechenland, der 167 v. Chr. im Haus des Feldherrn Aemilius in Rom unterkam und dort den jungen Scipio erzog. Je länger die Geisel jedoch fern von ihrem Vaterland waren, desto eher fürchtete Rom, dass man zu Hause ihren Verlust verschmerzen könne und damit die vertragsabsichernde Bedeutung der Geisel sinke. Daher wurden Geisel in regel­ mäßigen Fristen ausgewechselt. Die Stellung der in Obhut Genommenen war bei den Römern sakrosankt, außer in dem Falle, dass die Geisel zu ‚verfallenen ­Geiseln‘ wurden. Dieser Zustand trat ein, wenn die unterworfene ethnische Gruppe als Geisel­steller sich nicht an die Abmachungen hielt. In der spätrömischen Zeit ging es bei der Geiseleinforderung zunehmend darum, Glanz und Ansehen des Imperium Romanum zu demonstrieren: Durch die

3 Die ersten Belege für die Geiselstellung in China gehen auf das 8. Jh. v. Chr. Zurück. Y ang , Hostages in Chinese History, 507. – K osto , Hostages in the Middle Ages, 3; L utteroth , Der Geisel im Rechtsleben, 179; P ollock , „Thus We Shall Have Their Loyalty and They Our Favor“. 4 Die einzige Ausnahme bildeten die Samniten. Ihnen gegenüber mussten die Römer zunächst Geisel stellen, konnten sie anschließend aber auch wieder befreien. L utteroth , Der Geisel im Rechtsleben, 181 – 182.

Globalgeschichtliche Betrachtung

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Geiselhaltung sollte nicht nur die Überlegenheit Roms gegenüber den anderen ethnischen Gruppen demonstriert werden. Vor allem wuchs das Bestreben, sich die vergeiselten Söhne der ‚barbarischen‘ Anführer nutzbar zu machen, sie im Sinne Roms zu beeinflussen und ihnen römische Werte nahezubringen. Auch wenn diese Dimension der Geiselhaltung im europäischen Mittelalter weitgehend verloren ging, so bildeten die Jahrhunderte um die erste Jahrtausend­ wende doch eine Hoch-­Zeit des Geiselaustauschs und der Geiselstellung. Ob bei den Invasionen der Wikinger, der normannischen Eroberung Englands, dem Investiturstreit, der iberischen Reconquista oder den Kreuzzügen – bis hin zum Papst beteiligten sich alle europäischen Mächte an der weithin anerkannten Garantie­ institution der Geiselhaltung.5 Die Varianten der Praxis waren vielfältig und reichten vom Geisel als Garant hochrangiger Diplomatie z­ wischen Königen bis zur gewaltsamen und einseitigen Geiselnahme Namenloser zum Zweck der Unterjochung. Karl der Große ließ sich zur Anerkennung seiner Herrschaft über frisch unterworfene ethnische Gruppen regelmäßig Geisel stellen, insbesondere von den Sachsen. Die Geisel galten ihm als Unterpfand für friedliches Verhalten der übrigen Sippenangehörigen. Wie auch s­ päter im Russländischen Reich ging diese Form der Geiselnahme zumeist mit der Ableistung des Treueids einher.6 Völkerrechtliche Diskurse des 16. und 17. Jahrhunderts veränderten im Westen fundamental die Einstellung zur Geiselhaltung. Mit Schriften wie denen von Hugo Grotius galten Geiselnahmen in Friedenszeiten und als Druck- oder Vertragsmittel im Rahmen internationaler Politik zunehmend als völkerrechtswidrig, weil in ihnen ein ungerechter Zwang gegen schuldlose Privatpersonen gesehen wurde. Einen solchen hielt man nur dann noch für zulässig, wenn die Geiselnahme dazu diente, ein anderes Gemeinwesen oder einen Staat zur Aufgabe eines völkerrechtswidrigen Verhaltens zu bewegen.7 Ansonsten gewannen andere Formen der Diplomatie die Oberhand, so dass 1748 mit dem Vertrag zum Frieden von Aachen zum letzten Mal Geisel unter westeuropäischen Staaten übergeben wurden.8 Völkerrechtliche Bedenken werden es hingegen kaum gewesen sein, die westeuropäische Imperien davon abhielten, im Zuge ihrer imperialen Expansion in Übersee auf die Geiselnahme zurückzugreifen. Vielmehr waren Vertragsbrüche 5 K osto , Hostages in the Middle Ages, 4. 6 L intzel , Zur altsächsischen Stammesgeschichte, Bd. 1, 98 – 100; B raunfels , Karl der Große, 43 f., 58.; L ampen , Sachsenkriege, sächsischer Widerstand und Kooperation, Bd. 1, 264 – 272; B echer , Karl der Große, 56 – 74. 7 So ließ Friedrich der Große zwei russische Adlige 1740 festnehmen, um das Russländische Reich zur Freilassung eines preußischen Diplomaten zu veranlassen. L utteroth , Der Geisel im Rechtsleben, 230. 8 Die Engländer stellten zwei Geisel hohen Ranges an Frankreich, um damit die Herausgabe der Insel Cap Breton an Frankreich zu garantieren. L utteroth , Der Geisel im Rechtsleben, 205 – 206.

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und einseitige Vertragsauslegungen im Umgang mit indigenen Gruppen wie zum Beispiel mit Indianerstämmen Nordamerikas an der Tagesordnung. Und dennoch spielte die Geiselhaltung im Vergleich zum Vorgehen des Zarenreiches bei der spanischen, holländischen, britischen oder französischen Kolonialisierung Nordund Südamerikas keine bedeutende Rolle. Nur vereinzelt griffen Holländer auf völkerrechtliche Geiselverträge zurück, so holländische Kolonisten in Südamerika, als sie mit dem Friedensvertrag von 1762 den Saramaka Freiheit gewährten, sich aber mittels der Geisel vor Überfällen absichern wollten.9 Von Franzosen und Engländern ist nur bekannt, dass sie in ihren jeweiligen Kolonialkriegen im 19. Jahrhundert hier und da Geisel nahmen.10 In Friedenszeiten waren es vor allem privat handelnde Personen, die mit Hilfe von Geiseln Felle oder Lösegeld zu erpressen suchten. Auch bei englischen und französischen Kaufleuten in Afrika wurde häufig auf den privatrechtlichen Geiselvertrag zurückgegriffen, sei es, um Geisel als Bürgschaften oder Pfand für Kaufmannsgeschäfte einzusetzen, sei es, um mit Geiseln Buß-, Spiel- oder Wettschulden abzusichern.11 In keinem der westeuropäischen Überseereiche der Frühen Neuzeit hingegen dienten ‚freiwillig‘ eingegangene Geiselverträge oder völkerrechtlich einseitige (gewaltsame) Geiselnahmen in Friedenszeiten als systematisches Mittel, um imperiale Expansion voranzutreiben und machtpolitische Ansprüche des expandierenden Staates abzusichern. Anders sah dies beim osmanischen Kontinentalreich aus. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert war die Haltung von Geiseln hier die Regel.12 Die mächtigen Sultane nahmen zwei Jahrhunderte lang die Rolle von Geiselherren für Fürstensöhne aus aller Herren Länder an, die sie für jeweils geraume Zeit in ihrer Abhängigkeit hielten. Zu ihnen zählte auch der berühmte Sohn des 9 P rice , To Slay the Hydra, 162. 10 H ammer /S alvin , The Taking of Hostages, 22. Die Autoren verweisen als Beleg auf J. H. ­M organ : The German War Book, being „The Usages of War on Land“ issued by the Great General Staff of the German Army. London 1915, 119. 11 Der englische Ausdruck für Geisel, die als Vertrauensbasis für zivilrechtliche Abmachungen im Handel und im Sklavenmarkt dienten, ist pawn (bzw. pawnship für Geiselschaft). L ovejoy /F alola (Hg.), Pawnship; L ovejoy /R ichardson , The Business of Slaving, 67 – 89. – Daneben gab es im afrikanischen kolonialen Kontext die Praxis der Gefangennahme oder des Menschen­stehlens ­(panyarring), bei der kurzfristig zur Erzwingung einer einzelnen, konkreten Handlung (z. B. Erpressung von Wertgegenständen, Bezahlung von Schulden) oder zur kurzfristigen Bestrafung (nach einem Mord) eine Person gefangen genommen wurde, die Mitglied einer Gemeinschaft war, der auch der Schuldner oder Mörder angehörte. Englische und amerikanische Kaufleute wandten diese Praxis, die ihnen vermutlich aus dem afrikanischen Kontext vertraut war, auch an den Küsten Nordwestamerikas an und nahmen Indigene gefangen, um von der autochthonen Bevölkerung die Herausgabe von Tierfellen zu erpressen. G ibson , Otter Skins, Boston Ships, and China Goods, 160 – 161; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 136. – Diese Praxis (im Russischen polon) ist jedoch von der russländischen Geiselhaltung (amanatstvo) zu unterscheiden. 12 P ollock , „Thus We Shall Have Their Loyalty“, 144.

Globalgeschichtliche Betrachtung

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walachischen Fürsten Vlad Draculs, Graf Dracula (Vlad Drăculea), der vom 9. bis zum 17. Lebensjahr als Geisel, wohl teils auf einer Festung, teils am Hof des osmanischen Sultans als menschliches Pfand gehalten wurde. Nach dem Tod seines Vaters erklärte ihn der Sultan zum Thronnachfolger in der Walachei.13 Dieses Verfahren war typisch für die osmanische Form der Herrschaftssicherung. Auch im Falle der 1478 eroberten Krim suchten die Sultane mit Hilfe von Geiseln, die zumeist Brüder des Krim-­Chans waren, Einfluss auf die Frage zu nehmen, wer auf dem Vasallenthron jeweils zum Nachfolger gekürt werden sollte.14 Doch mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert und dem Verlust zahlreicher Territorien verlor die Geiselhaltung dort zunehmend an Bedeutung. Ein letztes Mal gelang es dem Sultan nach dem kurzzeitigen osmanischen Triumph über die Russen, der Niederlage von 1711 am Fluss Pruth, den Sohn des russischen Feldmarschalls Michail Borisovič Šeremet’ev sowie den Diplomaten und Vertrauten des Zaren, Petr Pavlovič Šafirov, als Geisel zur Friedensvertragsabsicherung zu erhalten, jedoch nur für kurze Zeit.15 Das Russländische Reich sah sich infolge seiner gestiegenen Machtposition auch im außenpolitischen Kontext nicht länger in der Rolle eines Geiselstellers, sondern ausschließlich in der des Geiselnehmers. Konträr zur sinkenden Bedeutung der Geiselhaltung in den westeuropäischen Imperien und im Osmanischen Reich kam ihr im Russländischen Reich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert ein beständig steigendes Gewicht zu. Im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert erfuhr die Geiselnahme im Rahmen der russländischen Expansion und Herrschaftssicherung ihre größte Bedeutung. Die Differenzierung Ascan Lutteroths, der ­zwischen vertraglich geregelter Geiselstellung einerseits und gewaltsam durchgesetzter Geiselnahme andererseits unterscheidet, ist dabei für den russländischen Fall nicht hilfreich. Zwar ging es bis auf eine einzige Ausnahme Ende des 18. Jahrhunderts immer um einseitige Geiselnahmen. Doch die Grenzen z­ wischen einer ‚friedlichen‘ Geiselstellung nach Absprache und einer Geiselnahme mit Hilfe von Gewalt oder der Androhung von Gewalt waren fließend.

13 Der Aufenthaltsort Draculas während seiner Geiselzeit scheint nicht geklärt. Heiko Haumann vermutet zunächst, er sei am Hof des Sultans erzogen worden, erwähnt aber an anderer Stelle, sein genauer Aufenthaltsort sei nicht bekannt. Andere Quellen erwähnen die Festung Egrigöz, auf der er zumindest zeitweise eingesessen habe. H aumann , Dracula, 17 f., 22; K lell /D eutsch , Dracula; T reptow , Vlad III. Dracula. 14 G rekov , K voprosu o charaktere politčeskogo sotrudničestva; B ennigsen /L emercier -­Q uelquejay , Le khanat de Crimée; P ollock , „Thus We Will have Their Loyalty“, 144; F isher , The Russian Annexation of the Crimea, 6. 15 Žurnaly i kamer-­fur’erskie žurnaly 1695 – 1774 gg. St. Petersburg 1853 – 1864, hier das Jahr 1711, 74; Š afirov konnte 1714 bereits wieder in das Russländische Reich zurückkehren. L ichač , ­Šafirov, 42 – 43.

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Gleichwohl kann von einem ‚Gewaltgefälle‘ von Ost nach Süd gesprochen werden: Während die Geiselnahmen im Nordkaukasus und in den südlichen Steppen trotz Elementen von Zwang und Gewalt in aller Regel bei beiden Seiten auf Akzeptanz stießen und häufig von einer Art Geiselverträge begleitet wurden, beruhten die Geiselnahmen in Ostsibirien, Fernost, im Nordpazifik und in Alaska fast immer auf manifester Gewaltausübung. Im modernen Sprachgebrauch wären sie besser als „staatlich organisiertes Kidnapping“ 16 zu bezeichnen und offenbaren damit einen Verbindungsstrang z­ wischen dem frühneuzeitlichen Geiselbegriff und jenem des späten 20. Jahrhunderts, dessen terroristische Variante 1979 in der Internationalen Konvention gegen Geiselnahme offiziell geächtet wurde.17 Allerdings überwiegen die großen semantischen Unterschiede z­ wischen dem Geiselbegriff des auslaufenden 20. Jahrhunderts und jenem der Frühen Neuzeit bei weitem die terminologische Identität. Im Kontrast zur Bedeutung des Expansionsinstruments für das Russländische Imperium ist die Methode der Geiselnahme und Geiselhaltung in der Geschichtsschreibung zum Zarenreich bislang kaum erforscht.18 Offenbar hat die Heterogenität der imperialen Peripherien des Zarenreiches dazu geführt, dass die Geiselhaltung nicht als eine der transregional bedeutsamsten russländischen Methoden imperialer Expansion und Herrschaftsstabilisierung im Süden und Osten gesehen wurde.19 Primär regionalspezifische Untersuchungen, wie sie in geringer Zahl vorliegen, bergen die Gefahr, dem Phänomen als Ganzem nicht gerecht zu werden.20

16 G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 129. 17 K osto , Hostages in the Middle Ages, 4 – 5. 18 Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entdeckten Historiker das Thema der Geiselhaltung, behandelten diese jedoch entweder in entlegenen Aufsätzen und nur in ihrer regionalen Spezifik oder handelten sie auf wenigen Seiten ab. T chamokov , K voprosu o roli sistemy amanatstva; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 56 – 60; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike; A sfandijarov , Institut Amanatstva v Baškirii; T oropicyn , Institut amanatstva; Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“; O zova , Institut amanatstva v Kabarde; P ollock , „Thus We Shall Have Their Loyalty“. – Erst kurz vor Drucklegung erhielt die Verfasserin Kenntnis von dem jüngst erschienenen Aufsatz von R usakovskiy , Geiselstellungen an den Russischen Kulturgrenzen in der Frühen Neuzeit. Der Aufsatz, der mehrere russländische Peripherien einbezieht und sich vor allem auf das 17. Jh. konzentriert, konnte für ­dieses Buch nicht mehr berücksichtigt werden. 19 In den Überblickswerken von Dittmar Dahlmann zu Sibirien und von Andreas Kappeler und Nancy Kollmann zur Geschichte des Russländischen Imperiums wird die Praxis zwar erwähnt, erfährt jedoch keine besondere Hervorhebung als ein wesentliches Instrument russländischer i­ mperialer Expansion und Herrschaftskonsolidierung. D ahlmann , Sibirien, z. B. 78, 83, 90; K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 40, 46; K ollmann , The Russian Empire, 63, 70. 20 So definiert Pollock die russländische Form der Geiselpraxis insgesamt als „diplomatische Geiselnahme“. Damit wird er dem Phänomen jedoch höchstens in seiner nordkaukasischen Ausprägung gerecht. P ollock , „Thus We Shall Have Their Loyalty“, 139.

Mongolischer Transfer? Die mittelalterliche Geiselpraxis im ostslawischen Raum

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3.2  Mongolischer Transfer? Die mittelalterliche Geiselpraxis im ostslawischen Raum Die russländische imperiale Elite des 18. Jahrhunderts betrachtete Geiselnahmen als völlig selbstverständlich und sah ihre Legitimität schon allein in der langen Tradition begründet. Immer wieder wird in den Quellen auf die ‚seit alters her‘ vertrauten Modalitäten verwiesen. Um daher das Konzept der Geiselhaltung in seiner rus’ischen, russischen und russländischen Ausformung sowie die im 18. Jahrhundert vorgenommenen Änderungen erfassen zu können, muss – wie schon beim vorherigen Kapitel zur Untertanenschaft – ein Rückblick auf die Anfänge der Methode geworfen werden, auf die Formierungsphase im ostslawischen Raum. Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen über die Jahrhunderte hinweg. Vor allem bleibt zu klären, an w ­ elchen Traditionen sich die russische und ­später russländische Geiselhaltung orientierte. Handelte es sich bei der Geiselnahme um einen diffusen Akt des Kulturaustausche innerhalb des Großraums Slavia Asiatica?21 Oder kann bei der Geiselhaltung von einem bewussten Akt des Kulturtransfers gesprochen werden, des Transfers einer Methode, die das Großfürstentum Moskau nach dem Ende der tatar-­mongolischen Oberherrschaft von der Goldenen Horde übernahm, so wie auch die Tributeintreibung (jasak), die Einführung des Postwesens (jam), die Volkszählung und viele andere staatliche Praktiken? Stand die russische und spätere russländische Ausgestaltung der Geisel­ haltung folglich in der Nachfolge tatar-­mongolischer Traditionen?22 In der Sekundärliteratur finden sich zahllose, verdächtig gleichlautende Verweise darauf, dass die Moskowiter die Praxis von den Mongolen übernommen hätten. Nach Belegen sucht man dabei jedoch vergeblich.23 Bei Bachrušin, der 21 Zu Recht wird in der Literatur gerade mit Blick auf das europäische Mittelalter auf die große Bandbreite von Kulturbeziehungen und Austauschprozessen hingewiesen. Die Transferbeziehung ist dabei nur eine von vielen möglichen Interaktionen. G erogiorgakis /S cheel /S chorkowitz , Kulturtransfer vergleichend betrachtet; S chorkowitz , Akkulturation und Kulturtransfer in der Slavia Asiatica. 22 Für Ljudmila I. Šerstova und Vadim V. Trepavlov reiht sich die Geiselhaltung in verschiedene Praktiken ein, die aus der Mongolenzeit übernommen wurden. Neben der jasak-­Abgabe wird dabei auch auf die Praxis der Eidleistung verwiesen (šertovanie). Š erstova , Russkie v Sibiri XVII veka, 23; T repavlov , „Belyj Car’“, 180 – 184. – Mit dem Begriff der ‚tatar-­mongolischen‘ Herrschaft wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die ursprünglich rein mongolische Oberschicht der Eindringlinge sich spätestens mit der Annahme des Islams unter Berke Chan Mitte des 13. Jh. zunehmend mit turksprachigen ethnischen Gruppen Asiens vermischte, so dass anschließend nicht mehr von einer rein ‚mongolischen‘ Herrschaft die Rede sein kann. S puler , Die Goldene Horde, 281 – 282. 23 B achrušin , Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17.v., in: Naučnye trudy, Bd. 4; Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“, 155 – 159; T oropicyn , Institut amanatstva, 59 – 80; L uehrmann : Alutiiq Villages under Russian and U. S. Rule, 76; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier;

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durch seine umfangreichen Archivauswertungen zu den wohl ausgewiesensten Kennern der Moskauer Expansion nach Sibirien im 17. Jahrhundert gehört, heißt es in Missachtung der Antike und des frühen Mittelalters sogar, die Russen hätten eine Praxis übernommen, die von den Mongolen erfunden worden sei.24 Anvar Z. Asfandijarov ersetzt mangelnde Belege durch eigene Folgerungen: Es sei undenkbar, daran zu glauben, so Asfandijarov, dass „die baschkirischen Stämme“ im 13. und 14. Jahrhundert der Goldenen Horde „ohne Zwang gedient und freiwillig an den Chan jasak entrichtet hätten. […] Ohne die Institution der Geiselpraxis, eines der Zwangsmittel, hätte [der Chan der Goldenen Horde] die Aufgabe [die baschkirischen Stämme in Gehorsam zu halten] nicht erfüllen können.“ 25 Eine nähere Untersuchung der mongolischen und tatar-­mongolischen Unterwerfungspraktiken und der daraufhin einsetzenden Tributeintreibungen bei den verschiedenen rus’ischen Fürstentümern führt freilich zu differenzierteren Erkenntnissen. Zwar gibt es tatsächlich Belege, wonach die Mongolen im Zuge der Unterwerfung ethnischer Gruppen und des Aufbaus ihres Imperiums Söhne oder jüngere Brüder der jeweiligen Herrscher der unterworfenen Gruppen als Geisel forderten.26 Eine s­ olche Forderung richteten die Mongolen 1262 an den koreanischen Monarchen und 1267 an den Herrscher von Annam. Doch legen alle verfügbaren Indizien die Annahme nahe, dass Geiselnahmen zur Festigung der Eroberung in den rus’ischen Gebieten nicht die Regel waren. In der Sekundärliteratur wird nur eine einzige Quelle als Beleg für Geiselnahmen in der ersten Phase der mongolischen Eroberung und Unterwerfung der Rus’ angegeben, die Berichte des Franziskaners Johannes de Plano Carpini (ca. 1185 – 1252).27 Carpini notierte, dass Fürst Jaroslav Jaroslavič von Tver (1230 – 1272), ­später Großfürst von Vladimir, seine Kinder als Pfand für Wohlverhalten habe s­ chicken müssen.28

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T repavlov , „Belyj Car’“; Š erstova , Russkie v Sibiri XVII veka; T chamokov , K voprosu o roli sistemy amanatstva; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike; A sfandijarov , Insitut Amanatstva v Baškirii. B achrušin , Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17.v., in: Naučnye trudy, Bd. 4, 47. A sfandijarov , Institut amanatstva v Baškirii, 11 – 12. Daneben wurde das persönliche Erscheinen des unterworfenen Herrschers am Hofe des Chans verlangt, die Durchführung einer Volkszählung, die Tributzahlung sowie die Einziehung eines Zehntels an Menschen und Besitz von jedem eroberten Fürstentum. Damit waren nicht nur Tierund Sachleistungen gemeint, auch ein Zehntel der Bevölkerung musste abgegeben werden; ein Teil der Männer wurde in die Armee übernommen, ein anderer Teil als Arbeiter eingesetzt, wieder andere als Sklaven verkauft. M artin , Medieval Russia, 165. A llsen , Mongol Imperialism; Č erepnin , Mongolo-­Tatary na Rusi, bes. 193; M ay , The Mongol Conquests; D i C osmo /F rank /G olden (Hg.), The Cambridge History of Inner Asia; O strowski , The Mongol Origins of Muscovite Political Institutions. – Zur Geiselhaltung als einer Institution mongolischer Herrschaft im späten 14. Jh. weiter unten. C arpini , Kunde von den Mongolen, 85.

Mongolischer Transfer? Die mittelalterliche Geiselpraxis im ostslawischen Raum

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Tatsächlich sprechen Carpinis Formulierungen dafür, dass die Mongolen gegenüber den rus’ischen Fürstentümern in den 1240er Jahren gerade nicht die Geiselpraxis anwandten. Carpini zufolge nämlich s­ eien die als „Geisel“ genommenen Söhne oder Brüder von Adligen s­ päter nie wieder aus der Hauptstadt Saraj weggelassen worden, selbst dann nicht, wenn der Vater oder der Bruder über ein Herrschaftsgebiet verfügten und ohne weitere Erben gestorben waren.29 Das spricht dafür, dass Carpini eine Form mongolischer Gefangenenhaltung beobachtet hatte, da das Element, das für die Geiselpraxis so charakteristisch ist, nämlich die zeitlich begrenzte Geiselhaltung oder sogar der Geiselaustausch, fehlte.30 Auch der russische vorrevolutionäre Historiker A. V. Ėkzempljarskij geht in seinen Ausführungen zum gegebenen Vorfall nicht von mongolischer Geiselhaltung aus, sondern davon, dass die Söhne von Fürst Jaroslav Jaroslavič 1252 beim Kampf um Perejaslav in mongolische Gefangenschaft geraten waren (vzjali v polon).31 Von einem Rückgriff auf die Geiselhaltung in der ersten Phase mongolischer Herrschaft ist auch deshalb nicht auszugehen, weil die mongolischen Chane, die aus der Hauptstadt Saraj regierten, in jedem rus’ischen Fürstentum Baskaki ­(Basqaqi) einsetzten, um unmittelbar Druck ausüben und für eine nachhaltige Unterwerfung sorgen zu können. Die Baskaki nahmen in etwa Gouverneursfunktionen wahr, waren allerdings auch jederzeit in der Lage, ihren Forderungen mit Teilen der mongolischen Reiterarmee gewaltsam Nachdruck zu verleihen.32 Bis ins erste Drittel des 14. Jahrhunderts waren sie für die Tribut- und Steuereintreibungen zuständig. Sie kontrollierten, dass Truppen gestellt und die Fürsten das Postwesen einrichteten und aufrechterhielten. Außerdem wachten sie darüber, dass die Fürsten bei jedem Herrscherwechsel zum neuen Chan nach Saraj reisten, um darum zu bitten, ihnen das Anrecht auf die Fürstenherrschaft in ihrem Gebiet zu verleihen (jarlyk na knjaženie). Dabei war die Reise, die die Fürsten auch zur Wahrung ihrer politischen Interessen nutzten, ein immer wieder mühsames, gefährliches und kostspieliges Unterfangen, das in der Regel ein bis zwei Jahre in Anspruch nahm.33 Aus dieser 29 C arpini , Kunde von den Mongolen, 85 – 86. 30 Auf das Prozedere des Geiselaustausches, das für die russländische Form der Geiselhaltung so bedeutsam war, wird weiter unten noch näher eingegangen. 31 Ė kzempljarskij , Velikie i Udel’nye knjaz’ja Severnoj Rusi v Tatarskij period, 449 – 450. 32 In nicht-­rus’ischen Quellen werden die mongolischen Vertreter darughachi oder darugha genannt. Zu den beiden Begriffen, ihren möglichen Unterschieden und den Ämtern selbst V ásáry , The Origin of the Institution of Basqaqs, 201 – 206; A llsen , Mongol Imperialism, 46 f.; Č erepnin , Mongolo-­Tatary na Rusi (XIII v.), 193; M ay , The Mongol Conquests, 166 f. – Zur Diskussion um die Frage, w ­ elche Macht, Aufgaben und Befugnisse den Baskaki zukamen, siehe N itsche , Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus, 562/563; K argalov , Suščestvovala li na Rusi; S emenov , K voprosu o zolotoordynskom termine „baskak“. 33 Č erepnin , Mongolo-­Tatary na Rusi (XIII v.), 179 – 203; P olubojarinova , Russkie ljudi v Zolotoj Orde. – Auch Großfürst Aleksandr von Vladimir (Nevskij) reiste mehrere Male nach Saraj, um

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Konsolidierungsphase mongolischer Herrschaft ist nicht bekannt, dass Geisel vor Ort genommen und von den Baskaki gehalten wurden, um die Tributeinziehung oder die Erfüllung anderer Pflichten der Fürsten sicherzustellen. Angesichts flexibel einsetzbarer Reiterheere sahen sich dazu die Baskaki wohl ohne Geiselnahme in der Lage. Als sich die Qipčaq-­Chane in Saraj überzeugt hatten, dass die Rus’ genügend befriedet war, beauftragten sie in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts rus’ische Großfürsten damit, Steuern einzutreiben und Recht und Gesetz aufrechtzuerhalten. Aus fast der ganzen nordöstlichen Rus’ wurden die Baskaki abgezogen. Diese Veränderung erfolgte mithin aufgrund der Befriedung und der Akzeptanz der Hegemonie des Qipčaq-­Chans, nicht etwa aufgrund von lokalen Widerständen gegen die tatar-­mongolische Oberherrschaft im Allgemeinen oder gegen die Tributeintreibung im Besonderen.34 Damit ist festzuhalten, dass in der gesamten Konsolidierungsphase der Herrschaft über die frisch eroberten Gebiete, in der im Russländischen Reich die Geiselnahme ihre größte Verbreitung und Bedeutung gewinnen sollte, die Methode im Falle der Goldenen Horde überhaupt keine Rolle spielte. Nach dem Abzug der Baskaki hing die Funktionstüchtigkeit der tatar-­mongo­ lischen Herrschaftsausübung allerdings fundamental davon ab, dass die rus’ischen Fürsten mit Saraj kooperierten. War zuvor die Macht und Autorität des Chans in Saraj durch die Baskaki verkörpert worden, sahen sich jetzt die Fürsten der Rus’ unmittelbar selbst in die straff organisierte tatar-­mongolische Hierarchie eingebunden. Dies galt insbesondere für den Großfürsten von Moskau, der mit der Tributeinziehung beauftragt worden war. Die Aufenthalte, die sämtliche Fürsten der Rus’ bei ihrem Herrschaftsantritt oder anlässlich eines tatar-­mongolischen Herrscherwechsel zur Huldigung am Chansitz in Saraj zu absolvieren hatten, zogen sich nach dem Abzug der Baskaki immer mehr in die Länge.35 Auch durfte keiner die Reise verweigern. Andernfalls entsandte der Chan Boten mit bewaffneten Einheiten. seinen Interessen Nachdruck zu verleihen. Er befand sich zum dritten Mal auf der Rückreise von Saraj, als er 1263 in Gorodez an der Wolga verstarb. S chenk , Aleksandr Nevskij, 54 – 55. 34 O strowski , Muscovy and the Mongols, 42 – 43. 35 In dieser Phase der intensivierten Beziehungen ­zwischen den Rus’-Fürsten und den Chanen der ‚Goldenen Horde‘ in der zweiten Hälfte des 14. Jh. taucht auch das erste Mal der Verweis auf das Ritual bit’ čelom oder čelobitie auf, das wörtlich ‚mit der Stirn schlagen‘ übersetzt w ­ erden kann. Damit wird die Vorschrift beschrieben, wie sich die rus’ischen Fürsten dem Chan zu nähern h­ atten: Sie brachten als ­­Zeichen der Ehrerbietung die Stirn auf den Boden und durften erst danach ihr Anliegen vorbringen. Der Ausdruck čelobitie hielt sich im Russländischen Reich bis ins 19. Jahrhundert hinein als offizielle Bezeichnung für jegliche Art von Bittschriften oder Einreichungen an den Zaren. Die Mongolen hatten sich ihrerseits den Begriff von den Chinesen angeeignet bzw. ihn während der mongolischen Herrschaft über die Chinesen aus dem Chinesischen abgeleitet. D ewey , Russia’s Debt to the Mongols, 268.

Mongolischer Transfer? Die mittelalterliche Geiselpraxis im ostslawischen Raum

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Und doch würde es zu weit gehen, mit der Historikerin Ljudmila I. Šerstova diese ‚jarlyk-­Reisen‘ (ezdit’ za jarlykami) und die daraus folgenden Aufenthalte in Saraj als Zeiten der Geiselhaft aufzufassen.36 Weder finden sich in den rus’ischen Chroniken Belege, dass die ‚jarlyk-­Reisen‘ etwas mit Geiselhaltung im Sinne eines Leibpfandes gemein hatten, noch dafür, dass die rus’ischen Zeitgenossen die ‚jarlyk-­Reisen‘ als eine s­ olche auffassten.37 Vielmehr kann wohl eher von befristeten Zwangsaufenthalten gesprochen werden, die dazu dienten, die Machtverhältnisse zu demonstrieren und diesen in Ritualen Ausdruck zu verleihen. Erst viele Jahrzehnte nach der Übertragung der Tributeinziehung an die rus’ischen Fürsten gibt es Hinweise darauf, dass die Goldene Horde in ihrer Herrschaft über die Rus’ eine Form von Geiselhaltung einführte. Möglicherweise hielt der Chan die Einführung der Methode für notwendig, um dem Erstarken der lokalen Kräfte und damit einem drohenden Verfall des Reiches der Goldenen Horde entgegenzuwirken. Seit den 1380er Jahren jedenfalls finden sich Belege, dass Söhne von Fürsten verschiedener Rus’-Fürstentümer in Saraj festgehalten und offensichtlich als Pfand gehalten wurden.38 Allerdings gibt es weiterhin keinen Quellenbegriff für die Praxis oder den Geiselzustand selbst. Vielmehr wird der recht vage Ausdruck „in der Horde lassen“ oder „zur Horde ­schicken“ (ostavit’ vo Orde oder poslat’/otpustit’ v Ordu) genutzt, um zu beschreiben, dass Fürstensöhne nach Saraj ‚gestellt‘ wurden, um dort – wie zum Beispiel im Falle von Vasilij aus Volodimir – gegen ihren Willen drei Jahre zu bleiben und anschließend wieder freigelassen zu werden.39 Die Unfreiwilligkeit dieser Aufenthalte wird insbesondere dadurch unterstrichen, dass in den Quellen von mehreren Fluchtversuchen die Rede ist.40 36 Š erstova , Tjurki i Russkie v Južnoj Sibiri, 66. 37 Eine s­ olche Auffassung hätte sich zum Beispiel in entsprechenden Begrifflichkeiten niederschlagen können, die zu dieser Zeit aus dem innerrus’ischen Kontext heraus wohl bekannt waren. Mehr zur Begrifflichkeit der Geiselhaltung weiter unten. 38 Hier nur eine Auswahl an Belegen: Patriaršaja ili Nikonvoskaja Letopis’. In: PSRL, Bd. 11, Moskau 1965, 90 (1386 – 87) (vnuk Ivanov, Moskvo’skij vidja sebja drežima vo Orde), 93 (1387) (posla v Ordu syna svoego); Letopisec’’ Rogožskij. In: PSRL Bd. 15, Moskau 1965, 149 (1382) (syna svoego knjazja Aleksandra vo Orde ostavil); Bd. 15, 154 (1391) (knjaz’ Boris Kostjantinovič’ posla syna svoego v Ordu knjazja Ivana); Moskovskij Letopisnyj svod koncy XV veka. In: PSRL Bd. 25, Moskau, Leningrad 1949, 211 (1383) (knjaz’ Dmitrei Kostjantinovič’ Suzdal’sky posla v Ordu syna svoego knjazja Semena; syn ego knjza’ Aleksandr osta v Orde). Unter den wenigen Studien, in denen die mongolische Geiselhaltung innerhalb der Rus’ mit Quellen belegt wird, sind P olubojarinova , Russkie ljudi v Zolotoj Orde, hier 13 – 14; D ewey , Russia’s Debt to the Mongols, 254 f. 39 Letopisec’’ Rogožskij. In: PSRL Bd. 15, Moskau 1965, 148 (1382) (knjaz’ velikij Dmitrei Ivanovič otpusti v Ordu k carju Toktamyšu syna svoego stareišago Vasilïa iz Volodimerja, […] i tamo prebyst’ 3 leta). 40 Der Sohn des Suzdaler Fürsten Dmitrij Konstantinovič, Vasilij Dmitrievič, der 1382 als Geisel genommen worden war, versuchte 1386 zu fliehen. P olubojarinova , Russkie ljudi v Zolotoj

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Zugleich wird vermerkt, dass Fürsten häufig ihre Söhne „zur Horde schickten“, um auf diese Weise ihre Interessen am Hof des Chans besser artikulieren und verteidigen zu können.41 Wer Glück hatte und sich zum Zeitpunkt des Ablebens eines rus’ischen Fürsten gerade in Saraj aufhielt, konnte sogar darauf hoffen, vom Chan mit dem frei gewordenen Fürstentitel einer Stadt betraut zu werden.42 Auch konnte illoyales Verhalten eines rus’ischen Fürsten dazu führen, dass der Chan diesen absetzen und durch seinen bislang als Geisel in Saraj gehaltenen Sohn ersetzen ließ.43 Mit anderen Worten: Die tatar-­mongolische Geiselhaltung von Fürstensöhnen der Rus’ im ausgehenden 14. Jahrhundert war in eine politische Kultur eingebettet, bei denen die Aufenthalte von Anfang an mindestens zwei Funktionen erfüllten: Zum E ­ rsten dienten die Söhne der rus’ischen Fürsten der Goldenen Horde als Pfand für das Wohlverhalten ihrer Väter. Zum anderen nutzten ihrerseits die Fürsten die ausgedehnten Aufenthalte ihrer Söhne dafür, um die Söhne beim Chan für die jeweiligen politischen Ambitionen der Väter werben zu lassen und sich dadurch Machtvorteile zu verschaffen.44 Diese Form der tatar-­mongolischen Geiselpraxis unterschied sich in mehreren wesentlichen Punkten von der späteren russländischen Geiselhaltung. Die Unterschiede machen deutlich, dass von einem Transfer der Geiselmethode aus dem Kontext der Goldenen Horde in das Moskauer Reich nicht ausgegangen werden kann: Zum E ­ rsten spielte die Geiselhaltung im Reich der Goldenen Horde, wie erwähnt, erst dann eine Rolle, als die tatar-­mongolische Oberherrschaft sich nach

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Orde, 14. Die Flucht misslang zwar, die Geiselschaft verlängerte sich, aber bereits nach einem Jahr (nach damit insgesamt fünf Jahren Geiselhaltung) wurde der Fürstensohn entlassen und vom mongolischen Chan mit einer Stadt belohnt. Patriaršaja ili Nikonvoskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 11, Moskau 1965, 93 (1387) (priide izo Ordy knjaz’ Vasilej Dmitreevič’ Suždal’skij, požalovan ot carja Tachtamyša: dade emu car’ Gorodec); Tverskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 15, vyp. 1, Moskau 1965, 154 (1387) (prïide iz Ordy knjaz’ Vasilei Dmitreevič Suždal’skyi i poruči emu car’, vda emu Gorodec’); Bd. 15, vyp. 1, Moskau 1965, 444 (1386) (knjaz’ velikij Vasilej Dmitrievič’ iz Ordy ubegl’). – Auch der Sohn des Rjazaner Fürsten Oleg Dmitrievič, Rodoslav, floh 1387 aus der Horde. Letopisec’’ Rogožskij. In: PSRL Bd. 15, Moskau 1965, 153 (1387) (pribeža iz Ordy knjaz’ Ros’slav syn Olgov Rjazan’skago). Dies traf zum Beispiel auf den bereits erwähnten Sohn des Suzdaler Fürsten zu, Vasilij Dmitrievič, der zunächst zur Horde geschickt worden war, um sich mongolischer Unterstützung zu versichern und den jarlyk zu erhalten, der ihn auf den Thron von Vladimir bringen sollte. Letopisec Rogožskij. In: PSRL Bd. 15, Moskau 1965, 148 (1382). – Auch der Großfürst von Tver’, Michail Aleksandrovič, ließ bei seiner eigenen Rückkehr aus der Horde zur Vertretung seiner Interessen seinen Sohn zurück. Letopisec’’ Rogožskij. In: PSRL Bd. 15, Moskau 1965, 149 (1382). So widerfuhr es Fürst Boris Konstantinovič, der gerade mit seinem Sohn Ivan in Saraj weilte, als der Großfürst von Nižnyj Novgorod starb. Letopisec’’ Rogožskij. In: PSRL Bd. 15, Moskau 1965, 149 (1382). A llsen , Mongol Imperialism, 74. M artin , Medieval Russia, 170 – 171.

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einem Jahrhundert bereits konsolidiert hatte, sich aber durch zunehmende Machtansprüche einiger rus’ischer Fürstentümer herausgefordert sah. Im Moskauer Reich hingegen hatte die Geiselhaltung größte Bedeutung während des Prozesses der Eroberung und Unterwerfung selbst sowie mindestens in den folgenden Jahrhunderten der Inkorporation und Festigung imperialer Herrschaft.45 Zum Zweiten wurden bei den Tatar-­Mongolen die Geisel am Sitz des Chans der Goldenen Horde gehalten, um sie dort – wie im Falle mongolischer Herrschaft über die Chinesen – entweder in die imperiale Garde aufzunehmen oder – wie im Falle der Herrschaft über die Rus’ – in die Politik der Herrschaftssicherung einzubeziehen, sie anschließend zu Nachfolgern bei der Besetzung rus’ischer Fürstentümer zu küren und mithin die tatar-­mongolische Oberherrschaft durch die persönlichen Bindungen zu verstetigen.46 Auf diese Weise bestand der Druck für einen tributpflichtigen Herrscher der Rus’ durch die Goldene Horde weniger in einer Gefahr für Leib und Seele des blutsverwandten Geisel, als vielmehr darin, beim ersten ­­Zeichen der Illoyalität von dem Geisel selbst ersetzt zu werden. Ein Geisel, der viel Zeit am imperialen Hof verbracht hatte, wurde von den Tatar-­Mongolen als verlässlicher eingestuft als sein Verwandter, der die ganze Zeit fernab auf seinem Fürstenthron weilte.47 Im Moskauer Reich hingegen lebten die Geisel seit Einführung der Praxis im späten 16. Jahrhundert entweder in speziell für sie eingerichteten Geiselhäusern (amanatnyj dvor) auf russländischen Festungen entlang der frontier, wie in den südlichen Steppen und im Nordkaukasus, oder in einfachen Blockhütten (iz’ba) in Sibirien und Fernost.48 Zudem wurden sie in regelmäßigen Abständen ausgetauscht und hatten bis zum 18. Jahrhundert in aller Regel keinen Kontakt zur politischen Führung des Landes. Auch dachte bis ins 18. Jahrhundert hinein keiner daran, über die jeweiligen Geisel Einfluss auf die Nachfolge von Anführern der einverleibten ethnischen Gruppen zu nehmen, geschweige denn, die Geisel selbst als Nachfolger einzusetzen. Zum Dritten, und dies ist vielleicht der wichtigste Grund, der gegen die Annahme spricht, es habe sich bei der späteren russischen und russländischen Geiselhaltung um die Übernahme einer Tradition der Goldenen Horde gehandelt, 45 Ausführlich zur Entstehung und Entwicklung der Geiselhaltung im Moskauer Reich weiter unten. 46 Zur Einziehung von Geiseln in die imperiale Garde des mongolischen Chans siehe L attimore , Chingis Khan and the Mongol Conquests; A llsen , Mongol Imperialism, 73 – 74; Y ang , Hostages in Chinese History, 517/518. 47 A llsen , Mongol Imperialism, 74. – Auch in China kam es zuweilen zu kriegerischen Auseinandersetzungen, wenn Fürstensöhne von ihrer Geiselzeit in der Hauptstadt in ihre Peripherien zurückkehrten und aufgrund ihrer erworbenen Nähe zum imperialen Zentrum Machtansprüche erhoben. Y ang , Hostages in Chinese History, 509. 48 Ausführlich zu den Modalitäten der russischen und russländischen Geiselhaltung weiter unten.

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waren die Fürsten der Rus’ bereits vor ihrer mongolischen Unterwerfung mit der Geiselhaltung als einer Form menschlichen Pfandes wohl vertraut.49 Die Geiselstellung reihte sich im Kiever Reich in eine Reihe von Praktiken zur Bürgschaft und kollektiven Verantwortung auf spiritueller, militärischer, fiskalischer und politischer Ebene ein.50 Geisel, mit dem ostslawischen Begriff tal’ bezeichnet, wurden sowohl als Gewähr für Geschäfte im privatrechtlichen Kontext ausgetauscht, wie beispielsweise z­ wischen Novgorod und den Ostseekaufleuten, als auch im außenpolitischen bzw. ‚völkerrechtlichen‘ Kontext z­ wischen den Fürsten der Rus’ und den Steppenvölkern, wie den Pečenegen, Polovcern (Kumanen) oder Poljanen.51 Diese Praxis wurde in beiderlei Form auch während der Zeit der tatar-­mongolischen Oberherrschaft über die Gebiete der Kiever Rus’ mit demselben Begriff unverändert beibehalten.52 Der Begriff tal’ taucht jedoch in keiner rus’ischen Chronik im Zusammenhang mit den Fürstensöhnen auf, die an den Hof des tatar-­mongolischen Chans von Saraj geschickt wurden. Auf diese Weise wird deutlich, dass die Praktiken eines Austauschs von Leibpfändern im engeren Sinne (wie zu Zeiten der Kiever Rus’) einerseits (tal’) und jene der ‚politischen‘ Geiselhaltung mit dem Ziel der Beeinflussung und Akkulturation am Hof der Goldenen Horde (im Sinne des römischen Vorbildes) (choždenie v ordu) andererseits im Bewusstsein der Zeitgenossen voneinander unterschieden wurden. Es handelte sich um zwei verschiedene Formen von Geiselpraktiken mit unterschiedlichen Funktionen, die während der tatar-­ mongolischen Oberherrschaft nebeneinanderher existierten.53 Damit vermittelt 49 Dittmar Schorkowitz geht sogar davon aus, dass die Ostslawen die Geiselstellung bereits in prärjurikidischer Zeit gekannt haben, als slawische Gruppen Anfang des 9. Jh. dem awarischen Chaganat unterworfen waren. Er plädiert dafür, die Geiselstellung „nicht unter dem Aspekt von Diffusion und früher Akkulturation zu betrachten, sondern als lokal entwickelte Rechtspraxis kulturell divergenter Gruppen, der kompatible Rechtsvorstellungen zugrunde lagen“. S ­ chorkowitz , Akkulturation und Kulturtransfer in der Slavia Asiatica, 153. 50 D ewey /K leimola , Suretyship and Collective Responsibility; D ewey /K leimola , Russian Collective Consciousness; D ewey , Russia’s Debt to the Mongols. 51 S chmidt , Soziale Terminologie in russischen Texten, 508, 522; Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv. Bd. 29, Moskau 2011, 210; Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen, 313; V asmer , Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 3, 73. – Auch die rus’ischen Fürstenfamilien gaben im Rahmen von Freundschaftsverträgen zuweilen ihre Kinder als Pfand gegenüber anderen Fürstentümern in die Geiselschaft, ohne dass der Vorgang eine eigene Bezeichnung erhielt. Novgorodskaja pervaja letopis’ staršego i mladšego izvodov. Hg. von A. N. Nasonov, Moskau, Leningrad 1950, 26 (im Jahr 1140), 66 (im Jahr 1228). – D ewey , Russia’s Debt to the Mongols. 52 Siehe z. B. die Geiselnahme des Fürsten Boris Konstantinovič durch Vasilij I. von 1392 in Novgorodskaja pervaja letopis’, 385, sowie zahlreiche weitere Beispiele aus dem 14. und 15. Jahrhundert in S reznevskij , Materialy slovarja drevne-­russkago jazyka, Bd. 3, 922 sowie in Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII, Bd. 29, 210. 53 So heißt es in der Novgoroder Chronik. „In demselben Sommer [1392] kehrte Großfürst Vasilii Dmitrievic’ aus der Horde zurück und nahm Nižnii Nov’’gorod ein und nahm den Fürsten und

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die Begriffsgeschichte ein viertes, schwerwiegendes Argument, das gegen einen Transfer der Geiselhaltung in der tatar-­mongolischen Ausführung in das Moskauer Reich spricht. Im Gegensatz zu Bezeichnungen wie jasak (Tribut), jam (Postwesen) und den’gi (Geld) hatten weder die Mongolen einen Begriff für ihre Art der Geisel­haltung geprägt, die Niederschlag in den rus’ischen Chroniken gefunden hätte und über ihre Herrschaft hinaus fortgelebt hätte, noch findet sich auf der rus’ischen Seite ein Hinweis, der nahegelegt hätte, dass man die Geiselstellung gegenüber den Mongolen als Fortsetzung der vertrauten altrus’ischen tal’-Praxis verstanden habe.

3.3  Die Herausbildung der Geiselhaltung im Moskauer Reich Die Frage nach den Anfängen Wenn das Moskauer Reich die Geiselhaltung nicht aus dem Kontext der Goldenen Horde übernahm und die tatar-­mongolische Ausgestaltung der Geiselhaltung keinen Einfluss auf die spätere russische und russländische Ausprägung der Methode hatte, stellt sich die Frage nach dem Beginn von Geiselhaltung im Moskauer Reich. Der Niedergang der tatar-­mongolischen Oberherrschaft und das gleichzeitige Erstarken des Moskauer Großfürstentums im 15. Jahrhundert, sein territoriales Anwachsen durch die sukzessive Einverleibung der alten Fürstentümer der Kiever Rus’ und erster nicht-­slawischer ethnischer Gruppen im Nordosten vergrößerten für die Moskauer Herrschaft nicht nur die Einkommensquellen. Auch legte es der größer werdende Herrschaftsverband nahe, neue Praktiken zur Stabilisierung der Herrschaft zu entwickeln oder tradierte Methoden auszuweiten. In der Sekundärliteratur finden sich Behauptungen, wonach bereits bei den ersten Expansionen jenseits des Urals, die im späten 15. Jahrhundert erfolgten, „Geisel“ genommen worden ­seien.54 Der Blick in die Quellen bestätigt diese These nicht: In den Chroniken ist stets von „Gefangenen“ (polony) oder von „Gefangenschaft“ (v polonu vyveli) die Rede, in w ­ elche die freiwilligen Truppen (chotjačie ljudi) auf Befehl Ivans III. Teile der indigenen Bevölkerung überführten, nicht von Geiseln.55 Es ist nicht davon auszugehen, dass unter ‚Gefangenen‘ und ‚Geiseln‘ ein und dasselbe verstanden wurde, weil in der Kiever Rus’ wie ­später im Moskauer die Fürstin als Geisel (poima […] v tal’); der Fürst Semeon aber flüchtete zur Horde.“ In ­diesem Fall steht Saraj sogar für einen Ort, der vor Geiselnahme aus den eigenen Reihen der Rus’-­Fürsten schützte. Novogorodskaja pervaja letopis’, 385. 54 D ahlmann , Sibirien, 41; James F orsyth : A History of the Peoples of Siberia, 28 f., 41; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 1, 368 – 370. 55 Ustjužskij Letopisnyj Svod (Archangelogorodskij Letopisec). Moskau, Leningrad 1950, 86, 94, 95.

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Reich ­zwischen beiden Phänomenen genau unterschieden wurde.56 Zudem wurde der tal’-Begriff, der noch während der tatar-­mongolischen Fremdherrschaft für die Beziehungen der rus’ischen Fürsten untereinander und gegenüber Westeuropäern eine Rolle gespielt hatte, unter Ivan III. nicht verwandt und verlor sich gegen Ende des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts.57 Weiterhin findet sich kein Hinweis auf eine Geiselnahme mit Blick auf die Unterwerfungsprozesse, mit denen Ivan III. als Moskauer Großfürst die Anführer ethnischer Gruppen im westsibirischen Jugra-­Land, die ‚Fürsten‘ Kalpak und Tečik, zum Treueid und zur Tributabgabe verpflichte, ihnen das Recht zur Fürstenherrschaft im Jugra-­Land verlieh (knjaz’ velikii ich požaloval jugorskim knjaženiem) und sie anschließend mit der Gnadenurkunde dorthin zurückschickte.58 Selbst der Treueid, der im Zuge der beginnenden Unterwerfung von Kazan 1550 geleistet wurde, beinhaltete keine Verpflichtung zur Geiselstellung.59 Damit liegt in der Frühphase des Moskauer Reiches kein Indiz dafür vor, dass in irgendeiner Form noch an die Geiselhaltung (tal’ ) aus den Zeiten der Kiever Rus’ angeknüpft wurde, und schon gar nicht an jene aus der Zeit der Goldenen Horde. 56 Grundsätzlich galten im russländischen Kontext Geisel im Unterschied zu Gefangenen als nur ­vorübergehend in Gewahrsam genommene Leibpfänder. Sie waren nach den Vorgaben der Zarenregierung gut zu behandeln und in regelmäßigen Abständen auszutauschen. Zwischen Geisel ­(amanaty) und Gefangenen (polony; im Umgang mit dem Krim-­Chanat: jasyry) wird in den Quellen daher begrifflich wie konzeptionell deutlich unterschieden. Allerdings konnte es zu fließenden Übergängen von einem Status in den anderen kommen, indem zum Beispiel ein Geisel, ohne Einverständnis der Geiselstellerseite, zum Gefangenen gemacht oder erklärt wurde. So befahl Moskau dem Voevoden in Tersk, den Sohn des kabardinischen Fürsten Aleguk aufgrund von „Untreue“ des Vaters aus dem Geiselhof (amanatnyj dvor) in ein Gefängnis zu verlegen. Dabei handelte es sich um eine Maßnahme infolge des sog. Geiselverfalls, der dann eintrat, wenn aus Sicht der Geiselhalter die Verpflichtung des Geiselstellers nicht eingehalten worden war. Gramota iz Posol’skogo prikaza terskomu voevode (…). In: KabRO Bd. 1, Nr. 129 (26. 7. 1641), 200 – 202; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 54 f. – Weitere Beispiele aus dem 18. Jh. zur Differenzierung ­zwischen Geiseln und Gefangenen: Vom Baschkiren Jukaev heißt es, dass „sein Vater hier als Geisel und der Bruder in der Gefangenschaft gehalten wird“ (kotorogo otec zdes’ v amanatach i brat v polonu). Skazka perevodčika I. G. Durakova v kanceljariju Glavnogo pravlenija kazanskich i sibirskich kazennych zavodov (…). In: MpiB Bd. 6, Nr. 89 (28. 4. 1736), 163 – 164, hier 164. – Anderes Beispiel in Protokol’naja zapis’ peregovorov načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva s chanom Abulchariom (…). In: KRO Bd. 1, Nr. 96 (22. 9. 1742), 229 – 253, hier 248. 57 Dies legen nicht nur die von der Verfasserin untersuchten Quellen nahe, sondern auch die unter tal’ angegebenen Belege des einschlägigen Wörterbuchs. Slovar’ russkago jazyka XI ‒XVII , Bd. 29, 210. 58 Das ‚Jugra-­Land‘ ist ein Sammelbegriff für das Siedlungsgebiet der Chanten, Mansen und anderer kleiner, nicht-­slawischer Gruppen. Ustjužskij Letopisnyj Svod, 86. – Dasselbe Prozedere vollzog sich, als Ivan III. 1483 erfolgreich gegen die Vogulen’-Fürsten Jumšan und Kapla, den sibirischen ,Fürsten‘ Ljatik, den Jugorsker ,Fürsten‘ Pytkej und den Jugorsker ,Großfürsten‘ Modlan zu Felde gezogen war, sie anschließend nach Moskau bringen ließ und sie tributpflichtig machte – auch hier ohne die Forderung der Geiselstellung. Ustjužskij Letopisnyj Svod, 95. 59 Letopisec Načala Carstva. In: PSRL Bd. 29, Moskau 1965, 62 – 63 (1550).

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Erst als das Moskauer Reich infolge der bedeutsamen Eroberung von Kazan als der damaligen Großmacht im Steppenraum immer stärker mit einer Region in Kontakt kam, in der aufgrund des osmanischen Einflusses die Geiselhaltung gang und gäbe war, wurde die Methode fest in das Repertoire der Moskauer Politik der Unterwerfung und der imperialen Herrschaftsausübung integriert. Ob dies infolge eines diffusen Aktes des Kulturaustauschs oder als bewusster Kulturtransfer erfolgte, sei dahingestellt. Erst jetzt jedenfalls entwickelten sich Geiselnahme und Geiselhaltung zu konstitutiven Elementen, um russische und russländische Herrschaft über nicht-­christliche Untertanen zu konsolidieren. Die Region, innerhalb derer sich dieser Kulturaustausch oder Transfer vollzog, war der Nordkaukasus. Da der Beginn und der anfängliche Charakter der Moskauer Geiselhaltung in der Sekundärliteratur entweder im Dunkeln belassen wurden oder aber die politischen Umstände und die Quellenlage nicht genügend berücksichtigt und ausgewertet wurden, lohnt an dieser Stelle ein detaillierterer Blick. Moskaus Eroberung des muslimischen Chanats von Kazan hatte die politische Landschaft grundlegend verändert. Anführer zahlreicher ethnischer Gruppen, die östlich wie südlich von Kazan siedelten, schickten erstmals Gesandtschaften nach Moskau, ließen sich dessen ‚Freundschaft‘ versichern oder waren sogar sogleich zur Huldigung gegenüber dem russischen Herrscher bereit. Ein prominentes Beispiel war die Unterwerfung des Chanats von Sibir’, dessen Gesandte 1555 am Hofe des russischen Herrschers Ivans IV. erschienen, um ihm im Namen ihres Fürsten Ediger und der ganzen sibirischen Ländereien den Treueid zu leisten und tributpflichtig zu werden. Ivan IV., der sich 1547 zum „Zaren“ hatte ausrufen lassen, schickte daraufhin seinen Gesandten (doroga) mit dem jarlyk, um die Steuerpflichtigen nach mongolischer Art zählen und vereidigen zu lassen. Auch hier verlangte der Zar keine Geisel.60 Es folgten 1554 Moskaus Feldzug gegen das Chanat von Astrachan und dessen endgültige Unterwerfung zwei Jahre ­später. Mit Astrachan bestand ab sofort eine direkte Verbindung zum Nordkaukasus, einer Region, die in Moskau weitere geopolitische Ambitionen nährte. Auch ein Teil der Nordkaukasier strebte danach, sich der Herrschaft der Krimtataren und des osmanischen Sultans zu entledigen, die von nicht wenigen als drückend empfunden wurde, und stattdessen die Allianz mit dem mächtig gewordenen Zarenreich zu suchen. Mitten im ethnischen und kulturellen Flickenteppich des Nordkaukasus, umworben vom osmanischen Sultan,

60 Lebedevskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 29, Moskau 1965, 233 (1555). – Fortan trug er außerdem in seinem Titel den Zusatz ‚des ganzen sibirischen Landes Gebieter‘, obwohl die Tributabhängigkeit durch Chan Kučum 1563 unterbrochen und erst durch die russländische Eroberung in den 1580er Jahren wiederhergestellt werden konnte. K ämpfer /S tökl , Rußland an der Schwelle zur Neuzeit, 897.

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vom persischen Schah, dem kumykischen Šamchal und vom krimtatarischen Chan siedelten die čerkessischen (adygischen) Kabardiner. Neben den Kumyken gehörten sie nicht zuletzt aufgrund ihres hohen Grads gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu den politischen Schwergewichten der Region. Die ersten kabardinischen Fürsten, die bereits 1552 und 1555 um die Aufnahme in des Zaren Dienste baten und sich taufen ließen, waren daher in Moskau gern gesehen.61 1557 bat sogar der „oberste Fürst“ der Kabardei (verchovnyj knjaz’ oder ­pščy-­tch’ėmadė), Fürst Temrjuk Idarov, um ein Militärbündnis mit dem Zaren zur Abwehr osmanischer und krimtatarischer Ansprüche und laut russischer Chronik auch darum, „in die Untertanenschaft“ des Zaren einzutreten (biti čelom čtob ich gosudar’ požaloval, velel im sobe služiti i v cholopstve ich učinil). Da das Originaldokument nicht erhalten geblieben und die russische Chronik für diesen Vorgang die einzige Quelle ist, lässt sich rückblickend der Charakter der Vereinbarung nicht leicht bestimmen. Die Chronik erwähnt jedoch keine Eidleistung des kabardinischen Fürsten. Es ist auch nicht vom kabardinischen Land (zemlja) die Rede, so dass die Feierlichkeiten von 2007 zum angeblichen 450. Jubiläum der staatlichen „Vereinigung“ der Kabardei mit „Russland“ eher ideologisch begründet als historisch zu rechtfertigen sind.62 Der tatsächliche Charakter des Abkommens offenbart sich vielmehr, wenn die Modalitäten näher in den Blick genommen werden. So fehlt in der russischen Chronik nicht nur ein Hinweis auf einen Treueid, auch von einer Tributabgabe ist nicht die Rede. Vieles spricht dafür, dass Zar Ivan IV. vorerst nur davon ausging, in 61 Lebedevskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 29, Moskau 1965, 240 (1554). – Zu den Details der čerkessischen Gesandtschaften siehe B gažnokov /D zamichov , Temrjuk Idarov i voenno-­ političeskij sojuz Kabardy i Rossii. 62 Mangels Belege für erbrachte Eidleistungen ist es in der Historiographie umstritten, ob von dem Vorgang von 1557 als einem ‚Eintritt‘ in die zarische Untertanenschaft (nach dem Verständnis der Moskauer Seite) gesprochen werden oder ob dies nicht erst frühestens für die Eidleistung von 1588 gelten kann. Aus Sicht der kabardinischen Fürsten ging es in den 1550er Jahren lediglich um ein Militärbündnis mit dem Zaren und in den späten 1580er Jahren um eine nominelle Anerkennung der hierarchischen ‚Ältestenschaft‘ des Zaren über die lokalen Fürsten. Diese Anerkennung meinte die kabardinische Seite bei einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse auch wieder zu Gunsten des Krim-­Chanats abändern zu können. Systematisch rückte das Zarenreich erst im 18. Jh. im Nordkaukasus vor. Eine ‚vollständige Untertanenschaft‘ der Kabardei lag nach der Meinung von Vadim V. Trepavlov erst ab dem 19. Jh. vor. T repavlov , „Belyj Car’“, 185 f.; ders .: ­„Šertnye“ dogovory, 28 – 30; ders ., Prisoedinenie narodov k Rossii, 198 – 205; ders ., Dobrovol’noe vchoždenie. – Zur Diskussion: B gažnokov /D zamichov , Temrjuk Idarov i voenno-­političeskij sojuz Kabardy i Rossii, bes. 54 – 75; Istorija narodov Severnogo Kavkaza, 334 – 335; K uševa , Politika russkogo gosudarstva; D ies , Narody Severnogo Kavkaza, bes. 232 – 272. – Ausführlich zum Problem russländischer Untertanenschaft Kap. 2. – Die Stellung des ‚Obersten Fürsten‘ unter den kabardinischen Fürsten war wohl in etwa mit der Stellung des Großfürsten unter den rus’ischen Teilfürstentümern zu vergleichen. Auf ihn einigte sich eine Versammlung von Vertretern aller Teilfürstentümern, genannt Chasy. O zova , Institut amanatstva v Kabarde, 63.

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dem obersten kabardinischen Fürsten Temrjuk Idarov einen mächtigen Verbündeten gefunden zu haben, mit dessen Hilfe das Moskauer Reich hoffte, seine Machtbasis im Nordkaukasus ausbauen zu können. Dies würde auch erklären, warum der Zar in den folgenden zwei Jahrzehnten Fürst Temrjuk große Truppen (strel’cy und Kosaken) zur Verfügung stellte, über die jener frei verfügen konnte, um sie im Kampf gegen andere kabardinische Fürsten einzusetzen, die Temrjuk keinen Gehorsam leisteten.63 Ivan IV. hielt es nach dem Tode seiner ersten Frau sogar für opportun, sich 1561 mit der Tochter Temrjuks zu vermählen. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass man sich in den 1550er und 1560er Jahren auch aus Moskauer Sicht zwar in einem asymmetrischen Machtverhältnis sah, sich aber gleichwohl als Koalitionspartner betrachtete. Keineswegs sah man sich in einer strikt hierarchischen Beziehung, wie sie gegenüber der Elite einer ethnischen Gruppe üblich gewesen wäre, die gerade in die zarische Untertanenschaft überführt worden war. Bereits dieser Einblick in die russländisch-­kabardinischen Beziehungen verdeutlicht, wie wenig sinnvoll es ist, mit den Autoren Georgij A. Kokiev und Fatima A. Ozova davon auszugehen, es habe schon in den 1550er Jahren kabardinische Geiselstellung als Ausdruck kabardinischer Untertanenschaft an die Moskauer Seite gegeben.64 Zudem wird die Behauptung weder in Form eines Quellenbegriffs gestützt noch erlauben die äußeren Umstände den zwingenden Rückschluss, dass Geisel gestellt wurden. Vielmehr begann eine Reihe von kabardinischen Fürsten, unter ihnen der oberste Fürst Temrjuk Idarov, aus eigenen machtpolitischen Interessen heraus ab 1557 einen oder sogar mehrere ihrer Söhne als Zeichen ­­ der ‚Freundschaft‘ an den Zarenhof nach Moskau zu s­ chicken.65 Diese ließen sich dort taufen, erhielten russische Namen, lernten Russisch, wurden in den zarischen Militärdienst aufgenommen, dienten in Abwehrkämpfen gegen das Krim-­Chanat und stiegen teilweise noch unter Ivan IV. zu angesehenen Staatsmännern des Moskauer Reiches auf.66 63 Dopolnenija k Nikonvoskoj Letopisi. In: PSRL Bd. 13, St. Petersburg 1904, 2. Teil, 371 (1564). 64 O zova , Institut amanatstva v Kabarde, 58 f.; K okiev , Metody kolonial’noj politiki, 75 – 121; ders ., Russko-­Kabardinskie otnošenija, 184 – 193. 65 Patriaršaja ili Nikonovskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 13, St. Petersburg 1904, 1. Teil, 284 (1557); Dopolnenija k Nikonvoskoj Letopisi. In: PSRL Bd. 13, St. Petersburg 1904, 2. Teil, 2. Teil, 312 – 313 (1559). 66 Zu ihnen zählte der jüngste der vier Söhne Temrjuks Idarov, Soltan. Er wurde nach seiner Ankunft auf den Namen Michail Čerkasskij getauft (Čerkasskij zur Bezeichnung seiner Heimat), erhielt eine umfangreiche Ausbildung und begann 1559 seinen Militärdienst in den südlichen Grenzregionen des Moskauer Reiches. Mit rund 30 Jahren wurde er als erster der kabardinischen Fürsten zum Bojaren ernannt und erlangte am Hofe eine herausragende Machtposition. M al ’bachov / D zamichov , Kabarda vo vzaimo-­otnošenijach Rossii s Kavkazom, 35 – 36. – Der jüngste Bruder von Temrjuk Idarov, Kambulat, reiste 1578 mit einer Gesandtschaft nach Moskau und ließ seinen Sohn Karašaj in Moskau zum Dienst. Karašaj hieß nach seiner Taufe Boris Kambulatovič

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Die Fürstenfamilien schickten ihre Söhne freiwillig, diese wurden nie ­ausgetauscht, hatten keinen Pfandcharakter und kehrten in aller Regel nicht mehr in ihre Heimat zurück.67 Zur Unterstreichung des Bündnisses und der freundschaftlichen Beziehungen traten sie vielmehr in den Zarendienst über, passten sich an die russländische Kultur an und verschafften ihren Familien aussichtsreiche Positionen am Hofe. Diese Form der Verschickung von Söhnen hatte weder etwas gemein mit der spätrömischen oder tatar-­mongolischen Tradition der Geiselhaltung, wo es jeweils für die Metropole darum gegangen war, Thronfolger der unterworfenen ethnischen Gruppe zu prägen und politisch zu beeinflussen, bevor diese die Führung ihrer ethnischen Gruppe übernahmen. Noch hatte sie etwas mit der Geiselhaltung zu tun, wie sie sich im Moskauer Reich ab den 1580er Jahren verankern sollte. Spätestens Ende der 1580er Jahre trat in den russländisch-­kabardinischen Beziehungen eine grundlegend anderes Verhältnis ein. Der Vertraute und Schwiegervater von Zar Ivan IV., Fürst Temrjuk Idarov, war an den Folgen von Verletzungen, die er sich im Kampf gegen die Krimtataren zugezogen hatte, in den 1570er Jahren gestorben, zwei seiner Söhne waren in krimtatarische Gefangenschaft geraten. Die Idee, die Idarovs könnten alle kabardinischen Fürsten und umliegenden ethnischen Gruppen des Nordkaukasus (nach dem Modell der Moskauer Herrschaft über die Fürstentümer der Kiever Rus’) unter einer Hand vereinen und dem Zaren stabilen Einfluss in der ganzen Region verschaffen, hatte sich als Illusion entpuppt. Die Widerstände gegen die Moskauer Einmischung in den Nordkaukasus waren nicht nur bei den Widersachern im Osmanischen Reich und im Krim-­Chanat äußerst heftig und nachhaltig. Auch unter kabardinischen Fürsten hatte sich eine starke Anti-­Moskauer Allianz gebildet.68 Daraus folgte für die Zarenregierung die Erkenntnis, sich fortan nicht länger nur auf ein Fürstengeschlecht stützen zu können, um sich dauerhaft in der Region fest zu verankern. Vielmehr bedufte es einer weit breiteren Machtbasis.

Čerkasskij, erhielt einflussreiche Positionen an der Südgrenze des Reiches, wurde 1592 mit dem Bojarenrang geehrt und errang sich den Ruf, einer der bedeutendsten russländischen Militärführer seiner Zeit gewesen zu sein. Ausführlich zu sämtlichen „čerkassischen Fürsten“, die von dieser neuen „Praxis der Ausreise“ bis ins 18. Jh. (institut vyezda) Gebrauch machten: D zamichov , „V službe i oborone …“, 169 – 224, zu Michail (Soltan) Temrjukovič 178; M al ’bacha /D zamichov , Kabarda vo vzaimo-­otnošenijach Rossii s Kavkazom, 37. 67 Lediglich im Falle abgeänderter Bündnisse, wie bei Fürst Sibok, der sich dafür entschied, mit den Polen statt mit den Zarentruppen gegen osmanisch-­krimtatarische Angriffe zu kämpfen, verließen die kabardinischen Fürstensöhne, die in den Zarendienst übergetreten waren und sich hatten taufen lassen, fluchtartig das Moskauer Reich. So floh Siboks Sohn Kudadek (Aleksandr) 1563 aus Moskau nach Polen. Iz Nikonovskoj letopisi o snošenijach adygejcev, kabardincev i čerkesov s Moskvoj i o prisoedinenii Kabardy k Rossii v 1557. In: KabRO Bd. 1, Nr. 1 (Aug. 1555), 4, sowie Fn. 5, 390. 68 D zamichov , „V službe i oborone …“, 76 – 79.

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Der Beginn der Moskauer Geiselhaltung im Nordkaukasus Analog zu den bereits etablierten Praktiken der Unterwerfungspolitik an den östlichen Grenzen nahm das Moskauer Reich fortan alle starken Parteien des Nordkaukasus in den Blick. So viele Anführer und Fürsten wie möglich wurden per Eidleistung ‚unter die zarische Hand‘ in die Untertanenschaft überführt. Bei ‚Ungehorsam‘ erfolgten militärische Feldzüge, die Parteien wurden gegeneinander ausgespielt. Zur Absicherung dieser multilateral ausgelegten Politik im Nordkaukasus machte sich die Moskauer Seite erstmals in der Geschichte ihres Reichsaufbaus jene Methode zu eigen, die den Kabardinern zuvor von der osmanisch-­ krimtatarischen Erfahrung her schon überaus vertraut war: die Geiselhaltung. Statt gegenüber den 1550er Jahren eine erstaunliche „Wende“ in der Geiselhaltung zu sehen (Fatima A. Ozova) oder gar eine „Zweistufigkeit“ der Praxis zu entdecken (Georgij A. Kokiev), kann für 1588 vielmehr erst von einem Beginn der Geiselhaltung gesprochen werden.69 Erneut ist die Begriffsgeschichte dienlich, um sich dem Verständnis der Zeitgenossen zu nähern – in ­diesem Fall dem Verständnis, was auf Moskauer Seite genau mit dem Terminus ‚Geisel‘ gemeint wurde. Der zunächst für Geisel dominierende Begriff eines zaklad taucht im kabardinischen Kontext das erste Mal in der Eidleistungsurkunde von 1588 auf.70 Demnach werde man gegen die „Ungehorsamen“ (na našich neposlušnikov) militärisch ziehen, sie „zum Gehorsam zwingen“ und anschließend Geisel einfangen (i zaklady u nich ­poimati). Die Geisel (zaklady) werde man in die Tersker Stadt „zur Bekräftigung“ nehmen (dlja ukreplen’ja vzjati), „damit sie [die Kabardiner] vom Krim-­Chan und vom Ševkal abfallen“ (čtob oni ot Krymskogo i ot Ševkala otstali) und stattdessen 69 Es lässt sich darüber streiten, ob statt 1588 nicht 1586 als das Datum erster Geiselstellung im Moskauer Reich zu benennen ist. In ­diesem Jahr hatten das Oberhaupt der Großen Nogaier Horde, Bij Urus, und eine Reihe nogaischer Mirza sich bereit erklärt, als Zeichen ­­ ihrer erneuerten Protektoratsbeziehung mit Moskau Geisel nach Astrachan zu entsenden. Allerdings schickten sie die Geisel nicht an den Voevoden von Astrachan’, Fürst F. M. Lobanov, wie es sich eigentlich gehört hätte, sondern an den krimtatarischen ‚Thronanwärter‘ Murad-­Girej, der zu d­ iesem Zeitpunkt als zarischer Untertan in Astrachan weilte und die Moskauer-­Nogaische Annäherung erreicht hatte. Er selbst unterstand der Aufsicht des zarischen Voevoden, insofern unterstanden indirekt auch die nogaischen Geisel der Moskauer Aufsicht. Gleichwohl etablierte sich mit dieser Geiselstellung noch nicht das Modell, wie es sich zwei Jahre s­ päter durchsetzte. ­T repavlov , Istorija Nogajskoj Ordy, 626. – So oder so befanden sich die Nogaier wie Kabardiner und neben ihnen auch die Kumyken und erst recht die Krimtataren seit langem in einem ständigen und konfliktreichen Austausch mit dem Osmanischen Reich, so dass sie alle mit der Geiselpraxis schon lange wohl vertraut waren, als auch das Moskauer Reich die Methode in der eigenen imperialen Kultur einführte. 70 Posol’vstvo v Moskvu Čerkasskich knjazej Mamstrjuka i Kudeneka murzy „ot vsej Kabardinskoj čerkaskoj zemli“. In: B elokurov (Hg.), Snošenija Rossii s Kavkazom, Nr. 5 (1588), 50 – 51.

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„in unserem zarischen Sold und Dienst stehen“ (v našem carskom žalovan’e i v službe).71 Wichtig waren an dieser Eidleistung mehrere Elemente. So wurde erst ‚der Gehorsam‘ erzwungen und wurden dann Geisel „zur Bekräftigung“ genommen, nicht aber Menschen gefangen gesetzt, um dadurch die Unterwerfung zu vollziehen. Andernfalls hätte es sich um Gefangenschaft, nicht aber um Geiselnahme im Sinne der Leibpfandhaltung gehalten. Weiterhin begründete man die Geiselhaltung damit, dass mit ihr die Loyalität gegenüber dem Zaren abgesichert und der Abfall zum Krim-­Chan oder an den kumykischen Ševkal verhindert werden sollte (Leibpfand). Schließlich wurde angewiesen, die Geisel auf der Moskauer Festung Tersk zu halten ‒ eine Vorgehensweise, die sich deutlich von der tatar-­mongolischen Art der Geiselhaltung am Hofe des Chans unterschied. Mit zaklad hatten die Moskauer Diplomaten einen Begriff für ‚menschliches Pfand‘ eingeführt, der zuvor seit dem 14. Jahrhundert als Äquivalent zum lateinischen pignus (Pfand) für ausschließlich sachliche Pfandrechtsarten, wie Besitz-, Faust- oder Nutzungspfandrecht verwandt worden und vom russischen sächlichen Pfandbegriff (zalog) kaum abzugrenzen war. Seit den späten 1580er Jahren sollte er nun auf die Bezeichnung auch menschlicher Leibpfänder ausgedehnt werden, wenn auch nur für rund ein halbes Jahrhundert.72 Genau diese Analogie, mit der sich der Pfandbegriff fortan auf Menschen wie auf Sachen beziehen sollte, beschreibt markant den Charakter, der die Geiselhaltung im ausgehenden 16., im 17. und auch noch im beginnenden 18. Jahrhundert im Russländischen Reich kennzeichnete (und vermutlich auch für die Zeit der Kiever Rus’ galt): Menschen waren wie Sachen an einem vereinbarten Ort für eine vereinbarte Frist ‚aufzubewahren‘, um politischen Forderungen Nachdruck 71 Ebd. – Dzamichov versäumt es in seiner sonst präzisen Analyse der kabardinisch-­russländischen Beziehungen der Jahre 1550 – 1590, die Geiselstellung zu berücksichtigen, obwohl dies für seine These, wonach erst ab Januar 1588 von einem Eintritt kabardinischer Fürsten in die russländische Untertanenschaft gesprochen werden könne, hilfreich wäre. D zamichov , „V službe i oborone …“, 76 – 85. 72 Im Lateinischen blieb pignus (Pfand) hingegen durchgehend auf Sachen beschränkt, während obsides den menschlichen Geisel bezeichnete. – I. I. Sreznevskyj und R. I. Avanesov kannten gar nicht die Verwendung von zaklad für Menschen als Leibpfänder, sondern zitieren ausschließlich Belege für den Pfandbegriff im Zusammenhang mit Sachen. Sreznevskij, Materialy dlja slovarja, Bd. 1, 918; Avanesov, Slovar’ drevnerusskogo jazyka, Bd. 3, 308.– Bei Max Vasmer gibt es ebenfalls keinen Eintrag zu zaklad. – Im Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 5, Moskau 1978, 210 hingegen finden sich zahlreiche Verwendungen für den auf Menschen bezogenen Pfandbegriff mit Belegen aus dem ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh. – Prominent vertreten ist der auf Menschen bezogene Pfandbegriff zaklad ab 1589 bis ca. 1630 auch in den Dokumenten zu Russlands Beziehungen zum Kaukasus: Belokurov (Hg.), Snošenija Rossii s Kavkazom, z. B. auf den Seiten 102/103 (1589), 121, 130, 136, 181, 366, 425, 530 (1610 – 1614). Vgl. auch Pollock, „Thus We Shall Have Their Loyalty“, 141. – Zur Ablösung des zaklad-­Begriffes Anfang des 17. Jh. weiter unten.

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zu verleihen. Und genau ­dieses Verständnis lag der Geiselhaltung zu Grunde, wie sie im imperialen Kontext des Russländischen Reiches bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein praktiziert wurde. Sie unterschied sich damit wesentlich von der im antiken Rom oder im tatar-­mongolischen Saraj praktizierten Form. Eine wesentliche Voraussetzung für die Einführung der Geiselhaltung auf russländischer Seite (nach osmanischem Vorbild) war der Festungsbau. Festungen, Vorposten, Redouten und Wälle anzulegen, gehörte seit langem mit zum wichtigsten Expansionsinstrument des Moskauer Großfürstentums und späteren Moskauer Reiches. Es kam sowohl bei der Eroberung Sibiriens und des Fernen Ostens als auch in den südlichen Steppen und im Nordkaukasus zum Tragen.73 So war ein Jahrzehnt nach der Aufnahme einzelner kabardinischer Fürsten in den Zarendienst und dem Abschluss eines Militärbündnisses mit Fürst Temrjuk Idarov in den 1550er Jahren die Zarenregierung gern der Bitte Fürst Temrjuks nachgekommen, ihre militärische Machtbasis am Fuße des Nordkaukasus zu verankern. Am Fluss Terek erbaute sie 1567 die erste Moskauer Befestigung.74 Der Ort war gut gewählt: Die Festung stand mit seiner Lage an der Mündung des Flusses Sunži in den großen Terek an einer strategisch wichtigen Wegkreuzung, genannt ‚der Osmanische Weg‘, ­zwischen Nord-­Süd- und Ost-­West-­Verbindungen im Nordkaukasus. Die Festung brachte für den krimtatarischen Chan und den osmanischen Sultan das Fass zum Überlaufen: Nicht länger wollten sie Moskaus Einmischung in einer Region hinnehmen, die als fester Bestandteil der eigenen Einflusszone angesehen wurde. Für mehr als zwei Jahrzehnte entbrannte ein Kampf um diesen Knotenpunkt und die Festung musste 1571/1572 sowie nochmals 1578 abgetragen werden.75 Am Ende setzte sich die Moskauer Seite durch. Ihr gelang nicht nur 1588 die Wiedererrichtung der Festung, sondern auch die feste Ansiedlung von Kosaken in ihrer Umgebung.76 Ein Jahr s­ päter setzte die Einrichtung eines speziellen Hauses für die Geisel, die innerhalb der Festung Tersk zu leben hatten, den Schlussstein für die im Moskauer Reich neu eingeführte Methode der Herrschaftskonsolidierung.77 Fortan 73 Vertieft zum Einsatz von Festungen und Festungslinien im Zuge imperialer zarischer Expansion in Kapitel 4.2. 74 Die Bitte, eine Stadt zum Schutz vor Feinden zu errichten, hatten kabardinische Fürsten bereits 1566 geäußert. Prodolženie Aleksandro-­Nevskoj Letopisi. In: PSRL Bd. 29, Moskau 1965, 353 (1566); Iz dopolnenij k Nikonovskoj letopisi o (…) postrojke russkoj kreposti u ust’ja r Sunži i dr. In: KabRO Bd. 1, Nr. 4 (Dez. 1566), 13; Kuševa, Politika russkogo gosudarstva na severnom Kavkaze, 275 ff. 75 Gramota carja Ivana Vasil’eviča tureckomu sultanu Selimu s soobščeniem o snose Terskogo goroda i ob otkrytii „astrachanskkoj dorogi“. In: KabRO Nr. 16 (März 1571), 27 – 29, hier 27. 76 B gažnokov /D zamichov , Temrjuk Idarov i voenno-­političeskij sojuz Kabardy i Rossii, 54 – 63. 77 O zova , Institut amanatstva v Kabarde, 58 – 87, hier 59. – Erst im 17. Jh. sollten diese Häuser die Bezeichnung ‚Geiselhof‘ (amanatynj dvor) erhalten.

Abb. 2: Die Festung Tersk am Terek ­zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer ­zwischen Kumyken und Kabardinern im Nordkaukasus des 18. Jahrhunderts

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sollten sämtliche Geisel im ganzen Reich so, wie im Falle der Tersker Festung, am Rande eroberter, annektierter oder noch zu annektierender Gebiete des Russländischen Reiches gehalten werden. Mit diesen Einrichtungen konnten drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Erstens erleichterte die räumliche Nähe zum angestammten Siedlungsgebiet der unterworfenen ethnischen Gruppen den Austausch der Geisel, der in regelmäßigen Abständen vorgesehen war. Zweitens hatten die Angehörigen der Geisel auf diese Weise unkompliziert die Möglichkeit, sich des Wohlergehens der Verwandten von Zeit zu Zeit zu versichern. Von derartigen Besuchen erhoffte sich die russländische Seite mehr Erfolg bei der Durchsetzung ihrer Forderungen. Drittens schließlich ließ sich die ohnehin vorhandene militärische Festungsbesatzung auch zur Geiselüberwachung n­ utzen, so dass eine Wache nicht erst kostspielig herangeschafft zu werden brauchte. Tersk (Terskij gorod) wurde als Ort der Geiselhaltung sogar zum Voevodensitz bestimmt und blieb für rund anderthalb Jahrhunderte der wichtigste Ort imperialer Politik des Zarenreiches im Nordkaukasus. Den Machtkampf unter den kabardinischen Fürsten, der nach dem Tod des Bruders von Fürst Temrjuk Idarov, Fürst Kambulat Idarov, 1589 entbrannt war, verschaffte der Moskauer Position neue Spielräume. Ab dem September 1589 setzte die Zarenregierung durch, dass sämtliche kabardinische Teilfürsten, selbst die Familie der Idarovs, und auch sonstige einflussreiche Familien des politischen Lebens der Kabardei regelmäßig Geisel zu stellen hatten.78 Das Moskauer Reich verfolgte damit eine politische Strategie, die es s­ päter auch jenseits des Nordkaukasus in anderen Peripherien des Reiches einsetzte: Es ging um das Bemühen, mittels der Geisel aus verschiedenen Familien auf einen großen Anteil der politischen Elite unterworfener ethnischer Gruppen Druck auszuüben und mithin in die Lage versetzt zu werden, deren (außen-)politischen Kurs mitzubestimmen.79 Angesichts des interimperialen Ringens um die Kabardiner ­zwischen dem Osmanischen Reich, dem Krim-­Chanat, Persien und dem Moskauer Reich sowie angesichts der internen Differenzen unter den kabardinischen Fürstenfamilien war die Einflussnahme auf deren außenpolitische Orientierung eine besondere Herausforderung. So musste die Zarenregierung hier mit Ärger zur Kenntnis nehmen, dass ethnische Gruppen in frontier-­Gebieten es gewohnt waren, mehrere Loyalitäten gleichzeitig zu pflegen: Einige der kabardinischen Fürsten ließen sich nicht davon 78 Otpiski iz Terskago goroda voevody knjazja Andreja Chvorostinina. In: Belokurov (Hg.), Snošenija Rossii s Kavkazom (1578 – 1613 gg.), Nr. 10 (1589), 73 – 82; O zova , Institut amanatstva v Kabarde, 63. 79 Diese Strategie spielte besonders in der russländischen Politik des 18. Jh. gegenüber den Kasachen der Kleinen und Mittleren Horde eine große Rolle, als Qing-­China, die Dsungaren und das Zarenreich um Einfluss über die kasachischen Horden rangen. Ausführlich zur russländischen Geiselpraxis gegenüber den Kasachen weiter unten.

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abbringen, trotz der Geiselstellung an den Zaren weiterhin enge Beziehungen zum Krim-­Chan und zum kumykischen Šamchal zu unterhalten und auch diesen Herrschern Geisel als Pfand für friedfertige Beziehungen zu entsenden.80 Gleichwohl wurde die Geiselhaltung im Verbund mit dem Festungsbau als eine derart erfolgreiche Methode angesehen, um den machtpolitischen Anspruch des Moskauer Reiches auf die Kabardiner zu untermauern und auszubauen, dass sie auch auf den Umgang mit anderen ethnischen Gruppen übertragen wurde und zu einem Grundpfeiler zarischer imperialer Politik gegenüber Nicht-­Christen avancierte. Die Treueide, die Moskau die Anführer unterworfener ethnischer Gruppen auch weiterhin schwören ließ, blieben zwar nach wie vor der wichtigste Moment, um die Unterstellung in den zarischen Herrschaftsverband zu vollziehen. Erst mit der Geiselstellung aber wurde die Moskauer Suprematie auch nach außen hin sichtbar. Die Sichtbarkeit konnte zum einen gegen imperiale Rivalen eingesetzt werden, die sich dieselben ethnischen Gruppen untertänig machen wollten.81 Zum anderen konnte durch die physische Präsenz von indigenen Geiseln auf der Moskauer Seite eine viel stärkere Wirkung innerhalb der unterworfenen ethnischen Gruppen erzielt werden, als dies mit Hilfe von Eidritualen und Gnadenurkunden möglich war. Fortan bildete daher die Forderung, Geisel zu erhalten, für die Moskauer Regierungen einen unverzichtbaren Bestandteil der Aufnahme oder Unterwerfung neuer ethnischer Gruppen im Süden und Osten des Reiches. ‚Untertanenschaft‘ im imperialen Kontext des Südens und des Ostens ergab sich künftig genauso sehr aus dem Schwur wie aus der Übergabe von Söhnen oder Brüdern der Herrscher. Treueide und Geiselstellungen wurden zu zwei Seiten einer Medaille. Dies galt für die Unterwerfungsverhandlungen mit dem kumykischen Šamchal Ende des 16. Jahrhunderts 82 genauso wie für die Regelung der ‚Untertanenschaft‘ 80 Posol’vsto v Gruziju kn. Semena Zvenigorodskago, diaka Torcha Antonova, Troicy S ­ ergieva monastyrja sobornago starca Zakcheja i drugich. In: Belokurov (Hg.), Snošenija Rossii s ­Kavkazom, Nr. 12 (1589 – 1590), 84 – 181, hier 137; P ollock , „Thus We Shall Have Their ­Loyalty“, 152 – 153, 155. 81 T oropicyn , Institut amanatstva, 72. 82 Das kumykische Oberhaupt, genannt Šamchal’, gehörte im späten Mittelalter zu den mächtigsten und einflussreichsten Herrschern nicht nur Dagestans, sondern des ganzen Nordkaukasus und wurde von den Mongolen mit der Eintreibung des Tributs in der Region beauftragt. Nach dem Zerfall der ‚Goldenen Horde‘ lavierten die Šamchali ­zwischen dem Osmanischen Reich und Persien, sowie ab dem ausgehenden 16. Jh. ­zwischen diesen beiden und dem Moskauer Reich. Plastisch wird das Ringen um Einfluss auf die Kumyken, das bis ins 18. Jh. anhielt, anhand des kumykischen Stempels, auf dem auf der einen Seite eine Inschrift die persische und auf der anderen Seite die russländische Untertanenschaft benannte. G adžiev , Rol’ Rossii v istorii Dagestana, 85. – Die Verhandlungen mit dem Šamchal zur Eidleistung gegenüber dem Moskauer Zaren und der Geiselstellung an die Tersker Festung scheiterten. K uševa , Politika russkogo gosudarstva na severnom Kavkaze, 284; Priezd v Moskvu Kabardin, čerkas. Muryz Sjunčaleja Janglyčeva, uzdenej

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der Baschkiren, Nogai-­Tataren und Kalmücken (im 17. Jahrhundert), der Kirgisen und Kasachen (im 18. Jahrhundert) im Süden und Südwesten und für die Unterwerfungen der Ostjaken, Nenzen und anderen samojedischen ethnischen Gruppen, der Jakuten, Burjaten, Jukagiren, Čukčen, Itel’menen und Korjaken in West- und Ostsibirien, in Fernost sowie der Tlinkity-­Indianer und anderer einheimischer ethnischer Gruppen in Russisch-­Alaska.83 Die Geiselherbergen wurden seit Anfang des 17. Jahrhunderts im Nordkaukasus, in den südlichen Steppengebieten und an der Wolga Geiselhöfe genannt (amanatnyj dvor). In den Wäldern Sibiriens und in Fernost waren es einfache Blockhütten (iz’ba).84 In diesen schlichten Behausungen, die sich innerhalb kleiner oder größerer umzäunter Holzhaussiedlungen (zimov’e oder ostrožek) befanden, hatten sich die Geisel in Sibirien und Fernost fortwährend aufzuhalten.85 Lokale Dienstleute hatten sie auf Kosten des Staates mit einem Minimum an Essen und Kleidern zu versorgen, doch war Missbrauch weit verbreitet. Oft genug wurden Geisel betrogen, geschlagen oder mit Aas ernährt. In anderen Fällen, wie zuweilen in Fernost, überließ man die Ernährung den Angehörigen der jeweiligen ethnischen Gruppe.86 Kamen die Angehörigen ihrer Tributpflicht nicht nach, konnten Geisel auch verhungern. Zum Tod der Geisel führten oft allein schon die veränderte Lebensweise in den Geiselhöfen und der Kontakt mit Krankheitskeimen der russländischen frontier-­Gesellschaft, insbesondere der Pocken.87

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kn. Solocha i Kazyja Šepšukova i ot Ševkalovych detej Surkaj-­Ševkalova i Saltan-­Magmutova poslov Ibreima i Derbyša [1603]. In: Belokurov (Hg.), Snošenija Rossii s Kavkazom (1578 – 1613 gg.), Nr. 22, 365 – 372. Belege für den Einsatz der Geiselhaltung bei sämtlichen genannten ethnischen Gruppen folgen weiter unten. Im Gebiet der Mittleren Wolga werden in den 1640er Jahren die ersten Geiselhöfe erwähnt. „Carskij“ nakaz kazanskim voevodam G. I. Morozovu i I. A. Chilkovu ob upravlenii gorodom i uezdom. In: V. D. Dimitriev: „Carskie“ nakazy kazanskim voevodam 17 veka, 3 (1974), 284 – 419, Nr. 2 (16. 5. 1649), 290 – 315, hier 293, Punkt 6; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 160. Handelte es sich um ein größere, befestigte Ansiedlung wurde sie ostrog genannt. S afronov , Russkie na severo-­vostoke Azii, 87 – 88. Prikaz kapitana Beringa komissaram i upraviteljam kamčatskich ostrogov ot 11 ijulja 1728g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, Nr. 8 (11. 7. 1728), „Report“ šturmana Gensa kapitanu Pavluckomu, mart 1732g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, Nr. 26 (März 1732), 78; Instructions from Catherine II and the admiralty College to Captain Lieutenant Joseph Billings for his Expedition [1785 – 94] to Northern Russia and the North Pacific Ocean. In: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 47 (1785), 268 – 290, hier 284; ­Bachrušin, Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17.v., in: Naučnye trudy, Bd. 4, 48 – 49. Vypiska iz raportov orenburgskogo voennogo gub-­ra S. K. Vjazmitinova gen.-prokuroru gr. A. N. Samojlovu o merach k prekraščeniju peregonov skota kazachami v nedozvolennye mesta. In: MpiK SSR Nr. 55 (13. 2. 1796), 185 – 186; Predstavlene general-­majora Ja. Bouvera Ekaterine II o položenii del v Srednem žuze i o merach ulučšenija torgovli i razvitii osedlosti. In: KRO Bd. 2, Nr. 83 (9. 4. 1795), 143 – 148; S afronov , Iz istorii jakutskoj ssylki.

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Die Geiselhaltung als imperiales und koloniales Instrument

In der türkisch beeinflussten nordkaukasischen Kabardei hatte die Geiselhaltung des Moskauer Reiches nicht nur ihren Anfang genommen und ihre charakteristische Ausgestaltung erfahren. Darüber hinaus schlug sich die osmanische Prägung in der Rezeption eines neuen Begriffes für die Leibpfänder nieder. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert kam im Moskauer Reich der amanat-­Begriff zur Bezeichnung von Geisel auf, ein Terminus, der zaklad allmählich verdrängte und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein prominent im Gebrauch blieb. Aus amanat leitete sich s­ päter der Begriff amanatstvo für die Methode als Ganzes ab. Erneut muss an dieser Stelle betont werden, dass sich der Begriff amanat eben nicht aus der Zeit der tatar-­mongolischen Oberherrschaft vom 13. bis 15. Jahrhundert erhalten hat. Vielmehr stammt sein erster Nachweis im Moskauer Reich von 1586, auch wenn er erst in den Jahren ­zwischen 1610 und 1614 gängig wurde.88 Im Gegensatz zu tal’ und zaklad ist der neue Geiselbegriff nicht slawischen, sondern arabischen Ursprungs. Das Osmanische Reich rezipierte vermutlich den Begriff (wie möglicherweise auch die Praxis) von den Abbasiden, deren Dynastie die Osmanen mit ihrer Eroberung des Khalifats von Kairo 1517 endgültig beendet hatten. Im Khalifat der Abbasiden war es üblich gewesen, dass unterworfene nomadische ethnische Gruppen als Garantie für zuverlässige Tributzahlung Geisel aus den Familien ihrer höchsten Würdenträger zu stellen hatten, die in regelmäßigen Abständen auszutauschen waren. Von einer gezielten politischen Instrumentalisierung im Sinne der tatar-­ mongolischen Geiselhaltung ist im abbasidischen Kontext hingegen nichts bekannt.89 88 Die wohl erstmalige Verwendung von omonat (eine frühe Form des späteren amanat) findet sich bereits 1586 im Kontext der Unterstellung der Großen Nogaier Horde unter die zarische Herrschaft, allerdings erfolgte sie gegenüber dem zum Moskauer Untertan gewordenen krimtatarischen Thronanwärter Murad Girej, der selbst unter zarischer Aufsicht in Astrachan’ weilte und ist daher nur bedingt als der Beginn der üblichen Moskauer Geiselpraxis anzusehen. Trepavlov, Istorija Nogajskoj Ordy, 626, 646. – N. M. Šanskij verweist in seinem etymologischen Wörterbuch auf die erste Erwähnung von amanat in Form von amonat im Jahr 1611. Šanskij (Hg.), Ėtimologičeskij Slovar’ Russkogo Jazyka, Bd. 1, 89. Der Beleg findet sich laut der Kartoteka Srednerusskogo slovarja Instituta russkogo jazyka Akademii Nauk SSSR in Moskau in der Sobranie ­gosudarstvennych gramot i dogovorv kollegii inostrannych del II, 565. – Siehe außerdem: O snošenijach Terskago voevody Petra Golovina s Gireem, Saltan-­Magmutom i dr. Kumyckimi knjaz’jami [1610 – 1614]. In: Belokurov (Hg.), Snošenija Rossii s Kavkazom, Nr. 30, 530 – 544, hier, 530: priezžal na Terek iz Kabardy ot Šolocha knjazja syn’ ego Chorošaj murza peremenjati s Terki syna že ego, a svoego brata, Taltaslana murzy, kotroyj byl na Terke v amanatech. – Laut Slovar’ Russkogo Jazyka XI‒XVII vv. datiert der früheste Beleg für amanatčik (eine Abwandlung von amanat) von 1614. Ebd., Bd. 1, 34. – Mehrere Dokumente im ersten Quartal des 17. Jh. zeugen von der vorübergehenden parallelen Verwendung von zaklad und amanat. Iz dela o posol’stve v 1609 – 1614gg. v Moskvu Gorddana Indorokova ot kabardinskogo knjazja Šolocha Tapsarukova. In: KabRO 1, Nr. 53 (9. – 18. 9. 1614), 85 – 87; Russko-­čečenskie otnošenija, Nr. 49 (nicht ­später als 4. 10. 1628), 111 – 113. – Die Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija geht fälschlicherweise davon aus, der Begriff amanat schon in der „alten Rus’“ verwandt worden sei. Ebd., Bd. 2 [1926], 374. 89 Z achoder , Istorija vostočnogo srednevekov’ja, 80.

Die Herausbildung der Geiselhaltung im Moskauer Reich

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In der Turksprache wurde der arabische Begriff zu amānat und ämanät abgewandelt.90 Die sprachliche Entlehnung aus dem osmanisch-­türkischen Raum lag dabei seit den engen Beziehungen Moskaus zur Kabardei nahe, befand sich doch diese seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in großer Verbundenheit zum Krim-­ Chanat und zum osmanischen Sultan. Zudem war die osmanisch-­türkische Sprache längst zur Lingua franca einer Großregion avanciert, seit das Osmanische Reich sich territorial derart ausgedehnt hatte, dass es zeitweilig von Bagdad bis Belgrad und von Kairo bis zur Krim reichte. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts waren dabei kontinuierlich arabische (und persische) Elemente in die osmanisch-­türkische Sprache aufgenommen worden – so auch der Begriff amanat.91 Doch auch wenn die Kabardiner und die meisten Steppenvölker des Südens mit der Geiselhaltung aus dem osmanischen Kontext zur Regelung politischer Beziehungen überaus vertraut waren, waren längst nicht alle Fürstenfamilien oder Anführer dieser ethnischen Gruppen gleich zur Geiselstellung an den Moskauer Zaren bereit. Der kabardinische Fürst Alkas etwa versuchte im September 1589 die Geiselstellung mit den Worten zu verhindern: „Ich habe ein hohes Alter erreicht und bislang wurde meinem Wort in jeder Angelegenheit geglaubt, und ich habe noch niemals einen Eid geleistet oder irgendjemandem einen Geisel gegeben.“ 92 Die Moskauer imperiale Elite durchschaute freilich den Bluff eines Taktikers, von dem sie über andere kabardinische Fürsten wusste, dass er mit dem kumykischen Ševkal bereits einen regen Geiselaustausch unterhielt.93 Sie blieb hartnäckig und hatte am Ende Erfolg. Gleichwohl konnte sie die Geiselstellung nur mit erheblichen Zugeständnissen durchsetzen: Fürst Alkas verlangte dafür freien Zugang zum Fischfang und zur Tierjagd in Flüssen und Ländereien der Region, die Hilfe der freien Kosaken und der Palastgarde des Zaren beim Durchqueren der Flüsse Terek und Sunža, die Verpflichtung der zarischen Truppen, Fürst Alkas’ Feinde zu bekämpfen und schließlich ein Jahresgehalt in derselben Höhe, wie es die anderen kabardinischen Fürsten erhielten.94 90 Zur Etymologie von amanat V asmer , Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, 16; ­M iklosich , Die Türkischen Elemente, 247; R adloff , Versuch eines Wörterbuches der Türkdialekte, Bd. 1, 946 und 644; R äsänen , Versuch eines etymologischen Wörterbuches; A nikin , Russkij ėtimologičeskij slovar’, Bd. 1, Art. amanat. 91 Edward Keenan vermittelt eine Anschauung vom Zentralasiatisch-­Türkischen als der Diplomatiesprache für den mongolisch-­turkstämmigen Raum schlechthin, das gleichsam als ,das Latein‘ der Welt von Kairo bis Peking und von Wilna bis Delhi zu bezeichnen ist. K eenan , Muscovy and Kazan. 92 Posol’vsto v Gruziju kn. Semena Zvenigorodskago, diaka Torcha Antonova, Troicy Sergieva monastyrja sobornago starca Zakcheja i drugich. In: Belokurov (Hg.), Snošenija Rossii s ­Kavkazom, Nr. 12 (1589 – 1590), 84 – 181, hier 143. 93 Ebd., 136. 94 Ebd., 141 – 144; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 58.

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Bei derart weitgehenden Zugeständnissen der Moskauer Seite drängt sich der Eindruck auf, es habe sich bei der Geiselnahme primär um ein Tauschgeschäft gehandelt.95 Dieser Eindruck aber trügt. Er verschleiert das wahre Machtverhältnis. Die Frage war nämlich in aller Regel nicht, dass Geisel dem Moskauer Reich zu stellen waren, die Frage war bloß, wen und unter ­welchen Bedingungen.96 Dabei gingen die Zarenunterhändler so pragmatisch vor, wie sie dies schon bei der Überführung ethnischer Gruppen im Süden und Osten in die russische und russländische Untertanenschaft getan hatten.97 Häufig stellten sie Geschenke und Geldzahlungen in Aussicht, um einen Durchbruch in den Verhandlungen zu erreichen und den Treueid und die Geiselstellung zu erwirken. Die Vergabe von Bargeld, ­Wollsachen, Fellen und Luxusgütern diente dabei nicht nur als Bestechungsinstrument. Die Geschenke sollten auch dazu führen, andere Fürsten und ethnische Gruppen anzuziehen, die sich noch nicht dem ‚mächtigen, aber gnädigen Herrscher‘ des Russländischen Reiches unterworfen und noch keine Geisel gestellt hatten.98 Unnachgiebig zeigten sich die Dienstleute des Zaren nur in einer Forderung: Es wurden ausschließlich Geisel aus den angesehensten Familien akzeptiert. Diese definierten sich durch ihre Autorität, ihren Reichtum und ihre Anzahl innerhalb der indigenen ethnischen Gruppe.99 Ganz besonders bemühte man sich darum, Söhne oder Neffen der Herrscher zu erhalten. In Fällen, wo es mehrere Ehefrauen gab, wurde mit Akribie auf die Bedeutung der jeweiligen Mutterschaft für die Stellung 95 In vielen Fällen versuchte die indigene Seite, sich Moskauer Ansprüchen zu widersetzen, revoltierte oder handelte das aus ihrer Sicht bestmögliche Ergebnis aus. Auch dem kalmückischen Chan Cho-­ Urlük lag es bei seinem ersten Treffen mit Gesandten des Zaren im Jahr 1606 fern, das zarische Ultimatum zu akzeptieren, entweder den Treueid zu leisten und Geisel zu stellen oder aber das Land zu verlieren. Chan Cho-­Urlük befahl kurzerhand, die Moskauer Gesandten zu töten. Erst ein halbes Jahrhundert s­ päter stimmten die Kalmücken-­Anführer Puntsuck und Manjik auf nachhaltigen Druck der Zarenregierung der Entsendung von vier Geiseln nach Astrachan zu. Eine derart langjährige und erfolgreiche Verweigerung, der Zarenregierung Geisel zu stellen, blieb allerdings in der russländischen Politik der Geiselnahme die Ausnahme. Gramota iz Prikaza Kazanskogo dvorca tarskomu voevode I. V. Mosal’skomu o posylke k kalmyckomu tajše Cho-­Urljuku kazaka T. Alekseeva, o privedenii k šerti kalmyckich tajšej i o razrešenii bucharskim kupcam torgovat’ v sibirskich gorodach. In: RMongO Bd. 1 Nr. 4 (5. 3. 1608), 28 – 29; Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier, 57 – 58. 96 So geht Pollock zu weit, wenn er Verhandlungen rund um die Geiselstellung und den Geiselaustausch gleich als Beleg dafür nimmt, dass der ganze russländische Imperiumsaufbau im Kaukasus ein ‚ausgehandelter Prozess‘ war. Manche Modalitäten unterlagen der Verhandlung, die Geiselstellung als ­solche jedoch nicht. Zudem wurden die Verhandlungen bis auf den Fall der Tlinkity-­ Indianer, auf den noch s­ päter eingegangen wird, nicht auf Augenhöhe geführt, weil immer feststand, dass die indigene, nicht aber die zarische Seite Geisel zu stellen hatte. P ollock , „Thus We Shall Have Their Loyalty“, 154 – 159. 97 Vgl. Kap. 1. 98 Ausführlich zur Taktik der russländischen Gabenkultur in Kap. 4.6. 99 „Carskij“ nakaz kazanskim voevodam G. I. Morozovu i I. A. Chilkovu ob upravlenii gorodom i uezdom. In: Dimitriev, „Carskie“ nakazy kazanskim voevodam 17 veka, 293 – 294.

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des Geisels innerhalb der Clanhierarchie geachtet.100 Der übrige Verhandlungsspielraum, den die Dienstleute des Zaren den Fragen einräumten, wer als Geisel gestellt, für wie lange er bleiben und ­welche Geschenke, welches Gehalt oder ­welche politischen Zusagen gegeben werden sollten, hing zum einen von der Machtposition des Geiselstellers ab: Je politisch gewichtiger und militärisch relevanter die Geiselsteller waren, desto größer gestaltete sich deren Verhandlungsspielraum.101 Zum anderen bestimmten die je nach Region variierenden Interessen der Moskauer Seite, wie nachgiebig sich die zarischen Unterhändler zeigten.

Regionale Spezifika der Moskauer Geiselhaltung Im Nordkaukasus dienten die Geiselstellungen der Absicherung der politischen Loyalität gegenüber dem Zarenreich und waren vor allem als Abwehr gegenüber der imperialen Konkurrenz aus Persien, der Krim und dem Osmanischen Reich gedacht. In den südlichen Steppen erhoffte sich die russländische Seite neben der politischen Loyalität die Einhaltung von Vereinbarungen – vor allem die Beendigung von Überfällen auf russländische Siedlungen und Karawanen. Die Geiselnahmen bei den Baschkiren zielten auf ein Ende ihrer Aufstände. In Sibirien und Fernost dienten die Geisel als Anreize für die regelmäßige Tributabgabe, den jasak. Gerade in Gegenden, in denen die nächste russländische Festung weit entfernt lag, bildeten die Holzhäuser mit den in ihnen einsitzenden Geisel den ‚natürlichen‘ Treffpunkt für die Ablieferung der Felle.

100 Protokol’naja zapis’ peregovorov načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva s chanom Abulchairom i drugimi kazachskimi feodalami, a takže s džungarskimi i karakalpakskimi poslami vo vremja ich priezda v Orsk. In: KRO Bd. 1, Nr. 96 (22. 9. 1742), 229 – 253, hier 248 – 249. 101 In der praktischen Realisierung des Geiselaustausches blieb allerdings ­zwischen beiden Parteien oft umstritten, was als ‚regelmäßiger‘ Austausch und was als Überschreitung der Vereinbarung oder der üblichen Frist galt. Manche Geisel gab die Moskauer Seite bereits nach zehn Tagen wieder zurück, andere nach einem oder drei Jahren, wieder andere mussten sieben bis zehn Jahre auf ihren Austausch warten. Wenn zahlreiche Bitten, die Geisel früher freizulassen oder sie gegen andere auszutauschen, die russländische imperiale Elite nicht einlenken ließen, dann versuchten Indigene oft selbst, die Angehörigen ihrer Sippe oder ihrer ethnischen Gruppe durch Überfälle auf die Festungen zu befreien oder mit Gegnern Moskaus in der Region zu paktieren. Zapis’ Posol’skogo prikaza o prieme carem Michailom Fedorovičem murz Budala Sunčaleevičej Čerkasskich s ob’’javleneiem o proščenii ich prostupkov o i vozvraščenii ich iz ssylki v Terskij gorod. In: KabRO Bd. 1, Nr. 137 (17. 4. 1642), 209 – 212; Promemorija Kollegii inostrannych del v Voennuju kollegiju o neobchodimosti posylki v kabardu majorov Barkovskogo i Tatarova dlja pereselenija kabardinskich vladel’cev kaškatovskoj gruppy s Baksana v Kaškatav. In: KabRO Bd. 2, Nr. 136 (30. 4. 1753), 186 – 187; Zapiska kizljarskogo komendanta N. A. Potapova kabardinskim vladel’cam o pričine ego nejavki v Mozdok. In: KabRO Bd. 2, Nr. 200 (31. 5. 1768), 276 – 277; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 54 ff.

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Aus den unterschiedlichen Interessen heraus erklärt sich die unterschiedliche russländische Vorgehensweise. Während in den meisten Fällen der Geiselnahmen in den südlichen Steppen wie im Nordkaukasus Möglichkeiten zur Verhandlung eingeräumt wurden, so dass man mit Blick auf diese Regionen von ‚Geiselverträgen‘ sprechen kann, sah die Vorgehensweise in der Geiselpraxis in Sibirien, Fernost und im Nordpazifikraum völlig anders aus. Hier handelte es sich um einseitige, gewaltsame Geiselnahmen, wie sie vom westlich geprägten Völkerrecht der Frühen Neuzeit inzwischen als ‚völkerrechtliche Repressalie in Friedenszeiten‘ gebrandmarkt worden waren. Nur in Kriegszeiten hielt man demnach Geiselnahmen noch für zulässig, und auch nur dafür, um die Bevölkerung eines besetzten Gebietes von Feindseligkeiten gegen die Besatzungsmacht abzuhalten.102 Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Zarenregierungen je Gedanken zur völkerrechtlichen Bewertung ihres Vorgehens bei der Geiselnahme machten. Die russländische imperiale Elite hegte keinen Zweifel daran, dass ihr Vorgehen zulässig war. Diese Einstellung hing entscheidend mit der Moskauer Sicht auf die zu unterwerfenden ethnischen Gruppen im Osten zusammen: Alle indigenen Bewohner, die hier nicht zur Eidleistung, Tributabgabe und Geiselstellung bereit waren, galten als „unfriedliche Ungläubige“ (nemirnye inovercy) oder als „Verräter“ (izmenniki).103 Sie widersetzten sich dem aus russländischer Sicht berechtigten Anspruch des Zaren auf die ihm zustehenden Untertanen und verweigerten den Gehorsam, der damit einherzugehen hatte. Zudem war mit ihrem ablehnenden Verhalten das Ziel gefährdet, die Staatseinnahmen durch weitere jasak-­Einzahler zu vermehren.104 Auf diese Weise vollzog sich die Geiselnahme in Ostsibirien, Fernost und im Nordpazifikraum in aller Regel mit roher Gewalt. Anders als im Falle der Kabardiner, Kasachen oder Baschkiren war es hier den Geiseln nicht erlaubt, sich innerhalb einer Festung frei zu bewegen. Vielmehr blieben sie in ihren Holzhäusern meist an Eisenketten gefesselt und mussten auf ihre Ernährung durch gutwillige russländische Dienstleute oder Angehörige ihres Clans oder ihrer ethnischen Gruppe hoffen. Vor allem hing die Frage, ob sie überlebten, davon ab, ob die Mitglieder ihres Clans oder ihrer ethnischen Gruppe zur Tributzahlung bereit waren. Aus der Hauptstadt ergingen zwar immer wieder Anweisungen, die Geisel pfleglich zu behandeln, sie gut zu ernähren und auf diese Weise die Angehörigen des Clans oder der ethnischen Gruppe zur Fellablieferung zu motivieren. Doch die Realität sah meist anders aus.105 102 L utteroth , Der Geisel im Rechtsleben, 176 – 178. 103 Während im 17. Jh. noch der Begriff inozemcy (‚Fremdländische‘) üblich war, wurde im 18. Jh. die Bezeichnung inovercy (‚Fremdgläubige‘) gängig, bevor sich Anfang des 19. Jahrhunderts der Begriff inorodcy (‚Fremdstämmige‘) durchsetzte. K appeler , Kak klassificirovali russkie istočniki. 104 F isher , The Russian Fur Trade, 53, 54, 59, 73. 105 Siehe z. B. die Dokumente in Kolonial’naja politika Moskovskogo gosudarstva, Nr. 41 (24. 9. 1640), 93 – 94; Nr. 43 (22. 9. 1645), 95 – 97; Nr. 187 (1645 – 46) 229 – 321; Nr. 19 (12. 10. 1648), 51 – 53;

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Vor Herausforderungen ganz besonderer Art sahen sich die Zarenvertreter gestellt, wenn die indigene Seite sich mit den aus ihren Reihen gestellten Geisel gar nicht verbunden fühlte, wenn sie sie im Stich ließ und das Weite suchte. Auf eine s­ olche Haltung trafen die russländischen Eroberer bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bei den Burjaten, den Korjaken und vor allem bei den in Fernost lebenden Čukčen.106 Die Čukčen hatten zuvor noch nie irgendjemandem Tribut gezahlt, geschweige denn Geisel gestellt. Die für Russländer so selbstverständliche Methode der Geiselnahme stieß daher bei den Čukčen auf völliges Unverständnis. Darüber hinaus erfüllten die Geisel dort auch in keiner Weise die Erwartungen, die von zarischer Seite in sie gesetzt worden waren. Statt sich um das Wohl des Čukčen-­ Sohnes Apa zu sorgen, der 1648 von zarischer Seite am Kolyma-­Fluss als Geisel ‚eingefangen‘ worden war, und statt fortan den Zarenvertretern die Tributabgabe (jasak) zu liefern, ließen sich weder Vater noch M ­ utter noch irgendwelche anderen Vertreter der Sippe oder der Čukčen überhaupt blicken.107 Andrej Zuev hat überzeugend darlegen können, dass Čukčen die Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe, wenn sie ihnen einmal von russländischer Seite als Geisel gewaltsam entrissen worden waren, als totengleich betrachteten, unabhängig davon, ob sie tatsächlich tot oder noch lebendig waren. Nach der Glaubens- und Weltanschauung der Čukčen führte es ‚zum guten Geist‘ und brachte den Angehörigen Glück, wenn jemand eines gewaltsamen Todes starb.108 Der Übergang in die zarische Geiselhaft wurde bereits mit dem Tod assoziiert. Auf diese Weise brauchte auf den Verlust derjenigen, die von russländischer Seite erfolgreich ‚geraubt‘ wurden, keine Rücksicht mehr genommen zu werden.109 Im Falle der Čukčen brach damit das Prinzip der Absicherung russländischer Expansion und Herrschaftsansprüche zusammen, das auf die Verbundenheit der Gruppenangehörigen mit den aus ihrer Mitte genommenen Geiseln setzte.110

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Nr. 196, vor dem 15. 7. 1679, 244. – B achrušin , Jasak v Sibiri v XVII v.: In: Naučnye trudy, Bd. 3, pt. 2, 49 – 85, hier 66 – 67; ders .: Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17.v. In: Naučnye trudy Bd. 4, 48 – 49. – Zur Geiselhaltung bei den samojedischen ethnischen Gruppen V eršinin : Russkaja kolonizacija Severo-­Zapadnoj Sibiri v konce XVI‒XVII vv. Ekaterinburg 2018, 395 – 400. Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“, 155 – 159; ders ., Prisoedinenie Čukotki k Rossii; ders .: Russkie i aborigeny na krajnem severo-­vostoke. Čelobitnaja amanata Kolymskogo ostroga Apa o začislenii ego tolmačom i razrešenii učastvovat’ v priiskanii „nejasačych zemlic“. In: Efimov/Orlova, Otkrytija russkich zemleprochodtcev, Nr. 82 (nicht vor 1. 9. 1648), 254 – 255. – Andrej Zuev führt noch zahlreiche weitere analog verlaufene russländische Geiselnahmen von Čukčen auf. Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“, 155 B ogoraz , Materialy po izučeniju čukotskogo jazyka i fol’klora; ders ., Čukči. Teil 2: Religija; V dovin , Priroda i čelovek; Z elenin , Obyčaj „dobrovol’noj smerti“ u primitivnych narodov. Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“, 156 – 158. Iz senatskoj spravki po materialam sekretnoj ėkspedicii. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, Nr. 60 (nicht vor 1748), 160 – 162.

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Die Geiselhaltung als imperiales und koloniales Instrument Abb. 3: Ein Čukčen-­Ehepaar mit Umhängen aus Rentierhaut mit Hunds- oder Wolfsfell. Im Hintergrund ein yaranga, ein großes Zelt aus Rentier- oder Walrosshaut. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert

­ ussländische Dienstleute, die nach vielen Mühen es geschafft hatten, in den R unwirtlichen Gegenden des Fernen Ostens einzelner Vertreter der Čukčen oder Korjaken habhaft zu werden, hofften vergebens darauf, Familienclans oder sogar die gesamte ethnische Gruppe in die russländische Untertanenschaft zu überführen. Zudem sahen sie sich mit zahlreichen Überfällen konfrontiert, mit denen die Čukčen die russländischen Eindringlinge zu vertreiben suchten, und erlitten dabei bis in die 1750er Jahre herbe Verluste in den eigenen Reihen.111 Während sich im Falle der Čukčen das russländische Interesse vorwiegend auf ihre Unterwerfung zum Zwecke der jasak-­Einkünfte richtete, ergaben sich im Falle der Expeditionen nach Kamčatka, auf die Aleuten-­Inseln und nach Alaska noch ganz andere Gründe zur Geiselnahme. Zum einen machten die unwirtlichen Gegenden das Vordringen und die Reisen beschwerlich. Im Falle längerer Aufenthalte, gerade zum Überwintern, wurde daher von der Haltung von Geiseln 111 Z uev , Prisoedinenie Čukotki k Rossii, 101 – 118, 157 – 176. – Zum Umgang der zarischen Seite mit den Čukčen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. siehe weiter unten.

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erwartet, Sicherheit vor Angriffen Einheimischer zu verschaffen. Zum anderen waren indigene Geisel oft genug Garanten zum Überleben selbst, weil ohne ihre Hilfe die ortsunkundigen russländischen Forscher und Eroberer zu verhungern drohten.112 Auch als Mittler und Ratgeber im Umgang mit indigenen Stämmen und als Wegführer in unbekannten Gegenden hatten Geisel zu dienen. Nicht selten wurden Geisel auch zur Zwangsarbeit in privaten Haushalten oder zur sexuellen Ausbeutung missbraucht.113 Diese Missstände waren zwar von den Vorgaben aus der russländischen Zentrale keineswegs gedeckt. Sie konnten jedoch nicht verhindert werden und wurden selten geahndet.114 Die Moskauer Geiselhaltung ließ sich in ihrer Vielfalt und pragmatischen Handhabung durch die imperiale Elite mithin schwer auf einen Begriff bringen. Wie schon beim zarischen Konzept von Untertanenschaft, das in seinen Konturen bewusst unscharf blieb und dadurch an die jeweiligen Umstände angepasst werden konnte, schuf sich die russländische imperiale Elite auch mit der Methode der Geiselnahme ein nahezu unbegrenzt einsetzbares Instrument zur Expansion und imperialen Konsolidierung. Da die Intensität des Einsatzes der Geiselnahme von dem jeweiligen Stand imperialer Expansion und Herrschaftskonsolidierung abhing, fielen auch die Hoch-­Zeiten der Geiselpraxis mit Hoch-­Zeiten der Expansion und besonderer Bemühungen um Unterwerfung und Eingliederung zusammen. So lässt sich das ausgehende 16. Jahrhundert als Beginn der Hochphase der Geiselnahme bei den nordkaukasischen Kabardinern bezeichnen, das 17. Jahrhundert bis zum Ende des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts als Hochphase der Geiselhaltung im Nordkaukasus und in der Wolga-­Region, in Ostsibirien und in Fernost sowie als Hochphase bei den Kalmücken und Baschkiren ausmachen. Ab den 1740er Jahren sanken in diesen Gebieten allmählich die Bedeutung und die Intensität, mit der Geisel genommen wurden. Hingegen lief die Methode jetzt bei den Kasachen, auf den Aleuten-­Inseln, im Nordpazifik und in Russisch-­Alaska zu Hochtouren auf. Auch im Nordkaukasus spielte sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Anfang des 19. Jahrhunderts verlor die Geiselhaltung allmählich auch in

112 Ein solches Problem ergab sich für Teile der russländischen Expeditionsgruppe, die 1766 die Alaska vorgelagerte Insel Kad’jak ‚entdeckte‘ und von der Inselbevölkerung keine Unterstützung bei der Lebensmittelbeschaffung erhielt. Iz raporta S. G. Glotova T. I. Šmalevu o plavanii na sudne „Sv. Andrejan i Natalija“ v 1762 – 1766 gg. na Aleutskie ostrova i otkrytii ostvoa Kad’jak. In: Russkie ėkspedicii po izučeniju severnoj časti Tichogo okeana, Nr. 29 (22. 8. 1766), 101 – 110. – Eine s­ olche Dienerrolle Indigener wurde auch in anderen europäischen Imperien in Anspruch genommen. M atthies , Im Schatten der Entdecker. 113 So zum Beispiel Ende des 18. Jh. auf der größten, Alaska vorgelagerten Insel Kad’jak (englisch: Kodiak) im Nordpazifik. G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 135. 114 B achrušin , Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17v., in: Naučnye trudy, Bd. 4, 48 – 49.

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diesen Gebieten ihre zuvor herausragende Bedeutung, galt aber bis in die 1820er Jahre noch vielerorts als üblich. Vereinzelt wurden sogar noch bis in die 1860er Jahre Geisel gestellt.115

3.4  Die neue Dimension im 18. Jahrhundert: Amanatstvo und Zivilisierungsmission Der veränderte völkerrechtliche Diskurs in Westeuropa des 16. und 17. Jahrhunderts stellte mit Blick auf die Geiselhaltung das Individuum und dessen Selbstverwirklichung zunehmend ins Zentrum. Demnach sollte nicht länger der Einzelne seiner Freiheit beraubt werden dürfen, um für das Verhalten einer Gemeinschaft zu haften oder zu bürgen. Das Moskauer Reich hingegen verfolgte erkennbar einen anderen Weg und verlangte weiterhin die Stellung von Geiseln. Einer der Gründe dafür, dass die Geiselhaltung sogar über die Schwelle zum 18. Jahrhundert hinweg beibehalten wurde, ist wohl in der historisch gewachsenen großen Bedeutung zu finden, die im Zarenreich schon seit den Zeiten der Kiever Rus’ dem Prinzip zukam, Einzelne für eine Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen sowie umgekehrt einer Gemeinschaft die kollektive Verantwortung für einen Einzelnen zu übertragen. Die Historikerinnen Horace W. Dewey und Ann M. Kleimola haben herausgearbeitet, wie stark infolge jahrhundealter Tradition und tatar-­mongolischer Einflüsse alle Facetten des Lebens im Moskauer Reich von der Leitidee der kollektiven Gewährleistung und Verantwortung durchdrungen waren.116 Ein prominentes Beispiel d­ ieses kollektiven Ansatzes bildete die Bürgschaft (proruka). Ob in Straffällen, bei Schulden, politischer Beleidigung, Verweigerung der Steuerzahlung, Nichtableistung von verpflichtenden Diensten, Nichterscheinen vor Gericht, Vertragsverletzungen oder bei militärischem oder administrativem Versagen – in all diesen Fällen konnten im Moskauer Reich Einzelne oder mehrere als Bürgen für das Fehlverhalten anderer Mitglieder der Gruppe zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden.117 Dabei wurde der Druck zur 115 Dieser zeitliche Überblick zur Geiselhaltung beruht auf der Auswertung sämtlicher für diese Arbeit eingesehenen Dokumente und der Sekundärliteratur zum Nordkaukasus, zu den südlichen Steppen, zu Sibirien, Fernost, dem Nordpazifikraum und Russisch-­Alaska. 116 D ewey /K leimola , From the Kinship Group to Every Man His Brother’s Keeper; dies ., ­Suretyship and Collective Responsibility in pre-­Petrine Russia, 337 – 354; dies ., Russian Collective Conscious­ ness, 180 – 191. 117 Im Moskauer Reich war die seit alters her praktizierte kollektive Gewährleistung von Gemeinschaften in Strafrechts- und Steueranliegen sogar auch auf die Ebene der politischen Loyalität ausgeweitet worden. So gab es im kommunalen Leben der Hauptstadt Moskau im 17. Jh. drei Formen kollektiver Bürgschaft (poruka): kollektive Bürgschaft zur Wahrung der städtischen Sicherheit, die kollektive Bürgschaft vor Gericht und die kollektive politische Bürgschaft, die

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Leistungserbringung weniger durch den direkten staatlichen Zwang aufgebaut als vielmehr indirekt über Nachbarn, Familien oder Dienstleute, die derselben Gemeinschaft angehörten und mit denen man gemeinsam zum Dienst gegenüber dem Zaren verpflichtet war. Folgt man Dewey und Kleimola, war es vor allem das Prinzip kollektiver Gewährleistung und Verantwortung, das den Moskauer Staat befähigte, seine große Stärke zu entfalten und einen verhältnismäßig hohen Kontrollgrad zu erreichen.118 Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung wirkt es weit weniger erstaunlich, dass das Konzept von der kollektiven Verantwortung und der Bürgschaft, die Einzelne für die Gemeinschaft zu geben hatten, auch im Falle der Geiselhaltung über das Moskauer Reich hinaus und damit, anders als in Westeuropa, auch das ganze 18. Jahrhundert über bestehen blieb bzw. sein Einsatz teilweise sogar noch ausgeweitet wurde. Gleichwohl verbreitete sich mit den Veränderungen des politischen und kulturellen Lebens, die Peter I. forcierte, auch unter der russländischen imperialen Elite der westeuropäische Diskurs der Frühaufklärung. Da sich mit Blick auf die Frage der Geiselhaltung jedoch nicht die Auffassung durchsetzte, wonach Individuen vor einer Gewährleistung für die Gemeinschaft zu s­ chützen s­ eien, stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich die von Peter I. eingeleitete Rezeption frühaufklärerischer Konzepte überhaupt auf die jahrhundertealte russische und russländische Tradition der Geiselhaltung auswirkte. Erste deutliche Anzeichen von Veränderungen lassen sich im Zuge der großen Christianisierungskampagne beobachten, die unter Peter I. eingeleitet und unter seinen beiden Nachfolgerinnen, den Zarinnen Anna (1730 – 1740) und Elisabeth (1740 – 1762), massiv ausgeweitet wurde.119 Die Missionierungsbemühungen machten auch vor den Geiseln nicht Halt. Im Juli 1730 wurde der Leiter der sibirischen Stadt Ochotsk Grigorij Grigor’evič Pisarev angewiesen, dafür zu sorgen, dass alle örtlichen Kirchendiener „auf jeder nur denkbaren Festung die Geisel […] dazu bringen mögen, lesen und schreiben zu lernen und ihnen den christlichen Glauben zu zeigen, da das dortige Volk keinerlei Glauben und Religion kenne“.120 Nicht länger sollten folglich sibirische Geisel bloß als Pfand dafür herhalten, dass die unterworfenen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe der Zarenverwaltung sich auf die politische Loyalität von Gruppen bezog. Auch in ihren privaten Haushalten zogen Bojaren im Falle einer Nichterbringung oder einer Fehlleistung von verlangten Diensten ihre Bauern und Sklaven oftmals kollektiv zur Verantwortung. D ewey /K leimola , Suretyship and Collective Responsibility in Pre-­Petrine Russia, 346 – 348. 118 D ewey /K leimola , From the Kinship Group to Every Man His Brother’s Keeper, 335. 1 19 Ausführlich zur Missionierungsoffensive in Kap. 4.3. 120 Instrukcija, dannaja Načal’niku Ochotska, Grigor’ju Pisarevu. In: PSZRI, Bd. 8, 1830, Nr. 5813 (30. 7. 1731), 520 – 524, hier 522.

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den Tribut erbrachten. Nicht länger handelte es sich bei den Leibpfändern ausschließlich um Werkzeuge einer Politik, die auf Expansion und Einkommens­ steigerung ausgerichtet war. Die zumeist von Kosaken streng bewachten Geisel auf russländischen Festungen wurden als Zweck an sich, als Menschen entdeckt, die es in ihrer Auffassung und in ihrer Lebensweise zu verändern galt. Auch wenn der Anweisung von 1730 ein vor allem religiös verkleideter Missionsgedanke zu Grunde lag, so drückte sich in ihr doch bereits eine fundamentale Wende aus. Diese Wende sollte noch weit tiefgreifender werden. Nach rund anderthalb Jahrhunderten Erfahrung mit der Geiselhaltung griffen in der Regierungszeit von Zarin Anna Zweifel um sich, wie effektiv die Methode mit Blick auf ihr bisheriges Hauptziel sei, die Loyalität unterworfener ethnischer Gruppen gegenüber der Zarenregierung zu sichern. Die Konflikte mit den Kalmücken schienen durch die Geiselhaltung nicht geringer geworden zu sein.121 Die Aufstände der Baschkiren, die jeweils zu einer massiven Ausweitung der Geiselnahmen geführt hatten, wiederholten sich seit den 1660er Jahren in regelmäßigen Abständen, obwohl in den russländischen Festungen wie Kazan und Ufa viele baschkirische Geisel einsaßen.122 In Reaktion auf gravierende Missstände und Missbräuche in der Geiselhaltung – die Voevoden agierten bis ins 18. Jahrhundert angesichts fehlender Rechtsgrundlage oft mit Willkür – und in Reaktion auf zahlreiche eingereichte Bittschreiben hin hatte der Senat 1728 erstmalig die Geiselhaltung gegenüber Baschkiren regle­mentiert:123 Demnach durften baschkirische Geisel nicht mehr beliebig auf entfernt gelegenen Festungen gehalten und dort zur Arbeit gezwungen werden. Vielmehr wurde die Festung Ufa als alleiniger Aufenthaltsort bestimmt und jegliche Zwangsarbeit der Geisel untersagt.124 Doch der Senatsbeschluss beruhigte die Situation nicht. Der Gouverneur von Astrachan, Artemij Petrovič Volynskij, sah keinerlei Veranlassung, die Geiselhaltung abzumildern. Vielmehr drang er darauf, mehrere Geisel pro administrative Einheit (volost’) zu nehmen und damit die Gesamtzahl an Geiseln zu erhöhen. Zudem plädierte er dafür, sie in Ufa, „besser aber noch in Kazan“

121 K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 196 – 206; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 74. 122 Vor 1730 war es grob alle zwanzig Jahre zu baschkirischen Aufständen gekommen (1662 – 1664, 1681 – 1684 und 1704 – 1711). A sfandijarov , Institut amanatstva v Baškirii, 16; D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria, 45 – 50. 123 Prošenie baškir Ufimskogo uezda Abbasa mully s tovariščami imperatoru Petru II ob otmene instituta amanatčikov. Perevod s tatarskogo pis’ma k ego i. v. ot baškircov. Podano v Moskve marta v 16 den’ 1728-godu. In: MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 24 (16. 3. 1728), 126 – 127, hier 126. 124 Sentaskij. O vybore Baškirskich amanatov i o soderžanii ich v gorode Ufe; i o neupotreblenii ich ni v kakuju rabotu. In: PSZRI Bd. 8, Nr. 5334 (13. 9. 1728), 112.

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festzuhalten und jährlich auszutauschen.125 Doch auch damit endeten weder die baschkirischen Aufstände noch die Flut baschkirischer Bittschreiben an die neue Zarin Anna.

Geiselhaltung bei den Kasachen Angesichts der dsungarischen Bedrohung hatten die Kasachen der Kleinen Horde unter Abulchair-­Chan 1730/1731 den Kontakt zur Zarenregierung gesucht und um Aufnahme in die russländische „Untertanenschaft“ gebeten. Zu d­ iesem Anlass wies das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten ihren Unterhändler Muhammed Tevkelev (nach der Taufe: Aleksej Ivanovič Tevkelev) an, nicht bedingungslos auf der Geiselstellung zu beharren. Zwar habe man durch kasachische Gesandte mündlich zugesichert bekommen, dass kasachische Älteste bereit s­ eien, wie die Baschkiren jasak zu zahlen und gegen entsprechende Versorgungsgelder Geisel nach Ufa zu stellen. Wenn der Chan diese Forderungen aber nicht erfüllen wolle, dann solle man stattdessen bloß darauf hinwirken, dass der Chan „Gesandte“ (posly) schicke, w ­ elche die Angelegenheiten des kasachischen Chans am Zarenhofe vortragen könnten.126 Vor dem Hintergrund der bisherigen, jahrhundertealten Praxis des Russländischen Reiches war d­ ieses Vorgehen eine bemerkenswerte Aufweichung der sonst üblichen Position. Als Tevkelev mit seiner Forderung, Geisel zu stellen, tatsächlich auf kasachischen Widerwillen stieß, beharrte er gemäß der Anweisung vorerst nicht darauf, im Anschluss an den Treueid Geisel zu erhalten. Allerdings trieb ihn die Sorge um, wie die kasachischen Überfälle auf russländische Karawanen, die auch nach 1731 andauerten, gestoppt werden könnten.127 Die Weigerung kasachischer Ältester, ihre Kinder als Geisel nach Ufa zu geben, und die Antwort des Chans, lediglich „Gesandte“ an den Hof entsenden zu wollen, brachten Tevkelev auf eine neue Idee: Ließe sich nicht eine Festung errichten, auf der Angehörige der Chan-­Familie und Älteste von jeder Sippe im jährlichen Wechsel lebten und dort als Richter bei kasachischen Verbrechen Strafen verhängten? Auf 125 Zapiska o baškirskom voprose v Rossijskoj imperii i o nailučšich sposobach ego razrešenija, sostavlennaja kazanskim gubernatorom A. P. Volynskim. In: MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 134 (vermutlich 1730), 302 – 306. 126 Instrukcija Kollegii in. del – perevodčiku M. Tevkelevu, otpravlennomu vo glave posol’stva k chanu Abulchariu dlja prinjtaija ot nego prisjagi na poddanstvo Rossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 30 (Februar 1731), 42 – 44, hier 43. 127 Vypiska Kollegii in. Del iz donesenija perevodčika M. Tevkeleva o postrojke kreposti na r. Or’ i o posylke v Chivu syna chana Abulcharia dlja ustanvolenija torgovych otnošenij. In: KRO Bd. 1, Nr. 40 (1732), 94 – 97, hier 96.

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diese Weise könnten sie an Stelle „des Ausharrens als politische Geisel“ (vmesto političnych amanatov) wichtige Funktionen erfüllen. Zudem sah Tevkelev sie neben ihrer richterlichen Tätigkeit auch dafür geeignet, jasak der Kasachen einzutreiben und den Tribut nach Moskau zu s­ chicken. Gleichzeitig würde ihnen die Festung und deren Bewachung durch die Kosaken Furcht einflößen und sie von Überfällen abhalten. Auf diese Weise wären russländische Untertanen der Grenzregion besser geschützt und Karawanen sicherer unterwegs.128 Im April 1733 präsentierte Tevkelev dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten diesen Vorschlag in einer ausgearbeiteten Version: Geiselnahme im klassischen Format schlug er nur noch für den Fall vor, dass eine russländische Karawane losziehe. Die kasachischen Geisel s­ eien dann freizulassen, wenn die Karawane guter Dinge zurückgekommen sei. Neu aber sei einzuführen, eine Festung am Rande der kasachischen Steppe (bei der Mündung des Or in den Jaik) zu bauen, auf der kasachische Richter zusammen mit den Kosaken, die auf den Festungen wachten, Überfälle verhindern sollten.129 Mit d ­ iesem Vorschlag des russländischen Unterhändlers Tevkelevs tauchte damit erstmals der Gedanke auf, die Interessen des Zarenreiches erfolgreicher durch die Einbindung Indigener zu erreichen als nicht-­russische ethnische Gruppen bloß durch die Haltung von Leibpfändern unter Druck zu setzen und zur Loyalität zu zwingen. Doch machte Tevkelevs Vorschlag für die Geiselnahme im Falle russländischer Karawanen deutlich, dass die Reformgedanken ihn nicht daran hinderten, parallel an dem Konzept von Geiseln als Leibpfänder festzuhalten. Ein Jahr ­später griff Zarin Anna den Vorschlag auf und entwickelte ihn weiter. Die Zarin hatte soeben den Weg frei gemacht für eine der bis dahin größten Expeditionen der russländischen Geschichte. Ivan Kirillovič Kirilov, Staatsrat und Sekretär des Senats, hatte die Zarin mit einem flammenden Plädoyer Anfang Mai 1734 dafür gewinnen können, eine Expedition in die südlichen Steppen zu ­schicken.130 In ihrer ausführlichen Anweisung an Kirilov führte die Zarin aus, dass die russländische Methode der Geiselhaltung sich im Zuge der anstehenden Erschließung kasachischer Siedlungsräume von ihrer alten Tradition lösen und zumindest mit Blick auf die Kasachen der Kleinen Horde geändert werden solle. Zarin Annas Kritik an der traditionsreichen Methode der Geiselnahme setzte nicht etwa wie in der völkerrechtlichen Diskussion Westeuropas daran an, dass das einzelne Individuum vor ungerechtfertigtem Zugriff besser geschützt werden 128 Ebd. 129 Predstavlenie perevodčika M. Tevkeleva Kollegii inostrannych del v svjazi s perechodom kazachov v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 43 (10. 4. 1733), 99 – 100. 130 Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirilova na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114.

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müsse. Vielmehr habe die langjährige Erfahrung mit den Baschkiren gelehrt, so die Zarin, dass diese doch nur „schwache Leute“ (chudych ljudej) als Geiseln gegeben hätten. Diese s­ eien von den Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe nicht gebraucht worden und hätten daher auch keinerlei disziplinierende Wirkung für die Baschkiren in ihrer Gesamtheit entfalten können. Deshalb müsse bei den jetzt neu in die Untertanenschaft hinzukommenden ethnischen Gruppen auf andere Weise verfahren werden. Von nun an sollten die gestellten Personen neu untertäniger Völker nicht mehr „Geiseln“ genannt (amanatami ich ne nazyvat’), sondern – und hier kommt Tevkelevs Idee ins Spiel – an einem „besonderen Gericht“ (osobnoj sud) angestellt werden, das dem Magistrat zuzuordnen sei. Damit werde die Bindung an das Russländische Reich nicht länger mehr von der Geiselhaltung (ne za amanatstvo), sondern von „Unserer Gnade und Rechtsprechung“ (no za milost’ i pravosudie Naše) ausgehen.131 Die Anweisungen der Zarin wurden zwei Jahre s­ päter (1736) nur bruchstückhaft, in manchen Gebieten sogar erst Jahrzehnte s­ päter umgesetzt. Doch hatte sie einen neuen Diskurs von oben angestoßen, der die Ausgestaltung der Geiselhaltung in den nächsten Jahrzehnten prägen sollte.132 Zu den Gründen für die Abkehr von der alten Methode, Geisel als Druckmittel für Wohlverhalten ‚aufzubewahren‘, zählte auch die Beobachtung, von den Baschkiren in der Vergangenheit hinters Licht geführt worden zu sein. Statt der vornehmsten und besten ihrer Leute hatten sie tatsächlich oftmals ihre armseligsten geschickt, von deren Geiselhaltung keinerlei Druck auf die übrigen Baschkiren ausgegangen war. Wie auch an anderen Orten des Reiches wurden bei manchen Geiseln sogar falsche Identitäten vorgetäuscht, sie verkleidet und mit falschen Namen versehen.133 Vor allem aber ging es darum, nicht länger bloß durch äußeren Zwang auf die nicht-­christlichen ethnischen Gruppen einzuwirken, s­ eien sie freiwillig in die Untertanenschaft eingetreten oder gewaltsam unterworfen worden, sondern sie innerlich für das Russländische Reich zu gewinnen. 131 Instrukcija Statskomu Sovetniku Ivanu Kirilovu otpravlennomu dlja postrojki goroda pri Ust’e reki Or’. In: PSZRI Bd. 9, Nr. 6576 (18. 5. 1734), 323 – 330, hier 324. 132 Vgl. das Strategiepapier des mittlerweile getauften und zum Generalmajor aufgestiegenen Aleksej Tevkelev sowie des Kollegienrats Petr Ryčkov, das diese 1759 dem Amt für auswärtige Angelegenheiten vorlegten. Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i kolležnogo sovetnika P. Ryčkova Kollegii inostranych del o položenii v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591. 133 Das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten verwies beispielsweise im Nordkaukasus auf Täuschungsmanöver, bei denen Bauernkinder als Söhne von kabardinischen Herren ausgegeben wurden. Dokument von 1754. In: Butkov, Materialy dlja novoj istorii Kavkaza, Bd. 2, Kap. 36, 163. – Zu den Bemühungen von Kirgisen, möglichst unwürdige Geisel zu stellen siehe auch B achrušin , Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17.v., in: Naučnye trudy, Bd. 4, 47. – Zu täuschendem Verhalten bei Baschkiren A sfandijarov , Institut Amantstva v Baškirii, 18.

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„Gnade und Rechtsprechung“ waren die Konzepte, mit denen die Nomaden ‚von innen her‘ gewonnen werden sollten. Gnade (milost’), das alles durchziehende Grundprinzip des russländischen Staates seit dem Aufstieg des Moskauer Großfürstentums, wurde den neu untertänigen ethnischen Gruppen aus russländischer Sicht ohnehin schon dadurch gewährt, dass die Zarin bereit war, sie in ihren mächtigen Untertanenverband aufzunehmen.134 Nach der Aufnahme im imperialen Kontext zeigte sich die Gnade in Form von Geschenken, Geldzahlungen, der Vergabe von Ehrentiteln oder politischen Privilegien.135 Im Falle der veränderten Geiselhaltung sollte sie sich in dem Zugeständnis eigener ‚Gerichte‘ zeigen, in denen von „Unseren Russischen Leuten“ zwar auch zwei bis drei „beste Leute“ zu sitzen hatten, in die vor allem aber „die besten Leute“ der Chan-­Kinder (oder von den Sultanen oder Ältesten) einzubeziehen waren.136 Mit der Rechtsprechung, so die Sichtweise von Zarin Anna, s­ eien die Herzen der Nomaden zu gewinnen, da man sich an den Traditionen einer jeden ethnischen Gruppe orientieren werde. Zudem lasse sich die Akzeptanz des Imperiums unter nomadischen Kasachen dadurch steigern, dass man schnelle und gerechte Urteile fälle.137 Doch selbst bei ­diesem neuen Ansatz fasste Zarin Anna nicht ins Auge, den Charakter der Geiselhaltung gänzlich abzuschaffen: Zur Absicherung sah sie für das ‚Gericht‘ eine Wache (karaul) vor. Gegenüber den Kasachen sollte die Begründung zwar lauten, mit der Wache werde „Achtung vor dem Gericht“ gezeigt. Tatsächlich aber ging es der Zarin darum, mit ihr „für Ruhe und Ordnung zu sorgen“.138 Damit war die Idee geboren, die Geisel oder die als ‚Richter‘ verpflichteten Geisel für wesentliche Prinzipien russländischer Lebensart zu gewinnen und mit ihrer Hilfe die aufgenommenen ethnischen Gruppen insgesamt auf russländische Modelle von Gerechtigkeit und Konfliktlösung einzuschwören.

134 Ausführlich zum zarischen Gnadenkonzept in Kap. 1. 135 Ausführlich zur russländischen politischen Kultur der Gabe in Kap. 4.6. 136 Da die von Tevkelev angedachten Gerichte sich nicht auf eine judikative Funktion beschränkten, korrespondieren sie nicht mit dem, was heute als Gericht bezeichnet wird. Daher wird der Gerichtsbegriff zwar hier wie im Folgenden genutzt, aber in einfache Anführungszeichen gesetzt. 137 Instrukcija Statskomu Sovetniku Ivanu Kirilovu otpravlennomu dlja postrojki goroda pri Ust’e reki Or’. In: PSZRI Bd. 9, Nr. 6576 (18. 5. 1734), 323 – 330, hier Punkt 11, 325. 138 Ebd. – In einer gesonderten Anweisung erfolgten Vorschriften, wie die Wache im Einzelnen vorgehen solle. Instrukcija imperatricy Anny Ioannovy statskomu sovetniku Ivanu Kirillovu. In: Dobrosmyslov, Materialy po istorii Rossii, Bd. 1, 63 – 78, hier 67; Toropicyn, Institut amanatstva, 65.

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Neuer Wind durch Vasilij N. Tatiščev Einer der E ­ rsten, der diese neuen Ideen umzusetzen versuchte, war der bekannte russländische Staatsmann und Gelehrte Vasilij Nikitič Tatiščev. Als Verfasser der ersten russländischen Enzyklopädie hatte auch er sich zum amanat-­Begriff Gedanken gemacht und diesen folgendermaßen erklärt: „Von unzuverlässigen Untertanen werden die Kinder und Brüder ehrwürdiger Leute genommen, wie bei uns von vielen Steppenvölkern, so von Bergvölkern, von den Tataren und anderen Völkern, und werden bei ausreichender Verpflegung gehalten.“ 139 Bei dieser Definition Tatiščevs war vor allem das Wort „unzuverlässig“ entscheidend. Unter dem Verdacht der „Unzuverlässigkeit“ standen aus russländischer Sicht eben grundsätzlich alle nicht-­christlichen Völker, die im Süden und Osten des Reiches einverleibt wurden. Tatiščev selbst zweifelte jedoch fundamental am Sinn der Geiselhaltung. Geisel zu nehmen von Menschen, die bereits Untertanen des Russländischen R ­ eiches geworden waren, erschien ihm „nicht überaus geziemend“ (ot poddannych amanatov brat’ razumeju ne ves’ma prilično). Besser sei es, so Tatiščev in seinen Ausführungen vom November 1736, in denen er die Idee von Zarin Anna aufgriff, wenn unter den neu aufgenommenen Völkern die Furcht vor einem Gericht vorherrsche. Geführt von indigenen Ältesten und Vertretern der Hundertschaften sei ein solches „überaus geeignet, die Ordnung zu halten“.140 Als Tatiščev diese Gedanken zu Papier brachte, leitete er bereits seit einigen Jahren die Kanzlei der Hauptverwaltung für die Kazaner und sibirischen Bergwerke und hatte als solcher viel Erfahrung mit der Geiselhaltung gewonnen: Solange die Baschkiren ihm keine Geisel stellten, solange verbot er auf dem Gebiet der Bergwerksbehörde den Handel mit ihnen. Von 1736 bis 1737 ließ er trotz seiner Skepsis auf der Festung in Ekaterinburg 5 bis 25 baschkirische Geisel halten (1 bis 4 Leute pro volost’). Sie sollten ihm als Absicherung dafür dienen, dass die Baschkiren sich nicht an großen Aufständen beteiligten, sondern vielmehr bei deren Niederschlagung mit der russländischen Seite kooperierten.141 Diese Hoffnung erwies sich jedoch als Illusion. Tatiščev gelangte zu der Auffassung, dass die Geiselhaltung in eine Zwickmühle führe: Entweder gelänge es 139 T atiščev , Leksikon rossijskoj istoričeskoj, geografičeskoj, političeskoj i graždanskoj [handschriftl. Original von spätestens 1749]. In: ders.: Izbrannye proizvedenija, 162. 140 Tatiščev griff damit in seiner im November 1736 verfassten Erklärung auf Positionen zurück, die er offenbar schon im Juli desselben Jahres dargelegt hatte. Iz’’jasnenie V. N. Tatiščeva na sdelannoe im predlovženie. In: MpiB Bd. 6, Nr. 176 (zwischen dem 2.u. 10. 11. 1736), 303 – 305.] 141 Ausführlich zu Tatiščevs Tätigkeit als Bergwerksleiter J ucht , Gosudarstvennaja dejatel’nost’ V. N. Tatiščeva; G rau , Der Wirtschaftsorganisator, Staatsmann und Wissenschaftler; D aniels , V. N. Tatiščev; K orsakova , Vasilij Nikitič Tatiščev, 339.

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den Baschkiren, die russländische Seite bei der Geiselstellung auszutricksen. Sie priesen ihre Geisel als Söhne ehrwürdiger Ältester an, schickten in Wahrheit aber bedeutungslose Vertreter ihrer ethnischen Gruppe, an die sich keiner gebunden fühlte. Oder aber die Baschkiren entsandten tatsächlich Geisel aus „besten und ehrwürdigsten“ Kreisen, dann aber fehlten in den baschkirischen volosti diejenigen, die für Ruhe und Ordnung sorgen konnten.142 Bereits im Frühjahr 1736 versuchte Tatiščev daher, den Anstoß von Zarin Anna aufzugreifen und Geisel nicht ausschließlich als Pfand und Druckmittel zu betrachten. Er bemühte sich darum, baschkirische Geisel als Mittler in den Verhandlungen mit den aufständischen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe einzusetzen.143 Doch der Versuch scheiterte auf ganzer Linie. Die baschkirischen Geisel, kaum waren sie innerhalb ihrer ethnischen Gruppe, sagten sich von ihrem Auftrag los und beteiligten sich selbst aktiv an den Aufständen. Ihre gewonnenen Kenntnisse über die russländische Seite verhalfen ihnen sogar dazu, als Anführer von Plündereien zu fungieren.144 Ende 1736 gelangte Tatiščev infolge der baschkirischen Erfahrungen zu der Auffassung, dass Geiselstellungen von Untertanen nicht nur „ungeziemend“ und wegen der notwendigen Ernährung zu kostenträchtig, sondern obendrein auch noch wenig effektiv s­ eien. Zur Bezwingung der Baschkiren hielt er deren Einkreisung durch immer mehr Festungsbauten und Festungslinien für weitaus wirkungsvoller.145 Als er ein Jahr s­ päter von der Zarin dazu ernannt wurde, Nachfolger des verstorbenen Kirilovs in der Funktion des Leiters der ‚Orenburger Expedition‘ zu sein, hielt er die Zeit für gekommen, um Zarin Annas Reformidee zu realisieren. Erstmals in den russländisch-­kasachischen Beziehungen ließ er mit der Unterstützung des Kabinetts kasachische Älteste als Schlichter von Streitigkeiten z­ wischen russländischen Kaufleuten und Kasachen einsetzen. Sie erhielten dafür ein staatliches Gehalt.146 In Astrachan bemühte er sich darum, ein ‚Gerichtsorgan‘ mit der Bezeichnung „Tatarisches Kontor“ oder „Kontor für tatarische und kalmückische Angelegenheiten“ 142 A sfandijarov , Institut Amanatstva v Baškirii, 18. 143 T oropicyn , Institut amanatstva, 69. 144 Skazka perevodčika I. G. Durakova v kanceljariju Glavnogo pravlenija kazanskich i sibirskich kazennych zavodov o poezdke ego v predely Sibirskoj dorogi s ob’’javleniem o vzjatii amanatov s baškir, ne prinimavšich učastija v vosstanii. In: MpiB Bd. 6, Nr. 89 (28. 4. 1736), 163 – 164; A sfandijarov , Institut Amanatstva v Baškirii, 18. 145 Ausführlich zur Politik Tatiščevs, die Baschkiren durch den Bau von Festungslinien einzukreisen, die er im Verbund mit Ivan Kirilov durchführte, in Kap. 4.2. 146 Imennyj, dannyj iz Kabineta Eja Veličestva Tajnomu Sovetniku Tatiščevu. Ob opredelenii v Orenburge dvuch Kirgizsckich staršin, dlja prekraščenija ssor meždu priezžajuščimi tuda kupcami. In: PSZRI Bd. 10, Nr. 7657 (16. 9. 1738), 614 – 618, pt. 5, hier 615; K raft , Sbornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej. Orenburg 1898, Chronologičeskij perečen’ Vysočajšich gramot, ukazov i uzakonenij, Nr. 16 (16. 9. 1738), 6; T oropicyn , Institut amanatstva, 65.

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funktionstüchtig werden zu lassen und stellte dem meist betrunkenen Leiter Mirza Urusov Verstärkung zur Seite. Die Arbeit d­ ieses ersten ‚Gerichts‘ scheiterte jedoch daran, dass viele Richter nicht nur kaum Russisch sprachen, sondern vor allem weder tatarische noch russländische Gesetze kannten.147 Die Schwierigkeiten führten jedoch nicht zum Abbruch der Bemühungen, die Geiselhaltung alternativ auszugestalten. In Analogie zum „Kontor für tatarische und kalmückische Angelegenheiten“ regte Zarin Elisabeth an, in allen Städten des Astrachaner Gouvernements weitere ‚Gerichtsorgane‘ zu gründen. Astrachaner Adlige sollten diese Gerichte seit 1742 in Zusammenarbeit mit kalmückischen ‚Richtern‘ leiten.148 Allerdings erschien es der russländischen Regierung weiterhin zu gefährlich, gänzlich auf die traditionelle Geiselhaltung zu verzichten. Selbst innerhalb des Astrachaner Gouvernements hielt man daher parallel zu den ‚Gerichtsstrukturen‘ Kalmücken und Tataren wie gehabt auch auf russländischen Festungen.149

3.5  Amanatstvo in verschiedenen Modellen Die zweigleisige Vorgehensweise bei der Fortsetzung der Geiselhaltung spiegelte das Tauziehen verschiedener Kräfte und widerstreitender Auffassungen innerhalb der imperialen Elite wider. Hinter den Kulissen entbrannte ein Streit z­ wischen Reformern und Traditionalisten um die Frage, ob die Geiselhaltung überhaupt noch eine Zukunft habe. Der Konflikt, der sich in den folgenden Jahrzehnten in einem Zickzackkurs der Zarenregierung niederschlug, lässt sich am besten am Beispiel des russländischen Umgangs mit jenen Untertanen zeigen, die erst in den 1730er Jahren in die Untertanenschaft eingetreten und folglich mit den russländischen imperialen Praktiken noch nicht vertraut waren, der Kleinen Horde der Kasachen. Am Umgang mit ihr, die aus zarischer Perspektive die geopolitisch wichtigste ethnische Gruppe der südlichen Steppenvölker bildete, lässt sich die Transformation der Geiselhaltung im 18. Jahrhundert und damit die These von dem Einschnitt dieser Zeit in der Imperiumsgeschichte besonders prägnant demonstrieren.

147 T atiščev , Mnenie Tatiščeva ob upravlenii jurtovskimi tatarami i o razverstanii zemel’ meždu nimi. In: ders.: Zapiski, Nr. 226 (11. 11. 1745), 316 – 319, hier 318; T oropicyn , Institut amanatstva, 65. – Auch Kapitän Luka Šichmatov, der dort ab 1737 für die russländische Seite eingesetzt wurde, erwies sich als eine Fehlbesetzung und musste rasch vom Kapitän der Astrachaner-­Caricyner Garnison des Infanterieregiments, Vladimir Kopytvoskij, abgelöst werden. P opov , Tatiščev i ego vremja, 325 – 326. 148 Reljacija Astrachanskago gubernatora Tatiščeva ot 7 Marta [1742]. In: Archiv knjazja Voroncova. Moskau 1870 – 1875, Bd. 1, 318; T oropicyn , Institut amanatstva, 66. – Über den Erfolg oder Misserfolg dieser ‚Gerichte‘ von Astrachan ist in der Forschung bislang nichts bekannt. 149 T oropicyn , Institut amanatstva, 66.

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Die Geiselhaltung als imperiales und koloniales Instrument

Durch die Hintertür: Die Einführung der Geiselnahme bei den Kasachen Nachdem Zarin Anna im Mai 1734 dafür plädiert hatte, im Falle der Kasachen von der alten Methode der Geiselnahme Abstand zu nehmen, hatte die zarische Administration erstmals mit der jahrhundertealten Tradition gegenüber nicht-­ christlichen ethnischen Gruppen gebrochen und in der Gnadenurkunde zur Aufnahme der Kasachen in die russländische Untertanenschaft keine Forderung nach kasachischen Geiseln gestellt. Stattdessen aber bedrängte Tevkelev, der Bevollmächtigte für die zarischen Aufnahmeverhandlungen, den Anführer der kasachischen Kleinen Horde, Abulchair-­Chan, dieser solle seinen elfjährigen Sohn Sultan Ėrali sowie seinen Cousin Nijaz doch „freiwillig“ und „in der Eigenschaft eines Gesandten“ (v kačestve poslannika) nach St. Petersburg ­schicken.150 Abulchair-­ Chan, der sich von der Zarenregierung Rückendeckung in innerkasachischen Machtkämpfen erhoffte, willigte in die ‚freiwillige Entsendung‘ ein. Doch der Schlingerkurs der Regierung in der Handhabung der Geiselhaltung führte für ihn zu einem bösen Erwachen.151 Zwar wurden die beiden Kasachen 1734 als „Gesandte“ aus St. Petersburg auch wieder fortgelassen. Doch Ivan Kirillovič Kirilov, der im Juni 1734 zum Leiter der Orenburger Kommission ernannt worden war, verweigerte dem Chan-­Sohn die Rückkehr in die kasachische Steppe. Stattdessen nahm er ihn ohne Einwilligung des Vaters auf der im August 1735 errichteten Festung Orenburg als Geisel.152 Trotz eindringlicher Bitten von Abulchair-­Chan, ihm seinen Sohn Ėrali zurückzusenden, trotz des Hinweises auf erste Unruhen unter den kasachischen Ältesten, die das russländische Vorgehen als Schmach empfanden, und sogar trotz der Bereitschaft des Chans, statt des Sohnes einen Neffen zu ­schicken, dufte Sultan Ėrali erst 1738 unter Einwirkung des neuen Bevollmächtigten Vasilij Tatiščev zur kasachischen Horde zurückkehren. Und dies erfolgte auch erst, nachdem der kasachische Chan erneut einen Treueid geleistet hatte. Ganz offensichtlich hatte sich in der Zarenadministration trotz ursprünglich anderslautender Pläne die Auffassung durchsetzen können, dass es zur Geiselhaltung keine vergleichbar wirksame Alternative gebe, um die kasachische 150 Prošenie chana Abulchaira imp. Elizavete ob otpuske iz amanatov sultana Choža Achmeta i o predostavlenii vojska dlja podavlenija meždousobnoj bor’by s izloženniem trudnostej, kotorye voznikli dlja chana v svjazi s otkazom glavnogo komandira Orenburgskoj komissii I. I. Nepljueva smenit’ sultana Choža-­Achmeta sultanaom Čingizom. (Übersetzung aus dem Tatarischen). In: MpiK SSR Bd. 2, Teil 2 (1741 – 1745gg.), Nr. 20 (7. 11. 1743, 73 – 105, hier 73. 151 Ebd., 73 – 105. 152 Gramota imp. Anny na imja chana Abulchaira i vsego kazachskogo naselenija Malogo žuza s odobreniem dejatel’nosti chana. In: KRO Bd. 1, Nr. 60 (24. 2. 1736), 124.

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Abb. 4: Der elfjährige Ėrali, Sohn des kasachischen Abulchair-­Chan, als „Gesandter“ und in Begleitung eines Geistlichen (Achun) aus Buchara und seines ‚Hofmeisters‘, Kutyr-­Batyr, auf dem Weg von der kasachischen Steppe nach St. Petersburg bevor er zum Geisel wurde. Zeichnung aus den 1740er Jahren

Unterwerfung abzusichern. Auf diese Weise wurde zu einem Zeitpunkt, als die Kasachen den Treueid nach russländischer Lesart längst unwiderruflich unterschrieben hatten, die Geiselhaltung durch die Hintertür doch noch eingeführt.153 Als Abulchair-­Chan seinen Sohn Sultan Ėrali zurückerhielt und ihn gegen seinen anderen Sohn, Chož-­Achmet (Chodžej Achmet), austauschte, schien er immer noch nicht davon auszugehen, dass es sich um die nun nurmehr notdürftig kaschierte Geiselstellung nach alter russländischer Art handelte. Als er auch seinen zweiten Sohn nicht zurückerhielt, wandte er sich wutentbrannt 1742 an den Leiter der Orenburger Kommission, Ivan Ivanovič Nepljuev und offenbarte sein Verständnis der Dinge: Er sei „auf freien Willen“ hin in die Untertanenschaft Ihrer

153 Ebd.; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 58.

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Kaiserlichen Hoheit eingetreten, und er habe seine Kinder „in den Dienst I. K. H.“ gegeben, „nicht jedoch in die Gefangenschaft“ (v službu e. i. v., a ne v poloneniki).154 Damit jedoch verkannte der kasachische Chan die russländische Politik gleich doppelt. Der Kommissionsleiter Nepljuev war weit davon entfernt, Söhne des Chans „in den Dienst“ der Zarin zu übernehmen. Noch weniger sah er oder irgendjemand anderes in der Zarenregierung die Söhne als „Gefangene“ der Zarin an. Schließlich war die gesamte Kleine Horde mit dem Treueid und der Überreichung der Gnadenurkunde zu Untertanen der Zarin geworden. Und russländische Untertanen konnten keine russländischen Gefangenen, wohl aber Geisel sein. Im Unterschied zu der Auffassung von Tevkelev und Tatiščev zählte Nepljuev ‚lediglich‘ zu den Traditionalisten in der Geiselfrage und war der Meinung, dass die herkömmliche Geiselhaltung weiterhin „das allerwirksamste Mittel“ sei (samoe glavnejšee sredstvo), um nicht nur die Chane, sondern auch alle Sultane und das Volk zu „bezähmen und es in Treue zu halten“ (v vernosti obuzdany i uderžany byt’ mogut).155 Drei Aspekte machten es für Nepljuev lohnend, an der Praxis festzuhalten: Erstens sei sie ein uralter Brauch. Zweitens stärke sie bei den Geiselstellern das Gefühl einer unmittelbaren Untertanenschaft und damit die Treue. Dies gelte ganz besonders im Falle jener „wilden, unzuverlässigen und unbeständigen Völker“, wie es die Kasachen s­ eien. Und drittens gebe es für die russländische Seite „keine stärkere Einwirkungsform“ (drugago tol’ sil’nago sposoba net).156 Dies beweise sich „ganz offensichtlich“ anhand der Geiselhaltung von Abulchair-­ Chans Sohn. Ohne diesen nämlich, so Nepljuev, würde sich Abulchair als Chan der Kleinen Horde ähnlich problematisch verhalten wie Abulmambet-­Chan von der Mittleren Horde der Kasachen, der gemeinsame Sache mit den feindlichen Dsungaren mache.157 154 Protokol’naja zapis’ peregovorov načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva s chanom Abulchairom i drugimi kazachskimi feodalami, a takže s džungarskimi i karakalpakskimi poslami vo vremja ich preizda v Orsk. In: KRO Bd. 1, Nr. 96 (22. 9. 1742), 229 – 253, hier 248. – Auch in der russischen Übersetzung des tatarischen Bittschreibens von Abulchair-­Chan an Zarin Elisabeth von 1743, in der er eindringlich um die Freilassung seines Sohnes bittet, heißt es, die Herrscherin habe seine Kinder in Gefangenschaft genommen (vzjatych v plen). Es könnte zwar auch ein Übersetzungsfehler gewesen sein, aber alle Umstände sprechen dafür, dass Abulchair-­Chan nicht davon ausging, dass seine Kinder der russländischen Seite als Geisel dienten. Prošenie chana Abulchaira, in: MpiK SSR Bd. 2, Teil 2, Nr. 20 (7. 11. 1743), hier 74. 155 Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del o merach, predpinjatych v otnošenii chana Abulmambeta v svjazi s ego namereniem prinjat’ džungarskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 105 (18. 11. 1742), 269 – 273. 156 Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. Del po povodu peregovorov chana Abulmambeta s Galdan-­Cerenom (Sekretnejše). In: KRO Bd. 1, Nr. 104 (18. 11. 1742), 268 – 269. 157 Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del o merach, predpinjatych v otnošenii chana Abulmambeta v svjazi s ego namereniem prinjat’ džungarskoe poddanstvo. In:

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In keiner Quelle war je begründet worden, warum die Geiselhaltung als Methode imperialer Stabilisierung von russländischer Seite so geschätzt wurde und warum man an ihr seit Jahrhunderten festhielt.158 Trotz der Reformpläne, die von Zarin Anna in Gang gesetzt worden waren, erschien es Kommissionsleiter Nepljuev Anfang der 1740er Jahre offenbar geboten, mit Vehemenz dafür zu werben, auch unter der neuen Zarin Elisabeth an der traditionsreichen Praxis festzuhalten. Nepljuev stand dabei nicht zuletzt unter dem Eindruck der Bedrohung, die für das Zarenreich von den expandierenden westmongolischen Dsungaren ausging. Diese hatten erreicht, dass der Chan der Mittleren Horde der Kasachen, Chan Abulmambet, einen seiner Söhne dem dsungarischen Herrscher als Geisel zugesandt hatte. Um ein Gegengewicht zu schaffen und zumindest noch etwas russländischen Einfluss auf die Kasachen der Mittleren Horde zu bewahren, die 1740 auch einen Eid auf die russländische Zarin geleistet hatten, wollte Nepljuev mit allen Kräften an den anderen Sohn des Chans gelangen. Auf diese Weise sollte die Geiselstellung von Söhnen ein und desselben Hordenchans in zwei verschiedenen Reichen dazu dienen, die Kasachen der Mittleren Horde zumindest in einer Art Äquidistanz zu den Dsungaren wie zu den Russländern zu halten.159 Bei den Kasachen der Kleinen Horde drohte zwar bislang noch keine Unterstellung unter die Dsungaren. Doch um so elementarer erschien es Nepljuev, die Bindung an das Zarenreich mittels Geisel bei ihnen zu verfestigen und jeglichen dsungarischen Einfluss von vornherein abzuwehren.

Der Machtkampf: Der Orenburger Gouverneur Nepljuev und der kasachische Abulchair-Chan Angesichts des Widerstands, den Abulchair-­Chan von der Kleinen Horde gegen die Geiselstellung leistete, entschied sich Nepljuev dafür, weiterhin den Schein falscher Realitäten zu wahren. Er setzte die Sprache seiner Vorgänger fort und kaschierte

KRO Bd. 1, Nr. 105 (18. 11. 1742), 269 – 273, hier 273. 158 Wenige Jahre s­ päter bezeichnete Tevkelev im Sinne Nepljuevs die Geiselhaltung als „Pfand für Ruhe“ (zalog spokojstva). Iz donesenija brigadira A. Tevkeleva Kollegii in. del o razvitii menovoj torgovli meždu kazachskim i russkim naseleniem. In: KRO Bd. 1, Nr. 204 (16. 1. 1753), 532. – Und auch Zarin Elisabeth griff diesen Ausdruck 1756 auf. Reskript imp. Elizavety orenburgskomu gubernatoru I. Nepljuevu i general-­majoru A. Tevkelevu s zapreščeniem kazacham vypasa skota (Vieh abweiden) v rajone r. Jaik. In: KRO Bd. 1, Nr. 211 (2. 9. 1756), 540 – 544, hier 542. 159 Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del o merach, predpinjatych v otnošenii chana Abulmambeta v svjazi s ego namereniem prinjat’ džungarskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 105 (18. 11. 1742), 269 – 273.

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den Geiselcharakter unter dem Status des „Gesandten“. In Nepljuevs Auftrag bat Generalleutnant Fürst Vasilij Alekseevič Urusov, der 1740 mit den Ältesten aus der Kleinen und Mittleren kasachischen Horde die Verhandlungen zum Treueid führte, erneut um die „freiwillige“ Entsendung von „Gesandten an den Hof“ (poslancy svoi ko dvoru), d­ ieses Mal aus den Reihen kasachischer Ältester. Listig verwies er dabei auf die Kinder, die Abulchair-­Chan bereits zuvor „freiwillig“ entsandt habe, und lockte mit der Aussicht, dass Kinder hochstehender Familien darauf hoffen könnten, auch von der Zarin empfangen zu werden.160 Die fortgesetzte Kaschierung der kasachischen Geisel als „Gesandte“ war im Jahr 1740 allerdings gewagt: Abulchairs Sohn Chož-­Achmet litt zu ­diesem Zeitpunkt bereits derart unter seiner Geiselhaltung auf der Soročinsker Festung, dass man ihn wegen Selbstmordgefahr auf eine Festung nach Kazan verlegt hatte, in der Hoffnung, ihn durch die tatarische Umgebung besser ‚bei Laune‘ halten zu können.161 Von einer standesgemäßen Ausbildung oder gar von Empfängen am Hofe der Zarin konnte keine Rede sein. Urusovs gewagter Verweis auf Abulchairs Kinder sollte sich möglicherweise nur auf den zuerst geschickten Sohn Ėrali beziehen. Dieser hatte unmittelbar nach seiner Entsendung tatsächlich für kurze Zeit den Glanz des Lebens am Hofe erleben ‚dürfen‘.162 Kurze Zeit s­ päter aber hatte man auch ihn, wie erwähnt, wider Willen für vier Jahre auf der Orenburger Festung als Geisel festsetzen lassen. Die rasch zunehmenden kasachischen Überfälle, die Abulchair-­Chan aus Ärger über die Verweigerung, ihm seinen Sohn zurückzugeben, auf russländische Siedlungen verübte, sowie die bedrohlich erfolgreichen dsungarischen Bemühungen, die Kasachen in ihre Abhängigkeit zu bringen und damit der russländischen Grenze näherzurücken, führten jedoch mit der Zeit auch bei dem als ‚Hardliner‘ bekannten Nepljuev dazu, die Geiselhaltung in ihrer herkömmlichen Form zu überdenken. Abulchair-­Chan hatte inzwischen den wahren Charakter der Festhaltung seines Sohnes erkannt und Nepljuev vor dem Hintergrund, seinen Sohn doch als Gesandten (posol), nicht aber als Geisel (amanat) geschickt zu haben,

160 Žurnal’naja zapis’ peregovorov general-­lejtenanta kjnazja V. Urusova s predstaviteljami Malogo i Srednego žuzov vo vremja ich priezda v g. Orenburg dlja prinjatija prisjagi na poddanstvo Rossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 70 (19. 8. 1740), 134 – 168, hier 160. 161 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 59. – Aber auch in der tatarischen Hauptstadt Kazan, wo die russländische Administration Kož Achmet sogar das Tragen von Waffen erlaubte, setzten sich Probleme fort, ­dieses Mal, weil Kož Achmet sich angeblich „bösartig“ verhielt. Donesenie orenbugskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o položenii v Mladšem i Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 142 (8. 7. 1747), 361 – 365, hier 362. 162 Sultan Ėrali berichtete beeindruckt von dem vielen Tafelsilber am Hofe und den Wasserspielen in Peterhof, bei denen das Wasser „seinen Fluss nach oben“ genommen habe. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 64.

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Abb. 5: Portrait des ersten Gouverneurs von Orenburg, Ivan I. Nepljuev

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Abb. 6: Portrait des Chans der Kleinen Horde der Kasachen, Abulchair-­Chan. Lithographie von einer Zeichnung von 1736 von Dž. Kėstl’

fortgesetzten Wortbruch vorgeworfen.163 Nepljuev lehnte nach wie vor den vom Chan geforderten Austausch von dessen Sohn ab und begründete dies damit, dass der zum Austausch präsentierte andere Sohn Abulchairs nicht ebenbürtig sei. Tatsächlich hatte Nepljuev herausgefunden, dass der neu als Geisel angebotene Sohn einer Verbindung mit einer als Sklavin gehaltenen Kalmückin entstammte. Damit entsprach er in keiner Weise der Stellung, die Sohn Chož-­Achmet infolge der vornehmen Abstammung seiner M ­ utter innehatte und besaß als Bürge für die russländische Seite einen geringeren Stellenwert.164

163 Donesenie poručika I. Muravina načal’niku Orenburgskoj komissii I. u o pričinach nedovol’stva chana Abulchaira Orenburgskoj administraciej. In: KRO Bd. 1, Nr. 109 (30. 3. 1743), 281 – 282; Pis’mo chana Abulchaira imp. Elizavete s žaloboju na dejstvija načal’nika Orenburgskoj ­komissii I. Nepljueva. In: KRO Bd. 1, Nr. 113, (3. 9. 1743), 290 – 292. 164 Protokol’naja zapis’ peregovorov načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva s chanom Abulchairom i drugimi kazachskimi feodalami, a takže s džungarskimi i karakalpakskimi poslami vo vremja ich preizda v Orsk. In: KRO Bd. 1, Nr. 96 (22. 9. 1742), 229 – 253, hier 248/249. – Die Prüfung der Mutterschaft und der Frage, ob der andere Sohn in der selben Elternliebe aufwachse (v takom li ravnom ljublenii roditeli ego soderžat’), war vom Kabinett der Zarin selbst angewiesen worden. Dadurch wird deutlich, welches Gewicht der Auswahl jedes Geisel der Kasachen und ihrem Austausch beigemessen wurde. Imennyj, dannyj iz Kabineta Eja Veličestva Tajnomu Sovetniku Tatiščevu. In: PSZRI Bd. 10, Nr. 7657 (16. 9. 1738), 614 – 618, hier 615.

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Die Geiselhaltung als imperiales und koloniales Instrument

Im September 1743 aber wandte sich Nepljuev mit dem Vorschlag an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten, die Chan-­Söhne nicht länger in Städten an den äußersten Grenzen des Reiches zu halten. Stattdessen solle man, so Nepljuev, künftig ihnen und ihren Familien „die Gnade“ der Zarin gewähren und sie an den St. Petersburger Hof holen. Dies biete mehrere Vorteile: Dort sei mit Überfällen von Seiten der Angehörigen nicht zu rechnen, so dass die Geisel nicht länger bewacht werden müssten. Zudem brauche man ihnen nicht mehr den Ausgang in die Stadt zu untersagen und könnte die Chan-­Kinder in jeglicher, ihrem Stand entsprechenden Weise erziehen und ausbilden (čtob […] vo vsjakom nadležaščem po sostojaniju ich obučenii i svedeni byli).165 Auf diese Weise wären Vorwürfe von Seiten der Angehörigen der kasachischen Horde an den Chan aus dem Weg geräumt, er würde seinen Sohn „wie ein Tier“ weggeben (prigotoviv ego kak životnoe).166 Die Orenburger Kommission wäre von vielen Schwierigkeiten der Geiselhaltung und der damit verbundenen Auseinandersetzungen mit den Angehörigen befreit, und der Chan könnte über seinen Sohn sogar seine Anliegen am Hofe vorbringen lassen.167 Es ist zweifelhaft, wie ernsthaft Nepljuev daran gelegen war, für eine ‚standesgemäße Erziehung‘ der Geisel in St. Petersburg zu sorgen. Andere Äußerungen von ihm legen nahe, dass er auch weiterhin in der Geiselhaltung in erster Linie ein Instrument sah, um neu gewonnene Untertanen zu disziplinieren.168 Stärker mag ihn, der inzwischen vom Kommissionsleiter in den Rang eines Orenburger Gouverneurs aufgestiegen war, bei seinen Vorschlägen das Interesse bewogen haben, die Arbeit der lokalen Administration in den Peripherien und Festungsstädten zu erleichtern. Aber auch Nepljuevs Vorschläge verhallten ergebnislos, und das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten schlingerte weiterhin in der Frage, wie die Zukunft der Geiselhaltung aussehen solle. Als Sohn Chož-­Achmet bereits das siebte Jahr 165 Iz donesenija načal’nika Orenbugskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del o položenii v Malom i Srednem Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 119 (9.1743), 301 – 307, hier 305. 166 Prošenie chana Abulchaira, in: MpiK SSR Bd. 2, Teil 2, Nr. 20 (7. 11. 1743), hier 74. 167 Iz donesenija načal’nika Orenbugskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del o položenii v Malom i Srednem Žuzach. In: KRO Nr. 119 (9.1743), 301 – 307, hier 305. – Nepljuevs Vorschlag, die Chan-­Kinder am Zarenhofe die Interessen ihrer Väter vertreten zu lassen, erinnert an die Gegebenheiten der mongolischen Geiselhaltung. Allerdings taucht ein solcher historischer Verweis an keiner Stelle in den Überlegungen auf. 168 Ivan I. Nepljuev setzte gegenüber den Kasachen der Kleinen Horde weniger auf Dialog und Einbindung als auf Abschreckung durch Gewaltandrohung oder Gewaltausübung. Unter anderem ließ er den sogenannten Notfallplan ausarbeiten, in dem er die militärische Einkreisung der Kasachen für den Fall plante, dass deren Überfälle auf russländische Siedlungen nicht aufhörten. O kirgis kasackach. Kniga Aziatskogo departamenta Nr. 21, in: B., Iz istorii Kazachstana XVIII v., 146. – Mehr zu Nepljuevs Haltung und seiner Einschätzung in den Kap. 4.2 und 4.5.

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in Folge festgehalten wurde, eskalierte die Situation. Abulchair-­Chan verstärkte einmal mehr die kasachischen Überfälle auf russländische Siedlungen. Nepljuev brüskierte den Chan mit dem Hinweis, der „Zustand“ der kasachischen Horde lasse eine Rückgabe seines Sohnes noch nicht zu.169 Im August 1748 wurde Abulchair-­ Chan von einem kasachischen Rivalen ermordet. Es ist unklar, inwieweit Nepljuev daran beteiligt gewesen war, innerkasachische Feindseligkeiten zu schüren, die in dem Mord kulminierten. Fest steht nur, dass Nepljuev die russländische Inthronisierung von Abulchairs Sohn Nurali zum neuen Chan der Kleinen Horde dazu nutzte, jegliche Kaschierung der Geiselhaltung zu beenden.170 Kategorisch forderte er vom neuen Chan, dessen einsitzenden Bruder Sultan Adil’ durch Nuralis dreijährigen Sohn als Geisel auszutauschen. Nurali-­Chans Hinweis, dass derart kleine Kinder bei den Kasachen von ihren Müttern zu erziehen s­ eien, ließ Nepljuev nicht gelten. Der Sohn könne auch von einer Kinderfrau begleitet werden. Zudem werde er „durch die Güte Ihrer Kaiserlichen Hoheit“ auf jegliche Weise zufriedenstellend gehalten werden. Gleichzeitig waren von Nepljuev auch neue Töne zu hören. So deutete er erstmals an, es könne sein, dass die Geiselhaltung „eines Tages“ nicht mehr nötig sei. Dies sei dann der Fall, wenn die Kasachen mit der Ausführung der Zarenerlasse und „der vollständigen alleruntertänigsten Ergebenheit“ gegenüber „Ihrer Kaiserlichen Hoheit“ ihre Eignung bewiesen hätten.171 Die Tücke der Äußerung lag für die kasachische Seite im Ungefähren. Es war die Zarenadministration bis hin zur Zarin selbst, die über die Kriterien der ‚Eignung‘ entschied. Und die Kriterien konnten sich je nachdem, wie es um russländische Bedürfnisse stand, auch ändern.

169 Zapis’ besedy orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva s chanom Nurali, sultanami i staršinami. In: KRO Bd. 1, Nr. 178 (11. – 25. 7. 1749), 450 – 473, hier 467. – Tatsächlich sollte Sultan Chož Achmet erst neun Jahre nach Beginn seiner Geiselschaft freikommen, abgelöst durch seinen Bruder, Sultan Ajčuvak, und kurze Zeit s­ päter durch einen weiteren Bruder, Sultan Adil’. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 58. – Gegenüber Sultan Adil’ wurden zuvor ungekannte Zugeständnisse gemacht. So wurde ihm 1749 erlaubt, von Zeit zu Zeit von der Orenburger Festung, auf der er als Geisel einsaß, zu seiner Braut zu reisen, wenn sie im Winter mit ihrer ­Mutter und dem Vieh im Winter am Jaik weidete. Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o ceremonii publičnogo izbranija sultana Nurali chanom i sostojavšichsja pri ėtom peregovorach s kazachskimi feodalami. In: KRO Bd. 1, Nr. 181 (9. 8. 1749), 475 – 481. 170 Ausführlich zur erstmaligen Einsetzung eines kasachischen Chans „von der Zarin Gnade“ und damit zur schleichenden Aushöhlung innerkasachischer politischer Strukturen in Kap. 4.5. 171 Zapis’ besedy orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva s chanom Nurali, sultanami i staršinami. In: KRO Nr. 178 (11. – 25. 7. 1749), 467 – 468.

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Die Geiselhaltung als imperiales und koloniales Instrument

Beschleunigung des Wandels In die Frage der Geiselhaltung war unwiderruflich Bewegung gekommen. Nicht nur gegenüber den Kasachen war die Möglichkeit eines Endes der Methode erwähnt worden, wenn auch in unbestimmter Zukunft. Auch aus Ostsibirien kamen ähnliche Äußerungen von Angehörigen der imperialen Elite. Der bekannte russländische Kapitän Aleksej Il’ič Čirikov riet in seinem Bericht an das Admiralitätskolleg mit Blick auf die Geiselhaltung 1746 dazu, die von Würdenträgern ostsibirischer ethnischer Gruppen genommenen Geisel dann freizulassen, wenn sie „ihre Loyalität“ gegenüber den Russen gezeigt hätten. Auch die Voevoden, so Čirikov, teilten seine Auffassung. Als Voraussetzung nannte er das Kriterium, es müsse sich um „gute Fürsten“ (dobrye knjascy) handeln, die seit langem in Treue ergeben ­seien.172 Die Befreiung von Geiseln lasse sich zudem mit der Großzügigkeit der Zarin begründen und könne die Betroffenen dazu motivieren, im Gegenzug eine höhere jasak-­Zahlung zu erbringen. Besonders kämen dafür s­ olche ‚Fürsten‘ in Frage, die zum einen den christlichen Glauben angenommen hätten und zum anderen diesen auch beibehielten.173 Damit allerdings offenbarte Čirikovs Plädoyer, dass die Konversion zum Christentum allein die Geiselstellung bislang nicht obsolet gemacht hatte. Vielmehr wurde deutlich, dass nicht die Annahme des Christentums als ­solche über die Frage entschied, ob Geisel zu stellen waren, sondern die russländische Wahrnehmung kultureller Fremdheit und ‚Unzuverlässigkeit‘. Christianisierung war im Sinne Peters I. und aus Sicht der imperialen Elite im 18. Jahrhundert kein Ziel mehr an sich, sondern ein Mittel zur Zivilisierung und Akkulturierung.174 Auch in die Ausgestaltung der Geiselhaltung gegenüber den Kabardinern im Nordkaukasus war Bewegung gekommen. Die pro-­russländisch eingestellte Fraktion kabardinischer Fürsten, die Baksansker Partei, brauchte ab 1748 vorerst keine Geisel mehr zu stellen. Die gegnerische und pro-­krimtatarisch eingestellte Seite, die Fürsten der Kaškatavsker Partei, hatten hingegen nach wie vor ihre Söhne auf die Festungen von Astrachan und Kizljar zu s­ chicken.175 Die von russländischer Seite 172 Der russische Ausdruck knjazec als eine Verkleinerungsform von knjaz’ (Fürst) ist nur schwer ins Deutsche zu übertragen. Es wurde als Bezeichnung für einen Anführer nicht-­christlicher ethnischer Gruppen im Osten verwandt und drückte im Vergleich zum russischen Fürstenbegriff eine geringere Wertschätzung aus. 173 Iz raporta A. I. Čirikova Admiraltejstv-­kolgii. Opisanie rybnych promyslov na Kamčatke i predloženija ob ulučšenii žizni mestnogo naselenija. In: Divin (Hg.), Russkaja tichookeanskaja ėpopeja, Nr. 57 (18. 6. 1746), 252 – 256, hier 254. 174 Ausführlich zum Zusammenhang von Christianisierung und Zivilisierung in der petrinischen Ära in Kap. 4.3. 175 Opisanie kabardinskogo naroda, chranjaščeesja v materialach Kollegii inostrannych del, so svedenijami iz istorii kabardinskogo naroda, o ego meždunarodnych svjazjach i ėtnografičeskich osobennostjach. In: KabRO Bd. 2, Nr. 119 (Mai 1748), 152 – 161, hier 159.

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unterschiedliche Einschätzung des zu erwartenden Grads an Loyalität gegenüber der Zarenregierung hatte hier zu einer bereits unterschiedlichen Behandlung geführt. Hingegen standen die Überlegungen über ein mögliches Ende der Pflicht zur Geiselstellung in keiner der Regionen in einem Zusammenhang mit der Frage, wie lange sie bereits von einer ethnischen Gruppe erbracht worden war. Während die Kabardiner seit Ende des 16. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert durchgängig Geisel zu stellen hatten, dasselbe von den ethnischen Gruppen Sibiriens seit dem frühen 17. Jahrhundert verlangt worden war, die Kalmücken und Baschkiren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Geisel stellten, zeigten Nepljuevs Äußerungen gegenüber den Kasachen, die erst wenige Jahre zuvor zarische Untertanen geworden waren, und das Verhalten gegenüber der pro-­zarisch eingestellten kabardinischen ‚Fraktion‘, dass die imperiale Praxis zumindest in ihrer bisherigen Form ihre Hoch-­Zeit überschritten hatte. Weitere Veränderungen kündigten sich mit dem Erlass der Zarenregierung von 1749 an, mit dem nach Jahrhunderten willkürlich gehandhabter russländischer Geiselhaltung erstmalig Regeln aufgestellt wurden, die für das ganze Imperium gelten sollten: Geisel s­ eien künftig nach spätestens zehn Jahren zurückzugeben und in regelmäßigen Abständen auszutauschen. Vor allem s­ eien die Geisel bei ihrer „Freilassung“ (otpusk) in aller Öffentlichkeit mit Geld und Geschenken zu versehen. Das Ausmaß der Zuwendungen sei von den russländischen Interessen an den Geiseln und der jeweiligen ethnischen Gruppe abhängig zu machen.176 Damit wurde Mitte des 18. Jahrhunderts die bereits von Zarin Anna vorgegebene Richtung der Veränderungen bestätigt. Von der Geiselhaltung, sofern man sie beibehielt, sollte nicht mehr nur Druck und Zwang ausgehen. Vielmehr war sie fortan attraktiv auszugestalten. Ehemalige Geisel sollten eine gute Erinnerung an ihre Geiselzeit behalten, die Mitglieder ihrer ethnischen Gruppe sollten sie sogar um ihren Geiselstatus beneiden. Der Gedanke, Leibbürgen zum Abschluss ihrer Bürgerschaftszeit mit opulenten Geschenken auszustatten, wäre in den Zeiten der Moskauer Geiselhaltung völlig abwegig erschienen. Jetzt hielt man ein solches Vorgehen für dringend geboten.

Ryčkovs und Tevkelevs Vermerk von 1759 Nach dem Ausscheiden Nepljuevs aus seinem Amt des Orenburger Gouverneurs hielten dessen reformorientierte Rivalen ihre Zeit für gekommen. 16 Jahre lang hatte Nepljuev die Geschicke der Region maßgeblich bestimmt, zunächst von 176 Ukaz imp. Elizavety orenburgskomu guvernatoru I. Nepljuevu ob utverždenii sultana Nurali chanom. In: KRO Bd. 1, Nr. 175 (2. 5. 1749), 444 – 446.

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1742 bis 1744 als Leiter der Orenburger Kommission, dann von 1744 bis 1758 als Gouverneur im neu eingerichteten Orenburger Gouvernement. Seine bevorzugte Methode war es, Konflikte mit den Kasachen durch Härte, Umzingelung ihrer Lebensräume und militärische Strafexpeditionen zu lösen.177 Nepljuevs Kritiker Tevkelev und Petr Ivanovič Ryčkov hingegen hielten ganz andere Wege für richtig, um die Kasachen zu befrieden. Ryčkov (1712 – 1777) war als Historiker, Ökonom und Geograph durch seine dreijährige Teilnahme an der Orenburgischen Expedition unter Kirilov mit den Steppenvölkern bestens vertraut.178 Zusammen mit Tevkelev nutzte er Nepljuevs Abgang sowie ihrer beider Ernennung zu Übergangsverwaltern des Orenburger Gouvernements dazu, um bei der Zarenregierung vehement für eine neue Politik zu werben. Der von beiden gemeinsam verfasste Vermerk vom Januar 1759 an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten ist eines der interessantesten Strategiepapiere der Zeit. In ihm geht es um die Frage, w ­ elche Ziele das Russländische Reich an seinen südlichen Grenzen haben und mit w ­ elchen Instrumenten es diese verfolgen solle. In seiner grundsätzlichen Ausrichtung ist es in einer Reihe mit dem Vermerk von Kirilov zu sehen, mit dem dieser 1734 Zarin Anna für die Expansion in den Süden und die Gründung der Stadt Orenburg bewegt hatte.179 Auch die Frage, wie mit der Geiselhaltung künftig umzugehen sei, spielte in dem Papier eine bedeutende Rolle. Tevkelev und Ryčkov nahmen explizit Bezug auf die damalige Vision der Zarin Anna, bei jedem ‚Volk‘ „ein besonderes Gericht“ zu gründen, damit die Menschen nicht aufgrund der Geiselhaltung, sondern aufgrund von „Gnade und Rechtsprechung“ das Zarenreich ehrten, und bemängelten, dass diese Idee im Falle der Kleinen Horde der Kasachen (unter Nepljuev) noch nicht zur Anwendung 177 Aus Nepljuevs eigenen Aufzeichnungen geht deutlich hervor, wie sehr er die nomadisch lebenden Horden der Steppe als Bedrohung wahrnahm. N epljuev , Zapiski Ivana Ivanoviča Nepljueva, z. B. 146, 150. – Eine positive Würdigung noch zu Zeiten des Zarenreiches erhielt Nepljuev durch die Biographie von V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj. – Mehr zu Nepljuevs Auffassungen und einschlägigen Methoden in den Kap. 4.2 und 4.5. 178 Petr I. Ryčkov (1712 – 1777) verarbeitete seine Kenntnisse über das Orenburger Gouvernement und seine Einwohner in mehreren Schriften, die große Beachtung fanden. 1750 wurde er Erstes Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählen seine auch ins Deutsche übersetzte „Orenburgische Topographie oder ausführliche Beschreibung des Gouvernements Orenburg aus dem Jahre 1762“ und seine „Geschichte Orenburgs“. – Viele seiner Werke finden sich in Žizn i dejatel’nost P. I. Ryčkova. – Eine vollständige Bibliographie von Ryčkovs Werken in E fremov , Petr Ivanovič Ryčkov, 99 – 102. Weitere Biographische Studien zu Ryčkov von M atvievskij , Petr Ivanovič Ryčkov; U chanov , Ryčkov; Nasledie P. I. Ryčkova; L eckey , Envisioning Imperial Space. 179 Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirilova na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114. – Ausführlich zu Kirilovs Vermerk und dessen Rezeption in Kap. 4.2.

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gekommen sei. Zwar ließen auch sie keinen Zweifel daran, dass grundsätzlich an der Geiselhaltung festzuhalten sei.180 Um aber dafür zu sorgen, dass von den Geiseln nicht nur Kosten, sondern zugleich Nutzen ausgehe, sei es geboten, im Sinne Zarin Annas im Verbund mit einer „Ehrenwache“ (karaul) ‚Gerichte‘ einzurichten. Die Einbeziehung der Chan-­Söhne und der Kinder kasachischer Ältester in solchen ‚Gerichten‘ bedeute dabei keineswegs, dass der Charakter der Geiselnahme geringer werde. Vielmehr verhelfe sie dazu, die Kasachen „zu größerer Zivilisation und zur Erkenntnis staatlicher Rechte“ zu führen (k bol’šoj ljudkosti i k poznaniju gosudarstvennych prav).181 Hatte Zarin Anna bereits 1734 dargelegt, wie wichtig es sei, die Geisel und damit die Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe insgesamt nicht bloß durch Druck und Erpressung, sondern auch innerlich für die Zarenherrschaft einzunehmen, so gingen die Ausführungen von Ryčkov und Tevkelev noch einen Schritt weiter. Der Zarin war es ein Anliegen gewesen, die Sicht der neu einverleibten Untertanen einzunehmen, deren Geisel mit aus ihrer Sicht positiven Anreizen für die ‚gute Sache‘ gewonnen werden sollten. Dagegen drückte sich bei Ryčkov und Tevkelev eine ausgereifte koloniale Sichtweise aus. Es ging nicht mehr bloß darum, Anreize zu geben. Die Geiselhaltung sollte vielmehr für den Auftrag einer großangelegten Fremdsteuerung der kasachischen Gesellschaft eingesetzt werden. Das Ziel der Fremdsteuerung war es, die zu Kolonisierenden an die Werte und Gepflogenheiten der russländischen Mehrheitsgesellschaft heranzuführen. Stärker, als dies je zuvor von Vertretern der imperialen Elite geäußert worden war, trat bei den Autoren des Vermerks die für koloniales Denken spezifische Bewusstseinshaltung zu Tage, sich für kulturell höherwertig zu halten und daraus einen universellen Umgestaltungsauftrag abzuleiten. So verwiesen die Beamten auf die Notwendigkeit, die „veralteten Gebräuche“ (zastarelye obščnosti) des „kasachischen Volkes“ zu verändern. Als Ziel der Veränderung diente „der Zustand der Zivilisiertheit“ (sostojanie ljudskosti). Zwar sei ­dieses Ziel nur mühsam zu erreichen. Die Baschkiren hätten ihn nach „zweihundert Jahren der Untertanenschaft“ zumindest in Ansätzen erreicht. Aber bei den Kasachen werde sich der Prozess vermutlich leichter und rascher vollziehen, weil sie bereits durch den verhältnismäßig k­ urzen Umgang mit dem Russländischen Reich in einen derartigen „Zustand der Vernunft“ gekommen s­ eien (v takoe sostojanie razuma prišli), dass bei ihnen „Zivilisiertheit und ein gesunder Menschenverstand“ (ljudskost’ i dovol’noe razsuždenie) schon zu beobachten s­ eien. Die Geiselhaltung und der 180 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 578. 181 Ebd. 579.

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Einsatz von Geiseln in ‚Gerichten‘ und in Kooperation mit russländischen ‚Richtern‘ dienten d­ iesem Ziel.182 Tevkelevs und Ryčkovs Vermerk erreichte das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten grundsätzlich zu einem für sie günstigen Zeitpunkt. Zum einen hatte sich gezeigt, dass Nepljuevs Weg der kompromisslosen Härte zwar zu einer kurzfristig besseren Absicherung russländischer Karawanen, nicht aber zur ‚Befriedung‘ der Kleinen Horde der Kasachen geführt hatte. Zum anderen war durch die Zerschlagung des Dsungarischen Reiches durch China und die damit verbundene chinesische Expansion eine neue, als bedrohlich wahrgenommene Lage entstanden. Es wurden dringend Konzepte benötigt, um sowohl die Kleine als auch die Mittlere Horde der Kasachen gegen die chinesischen Anwerbungsversuche immun werden zu lassen. Mit Afanasij R. Davydov wurde jedoch eine Persönlichkeit zum neuen Orenburger Gouverneur ernannt (1759 – 1763), die für die komplizierten russländisch-­ kasachischen Beziehungen ohne jede Vorkenntnisse war. Zudem fehlte Davydov der Mut, eigene Positionen zu entwickeln und Veränderungen gegenüber der Politik seines Vorgängers Nepljuev zu wagen.183 Auch zum Grundsatzpapier von Ryčkov und Tevkelev ist Davydovs Standpunkt nicht bekannt. Die Vorschläge der beiden erfahrenen Staatsmänner, die mit der Region überaus vertraut waren, blieben daher vorerst noch in der Schublade.

Neue Ausgestaltung der Geiselhaltung unter Katharina II. Dies sollte sich jedoch schlagartig ändern, als ab Juni 1762 mit Zarin Katharina II. ein neuer Wind an der Spitze des Reiches wehte. Jetzt konnten die über Jahrzehnte herangereiften Reformpläne aus den Schubläden geholt, die herkömmliche Geiselhaltung mehr als nur hier und da verändert werden. Bereits im April 1763 wandte sich die Zarin an den Orenburger Gouverneur Davydov mit den Worten, dass man die Anwesenheit der Geisel dazu n­ utzen solle, diese „von den barbarischen S ­ itten zu lösen (otvodit’ ot varvarskich nravov) und ihnen Zivilisiertheit und eine bessere Umgangsweise beizubringen (vseljat‘ v nich ljudkost’ i lučšee obchoždenie)“. Dies sei zu erreichen, wenn man sie in einen engen Kontakt mit den Russländern bringe und sie die russländische Sprache und Grammatik erlernen lasse. Dann werde ihnen 182 Ebd. 576. – Ausführlich zum Aufkommen des zentralen Begriffs für Zivilisiertheit im 18. Jh. in Kap. 4.1. 183 Nachdem Petr I. Ryčkov und Aleksej I. Tevkelev die Weidepolitik gegenüber den Kasachen aufgelockert hatten, kehrte Gouverneur Davydov wieder zu dem strikten Kurs Nepljuevs zurück, wonach den Kasachen das Weiden auf der „inneren“ Seite des Yaik-­Flusses (später Ural genannt) auch im Winter strikt verboten war. Sabyrchanov, Zemel’naja politika carskogo pravitel’stva, 44.

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klar, dass sie „mit allen Russen“ ohne Übersetzer sprechen, selbst Briefe schreiben und lesen könnten. „Wenn einige von den sich an hiesigen Orten befindenden Geiseln dieser barbarischen Völker zivilisiert werden könnten ­(ispravleny byli by), dann werden mit der Zeit auch andere aus ihren Völkern von ihnen die zivilisiertere Umgangsform übernehmen.“ Nur müsse man überaus vorsichtig vorgehen, damit die muslimischen Väter und Verwandten nicht befürchteten, dass man die Geisel zwangsweise christianisieren wolle.184 Offenbar stieß die Zarin beim Orenburger Gouverneur nicht auf die erwartete Offenheit für ihren Vorschlag. Noch im selben Monat wurde Davydov abberufen und sein Posten an Dmitrij Vasil’evič Volkov (1715 – 1785) vergeben, der bereits im Kolleg für auswärtige Angelegenheiten sowie als Regierungs- und Privatsekretär uner Zarin Elisabeth und Zar Peter III. gedient hatte. Der frisch Ernannte griff Katharinas  II. Gedanken nicht nur auf, sondern entwickelte sie noch wesentlich weiter. Gleich nach seinem Antritt schrieb er in einem grundsätzlichen Vermerk im Mai 1763 an die Zarin. Darin warb er im Geiste der früheren Zarin Anna für eine „vorbildliche Rechtsprechung“ im Reich, um „Russland für alle benachbarten Völker verschiedener Glaubensrichtungen“ „liebenswürdig“ und attraktiv zu machen (zdelat’ Rossiju ljubeznoju).185 Darüber hinaus wies er schärfer als alle seine Vorgänger im Amt des Orenburger Gouverneurs auf das Potential der indigenen Geisel hin, das dem Russländischen Reich so lange entgehe, wie es an seiner herkömmlichen Form der Geiselhaltung festhalte: Warum zum Beispiel haben wir für die hiesigen jugendlichen Geisel keine bessere Aufsicht als für Vieh? Warum lehren wir sie nicht das Kriegshandwerk, warum bilden wir sie nicht in den zivilen Wissenschaften und der Sittsamkeit aus? Warum bemühen wir uns nicht, dass die als Geisel einsitzenden Kinder der Chane und der Ältesten ihre Zeit der Unfreiheit hier hinterher als allerbeste Zeit ihres Lebens betrachten, damit ihre Väter es als Glück ansehen, wenn ihre Kinder als Geisel gestellt werden ‒, ‒ stattdessen gilt derzeit, dass je länger hier jemand als Geisel in seiner Einkerkerung verbleibt, desto mehr sich bei d­ iesem Hass und vielleicht sogar Rachlust gegenüber dem russländischen Namen vermehrt? Warum lassen wir sie nicht den gewaltigen Unterschied ­zwischen unserer edlen (blagopristojnym) und ihrer viehischen Verhaltensweise ­(zverskim obchoždeniem) spüren? […]

184 Ukaz vom 8. 4. 1763 an den Geheimen Staatsrat und Orenburger Gouverneur Afanasij R. D ­ avydov. Archiv turgajskago oblastnogo pravlenija, 43. Hier zitiert nach D obrosmyslov , Zaboty imperatricy, 51/52. 185 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova imp. Ekaterine II ob osnovnych voprosach upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 490 (26. 5. 1763), 444 – 452, hier 446.

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Die Asiaten haben noch den Ruhm, treue Freunde zu sein, und was man mit Geld nicht kaufen kann, das lässt sich mit Freundschaft erreichen. […] Warum erwecken wir in ihnen nicht die Lust, in unseren hiesigen Dienst einzutreten? Warum flößen wir ihnen nicht lobenswerten Eifer ein, der großen Monarchin auf der Welt zu dienen, anstatt Plünderer zu sein? Warum belehren wir sie nicht in der Landwirtschaft und im Getreideanbau, auch wenn man dafür einige Jahre und ohne Ertrag einigen Aufwand erbringen müsste?186

Damit ging der neue Orenburger Gouverneur Volkov weit über bisherige Vorschläge hinaus. Tevkelevs und Ryčkovs Anliegen, die Kasachen durch Teilnahme an Rechtsprechung „zur Zivilisiertheit“ zu führen, die Idee der Zarin, dies durch die Vermittlung intensiver Sprachkenntnisse zu erreichen, ließ er in die Idee eines umfassenden Zivilisierungsprogramms münden. Dieses sollte von der militärischen über die akademische bis hin zur ‚sittlich-­moralischen‘ Ausbildung reichen. Mit der Vermittlung von Kenntnissen über Landwirtschaft und Getreideanbau sollte dem nomadischen Lebensstil zu Leibe gerückt und die Sesshaftigkeit der Kasachen gefördert werden. In der Argumentation des Orenburger Gouverneurs Volkov offenbarten sich koloniale Bestrebungen der imperialen russländischen Elite im Gewand aufklärerischer Narrative. Die Gegenüberstellung des eigenen „edlen“ Verhaltens und des „viehischen“ Zustands der Kasachen zeugte nicht nur von der Übernahme dichotomischer Denkmuster, wie sie sich seit Peter I. mit der Einteilung aller Menschen in „zivilisierte“ und „unzivilisierte Völker“ innerhalb der imperialen Elite verbreitet hatten.187 Vor allem legte sie die dahinter liegende Überzeugung frei, die russländische Seite in der Rolle desjenigen zu sehen, der aus dem Zustand der Zivilisiertheit andere auf den richtigen Weg zu führen habe ‒ ein Auftrag, Lebensweise und Gewohnheiten der Kasachen umzugestalten. Im Unterschied zu manchen seiner Vorgänger forderte Volkov nicht nur Veränderungen ein. Er bemühte sich auch darum, diese innerhalb seines Gouvernements umzusetzen. Für Sultan Bekgali, der als Sohn des kasachischen Nurali-­Chans seit 1760 auf der Troicker Festung im Orenburger Gouvernement als Geisel einsaß, veranlasste er die aus seiner Sicht bestmögliche Ausbildung, ließ ihn nach russischer Art einkleiden und ihm ‚russische Manieren‘ beibringen. Als Volkov Nurali-­Chan im Oktober 1763 zu einem Gespräch nach Orenburg kommen ließ, führte er ihm dessen Sohn vor. Der Chan, so die russländische Wahrnehmung der Begegnung, habe seinen Augen kaum getraut, als sein Sohn fließend Russisch sprechend, wohlgenährt und in gepflegter Kleidung in Erscheinung trat.188 186 Ebd. 447. 187 Ausführlich zur Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit in Kap. 4.1. 188 Iz žurnal’noj zapisi besedy chana Nurali i sultana Ajčuvaka s orenburgskim gubernatorom D. Volkovym vo vremja priezda chana v g. Orenburg. In: KRO Bd. 1, Nr. 256 (9. 10. 1763), 652 – 659

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Volkov nutzte das Staunen des Vaters und erklärte, dass der Sohn bedauerlicher­ weise nicht länger als Geisel bleibe. Sonst hätte man bei seinen Fähigkeiten und Neigungen einen solchen Menschen aus ihm machen können, dass er nicht nur für den Dienst an Ihrer Kaiserlichen Hoheit geeignet, sondern besonders auch ihm, dem Chan, seiner Familie und „der ganzen Nation“ (vsej nacii) der Kasachen überaus nützlich geworden wäre. Dies gelte insbesondere für das Erlernen der russischen Sprache. Damit könnten die Söhne dem Vater als Übersetzer dienen. Der Chan schien in der Wahrnehmung der russländischen Beobachter sichtlich beeindruckt und bat darum, man möge sich auch seines nächsten Sohnes, den er als Geisel übergab, derart annehmen, wie es bei seinem Sohn Sultan Bekgali geschehen sei. Volkov gab ihm sein Versprechen unter der Bedingung, dass der Chan dafür sorge, dass die übrigen kasachischen Geisel wieder nur den besten und stärksten Familiengeschlechtern entstammten. In der Vergangenheit s­ eien auch Kinder aus weniger guten Familien entsandt worden.189 Volkov ließ sich auf eigenen Wunsch hin nur ein Jahr s­ päter von seinem Posten als Orenburger Gouverneur abberufen. Dennoch war die Geiselhaltung an den südwestlichen und südlichen Reichsgrenzen zumindest für die Geisel aus den Familien höchster Würdenträger (wie für die Söhne kasachischer Chane oder jene der wichtigsten kabardinischen Fürsten) fundamental verwandelt worden: Aus den nur zum Pfand einsitzenden Objekten staatlichen Zwangs, aus den wie Waren behandelten Leibpfändern waren Subjekte geworden, potentielle Zivilisationsträger, um deren Vereinnahmung für die russländischen Interessen und Bedürfnisse sich die Zarenregierung fortan mit allen Kräften bemühte. Der russländische Vizekanzler Fürst Aleksandr M. Golicyn pries Ende 1764 gegenüber Nurali-­Chan die russländischen Bemühungen und wies darauf hin, wie sehr es Nurali-­Chan zum Nutzen gereiche, dass dessen Kinder sich nacheinander auf der russländischen Seite befänden und jede Form von „sittlichem Verhalten“ erlernten (obučajutsja vsjakomu blagnraviju). Auf diese Weise erlebten die Söhne schon von klein auf die „allerhöchste Gnade“ der Zarin.190 Volkovs Nachfolger im Amt des Orenburger Gouverneurs, Fürst Avram Artem’evič Putjatin (1709 – 1769), machte sich das Zivilisierungsprojekt sogar zu seiner höchstpersönlichen Aufgabe: Vier Jahre lang ließ er Nurali-­Chans Sohn, Sultan Ablaj (nicht zu verwechseln mit Sultan Ablaj von der Mittleren Horde), in seinem eigenen Haus ein und aus gehen, ließ ihn „europäisch“ einkleiden, brachte ihm russische Bräuche bei und hier 654. 189 Ebd. 190 Donesenie Kollegii in. del imp. Ekaterine II po povodu pretenzii chana Nurali k orenburgskoj administracii i ego svjazej s kitajskim bogdychanom i afganskim padišachom. In: KRO Bd. 1, Nr. 261 (6. 11. 1764), 669 – 674, hier 671 – 672.

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überzeugte ihn entgegen der Warnung Katharinas II . davon, Christ zu werden. Trotz der Konversion wurde Nurali-­Chan erlaubt, seinen Sohn Ablaj 1768 wieder in die Steppe zurückzuholen und ihn durch seinen Bruder Begali/Pirali als Geisel austauschen zu lassen.191 Im Februar 1764 unterstützte das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten Generalmajor von Frauendorf in dessen Bemühungen, Sultan Ablaj von der Mittleren Horde der Kasachen stärker an das Reich zu binden. Unter der Bedingung, dass Sultan Ablaj zehn Kasachen als Geisel schicke, sollte von Frauendorf dafür sorgen, Fachleute samt Gerätschaften zum Anlernen für den Ackerbau dorthin zu ­schicken. Auf Kosten der Staatskasse sollten diese Geisel Geräte erhalten und im Ackerbau ausgebildet werden.192 Die russländische Seite war mithin voller Hoffnungen, durch die neue Form der Geiselhaltung auf die Kasachen insgesamt, insbesondere auf die Kleine und in abgeschwächter Form auch auf die Mittlere Horde, einwirken, sie befrieden und stärker als zuvor in ihrer Lebensweise verändern zu können.

Enttäuschte Hoffnungen Ende des Jahrzehnts machte sich jedoch Desillusionierung breit. In einer grundlegenden Reflexion über die Erfahrungswerte, die man mit der neuen Form der Geiselhaltung gewonnen habe, gestand sich das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten 1769 ein, die neue Art der Geiselerziehung habe nicht verhindert, dass auch weiterhin von den Kasachen der Kleinen Horde zahllose „Gemeinheiten“ (proderzosti) an den russländischen Grenzen begangen und Kaufmannskarawanen beraubt worden s­ eien. Lediglich die Großfamilie des kasachischen Nurali-­Chans sehe sich durch die Geiselnahme ihrer Kinder gegenüber der russländischen Seite zum Wohlverhalten verpflichtet (deti ego […] služat v objazatel’stvo). Ihre Machtmittel und ihre Autorität aber reichten bei weitem nicht aus, um auf die anderen Kasachen einzuwirken.193

191 M ejer , Kirgizskaja step’ orenburgskogo vedomstva. Materialy dlja geografii, 15. Die Namensangaben variieren in den russländischen Quellen. Mejer spricht von Pirali, andere von Begali. 192 Ukaz Kollegii in. del general-­majoru fon Frauendorfu v sjazi s pros’bami sultana Ablaja o r­ azrešenii kazacham Srednego žuza peregonjat’ skot dlja vypasa na vnutrennjuju storonu r .Irtyša. In: KRO Bd. 1, Nr. 257 (9. 2. 1764), 659 – 663, hier 662. – Ausführlich zur Offensive der Zarenregierung, die Kasachen zu Sesshaftigkeit und zum Ackerbau zu bewegen in Kap. 4.4. 193 Ukaz Kollegii in. del Orenburgskoj gubernskoj kanceljarii o predloženii sultana Ablaja prislat’ svoego syna v Troickuju krepost’ amanatom. In: KRO Bd. 1, Nr. 271 (13. 8. 1769), 689 – 694, hier 690.

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Dennoch, so trösteten sich die Kollegsmitarbeiter, werde man die neue Form der Geiselhaltung nicht aufgeben: Wenn sie auch bislang noch keinen unmittelbaren Nutzen erkennen lasse, so könnten die Geiselkinder doch wenigstens „ein besseres Verständnis über den hiesigen [russländischen] Zustand und die hiesige Stärke“ bekommen. Zudem werde es mittlerweile ganz im Sinne Volkovs auch unter den Kasachen als attraktiver Vorteil angesehen, wenn man sein Kind als Geisel auf einer russländischen Festung habe. Vielleicht, so machte sich das Kolleg Hoffnung, wolle dies auch der lang umworbene Sultan Ablaj von der Mittleren Horde. Angesichts dessen Ehrsucht und Neigung nach Profit strebe er aus Gründen der eigenen Stellung vielleicht längst danach, auch seine Kinder als Geisel bei den Zarenvertretern zu wissen. Sultan Ablaj wurde sogar nachgesagt, dass er es als „ehrenvoll und ruhmbringend“ bezeichnet habe, wenn seine Kinder sich im Umgang mit russländischen Grenzkommandeuren befänden.194 Je mehr sich die Beamten des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten in eine Erfolgsdeutung der neuen Geiselhaltung hineinredeten, desto mehr entfernten sie sich von der Realität. Sultan Ablaj nutzte die interimperiale Rivalität von China und dem Russländischen Reich um seine Mittlere Horde der Kasachen weidlich aus, dachte nicht im entferntesten daran, tatsächlich seinen Sohn als Geisel zu stellen und machte nur spielerische Angebote wie d­ ieses, er werde gern seinen Sohn stellen, wenn die russländische Seite ihm zuvor 70.000 Pferde gebe, die ihm die Baschkiren gestohlen hätten.195 Die russländische Geiselhaltung in den südlichen Peripherien geriet angesichts ausbleibender Erfolge in eine tiefe Krise. Katharina II. selbst befand im März 1770, dass die Haltung von Geiseln aus den kasachischen Horden der russländischen Seite keine Vorteile gebracht habe. Die gesetzten Ziele s­ eien verfehlt worden, die ständigen kasachischen Überfälle auf Siedlungen von Baschkiren und Kalmücken hätten nicht abgenommen.196 Der Orenburger Gouverneur Ivan Andreevič Rejnsdorp/Reinsdorf (1768 – 1781) sah in der Haltung von Geiseln sogar zu Zeiten des Pugačev-­Aufstandes (1773 – 1775) keinen Nutzen mehr.197 Zwar verhielt sich 194 Ebd. 691. 195 Zapis’ pokozanij perevodčika M. Arapova, vozvrativšegosja iz poezdki k sultanu Ablaju s cel’ju vyjasnenija obstanovki v Srednem žuze. In: KRO Bd. 1, Nr. 276 (2. 7. 1770), 702 – 703. 196 D obrosmyslov , Zaboty imperatricy, 52. 197 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Rejnsdorpa v Gosudarstvennyj Kolleg inostranych del o vlijanii vosstanija E. Pugačeva na kazachskoe naselenie. In: KRO Bd. 2, Nr. 28 (8. 7. 1774), 63. – Beim Pugačev-­Aufstand handelte es sich um eine Rebellion im Umland von Orenburg, dem Kama-­Fluss und in Teilen Westsibiriens, die unter der Führung von Emeljan Pugačev als Aufstand der Jaik-­Kosaken gegen die Zarenregierung begann und sich anschließend großflächig ausbreite. Er gilt als erster multiethnischer Aufstand im Zarenreich, da er die wirtschaftliche und soziale Unzufriedenheit russischer Bauern mit den Beschwerden zahlreicher nicht-­russischer ethnischer Gruppen zu verbinden wusste, darunter jene der Kalmücken, Votjaken, Baschkiren, Čuvašen

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die Großfamilie des Nurali-­Chans äußerlich loyal zur russländischen Seite und beteiligte sich nicht an den aufflammenden Unruhen und zunehmenden Überfällen und Plündereien der Kasachen. Doch nutzte selbst Nurali-­Chan die Gunst der Stunde aus und weigerte sich erstmalig, der russländischen Seite weiterhin Geisel zu stellen. Er verwies darauf, dass bereits mehrere seiner Kinder, die er entsandt hatte, auf der Orenburger Festung gestorben s­ eien. Außerdem sei er, so versicherte Nurali-­Chan, auch ohne Abgabe von Geiseln in seinem Treueid gegenüber dem Russländischen Reich unerschütterlich.198 Damit war die Geiselhaltung, die in kolonialer Manier Indigene durch zarischen Druck und an russländischen Bedürfnissen ausgerichtet zu verändern suchte, gegenüber den Kasachen in eine Sackgasse geraten. Die Chan-­Familie, deren Söhne man während ihrer Geiselzeit ausgebildet und hofiert hatte, entpuppte sich nicht nur als machtlos, um kasachische Angriffe auf die russländische Seite zu verhindern. Nurali-­Chan war aufgrund seiner zarenfreundlichen Haltung mittlerweile derart angefeindet und bedroht, dass er 1786 sogar Zuflucht auf der russländischen Seite suchen musste.199 Darüber hinaus zerplatzte mit der Weigerung des Chans, weitere Geisel zu stellen, endgültig das Anliegen, über die Chan-­ Kinder die ‚Zivilisierung‘ der Kasachen voranzutreiben. Schließlich schien die wohlwollende Ausgestaltung, mit der man sich spätestens seit Volkov bemühte, die Geiselzeit bei eben jenen zu einer der „glücklichsten Zeiten des Lebens“ zu machen, bei den betroffenen kasachischen Geiselstellern die Angst genommen zu haben, ihren Kindern könne im Falle gesetzeswidrigen Verhaltens der Eltern etwas Böses widerfahren. An d­ iesem Hebel versuchte Katharina II. 1783 noch zu drehen. Sie nahm die anhaltenden kasachischen Unruhen zum Anlass, sich bei dem Statthalter für Simbirsk und Ufa zu erkundigen, ob denn noch Geisel der Kasachen auf den Festungen einsäßen. Falls ja, solle man diese doch an die Chane oder Sultane schreiben lassen, dass „ihr ruhiger Aufenthalt“ (spokojnoe ich prebyvanie) auf der russländischen und Kasachen. A lexander , Empire of the Cossacks; B ekmachanova , Legenda o Nevidimke; dies ., Rossija i Kazachstan v osvoboditel’nom dviženii, 29 – 52; Belikov, Učastie Kalmykov v Krest’janskoj Vojne. 198 Raport perevodčika A. Altyševa v Astrachanskuju gubernskuju kanceljariju o poezdke ego k chanu Nurali v svjazi s pugačevskim vosstaniem. In: KRO Bd. 2, Nr. 18 (Jan. 1774), 35 – 38, hier 38. 199 Von einem ‚Geiselstatus‘ Nuralis nach seiner Flucht vor den Mitgliedern der eigenen ethnischen Gruppe im Sinne der amanatstvo auszugehen, ergibt keinen Sinn. Insofern führen auch die Schlussfolgerungen von Anatolij V. Remnev und Olesja E. Suchich in die Irre, wonach die Chan Nurali gebotene Möglichkeit, Kontakt zur örtlichen Adelsgesellschaft von Ufa zu haben, typisch für die russländische Geiselhaltung gewesen sei. Davon konnte in den meisten anderen Fällen keine Rede sein. R emnev /S uchich , Kazchskie deputacii, 128 Fn. 32. – Die komplizierten Umstände der Gefangennahme von Chan Nurali sind hingegen gut aufgearbeitet in L apin , ­Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 217 – 223.

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Seite vom Verhalten der Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe abhänge.200 Die als Drohgebärde gedachte Maßnahme entpuppte sich jedoch nur als ­­Zeichen der Ohnmacht, der sich die Zarenregierung angesichts des Versagens eines ihrer jahrhundertelang wichtigsten Einwirkungsmittel gegenübersah. Von der Geiselhaltung ging in den südlichen Steppen keine Wirkung mehr aus, weder eine disziplinierende aus Angst noch eine ‚zivilisierende‘ durch (erzwungene) Ausbildung. Es galt, neue Wege zu finden.

Der Neuauf bruch unter Osip Andreevič Igel’strom Einer dieser Wege, um die ‚Zivilisierung‘ der Kasachen voranzubringen, sollte in den Augen der Zarin die Stärkung der muslimischen Religion sein.201 Mit neu zu errichtenden Moscheen und der Hilfe gebildeter tatarischer Geistlicher sollte fortan das erreicht werden, wozu die kolonialisierte Form der Geiselhaltung nicht gereicht hatte. Der Gouverneur von Astrachan, Ivan Varfolomeevič Jakobi, nannte den Zusammenhang beim Namen: Nachdem die Zarin erkannt habe, dass ihr Versuch gescheitert sei, die Kasachen „zu Zivilisiertheit und besseren Umgangsformen“ (ljudskost i lučšee obchoždenie) zu führen, indem man indigenen Geiseln Lesen und Schreiben auf Russisch beibrachte, habe sie nun beschlossen, Moscheen zu errichten.202 Der zweite Weg für einen Neuaufbruch, zumindest in der Politik gegenüber den südlichen Steppenvölkern, verband sich mit einer neuen Vertrauensperson der Zarin. Katharina II. ernannte den aus livländischem Adel stammenden, hochgebildeten Osip Andreevič Igel’strom (Otto Heinrich Igel’ström) zum Generalgouverneur der Statthalterschaft von Simbirsk und Ufimsk (1784 – 1792), wie die 1780 neu gegründete administrative Einheit jetzt hieß, zu der auch das Orenburger Gouvernement gehörte. Sechs Jahre lang (1784 – 1790) bestimmte Igel’strom die Geschicke der Region und gehörte mit seinem Anspruch, die russländisch-­ kasachischen Beziehungen konzeptionell neu zu gestalten, zu den wohl herausragendsten Staatsmännern imperialer Politik seiner Zeit.203 200 Pis’mo imp. Ekateriny II simbirgskomu i ufimskomu namestniku A. Apuchtinu o napadenii kazachov na voennye kreposti. In: KRO Bd. 2, Nr. 58 (3. 7. 1783), 106 – 107. 201 C rews , For Prophet and Tsar, bes. Kap. 1 und 2. 202 Hier zitiert nach R akovski , Jakobi Ivan Varfolomeevič. – Vgl. auch S emenov /S emenova , Gubernatory Orenburgskogo kraja, 104 – 110. 203 Bei dem in den russischen Quellen verwandten Namen ‚Osip Andreevič Igel’strom‘ handelt es sich um die russifizierte Version des Namens Otto Heinrich Igel’ström. – Die bislang umfassendste Biographie zu dem in Livland aufgewachsenen Adligen schwedischer Provenienz stammt von L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma. – Siehe außerdem J udin , Baron O. A. Igel’strom.

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Igel’strom verabschiedete sich gänzlich von dem Modell kolonialisierter Geiselhaltung. Er hielt die Idee für „überaus dümmlich“ (bezmerno durno), dass man geglaubt habe, Kasachen für das Richterwesen und die Rechtsprechung einnehmen zu können, indem man sie als Geisel in diese Funktionen einsetze.204 Seiner Auffassung nach widersprachen sich der Geist der Geiselhaltung und derjenige des ‚Richter‘wesens fundamental. Igel’strom trat nicht weniger als sein Vorgänger Volkov für eine russländische Zivilisierungsmission bei den Kasachen ein. Nur sollte diese Mission ohne die Geiselhaltung erfolgen. Stattdessen gewann Igel’strom die Zarin für die Einführung eines ‚Grenzgerichts‘ (pograničnyj sud) in russländisch-­kasachischer Kooperation (Gründung 1786), dessen Beschlüsse von mehreren Exekutivorganen (rasprava, Gründung 1787) in rein kasachischer Hand umgesetzt und kontrolliert werden sollten. Anders als bei den vorherigen ‚Gerichten‘, wie sie unter Tatiščev in den 1730er Jahren eingeführt worden waren, standen die ‚Richter‘, die für das ‚Grenzgericht‘ sowie für die Exekutivorgane aus dem Kreis der ehrwürdigsten Ältesten bestimmt worden waren, unter keiner Bewachung. Sie mussten auch gar nicht beständig am Ort des ‚Gerichts‘ sein. Stattdessen erhielten sie ein regelmäßiges staatliches Gehalt und standen primär in der Pflicht, zu den Sitzungen des ‚Gerichts‘ zu erscheinen.205 Tatsächlich geriet auch Igel’stroms neuer Ansatz ins Stocken und scheiterte – je nach Sichtweise – an den kasachischen Realitäten oder an mangelnder Unterstützung auf der russländischen Seite.206 Das Grenzgericht wurde 1799 wieder geschlossen, die Exekutivorgane innerhalb der kasachischen Horde 1806. Igel’strom sollte ­später als ein gegenüber der Realität entrückter Idealist gescholten werden.207 Das Scheitern seines politischen Ansatzes führte dazu, dass die Geiselhaltung in ihrer herkömmlichen Form an der südlichen Steppengrenze wieder Aufwind bekam. Hintergrund hierfür waren die Folgen des Baus von Festungslinien: Durch wallartig befestigte Linien und dahinter entstandene russländische Ansiedlungen war den Kasachen im Laufe des 18. Jahrhunderts ein umfangreicher Teil ihrer 204 „Ob’’jasnenie“ bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II v otvet na obvinenija, vydvinuye polk. D. A. Grankinym. In: MpiK SSR Nr. 33, 108 – 127 (10. 5. 1789), hier 117. Igel’strom analysiert hier rückblickend, dass der anfänglich beschwerliche Beginn der von ihm eingeführten Grenzgerichte auf das kasachische Misstrauen zurückzuführen sei, wieder als Geisel das Richteramt ausüben zu sollen. 205 Ausführlich zu Igel’stroms Versuch, mit Hilfe der neu eingerichteten Exekutivorgane die Kasachen zu loyalisieren, in Kap. 4.5. 206 Zum Scheitern der Reformversuche Igel’stroms siehe neben Kap. 4.5. die Ausführungen bei L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 175 – 177, 179 – 182, 214; J udin , Baron O. A. Igel’strom, 513 – 556. 207 Zamečanija, predstavlennye v Aziatskij departament stolonačal’nikom ėtogo departamenta A. I. Levšinym, na instrukciju Ministerstva inostrannych del polkovniku F. F. Bergu. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 138 (8. 4. 1823), 435 – 439, hier 439.

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Lebensräume genommen und der Zugang zu ihren im Winter wertvollsten Weidegebieten versperrt worden.208 Die Zarenregierung gab vor dem Hintergrund des Pugačev-­Aufstands dem Drängen der verarmten Kleinen Horde der Kasachen mit ausgehungerten Viehherden nach. Sie erlaubte ihnen, den Ural-­Fluss zu überqueren und ihre Winter mit dem Vieh auf Weidegebieten zu verbringen, die von den Festungslinien aus gesehen auf der inneren, dem russländischen Kernland zugewandten Seite lagen. Auf dieser inneren Seite fehlten jedoch Absicherungen, um Überfälle und Räubereien zu verhindern. Die Rückkehr zu einer Geiselhaltung mit reinem Pfandcharakter erschien dringlich geboten, um die Kasachen territorial so zu disziplinieren, dass sie sich ausschließlich auf die ihnen zugewiesenen Weiden beschränkten. An dieser traditionellen Form der Geiselhaltung wurde in der Folge bis weit in das 19. Jahrhundert noch festgehalten.209 Auch von der Mittleren Horde der Kasachen, die in ihren Lebensräumen im 18. Jahrhundert noch weitaus weniger durch die Expansion des Zarenreiches beeinträchtigt worden war, forderte die russländische Seite gegen Ende des Jahrhunderts Geisel in der herkömmlichen Form – in ­diesem Fall zur Absicherung des Handels. Generalmajor Ja. Gouver beabsichtigte, gleich zweierlei Sorten von Geiseln zu verlangen: Zum einen sollten Geisel aus all den Gebieten gestellt werden, durch die russländische Kaufmannskarawanen zogen und die in administrative Einheiten aufgeteilt worden waren (volosti). Zum anderen sollten indigene Geisel die Karawanen selbst begleiten und für deren Sicherheit sorgen, bis jene an ihrem Bestimmungsort eintrafen.210 Das Augenmerk richtete sich damit um die Jahrhundertwende zunehmend weniger darauf, mittels der Geiselhaltung politisch auf die Steppenvölker einzuwirken. Vielmehr stand jetzt im Mittelpunkt, mit Hilfe der Geisel gut überprüfbare Abmachungen rund um die Weideorte und den Handel abzusichern.211 Auch die bislang nebulös gebliebene Situation des Geiselverfalls, also der Zustand, wenn der Geiselsteller seine eingegangene Verpflichtung nicht eingehalten und der Geisel im Prinzip seine Rechte auf Unversehrtheit verloren hatte, wurde unter Zar Alexander I. klarer 208 Ausführlich zu Festungslinien als Instrument imperialer Politik und zur Konstituierung von ‚Innen- und Außenräumen‘ (so auch die Quellenbegriffe) in den südlichen Steppen in Kap. 4.2. 209 MpiK SSR Bd. 4, Nr. 20 (5. 4. 1787), 83 – 86, hier 84; Nr. 55 (13. 2. 1796), 185 – 186; KRO Bd. 2, Nr. 97 (17. 6. 1808), 175; Nr. 144 (10. 10. 1830), 242. 210 KRO Bd. 2, Nr. 83 (9. 4. 1795), 143 – 148; MpiK SSR Bd. 4, Nr. 60 (nicht vor dem 29. 4. 1802), 196 – 199; Nr. 61 (16. 12. 1802), 199 – 201. 211 Dies galt nicht nur für den Umgang mit den kasachischen Horden, sondern auch für jenen mit den Turkmenen, die 1802 in die russländische Untertanenschaft aufgenommen worden waren. Zur russländischen Geiselnahme von Turkmenen unter dem Begriff zalog RTurkO Nr. 137 (13. 6. 1819), 202 – 203. – Unter den Turkmenen war es weitverbreitet, zur privatrechtlichen Absicherung von Handelsverträgen Geisel zu nehmen. Der russische Quellenbegriff hierfür ist založniki. RTurkO Nr. 140 (27. 10. 1819), 206 – 207.

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gefasst: Im Falle von Willkür, Raub und Überfällen der Geiselsteller sollten Geisel, die nun möglichst nicht mehr Kinder, sondern bevorzugt Anführer ihrer ethnischen Gruppe zu sein hatten, nicht mehr zurückgegeben werden.212 Die für weitergehende politische Zwecke eingesetzte Geiselhaltung an der Steppengrenze hatte damit ausgedient. Zum einen war die Zarenregierung im Hinblick auf die gescheiterten Versuche ‚zivilisierender‘ Einwirkung desillusioniert. Zum anderen waren die Unterwerfung und Eingliederung der südlichen Nomaden, so der Kalmücken, Baschkiren und allmählich auch der Kasachen und Turkmenen, Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich weiter fortgeschritten: Die militärische Ohnmacht und wirtschaftliche Verarmung hatten angesichts der Verdrängung durch zahllose russländische Festungslinien, Enteignungen und russländische Siedlungen derart zugenommen, dass größerer ‚Ungehorsam‘ entweder nicht mehr erwartet oder aber mit anderen Mitteln für bezwingbar angesehen wurde.213

Zivilisierungsmission im Nordkaukasus Auch im Nordkaukasus erfuhr die Geiselhaltung gravierende Veränderungen dadurch, dass sich die vor Ort agierende russländische Elite Narrative der Aufklärung wie die vom Fortschritt und der universalen Zivilisierungsleiter aneignete. Allerdings vollzog sich der Wandel in dieser Region, in der die interimperiale Konkurrenz und das Ringen um Einfluss das russländische Vordringen im 18. Jahrhundert verzögert hatte, erst ab den 1760er Jahren. Zur selben Zeit, als in Orenburg der neue Gouverneur Volkov dafür warb, das Potential kasachischer Geisel für russländische Interessen der Zivilisierung zu n­ utzen, schickte das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten auch dem Kommandanten der russländischen Festung Kizljar die Anweisung, die Geisel der Bergvölker in jeder Hinsicht zur Zivilisation zu führen (privodit’ v ljudkost’). Sie sollten die russische Sprache erlernen und von „barbarischen S ­ itten fortgeführt werden“ (ot varvarskich nravov otvodit’ ).214 212 Ukaz imp. Aleksandra I Orenburgskomu voennomu gubernatoru G. Volkonskomu po povodu perechoda kazachov na tak nazyvaemuju Vnutrennjuju storonu r. Urala. In: KRO Bd. 2, Nr. 97 (17. 6. 1808), 175. 213 1823 wurde der Chan der Mittleren Horde abgesetzt, sein Gebiet der sibirischen Verwaltung unterstellt, 1824 die Kleine Horde durch Teilung aufgelöst und mit als Beamten eingesetzten Sultanen regiert (sultany-­praviteli). Bis 1848 wurde auch die Große Horde schrittweise aufgelöst. Ausführlich zur schleichenden Aushöhlung und anschließenden Abschaffung kasachischer politischer Eigenständigkeit in Kap. 4.5. 214 Der Astrachaner Gouverneur Petr Krečetnikov erinnerte an den Erlass des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten vom 8. 4. 1763. Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 311 – 317, hier 316.

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Im Nordkaukasus und hier insbesondere bei den Kabardinern lagen die Dinge jedoch komplizierter als bei den Kasachen der Kleinen Horde. Der interimperiale Kampf des Osmanischen Reiches, des Krim-­Chanats, Persiens und diverser kaukasischer Fürstentümer um Einfluss auf die Kabardiner destabilisierte die innenpolitische Lage der Kabardiner noch weitaus mehr, als dies durch das Vordringen von Dsungaren und Chinesen bei den Kasachen der Fall war. Politische Loyalitäten drohten beständig zu wechseln, zumal der russländisch-­osmanische Krieg Anfang der 1770er Jahre die innerkabardinischen Kämpfe massiv verschärfte. Auf diese Weise kam der Geiselhaltung als Druckmittel, um Abmachungen zur außenpolitischen Orientierung Gewicht zu verleihen, viel länger noch eine grundlegende Bedeutung zu als in den Steppen der Kasachen. Der russländische Kommandant der Kizljarer Festung, Nikolaj Alekseevič Potapov, erklärte 1768 den kabardinischen Würdenträgern sogar, er werde zu Gesprächen mit ihnen nicht erscheinen, solange sie ihm keine Geisel stellten. Wenn sie „irgendetwas Gutes“ von ihm wollten, dann müssten sie zuerst Geisel geben, dann werde er sein Versprechen auch erfüllen. Ohne Geisel aber tue er nichts (a bez amanatov n ich kakomu delu ne pristuplju).215 Selbst ein kabardinischer Würdenträger, der sich zur pro-­russländischen Fraktion zählte, ermunterte die russländische Seite in geheimer Mission, unbedingt weiter auf der Geiselstellung zu bestehen. „Wenn keine Geisel genommen werden, wird von diesen Herrschern [gemeint waren kabardinische Teilfürsten] auch die Treue nicht fortgesetzt werden; aber mit der Ergreifung von Geiseln werden sie in ihrer Treue gestärkt“ (one v vernosti podkrepjatsja).“ 216 Insbesondere während des Russländisch-­Türkischen Kriegs von 1768 bis 1774 wies Katharina II. an, unbedingt am „alten Brauch“ festzuhalten, wonach die Fürsten ihre eigenen Kinder als „wahrhaftige Geisel“ zu stellen hätten. Wenn sich die Kabardiner an diese Pflicht nicht hielten, werde man mit Gewalt durchgreifen.217 Auch die gewaltsame Verschickung kabardinischer Söhne in die russländische Hauptstadt wurde erwogen.218 215 Zapiska kizljarskogo komendanta N. A. Potapova kabardinskim vladel’cam o pričine ego nejavki v Mozdok. In: KabRO Bd. 2, Nr. 200 (31. 5. 1768), 276 – 277, hier 277. 216 Zapis’ soobščenija Š. Čopalova poslannogo kabardinskogo vladel’ca Džanchota Tatarchanova v Kihljarskoj sekretnoj ėkspedicii o prisjage bol’šinstva kabardinskich vladel’cev na vernost’ ­Rossii i o privedenii generalom de Medemom ostal’nych vladel’cev v pkornost’ siloju. In: KabRO Nr. 207 (19. 6. 1769), 290 – 291, hier 291. 217 Gramota imperatricy Ekateriny II Kabardinksim vladel’cam, utverždajuščaja ich pravo na vozvraščenie beglych krest’jan i otkazyvauščaja im v srytii Mozdoka. In: KabRO 2, Nr. 213 (9. 8. 1771), 299 – 304, hier 303. 218 Predstavlenie kapitana M. Gastotti v Kollegiju inostrannych del o povedenii kabardinskich feodalov v period russko-­tureckoj vojny s izloženiem ego mnenija o toj politike, kotoruju sleduet provodit’ carskom pravitel’stvu v Kabarde. In: KabRO Bd. 2, Nr. 212 (vor dem 15. 10. 1770), 295 – 299.

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Mit dem Sieg des Zarenreiches über die Osmanen von 1774 trat der Pfandcharakter der Geiselhaltung allerdings in den Hintergrund. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte das Bemühen, die nordkaukasische Bevölkerung zu ‚zivilisieren‘, nicht zuletzt anhand ihrer Geisel. Petr Nikititič Krečetnikov, Gouverneur von Astrachan, hielt für das Ziel, „diese barbarischen Völker zu bezähmen“ (k obuzdaniju sich varvarskich narodov), „ihre Sprache und Gebräuche zu überwinden“ (dlja oproverženiju ich jazyka i obyčaev), weniger militärische Mittel als vielmehr die Beseitigung ihrer „groben Unkenntnis“ von Nöten.219 Dafür müssten stärker als zuvor die als Geisel einsitzenden Fürstenkinder angehalten werden, Russisch zu lernen und „sauber“ zu sprechen. Auch s­ eien sie in Astrachan in den Wissenschaften zu unterrichten. Und wenn man beim ersten Mal zwei oder drei von den Geiseln [die auf der Festung ‚Heiliges Kreuz‘ einsitzen] freiwillig nach Astrachan bekäme, dann kann man hoffen, dass nach nicht langer Zeit ihre Zahl ansehnlich wird, ja, und wenn die Fürstenkinder in der Schule wären und mit der Zeit auch den christlichen Glauben annähmen, dann bräuchte man eines Tages gar keine Geisel mehr (da i togda b i v amanatach nuždu ne bylo).220

Zwar ähnelten die hier zum Ausdruck kommenden Auffassungen des Astrachaner Gouverneurs jenen des Orenburger Gouverneurs Volkov. Auch bei Krečetnikov sollten Geisel nicht länger primär mit ihrem Leben bürgen, um politische Loyalitäten und Vereinbarungen abzusichern. Doch ging es für Krečetnikov um mehr: Neben allgemeiner „Bezähmung“, der Überwindung „grober Unkenntnis“ war sein Ziel auch die Verdrängung der indigenen Sprache durch die russische, der indigenen S ­ itten durch die russländischen Gebräuche und die Ablösung des muslimischen Glaubens durch den russisch-­orthodoxen. Für den Astrachaner Gouverneur war es folglich nicht allein die Idee einer Zivilisierungsmission, die den Sinn der Geiselhaltung fundamental verändert hatte oder verändern sollte. Mindestens so sehr ging es ihm auch um die Idee der Assimilierung. Erst mit dem doppelten Ziel von Zivilisierung und Assimilierung wurde damit auch für Krečetnikov die Geiselhaltung zur Übergangspraxis. In dieser Phase hatten Geisel als Transmissionsriemen z­ wischen der kolonialen und der zu kolonialisierenden Gesellschaft zu wirken. Von ihnen wurde erwartet, auf die anderen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe so einzuwirken, dass aus fremdgläubigen jasak-­Zahlern christliche, dem Zaren dienende Russländer geformt werden konnten. 219 Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 312 – 317, hier 315. 220 Ebd.

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Wenn diese Assimilierung gelungen sei, so Krečetnikov, dann brauche man keine Geisel mehr zu halten. Welche Dimension das Bemühen um ‚Formung‘ der „wilden Völker“ annahm, ließ sich knapp ein Jahrzehnt s­ päter am Beispiel des Umgangs mit einem Fürstensohn der Großen Kabardei als Geisel studieren: Pavel S. Potemkin, seit 1782 der Oberste Kommandant der Truppen im Kaukasus und der Flotte auf dem Kaspischen Meer sowie Generalgouverneur von Saratov, dem Kaukasus und dem Astrachaner Gebiet, kümmerte sich persönlich und nach eigenen Angaben „wie um einen eigenen Sohn“ um ‚seinen‘ kabardinischen Geisel. An den Vater des Geisels gerichtet, Fürst Misost Bamatov, schrieb er 1782, dass der Sohn „von vielversprechendem scharfem Verstand“ und „großer Vernunft“ sei und dass aus ihm ein „überaus nützlicher“ Mensch werden könne. Mit anderen Worten: Geisel zu halten, zumindest aus Familien von Würdenträgern, war auch im Nordkaukasus keine Aufgabe mehr für Wachsoldaten einer russländischen Festung. Ihre ‚Erziehung‘ und Ausbildung oblag nun Vertretern der imperialen russländischen Elite selbst. Statt Geisel wie früher ‚aufzubewahren‘, wurden jetzt ihre intellektuellen Kapazitäten und ihr Nutzen für eine Multiplikatorenrolle vermessen.221

Zivilisierungsmission in Sibirien, Fernost, Nordpazifik und Alaska Welche Veränderungen brachte der neue russländische Blick auf die Geisel für ihre Haltung in Sibirien und Fernost, im Nordpazifik und in den russländischen Eroberungen in Alaska mit sich? Die jasak-­Eintreibungen, die eng mit der in aller Regel gewaltsamen Geiselnahme Indigener erfolgten, standen seit ihrer Einführung Anfang des 17. Jahrhunderts unter dem ­­Zeichen von schwerem Missbrauch, 221 Pis’mo komandujuščego Kavkazskim korpusom P. S. Potemkina kabardinskomu knjazju Misostu Bamatovu o ličńom učastii v vospitanii syna Misosta, otdannogo v amanaty. In: KabRO Bd. 2, Nr. 250 (19. 12. 1782), 354. – Auch Ismail Atarščikov, der čečenische Vater des Protagonisten Semën S. Atarščikov aus der jüngst erschienenen Biographie „Bitter Choices“ von Michael Khodarkovsky, hatte als Geisel mit 13 Jahren in Kizljar in einer unbeheizten Schule mit harter Disziplin und magerer Verpflegung Russisch lesen und schreiben zu lernen sowie sich auf den Namen Semën taufen zu lassen. Khodarkovsky wies darauf hin, dass die Sterberate gewöhnlich die Rate der Graduierten überstieg. K hodarkovsky , Bitter Choices, 24 – 25. – Im 19. Jahrhundert griffen vor allem militärische Befehlshaber wie General A. P. Ermolov im Zuge der langjährigen, kriegerischen Unterwerfung des Kaukasus auf die Geiselpraxis zurück und nahmen die Kinder der Bergfürsten und Ältesten als Geisel, jetzt aber wieder in der Funktion eines Druckmittels zur Unterwerfung und nicht zur ‚Zivilisierung‘ und Assimilierung. E rmolov , Zapiski, 16, 27, 54; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 138. – Vermutlich wurde die Geiselhaltung erst nach der vollständigen Bezwingung der Region in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgegeben.

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Misshandlungen, ungerechtfertigter Bereicherung und Diebstahl zu Gunsten der jasak-­Eintreiber und auf Kosten der Einheimischen.222 In wohl keiner anderen Region des Zarenreiches hatte die Geiselpraxis erpresserischere und grausamere Züge angenommen als in Sibirien und Fernost.223 Schon allein die ständigen Wieder­ holungen in den Anweisungen der Zarenregierung, man möge doch „sanft“ und „freundlich“ mit den Indigenen umgehen, sie zur jasak-­Abgabe motivieren und die Geisel gut behandeln, um nicht zuletzt dadurch auch andere, noch nicht jasak-­ zahlende Einheimische für die russländische Untertanenschaft zu gewinnen, weisen darauf hin, dass die Appelle in den Weiten Sibiriens und des Fernen Ostens weitgehend verhallten. Die Missstände, die der Regierung durch viele Bittschreiben bekannt waren und die die Einnahmen der Staatskasse verringerten, veranlassten 1754 den Senat dazu, das Sibirische Amt (sibirskij prikaz) zu beauftragen, Vorschläge zu erarbeiten, wie die jasak-­Einsammlung und die damit verbundene Geiselhaltung verändert werden könnten. Der Auftrag erging mit Ivan Danilov an ein Mitglied des Sibirischen Amtes, das keine systemverändernden Reformen für nötig hielt. Seine ‚Reformvorschläge‘, die kaum mehr als eine Zusammenfassung der bestehenden Regelungen darstellten, stießen nicht nur auf scharfen Protest der übrigen Mitglieder des Amtes, die ihm grobe Unkenntnis der Lage vorwarfen. Vor allem forderten diese den Senat auf, eine vertrauensvollere Person zu bestimmen und sie mit einer entsprechenden Zahl an Helfern erneut nach Sibirien zu entsenden.224 Verstärkt wurde dieser Appell durch ein Reformpapier, das 1759 in St. Petersburger Regierungskreisen kursierte. In ihm wurde gefordert, das System gänzlich abzuschaffen, wonach russländische Dienstleute unter viel Missbrauch den jasak von den Einheimischen eintrieben. Der Systemwechsel sollte so aussehen, dass künftig die ‚Fürsten‘ und Ältesten eines volost’ (volostnye knjazcy i staršiny) den jasak selbst in ihren ethnischen Gruppen einsammeln und dann zu entsprechenden russländischen Verwaltungsstellen in die Stadt bringen sollten. Unter diesen Umständen könne dann auch auf die Geiselhaltung verzichtet werden, weil deren Hauptfunktion in Sibirien bislang die Absicherung der jasak-­Abgabe an die

222 Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, Nr. 41 (24. 9. 1640), 93 – 94; Nr. 43 (22. 9. 1645), 95 – 97; Nr. 187 (1645 – 46) 229 – 321; Nr. 19 (12. 10. 1648), 51 – 53; Nr. 196, vor dem 15. 7. 1679, 244; B achrušin , Očerki po istorii Krasnojarskogo uezda v 17.v., in: Naučnye trudy Bd. 4, 48 – 49. 223 An Eyewitness Account of Hardships suffered by natives in Northeastern Siberia during Bering’s Great Kamchatka Expedition, 1735 – 1744, as reported by Heinrich von Füch, former Vice President of the Commerce College, now a political Exile. In: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 33 (28. 2. 1744), 168 – 189; O kun ’, Vvedenie. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, 1 – 17. 224 M inenko , Severo-­Zapadnaja Sibir’, 241.

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russländischen Eintreiber gewesen war. Die noch zahlreich einsitzenden Geisel, so der unbekannte Autor des Reformpapiers, solle man Russisch lesen und schreiben lehren, „ihnen ihre Wildheit austreiben“ (otučat’ ot dikosti) und sie anschließend mit einer kleinen Belohnung in ihre Stämme zurückschicken. Auf diese Weise würden die Geisel „zur Liebe gegenüber Russland verpflichtet sein“ (oni objazany budut ljuboviju k Rossii).225 Der Tenor klingt vertraut: Er ähnelte sowohl jenem von Petr Ryčkov und ­Aleksej Tevkelev, die zeitgleich als Vertreter der Zarenadministration im Orenburger Gouvernement tätig waren, als auch jenem des wenige Jahre ­später in Orenburg eingesetzten Gouverneurs Dmitrij Volkov. Auch wenn Volkov für die südlichen Steppen wenig s­ päter keine komplette Abschaffung der Geiselhaltung forderte, so erscheint es durchaus möglich, dass er, der 1759 in St. Petersburg als Geheimer Konferenzsekretär den außenpolitischen Kurs des Reiches mitbestimmte, der Autor des Reformpapieres war, das in der Hauptstadt kursierte. Auffallend sind zudem die Abfolge und zeitliche Nähe von Volkovs grundlegender Kritik an der bestehenden Form der Geiselhaltung einerseits, wie sie in seinem Schreiben vom Mai 1763 an die Zarin zum Ausdruck kam, und der nur wenige Wochen s­ päter erfolgten Anordnung Katharinas II. an Fürst Michail Michailovič Ščerbatov andererseits. Darin wies die Zarin an, die jasak-­Eintreibung in Sibirien in ihrer bisherigen Form im Sinne des Reformpapiers von 1759 gänzlich abzuschaffen.226 Auch die Hoffnung Katharinas II., mit Zivilisierungsbemühungen die weiterhin einsitzenden Geisel für das Russländische Reich einzunehmen, entsprachen sowohl denen des Reformpapiers als auch denen Volkovs. Es liegt daher nahe, dass Volkov das Vorgehen Katharinas II. zumindest beeinflusste. In jedem Fall wird anhand d­ ieses Beispiels mit Blick auf die Geiselhaltung deutlich, wie hilfreich es für das Gesamtverständnis von imperialen Praktiken und ihren Veränderungen ist, diese transregional in den Blick zu nehmen.

Die Strukturreform Katharinas Anweisungen an Ščerbatov als der neuen Vertrauensperson für eine Strukturreform im Osten, mit denen sie die Forderung des Sibirischen Amtes aus den 1750er Jahren aufgriff, schafften die Geiselhaltung für Sibirien und Fernost allerdings noch nicht gleich ab. Die jasak-­Eintreibung durch russländische Dienstleute zu ersetzen, bedeutete lediglich, dass die Geiselnahme entbehrlich werden 225 M inenko , Severo-­Zapadnaja Sibir’, 242. 226 Katharinas II. Instruktion an Michail M. Ščerbačev, 4. 6. 1763. B ulyčev , Putešestvie po Vostočnoj Sibiri, Bd. 1, 254, 257 – 289; F edorov , Pravovoe položenie narodov vostočnoj Sibiri, 116.

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konnte, zumindest dann, wenn die Tributablieferung, die nun durch die Anführer der autochthonen ethnischen Gruppen selbst vorgenommen werden sollte, reibungslos erfolgte. Dieser Nachsatz war entscheidend. Von einer allgemeinen ‚Aufhebung der Geiselhaltung in Sibirien oder gar weiter östlich in Fernost, auf Kamčatka, den Kurilen oder gar in Russisch-­Alaska infolge der Instruktion Katharinas II. konnte keine Rede sein.227 „Empfinden die Fürsten (knjazcy) und besten Leute (lutčie ljudi)“, die als Geisel gehalten wurden, so hieß es in der Anweisung Katharinas II., „davon [von der Geiselhaltung] nicht eine gewisse Betrübnis (ne čuvstvujut li ot togo […] kakogo ogročenija)“? Es solle, so die Zarin, ein Weg gefunden werden, wie man ohne Geisel auskomme und wie die „Fürsten und besten Leute“ selbst treu jasak zahlten. Wenn es an manchen Orten aber keine Möglichkeit gebe, von Geiselnahmen Abstand zu nehmen, dann – so die Instruktion weiter – habe man sich gegenüber den Geisel zumindest „liebenswürdig“ (laskovo) zu verhalten, ihnen jegliche „Wohltat“ (blagodejanie) zu erweisen, ihnen derartige Bedingungen zu geben, unter denen sie „mit den Russen freien Umgang“ hätten (imet’ s russkimi obchoždenie vol’noe). Die lokalen Verwaltungsbeamten sollten erreichen, dass die „Fürsten und besten Leute“ ihr Dasein als Geisel nicht als beschwerlich ansähen und selbst als Geisel bis zum nächsten Austausch bleiben wollten. Und jene, ­welche bereit s­ eien, könnten nach ihrer Rückkehr in ihre Weidegründe allen ihren Verwandten erzählen, welches Wohlergehen sie vom Aufenthalt als Geisel erhalten hätten (kakoe udovol’stvie polučili).228 Mit diesen Anweisungen der Zarin, die im Stil und in der Argumentation den Vorschlägen ähnelten, mit denen zeitgleich die Geiselhaltung in den südlichen Steppen hatten verändert werden sollen, wurde die jasak-­Kommission mit der Überarbeitung der Tributeintreibung beauftragt.229 Im Juni 1769 verkündete die Kommission, dass ab sofort keine Staatsgelder mehr zum Unterhalt von Geiseln zur Verfügung stünden und die Indigenen den jasak selbst (und damit ohne Geiselstellung) einzusammeln und an den entsprechenden Abgabestellen abzuliefern hätten. Wie in der Instruktion der Zarin wurde auch im Erlass der Kommission die Möglichkeit offen gelassen, dass in dem einen oder anderen volost’ oder ulus die Geisel noch genommen werden könnten ‒ und zwar dort, wo „ein ganz 227 Die Auffassung, wonach die Geiselnahme abgeschafft worden sei, findet sich zu Unrecht in einem Großteil der Fachliteratur. F edorov , Pravovoe položenie narodov vostočnoj Sibiri, 116; ­D ahlmann , Sibirien, 153; S lezkine , Arctic Mirrors, 67; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 2, 289; Z alkind , Jasačnaja politika carizma, 239 – 240. 228 Katharinas II . Instruktion an Ščerbačev, 4. 6. 1763. Bulyčev, Putešestvie po Vostočnoj Sibiri, Bd. 1, 254, 257 – 289; F edorov , Pravovoe položenie narodov vostočnoj Sibiri, 116. 229 Nur anfangs noch wies Michail Ščerbačev die Kommission in ihre Arbeit ein, ab 1764 übernahm der sibirische Gouverneur D. I. Čičerin die Leitung.

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offensichtlicher Verdacht [auf Untreue]“ bestehe (javnoe na sebja v čem podozrenie podast). Diese Gruppen hätten weiterhin Geisel zu stellen, jedoch müssten diese auf Kosten der jeweiligen ethnischen Gruppe gehalten werden (s takovych brat’ amanatov i soderžat’ na ich košte). Ihnen sei zu erklären, dass die Geiselnahme als Strafe und „als Schande angesichts der anderen sich treu verhaltenen Untertanen“ erfolge (pred drugimi vernymi v styd). Von den wahrhaft Treuen nehme man keine Geisel, nur von den Verdächtigen. Fänden diese aber den richtigen Weg, so lasse man auch deren Geisel frei.230 Im Gegensatz zum bisherigen Zustand im Osten des Reiches, wo Geiselstellung gleichbedeutend damit gewesen war, sich der russländischen Untertanenschaft zu unterstellen, bedeutete dieser Beschluss der jasak-­Kommission eine radikale Kehrtwende. Diejenige ethnische Gruppe, von der jetzt noch Geisel eingefordert wurden, sollte fortan als unehrenhaft und schändlich gelten, die Befreiung von der Geiselstellung das anzustrebende Ziel sein. Berücksichtigt man die Diskussion vor und während der Kommissionsarbeit, so wird deutlich, dass diese Kehrtwende nur zu einem geringen Teil der Rezeption aufklärerischer Gedanken geschuldet war.231 Tatsächlich bewegten die Gemüter sehr viel mehr die Kosten der Geiselhaltung, die in den letzten Jahrzehnten immens gestiegen waren – und zwar sowohl im finanziellen Sinne (die Kosten für die Unterbringung, Bewachung und Verpflegung der Geisel) als auch in der Bedeutung des Blutzolls, den russländische Dienstleute im Laufe der Zeit in Sibirien und vor allem in Fernost für gewaltsame Geiselnahmen und die Geiselhaltung entrichtet hatten. Es lag daher im Interesse der Zarenregierung, in den Gebieten, in denen der Widerstand gegen die russländische Oberherrschaft als weitgehend gebrochen galt, die Last der jasak-­Eintreibung den indigenen Vertretern der ethnischen Gruppen selbst aufzudrücken.232

Ferner Osten und Nordpazifik Im fernen Nordosten vollzog sich in der russländischen Handhabung der Geiselhaltung eine Kehrtwende ganz eigener Art. Über Jahrzehnte hatten russländische 230 S trelov , Akty archivov Jakutskoj oblasti, Bd. 1, Nr. 55 (23. 6. 1769), 239 – 240, hier 240. 231 M inenko , Severo-­Zapadnaja Sibir’, 230 – 282; Z alkind , Jasačnaja politika carizma v Burjatii, 239 – 240; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 2, 310 – 311; A lekseev /A lekseeva /Z ubkov / P oberežnikov (Hg.), Aziatskaja Rossija, bes. 389 – 411; Š unkov , Jasačnye ljudi v Zapadnoj Sibiri, in: Sovetskaja Azija 3 – 4 (1930), 184 – 197; und 5 – 6 (1930), 261 – 271; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 2, 289 – 311; Istorija Jakutskoj ASSR, Bd. 2, 133 – 140, 206 – 207. 232 M inenko , Severo-­Zapadnaja Sibir’, 242 – 243; F edorov , Pravovoe položenie narodov vostočnoj Sibiri, 56 – 58, 115 – 117, 122 – 156.

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bewaffnete Einheiten erbittert und mit brutaler Gewalt versucht, die fernöstlichen Čukčen mittels umfangreicher Geiselnahmen zu bezwingen.233 Die Frustration war groß, dass von Geiselnahmen sowohl bei den Čukčen als auch bei den Kor’jaken aufgrund anderer kultureller Vorstellungen keine bezwingende Wirkung ausging.234 Schon die erheblichen Verluste auf russländischer Seite zwangen zu einer Kursänderung. Hinzu kam der skizzierte veränderte Blick auf die Geiselhaltung als Ganze, der von vielen Vertretern der imperialen russländischen Elite Ende der 1750er Jahre geteilt wurde. Beides zusammen führte ab 1759 gegenüber den Čukčen zu einer Politik der Flexibilität und des Pragmatismus.235 Der neue Kurs ermöglichte einerseits, nicht grundsätzlich von der Forderung abzusehen, dass die Čukčen Geisel herauszugeben hatten (noch bis 1772 sahen die Regierungsverordnungen die Geiselstellung vor). Andererseits aber wurde in der Praxis darauf verzichtet, die Geiselnahme gewaltsam durchzusetzen. Im Zentrum stand jetzt das Bemühen, das Verhältnis zu den Čukčen neu zu gestalten und auf der Basis eines friedlichen Dialogs und mit Hilfe von Geschenken Anreize zur Geiselstellung zu setzen.236 Auf diese Weise gelangte die russländische Seite in den 1770er Jahren tatsächlich mehrfach an čukčische Geisel.237 Doch auch hier ließ man im folgenden Jahrzehnt, wie schon zwei Jahrzehnte zuvor bei Burjaten und Jakuten, die Geiselhaltung allmählich auslaufen. Ganz anders sah die Lage in den noch weiter östlich gelegenen Gebieten aus. Auf den Aleuten, einer Inselkette ­zwischen Amerika und Asien im Nordpazifik, die 1741 im Zuge der russländischen Expedition von Vitus Bering für die russländische Seite entdeckt worden war, folgte in den 1770er und frühen 1780er Jahren die Hoch-­Zeit russländischer Geiselhaltung. Auf Kad’jak, der größten Alaska vorgelagerten Insel, erreichte die Geiselpraxis bis zur Mitte der 1790er Jahre ihren Höhepunkt. In Alaska dauerte diese noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts an.

233 „Rasprosnye reči“ syna bojarskogo Ignat’eva i kazaka Il’inych s „tovaryši“ ot 14 marta 1710 g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Chukotke, Nr. 56 (14. 3. 1710), 155 – 156; Iz senatskoj spravki po materialam sekretnoj ėkspedicii. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Chukotke, Nr. 60 (nicht vor 1748), 160 – 162; „Ob’’javlenie“ sotnikov anadyrskoj komandy Popova, Nižegorodova Pavlova, pjatidesjatnikov Rusanova i drugich, 1743g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Chukotke, Nr. 62 (1743), 163 – 165. 234 Sekretnoe „donošėnie“ Irkutskoj provincial’noj kanceljarii v Senat ot 27 oktjabrja 1748. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Chukotke, 94 – 96. 235 Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“; Imennyj, dannyj Senatu. Ob otpravlenii Kapitana Ščerbačeva s komandoju v Sibir’ dlja otvraščenija proischodjaščich tam neporjadkov i vzjatok, vymogaemych pri sbore jasaka. In: PSZRI Bd. 16, Nr. 11749 (6. 2. 1763), 153 – 154. 236 Raport zašiverskogo zemskogo ispravnika Bannera jakutskomu komendantu polkovniku Kozlovu-­ Ugreninu ot 8 fevralja 1791 g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Chukotke, Nr. 73 (8. 2. 1791), 188 – 189. 237 Hierzu wie zum folgenden Z uev , „Amanatov dat’ po ich vere grech“, 158.

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Abb. 7: Der Nordpazifikraum mit Kamčatka und Russisch-­Amerika, darunter die Alaska vorgelagerten Aleuten-­Inseln und die Insel Kad’jak, Grigorij I. Šelichovs Hauptbasis. Karte von Bill Nelson

Sogar Katharina II ., der in der Literatur nachgesagt wird, die Geiselhaltung abgeschafft zu haben, wies 1785 Kapitänleutnant Joseph Billings an, während seiner mehrjährigen Expedition nach Fernost und im Nordpazifikraum von anzutreffenden Indigenen nicht nur jasak, sondern auch Geisel zu verlangen.238 Zwar gelte als oberste Regel bei der Unterwerfung „neu entdeckter“ und bislang unabhängiger ethnischer Gruppen, dass diese eine „positive Einstellung“ gegenüber den Russen entwickeln sollten. Auch s­ eien sie mit Geschenken nur so zu überhäufen.239 Für die Festsetzung indigener Geisel aber gab die Zarin als einzige Einschränkung vor, dass man aus Gründen der Versorgungsprobleme nicht zu viele auf einmal nehmen solle. „Zwar bringen gewöhnlich die eigenen Eltern etwas zu essen, aber wenn sie verspätet kommen, müssen sie aus den eigenen Beständen ernährt werden.“ 240

238 Instructions from Catherine II and the admiralty College to Captain Lieutenant Joseph Billings for his Expedition [1785 – 94] to Northern Russia and the North Pacific Ocean. In: Dmytrysyhn, To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 47 (1785), 268 – 290. 239 Zur russländischen politischen Kultur der Gabe siehe Kap. 4.6. 240 Instructions from Catherine II and the admiralty College to Captain Lieutenant Joseph Billings, in: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 47 (1785), hier 285 – 286.

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Aus diesen Zitaten wird deutlich, dass Katharina II. die Geiselhaltung als ­solche auch im auslaufenden 18. Jahrhundert noch nicht ablehnte. Aus Sicht der Zarin und ihrer Dienstleute musste sie nur jeweils an die lokalen Notwendigkeiten angepasst und ‚mit den richtigen Vorzeichen‘ versehen werden. Wie noch zu zeigen ist, wäre die Eroberung, Ausbeutung und Besiedlung nordpazifischer Inseln sowie diejenige von Russisch-­Alaska tatsächlich weitaus schwieriger verlaufen und mit viel mehr Rückschlägen verbunden gewesen, hätte nicht die Geiselhaltung als Allroundmittel zur Verfügung gestanden – sei es zur jasak-­Abgabe, zur Absicherung des Überlebens russländischer Seefahrer, Dienstleute, Gewerbetreibende und Kaufleute oder zum Aufbau ganzer russländischer Siedlungen.241 Wie in keiner anderen Region des Reiches entschied die Frage, ob es der russländischen Seite gelang, Indigene von den ‚immensen Vorteilen‘ einer Geiselschaft auf ihren Schiffen oder in ihrem Lager zu überzeugen, über Leben und Tod der Kolonialherren selbst. Zu denjenigen, die sich händeringend darum bemühten, Geisel gestellt zu bekommen, zählten 1766 die Kosaken S. T. Ponomarev und Stepan Glotov sowie die sie begleitenden russländischen Gewerbetreibenden. Sie hatten mit ihrem Schiff die Alaska vorgelagerte Insel Kad’jak für das Zarenreich ‚entdeckt‘, konnten die Einheimischen aber „aufgrund ihrer wilden Denkweise und ihres viehischen Brauchtums“ (po-­svoemu dikomu razmyšleniju i zveronravnomu obyčaju) trotz vieler vorgebrachter Gründe nicht davon überzeugen, ihnen Geisel zu stellen.242 Als dann die Indigenen auch noch mehrfach versuchten, die Russländer zu überfallen, trauten sich ‚die Entdecker‘ während des ganzen folgenden Winters nicht, sich weit vom Schiffe zu entfernen, und hatten keinen Zugang mehr zu frischen Lebensmitteln. In der Folge starben neun der Mitgereisten an Skorbut und Entbehrungen.243 Im Falle geglückter Geiselnahme hätten sie hingegen zum einen die Geisel gezwungen, sie zu versorgen, zum anderen Vermittler gehabt, mit Hilfe derer die autochthone Bevölkerung möglicherweise von ihren Angriffen hätte abgehalten werden können.244 Geisel dienten in den unwirtlichen Gegenden des Fernen Ostens, Nordpazifiks und Alaskas daher in mehrerer Hinsicht als Lebensabsicherung. Sie gaben den expansionsfreudigen Russländern ein Pfand für ihre eigene Sicherheit gegenüber 241 Iz „reporta“ majora Pavluckogo v Irkutskuju provincial’nuju kanceljariju ot 20 ijunja 1746 g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Chukotke, Nr. 64 (20. 6. 1746), 168. 242 Iz raporta S. G. Glotova T. I. Šmalevu o plavanii na sudne „Sv. Andrejan i Natalija“ v 1762 – 1766 gg. na Aleutskie ostrova i otkrytii ostvoa Kad’jak. In: Russkie ėkspedicii po izučeniju severnoj časti Tichogo okeana, Nr. 29 (22. 8. 1766), 101 – 110, hier 103 – 104. 243 Ebd. 106 – 108; G rinëv /M akarova , Promyslovoe osvoenie Aleutskich ostrovov, Bd. 1, 97. 244 Gwenn A. Miller erklärt das Scheitern der Geiselnahme von Glotov und Ponomarev damit, dass sie noch über zu schlichte Feuerwaffen verfügten, so dass sie der einheimischen Bevölkerung, die mit Pfeil und Bogen ausgerüstet war, kaum überlegen waren. M iller , Kodiak Kreol, 39.

Amanatstvo in verschiedenen Modellen Abb. 8: Aleuten in ihrer traditionellen Kleidung beim Tierfang. Undatierte Zeichnung von Michail Tichanov

Abb. 9: Aleuten in ihren Booten (bajdarka) auf Seeotterjagd

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Angriffen der Indigenen in die Hand, sie halfen ihnen beim Auffinden und Fangen von Tieren und anderem Essbarem, sie dienten als Wegweiser und Führer zu Wasser und zu Land und konnten schließlich nach genügend langer Geiselhaft auch als Dolmetscher und Vermittler gegenüber Einheimischen fungieren, die sich durch die Russländer bedroht fühlten.245 Gerade angesichts dieser lebenssichernden Multifunktionalität mangelte es nicht an Ermahnungen wie denen des Irkutsker Generalgouverneurs Fedor Glebovič Nemcov, freundlich mit den Geiseln umzugehen und sie ausreichend zu ernähren.246 Vor allem aber entfalteten russländische Verantwortliche auch hier ein immenses Bemühen zur Ausbildung und ‚Zivilisierung‘ ihrer Geisel. Die Hoch-­Zeit der Geiselhaltung im Nordpazifikraum fiel in die Zeit, in der auch die Rezeption aufklärerischer Gedanken einschließlich der stadialen ­Theorie durch die russländische imperiale Elite ihren Höhepunkt erreicht hatte. So wies Premiermajor Matvej K. von Bem, ‚Oberkommandeur Kamčatkas‘, den Leiter der Expedition zu den Kurilen, Ivan M. Antipin, 1775 an, die Geisel nicht bloß zur Sicherheit „der Russen“ bei sich zu halten. Darüber hinaus s­ eien die Geisel in die russische Sprache, in die „russischen Gebräuche“ und in die orthodoxe Religion einzuführen.247 David Cambell, ein Begleiter der dritten Weltumseglung des englischen Kapitäns James Cook, beobachtete bei seinem Aufenthalt auf Unalaška 1778 staunend die russländischen Bemühungen, zu denen er auf englischer Seite keine vergleichbaren Praktiken kannte: „Die Russen sammeln von den Hiesigen deren Kinder ein, wenn sie noch ganz klein sind, und n­ utzen die jungen Inselbewohner für die verschiedensten Arbeiten in ihren Fakturen. Sie bringen ihnen Russisch bei, taufen sie sehr wahrscheinlich und lehren sie die Grundlagen der christlichen Religion.“ 248 245 Die genannten Hilfsleistungen Indigener verschafften sich sämtliche Europäer auf ihren Entdeckungsreisen. Im Unterschied zur russländischen Geiselhaltung lag den Zwangsrekrutierungen westeuropäischer Seefahrer aber kein jahrhundertealtes Konzept der Pfandhaltung zu Grunde. Sie griffen schlicht Einheimische jeden Alters auf, zwangen sie zu den Diensten, die sie gerade brauchten, und verfolgten kein Zivilisierungsprogramm. M atthies , Im Schatten der Entdecker, 64 – 65. 246 Nastavlenie irkutskogo gubernatora brigadira F. G. Nemcova kupcam, otpravljajuščimsja na Kuril’skie i Aleutskie ostrova. In: Russkie ėkspedicii po izučeniju severnoj časti Tichogo okeana Nr. 55 (16. 9. 1778), 170 – 176, hier 172. 247 Iz instrukcii M. K. Bema načal’niku ėkspedicii na dal’nie Kuril’skie ostrova I. M. Antipinu o podgotovke i zadačach plavanija. In: Russkie ėkspedicii po izučeniju severnoj časti Tichogo okeana Nr. 50 (8. 6. 1775), 145 – 154, hier 153; Postanovlenie G. I. Šelichova i morechodov ego kompanii, prinjatoe na ostrove Kyktake. In: Russkie otkrytija v tichom okeane, Nr. 12 (11. 12. 1785), 178 – 179, hier 178. 248 C ook , Tret’e plavanie kapitana Džejmsa Kuka, 564; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 132. – Ähnliche Beobachtungen finden sich auch im Reisetagebuch des englischen Seefahrers George Vancouver von 1794. V ancouver , Putešestvie v severnuju čast, 258.

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Die Anfänge, indigene Kinder als Geisel zu nehmen, sie für die eigenen Bedürfnisse auszubilden und den Vorgang in ein Narrativ der Zivilisierung zu kleiden, wurden bereits Mitte des Jahrhunderts bei den Aleuten gelegt. Hier erreichten koloniale Rhetorik und koloniale Praxis im Gewande eines aufklärerischen Diskurses ,der Liebe und des Sanftmutes‘ ihren Zenit. Als anschauliches Beispiel mag das Schicksal des Knaben Temnak dienen. Er war der erste Knabe, den Michail Vasil’evič Nevodčikov 1747 von seinen Eltern auf den Aleuten trennte, um ihn nach Kamčatka zu bringen. Dort ließ er ihn taufen und gab ihm unter dem Namen Pavel eine neue Identität. Pavel wurde wie viele weitere Knaben nach ihm zum Schulbesuch verpflichtet und hatte für russländische Expeditionsteilnehmer als Übersetzer zu dienen. Übersetzen und Dolmetschen waren zunächst diejenigen Dienstleistungen, die die russländische imperiale Elite von den Indigenen am dringendsten benötigte. Wie auch so manche Jungen nach ihm ertrug Pavel die neuen Lebensbedingungen nicht. Bereits nach einem Jahr der Geiselhaltung verstarb er. Andere, die überlebten, verbrachten viele Jahre mit russländischen Expeditionsteilnehmern auf Schiffen, dienten Gewerbetreibenden als Übersetzer und traten ­später oftmals in den Stand der Kosaken ein.249

Grigorij Ivanovič Šelichov und die Geiselhaltung Im Zuge der blutigen Einnahme von Kad’jak 1784 bis 1786 gab der halb privat, halb im staatlichen Auftrag agierende russische Kaufmann, Seefahrer und Entdecker Grigorij Ivanovič Šelichov (1748 – 1795) seinen Mitarbeitern die Anweisung, „zum besseren Gehorsam“ den Inselbewohnern das Ultimatum zu stellen, an die fünfhundert Kinder als Geisel herauszugeben. Nach der wiederholten Weigerung der Bevölkerung ließ Šelichov auf die Inselbewohner schießen. Am Ende erreichte er, dass Geisel in der gewünschten Anzahl gestellt wurden.250 An die Zarin gewandt beschrieb Šelichov sein Bemühen, dafür zu sorgen, dass die Indigenen sich „nicht aus Angst und Zwang“ gehorsam zeigten, sondern „aus Liebe und zu ihrem eigenen Nutzen“, und dass er ihnen versichert habe, dass der Aufenthalt der Russländer 249 L japunova , Aleuty, 59. 250 Der genaue Hergang der Ereignisse lässt sich sowohl durch Briefwechsel als auch durch einen Augenzeugenbericht rekonstruieren, den der Kad’jak Arsenij Aminak, der das Massaker als Junge erlebte, ­später einem finnischen Ethnographen berichtete. H olmberg , Ethnographische Skizzen über die Völker, 137 [1855]; ders ., Ethnographische Skizzen über die Völker des Russischen Amerika, Bd. 4, 410 – 417, hier bes. 416 – 417 [gekürzter Abdruck des Originals]; ders ., Holmberg’s Ethnographic Sketches, 59; M. S. Tritjukov kapitanu J. Billingsu (2. 11. 1788). In: Pamjatniki novoj russkoj istorii, Bd. 3, 373 – 383; Š elichov , Voyage to America, 123 – 126; M ­ ousalimas , The Transition from Shamanism to Russian Orthodoxy in Alaska, 44 – 63.

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ihnen „zahllose Vorteile, Sicherheit und Wohlstand“ verschaffen werde.251 Auch gegenüber seinem Mitarbeiter K. A. Samojlov betonte er im Mai 1786, wie sehr er sich in der Verpflichtung sehe, sich um die Geisel und ihr Wohlergehen zu kümmern und sie Gebräuche und Fertigkeiten der Russländer erlernen zu lassen.252 Šelichov wies an, einen großen Teil der fünfhundert Kinder zu Übersetzern auszubilden, einem anderen Teil Lesen und Schreiben auf Russisch beizubringen.253 Auch die erste Schule überhaupt, die innerhalb des russländisch besetzten Teils von Amerika gegründet wurde, ließ Šelichov auf Kad’jak just für Geisel eröffnen.254 Wenige Jahre ­später notierte Kapitän Gavriil Andreevič Saryčev im Rahmen der großen ‚Billings-­Saryčev-­Expedition“ (1785 – 1793) in seinem Reisetagebuch über die Zustände auf Kad’jak: Sie halten sich zu ihrer Sicherheit mehrere Kinder von den Inselbewohnern und bemühen sich, ihnen die russische Sprache, Lesen und Schreiben beizubringen, was viel Lob verdient, da dies mit der Zeit einen großen Nutzen für die Zivilisierung d­ ieses wilden Volkes erbringt (prineset velikuju pol’zu v prosveščenii sego dikago naroda).255

Während in den kasachischen Steppen und im Nordkaukasus die ‚Zivilisierungs‘bemühungen in der Regel nur ausgesuchten Chan- und Fürstensöhnen galten und zudem sehr unsystematisch und unkoordiniert erfolgt waren, behauptete Šelichov von sich, ihm sei in den Gebieten Alaskas, die von seiner Handelsgesellschaft eingenommen wurden, eine breitenwirksame und umfassende ‚Zivilisierungskampagne‘ 251 Prošenie kompaninov I. I. Golikova i G. I. Šelichova. In: Russkie otkrytija v tichom okeane, Nr. 25 (Febr. 1788), 265 – 269, hier 266. 252 Nastavlenie G.I: Šelichova glavnomu pravitelju K. A. Samojlovu. In: Russkie otkrytija v tichom okeane, Nr. 14 (4. 5. 1786), 185 – 199, hier 188 – 189. – Bislang fehlt noch eine Biographie ­Šelichovs, die den Anforderungen der neuen Biographieforschung gerecht wird. Einführende Arbeiten sind P ierce , Introduction. In: Shelikhov, A Voyage to America; S itnikov , Grigorij I. Šelichov; P etrov /T roickaja , Osnovanie postojannych poselenij; G rinëv , Aljaska pod krylom dvuglavogo orla, 151 – 210. 253 Prošenie kompaninov I. I. Golikova i G. I. Šelichova. In: Russkie otkrytija v tichom okeane, Nr. 25 (Febr. 1788), 265 – 269, hier 266; Postanovlenie G. I. Šelichova i morechodov ego kompanii, prinjatoe na ostrove Kyktake. In: Russkie otkrytija v Tichom okeane, Nr. 12 (11. 12. 1785), 178 – 182, hier 178 – 179. 254 Iz pis’ma G. I. Šelichova pravitelju Severo-­vostočnoj kompanii A. A. Baranovu o programme osvoenija Aljaski, obrazovanii Severnoj amerikanskoj kompanii i namerenii „zavesti pomalen’ku Rus’“ na ostvore Urup. In: Russkie ėkspedicii po izučeniju severnoj časti Tichogo okeana Nr. 118 (9. 8. 1794), 321 – 330, hier 326 – 327. 255 Iz putevogo žurnala G. A. Saryčeva ob issledovanii Aleutskich ostrovov, opisanii Bobrovoj guby na ostrove Unalaška i ostrova Kad’jak, vstrečach s mestnymi žiteljami. In: Russkie ėkspedicii po izučeniju severnoj časti Tichogo okeana Nr. 89 (13.5. – 28. 6. 1790), 266 – 274, hier 273. – Zur Semantik von prosveščenie innerhalb des Begriffsfeldes der Zivilisiertheit im ausgehenden 18. Jh. siehe Kap. 4.1.

Amanatstvo in verschiedenen Modellen Abb. 10: Grigorij I. Šelichov, russischer Kaufmann, Entdecker und Eroberer; im Hintergrund die Büste seiner Frau

Abb. 11: Ein aleutisches Paar in traditioneller Tracht vor seinen Booten. Chromolithographie, Maler nicht bekannt, erstveröffentlicht von Gustav-­ Féodor Chr. Pauli in: Narody Rossii. St. Petersburg 1862

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gelungen. Nach seiner Rückkehr auf das ostsibirische Festland legte er dem Irkutsker Generalgouverneur Ivan Jakobi 1787 seine ‚Erfolge‘ dar: Mittels der Geiselkinder habe sich ein „für unser Vaterland nützliches Mittel“ aufgetan. Unter den indigenen Angehörigen der ethnischen Gruppen habe er diejenigen der Geisel ausgewählt, die dafür aufgrund ihrer Auffassungsgabe besonders geeignet erschienen, habe sie „auf freiwilligem Wunsch“ hin mit Hilfe seiner führenden Arbeiter Russisch lesen und schreiben sowie sittsames Verhalten (blagonravie) gelehrt. Ihre Väter zeigten sich der von ihm dafür gegründeten Schule gewogen, und es stelle sich schon „ein beachtlicher Erfolg“ ein.256 Auch der Archimandrit Joasaf sparte nicht mit Lob: Die Geisel auf Kad’jak hätten mit dem Erlernen der Lebensweise „der Russen“ die „barbarischen S ­ itten“ (varvarskie nravy) ihrer Väter verfeinert. Für die Schule habe man sich die Fähigsten der Geisel ausgesucht, die dort nicht mit Zwang, sondern freiwillig und auf Kosten der Šelichov-­Handelsgesellschaft lernten.257 Ob bei den rund 500 Geiselkindern von Freiwilligkeit die Rede sein konnte, wie friedlich das Schulleben verlief und wie geneigt die Väter, die um ihre Kinder gebracht waren, dieser ‚Zivilisierung‘ gegenüberstanden, ist fraglich. Allein die blutige Art und Weise, mit der die Geisel von Kad’jak erpresst wurden, spricht für sich. Zudem näherte sich an keinem anderen Ort russländischer Expansion die Geiselhaltung so sehr dem Zustand von Sklaverei an wie in den Regionen Fernost, Nordpazifik und Russisch-­Alaska.258 Besonders auf Kad’jak hatten Geisel Hand in Hand mit Sklaven (in den Quellen kajury genannt), die aus den Reihen der aleutischen Elite nach der Eroberung von Kad’jak genommen worden waren, und „freiwilligen Leiharbeitern“ Zwangsarbeiten zu verrichten.259 Noch 1806 berichtete der Mönch Gedeon davon, dass die in der Schule auf Kad’jak lernenden Geisel, in d­ iesem Fall Geisel der Tlinkity-­Indianern, von den Russen gezwungen worden ­seien, als ‚hauswirtschaftliche Lernfächer‘ und „an Stelle von Erholung“ (vmesto otdycha) die Gemüsebeete zu bearbeiten, Wurzeln und Gräser zu sammeln, Fisch zu fangen sowie Schuhe herzustellen.260 256 Donošenie G. I. Šelichova irktuskomu general-­gubernatoru I. V. Jakobiju. In: Russkie otkrytija v Tichom okeane, Nr. 18 (10. 4. 1787), 206 – 214, hier 211. 257 G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 134. 258 G rinëv , Russkie promyšlenniki na Aljaske, 178. 259 Siehe auch den Bericht des Mönches Makarij, der als Leiter der russisch-­orthodoxen Mission in Alaska Zwangsarbeit, Vergewaltigungen und andere Misshandlungen beobachtete, die von Mitarbeitern des jakutischen Kaufmanns P. S. Lebedev-­Lastočkin (die sog. Lebedevcy) sowie von solchen der Golkov-­Šelichov-­Gesellschaft verübt wurden. G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 134; A Report from Ieromonk Makarii, head of the Russian Orthodox Mission in Alaska, to the Holy Governing Synod, detailing treatment of natives by Russians. In: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 83 (5. 10. 1797), 497 – 502. 260 Zapiski ieromonacha Gedeona o Pervom russkom krugosvetnom putešestvii i Russkoj Amerike, 1803 – 1808 gg. In: Russkaja Amerika, 27 – 121, hier 88; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj

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Die Nachricht, dass Geisel der Tlinkity-­Indianer auf der Kad’jak-­Schule zur Arbeit gezwungen und damit sklavengleich behandelt wurden, bildete sogar einen der Gründe für den Aufstand der Indianer von Jakutat, in dessen Folge die örtliche russländische Ansiedlung und die Festung erobert und vernichtet wurden.261 Auch die vom Erzpriester Gedeon hervorgehobene „Freiwilligkeit“, mit der sich die Geisel in der Kad’jaker Schule angeblich hatten taufen lassen, ist angesichts der äußeren Umstände mit großer Skepsis zu betrachten.262 Allerdings wird in der Literatur davon ausgegangen, dass zumindest einige der Geisel nach ihrer ‚Ausbildungszeit‘ freiwillig als Übersetzer in den Dienst der Russländisch-­Amerikanischen Handelsgesellschaft eintraten.263 Šelichov war zwar einer der führenden Köpfe, die die ‚Zivilisierung‘ und Akkulturierung der autochthonen Bevölkerung auf Alaska und den Inseln im Nordpazifikraum anpriesen und vorantrieben. Er handelte dabei aber stets mit Rückendeckung der Zarenregierung und der Administration in Sibirien. Besonders die Generalgouverneure von Irkutsk, Ivan Varfolomeevič Jakobi (1783 – 1789) und Ivan Alfer’evič Pil’ (1789 – 1794), forderten Šelichov ihrerseits zu immer weiteren Anstrengungen auf, die „wilden Amerikaner“ in „zivilisierte“ Personen zu verwandeln (amerikancov prevratit’ iz dikich v obchoditel’nych).264 „Als Zeichen ­­ des Zweifels an ihrer Treue“, so Pil’ 1794, s­ eien Einheimische auch weiterhin als Geisel zu nehmen. Die Maßnahmen Šelichovs, wonach die Geisel Russisch sprechen, lesen und schreiben lernten, Mathematik studierten und Navigation erlernten, s­ eien unbedingt beizubehalten. Neben dem Lebensstil (obraz Amerike, 137. 261 G rinëv , Indejcy ėjaki i sud’ba russkogo poselenija v Jakutate, 117. 262 Der Mönchpriester Gedeon schrieb, dass die Geisel „gerne und freiwillig“ sich hätten taufen lassen. Zapiski ieromonacha Gedeona, in: Russkaja Amerika, 105. – Vgl. dazu die kritischen Ausführungen bei M ousalimas , The Transition from Shamanism to Russian Orthodoxy, 44 – 63. 263 G rinëv , Indejcy tlinkity v period Russkoj Ameriki, 197; P ierce , Russian America, 162. – Die Russländisch-­Amerikanische Handelsgesellschaft (RAK) war eine halbstaatliche Handelskompanie, die 1799 als Monopolgesellschaft durch den Erlass von Zar Paul I. entstand. Ihre Gründung bildete den Schlusspunkt einer Konzentrierung mehrerer Handelsgesellschaften, die primär Pelzjagden auf den Kurilen, den Aleuten und entlang der Küsten Alaskas betrieben. Die RAK erhielt für zwanzig Jahre das Handelsmonopol in Russisch-­Amerika, so dass nach dem Vorbild der Monopolgesellschaft anderer Kolonialstaaten der Wettbewerb ausgeschaltet und auch Anliegen des Staates Berücksichtigung finden konnten. Ab den 1820er Jahren verringerten sich zusehends die Profite aus dem Pelzhandel, da der Seeotter weitgehend ausgerottet worden war. V inkovetsky , Russian America. 264 Dokument vom 11. 5. 1794 [Anweisungen des Irkutsker Generalgouverneurs Ivan A.Pil an G ­ rigorij I. Šelichov]. In: Russkie otkrytija v Tichom okeane, 323 – 336, hier 331. – Ivan V. Jakobi (1726 – 1803) war zuvor der Nachfolger von Krečetnikov im Amt des Astrachaner Gouverneurs gewesen (1776 – 1781) sowie anschließend Gouverneur in Orenburg (1781 – 1783) und hatte sich sowohl im Nordkaukasus als auch in der südlichen Steppe mit den russländischen Zivilisierungsbemühungen bestens vertraut gemacht. Slovar’ dostopamjatnych ljudej russkoj zemli, Bd. 3, 785 – 786.

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žizni), den Gebräuchen, Wissenschaften und Künsten der Russen sollten sie zudem von Anfang an mit dem Getreideanbau und der Viehwirtschaft vertraut gemacht werden. Der christliche Glaube und seine Praktiken s­ eien ihnen über Kirchendiener zu vermitteln, auf dass in ihnen „Sanftmut“ (krotost’) und „gesittetes Verhalten“ (blagonravija) reife. Als Geisel s­ eien „kluge junge Leute“ auszusuchen, die, sobald sie „in das russische Lebensgefühl eingeführt“ s­ eien (vchodja vo vkus žizni russkoj), einen Sinn für den Lebensstil der Russen entwickelten, „die Vorteile unseres Lebensstils“ ihrem eigenen „Volk“ beibrächten und ihm helfen sollten, diesen Lebensstil unter ihnen zu etablieren. Dies möge alles ohne jeden Zwang und nur in Einklang mit ihrer eigenen Bereitschaft erfolgen.265 Die Bemühungen gingen so weit, dass zehn indigene Knaben aus Russisch-­Amerika nach Irkutsk gebracht wurden, um dort im Spiel auf verschiedenen Musikinstrumenten unterrichtet zu werden.266

Die Geiselnahme im 19. Jahrhundert Sogar in das „Statut der Russländisch-­Amerikanischen Handelsgesellschaft“, das 1821 von Zar Alexander I. bestätigt wurde, fand die Geiselpraxis noch Eingang.267 Hatte die Zarenadministration 1749 erstmals grobe Regeln für die Dauer der Geisel­ haltung aufgestellt, so ging das Statut von 1821, das nach langen Verhandlungen mit der Zarenregierung zustande kam, deutlich weiter. Erstmals wurde festgehalten, dass von den autochthonen ethnischen Gruppen, zumindest in Friedenszeiten, keine Geisel gewaltsam genommen werden dürften, diese anständig zu halten ­seien und die Leiter der Gesellschaft besondere Sorge dafür zu tragen hätten, dass den Geiseln kein Unrecht widerfahre.268 Auch für das Statut von 1844 wurden diese Regeln übernommen, nicht ohne dass der zuständige Finanzminister zuvor 265 Order irkutskogo general-­gubernatora I. A. Pilja G. I. Šelichovu. In: Russkie otkrytija v tichom okeane, Nr. 43 (11. 5. 1794), 323 – 335, Zitat 332. – Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen kann die Behauptung Luehrmanns nur erstaunen, wonach die Russländer in den 1780er und 1790er Jahren wenig Interesse gezeigt hätten, die Lebensweise ihrer neuen Untertanen zu verändern und sie zu assimilieren. Der Punkt war nicht mangelndes Interesse, sondern eher mangelnde Kapazitäten für die breite Umsetzung einer ‚Zivilisierungs‘- und Assimilierungspolitik. L uehrmann , Alutiiq Villages under Russian and U. S. Rule, 80 – 81. 266 Aus der Notiz N. A. Schélichowas „Erklärung über die Erfolge der Amerikanischen Kompanie“ (1798). In: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, Nr. 103, 517 – 521, hier 519; K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 170. 267 Imennyj, dannyj Senatu. O vozobnovlenii privilegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, i o utverždenii sostavlennych dlja onoj novych pravil. In: PSZRI Bd. 37, Nr. 28756 (13. 9. 1821), 842 – 854, Pravila Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii § 58, 852. 268 Imennyj, dannyj Senatu. O vozobnovlenii privilegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, i o utverždenii sostavlennych dlja onoj novych pravil. In: PSZRI Bd. 37, Nr. 28756 (13. 9. 1821), 842 – 854, Pravila Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii § 58, 852.

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eingehende Informationen darüber einholte, wann, wo, wie viele und für wie lange Geisel in der Vergangenheit genommen worden waren, inwiefern nach ihrem Austausch von ihnen ein vorteilhafter Einfluss auf die Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe ausgegangen war, in welcher Beziehung sie nach ihrer Geiselzeit zu den Russen standen und ob sie nach ihrer Geiselzeit freiwillig Leiharbeiter stellten.269 Faktisch spielte die Geiselhaltung jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts auch im Osten nur noch eine geringe Rolle. Auf den Aleuten und auf Kad’jak war sie bereits um 1800 unbedeutend geworden: Dort war die indigene Bevölkerung infolge von Krankheiten, kriegerischen Zusammenstößen mit den Russländern, ihrer Indienstnahme und Ausbeutung für russländische Zwecke sowie infolge von Hungersnöten, da die Selbstversorgung zusammenbrach, derart dezimiert worden, dass „die Russen in vollständiger Sicherheit“ dort leben konnten und keine Geisel mehr brauchten.270 Intensiv wurde die Geiselhaltung seit der Jahrhundertwende nurmehr in Russisch-­Alaska gegenüber den Tlinkity-­Indianern angewandt. Ausgerechnet die Tlinkity-­Indianer, die neben den Nordkaukasiern eine der letzten ethnischen Gruppen bildeten, bei denen die Zarenregierung auf die Geiselnahme zurückgriff, stellten die russländische Seite vor ungekannte Probleme: Im Gegensatz zu sämtlichen ethnischen Gruppen, auf w ­ elche die Zarentruppen im Laufe ihrer Expansion in Ostsibirien und im Fernen Osten gestoßen waren, hatten sich die Tlinkity-­Indianer bereits vor ihrer ersten Begegnung mit Russländern sowohl mit Schusswaffen versorgt als auch sich das Wissen zu deren Handhabung angeeignet.271 Im ­Unterschied zu den Aleuten und Kodjaken waren die Tlinkity-­Indianer

269 Vysočajše utverždennyj Ustav Rossijsko-­Amerikanskoj Kompanii. In: PSZRI 2-ja serija, Bd. 19, č. 2, Nr. 18290 (10. 10. 1844), 612 – 638, hier § 283, 638; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 138. 270 Zum Zustand auf den Aleuten um 1800 D avydov , Dvukratnoe putešestvie v Ameriku, Bd. 2, 119; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 134. – Auf Kad’jak ließ A. A. Baranov, der neue Leiter der Šelichov-­Handelsgesellschaft, 1794 die Geisel aus dem südlichen Teil der Insel frei. T ichmenev , Istoričeskoe obozrenie obrazovanija Rossijsko-­Amerikanskoj kompanii i dejstvij eja do nastojaščago vremeni. St. Petersburg 1863, Bd. 2, Anm. 165. Hier zitiert nach G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 134. – In Kalifornien, wo I. A. Kuskov die Festung Fort Ross anlegte, wurden von Anfang an keine Geisel genommen. Dies hing zum einen mit der Einschätzung zusammen, dass russländische Akteure sich von der dort lebenden indianischen Bevölkerung nicht bedroht sahen, sowie zum anderen damit, dass die Zarenregierung es nicht riskieren wollte, Geisel auf einem Territorium zu nehmen, das unter spanischer Jurisdiktion stand. Auch in den nördlichen Gebieten von Russisch-­Amerika spielte die Geiselhaltung keine Rolle. Die Vertreter der RAK trieben mit der dortigen Bevölkerung lediglich Handel und forderten keine Arbeitskräfte ein. I stomin , „Indejskij“ faktor v kalifornijskoj politike, 457; G rinëv , Tuzemcy-­ amanaty v Russkoj Amerike, 138. 271 Englische und amerikanische Händler, die seit 1785 auf Schiffen die nordwestliche Küste abfuhren, hatten im Tausch gegen Felle die Indianer mit Waffen eingedeckt.

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zudem zu einer zahlenmäßig weitaus größeren ethnischen Gruppe angewachsen, was möglicherweise mit der von der Natur vorgegebenen besseren Verfügbarkeit von Lebensmitteln zusammenhing. Auch ihr starker Zusammenhalt sowie ihre ausdifferenzierte Sozialstruktur verschaffte ihnen eine deutlich bessere Ausgangsposition, um sich gegen die gewaltsame russländische Expansion zur Wehr zu setzen.272 Als Egor Purtov und Demid Kulikalov an der Spitze einer Flotte mit über fünfhundert leichten Booten 1794 in der Bucht von Jakutat südöstlich von Kad’jak an Land gingen und von den dortigen Einheimischen sowie weiter südlich von den Tlinkity-­Indianern Geisel forderten, ergab sich eine völlig neue Konstellation: Als Ausnahme in der Geschichte der Expansion des Zarenreiches sah sich auch die russländische Seite gezwungen, Geisel zu stellen. Zwar wählte man dafür keine angestammten Russen oder Russländer aus dem ‚Kernland‘, sondern Kad’jaken, die selbst gerade erst unterworfen worden waren und im russländischen Gefolge mitzureisen hatten. Doch zeigte dieser Schritt, dass die russländische Taktik, durch wenige Kanonenschüsse bereits einschüchtern und auf diese Weise rasch an Geisel gelangen zu können, wie es im Nordpazifik und entlang der alaskischen Küste üblich geworden war, bei den Tlinkity-­Indianern nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Im Gegenteil, die Tlinkity-­Indianer leisteten gegenüber den zarischen Besatzern massiven Widerstand und zwangen die Russländer im Mai 1802 zu einem Waffenstillstandsabkommen, zu dessen Unterstreichung beide Seiten Geisel austauschten.273 Im Gegensatz zur Geiselhaltung in Sibirien, Fernost und im Nordpazifik ging es der russländischen Seite bei den Tlinkity-­Indianern gar nicht mehr um wirtschaftliche Ausbeutung. Die Leibbürgen, die die russländische Seite von den Indianern bei sich hielten, sollten allein der Forderung Nachdruck verleihen, dass die Indianer (wie die Kasachen in den Steppengebieten) keinerlei Überfälle auf russländische Festungen oder Siedlungen unternahmen. Selbst im Dezember 1818 kam es noch zu einem Austausch von Geisel: Die zarische Seite erhielt zwei Neffen des Oberhäuptlings der Kagvantany, einer Sippe der Tlinkity-­Indianer, während Leutnant Semën Ivanovič Janovskij als Vertreter der Russisch-­Amerikanischen Handelsgesellschaft (RAK) zwei Geisel für die russländische Seite stellte.274 Der Leiter der RAK-Delegation sah sich sogar derart zum respektvollen Umgang mit der

272 S apir , The Social Organization of the West Coast Tribes, 28 – 48; G ibson , Russian Dependence. 273 Report, I. Kuskov (in charge of hunting party) to A. A. Baranov on Kad’iak regarding an armed encounter with the local tribes and the devastation of Novo-­Arkhangel’sk, in: Pierce, Documents on the History of the Russian-­American Company, Nr. 9 (1. 7. 1802), 128 – 150, hier 133; G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 137. 274 G rinëv , Russko-­tlinkitskij konflikt; Z orin , Indejskaja vojna v Russkoj Amerike.

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Gegenseite gezwungen, dass er das Handelskontor der RAK in Novoarchangel’sk anwies, die Tlinkity-­Geisel bei der Versorgung mit Lebensmitteln den „Russen“ gleichzustellen (zapisat’ v artel’ i dovol’stvovat’ proviziej naravne s russkimi).275 Eine s­ olche Anweisung wäre im Kontext der Geiselhaltung in Sibirien und Fernost, wo die Geisel in Ketten lagen, ein nicht vorstellbarer Befehl gewesen. Doch noch im Jahr 1818 endete der für russländische Verhältnisse höchst ungewöhnliche Zustand. Nach 25 Jahren beidseitiger Geiselstellung (1793 – 1818) erfuhr der amtierende Direktor der RAK über den Hauptregenten von Russisch-­Amerika, dass die Kagvantany-­Indianer auf einem Austausch der Geisel bestanden und statt ihrer vorherigen Jungen ­dieses Mal zwei Mädchen übergeben hatten. Der Direktor verurteilte scharf, dass man „den Wilden“ (dikarjam) derartig ungerechtfertigte Zugeständnisse gemacht habe. Mehr noch, er verbot, dass künftig je wieder von zarischer Seite Geisel gestellt würden.276 Die russländische Seite aber bestand noch bis zum Verkauf von Alaska an die Vereinigten Staaten 1867 auf tlinkitischen Geiseln, – entweder um eine ‚friedliche‘ Nachbarschaft mit den Indianern abzusichern oder um sie durch Christianisierung und russische Alphabetisierung zu ‚zivilisieren‘.277

3.6  Zusammenfassung Die transregionale Untersuchung der Geiselhaltung ließ deutlich werden, dass innerhalb des Russländischen Reiches bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert fundamental z­ wischen zwei Herrschaftsformen über nicht-­russische Untertanen unterschieden wurde: ­zwischen einer Herrschaft über Nicht-­Christen, zu denen die ethnischen Gruppen im Nordkaukasus, in den südlichen Steppen, in Sibirien, Fernost, im Nordpazifikraum und in Russisch-­Alaska gehörten, sowie einer Herrschaft über Christen, zu denen die Einwohner von Smolensk, des Hetmanats, der baltischen Provinzen, Kareliens und der Teilungsgebiete von Polen-­Litauen zählten. Die Geiselnahme wurde über fast drei Jahrhunderte nur gegenüber Nicht-­ Christen des Zarenreiches praktiziert. Die Art und Weise, wie sie im Russländischen Reich zum Einsatz kam, ist im interimperialen Vergleich sowohl in ihrem transregionalen Ausmaß als auch in der Dauer ihrer Anwendung einzigartig. Im Gegensatz zum Treueid und dem jasak gab es für ­dieses dritte Element russländischer Untertanenschaft keine Analogien zu einem Herrschaftsinstrument, das gegenüber den ‚natürlichen Untertanen‘ (prirodnye poddannye) im innerrussischen 275 G rinëv , Tuzemcy-­amanaty v Russkoj Amerike, 138. 276 Ebd. 277 V inkovetsky , Russian America, 121 – 122.

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Kontext eingesetzt worden wäre. Gleichzeitig handelte es sich um eine Institution, die im imperialen Kontext insofern eine elementare Rolle spielte, als mit ihr die Expansion vorangetrieben, russländische Herrschaftsansprüche artikuliert und diesen nachhaltig Geltung verschafft werden konnte. Entgegen der bisherigen Forschermeinung ist bei der Moskauer Form der Geisel­haltung nicht von einem Transfer mongolischer Praktiken auszugehen. Vielmehr konnte anhand mehrerer Entwicklungslinien und des Rückgriffs auf die Begriffsgeschichte gezeigt werden, dass die Methode in ihrer Moskauer Version erst im Zuge des interimperialen Ringens um den Nordkaukasus des ausgehenden 16. Jahrhunderts in das Zarenreich eingeführt wurde und sich dabei vermutlich an der osmanischen Rezeption arabischer Praktiken orientierte. Wie beim russländischen Konzept von Untertanenschaft, das in seinen Konturen bewusst unscharf blieb und dadurch auf die jeweiligen Umstände angepasst werden konnte, schuf sich die russländische Elite auch mit der Geiselhaltung ein äußerst flexibel einsetzbares Instrument: Mal wurden Geisel als Druckmittel, mal als Wegweiser und Versorger, mal zur Eroberung und Entdeckung neuer Gebiete eingesetzt. Neben der militärischen Stärke verbarg sich hinter der pragmatischen Ausgestaltung der Geiselhaltung eines der Rezepte für den Erfolg zarischer Expansion. Nur bei wenigen ethnischen Gruppen erntete das russländische Vorgehen Misserfolge, so bei den Čukčen im Fernen Osten, den Tlinkity-­Indianern in Russisch-­Alaska und den „kalifornischen Indianern“ rund um die russische Fort-­Ross-­Siedlung. Entweder standen andere kulturelle Codes den russländischen Verhaltenserwartungen diametral entgegen oder es fehlte in den entlegenen Gebieten der zarischen Seite die militärische Überlegenheit. Während die Methode der Geiselstellung und -haltung in Westeuropa im 16. und 17. Jahrhundert aus dem Gebrauch kam, blieb die Praxis, mittels Einzelner eine ganze ethnische Gemeinschaft in die kollektive Verantwortung zu nehmen, im Russländischen Reich auch im 18. Jahrhundert noch von elementarer Bedeutung. Die Rezeption aufklärerischer Narrative führte hier zu einer anderen Kritik an der Geiselhaltung, als dies der aufkommende Individualismus in Westeuropa mit sich gebracht hatte. Geisel sollten nicht länger bloß im Sinne des sächlichen Pfands als ‚aufzubewahrende Objekte‘ angesehen, sondern als Akteure entdeckt werden, die es für die eigene Sache zu n­ utzen galt. Damit entpuppte sich die Praxis aus der spätrömischen Zeit zum antiken Vorbild dessen, was die Russen erst im 18. Jahrhundert für sich entdeckten, freilich ohne sich des römischen Vorbilds bewusst zu sein: Geisel als Zielobjekte der Akkulturation, der politisch-­sozialen und kulturellen Prägung sowie als Transmissionsriemen zur Beeinflussung der indigenen ethnischen Gruppen anzusehen. Mit d­ iesem Wandel der Betrachtung von Geiseln war zugleich auch die Grundlage für deren koloniale Instrumentalisierung und Ausbeutung gelegt, wie sie besonders ausgeprägt im Nordpazifikraum

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und in Russisch-­Alaska zum Tragen kam. Bei den Veränderungen in der Geiselhaltung handelte es sich daher um weit mehr als bloß um eine „neue rhetorische Verkleidung“.278 Entgegen der Annahme, im Russländischen Reich habe es im 18. Jahrhundert noch keinen klaren Unterschied z­ wischen einer Selbst- und einer Fremdzivilisierung gegeben, konnte anhand der Geiselhaltung en miniature die Herausbildung der Idee einer russländischen Zivilisierungsmission gegenüber nicht-­christlichen ethnischen Gruppen demonstriert werden. Oftmals wurde die Idee der Zivilisierung dabei von jener der Akkulturierung, wenn nicht gar der Assimilierung begleitet. Dabei ging es zuweilen um den Versuch, indigene Sprachen durch die russische zu verdrängen, indigene ­Sitten durch russländische Gebräuche zu ersetzen, das nomadische Leben durch Sesshaftigkeit zu überwinden und den muslimischen oder heidnischen Glauben durch den russisch-­orthodoxen Glauben abzulösen. Die russländischen Bemühungen um ‚Zivilisierung‘ und Assimilierung sind dabei keinesfalls mit einem aus russländischer Sicht ‚erfolgreichen‘ Ergebnis zu verwechseln. Oft genug machten Vertreter der russländischen imperialen Elite die für koloniale Zivilisierungsmissionen so charakteristische Erfahrung, dass sie scheiterten und die ‚zu Zivilisierenden‘ es an der erwarteten ‚Dankbarkeit‘ oder dem ‚Erkenntnisfortschritt‘ fehlen ließen. Gerade aus der Perspektive postkolonialer Forschung ergeben sich hieraus reizvolle Themenfelder für künftige Forschungen, s­ eien sie Fälle des Scheiterns aufgrund indigener Widerstände oder ­solche der freiwilligen Kollaboration indigener Eliten bei der Geiselnahme oder die Erfahrungen kultureller Hybridität, die Indigene durch ihre Geiselzeit im russländischen Milieu machten. Zugleich zeigt die Untersuchung der Geiselhaltung, wie hilfreich es ist, den Einsatz dieser imperialen und im 18. Jahrhundert zunehmend kolonialen Methode vom Nordkaukasus über die Wolga-­Region, die südlichen Steppen, Sibirien, Fernost bis hin nach Russisch-­Alaska zu analysieren. Zum einen kann erst dann die Praxis als Grundprinzip russländischer imperialer Expansion im Süden und Osten erkannt werden. Zum anderen werden so die regionalen Spezifika sowie diejenigen Elemente oder Vorgehensweisen deutlich, die für die russländische Seite nicht verhandelbar waren. Zudem machte die transregionale Untersuchung der Geiselhaltung deutlich, dass die Expansion des Russländischen Reiches im Nordpazifikraum und in Russisch-­Alaska in enger Beziehung zu derjenigen auf dem asiatischen Festland stand. Weitet man den Blick über die Geiselhaltung hinaus, wie sie im Süden und Osten zum Einsatz kam, auf die russländische imperiale Politik gegenüber den

278 K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 59.

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nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Westen und Norden, lassen sich zudem weitere Überlegungen zu Grundmerkmalen russländischer imperialer Politik anstellen. Sind nicht Parallelen auszumachen z­ wischen der Geiselhaltung, wie sie sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts gegenüber den Eliten der nicht-­christlichen ethnischen Gruppen im Süden und Osten etablierte, auf der einen Seite, und der Kooptation indigener Eliten von nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Westen und Norden in die russländische Elite auf der anderen Seite? Kann nicht das Bemühen um eine ‚Zivilisierung‘ indigener nicht-­christlicher Eliten mittels ihrer Geiselhaltung im 18. Jahrhundert als eine Form des Ersatzes dafür gedeutet werden, dass die christlichen (sowie wenige muslimische) Eliten ethnischer Gruppen im Norden und Westen in den russländischen Adel inkorporiert wurden? Die gestellten Fragen verweisen darauf, dass mit dem vorliegenden Kapitel nur ein Anfang für die weitere Forschung gelegt werden konnte.

4. KONZ E P T E U N D PR A KT I K E N DE R Z I V I LISI E RU NG U N D EI NGLI E DE RU NG

Das Beispiel der Geiselhaltung zeigte das Ausmaß, in dem sich russländische Herrschaftskonzepte und -praktiken im Laufe des 18. Jahrhunderts veränderten. Um ­dieses Ergebnis als Teil eines Gesamtbilds zu erkennen und die zentrale These des Buches begreiflich zu machen, wonach sich das Russländische Reich ab dem 18. Jahrhundert in der Herrschaft gegenüber seinen nicht-­christlichen Untertanen mindestens phasenweise von einem Imperium zu einem Kolonialreich wandelte, bedarf es weit umfassenderer und systematischerer Analysen. Sämtliche großen Politikfelder russländischer Herrschaft sind dafür unter die Lupe zu nehmen. Zu Beginn aber steht die Untersuchung einer Idee an. Diese Idee gewann erst im Laufe des Jahrhunderts umfassende Konturen und kann mit Blick auf die folgenden Jahrhunderte als wohl wirkungsmächtigste politische Idee bezeichnet ­werden, die je imperiumsgeschichtlich für das Zarenreich von Bedeutung war – jene der russländischen Zivilisierungsmission. Ausgehend von den Begriffsbestandteilen ‚Zivilisierung‘ und ‚Mission‘ wird mit Zivilisierungsmission die Überzeugung bezeichnet, wonach die eigene ethnische Gruppe aufgrund der ihr angeblich innewohnenden Überlegenheit und der höheren Legitimität des eigenen Lebensstils das Recht und die Pflicht habe, in das Leben anderer, weniger hochentwickelter ethnischer Gruppen zu intervenieren, die eigenen Werte und Institutionen zu propagieren und deren Einführung bei den anderen ethnischen Gruppen durchzusetzen.1 Während dem Zivilisationsbegriff nicht zwingend ein expansionistisches Element zu eigen ist, drückt der Begriffsbestandteil ‚Mission‘ die Idee aus, dass die Entwicklung zur Zivilisation durch Eingriffe von außen beschleunigt werden könnte oder sogar sollte. Damit bezeichnet der vor allem aus dem religiösen Kontext vertraute Begriff der Mission im Zusammenhang mit dem Konzept der Zivilisierung ein umfassendes, religiöse Fragen klar überschreitendes Sendungsbewusstsein. Im Russischen wurde der Terminus der ‚Zivilisierungsmission‘ erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bestandteil des kolonialen Diskurses. Zu zeigen, dass und in welcher Form ein solches Konzept von Zivilisierungsmission jedoch bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts sowohl diskursiv entwickelt wurde

1 O sterhammel , „The Great Work of Uplifting Mankind“, 363 – 426, 363; ders ., Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 8; H ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren, 27 – 31.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

als auch große praktische Auswirkungen auf die Politik hatte, ist das Anliegen des gesamten vierten Kapitels.2

4.1  Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘ Grundlegende Voraussetzung für die Idee einer Zivilisierungsmission und für die Genese eines Zivilisierungsdiskurses ist das Aufkommen eines Begriffs und eines Wortfelds für ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘. Dieses schließt die asymmetrischen Gegenbegriffe wie die der ‚Unzivilisiertheit‘ und der ‚Nichtzivilisation‘ mit ein.3 Dabei wird die Entwicklung von Begriffen als die Entwicklung von menschlichem Bewusstsein verstanden, das in der Sprache einer Epoche, in ihren authentischen Texten, fassbar wird.4 Jenseits d­ ieses Bewusstseins und der entsprechenden Begriffsbildung bedarf es zur Genese eines Zivilisierungsdiskurses als zweitem Schritt der Selbstvergewisserung, die eigene ‚Wir‘-Gruppe als ‚zivilisiert‘ zu begreifen und damit gleichzeitig Andere als ‚nicht-­zivilisiert‘ wahrzunehmen. In einem dritten Schritt ist auf der Basis der Überzeugung von der eigenen Überlegenheit die Vorstellung notwendig, dass es nicht-­zivilisierte Andere gibt, die veränderbar sind und gleichfalls in den Zustand der Zivilisiertheit oder der Zivilisation überführt werden könnten und sollten.5 Bei der Suche nach dem Aufkommen von Begriffen zum semantischen Feld der Zivilisiertheit oder der Zivilisation im Russländischen Reich liegt es nahe, 2 Mit ­diesem Anliegen widerspricht die Arbeit der erst jüngst vorgetragenen Auffassung von Michael Khodarkovsky, russländische imperiale Akteure hätten erst ab den 1860er Jahren einen Zivilisierungsdiskurs gegenüber den nicht-­christlichen ethnischen Gruppen ihres Reiches begonnen. K hodarkovsky , Between Europe and Asia, 24. 3 K oselleck , Zur historisch-­politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, 211 – 259. – Auf die Unterscheidung ­zwischen einem zustandsbezogenen Begriff, wie er im Deutschen mit ‚Zivilisiertheit‘ ausgedrückt wird, und einem doppeldeutigen Begriff, der sowohl Zustand wie Prozess bezeichnen kann (‚Zivilisation‘), wird noch näher einzugehen sein. – Durchweg wird in ­diesem Kapitel unter dem Begriff ‚Zivilisation‘ ein Terminus mit positiver Konnotation in Abgrenzung zur ‚Barbarei‘ verstanden. Der Gebrauch von ‚Zivilisation‘ als einer deskriptiven Kategorie im Sinne einer wertneutralen Gegenüberstellung verschiedener Kulturen spielt hier keine Rolle. Ausführlich zur Differenzierung S chröder , Mission Impossible?, 22 – 26. 4 R icken , Begriffe und Konzepte für Aufklärung, 95. 5 Von der Idee einer Zivilisierungsmission bzw. einem Zivilisierungsdiskurs ist eine Zivilisierungspolitik zu trennen. Von einer Zivilisierungspolitik kann erst dann gesprochen werden, wenn nicht nur auf einer Diskursebene eine Zivilisierung gefordert und geplant, sondern auch versucht wird, diese in praktische Politik umzusetzen. In d­ iesem Unterkapitel geht es nur um die begriffliche und in Ansätzen diskursanalytische Ebene. Die folgenden Unterkapitel widmen sich der Verbindung von sprachlicher Artikulation von Zivilisierungsideen und dem Versuch ihrer politischen Umsetzung.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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zunächst der Geschichte des heutigen Begriffs und Wortfeldes der Zivilisation (russisch civilizacija, französisch civilisation, englisch civilization) nachzugehen. Sein Ursprung, die lateinische Übersetzung civitas, civilis, civilitas für das griechische πολιτική, bildete schon in der Antike ein Konzept, mit dem Identitäten geschaffen und wertende Abgrenzungen z­ wischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ vollzogen wurden.6 In England und Frankreich kam der Begriff ‚Zivilisation‘ in der Landessprache im Zuge der Spätaufklärung ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf, wurde allerdings erst im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer bedeutsamen Kategorie.7 Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff Ende der 1770er Jahre rezipiert. Er befand sich rasch in einem Spannungsfeld gegenüber ‚Kultur‘ und ‚Bildung‘, ­welche für die anzustrebenden inneren Werte standen (Sphäre der Moral, Ästhetik, Anständigkeit). Dagegen wurde ‚Zivilisation‘ zunehmend mit materiellen äußeren, als zweitrangig betrachteten Errungenschaften verbunden (Sphäre materieller, wirtschaftlicher und technologischer Charakteristika).8 Trotz dieser Unterschiede spielte der Begriff im 19. Jahrhundert in sämtlichen (west-)europäischen Diskursen eine Schlüsselrolle, um die Kolonisierung und Kolonialisierung Afrikas, Asiens und Amerikas zu begründen und zu legitimieren.9 Im Russischen gab es im 18. Jahrhundert noch keinen von civitas, civilitas abgeleiteten Terminus. Die langanhaltende sprachliche Bilingualität mit einer französischsprachigen schmalen Oberschicht und einer russischsprachigen bäuerlichen Bevölkerung sorgte dafür, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert in der allmählich entstehenden russländischen Öffentlichkeit das französische Wort der civilisation eingeführt wurde und sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest etablierte. Erst in den 1830er Jahren ging civilizacija als russische Ableitung von civilitas in die Landessprache ein und wurde gegen Ende der 1860er Jahre breit rezipiert.10 Gab es mithin vor dem 19. Jahrhundert noch keine russischen Termini, mit denen sich im Zarenreich das Gefühl eigener Größe und Überlegenheit gegenüber anderen ethnischen Gruppen hätte ausdrücken können? Bedurfte es erst der 6 In der Spätantike gewinnen civilis und civilitas bereits die Bedeutung von ‚zivilisiertem Leben‘ sowie ‚zivilisierten ­Sitten‘ und werden vom ‚Wilden‘, ‚Barbarischen‘ und ‚Unzivilisierten‘ abgegrenzt. F isch , Zivilisation, Kultur, 688 – 689. 7 F ebvre , Zur Entwicklung des Wortes und der Vorstellung von „civilisation“, 39 – 77; B enveniste , Civilisation. Contribution à l’histoire du mot, 47 ff.; S tarobinski , Le mot civilisation, 30 ff; Handbuch politisch-­sozialer Grundbegriffe in Frankreich. 1680 – 1820; F isch , Zivilisation, 679 – 774; B oer , Civilization. 8 F isch , Zivilisation, 723 – 730. 9 F isch , Die europäische Expansion und das Völkerrecht, bes. 284 – 380. 10 K issel , Im Zeichen ­­ der Ambivalenz; V eližev , Civilizacija i srednij klass, 257 – 258.

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katharinäischen Rezeption der Spätaufklärung, damit sich im Russländischen Reich ein Begriffsfeld (wenn auch ein vorläufig nur französisches) der Zivilisiertheit und Zivilisation herausbilden konnte? Gab es zuvor keine Grundlage und kein Bedürfnis, um nicht-­russischen ethnischen Gruppen des eigenen Reiches in der Überzeugung eigener Überlegenheit als Imperialmacht gegenüberzutreten und deren Transformation einzufordern? Die späte Herausbildung eines von civilitas abgeleiteten Zivilisationsbegriffes im Russischen scheint auf den ersten Blick das Bild zu bestätigen, wonach der im 18. Jahrhundert einsetzende Prozess der Selbst’zivilisierung‘ vor allem ein ‚nachholender‘ Prozess gewesen sei, der sich an (west-)europäischen Vorstellungen von Zivilisiertheit orientierte und dafür Termini aus der französischen Sprache entleihen musste. Diese Wahrnehmung teilte im 18. Jahrhundert auch die zeitgenössische (west-)europäische Öffentlichkeit.11 Und auch die historische Forschung ging bislang davon aus, dass die petrinische kulturelle Revolution ausschließlich das Ziel hatte, die eigene, russische und russländisch akkulturierte Bevölkerung zu erziehen und umzugestalten – und hier vor allem die Oberschicht.12 Das Russländische Reich schien damit im Kontrast zu mehreren westeuropäischen Imperien zu stehen, deren Eliten sich selbst seit langem den Zustand der Zivilisiertheit zuschrieben und die sich vor der Aufgabe sahen, neben der eigenen ländlichen Bevölkerung vor allem andere, (außereuropäische) ethnische Gruppen zivilisieren zu wollen und zu müssen.13 Im russländischen Fall aber schien sich bislang für die Forschung zumindest zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Frage erübrigt zu haben, ob es einen russischen Begriff zur Zivilisiertheit/Zivilisation gab und erst recht zur Frage, ob z­ wischen ‚zivilisierten Russländern‘ und ‚zu zivilisierenden nicht-­russischen ethnischen Gruppen‘ unterschieden wurde.14 Nicht nur die vorangegangenen Kapitel haben bereits Hinweise darauf gegeben, dass der Forschungsstand in dieser Hinsicht zu modifizieren ist. Auch die Untersuchung der Begrifflichkeiten anderer westeuropäischer Staaten zeigt, dass bei ihnen

11 Zum westeuropäischen, vor allem französisch dominierten Blick auf ‚Russland‘ im 18. Jahrhundert siehe M ezin , Petr I kak civilizator Rossii; G odži [G oggi ], Kolonizacija i civilizaciia; ­D iulak [D ulac ], Ribeiro Sanches o Politike Kolonizacii; B lome /D epkat , Von der „Civilisierung“ Rußlands; W olff , Inventing Eastern Europe. 12 Vgl. dazu die Ausführungen in der Einleitung zu dieser Arbeit. 13 B elmessous , Assimilation and Racialism; B itterli , Die ,Wilden‘ und die ,Zivilisierten‘; ­F ieldhouse , The Colonial Empires; P agden , Lords of all the World; W eber , Bárbaros; G ­ ründer , Conquista und Mission. 14 Diese Einstellung mag erklären, warum das russische Wortfeld im 18. Jahrhundert bislang noch kaum untersucht wurde. Auf die wenigen Artikel, die zu ausgesuchten Aspekten des Themenfeldes publiziert wurden, wird weiter unten im jeweiligen Kontext hingewiesen.

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das semantische Feld der Zivilisiertheit ebenfalls nicht erst dann lexikalisch in den Umgangssprachen abgebildet wurde, als sich der aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff der ‚Zivilisation‘ verbreitete. Im Französischen sind Wortbildungen, die mit dem späteren civilisation verwandt waren und sowohl den Zustand wie aktiven Prozess bezeichneten, bereits für das 16., im Englischen für das 17. Jahrhundert nachgewiesen (französisch civiliser, civilité; englisch civilize, civility).15 Darüber hinaus gab es Begriffe mit anderen Wortstämmen, die aber demselben semantischen Feld angehörten.16 Auch im Russischen ist daher nach vergleichbaren Vorgängern aus demselben semantischen Wortfeld zu suchen. Zuvor ist jedoch ein Blick auf die Schwierigkeiten zu werfen, die sich auftun, will man eine Geschichte des Begriffsfeldes von Zivilisiertheit und Zivilisation im 18. Jahrhundert nachzeichnen. Zwar werden im Folgenden unterschiedliche Textgruppen einbezogen: Mit einer Untersuchung lexikographischer Quellen soll der sprachnormativen Ebene Rechnung getragen und mit der Analyse des Vokabulars der Politik und Bürokratie die öffentlich-­politische Ebene berücksichtigt werden. Gleichwohl kann der untersuchte Textkorpus der Belege weder als abgeschlossen noch als ausreichend, sondern nur als Anfangspunkt für weitere Studien angesehen werden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass jeder Begriff im Binnenraum eines semantischen Feldes steht, das selbst wandelbar ist. Schließlich ergibt sich eine Schwierigkeit daraus, wie Bedeutungsbestimmungen hergestellt werden. So wird bei der Untersuchung von Begriffen unterstellt, dass ihr Sinn unabhängig von seiner bestimmten Verwendungsweise besteht und dass die Verwendungsweise immer d­ iesem Sinn zu entsprechen habe. Tatsächlich aber entsteht die Sinnbestimmung bei jedem Gebrauch durch eine neue Mischung aus der Disposition und Intention auf Seiten des Aussagenden einerseits und eines Adressatenkreises oder einer bestimmten Situation, vor dessen Hintergrund die Aussage einen Sinn erhält, andererseits.17

15 C hartier , Civilité; P ernau , Civility and Barbarism, 240. 16 Dazu zählen im Deutschen Begriffe wie ,Manierlichkeit‘, ‚Höflichkeit‘, ,gutes Benehmen‘ und das erst von Leibniz eingedeutschte ‚Cultur‘, die das mit civilité im Französischen (und civilis im Lateinischen) verbundene Wortfeld in der deutschen Sprache wiedergaben. Siehe z. B. die Übersetzung des zuerst auf Latein verfassten, halboffiziellen schwedischen Pamphlets, wonach die Schweden falschen Hoffnungen erlegen s­ eien, dass der Zar während seiner Europareise „eine manierliche Lebens-­Art“ sich erworben habe (lateinisch: ad civilis vitae rationem). [H ermelin ]: Discussio criminationum, fol. A3 (5); dt. Übersetzung von 1701: Gerechte Ablehnung Derer Lasterhafften Beschuldigung, fol. A3‒A4. Vgl. auch F isch , Zivilisation, 697, 704. – Auf den verbreiteten Begriff des lateinischen humanitas (humanité, humanity, ‚Humanitet‘) wird weiter unten eingegangen. 17 Ausführlich zu den Herausforderungen der Begriffsgeschichte C hartier , Civilité, 7 – 12; ­K oselleck , Hinweise auf die temporalen Strukturen.

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Diese Schwierigkeiten sind im Hinterkopf zu behalten, wenn im Folgenden mit der Suche nach dem Aufkommen neuer Begriffe und Wortfelder der Blick auf die petrinische Herrschaftszeit gerichtet wird. Es ist ein Charakteristikum Peters I. und seiner Ära, zahllose Fremdwörter importiert, neue Begriffe rezipiert und damit die Herausbildung einer modernen politisch-­sozialen Lexik des Russischen befördert zu haben.18 Insbesondere drängt es sich auf, die Ausrufung von Zar Peter I. zum „Allrussländischen Imperator“ (Vserossijskij Imperator) von 1721 und die damit verbundene Umbenennung des Moskauer Staates in das Petersburger ‚Imperium‘ näher in den Blick zu nehmen.19 Finden sich hier Hinweise für das gesuchte Begriffsfeld? Drückte sich in ­diesem pompös ausgestalteten Schritt irgendein tiefgreifender Wandel in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung aus, der zugleich Folgen für die Politik gegenüber den nicht-­russischen Untertanen des Reiches implizieren und sich auch lexikalisch niederschlagen konnte? Oder handelte es sich nur um eine nach ausländischer Anerkennung schielende Machtinszenierung, die dem Zaren nach seinem Sieg im Nordischen Krieg dazu verhelfen sollte, den außenpolitischen Prestigegewinn in eine dauerhaft gehobene Position gegenüber den westeuropäischen Mächten zu verwandeln?20 Welche Bedeutung wurde mit der Umbenennung für die innere Verfasstheit des Reiches und für seine imperiale politische Kultur verbunden? Zudem stellt sich die Frage: Wenn der Zarenstaat sich erst jetzt als ein „Imperium“ bezeichnete, was soll er dann in den Augen der Zeitgenossen vorher gewesen sein?

Imperium und Zivilisiertheit Über die Arbeit des Historikers schrieb die Galionsfigur der deutschen Begriffsgeschichte, Reinhart Koselleck, dass er sich bei der Verwandlung von „Überresten“ der Vergangenheit in Quellen immer auf einer von zwei Ebenen befinde: Entweder untersuche er Sachverhalte, die bereits früher sprachlich artikuliert worden 18 Allein schon das Fremdwortglossar im Anhang des „Generalreglements“ zur Einrichtung der Staatskollegien macht das Ausmaß des Wörterimports anschaulich. PSZRI Bd. 6, Nr. 3534 (28. 2. 1720), 160. Daneben C hristiani , Über das Eindringen von Fremdwörtern; S mirnov , Zapadnoe vlijanie na russkij jazyk; O gienko , K voprosu ob inostrannych slovach; K ­ aiser , Der europäische Anteil; O tten , Untersuchungen. 19 Der ganze Titel, der Peter I. verliehen wurde, lautete: „Vater des Vaterlandes, Peter der Große, Allrussländischer Imperator“ (Otec otečestva, Petr Velikij, Imperator Vserossijskij). PSZRI Bd. 6, Nr. 3840 (22. 10. 1721), 444 – 446, hier 445; sowie Nr. 3850 (11. 11. 1721), 453 – 454. 20 In der Literatur gibt es bereits zahlreiche Analysen zur Titelverleihung und zur Bedeutung des Imperator-­Titels. Stellvertretend s­ eien hier genannt M arasinova , The Russian Monarch’s Imperial Title; P lokhy , The Origins of the Slavic Nations, 283 – 289; P ogosjan , Petr I, 220 – 243; M adariaga , Tsar into Emperor; A geeva , Imperskij status Rossii.

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sind, oder aber er rekonstruiere Sachverhalte, bei denen dies noch nicht der Fall war. Diese Sachverhalte arbeite er aus den Quellen mit Hilfe von Hypothesen und Methoden heraus. Im ersten Falle dienten die Begriffe der Quellensprache dazu, vergangene Wirklichkeit zu erfassen. Im zweiten Falle bediene sich der Historiker ex post gebildeter, definierter Begriffe, die angewendet werden, obwohl sie in den Quellen nicht gefunden werden können.21 Im Falle der Anwendung des Imperium-­Begriffs auf das Zarenreich ist die Koselleck’sche Unterscheidung z­ wischen einem quellengebundenen Begriff und einer wissenschaftlichen Erkenntniskategorie besonders hilfreich. Tatsächlich ist die Bezeichnung Imperija in den russischen Quellen vor dem 18. Jahrhundert so gut wie nicht zu finden. Erst nach der Ausrufung Peters I. zum „Imperator“ wird sie zunehmend als Beschreibung des Zarenreiches rezipiert. Und selbst dann, in den ersten Jahrzehnten nach der nominellen Verwandlung, spielte der Begriff in der politischen Sprache der Elite noch keine herausgehobene Rolle.22 Welche Aussage lässt sich dann auf der Basis der veränderten Bezeichnung über den Charakter des Zarenreiches vor 1721 treffen? Wie Kosellecks Unterscheidung deutlich macht, können Phänomene oder Gegebenheiten in der Geschichte ihrer sprachlichen Benennung sehr wohl vorausgehen. Eine spätere Selbstbezeichnung als ‚Imperium‘ schließt damit keineswegs aus, dass es eine derartige staatliche Verfasstheit nicht zuvor schon gegeben hat. Die Historiographie zeigt mit einem Blick, dass der Begriff des Imperiums als Kategorie wissenschaftlicher Erkenntnis für das Moskauer Zarentum schon seit Jahrzehnten verwandt wird. Spätestens mit dem Erscheinen von Andreas Kappelers großem Überblickswerk „Rußland als Vielvölkerreich“ von 1991 verbinden die Historiker gemeinhin den Beginn des Russländischen Imperiums mit der Eroberung der muslimisch geprägten Hochkulturen der Chanate von Kazan (1551/1552) und Astrachan (1556).23 Handelte es sich bei der Ausrufung zum Imperator respektive zum Imperija mit Blick auf die Bedeutung, die die Bezeichnungen für das Innere des Staates hatten, schlicht um einen Neologismus zur begrifflichen Anpassung an bereits bestehende Gegebenheiten? Die Frage ruft danach zu untersuchen, w ­ elche Semantik die Zeitgenossen mit dem neu eingeführten Imperiumsbegriff verbanden.24 Schaut man auf die Reden, die anlässlich der feierlichen Vergabe des Imperator-­Titels 21 K oselleck , ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘, 350. 22 S chierle , „Otečestvo“, bes. 156; dies ., Ponjatie „Rossija“; A geeva , Imperskij status Rossii, 112 – 140; P ogosjan , Petr I, bes. 214 – 229 und 393 – 408. 23 K appeler , Rußland als Vielvölkerreich; ders ., Rußlands erste Nationalitäten; ders ., Vom Moskauer Fürstentum; H osking , Russia; F iljuškin , Problema Genezisa Rossijskoj Imperii; N orris / S underland (Hg.), Russia’s People of Empire. 24 Ausführlich zum Verständnis des Imperium-­Begriffes zum Zeitpunkt der Annahme des Titels Imperator P ogosjan , Petr I, 220 – 229.

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gehalten wurden, so zeigt sich, dass kaum einer der zentralen Aspekte, die heute mit dem Begriff des Imperiums (und damit mit dem Moskauer Reich seit der Einverleibung von Kazan und Astrachan) typischerweise verbunden werden, in den Köpfen der Zeitgenossen eine Rolle spielten: In den Reden wurde nicht das große Territorium des Zarenreiches betont, nicht seine Multiethnizität oder Multi­ konfessionalität und auch nicht die Vielstufigkeit seiner politisch-­territorialen Organisation und einer daraus abgeleiteten Vielzahl an verschiedenen Herrschaftstiteln.25 Stattdessen pries Kanzler Graf Gabriel Golovkin in seiner Lobesrede auf Peter I. die großen militärischen Verdienste des Zaren, mit denen dieser Ruhm und Ansehen des Zarenreiches vermehrt habe, und hob zudem die Stärke und Stabilität des Staates hervor.26 Doch Golovkin beließ es nicht bei den allgemeinen Lobpreisungen von Ruhm, Ansehen, Stärke und Stabilität des Staates. In seiner Rede taucht ein neuer Aspekt auf. Er könnte den Schlüssel zu dem Verständnis enthalten, ­welche Konzeption im zeitgenössischen politischen Denken der obersten Elite die Ausrufung Peters I. zum Imperator und der daraus abgeleiteten Umbenennung des Landes in ein Imperija begleitete: Golovkin würdigte, dass der Zar durch seine Taten seine treuen Untertanen „aus der Dunkelheit der Unwissenheit zum ­Theater des Ruhmes der ganzen Welt, und auf diese Weise, aus dem Nichtsein ins Sein“ geführte habe. Konkreter noch, Peter habe seine Untertanen „der Gemeinschaft der zivilisierten Völker“ (vo obščestvo političnych narodov) zugeführt.27

Völkerrecht und ‚Zivilisiertheit‘ Die neue Kategorie und das im Russischen noch junge Wort, welches Golovkin hier einführte, freilich nach ausführlicher Vorbereitung seiner Rede durch den Heiligen Synod, den Senat und einer letzten Überarbeitung durch Peters Vertrauten Petr Pavlovič Šafirov, war also just jenes der Zivilisiertheit.28 Diese wurde kontrastiert mit der Beschreibung der Vergangenheit, die Peter I. unmittelbar vorausgegangen sei, der „Dunkelheit der Unwissenheit“, die an „Nicht-­Existenz“ 25 Eine Angleichung der Imperiumsbedeutung an das heutige Verständnis von Imperium als das eines staatlichen Gebildes mit einer primär hohen ethnischen und kulturellen Pluralität erfolgte erst unter Zarin Katharina II. Vgl. dazu Kap. 4.6. 26 PSZRI (Serie 1) Bd. 6, Nr. 3840 (22. 10. 1721), 445 – 446. 27 Ebd. – Zum zeitgenössischen Verständnis und zur Übersetzung von političnyj mit ‚zivilisiert‘ siehe weiter unten. 28 Protokoly zasedanij Svjatejšago Sinoda – osobennogo i obščago s Senatom – o podnesenii Carju Petru Alekseeviču: Otca Otečestva, Petra Velikago, Imperatora Vserossijskago. In: Opisanie dokumentov, Anhang, Spalte 452 – 458.

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gegrenzt habe.29 Diese dichotomische Gegenüberstellung von früherer Dunkelheit und jetzigem Licht offenbart eine neue, von der Frühaufklärung durchdrungene Denkweise. Sie unterschied nicht nur z­ wischen zwei Stadien, sondern teilte vor allem die Gesamtheit ethnischer Gruppen in ihrer staatlichen Verfasstheit in einen Teil, der aus den „zivilisierten Völkern“ bestand, und in einen anderen, zu dem die Völker gehörten, die dies (noch) nicht waren.30 Da zudem nach den Worten Golovkins das Zarenreich erst kürzlich das neue Stadium erreicht habe, wurde gleichzeitig der Gedanke vermittelt, dass der Kreis der „zivilisierten Völker“ keine geschlossene Gesellschaft darstelle, sondern auch neuen Mitgliedern offenstehe. ‚Zivilisiertheit‘ bildete d­ iesem Verständnis zufolge eine universale Kategorie, zu der jede (staatlich verfasste) ethnische Gruppe vordringen konnte, sofern sie sich darum bemühte. Früheste Belege der Verwendung des noch jungen Ausdrucks političnyj, das Golovkin als Signalwort nutzte, um seine dualistische Sichtweise zum Ausdruck zu bringen, finden sich im Kontext des Transfers politischer Ideen, Begriffe und Konzepte, die über Polen-­Litauen und die Hetmanats-­Ukraine im späten 17. Jahrhundert in das Moskauer Reich eindrangen.31 Anfang des 18. Jahrhunderts rezipierte die russländische politische Elite unter Peter I. den Begriff dabei sowohl zur Charakterisierung ganzer ethnischer Gruppen als auch zu der von Individuen.32 29 Die Dichotomie von ‚dunkel‘ und ‚hell‘ korrespondierte mit der unter Peter I. eingeführten begrifflichen Gegenüberstellung vom ‚alten‘ und ‚neuen‘ Russland. S tennik , Ideja „drevnej“ i „novoj“ Rossii. – Weitere Belege für die Lichtmetaphorik bei Peter I. in M ediger , Mecklenburg, Rußland und England-­Hannover, Bd. 1, 163 – 168; Bd. 2, 61 – 64. – Jurij Lotman und Boris Uspenskij sehen in dualistischen Denkmodellen einen der russischen Kultur eigenen Wesenszug, der sich in den Quellen zur Christianisierung der Rus’ genauso äußerte wie in der zeitgenössischen Wahrnehmung der petrinischen Reformen. L otman /U spenskij , Die Rolle dualistischer Modelle, bes. 26 – 28. 30 Auch wenn zweifellos Einflüsse der Frühaufklärung in der petrinischen Ära zu erkennen sind, ist es doch fraglich, ob Peter I. selbst als ein Vertreter dieser geistigen Strömung zu bezeichnen ist. Eine zweifelnde Position bei S chippan , Sozialgeschichte, Religion und Volksaufklärung, 346 – 347; ders ., Die Aufklärung in Russland, 40 – 41. 31 Der polnische Ausdruck lautete polityczny. In russischer Schreibweise findet sich das Wort in einer „slawischen“ Übersetzung der Chronik von Bischof Pavel Pjasecki, die nach dem Urteil des Chronikherausgebers von einem Abkömmling aus dem Gebiet der Hetmanats-­Ukraine angefertigt worden sein muss. Smutnoe vremja, 69; O tten , Untersuchungen, 459, A. 1497. – Auch der gebildete Kroate Juraj Križanić, der beim Zaren in Ungnade fiel und nach Tobol’sk verbannt wurde, verwandte den Begriff in mehreren seiner Aufsätze, darunter in Tolkovanie istoričeskich proročestv von 1674. K rižanič , Sobranie sočinenij, Bd. 2, 54; Russkoe gosudarstvo, 146; K iselev , Ot „političnogo“ k „prosveščennomu“, 2. – Zum Transfer von Ideen, Begriffen und Konzepten aus Polen-­Litauen über die Hetmanats-­Ukraine ins Moskauer Reich siehe T orke , Moskau und sein Westen; C harlampovič , Malorossijskoe vlijanie; R othe , What is the Meaning of „­ Rossijski“; ­K aiser , Der europäische Anteil, 86. 32 Als Bsp. für die Begriffsverwendung im Sinne von ‚höflich‘, ‚wohlerzogen‘ mit Bezug auf Individuen siehe den Brief von A. A. Matveev an G. I. Golovkin vom 11. 4. 1707, in: PiB Bd. 5 (Jan.‒Juni 1707), 437 (čtob byli pri nem ljudi vybornye, političnye i osvidetelstovovannye v

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Dabei bezeichnete političnyj anzustrebende vornehme Umgangsformen, Höflichkeit, Gelehrsamkeit sowie die Beherrschung feiner ­Sitten und diplomatischer Gebräuche, wie sie in (West-)Europa üblich waren.33 In dieser Bedeutungsvariante spiegelte sich die Übernahme westeuropäischer Verhaltensvorstellungen wider, wie sie sich dort seit den Zeiten der Renaissance in Form eines aristokratischen Tugendideals und einer Hofetikette herausgebildet hatten, die sich beide an den genannten Maßstäben orientierten.34 Was aber verbanden Peter I. und seine Getreuen mit der Wortverbindung des „zivilisierten Volkes“? Kein Werk könnte uns ein umfassenderes Verständnis vermitteln als die Schrift, die bereits einige Jahr zuvor von genau jenem Vertrauten Peters I. verfasst worden war, der auch die Endfassung der Rede zur Erhebung des Zaren zum Imperator übernommen hatte, nämlich von Petr Pavlovič Šafirov (1670 – 1739).35 Šafirov war seit der gemeinsamen Reise nach Westeuropa, auf der er Peter I. als Übersetzer begleitet hatte, dank seiner herausragenden Fähigkeiten vom Zaren in dessen näherer Umgebung gehalten worden. 1717 ließ ihn der Zar zum Vizekanzler des Kolleg für auswärtige Angelegenheiten ernennen.36 In demselben Jahr verfasste Šafirov auf Bitten Peters I. ein überaus bedeutendes Werk, das der Zar anschließend eigenhändig redigierte und ergänzte, und dessen zwei Seiten langer Titel in der deutschen Übersetzung (hier gekürzt) folgendermaßen lautete: „Raisonnement, was für Rechtmässige Ursachen Se. Cz. Maj. Petrus der Erste […] gehabt den Krieg wider den König in Schweden Carolum XII A. Christi 1700 anzufangen […] hatte“.37

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čestnom i v postojannom žit’e); Brief von G. I. Golovkin an I. A. Musin-­Puškin vom 28. 2. 1707), in: Opisanie dokumentov, Buch 8, 163 (s kotorymi daby tamošnej archierej mog obchoditca po pristojnosti politično k česti i k slave Rossijskogo gosudarstva); K iselev , Ot „političnogo“ k „prosveščennomu“, 3, 5. – Die enge Verbindung des Konzepts von der Zivilisierung des Einzelnen mit dem Konzept der Zivilisiertheit einer ganzen Gemeinschaft findet sich in europäischen wie asiatischen Kulturen. P ernau /J ordheim , Introduction. – Die Bezugsgröße des ­später aufkommenden civilisation-­Begriffes ist hingegen fast immer das Kollektiv. F isch , Zivilisation, 718. Petr A. Tolstoj verwandte den Ausdruck für die Venezianer in seiner Zeit als Gesandter in Italien (1697 – 1699). [T olstoj ], Putešestvie, 24; Russkij posol v Stambule, 40. – Auch die Anweisung, die Tolstoj als russländischer Botschafter für den Umgang mit ausländischen Ministern in Konstantinopel bekam, enthielt den neuen Terminus in seiner Bedeutung von Höflichkeit: s čjužestrannymi ministry obchoditca politično. In: Tajnyja stat’i, dannyja Petru Andreeviču Tolstomu, in: PiB Bd. 2 (1702 – 1703), St. Petersburg 1889, Nr. 419 (1. 4. 1702), 30 – 34, hier 34. Zur allmählichen Verinnerlichung ‚ziviler‘ Umgangsformen durch die Beherrschung von Emotionen siehe grundlegend E lias , Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2; sowie seine Kritiker: S enghaas , Zivilisierung wider Willen; S chwerhoff , Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft; S chnell (Hg.), Zivilisationsprozesse, 3 – 20. Zur Rolle von Šafirov bei der Abfassung des Textes zur Imperator-­Titelverleihung P ogosjan , Petr I, 222 – 225. L ichač , Šafirov, 42; B utler , Shafirov. Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny. – Die deutsche Übersetzung erschien 1722. Zu den diversen Ausgaben der Streitschrift sowie zur Redakteursarbeit Peters I. und zu dessen

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Das Gemeinschaftswerk zum Nordischen Krieg Es handelt sich um eine Streitschrift, mit der bewiesen werden sollte, dass das Zarenreich erstens rechtens handelte, als es den (Großen Nordischen) Krieg mit Schweden 1700 begann, dass zweitens Schweden die Schuld an der Länge des Krieges trug und dass vor allem drittens das Zarenreich den Krieg „in Übereinstimmung mit den Regeln der christlichen und zivilisierten Völker (političnych narodov)“ geführt hatte.38 Auch hier also fand sich der Hinweis auf die Zugehörigkeit des russländischen Staates zu den „zivilisierten Völkern“, freilich in einer viel umfassenderen Darlegung als drei Jahre ­später im Rahmen der Imperator-­Ausrufung. Die Veröffentlichung erfolgte unter Šafirovs Namen (und stellte damit keine offizielle Verlautbarung dar), sie war im Unterschied zu vorherigen, auf Russisch geschriebenen Memoranden auch nicht an eine andere Regierung gerichtet und wird von manchen daher als die erste gedruckte völkerrechtliche Abhandlung und damit als Beginn der Disziplin des Völkerrechts im Zarenreich gewertet.39 Andere sehen in ihr vor allem den Versuch, politisch-­territoriale Ansprüche des russländischen Staates im Rahmen der internationalen Politik in der letzten Phase des Nordischen Krieges zu etablieren.40 Wieder andere lehnen die Einordnung als völkerrechtliches Dokument ab und sehen es ausschließlich als polemische Streitschrift sowie als typisches Beispiel einer zu der Zeit in Europa verbreiteten Form der politischen Legitimation von Kriegen an.41 Tatsächlich sind der Schrift wohl einige Bedeutungsebenen zuzuweisen, so dass nicht von einem Entweder-­oder gesprochen werden sollte. Vielmehr steht Šafirovs (und Peters) Streitschrift in mehrerer Hinsicht exemplarisch für die vom Zaren

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Abfassung des Schlussteils siehe P ekarskij , Nauka i literatura, Bd. 2, 392 – 394. Die englische Fassung wurde von W. E. Butler eingeleitet und herausgegeben: S havirov , A Discourse Concerning the Just Causes. – Die Anregung für die Abfassung einer vergleichbaren Schrift erhielt der Zar offenbar von seinem in London weilenden Gesandten F. S. Saltykov. G rabar , The History of International Law in Russia, 77. Dieser entscheidende Hinweis findet sich bereits im Titel der Streitschrift von Š afirov , „Razsuždenie kakie zakonnye pričiny (…) Petr Pervyj (…) imel (…) i s kotoroi vojujuščei strany ta voina po pravilam christijanskich i političnych narodov bolee vedena.“ St. Petersburg 1717. [Kursiv von R. V.] G rabar ’, Pervaja russkaja kniga; ders ., Materialy k istorii, 70; ders ., The History of International Law in Russia, 76. – Der Einordnung als völkerrechtlicher Schrift folgt auch B utler , On the Origins of International Legal Science; B utler , P. P. Šafirov, 1. – Andere völkerrechtlich bedeutsame Schriften verfassten die Diplomaten F. S. Veselovskij sowie Michail P. Bestužev-­Rjumin. Diese richteten ihre Schriften allerdings direkt an die englische Regierung. W ittram , Peter I., Bd. 2, 296 – 300, und 576, Fn. 51; F ejgina , Alandskij Kongress, 83 – 89. P iirimäe , Russia, The Turks and Europe, 64; M älksoo , The History of International Legal Theory in Russia, 217.

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forcierte Transformation des russländischen politischen Diskurses zu Beginn des 18. Jahrhunderts und offenbart sich sowohl als Dokument mit völkerrechtlicher Bedeutung als auch als eines mit herausragender politisch-­propagandistischer Bedeutung.42 Nie zuvor war von irgendeinem Vertreter des Zarenreiches eine histo­rische Rechtfertigung für Kriege abgefasst worden, die gegen andere Mächte geführt wurden. Šafirov begab sich in die Details der Diplomatiegeschichte Schwedens und des Moskauer Reiches und reihte damit das Zarenreich wie selbstverständlich in die Riege europäischer Staaten ein. Zudem stellte er seine Darlegung des russländischen Standpunktes, wonach die schwedische Seite das Völkerrecht verletzt, sich damit als „nicht-­zivilisiertes Volk“ verhalten und dem Zarenreich keine Möglichkeit mehr gelassen habe, den Krieg zu vermeiden, in die Tradition europäischer Schriften zur Kriegslegitimation.43 Wie es im Rahmen derartiger Legitimationen im übrigen Europa längst zur Routine geworden war, wurde erstmals jetzt auch für den russländischen Staat in Anspruch genommen, sich vollständig an die Normen des Völkerrechts gehalten und keinerlei Handlungen unternommen zu haben, die nicht dem internationalen Verhaltenskodex der Staatengemeinschaft entsprochen hätten.44 Aus welchem Grund beriefen sich Šafirov und der Zar mit einem Mal so stark auf das Völkerrecht? Bislang hatte d­ ieses im Moskauer Reich keine Rolle gespielt. Westeuropäische Debatten des 17. Jahrhunderts zu den Konzepten des sogenannten Naturrechts und zur Abfassung von Regeln des Völkerrechts waren im Zarenreich nicht rezipiert worden. Das in der Moskauer Staats- und Kirchenführung weitverbreitete Misstrauen gegenüber ausländischen Einflüssen hatte den Transfer und die Beschäftigung mit westlichen Schriften verhindert.45 42 Die große Bedeutung, die Peter I. selbst der Publikation beimaß, zeigte sich nicht nur darin, dass er selbst in die Abfassung und Fertigstellung involviert war. Sie wurde auch darin deutlich, dass er die dritte russische Auflage der Schrift in der erstaunlichen und für die Zeit völlig unüblichen Anzahl von 20.000 Exemplaren drucken ließ. Die Anzahl überstieg bei weitem das Potential der im Reich Lesekundigen. B utler , P. P. Shafirov, 32. – Gewöhnlich wurden in der petrinischen Ära von einer politischen oder historischen Arbeit rund ein- bis zweitausend oder auch nur einige hundert Exemplare gedruckt. L uppov , Kniga v Rossii; P iirimäe , Russia, The Turks and Europe, 65; M arker , Publishing, Kap. 1, bes. 26, 36 – 38. 43 Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, Vorwort, 2. – Der Begriff der Kriegslegitimation wurde von Konrad Repgen eingeführt. R epgen , Kriegslegitimationen in Alteuropa. 44 Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, Vorwort, 2. – Schweden ging in seiner Kriegslegitimation zur Intervention im Dreißigjährigen Krieg in ganz ähnlicher Weise vor. P iirimäe , Just War in Theory and Practice. 45 Die wohl einzige Ausnahme und mithin das erste Werk, das in russischer Sprache das Völkerrecht behandelte, war die 1647 in russischer Übersetzung veröffentlichte Arbeit von Johannes Jacobi von Wallhausen, die dieser 1615 – 1617 auf Deutsch zur Kunst und zum Recht der Kriegsführung verfasst hatte. Dieses Buch befand sich nachgewiesenermaßen in der Privatbibliothek des russländischen Geographen und Politikers Ivan K. Kirilov (1689 – 1737). B utler , Russian Law, 24.

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Die ­Übernahme westlicher Normen war auch bislang gar nicht als notwendig ­erschienen. Es gab eine innenpolitische Kultur, die im Kern am Kriterium der herrscherlichen Gnade und Ungnade orientiert war. Es gab der christlichen Tradition entnommene Regeln und Gebräuche im Umgang mit anderen Staaten wie ­solche, dass man sich nach einem Eid in Form eines Kreuzkusses an Verträge so lange zu halten hatte, wie die Vertragspartner lebten.46 Es gab Vorstellungen davon, was sich im Umgang miteinander gehörte und was „sich weder in christlichen noch in muslimischen Staaten zieme“ (1613).47 Ein Bruch mit tradierten Verhaltensweisen, wonach zum Beispiel Gaben im Rahmen von Gesandtschaftsbesuchen grundsätzlich nicht zu besteuern waren, wurden als „bestialische ­Sitten“ (nravy zverskie) gebrandmarkt (1667).48 Aber eine grundsätzliche Vorstellung, sich und andere Staaten in einem Werteverbund, in einer Gemeinschaft mit gemeinsamen zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen zu sehen, oder aber im Staatsinneren verschiedene ethnische Gruppen jenseits der Beschreibung, dass sie verschiedenen Religionen huldigten, unterschiedlich zu bewerten, war dem Moskauer Reich zutiefst fremd gewesen.49 Erst Peter I. ließ mit Hilfe der Absolventen des Kiever Mohyla-­Kollegiums (seit 1701 Akademie) die bedeutendsten Texte des frühen Völkerrechts übersetzen, so jene von Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und Abraham de Wicquefort.50 Welches Neuland mit diesen Übersetzungsarbeiten betreten wurde, demonstrierte bereits die Frage, vor der die Übersetzer standen, ob nämlich der Terminus ‚Völkerrecht‘ im Russischen mit vsenarodnoe pravo („Völkerrecht“), vsenarodnye pravila („Völkerregeln“) oder vsenarodnyj zakon („Völkergesetz“) übersetzt werden solle.51 Auch kursierten die meisten übersetzten völkerrechtlichen Texte zu Peters Lebzeiten vorerst nur als Manuskripte in den Bibliotheken der führenden russländischen Elite. Veröffentlichungen erfolgten überwiegend erst nach dem Tod des Zaren. Šafirovs (und Peters I.) publiziertes Werk, das nicht nur auf dem Niveau westeuropäischer Gelehrter des Völkerrechts abgefasst war, sondern sich 46 47 48 49

G rabar , The History of International Law in Russia, 10. Z aozerskij , K charakteristike Moskovskoj diplomatii, 349; G rabar ’, Materialy k istorii, 18. Drevnjaja Rossijskaja Vivliofika, Bd. 3, 1895, Teil 5, 44; G rabar ’, Materialy k istorii, 19. Dies manifestierte sich besonders augenfällig darin, dass nicht-­russische Völker im Osten und Süden nicht negativ beurteilt, sondern in ihrem Anderssein hingenommen wurden, sofern sie sich gehorsam zeigten. S lezkine , The Sovereign’s Foreigners. 50 Von Hugo Grotius wurde sein Werk zum Kriegs- und Friedensrecht („De jure belli ac pacis“), von Samuel Pufendorf jenes zum Natur- und zum Völkerrecht („Juris naturae et gentium, libri octo“) sowie von Abraham von Wicquefort jenes zum Botschafter und seinen Funktionen („The Ambassador and his Functions“) übersetzt. G rabar , The History of International Law, 38 – 43. – Eine Auflistung der wichtigsten Übersetzungen aus sämtlichen Wissenschaften in der petrinischen Zeit bei P ekarskij , Nauka i literatura, Bd. 1, 255 – 257, Fn. 2. 51 G rabar , The History of International Law, 85.

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auch direkt auf einzelne Werke und Autoren bezog, demonstrierte angesichts der skizzierten Voraussetzungen nicht nur große Kenner- und Könnerschaft. Vor allem kann es in seiner Wirkung, und hier liegt die völkerrechtliche Bedeutung der Schrift, kaum überschätzt werden: (West-)Europäische Rechtsbegriffe und Rechtskonzepte kamen fortan in breiten Umlauf und drangen in die russische Gesetzgebung und diplomatische Korrespondenz ein.52 Warum aber legte der Zar so viel Wert auf die Verbreitung völkerrechtlicher Literatur, und was bezweckte er mit Šafirovs Streitschrift und dessen Beweisführung, der russländische Staat habe sich in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht verhalten? Wie die Formulierung zeigt, wonach Schweden sich mit dem Bruch des Völkerrechts als „nicht-­zivilisiertes Volk“ verhalten habe, findet sich der Schlüssel in der engen Verwobenheit der Vorstellungen von Zivilisiertheit, wie sie im zeitgenössischen Westeuropa vorherrschten, mit der Einhaltung des Völkerrechts. Diskurse zur Zivilisiertheit waren in Westeuropa als Antwort auf das Problem entstanden, wie zu entscheiden war, ­welche Länder die Anerkennung als Subjekte des Völkerrechts erfahren sollten.53 Die zentrale Kategorie der Zivilisiertheit wurde dabei im Lateinischen des späten 17. Jahrhunderts nur noch selten mit civilitas wiedergegeben, häufiger hingegen mit cultus und cultura, die (einschließlich der politischen Komponente, die früher in civilitas enthalten war) zunehmend an die Stelle des Ausdrucks vita civilis traten.54 Im Französischen und Englischen dominierten civilité und civility, ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert zunehmend auch humanité bzw. humanity, im Deutschen standen ‚Cultur‘ und ‚Humanitet‘ im Vordergrund.55 52 G rabar , The History of International Law, 86. – Zur Bedeutung von Übersetzungen, die im Ergebnis ihrer Tätigkeit Äquivalente von Begriffen und Konzepten erst kreierten, siehe R ichter / B urke (Hg.), Why Concepts Matter; P ernau , Whither Conceptual History? 53 Martin Wight betont allerdings zu Recht, dass der Begriff der „internationalen Legitimität“, bei dem es um ein kollektives Urteil der internationalen Gemeinschaft über die Richtigkeit von Mitgliedschaften in der ,Familie‘ der Nationen geht, prinzipiell vom Begriff des Völkerrechts als einem System von Regeln und Prinzipien zu trennen ist, das sich aus der Praxis der Staaten mit der Absicht herausgebildet hat, deren Beziehungen zu regulieren und Konflikte zu mäßigen. W ight , Systems of States, bes. 153 – 158. 54 Bei Pufendorf ist viel von cultura, aber auch von „polizierten Völkern“ (politiorum populorum) die Rede. P ufendorf , De statu hominum naturali (1675), in: ders., Eris scandica, 218 § 2; F isch , Zivilisation, 703. 55 Der im Auftrag des polnischen Königs 1689 ins Moskauer Land gereiste De la Neuville wirft zum Beispiel in seinem Bericht von 1699 den Moskowitern vor, weder civilité noch honnêteté zu kennen, das Völkerrecht zu verletzen und weiterhin „Barbaren“ zu sein. D e la N euville , Relation curieuse, 22. – In die deutsche Umgangssprache wurde das lateinische humanitas erstmals im 16. Jahrhundert in der Form ‚Humanitet‘ eingeführt. Im 17. Jahrhundert wurde daraus ‚Humanität‘.B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, 1069 – 1074. – Eine ähnliche Aufnahme in die Umgangssprachen erfolgte im Französischen und Englischen. D uranton , Humanité; J an , Humanité; S chalk , Humanitas im Romanischen; K rings , Die Geschichte des Wortschatzes der

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Die Anerkennung von Staaten als Subjekten des Völkerrechts hing (neben der Frage der Souveränität und des Gewaltmonopols) davon ab, ob sie als ‚zivilisiert‘ galten. Gemeint war damit, ob sie willens (und in der Lage) waren, das (aus der Verbindung mit westlich-­christlicher Theologie entstandene) Völkerrecht einzuhalten.56 Wie Pärtel Piirimäe überzeugend darlegen konnte, hatte sich genau in d­ iesem Punkt das Osmanische Reich im ausgehenden 17. Jahrhundert zum Gegenpol einer europäischen Staatengemeinschaft und Öffentlichkeit entwickelt, die sich ihrer gemeinsamen christlichen Wurzeln besannen und sich zunehmend vereint fühlten: Während (west-)europäische Herrscher es seit dem Mittelalter für notwendig hielten, ihrem Gegner Gründe für die von ihnen geführten Kriege zu nennen und sie – nach Erfindung der Druckerpresse – auch öffentlich zu machen, und Gelehrte ­dieses Vorgehen zu einem Teil des sich entwickelnden Völkerrechts zählten, erschien es aus osmanischer Sicht weder notwendig, eine gegen Christen gerichtete Kriegserklärung abzugeben, noch einen Angriff gegen sie zu rechtfertigen.57 Vielmehr hätte ein solches Verhalten dem islamischen Konzept von einer Welt widersprochen, in der muslimische Staaten sich grundsätzlich in einem permanenten Krieg mit den nicht-­muslimischen Staaten befanden.58 Auch wenn in der Praxis der konfrontative Umgang weit weniger dominierte, als dies auf ideologisch-­religiöser Ebene behauptet wurde, so reichte das Fehlen öffentlicher Kriegslegitimationen aus Sicht der europäischen Staaten dazu, sich selbst als „zivilisiert“, die Türken hingegen als „barbarisch“ wahrzunehmen.59

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Höflichkeit. – Zur Verbreitung des Konzepts der Humanity seit dem 16. Jahrhundert siehe insbesondere G rigore , Humanism and its Humanitas; sowie D elgado , „All People have Reason and Free Will“. G ong , The Standard of ‚Civilization‘, 24 – 35. – Siehe zum Thema auch die umfassende Studie von F isch , Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 246 – 265. Die Angabe von Gründen diente (west-)europäischen Staaten dazu, den drei Mindestbedingungen, die nach den Theoretikern des Völkerrechts von Thomas von Aquin bis Hugo Grotius für einen „gerechten Krieg“ (bellum iustum) erfüllt sein mussten, zu entsprechen: der recta auctorias (der Krieg musste von einer legitimierten Macht geführt werden), iusta causa (die Gründe mussten gültig sein, wie z. B. Selbstverteidigung oder Wiedererlangung von gestohlenem Eigentum), recta intentio (der gültige Grund durfte nicht für andere Ziele wie Eroberung ausgenutzt werden). H ­ aggenmacher , Grotius; H olmes , On War and Morality, Kap. 4; R ussell , The Just War; T uck , The Rights of War and Peace; N eff , War and the Law of Nations; R epgen , Kriegslegitimationen in Alteuropa, 27 – 49; P iirimäe , Russia, The Turks and Europe, 66 – 76. K hadduri , War and Peace in the Law of Islam; J ohnson , The Holy War Idea, 601 – 668; N eff , War and the Law of Nations, 41; I mber , Ideals and Legitimation. Jüngere Studien haben die in der Praxis gemeinsamen Elemente z­ wischen den Osmanen und ‚dem Westen‘ sowie den osmanischen Pragmatismus in seinen Beziehungen mit christlichen Staaten betont. G offman , The Ottoman Empire; F aroqhi , The Ottoman Empire. – Piirimäe wirft Faroqhi jedoch vor, dass sie die ideologischen Ähnlichkeiten überstrapaziere. P iirimäe , Russia, The Turks and Europe, 71 Fn. 30. – Die Wahrnehmung, dass die türkischen ­Sitten „barbarisch“

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Vor ­diesem Hintergrund hatte Šafirovs und Peters Streitschrift mithin eine alle anderen Bedeutungsebenen überragende, zentrale Botschaft: Im Gegensatz zu den Osmanen sollte der russländische Staat fortan zum Kreis derjenigen gezählt werden, die sich an das Völkerrecht hielten. Der Ausschluss der Russländer aus dem (west-)europäischen Verbund der (lateinisch geprägten) Christenheit sollte durchbrochen, Vorurteile widerlegt und insbesondere die polnische, livländische und schwedische Propaganda von den ‚tyrannischen und barbarischen Russen‘ ein für alle Mal überwunden werden.60 Die aufwendige Einarbeitung in das Völkerrecht, die ganze Beweisführung, wonach der russländische Staat sich auch in der Kriegsführung konform zu eben d­ iesem verhalten habe, und mithin die Akzeptanz ­dieses für das Zarenreich so neuartigen normativ-­konzeptionellen Rahmens waren dem Ziel untergeordnet, und darin lag der zutiefst politische Charakter der Polemik, sowohl der inländischen als auch der westeuropäischen öffentlichen Meinung zu verdeutlichen, dass das Zarenreich nicht nur zur Gemeinschaft der christlichen Staaten, sondern vor allem zu jener der „zivilisierten Völker“ zu zählen war.61

und den „zivilisierten“ Umgangsformen der (West-)Europäer gegenüberzustellen waren, formulierte nicht nur der bereits erwähnte russländische Gesandte Petr A. T olstoj in: Russkij posol v Stambule, 40, sondern sie fand auch in Šafirovs Streitschrift selbst Niederschlag (Varvaram Turkam). Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, 35. 60 Šafirov nimmt direkten Bezug auf das negative Urteil, das Pufendorf über „Russland“ in seiner „Einleitung zu der Historie“ europäischer Staaten geschrieben hatte. Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, 74. – Pufendorf beginnt sein Kapitel über die „Art des [russischen] Volckes“ mit den vernichtenden Worten: „Von der Russischen Nation Qualitäten ist nicht viel sonderliches zu schreiben, das ihnen zu grossem Ruhm dienen kann. Bei ihnen ist keine s­ olche Cultur, als bei den meisten anderen europäischen Völckern.“ P ufendorf , Einleitung zu der Historie, 715. – Allgemein zur europäischen Wahrnehmung des Moskauer Reiches, die vornehmlich durch die anti-­ russische Propaganda seiner westlichen und nördlichen Nachbarn (Polen, Livland, Schweden) entstanden war: K lug , Das „asiatische“ Rußland; O sterrieder , Von Tyrannen und Barbaren; K appeler , Ivan Groznyj; S cheidegger , Ein Ost-­West Konflikt der Vormoderne. – Die ‚Orientalisierung‘ des Ostens und die Zuschreibung kultureller Unterlegenheit setzte sich im späten 18. und 19. Jahrhundert auf der Basis aufklärerischen Fortschrittsdenkens fort. W olff , Inventing Eastern Europe. 61 Nicht zufällig werden die Attribute „christlich“ und „zivilisiert“ in Šafirovs Text unmittelbar miteinander verbunden. In der Zentralität dieser Aussage sind sich alle einig. C racraft , The Petrine Revolution, 186; M älksoo , The History, 211 – 232; P iirimäe , Russia, the Turks and Europe, 66. – Mit dem Dreiklang von Völkerrecht, Christentum und Zivilisiertheit bestand mithin bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die ideelle Grundlage für das Verständnis von Zivilisierungsmission, wie es sich in den 1830er Jahren in Europa entwickelte und von Jürgen Osterhammel als „viktorianische Zivilisierungsmission“ bezeichnet wurde. Demnach stieg das Völkerrecht zum „Zivilisationsstandard von allgemeiner Geltung“ auf. O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 19.

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Političnyj Das so prominent eingesetzte Schlüsselwort političnyj wurde innerhalb der russländischen Elite breit aufgegriffen, wozu seine Verwendung durch Kanzler G ­ olovkin bei der Verleihung des Imperator-­Titels nicht wenig beigetragen haben wird. Auch Gavril Bužinskij verwandte es in seiner Übersetzung von Samuel Pufendorfs Einführung in die „Historie der vornehmsten Reiche und Staaten“, wo er die unangenehme Passage, wonach die Russen nicht so kultiviert und zivilisiert wie die anderen europäischen Nationen s­ eien, mit ustroenny i političny (im lateinischen Original exculti & politi) wiedergab, während es in der deutschen Fassung mit dem einen Wort „Cultur“ übersetzt wurde.62 In der 1722 angefertigten englischen Übersetzung der Streitschrift von Šafirov (und Peter I.) gab man den Ausdruck političnye narody mit civilized Nations wieder.63 Die Passage političnych narodov innerhalb des Textes zur Ausrufung des Kaisertitels von 1721 wurde im Deutschen mit „policirten Völckern“ übersetzt und erinnerte damit an die große Nähe, die političnyj zu ‚Policierung‘ im Sinne von ‚Kultur, Zivilisiertheit, gute Ordnung‘ aufwies, wie sie auch ein Aspekt des deutschen Policey-­Begriffes war, der seinerseits an die französische policité, politesse anknüpfte.64 1731 fand političny Eingang in das „Teutsch-­Lateinische- und Russische Lexicon“, wo es mit „gelernt/ zivilisiert“ übersetzt wurde.65 In anderen Werken blieb političnyj eng mit der Parallelbildung političeski oder političeskij verbunden und wurde mit dem Verhalten eines Menschen in Verbindung gebracht, der die Regeln und ­Sitten einer Gesellschaft einzuhalten weiß.66 62 P ufendorf , Introductio ad Historiam, 688; ders ., Einleitung zu der Historie, 715. – Die russ. Übersetzung Gavril Bužinskijs wurde bereits 1718 veröffentlicht. P ekarskij , Nauka i literatura, Bd. 1, 326 (dort auch das russ. Zitat). 63 [S hafirov ], A Discourse, 240. – Die Übersetzung ins Deutsche, der damals wichtigsten Sprache für politische Polemik in Nordeuropa, war bereits unmittelbar nach der russischen Publikation erfolgt. Piirimäe vermutet, dass die Entscheidung, anschließend ins Englische statt ins Lateinische und Französische zu übersetzen, der zunehmenden Sorge der Engländer über die russländische Präsenz im Baltikum geschuldet war. P iirimäae , Russia, The Turks and Europe, 64. 64 ,Policiert‘/,poliziert‘ und das Verb ‚policiren‘ gehen auf lat. policia (von polire, glätten) zurück. W ittram , Czar Peter I., Bd. 2, 607, Fn. 467; S chierle , Semantiken des Politischen, 229; M aier , Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 102 – 103; G rimm /G rimm (Hg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, Art. ‚polizei‘. 65 Nemecko-­latinskij i ruskij leksikon, 474. 66 Der Zar selbst verwandte političeski im Sinne von ,guten ­Sitten‘ in seinem Brief an Fedor A. Golovin. In: PiB Bd. 3, St. Petersburg 1893, Nr. 724 (23. 9. 1704), 160 – 161, hier 161. – Auch Ingrid Schierle verweist darauf, dass die Parallelbildungen političnyj und političeskij in der ersten Hälfte des 18. Jh. nicht immer klar voneinander abgegrenzt wurden. Erst im letzten Drittel des Jh. wurde političeskij in der Bedeutung von ,Staatskunst‘ verwandt, političnyj hingegen Ende des Jh. negativ konnotiert und mit List und Verschlagenheit in Verbindung gebracht. S chierle ,

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In der Semantik von ‚guten ­Sitten‘ oder von ‚Zivilisiertheit‘ findet sich im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert hin und wieder auch der Gebrauch des entsprechenden Substantivs, der politika.67 Peter V. Postnikov, der erste russische promovierte Arzt, der als Absolvent der Kiever Mohyla-­Akademie mehrere Fremdsprachen beherrschte und mit Peter I. korrespondierte, verwandte politika und politikorazumnyj bereits im Jahre 1696.68 Auch Fedor Stepanovič Saltykov, russländischer Gesandter in London, griff in seinem Schreiben an Peter I. von 1713 auf den Begriff politika zurück, freilich auf eine Weise, wie es dies im innerrussländischen Kontext wohl noch nicht zuvor gegeben hatte. Saltykov gab den Rat, den nichtgetauften Tataren, Čeremissen und Mordvinen im Russländischen Reich „an jegliche politika im Umgang sowie an den Glauben zu gewöhnen, und sie in einen solchen Zustand wie auch unsere Völker zu führen“.69 Damit ist Saltykov als einer der Pioniere jener von Peter I. herangezogenen imperialen russländischen Elite zu betrachten, die nicht nur von der Zivilisiertheit der angestammten eigenen Bevölkerung überzeugt war, sondern darüber hinaus auf der Basis dieser Überzeugung zur Zivilisierung anderer aufrief. Elementar dafür war seine Unterscheidung z­ wischen der angestammten russischen oder russisch-­ akkulturierten Bevölkerung („unsere Völker“) auf der einen und nicht-­christlichen ethnischen Gruppen des eigenen Reiches (Tataren, Čeremissen, Mordvinen) auf der anderen Seite. Letztere waren seiner Meinung nach nicht nur im Glauben zu verändern, sondern ganz allgemein „in einen solchen Zustand“ zu führen, in welchem sich ‚die Russen‘ und die an sie akkulturierten ethnischen Gruppen bereits befanden. Damit

Semantiken des Politischen, 226 – 247, hier 230; P etrova , Prilagatel’nye na – ičeskij, 155. – Zur negativen Konnotation von političnyj Ende des 18. Jh. siehe Slovar’ Akademii Rossijskoj, Bd. 4, Sp. 966. 67 O tten , Annotationen; C hristiani , Über das Eindringen von Fremdwörtern, 17. 68 Siehe Postnikovs Briefe an Peter I. von 1696 und 1699. In: B yčkov , Novye materialy, 47, 48, 50. 69 [Saltykov], Propozicij Fedora Saltykova [1713], 27. – Das von beiden verwandte Vokabular war kein Zufall: Saltykov stand in engem Kontakt zum zitierten Arzt P. V. Postnikov. Koch, Deutsch als Fremdsprache, 174. – Bereits Grigorij Kotošichin hatte in den 1660er Jahren aus dem schwedischen Exil heraus bei seiner Beschreibung der Schwierigkeit, russländische Prinzessinnen und Fürstinnen mit ausländischen Prinzen oder Fürsten zu verheiraten, angemerkt, dass Erstere weder die Sprachen anderer Staaten noch deren politika kannten (inych gosudarstv jazyka i politiki ne znajut). Hier liegt die Übersetzung mit „Sitten“ nahe. Ich danke Gleb Kazakov für diesen Hinweis. Kotošichin, O Rossii, 17. – Parallel zur genannten Bedeutung wurde politika schon unter Peter I. eng mit dem Staat und der Staatskunst verbunden. So erhielt die 1724 an der Akademie der Wissenschaften eingerichtete Juraprofessur neben Ethik und Naturrecht die Wissenschaft der „Politik“ (politika) zugeordnet. PSZRI (I), Bd. 7, Nr. 4443 (28. 1. 1724), §15, Pt. 1, 220 – 224, hier 223. – Zum weiteren Gebrauch von politika im 18. Jahrhundert siehe Müller, Soziale Termini, 437.

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war Saltykov zugleich auch einer der E ­ rsten, die die Zivilisierungsabsicht mit einer Assimilierungsabsicht verbanden. Die ‚fremdländischen Untertanen‘ sollten nicht nur ihre ‚Wüstheit‘ verlieren und ­seien in den russisch-­orthodoxen Glauben einzuführen, sondern sie sollten auch „Russisch werden“ (i obruseli), um am Ende „mit unserem Volk verschmolzen zu sein“ (čto one voploščenny byli s našim narodom vmeste).70 Zivilisierung und Assimilierung wurden als zwei Seiten einer Medaille betrachtet.71

Humanitas – Ljudskost’ Mit der petrinischen Transformation der russischen politischen Lexik und der Einführung des Diskurses vom ‚zivilisierten‘ Zarenreich fand noch ein anderes und für die späteren Dekaden des angebrochenen Jahrhunderts viel bedeutenderes Substantiv für ‚Zivilisiertheit‘ Eingang in die Sprachpraxis. Hierbei handelte es sich um einen Begriff, der dem gängigen zeitgenössischen lateinischen Begriff der humanitas entsprach bzw. seinen Übersetzungen ins Englische (humanity), Französische (humanité) und Deutsche (‚Humanitet‘, ‚Humanität‘ bzw. ‚Menschheit‘, ‚Menschlichkeit‘).72 Ebenso wie schon im Falle političnyj die polnische Wortbildung, die auf einer slawischen Entsprechung des lateinischen Wortstammes beruhte, in einem Transfer über die Hetmanats-­Ukraine prägend für die spätere russische Sprachbildung gewirkt hatte, vollzog sich derselbe Prozess mit der polnischen Entsprechung für humanitas, nämlich ludzkość. Aus ­diesem entwickelte sich im Russischen Anfang des 18. Jahrhunderts ljudkost’ oder ljudskost’ (von russisch ljudi, zu Deutsch ‚Leute‘, ,Menschen‘).73

70 [S atlykov ], Propozicij Fedora Saltykova [1713], 27 – 28. 71 Siehe auch den Überblick zu Assimilierungs- und Russifizierungsdiskursen im 18. Jh. in der Schlussbetrachtung dieser Arbeit. 72 Die Termini ‚Menschheit‘ (althochdeutsch ‚mennigskeit‘, mittelhochdeutsch ‚menscheit‘) und ‚Menschlichkeit‘ traten vom 14. Jh. an parallel auf und bezeichneten im doppelten Sinne die ‚Natur‘ des Menschen: zum einen als logischer Artbegriff (zur Abhebung von Gegenbegriffen wie ‚Tierheit‘ und ‚Gottheit‘), zum anderen als Ziel und Zweck, zu dem sich der Mensch selber bestimmt (Bestimmung des Menschen zur Humanität). Die quantitativ-­kollektive Bedeutung von ‚Menschheit‘ im Sinne der Gesamtheit aller Menschen setzte erst im späten 18. Jh. ein. B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, 1063 – 1064. 73 Das Schwanken z­ wischen den Wortvarianten ljudkost’ und ljudskost’ spiegelt wider, dass der Begriff einer noch geringen sprachlichen Normierung unterlag, was sich auch in seiner späten Aufnahme in Sprachlexika zeigt. Zur Bedeutung des Begriffs in Lexika siehe weiter unten. Allgemein zur Einführung eines großen neuen lexikalischen Wortschatzes unter C racraft , The Revolution of Peter the Great, 278 f.; B iržakova /K utina (Hg.), Slovari I slovarnoe delo v Rossii XVIII v. Leningrad 1980, bes. 171 – 174.

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Polnische wie ukrainische Lexika belegen, dass das Wort im polnisch-­ ukrainischen Sprachraum bereits seit dem 16. Jahrhundert zum einen im Sinne von ‚Güte‘, ‚Menschlichkeit‘ und ‚Großzügigkeit‘ und zum anderen in der Bedeutung von ‚Sittenkultur‘, ‚Schliff‘ und ‚Bildung‘ im Umlauf war (ludzkość, ­ljudskost’).74 Mit dieser Semantik entsprach der Begriff weitgehend den zeitgenössischen Bedeutungsvarianten des lateinischen humanitas sowie den früheren Bedeutungsgehalten von civilitas.75 Während aber civilitas seit dem 16. Jahrhundert mehr und mehr auf den Sinngehalt bloßer Höflichkeit reduziert worden und der Bezug auf den Staat und den Bürger allmählich verschwunden war, enthielten nicht nur die Sprachbildungen von französisch civiliser/civilisé aus dem 16. und von englisch to civilize aus dem 17. Jahrhundert einen weiteren Horizont im Sinne der Antithese von zivilisierter und nichtzivilisierter Lebensweise, von zivilisierten und nichtzivilisierten ethnischen Gruppen.76 Auch humanitas wurde seit der Renaissance und der Entwicklung verschiedener Umgangssprachen der Bedeutungsgehalt von ‚guten Manieren‘, ‚Höflichkeit‘ und ‚Umgänglichkeit‘ sowohl für den individuellen als auch für den öffentlich-­politischen Bereich zugeschrieben, für Einzelne wie auch für ganze ethnische Gruppen verwendet.77 Im 18. Jahrhundert werden humanité/ humanity/Humanitet gar zu den zentralen Begriffen der Aufklärung. Nicht zuletzt mit ihnen wird der Zusammenhang ­zwischen der Vorstellung einer Weltgesellschaft auf der einen und dem universal anzustrebenden zivilisatorischen Fortschritt auf der anderen Seite hergestellt.78 Im Zarenreich kam der Begriff ljudskost’ jedoch erst unter Peter I. auf. Dabei war die Einführung des Wortes im Sinne von Bescheidenheit, Höflichkeit, 74 Słownik Polszczyzny XVI wieku, Bd. XII, 402 – 204. – Auch im Mittelukrainischen/Mittelruthenischen der ,Frühen Neuzeit‘ gibt es viele Belege für die Verwendung von ljudz(s)kost’. Ich danke Michael Moser für die Konsultation der Karthothek des Kryp’’jakevyč-­Instituts in Lemberg sowie das Nachschlagen bei T ymčenko , Materialy do slovnya. 75 B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, 1078; F isch , Zivilisation, Kultur, 679 – 774. – Der polnische Hofprediger Stanisław Orzechowski (1513 – 1566) schrieb 1553, dass durch die italienische Prinzessin Bona Sforza, die 1518 den polnischen König und Großfürsten von Litauen geheiratet hatte, die humanitas in Polen eingeführt worden sei. Das Original war auf Latein verfasst, ein gewisser N. Popov zitierte es in seiner Biographie „Koroleva Varvara“ aus dem 19. Jahrhundert, die dem russischen Historiker S. M. Solovjov gewidmet war, auf Polnisch mit luzdkość, während es Michail N. Katkov für den Russkij Vestnik von 1857 mit dem russischen ljudskost’ übersetzen ließ. P opov , Koroleva Varvara, 128. – Ich danke Denis Sdvižkov für diesen Fund und seine Recherche, die den Transfer von Grundbegriffen über Polen unmittelbar nachvollziehbar macht, auch wenn der Beginn des Transfers schon Jahrhunderte früher einsetzte. 76 F isch , Zivilisation, Kultur, 716. 77 B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, bes. 1074 – 1077; F isch , Zivilisation, 697 – 716; B oer , Civilization, 53 f. 78 Zur Politisierung des Begriffs der Humanité siehe B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, 1076.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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Erziehung, gutem Benehmen in der Gesellschaft eng mit der Absicht des Zaren verbunden, einen neuen Verhaltenskodex für die eigene Bevölkerung aufzustellen.79 Diesen gesellschaftlich-­sozialen Bedeutungsstrang von ljudskost’ fasste der Historiker O. L. Beličenko in seiner Studie zur Kindheit im frühen 18. Jahrhundert folgendermaßen zusammen: Der Eintritt in die Gesellschaft forderte vom Adligen weniger umfassende Bildung als vielmehr die Fertigkeit, sich angemessen zu verhalten, was damals mit dem Wort ‚ljudskost’‘ wiedergegeben wurde. Tanzen, Fechten, Reitgewohnheiten und die Kenntnis dessen, wie man sich galant und gesellschaftlich umgänglich gab, galt in der Ausbildung adliger Kinder als unverzichtbar. Das gesellschaftliche Verhalten beschränkte sich nicht auf die Kenntnis der Normen der Etikette, es hatte zudem natürlich und ungezwungen, selbstbewusst und weich zugleich zu sein, und die eigene Gefühle mussten streng kontrolliert werden.80

Doch unter Peter I. bildete sich auch bereits die zweite, von der Forschung bislang übersehene Bedeutungsvariante des Begriffes heraus, wonach ‚Zivilisiertheit‘ nicht bloß auf Einzelne bezogen, sondern zum Maßstab des Urteils über die Verhaltensweise ganzer ethnischer Gruppen gemacht wurde.81 Damit folgte die Verwendung von ljudskost’ nicht nur jener von političnyj. Vor allem reihte sich die entsprechende semantische Verwendung im Zarenreich in eine konzeptionelle Entwicklung von ‚Zivilisiertheit‘ ein, wie sie sich weltweit im 18. Jahrhundert breitmachte. Jüngere Studien belegen, dass transnational ein enger Zusammenhang ­zwischen dem angestrebten Ziel der individuellen Zivilisiertheit, verstanden als emotionale Selbstbeherrschung und Kultivierung feiner Gefühle, und jener der gemeinschaftlichen Zivilisiertheit gesehen und hergestellt wurde. Letzterer schrieb man die Fähigkeit zum gesellschaftlichen Umgang zu (‚Umgänglichkeit‘) und verband sie nicht selten mit dem Recht oder gar der Pflicht, andere Gesellschaften und ethnische Gruppen, die diesen Zustand noch nicht erreicht hatten, dorthin zu führen.82

79 Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka, Bd. 12, (2001), 21. 80 B eličenko , Tema detstva v russkoj memuaristike. – Auch der russische Historiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts, M. M. Ščerbatov, sah ljudskost’ als zentralen Begriff für Peters Bemühungen der russischen Selbstzivilisierung: „Peter der Große […] bemühte sich, sowohl Zivilisiertheit (ljudskost’ ), Kommunikation (soobščenie) als auch Pracht (velikolepie) einzuführen, die ihm geeignet erschienen, grobe S ­ itten zu verfeinern.“ Š čerbatov , O povreždenii nravov v Rossii, 219 – 220 (geschrieben 1786 oder 1787). Ich danke David Feest für diesen Hinweis. 81 Detaillierte Belege folgen weiter unten. 82 P ernau u. a. (Hg.), Civilizing Emotions. Siehe insbesondere die im Sammelband enthaltene Einleitung von P ernau und J ordheim (Ebd., 1 – 22) sowie B ryson , From Courtesy to Civility; B aumgarten /G osewinkel /R ucht , Civility; C hartier , Civilité, 7 – 50.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

Die Verwendung von ljudskost’ im transindividuellen, kollektiv konzipierten Sinne zeigte sich bereits in der vom Zaren redigierten und von Šafirov 1717 heraus­ gegebenen Streitschrift zur Kriegslegitimation gegen Schweden. Darin schrieb Šafirov, dass Schweden den Krieg „nicht nach dem Brauch zivilisierter Völker“ (političnych narodov), sondern „mit aller Härte, nicht aber mit Zivilisiertheit“ geführt habe (so vsjakoju surovostiju, ne ljudkostiju).83 Freilich stellte Šafirov hier den (zivilisierten) russländischen Staat noch insgesamt dem Staat Schweden gegenüber, der sich unzivilisiert verhalten habe, während von einer innerrussländischen imperialen Lesart noch keine Rede war. Und doch waren mit der Ausweitung der Bezugsgröße von ‚Zivilisiertheit‘ vom Einzelnen auf ganze ethnische Gruppen bzw. Staaten bereits in der petrinischen Ära die Anfänge jener Semantik gelegt, die ljudskost’ im Laufe des 18. Jahrhunderts innerhalb der russländischen Elite zum Leitbegriff für imperiale wie koloniale Diskurse und Praktiken der Zivilisierung gegenüber nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Süden und Osten werden ließ.84 Für den Orenburger Gouverneur Ivan Ivanovič Nepljuev (1693 – 1773), einem Zögling Peters I., der gegenüber dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten über die Rückständigkeit der Kasachen im politischen Gemeinwesen, bei der Bestrafung und bei der Einführung von Gesetzlichkeit, Gerechtigkeit und Rechtsprechung klagte, avancierte ljudskost’ zu dem (von den Russländern erreichten) Zustand, in den die Kasachen zu bringen s­ eien: „Wenn sie sich alle an Zivilisiertheit gewöhnt haben werden (kogda vse oni k ljudskosti priobyknut)“, so Nepljuev, würden sie auch in der Lage sein, „der Willkür und Wildheit ihres Volkes“ durch die richtige Rechtsprechung ein Ende zu setzen.85 Während Nepljuevs Verwendung von ljudskost’ ein Verständnis von Zivilisiertheit erkennen ließ, dass vor allem etatistisch konzipiert war und die Funktionstüchtigkeit des Staates in den Vordergrund rückte, erweiterte sich die S ­ emantik bei Nepljuevs unmittelbaren Nachfolgern. Generalmajor Aleksej Tevkelev (1674 – 1766), der einst als Übersetzer für Peter I. gearbeitet hatte, sowie Kollegienrat Petr Ryčkov (1712 – 1777), der zusammen mit Tevkelev kommissarisch das Amt des Orenburger Gouverneurs leitete, beschrieben 1759 gegenüber dem

83 Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, Vorwort, 2. 84 Vermutlich beschränkte sich die Verwendung von ljudskost’ sowohl in seiner innerrussischen L ­ esart (mit dem Fokus auf die Selbstzivilisierung) als auch in seiner imperial-­kolonialen Bedeutung auf eine schmale russländische Elite. Dies würde erklären, warum der Begriff in der Mehrzahl der russisch-­fremdsprachigen Wörterbücher des 18. Jahrhunderts noch fehlt. Vgl. P olikarpov , Leksikon trejazyčny [1704]; [W eissmann ]: Teutsch-­Lateinisch, [1731]; [H ölterhof ], Rossijskij Cellarius [1771]. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff in Lexika aufgenommen. Mehr dazu weiter unten. 85 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o vzaimootnošenijach meždu džungarami i kazachami. In: KRO Bd. 1, Nr. 124 (29. 7. 1745), 317 – 321, hier 319.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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Kolleg für auswärtige Angelegenheiten, wie die Kasachen der Kleinen Horde endgültig in die russländische Untertanenschaft und in Gehorsam zu überführen ­seien. Dabei bezogen die Beamten die Erfahrung mit ein, die das Zarenreich ihrer Auffassung nach bei der vorherigen Unterwerfung und Zivilisierung der Baschkiren gemacht hatte: Auch wenn es eine überaus schwierige Sache ist, bei einem ganzen Volk die nationalen ­Sitten und die veralteten Gebräuche zu verändern, so muss man doch bei der Beurteilung der Verwaltung neuuntertäniger Völker, w ­ elche es auch immer s­ eien, festhalten, dass es ein wesentlicher Vorteil ist, wenn von Anfang an sie dahingehend geführt und daran ausgerichtet werden, was das Staatsinteresse von ihnen verlangt. Dabei sollen ihre ­Sitten und ihr Zustand anerkannt und ihnen gegenüber jegliche Form von Gerechtigkeit und Maßhaltung angewendet werden. Dafür dient als nächstliegendes Beispiel und Beweis das hiesige baschkirische Volk, bei dem zu Beginn seiner Untertanenschaft nach Einschätzung und Beobachtung der zuständigen Behörde es nicht absehbar war, dass es in die Zivilisiertheit (ljudskost’) sowie in den untertänigen Gehorsam würde überführt werden können. Ohne diese [Überführung] wäre es [das Volk] mit zunehmender Stärke und zunehmendem Reichtum angesichts seines groben Zustands und seiner Wildheit (dikost’) in einen Zustand großer Willkür (svoevol’stvo) geraten. So geschah es allerdings, dass es erst jetzt in den Zustand der Zivilisiertheit (v sostojanie l­ judskosti) überzugehen begann, obwohl es sich schon seit 200 Jahren untertänig nennt.86

Die Äußerungen Nepljuevs, Tevkelevs und Ryčkovs zeigen, dass sich innerhalb der russländischen imperialen Elite die Vorstellung etabliert hatte, die eigene ‚Wir‘Gruppe, das Reichszentrum, als ‚zivilisiert‘ zu begreifen und noch zu unterwerfende ethnische Gruppen an der südlichen Peripherie als ‚nicht-­zivilisiert‘ wahrzunehmen. Diese ‚Wir‘-Gruppe des Reichszentrums wurde zum einen mit dem russländischen Staat, zum anderen mit seiner mehrheitlich russisch oder russländisch akkulturierten Bevölkerung verknüpft, dem die ‚Wildheit‘ und ‚Grobheit‘ der noch nicht integrierten, nicht-­russischen ethnischen Gruppe gegenübergestellt wurde. Zudem war auf der Basis der Überzeugung von der eigenen Überlegenheit der Wille gereift, die ‚wilden‘ Anderen in den Zustand der ‚Zivilisiertheit‘ zu überführen. Damit hatte sich Mitte des 18. Jahrhunderts ein Begriffsfeld zu Zivilisiertheit mit einer ins Reichsinnere blickenden imperialen Ausrichtung herausgebildet. Wie das Zitat Tevkelevs und Ryčkovs zudem offenbart, richtete sich der Zivilisierungsdiskurs keineswegs nur auf die politische Elite der Kasachen. Vielmehr galt es, beim „ganzen [kasachischen] Volk die nationalen S ­ itten und die veralteten 86 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. sovetnika P. Ryčkova kollegii inostrannych del o položenii v Malom i Srednem Žuzach (22. 1. 1759). In: KRO Bd. 1, Nr. 225, 571 – 591, hier 575.

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Gebräuche zu verändern“ (peremenit’ nacional’noj nrav i zastarelye obščnosti). Als Ziel der Veränderung der Kasachen ging es darum, den „Zustand der Zivilisiertheit“ (sostojanie ljudskosti) zu erreichen, der an dieser Stelle als statischer, noch nicht als dynamischer Begriff verwendet wurde. Darin scheint er sich auf den ersten Blick von dem zeitgleich in Frankreich und England aufkommendem Begriff der civilisation und civilization zu unterscheiden, die als Neologismen von Anfang an die Gleichzeitigkeit von Prozess und Resultat beinhalteten.87 Und doch finden sich auch bereits bei Tevkelev und Ryčkov erste Vorstellungen von unterschiedlichen Graden von Zivilisiertheit, auf denen sich die nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Süden befänden, und von der Wandelbarkeit dieser Verhältnisse. So heißt es in ihren weiteren Ausführungen: Im Übrigen kann man über sie alle berichten, dass sie [die Kasachen]88 nicht so überaus rau und biegsam wie die Baschkiren sind, und in allem weitaus verständiger, und dass besonders unter den Landeigentümern und unter den Ältesten sich ­solche finden, ­welche durch den kurzzeitigen Umgang (obchoždenie) [mit den Russen/Russländern] in einen solchen Zustand der Vernunft (razum) gekommen sind, dass bei ihnen Zivilisiertheit (ljudskost’ ) und ein gesunder Menschenverstand (dovol’noe razsuždenie) sichtbar sind, was es bei den Baschkiren bis heute nicht gibt. Man kann mit einem Wort schließen: Sie sind einem [zivilisierten] Umgang weitaus geneigter (k obchoždeniju gorazdo sklonnee), als es die Baschkiren und Kalmücken sind.89

Zwar ist hier erneut vom „Zustand der Vernunft“ die Rede, der ebenso wie der „gesunde Menschenverstand“ mit ljudskost’ assoziiert wird. Doch werden die verschiedenen ethnischen Gruppen in ihrem ‚wilden‘ Ausgangsstadium nicht so beschrieben, als befänden sie sich alle in demselben Zustand der ‚Unzivilisiertheit‘. Vielmehr wird ihnen nachgesagt, in unterschiedlichem Grad zur ljudskost’ befähigt und ihr zugeneigt zu sein sowie in unterschiedlichem Tempo in der Zivilisierung voranzuschreiten. An dieser Stelle erscheint der Bedeutungsstrang von ljudskost’ im Sinne des dynamisch verfassten Zivilisationsbegriffes nicht mehr fernliegend: Geschichte wird als eine Abfolge von notwendigen Entwicklungsschritten verstanden. Es drängt sich die damit verbundene Vorstellung der Zivilisationsleiter auf, bei der sich jede ethnische Gruppe auf unterschiedlichen Sprossen befindet, die unterschiedlichen Graden von ‚Zivilisation‘ entsprechen. Die 87 F isch , Zivilisation, Kultur, 717. 88 Im 18. Jahrhundert war Kirgis-­Kajsaki oder schlicht ‚Kirgisen‘ die gängige Bezeichnung der Zarenregierung für die Kasachen. 89 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. sovetnika P. Ryčkova kollegii inostrannych del o položenii v Malom i Srednem Žuzach (22. 1. 1759). In: KRO Bd. 1, Nr. 225, 571 – 591, hier 576.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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Bedeutungserweiterung von ljudskost’ verlief mithin parallel zur allmählichen Temporalisierung des Begriffs der ‚Menschheit‘ in Westeuropa.90 Dort wurde ‚Menschheit‘ ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls zum „sprachlichen Ausdruck des geschichtlichen Prozesses der Menschwerdung“, der Erwartungshorizont des Menschen wurde durch die „Einbeziehung des Endziels menschlicher Entwicklung in die zeitliche Erstreckung dynamisiert“, der Fortschrittsgedanke hielt Einzug.91 Diese Vorstellung von Zivilisierung als Prozess, von unterschiedlichen Stadien, die zu durchlaufen s­ eien, schimmert auch im Schlussplädoyer durch, in dem die Beamten Tevkelev und Ryčkov darlegen, wie mit den Kasachen zu verfahren sei: […] für die Widerlichkeiten der Chane und Sultane sowie für die von ihnen nicht ausgeführten Aufgaben ausnahmslos alle zu bestrafen und zu töten steht auf keinen Fall an, da auch unter den zivilisiertesten Völkern der Erde (meždu samymi političnymi narodami v svete) nicht eines zustande bringt, dass es unter ihnen keine Räuber und Übeltäter gäbe, um so weniger kann man dies von den Kirgisen [Kasachen] einfordern, w ­ elche bis zur Untertanenschaft fast keine Zivilisiertheit/Zivilisation (ljudskost’) kannten.92

Mit der Steigerung des Adjektivs političnyj, dessen Verwendung hier die enge semantische Verbindung zu ljudskost’ demonstriert, wurde die Idee von ethnischen Gruppen aufgebracht, die in unterschiedlichem Grad zivilisiert waren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte die Wandlung des Begriffes der prosveščenie, auf den noch näher einzugehen sein wird, dem Begriff der ljudskost’ die Alleinstellung zur Bezeichnung von ‚Zivilisiertheit‘ streitig. Aber auch wenn mit prosveščenie als Verbalabstraktum und mithin einem explizit dynamisch verfassten Begriff früheren statischen Vorstellungen ein Ende bereitet wurde, blieb ljudskost’ mit seinem imperialen Bedeutungsstrang noch bis ins ausgehende Jahrhundert im Gebrauch.

90 Reinhart Koselleck hat die Verzeitlichung der Bedeutungsgehalte von Begriffen als wesentliches Charakteristikum der Neuzeit herausgearbeitet. Demnach spiegelte sich die zunehmende Vergrößerung der Differenz ­zwischen dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont der Menschen darin, dass Begriffe Erwartungsmomente gewannen, die ihnen früher nicht innewohnten. R ­ einhart Koselleck: Einleitung. In: B runner /C onze /K oselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, bes. XVI; ders . ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘, 349 – 375; ders .: Hinweise auf die temporalen Strukturen, 31 – 48. 91 B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, 1081. – Zum Aufkommen des Fortschrittsgedankens im Russländischen Reich B rang , Fortschrittsglauben in Rußland; S chmidt , Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee; L auer , „Progress“ – der russische Fortschritt. 92 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. sovetnika P. Ryčkova kollegii inostrannych del o položenii v Malom i Srednem Žuzach (22. 1. 1759). In: KRO Bd. 1, Nr. 225, 571 – 591, hier 586.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

Mit der Thronbesteigung Katharinas II. spielten dabei in der Semantik von Zivilisiertheit/Zivilisation Bildungsaspekte eine immer größere Rolle. So erinnerte der Astrachaner Gouverneur Petr Nikititič Krečetnikov 1775 daran, dass das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten schon 1763 den Befehl ausgegeben hatte, die Geisel der kaukasischen ethnischen Gruppen das russländische Alphabet und die Sprache erlernen zu lassen und sie auf diese Weise „zur Zivilisiertheit zu führen“ (privodit’ v ljudkost’).93 Auch der Orenburger Gouverneur Ivan Jakobi verband den Begriff 1780 mit dem Bildungsaspekt. Jakobi verwies mit Blick auf die Kasachen darauf, dass Katharina  II . beschlossen habe, Moscheen zu errichten, nachdem sie gesehen habe, dass der Versuch gescheitert sei, den Kasachen „Zivilisiertheit und einen besseren Umgang“ einzuflößen (vselit’ ljudskost’ i lučšee obchoždenie), indem sie kasachische Geisel auf Russisch alphabetisieren und ihnen die russische Sprache beibringen ließ.94 Die Verbindung von Alphabetisierung und Bildung mit ljudskost’ spiegelte dabei nicht nur den Zeitgeist seit den Bildungsbemühungen Katharinas  II . wider.95 Es zeugte vor allem von der zunehmenden Dominanz der Parallelbildung prosveščenie, bei deren Semantik der Bildungsaspekt im Zentrum stand. Neben der Bildungsoffensive als einem Strang von Zivilisierungsmaßnahmen spielte seit den 1740er Jahren die Sesshaftmachung der Nomaden eine immer größere Rolle. Diesen Aspekt rückte Katharina II . bei ihrer Verwendung von ljudskost’ ins Zentrum, als sie 1770 alle Sorgen zurückwies, die zuvor der Astrachaner Gouverneur Nikita A. Beketov mit Blick auf einen möglichen Exodus der kalmückischen Untertanen des Reiches geäußert hatte. Die Zarin glaubte vielmehr an die Wirksamkeit russländischer Maßnahmen zur Ansiedlung, die das Ziel haben sollten, den Kalmücken mit der Zeit die „Zivilisiertheit/Zivilisation“ beizubringen (čtob sovremenem priobučit’ kalmyk k vjaščej ljudkosti).96 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verdrängte die Übernahme des französischen Begriffs der civilisation sowie der Begriff der prosveščenie im imperialen Kontext endgültig denjenigen der ljudskost’. Hingegen hielt sich die innerrussische Lesart, mit der unter ljudskost’ entweder das zivilisierte Benehmen des Einzelnen oder die Selbstzivilisierung der eigenen Bevölkerung verstanden wurde, noch für mehrere 93 Der Erlass stammte vom 8. 4. 1763. Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 311 – 317, hier 316. 94 Zitat von 1780. Hier zitiert nach R akovski , Jakobi Ivan Varfolomeevič. Vgl. auch S emenov / S emenova , Gubernatory Orenburgskogo kraja, 104 – 110. 95 K usber , Eliten- und Volksbildung. 96 Proekt Reskripta k Astrachanskomu Gubernatoru (30. 7. 1770). In: SIRIO Bd. 97 (1896), 113 – 123, hier 123.

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Jahrzehnte. Im „Neuen Rußländisch-­Französisch-­Deutschen Wörterbuch“, das nach dem Wörterbuch der Russländischen Akademie von Ivan Andreevič Heim (1799) zusammengestellt wurde, findet sich die Übersetzung von ljudskost’ ins Französische: la politesse, l’urbanité, le savoir-­vivre, sowie ins Deutsche: „die Höflichkeit, die gute Lebensart“.97 Im ersten einsprachigen russischen Wörterbuch, dem sechsbändigen Wörterbuch der Russländischen Akademie, welches in den 1780er Jahren von Fürstin Ekaterina R. Daškova veröffentlicht wurde, wird der Ausdruck ljudskost’ nurmehr noch in der Verwendung für Einzelne, nicht mehr für Kollektive dargelegt: „Rücksichtsvolles, höfliches Auftreten bei Handlungen und Reden; Achtung, Wohlgesinntheit gegenüber Anderen“.98 Einer der letzten prominenten Nachweise für die Verwendung von ljudskost’ findet sich Anfang des 19. Jahrhunderts beim russischen Historiker Nikolaj M. Karamzin. Unter der Überschrift „Über die Liebe zum Vaterland und über den Nationalstolz“ schrieb er: „Unsere Zivilisation (ljudskost‘), der Ton der Gesellschaft (ton obščestva), der Geschmack im Leben (vkus v žizni) erstaunt die Ausländer, die nach Russland mit einer verlogenen Vorstellung über unser Volk herreisen, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts als barbarisch galt.“ 99 Karamzins Verwendung von ljudskost’ war keine imperiale Dimension (mehr) abzulesen. Vielmehr bezog sich der Begriff ausschließlich auf den von Peter I. begonnenen Selbstzivilisierungsprozess, der in seinen Augen erfolgreich verlaufen war. Doch nahm die von ihm vorgenommene Gegenüberstellung von ‚Zivilisation‘ (als dem tatsächlichen Zustand Russlands) mit dem Begriff der ‚Barbarei‘ (als dem von Ausländern vermuteten Zustand Russlands) bereits vorweg, welch bedeutende Rolle für die Elite des Zarenreiches auch und gerade im 19. Jahrhundert das mit Werturteilen konnotierte Wortfeld im Verbund mit der Eigen- und der Fremdsicht spielen sollte. Für diese Auseinandersetzung der folgenden Dekaden hatte der Begriff der ljudskost’ allerdings ausgedient und wurde aufgrund der intensivierten Rezeption westlicher Diskurse in französischer Sprache von civilisation, ab den 1830er Jahren von graždanstvennost’, obrazovannost’/obrazovanie und schließlich von civilizacija verdrängt, der russischen Wortform des vorherigen französischen Terminus. Spätestens ab den 1860er Jahren blieb nur noch civilizacija im Gebrauch.100

97 [H ejm ], Novyj i polnyj slovar’ [1799]. – Im Französischen ersetzte im Laufe des 18. Jh. politesse zunehmend civilité, das nun eher als etwas Äußerliches erscheint. F isch , Zivilisation, 734 – 735. 98 Slovar’ Akademii Rossijskoj, Bd. 3 [1792], Sp. 1380. 99 K aramzin , O ljubvi k otečestvu i narodnoj gordosti [1803], 194. 100 V eližev , Civilizacija i srednij klass, 250 – 252, 262.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

Prosveščenie Das Wortfeld der Zivilisiertheit/Zivilisation im 18. Jahrhundert bildete sich im Russischen aber nicht nur aus Neologismen wie političnyj und ljudskost’, sondern schloss auch althergebrachte Begriffe ein, die einem tiefgreifenden Bedeutungswandel unterlagen. Dazu gehörte der bereits erwähnte Begriff der prosveščenie (heute der russische Begriff für ‚Aufklärung‘). Die Bedeutungsvielfalt des bereits im Altkirchenslawischen wie Altrussischen enthaltenen Substantivs wie der dazugehörigen Verben prosvetit’/prosveščat’ (bzw. altrussisch prosvětiti, prosveščati, „erleuchten“) ordnet sich um einen einzigen Kern: das Licht. Kurt Günther konnte zeigen, dass die Lichtvorstellung, die im Denken der Aufklärung solch eine große Rolle spielte und auch allen volkssprachlichen Bezeichnungen für ‚Aufklärung‘ zu Grunde liegt, nicht erst auf das Christentum zurückgeht. Vielmehr übernahm die K ­ irche, die ihrer Vorstellung nach das Licht des Christentums den Heiden brachte, die Lichtvorstellung bereits von griechischen und orientalischen Myste­ rienreligionen.101 Als Bedeutungsvarianten im christlichen Kontext ergaben sich von Anfang an: das Erleuchten von Antlitz, Leib und Seele; das Erleuchten von Geist und Erkenntnis; Taufe und Christianisierung sowie die Er-­Scheinung Christi, das Epiphaniasfest.102 Doch auch wenn bereits vor dem 18. Jahrhundert prosveščenie im Zusammenhang mit ‚Verstand‘ (um) verwandt wurde, wie zum Beispiel in der orthodoxen Mariologie, so ging es doch immer um eine Verstandeserleuchtung, bei der der Mensch zu christlichen Erkenntnissen vordringt. Eine Herauslösung aus dem Zusammenhang mit der christlichen Offenbarung erschien undenkbar.103 Der Wandel von prosveščenie von einem rein christlich verstandenen Begriff um die Wende zum 18. Jahrhundert zu einem zwar christlich konnotierten, aber säkular aufgeladenen, bis hin zu einem rein säkularen Begriff vollzog sich allmählich und dauerte das ganze 18. Jahrhundert über an. Die Verschiebung der Semantik, bei der der Verstandesaspekt in den Vordergrund gerückt und zunehmend mit säkularer Bildung in Zusammenhang gebracht wurde, setzte jedoch bereits unter Peter I. ein. Waren zu Zeiten Ivans IV. sowie im 17. Jahrhundert Missionierte oder zum russisch-­orthodoxen Glauben Konvertierte als ‚Neugetaufte‘ (novokreščennye) bezeichnet worden, kam in der späten petrinischen Zeit im Rahmen der umfangreichen Missionierungsfeldzüge allmählich der Begriff der ‚Erleuchteten‘ (prosveščennye) 101 G ünther , Zur Epochenbezeichnung ‚Aufklärung‘, 58 f. 102 S turm /F ahl /H arney , Prosveščenie vor der Aufklärung, 337. 103 S turm /F ahl /H arney , Prosveščenie vor der Aufklärung, 340. – Im 17. Jahrhundert war eine der Bedeutungen des Verbes prosveščat’: „zur geistigen und seelischen Vollendung befähigen“. ­Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 20, 213.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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oder der ‚Neu-­Erleuchteten‘ (novoprosveščennye) auf.104 Diese begriffliche Veränderung spiegelte bereits die Akzentverschiebung von dem zuvor rein religiös verstandenen Akt der Taufannahme auf den Aspekt der nun religiös und säkular ausgerichteten ‚Erleuchtung‘ wider, die sich allgemein aus dem Erlernen von Lesen und Schreiben ergeben und vor allem jeglichen Aberglauben beseitigen sollte.105 In der Missionspolitik der Regierung und der Russisch-­Orthodoxen K ­ irche schlug sich dieser Wandel dergestalt nieder, dass sich die K ­ irche seit den 1720er Jahren nicht mehr so sehr auf die Anzahl der Taufen zu konzentrieren suchte als auf die Vermittlung eines vertieften Verständnisses des Evangeliums.106 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich der Hauptbedeutungsstrang von prosveščenie aus dem religiösen Kontext gelöst. Wie lexikalische Einträge zeigen, wurde prosveščenie jetzt eng mit der Semantik der westeuropäischen Aufklärung verknüpft. In der zweiten Auflage des Wörterbuchs der Russländischen Akademie der Wissenschaften verband sich mit prosveščenie neben dem Synonym für Taufe „die Reinigung der Vernunft von verlogenen, vorurteilsgeladenen Begriffen, Schlussfolgerungen; stellt sich gegen die Ignoranz/Unkenntnis (nevežestvo)“.107 Im russisch-­französischen Wörterbuch, das auf der Ausgabe der Französischen Akademie von 1786 beruht, wurden die französischen Ausdrücke der Zeit civiliser und civilité mit „zu Höflichkeit erziehen“ (delat’ učtivym, ­vežlivym) und „aus dem wilden/barbarischen (dikij) Zustand herausholen, aufklären (prosveščat)“ übersetzt. Der französische Ausdruck civiliser une nation wurde mit „das Volk aufklären“ (prosvetit’ narod) wiedergegeben.108 Gegen Ende des Jahrhunderts diente prosveščennyj als direkte Übersetzung für das französische policé – so im Zusammenhang mit dem Ausdruck pays policés –, also „zivilisierte Länder“.109 Mit einem Wort, im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte sich der Begriff prosveščenie nicht nur säkularisiert, sondern auch eine neue Bedeutungsvielfalt innerhalb des semantischen Feldes der Zivilisiertheit/Zivilisation erlangt. Gabriela Lehmann-­Carli gibt diese Bedeutungsvielfalt mit sieben semantischen

104 PSZRI (I) Bd. 7, Nr. 4683 (19. 3. 1725), 437 – 438; Bd. 11, Nr. 8075 (23. 4. 1740), 86; Bd. 21, Nr.  15586 (10. 11. 1782), 751 – 752; N olte , Verständnis und Bedeutung, 515, Fn. 182; ­K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 130. 105 S chippan , Sozialgeschichte, Religion und Volksaufklärung. – Zu Peters Kampf gegen den ‚Aberglauben‘: S tählin , Originalanekdoten von Peter dem Grossen [1785], 56 – 58, 66 – 68, 76 f. Zum Paradoxon der Säkularisierung von Missionierung unter Peter I. siehe auch Kap. 4.3. 106 Vgl. Kap. 4.3. 107 Slovar’ Akademii Rossijskoj [²1819], Bd. 5, Sp. 624. 108 Dictionnaire complet François et Russe, Bd. I [1786], 195. 109 Siehe die russ. Übersetzung des Buches von B ielfeld , Institutions politiques. Hier wird das frz. policé mit prosveščennym übersetzt. B ielfeld , Nastavlenija političeskija barona Bil’felda, Bd. 1, Kap. 4 § 2; S chierle , Semantiken des Politischen, 233.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

Ebenen wieder: Bildung und Kultur, Europäisierung oder Zivilisation als Prozess (Versuch der Einführung europäischer Lebens- und Denkformen), Zivilisation als direkte Entsprechung zur civilisation im Sinne von ‚Milderung der ­Sitten‘, doppelte Erleuchtung (sowohl geistig-­sittlich als auch mystisch-­religiös), ‚Aufklärung‘ im Sinne des deutschen Philosophen Immanuel Kant („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“), gesunder Menschenverstand sowie der Begriff prosveščenie als Metapher für die Bildungs- und Reformpläne aufgeklärter Zaren seit Peter I.110 Die Verwendung von prosveščenie und der dazugehörigen Verben in der Bedeutungsvariante von ‚Zivilisiertheit‘, ‚Zivilisation‘, ‚zivilisieren‘ ist in der Literatur nicht nur unbestritten, sondern erfolgte mit Blick auf die Selbst- wie Fremdzivilisierung im späten 18. Jahrhundert auch so zahlreich, dass an dieser Stelle auf eine nähere lexikalische Einbettung, wie dies zuvor am Beispiel des viel unbekannteren ljudskost’ vorgenommen wurde, verzichtet werden kann.111 Zum Ensemble sinnverwandter Wörter, die das Sach- und Begriffsfeld der Zivilisiertheit und Zivilisation abdeckten und gedanklich organisierten, gehörten im 18. Jahrhundert freilich noch eine Reihe weiterer Begriffe, deren detailliertere lexikalische Analyse den Rahmen dieser Studie sprengen würde. Zu ihnen zählten Termini wie učtivstvo, učtivost’, vežlivost’, svetskost’ (‚Höflichkeit‘, ,Umgänglichkeit‘, ,Gewandtheit‘) und Ausdrücke wie blagopristojnoe obchoždenie, obchoditel’nost’ (‚vornehmer, zivilisierter Umgang‘, ,Umgänglichkeit‘) oder reguljarnye narody (‚regulirte‘, ‚zivilisierte‘ Völker).112 Den Kern des Begriffsfeldes der Zivilisiertheit/Zivilisation aber konfigurierten im 18. Jahrhundert die drei untersuchten Begriffe političnyj, ljudskost’ und prosveščenie. Gleichwohl bliebe eine Untersuchung des Begriffsfeldes unvollständig bzw. wäre eine Verortung der einzelnen Begriffe nicht ausreichend, bezöge man nicht gleichfalls Termini mit ein, die genau die entgegengesetzte Bedeutung der untersuchten Begriffe annahmen. Dies gilt für begriffsgeschichtliche Untersuchungen ganz allgemein. Ganz besonders trifft dies jedoch für die Begriffe der Zivilisiertheit und Zivilisation zu, die beide ohne ein niederes Gegenkonzept bedeutungslos wären.113 Sie bedürfen eines Gegensatzes und mithin einer Reihe von Gegenbegriffen, die das Begriffsfeld der Unzivilisiertheit, des Mangels an Zivilisation, gedanklich konzipieren. 1 10 L ehmann -­C arli , Aufklärungsrezeption, „prosveščenie“ und „Europäisierung“, 359 – 360. 111 Michail Kiselev führt in seinem Aufsatz zahlreiche Belege für die Verwendung von prosveščenie im Sinne von ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘ an: K iselev , Ot „političnogo“ k „prosveščennomu“. – Weitere Literatur zum Begriff Prosveščenie neben der bereits zitierten sind S chippan , Die Aufklärung in Russland, 14 – 23 und F leckenstein , Von der „Erleuchtung“ zur „Aufklärung“, 39 – 45. 112 Siehe Dictionnaire complet François et Russe, Bd. I, Eintrag ‚civilité‘, 195. 113 K oselleck , Zur historisch-­politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, 211 – 259.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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Die ‚Barbaren‘ und ‚Barbarei‘ (varvary i varvarstvo) Schon in der frühen Antike bezeichneten Griechen all jene Menschen als ‚Barbaren‘ (βάρβαροι), die eine fremde Sprache sprachen. Später dehnte sich bei den Hellenen wie auch im Römischen Reich der Begriff auf all jene aus, die sich schlicht außerhalb des eigenen politischen Verbandes bzw. Reiches befanden.114 Dabei diente die Teilung z­ wischen hellenischer und barbarischer Welt dazu, die eigene Form politischer Herrschaft zu bekräftigen und auf Fremde herabzusehen, von denen es hieß, es mangele ihnen an Wissen und Fähigkeiten.115 Mit der Christianisierung und in der Übernahme jüdischer Denkmuster wurden allmählich jene Vorurteile, die mit dem Barbarentum assoziiert wurden, auch auf ‚Heiden‘ übertragen.116 Im Zuge der europäischen Expansion im 15. und 16. Jahrhundert griffen die Renaissance-­Europäer die duale Einteilung der Menschheit in Christen und Heiden bzw. in Zivilisierte und Barbaren nicht nur auf, sondern erneuerten und verstärkten auch die gedachte Identität z­ wischen Heiden und Barbaren auf der einen und z­ wischen Christen und zivilisierten Menschen auf der anderen Seite.117 Die barbarie, der Inbegriff des sündhaften Andersseins, bildete im französischen Sprachraum des 17. Jahrhunderts den unmittelbaren Gegenbegriff zu humanitas bzw. humanité (Menschheit, Menschlichkeit) und diente mithin als ein moralisch-­ kulturelles Gegenkonzept.118 Im russischen Sprachraum hingegen gibt es bis zum ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert kaum Belege für die Verwendung des Barbarenbegriffes. Wenn der Begriff überhaupt auftauchte, so wurde er entweder zur Beschreibung der Wildheit der Natur oder zur Bezeichnung eines Menschen verwandt, der als Fremder, Heide, Ungläubiger oder schlicht als Nicht-­Christ in einem nahezu wertfreien Sinne wahrgenommen wurde.119 114 J üthner , Hellenen und Barbaren, 1 – 3; S attler , ‚Barbaren‘; V ogt , Kulturwelt und Barbaren, bes. 7, 10 – 12. 115 B ethencourt , Humankind, bes. 38 – 41. 116 K oselleck , Zur historisch-­politischen Semantik, 229 f.; M arenbon , Pagans and Philosophers, 66 – 72. 117 W eber , Bárbaros, bes. Kap. 2. 118 M ichel , Barbarie, Civilisation, Vandalisme, 11. 119 Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 2, 17 – 18. – Erzpriester Avvakum (1621 – 1682) bezeichnete in seinem Bericht von 1672/1673 über die beschwerliche Rückreise aus der sibirischen Verbannung das Land als „barbarisch“ (strana varvarskaja). Bezeichnend ist jedoch, dass der Begriff bei ihm nach der Beschreibung der widrigen Umstände seines Fußmarsches fällt (die Füße brechen immer wieder im Eis ein) und damit eindeutig der Roheit der Natur gilt. Die Einwohner werden von ihm hingegen als „unfriedliche Fremdländer“ (nemirnye inozemcy) bezeichnet, was zu der Zeit allgemein der Begriff für Indigene war, die noch nicht zu Untertanen des Zaren und damit jasak-­ pflichtig geworden waren. [A vvakum ], Sočinenija protopopa Avvakuma, 486. – Eine interessante,

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

Ausnahmen von dieser Regel im allgemeinen Sprachgebrauch lassen sich bei solchen Akteuren beobachten, die durch Abstammung oder lange auswärtige Aufenthalte im engen Kontakt mit dem süd- bzw. ostmitteleuropäischen Sprach- und Kulturraum gestanden hatten oder standen. Im Falle des russischen Fürsten Andrej M. Kurbskij (1528 – 1583), der sich von einem engen Vertrauten zu einem führenden Widersacher von Zar Ivan IV. entwickelt hatte und vor seiner Verfolgung aus dem Moskauer Reich nach Litauen geflohen war, ist in seinen Briefen aus der Emigration an den Zaren die Aufnahme von negativen (west-)europäischen Bildern von ‚Russland‘ deutlich erkennbar. So spricht er nicht nur allgemein vom „Barbaren“, der nicht in der Lage sei, philosophischen Gedanken zu folgen, sondern bezeichnet auch konkret die Antwort von Zar Ivan IV. an ihn als „barbarisch“ (varvarsko) im Sinne von kenntnislos und kulturlos.120 Eine weitere Ausnahme bildete der jesuitische kroatische Priester Juraj Križanić (1618 – 1683), der aus seiner Verbannung in Tobol’sk 1663 – 1666 auf Russisch eine Analyse zur Politik, Wirtschaft, Justiz und Gesellschaft schrieb und dabei über die Anwendung des Barbarenbegriffes durch die (West-)Europäer reflektierte.121 In unserem Zusammenhang ist dabei bemerkenswert, dass er erstmals auf Russisch den Gegensatz von Barbaren einerseits und von „zivilisierten Völkern“ (političnye narody) andererseits aufbaute.122 Auch bei Nikolaj G. Spafarij (1636 – 1708), einem in Istanbul erzogenen polyglotten moldauischen Adligen, der sich nach Aufenthalten in Schweden und Frankreich in den 1670er Jahren als Diplomat in russländische Dienste begab und als solcher eine große Delegation nach China führte, findet sich in seinem 1678 verfassten Reisebericht mit Blick auf die angetroffenen chinesischen Verhandlungspartner der Ausdruck von „barbarischen Menschen“ (ljudi varvary) im Sinne von wilden, unkultivierten Menschen.123 Doch die Verwendung des Barbarenbegriffes

aber wohl kurze Ausnahmephase von der Nichtverwendung des Barbareibegriffes bis zum ausgehenden 17. Jh. trat mit der zarischen Eroberung des muslimischen Chanats von Kazan 1552 ein. Laut der Nikon-­Chronik aus eben diesen Jahren wurde Zar Ivan IV. 1553 als „Sieger über das Barbarische“ (pobeditelju varvarskomu) und als „Retter des Christlichen“ (izbavitelju christian’skomu) gepriesen. PSRL, Bd. 13, 1. Hälfte, 223, 226, 521; B atunskij , Islam i russkaja kul’tura, 45. 120 [K urbskij ], Skazanija knjazja Kurbskogo, 276, 191; F iljuškin , Andrej Michajlovič Kurbskij, bes. 301. – Zur in der Renaissancezeit verbreiteten Wahrnehmung des Zarenreiches als ‚barbarischem‘ Land siehe S cheidegger , Perverses Abendland – barbarisches Rußland. 121 K rižanič gab seiner Schrift den Titel „Politika ili Razgovori o vladetel’stve“ [1663]. 122 Russkoe gosudarstvo, 146, 150; K rižanič , Sobranie sočinenij, Bd. 2, 54; K iselev , Ot „političnogo“ k „prosveščennomu“, 2 – 3. – Es führt jedoch in die Irre, Križanič als Zeuge dafür zu benennen, dass im 17. Jh. Russländer allgemein bereits den Gegensatz von Zivilisiertheit und Barbarei aufgemacht hätten. P allot /S haw , Landscape and Settlement, 19. 123 Statejnyj spisok posol’stva N. Spafarija v Kitaj (1675 – 1678), in: Arsen’eva (Hg.), Vestnik arceologii [1906], Vyp. 17, otd. 2, 162 – 339, hier 270.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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durch diese wenigen Ausländer oder ins Ausland entflohenen Russen hatte vorerst keinen Einfluss auf vorherrschende politische Konzepte im Moskauer Reich. Ein Begriffsfeld für Zivilisiertheit existierte gemeinhin genauso wenig wie eines für Barbarei. Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts aber führten Peter I. und seine Getreuen analog zu den Zivilisiertheitsbegriffen auch den Gegenbegriff der ‚Barbarei‘ bzw. die Vorstellung von ‚barbarischen Völkern‘ in die allgemeine politische Lexik des Zarenreiches ein. Vom Zaren selbst ist die Wortwahl gleich mehrfach überliefert. In seinem Militärstatut von 1716 stellte er die „regulirten Nationen“ (s reguljarnymi narodami) im Sinne von ‚zivilisierten Völkern‘ der ‚Barbarei‘ gegenüber.124 In der gemeinsam von ihm und Petr Šafirov 1717 verfassten Streitschrift zum Nordischen Krieg ist von den „barbarischen Türken“ (Varvaram Turkam) die Rede.125 In einem Entwurf für das Vorwort, das Peter I. 1720 für das Seereglement (morskoj reglament) verfasste, bezeichnete der Zar auch die Tataren, von denen Ivan III. das Moskauer Reich befreit habe, als „Barbaren“.126 Seine eigene Eroberung des muslimisch geprägten Chanats von Derbent an der Südküste des Kaspischen Meeres feierte er 1722 gegenüber dem Heiligen Synod als Sieg über die „sich widersetzenden, bösartigen Barbaren“ (na protivivšichsja zločestivych varvar).127 Der Zar folgte mit dieser Sprachweise einer für russländische Verhältnisse neuen anti-­islamischen Propaganda, wie sie zu der Zeit in (West-)Europa längst gängig geworden war. Peter Postnikov, der bereits erwähnte erste russische promovierte Arzt, verwandte den Barbarenbegriff schon in seinem Brief an Peter I. von 1696 für die Araber „Asiens“.128 Der von Peter I. nach Konstantinopel entsandte russische Diplo­mat Pëtr Andreevič Tolstoj berichtete 1703 von „barbarischen S ­ itten“, die den „Türken“ abgewöhnt würden, damit sie auf zivilisierte Weise (politično) mit anderen Staaten umgingen.129 Die Konzipierung von ‚zivilisiert‘ (političnyj) und ‚barbarisch‘ (varvarskij) in einem semantischen Feld setzte sich bei Iosif ­Turobojskij fort, der als Präfekt der Slawisch-­Griechisch-­Lateinischen Akademie 1704 mit Blick

124 PSZRI Bd. 5, Nr. 3006 (30. 3. 1716), 204. 125 Š afirov , Razsuždenie kakie zakonnye pričiny, 35 (ne tokmo vsemu političeskomu svetu, no i Varvaram Turkam dovolno izvestno). 126 P ogosjan , Petr I, 248. 127 Ob otpravlenii sobornago blagodarstvennago molebna vo vsech cerkvach Imperii, po slučaju vzjatija Derbenta. In: PSPR, Bd. 2, Nr. 840 (29. 9. 1722), 533 – 537, hier 537; N olte , Religiöse Toleranz in Rußland, 86, sowie allgemein zur anti-­islamischen Stimmung 83. 128 Postnikov verwandte statt der Bezeichnung ‚Araber‘ allerdings noch den damals üblichen byzantinischen Ausdruck vom ‚agaryanischen Volk‘. Peter V. Postnikov an Peter I., 17. 8. 1696, in: B yčkov , Novye materialy dlja biografii, 48; Vizantijskij slovar’, Bd. 1, 43. 129 [T olstoj ], Russkij posol v Stambule, 40, 43; [T olstoj ], Putešestvie P. A. Tolstogo, 24.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

auf den ein Jahr zuvor in Moskau errichteten Triumphbogen bemerkte, dass ein derartiges Zeichen ­­ des Ruhmes „in allen zivilisierten, nicht aber in barbarischen Völkern“ errichtet werde.130 Der Barbarenbegriff schaffte es 1731 sogar ins „Teutsch-­Lateinische und Rußische Lexikon“.131 Doch seine weitere Verbreitung hielt sich in den ersten Dekaden nach Peter I. zumindest im imperialen Kontext noch in Grenzen.132 Dies änderte sich im Zuge der Rezeption der von (west-)europäischen Philosophen getragenen Spätaufklärung seit den späten 1760er Jahren, die den Begriff der Zivilisation wie jenen der Barbarei ins Zentrum ihres Interesses rückte.133 Jetzt verbreitete sich der Terminus auch innerhalb der russländischen imperialen Elite rasant. Allgemein etablierte sich der Begriff im Bezug auf „wilde Stämme und Völker (alte wie neue) im Vergleich zu zivilisierten Kulturvölkern“.134 Im Wörterbuch der Russländischen Akademie der Wissenschaften von 1789 wurden der Barbar (varvar) als „hart“ und „unmenschlich“, die Barbarei (varvarstvo) als „Härte, Grausamkeit, Unmenschlichkeit“ definiert.135 Jetzt beschränkte sich die Verwendung auch nicht länger nurmehr darauf, dass mit ‚Barbaren‘ allein fremde ethnische Gruppen fremder Staaten bezeichnet wurden. Vielmehr wurde es in der Herrschaftszeit Katharinas II . innerhalb der imperialen Elite des Zarenreiches üblich, den Begriff auch auf periphere ethnische Gruppen des eigenen Reiches zu beziehen, die damit von der russländischen Kernbevölkerung kulturell-­zivilisatorisch abgegrenzt werden sollten. Ein Beispiel bot die Vorlage des Senats von 1762, mit der die gerade erst zur Zarin gekrönte ­Katharina  II . gebeten wurde, die russländische frontier im Nordkaukasus mit einer neuen Festung sowie insbesondere die Ausgestaltung der religiösen Grenze ­zwischen christlichen Russländern und muslimischen Kabardinern zu verstärken. Obwohl Teile der Kabardiner in russländischer Untertanenschaft standen, wurden die ethnischen Gruppen der Bergregion allgemein als „barbarische Völker“ bezeichnet.136 130 T urobojskij , Pereslavnoe toržestvo osvoboditelja Livonii, 154 – 155; K iselev , Ot „političnogo“ k „prosveščennomu“, 3 – 4. 131 [W eissmann ], Teutsch-­Lateinisch und Rußisches Lexikon. 132 Dieser Befund ergibt sich aus dem Gesamteindruck der von der Autorin eingesehenen Quellen. 133 In erster Linie ist hier das sechsbändige Werk Edward Gibbons (1737 – 1794) zu nennen („History of the Decline and Fall of the Roman Empire“, 1776), mit dem die Barbarei als zentrales Gegenkonzept zur römischen Zivilisation entworfen wird. P ocock , Barbarism and Religion, Bd. 4. 134 Slovar’ russkogo jazyka ХVIII veka, Bd. 2, 215. 135 Slovar’ Akademii Rossijskoj, Bd. 1 [1789], Sp. 492. 136 Vsepoddannejšij doklad Senata imperatrice Ekaterine II ob otvedenii uročišča Mozdok dlja poselenija krestivšichsja kabardincev, vo glave s vladel’cem Maloj kabardy Kurgokoj Končokinym (A. Ivanovym), postroenii tam kreposti i prevyraščenii Mozdoka v centr rasprostranenija promyšlennosti i torgovli. In: KabRO Bd. 2, Nr. 164 (9. 10. 1762), 218 – 220, hier 220.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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Ein ähnliches Beispiel bot ein Abgeordneter des kosakischen Terek-­Heeres, der 1767 innerhalb der Gesetzgebenden Versammlung erneut von den nordkaukasischen „Bergvölkern“ als den „gesetzlosen wie bestienhaften wilden Völkern“ (bezzakonnych i zveroobraznych dikich narodov) sowie von „diesen Barbaren“ (ėtich varvarov) sprach.137 Dieselbe Bezeichnung wählte Katharina II ., als sie 1774 dem Orenburger Gouverneur Ivan Andreevič Rejnsdorp schrieb, wie mit den Kasachen der Kleinen Horde umzugehen sei.138 In einem Vermerk von 1775 legte der bereits zitierte Astrachaner Gouverneur Petr Krečetnikov dar, wie seiner Meinung nach die Politik der weiteren Integration der bereits untertänigen Kleinen Kabardei erfolgen solle. „Ich wage es vorzutragen“, schrieb der Gouverneur Krečetnikov an die russländische Regierung, dass sie alle [die Kabarden] aufgrund ihrer barbarischen Unkenntnis (po varvarskomu svoemu nevežestvu) sich gegeneinander in Bosheit und äußerster Uneinigkeit gegenüberstehen und sich gegenseitig bestehlen, einander verwüsten und voneinander Gefangene nehmen […]. Vor d­ iesem Hintergrund […], da sie keine Bücher, kein Alphabet haben […], muss man leicht erwarten können, dass sie alle den christlichen Glauben annehmen, ja und es wird nicht schwierig sein, mittels des Umgangs mit unserem Volk gänzlich ihre Sprache, die jeder Grundlage entbehrt, sowie ihre Gebräuche auszulöschen. […] Und analog wird es auch mit dem Erlass […] vom 8. April 1763 sein, mit dem befohlen wird, danach zu streben, die in Kizljar sich aufhaltenden Berggefangenen zum Erlernen des Lesens und Schreibens der russländischen Sprache zu bewegen und sie in die Zivilisiertheit/Zivilisation zu führen und sie von den barbarischen S ­ itten wegzuführen (privodit’ v ljudkost’, a ot varvarskich nravov otvodit’).139

Der „barbarischen Unkenntnis“, „Bosheit“ und „äußersten Uneinigkeit“ der unter­worfenen ethnischen Gruppe wurde in ­diesem Zitat nicht nur die Stärke des Zarenreiches, der christliche Glaube, die Schrift- und Sprachkultur der eigenen ‚Wir-­Gruppe‘ gegenübergestellt. Im Sinne der Fortschrittsidee und der mit ihr ­verbundenen Dynamisierung des Zivilisationsbegriffs erschien das Barbarische vor allem überwindbar. Sowohl der Weg dorthin als auch das angestrebte Ziel wurden aufgezeigt. Als Zivilisierungsträger kamen nicht bloß die Regierung, die Beamten 137 Vozraženie deputata Terskago semejnago vojska Nikity Mironova (27. Sitzung am 24. 9. 1767). In: SIRIO Bd. 4, 194 – 201, hier 201; R aeff , Staatsdienst, Außenpolitik Ideologien. 138 Reskript im. Ekateriny II orenburgskomu gubernatoru I. Rejnsdorpu o nagraždenii pochval’nymi gramotami chana Nurali i sultanov Erali i Ajčuvaka za vernost’ pravitel’stvu vo vremja pugačevskogo vosstanija. In: KRO Bd. 2, Nr. 37 (nicht ­später als 1774), 78. 139 Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, XVIII vek, Nr. 220 (1775g.), 310 – 317, hier 312 u. 316.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

oder das Militär in Frage. Im Zentrum stand „unser Volk“, mittels dessen Umgang es nurmehr eine Frage der Zeit sei, bis Sprache und Gebräuche des ‚wilden Volkes‘ verdrängt würden und die russländische Zivilisation bei den ‚Wilden‘ Fuß fasse. Semantisch wird dabei deutlich, dass ljudskost’ dem Begriff varvarskij diametral gegenübersteht („von den barbarischen S ­ itten wegführen“, „zur Zivilisiertheit/Zivilisation hinführen“); ganz im Geiste der alten antithetischen Begriffe griechisch – barbarisch, römisch – barbarisch und christlich – heidnisch.140 Manche Russländer aber hinterfragten auch die eigenen zeitgenössischen Begriffe. So merkte der weitgereiste russische Flottenoffizier Matvej G. ­Kokovcov (1745 – 1793) in seiner 1787 erschienenen Beschreibung der „Barbarischen Küsten“ kritisch an: „Der Name eines Barbaren wird einem schlecht gesitteten, gesetz­losen und herzlosen Volk beigelegt, jedoch zeigten sich mir die barbarischen Völker wohlgesitteter und bewanderter als viele Europäer“.141

Die ‚Wilden‘ und ‚Wildheit‘ (dikie, dikost’) Bereits in der Kiever Rus’ wurde der Ausdruck ‚wild‘ (dikij) oder ‚Wildheit‘ (dikost’) ganz selbstverständlich auf die Steppe und die Nomaden angewendet. Nach der Eroberung der Kiever Rus’ durch die Mongolen kam der Begriff aus dem Gebrauch, da die neuen Machthaber unmöglich als ‚Wilde‘ (dikie) bezeichnet werden durften.142 Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte beschränkte sich der Gebrauch von dikij auf die Steppe, auf unkultivierte Ländereien, auf wilde Tiere sowie auf Menschen, die nicht zum christlichen Glauben bekehrt waren. Mit Blick auf Nicht-­Christen besaß der Ausdruck dabei einen eher beschreibenden, weitgehend wertneutralen Charakter.143 Dies änderte sich fundamental im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert mit dem von Peter I. forcierten Aufkommen des Begriffsfeldes der Zivilisiertheit. 140 Die Betrachtung der Barbarei als einer zweiten Entwicklungsstufe, die über dem Stadium naturnnaher Wildheit steht, kann aus den eingesehenen Quellen zwar nicht explizit entnommen werden. Allerdings fällt auf, dass der Barbareibegriff in aller Regel mit Blick auf muslimische ethnische Gruppen, nicht aber auf Heiden oder Anhänger von ‚Naturreligionen‘ im Osten des Reiches verwandt wurde. Dies könnte im Sinne einer Hierarchisierung von ‚Wilden‘ (unterste Stufe) und ‚Barbaren‘ (zweite Stufe) interpretiert werden. Zur Ausdifferenzierung der Barbareivorstellung im 18. Jh. in (West)Europa O sterhammel , Die Entzauberung Asiens, 242 – 246. 141 Mit „Barbarischen Küsten“ waren das Sultanat Marokko und die osmanischen Regentschaften Algier, Tunis und Tripolis gemeint, die von Europäern wegen der dort verbreiteten Seeräuberkultur als ‚Barbaresken‘-Länder bezeichnet wurden. L epechin , Kokovcov, Matvej Grigor’evič, 103; S chippan , Die Aufklärung in Russland, 265. 142 K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 185 – 186. 143 Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 4, 245; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 185.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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Die alte Verwendung von dikij kehrte wieder zurück. Jetzt mussten „Völker aus ihrem wilden Zustand“ herausgeführt werden (vyvodit’ narody iz dikago sostojanija).144 Die frühere Verwendung des Wortes im Zusammenhang mit Tieren wurde beibehalten, nur dass die Wortzusammensetzung „wilde Tiere“ (dikie zveri) sich jetzt auch auf Menschen beziehen konnte. Der Kazaner Gouverneur und frühere enge Vertraute Peters I., Artemij Petrovič Volynskij, sprach 1730 von den Baschkiren als einem „wilden und zügellosen Volk“ (o dikom i neobuždannom narode),145 der Beamte und Übersetzer ­Aleksej Tevkelev schrieb 1732 an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten über die Kasachen (damals kirgis-­kajsaki genannt): „Die Kirgis-­Kajsaken sind wilde und unbeständige (dikie i nepostojannye) Menschen.“ 146 Im Kontakt mit russländischen Beamten übernahmen die Kasachen auch teilweise selbst die Fremdbezeichnung. Laut dem Bericht des Beamten und Fürsten Vasilij Urusov erklärten die ­Vertreter der Kleinen und Mittleren Horde der Kasachen: „Wir sind unter den ­Untertanen I. K. H. [Ihrer Kaiserlichen Hoheit] noch wilden Tieren ähnlich und kennen noch keinerlei russländische Umgangsformen.“ Daher hätten die Kasachen darum gebeten, so Urusov, „dass man ihre wilden S ­ itten nicht tadelt, sondern ihnen russländische Umgangsweisen beibringt (čtob na ich dikie nravy ne pozazrit’ i ich rossijskomu obchoždeniju poučit’)“.147 Welche Bedeutungsvarianten verbargen sich hinter dem Begriff dikij, der das ganze 18. Jahrhundert sehr verbreitet blieb? ‚Wilde Völker‘ (dikie narody) waren nach der Erklärung des Wörterbuchs der Russländischen Akademie der Wissen­schaften von 1790 „unaufgeklärte [Völker], die fernab von der Kommunikation mit anderen waren“. Ein ‚wilder Mensch‘ (dikij čelovek) war ein „nicht umgänglicher, ein grober und sich nicht adäquat zu verhalten wissender“ Mensch (neobchoditel’nyj, grubyj, ne nznajuščij obraščenija).148

144 So lautete eine der russ. Übersetzungen für civiliser in Dictionnaire complet François et Russe, Bd. I, 195. 145 Zapiska o baškirskom voprose v Rossijskoj imperii i o nailučšich sposobach ego razrešenija, sostavlennaja kazanskim gubernatorom A. P. Volynskim. In: MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 134 (1730g.), 302 – 306, hier 305. 146 Vypiska Kollegii in. del iz donesenija perevodčika M. Tevkeleva o postrojke kreposti na r. Or’ i o posylke v Chivu syna chana Abulcharia dlja ustanvolenija torgovych otnošenij. In: KRO Bd. 1, Nr. 40 (1732 g.), 94 – 97, hier 96. 147 Žurnal’naja zapis’ peregovorov general-­lejtenanta knjazja V. Urusova s predstaviteljami Malogo i Srednego žuzov vo vremja ich priezda v g. Orenburg dlja prinjatija prisjagi na poddanstvo Rossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 70 (19. 8. 1740), 134 – 168, hier 138. Iz žurnala perevodčika M. ­Tevkeleva, ezdivšego v Malyj žuz dlja peregovorov o poddanstve kazachov. In: KRO Bd. 1, Nr. 33 (3. 10. 1731 – 14. 1. 1733), 48 – 86, hier 81. 148 Slovar’ Akademii Rossijskoj, Bd. 2, [1790], Sp. 667.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

In den Briefen und Vermerken, die ­zwischen russländischen imperialen Beamten an der südlichen und östlichen Reichsperipherie und dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten ausgetauscht wurden, tauchen dikost’ und dikij – wie weiter oben bereits zitiert – auch noch in einem anders akzentuierten semantischen Feld auf. Bei ­diesem Bedeutungsfeld stand weniger die mangelnde kulturelle Zivilisiertheit im Vordergrund. Vielmehr ging es um eine Kritik an der gesellschaftlichen Verfasstheit der nicht-­sesshaften ethnischen Gruppen in den südlichen Steppen und im hohen Norden, die sich von der gesellschaftlichen Struktur des Zarenreiches so deutlich unterschied. In einem Atemzug mit dikost’ und dikij wurden vor allem Begriffe wie ‚Leichtsinnigkeit‘ (legkomyslie), Unbeständigkeit (vetrennost’, nepostojanstvo), ‚Willkür‘ (svoevol’stvo) und ‚Zügellosigkeit‘ (neobuzdannost’) genannt.149 Im Kern zielte die abschätzige Kritik, die mit d­ iesem Wortfeld verknüpft wurde, auf die Wahrnehmung, dass staatliche Strukturen gänzlich fehlten oder mangelhaft ausgebildet zu sein schienen. Dieser Mangel wurde als Bedrohung für die eigene Staatsstruktur wahrgenommen.150 Erst im späten 18. Jahrhundert verschob sich der Akzent von dikost’ und dikij mehr und mehr darauf, den Mangel an Wissenschaft, Bildung und Moralvorstellungen zu unterstreichen.151 Begriffe wie ‚Unwissenheit‘ und ‚Unkenntnis‘ (nevežestvo) rückten unter dem Einfluss der verstärkten Bedeutung der Bildungsfrage 149 Exemplarische Belege für legkomyslennyj/legkomyslie KRO Bd. 1, Nr. 119 (9.1743), 305, 307; Nr. 134 (15. 5. 1747), 341; Nr. 190 (14. 1. 1750), 495; KRO Bd. 2, Nr. 31 (11. 7. 1774), 73; MpiK SSR Bd. 4, Moskau, Leningrad 1940, Nr. 68 (2. 8. 1804), 224; Nr. 81 (12. 1. 1810), 246; MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 496 (21. 3. 1766), 469; KabRO 2, Nr. 212 (1770), 296; Nr. 256 (1784), 360. – Exem­ plarische Belege für vetrennyj/vetrennost’ KRO Bd. 1, Nr. 178 (11. – 25. 7. 1749), 454; KRO Bd. 2, Nr. 24 (19. 3. 1774), 46 – 49; MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 490 (26. 5. 1763), 447; Nr. 492 (13. 6. 1763), 456; KabRO Nr. 220 (24. 4. 1775), 312; Nr. 225 (19. 12. 1777), 324; Nr. 256 (1784), 362; Russko-­ dagestanskie otnošenija v XVIII-načale XIX v. Sbornik dokumentov. Hg. von Vladilen G. Gadžiev. Moskau 1988, Nr. 383 (27. 3. 1809), 286 – 287. – Exemplarische Belege für nepostjannyj/nepostjanstvo KRO Bd. 1, Nr. 40 (1732), 96; Nr. 96 (22. 9. 1742), 232; Nr. 98 (27. 9. 1742), 254 – 258; Nr. 104 (18. 11. 1742), 268; Nr. 105 (18. 11. 1742), 270; KabRO Nr. 212 (1770); Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, Nr. 21 (8. – 10.1731), 64; Nr. 35 (27. 10. 1748), 95. – Exemplarische Belege für svoevol’nyj/svoevol’stvo KRO Bd. 1, Nr. 39 (7. 10. 1732), 93 – 94; Nr. 70 (19. 8. 1740), 134 – 168; Nr. 114 (20. 9. 1743), 292 – 294; Nr. 124 (29. 7. 1745), 317 – 321; Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591; Nr. 257 (9. 2. 1764), 659 – 663; KRO Bd. 2, Nr. 66 (1786), 118; Nr. 86 (1803), 157; Nr. 97 (1808), 175; MpiK SSR Bd. 4, Nr. 26 (9. 11. 1787), 98; Nr. 33 (10. 5. 1789), 109, 121; Nr. 59 (1802), 194; Nr. 85 (4. 9. 1815), 252. – Exemplarische Belege für neobuzdannyj/ neobuzdannost’ KRO Bd. 2, Nr. 126 (30. 8. 1825), 216 – 217; MpiK SSR Bd. 4, Nr. 33 (10. 5. 1789), 119; Nr. 59 (1802), 194; KabRO 2, Nr. 212 (1770), 296; Nr. 220 (24. 4. 1775), 315. 150 Siehe z. B.: Kratkoe opisanie o kabardinskich narodach, sdelannoe v 1784-m godu gen.-porutčikom Pavlom Potemkinym. In: KabRO Bd. 2, Nr. 256 (1784g.), 359 – 364, hier 360. 151 Über das angebliche Fehlen jeglicher Kultur bei der Kleinen Kabardei schrieb z. B. der Gouverneur von Astrachan, Petr Krečetnikov, im Jahr 1775: Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (1775g.), 310 – 317, hier 311.

Das Begriffsfeld: ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘

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unter Katharina II. in den Vordergrund und brachten die russländische Wahrnehmung einer geistig-­kulturellen Hierarchie menschlicher Existenzen innerhalb des eigenen Reiches zum Ausdruck.152 Mit der Verbreitung des Bildes vom ‚edlen Wilden‘ Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts wurden schließlich viele Attribute, die zuvor als Wesensmerkmal des Wilden herangezogen worden waren, ins Positive gewendet. Der Wandel demonstriert in einprägsamer Form die Zeit- und Perspektivgebundenheit von mit Werturteilen aufgeladenen Begriffsfeldern überhaupt: Aus ‚Primitivität‘ wurde ‚Anspruchslosigkeit‘, aus ‚kindischer Unvernunft und Dumpfheit‘ wurden ‚Unschuld und Unvoreingenommenheit‘, ‚Faulheit‘ geriet zum ‚ruhigen Behagen‘, ‚Gesetzeslosigkeit‘ zu einer ‚natürlichen Daseinsharmonie‘ und ‚Triebhaftigkeit‘ zu ‚unbesorgter Lebensfreude‘.153

Zusammenfassung Bereits in der petrinischen Ära bildete sich ein russisches Begriffsfeld zur ‚Zivilisiertheit‘ heraus. Bis spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts war es innerhalb der russländischen imperialen Elite fest etabliert. Die Wahrnehmung eines Zivilisiertheitsgefälles, einer Hierarchisierung kollektiver Lebensformen wurde dabei zunächst mit den Neologismen političnyj und ljudskost’ zum Ausdruck gebracht. Beide waren über den polnisch-­litauischen und ukrainischen Sprachraum in das Russländische Reich transferiert worden. Im Falle von ljudskost’ handelte es sich um eine ostslawische Entsprechung des lateinischen humanitas-­Begriffes, der in die westeuropäischen Umgangssprachen mit humanité (französisch), humanity (englisch) und mit ‚Humanitet‘ bzw. ‚Menschlichkeit‘ oder ‚Menschheit‘ (deutsch) übersetzt worden war. Die treibende Kraft für die Verankerung des neuen Begriffsfeldes in der russischen politisch-­sozialen Lexik waren Zar Peter I. und seine Vertrauten. Von Anfang an ging es um das Verständnis von ‚Zivilisiertheit‘ in zweierlei Kontexten: um das Betragen eines Einzelnen und um den Zustand einer ganzen ethnischen 152 KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 311, 315, 316, 317; G. I. Šelichov: Rossijskogo kupca ­Grigorija Šelichova stranstvovanija iz Ochotska po vostočnomu okeanu k amerikanskim beregam. Hg. von B. P. Polevoj, Chabarovsk 1971, Nr. 49 (18. 11. 1786), 45; Russkie otkrytija v Tichom okeane, Nr. 58 (30. 11. 1787), 255, 258; MpiB ASSR Bd. 5, Moskau 1960, Nr. 452 (8.1800), 604; MpiK SSR Bd. 4, Nr. 68 (2. 8. 1804), 224; Nr. 77 (25. 3. 1808), 239. – Slezkine, Naturalists versus Nations, 43. 153 [M ertvyj ], Zapiski D. V. Mertvago, 52; Sočinenija imperatricy Ekateriny II., Bd. 1, 261 – 278, 281 – 296; S underland , Taming the Wild Field, 63; B itterli , Die ,Wilden‘ und die ,Zivilisierten‘, 373.

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Gruppe. Das Konzept von Zivilisiertheit rückte ins Zentrum der Vision von einem „neuen“ Russländischen Reich. Das Zarenreich wurde daher fortan nicht nur zu den „zivilisierten“ Nationen gezählt, der neue Anspruch diente auch als einer der Begründungen für die Umbenennung des Staates in ein „Imperium“. Analog zum zeitgenössischen Verständnis im ‚westlichen Europa‘ blieb die begriffliche Gegenüberstellung von zivilisierten und unzivilisierten Nationen unter Peter I. noch vorrangig mit der Rezeption und Einhaltung des Völkerrechts verknüpft. Die Kontrastierung besaß in hohem Maß außenpolitische Bedeutung und enthielt eine anti-­osmanische (und anti-­muslimische) Stoßrichtung. Doch mit der Einführung des Wortfeldes, der dualen Verwendung des Zivilisiertheitbegriffes (individuell und kollektiv) sowie durch den erhobenen Anspruch, selbst schon ein ‚zivilisierter‘ Staat zu sein, war zugleich die Basis gelegt, um unter Rückgriff auf den Zivilisiertheitsbegriff einen auf die nicht-­christlichen Ethnien des Reiches gerichteten russländischen Zivilisierungsdiskurs zu entfalten. Ein solcher setzte bereits zu Peters Lebzeiten ein. Nach zwei Jahrzehnten hatte sich die Vorstellung innerhalb der russländischen imperialen Elite verfestigt, dass die antithetische Gegenüberstellung von ‚zivilisiert‘ und ‚unzivilisiert‘ auch auf das Verhältnis ­zwischen der mehrheitlich russischen oder russländisch akkulturierten Bevölkerung einerseits und nicht-­christlichen ethnischen Gruppen im Süden und Osten des eigenen Reiches andererseits zu übertragen sei. Als zentraler Begriff d­ ieses Zivilisierungsdiskurses diente ljudskost’. Spätestens unter Katharina II. verbreitete sich mit prosveščenie (anfänglich ‚Erleuchtung‘) ein Parallelbegriff. Dessen Hauptbedeutungsstrang hatte sich in den Jahrzehnten davor von seiner ursprünglich rein christlichen Konnotation gelöst und sich zu einem säkularen Begriff gewandelt. Die Parallelbildung beeinflusste auch die Semantik von ljudskost’. Das aus dem Verbalstamm abgeleitete prosveščenie (von prosveščat’) sorgte für eine Dynamisierung der Zivilisiertheitsvorstellung. Analog zum Aufkommen des Neologismus der ‚Zivilisation‘ in (West-)Europa, dem von Anfang an die Temporalisierung und damit die historische Abfolge von verschiedenen Zivilisationsstufen innewohnte, veränderte sich dementsprechend auch die Bedeutung von ljudskost’. Zudem nahm die Bedeutung des Faktors Bildung innerhalb des Zivilisationsverständnisses stetig zu. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam ljudskost’ als Bezeichnung von ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘ allmählich aus dem Gebrauch, während prosveščenie bestehen blieb und zusätzlich um die Termini graždanstvennost’, das französische civilisation sowie ab den 1830er Jahren zunehmend um civilizacija als russischer Wortbildung ergänzt wurde. Das Gegenbegriffsfeld, die ‚Unzivilisiertheit‘ bzw. der ‚Mangel an Zivilisation‘, etablierte sich mit Begriffen wie varvary (‚Barbaren‘) und dikij/dikost’ (‚wild, Wildheit‘) im russischen Sprachraum ebenfalls erst in der petrinischen Ära. Die Semantik verschob sich auch hier von einer Betonung mangelhafter Staatlichkeit

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hin zu einer der mangelhaften Bildung. Das Bild vom ‚edlen Wilden‘ und die damit einhergehende Wendung ins Positive just der Charakteristika, die zuvor negativ konnotiert waren, verbreiteten sich erst nach der Wende zum 19. Jahrhundert. Mit dieser Analyse wurden alle drei Schritte zur Ausbildung eines russländischen Zivilisierungsdiskurses mit imperialer Ausrichtung nachverfolgt: das Aufkommen eines Begriffsfeldes zur ‚Zivilisiertheit‘ und ‚Zivilisation‘, die Selbstzuschreibung, dass die russisch oder russländisch akkulturierte Bevölkerung zivilisiert sei (unbenommen eines parallel laufenden, von Peter I. angestoßenen Diskurses, die eigene Bevölkerung zivilisieren zu wollen), sowie der Wille, ausgehend von der angenommenen eigenen Zivilisiertheit und Zivilisation andere zu zivilisieren. Der Wille allein brachte allerdings noch keine Zivilisierungspolitik auf den Weg. Er bildete lediglich die notwendige Voraussetzung. Um von einer Zivilisierungspolitik und Zivilisierungsmission sprechen zu können, bedurfte es ausgearbeiteter Herrschaftskonzepte und vor allem Praktiken auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet, in denen sich die Absichten tatsächlich niederschlugen. Davon handeln die folgenden Unterkapitel.

4.2  Das Territorium: Festungsbau und Festungslinien „Räume sind nicht, Räume werden gemacht!“ Mit dieser Formel fasste der Berliner Geographie-­Historiker Hans-­Dietrich Schultz vor gut zwanzig Jahren den neueren dekonstruktivistischen Zugang zur Kategorie des Raumes zusammen und grenzte ihn einprägsam von älteren, essentialistischen Raumvorstellungen ab.154 Nicht länger wird Raum demnach als eine vor- oder ahistorische Größe betrachtet. Anstatt davon auszugehen, dass Räume bestimmte historische Entwicklungen determinieren, wie es Vertreter der klassischen Geopolitik und Geographie bislang annahmen, wird sozialer (und damit historisch relevanter) Raum als Produkt menschlicher Handlung und Wahrnehmung aufgefasst.155 Folgt man dieser Raumauffassung, erscheint die Frage besonders reizvoll, wie im Falle des Russländischen Reiches Territorien, auf denen fremde ethnische Gruppen lebten und über sich selbst herrschten, angeeignet, das heißt physisch, 154 S chultz , Räume sind nicht, Räume werden gemacht. – Eine frühere, wesentlich kürzere Fassung ­dieses Unterkapitels wurde veröffentlicht unter dem Titel „Räumliches ‚Ordnen‘ und Gewaltmobilisierung: Festungslinien an der südlichen russländischen Frontier im 18. Jahrhundert“ in: Jureit (Hg.), Umkämpfte Räume, 139 – 157. 155 Zum Wandel der Bedeutung und der Vorstellungen von Raum in der jüngeren Historiographie S andl , Geschichtswissenschaft; W arf /A rias (Hg.), The Spatial Turn; D öring /T hielmann (Hg.), Spatial turn; S chlögel , Im Raume lesen wir die Zeit, 60 – 71; L öw , Raumsoziologie; ­O sterhammel , Die Wiederkehr des Raumes.

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machtpolitisch sowie mental zu Herrschaftsräumen ‚gemacht‘ wurden.156 Die Frage drängt sich im russländischen Fall nicht zuletzt dadurch auf, dass es dem Zarenreich durch seine gewaltige territoriale Expansion im 17. und 18. Jahrhundert gelungen war, zum größten Kontinentalreich der Erde aufzusteigen. Zugleich währte in der Historiographie lange der Eindruck fort, die Expansion des Reiches im Süden und Osten sei vor allem durch eine sich immer weiter ausbreitende, den natürlichen Gegebenheiten folgende, mehr oder weniger friedliche Kolonisation geglückt.157 Das gewalthafte ‚Ordnen‘ von Territorien nach eigenen Vorstellungen, die gewaltsame Gestaltung von Herrschaftsräumen durch die russländische Elite blieben dabei zumeist unterbeleuchtet. Der überragende Expansionserfolg russländischer Eliten war im Süden und Südosten des Reiches jedoch auf das Engste mit einer Methode verbunden, mit der Territorien beständig neu gestaltet wurden: Es geht um die im interimperialen Vergleich einzigartige Methode, Grenzverhaulinien systematisch als Mittel von Expansion und Kolonialisierung einzusetzen.158 Russlandhistorikern ist das Vorgehen, mit dem Moskauer und St. Petersburger Eliten über Jahrhunderte hinweg durch stets weiter gen Süden verschobene Verhaulinien die Grenzen des Reiches gegen die Einfälle nomadischer Überfälle schützten, grundsätzlich wohl vertraut.159 Unbeleuchtet blieb dabei jedoch der Wandel, den diese territoriale Ordnungsform im Laufe des 18. Jahrhunderts vom Grenzschutz zu einem Mittel imperialer Inbesitznahme und kolonialer Herrschaftsausübung durchlief.160 Am Beispiel des 156 Damit folgt d­ ieses Unterkapitel in Ansätzen dem Raummodell, dass (soziale) Räume in „physische Substrate“, „Regeln und Normen“ „gesellschaftliche Praxis“ und „symbolische Kodierung und Wahrnehmung“ untergliedert. L äpple , Essay über den Raum. – Jedoch liegt mit der Analyse des Baus von Festungslinien als Mittel imperialer Politik der Schwerpunkt auf dem Aspekt der „physischen Substrate“, der kulturell überformten Natur und ihren Folgen für die Menschen. 157 Erst Arbeiten nach dem Zerfall der Sowjetunion wie die von Kappeler, Sunderland und Khodarkovsky hielten dagegen und verwiesen auf den imperialen sowie phasenweise kolonialen Charakter des russländischen Vordringens. K appeler , Rußland als Vielvölkerreich; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier; S underland , Taming the Wild Field. 158 Auch in länderübergreifenden Studien sucht man vergebens nach einer Hervorhebung der russländischen Praxis im interimperialen Vergleich. M c N eill , Europe’s Steppe Frontier. 159 J akovlev , Zasečnaja čerta; N ovosel ’skij , Bor’ba Moskovskogo gosudarstva; S haw , Southern frontiers of Muscovy; S tebelsky , The Frontier in Central Asia; L e D onne , The Grand Strategy [2004]. 160 Bei der imperialen Inbesitznahme hatte im 18. Jh. der Gedanke, Menschen zu ,bezähmen‘, gegenüber dem Bewusstsein für den territorialen Gewinn, der mittels beständig vorgeschobener Festungslinien erzielt wurde, die größere Bedeutung. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Willard Sunderland, der erst im Laufe des 18. Jahrhunderts die Entwicklung hin zu einem territorialen Bewusstsein innerhalb der russländischen Elite ausmacht, und Martina Winkler, die anhand der interimperialen Begegnungen im Nordpazifikraum und auf Russisch-­Alaska herausarbeitet, dass sich zarische Expansion im 18. Jh. primär durch die ‚Inbesitznahme‘ von Menschen, nicht aber von Territorien definierte. Erst am Ende des 18. Jh. habe sich ein Verständnis von Territorialität

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russländischen Vordringens in die Steppengebiete der Baschkiren, Kalmücken und Kasachen des 18. Jahrhunderts wird im Folgenden diese Umwidmung analysiert, durch die sich Grenzverhaulinien zum territorialen ‚Ordnungsmuster‘ wandelten.

Das russländische Raumbild und die zentralasiatische Steppe seit Peter I. „Peter der Große. [=Peter I.] erlaubte sich den Wunsch und die nützliche Absicht für das gesamte Vaterland des Russländischen Imperiums zu haben, die umfassende kasachische Horde, von der man seit alters her hören konnte und die in der damaligen Zeit fast unbekannt war, durch seine hochstehende Monarchenperson in die Russländische Untertanenschaft zu führen. […] Auch wenn diese kasachische Horde ein Steppenund unbeständiges Volk ist, so ist doch diese Horde für alle asiatischen Länder und Gebiete Schlüssel und Tor. Und aus d­ iesem Grund ist es notwendig, diese Horde unter der russländischen Protektion zu haben, da man nur über sie in alle asiatischen Länder hinein Kommunikation haben und für die russländische Seite nützliche und geeignete Maßnahmen treffen kann.“ 161

Diese Arbeitsanweisung Zar Peters I. von 1722 an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten verdeutlicht nicht nur den Stellenwert, der den Kasachen aus Sicht des Zarenreiches Anfang des Jahrhunderts zukam. Darüber hinaus zeigt sie das Raumbild, das mit dem kasachischen Siedlungsgebiet verknüpft wurde und das den Grundstein für alle späteren Expansionsabsichten in die zentralasiatischen Steppen legte: Die Kasachen und ihr Siedlungsraum stellten „Schlüssel und Tor“ zu den asiatischen Ländereien dar. Ihnen kam die entscheidende Brückenfunktion zu, um mit Indien oder sogar China Handel zu entwickeln. Peters enger Vertrauter Ivan Kirillovič Kirilov (1695 – 1737) konkretisierte in seinem glühenden Appell an die Zarin Anna zwölf Jahre ­später diese Vision, indem er mit der Aufnahme der Kasachen in die russländische Untertanenschaft und der geplanten Festungsstadt Orenburg die Chance eröffnet sah, den Aralsee zu beherrschen, über den Syr-­Darija und Amur-­Darija in die Tiefen Zentralasiens vorzudringen und Handelskarawanen den Weg nach Buchara, Badachšan und von dort nach Indien zu ebnen. Kirilov prophezeite, dass das Russländische Imperium durch Handel und aufzufindende Bodenschätze reich werde wie Spanien durch im Sinne veräußerbaren Besitzes etabliert. S underland , Imperial Space; W inkler , From Ruling People to Owning Land. 61 Iz zapisi A. Tevkeleva po povodu vyskazyvanija Petra I o privlečenii kazachov v rossijskoe 1 poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 24 (1722), 31.

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Amerika und Holland durch Ostindien, vorausgesetzt, es überlasse die Kasachen nicht den gefährlichen Gegnern, allen voran nicht den Persern und Dsungaren.162 Mit diesen Elementen – Brückenfunktion für den Handel mit Asien und Pufferzone gegenüber der imperialen Konkurrenz – ist der Blick sämtlicher russländischer Regierungen des 18. Jahrhunderts auf die südlichen Steppen benannt, zwei Facetten eines Raumbildes, das dem Jahrhundertprojekt der Unterwerfung der Kasachen zu Grunde lag. Neben den Persern und den mongolischstämmigen Dsungaren zählte auch die Qing-­Dynastie zur gefährlichen Konkurrenz, der sich das Zarenreich zunehmend gegenübersah. Alle vier Mächte wollten in das Siedlungsgebiet der instabilen Steppenvölker expandieren, scheuten aber die damit verbundenen Risiken. In einen offenen Konflikt mit einer der anderen großen Mächte wollte vorerst keiner geraten.163 Im Unterschied zur open-­ended frontier, also zu jener Grenzform, die sich scheinbar endlos erstreckt, bis sie auf ein physisches Hindernis wie das Meer oder ein unüberwindbares Gebirge stößt, handelte es sich bei der russländischen frontier im Süden – mit dem amerikanischen Historiker John LeDonne gesprochen – um eine transfrontier.164 Darunter ist eine Zone des Übergangs z­ wischen zwei politisch hochorganisierten und sesshaften Herrschaftsverbänden zu verstehen, die sich ihrerseits jeweils Kerngebieten (core areas) zuordnen lassen.165 Als eine s­ olche Zone des Übergangs sah die russländische Elite den Siedlungsraum der nomadischen Kasachen an. Das von ihnen besiedelte Territorium ‚dazwischen‘, ohne sesshafte Kulturen, bildete einen Raum mit Aufforderungscharakter. Tatsächlich gelang es in den 1730er Jahren dem von Peter I. beauftragten ­Aleksej Ivanovič Tevkelev, einem ehemals muslimischen Tataren in russländischen 162 Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirillova na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114, hier 113. – Der ursprüngliche Ideengeber für die Gründung einer Stadt am Fluss Or’ war allerdings nicht Kirilov, sondern bereits Aleksej I. Tevkelev gewesen. Im Dienst des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten hatte dieser 1731 mit viel Geschick die Kleine Horde der Kasachen in die russländische Untertanenschaft überführen und die kasachische Zustimmung für die Gründung einer neuen Festung einholen können. Der kasachische Abulchair-­Chan, der davon ausging, ihm werde in der neu anzulegenden Stadt eine Residenz errichtet, sah sich jedoch wenig s­ päter in seinen Hoffnungen getäuscht: Statt dem Ort seiner Residenz wurde Orenburg zum Aufenthaltsort seiner Söhne als Geisel. Vypiska Kollegii in. del iz donesenija perevodčika M. Tevkeleva o postrojke kreposti na r. Or’ i o posylke v Chivu syna chana Abulchaira dlja ustanovlenija torgovych otnošenij. In: KRO Bd. 1, Nr. 40 (1732), 94 – 97. 163 Z latkin , Istorija Džungarskogo chanstva; C hafizova , O nekotorych metodach cinskoj d­ iplomatii, 179 – 183. – Zum Ringen um die eurasischen Steppen unter Einbeziehung des osmanischen, russländischen, Habsburger, polnisch-­litauischen, iranischen und chinesischen Reiches R ieber , Struggle for the Eurasian Borderlands. 164 L e D onne , The Frontier. 165 L e D onne , The Frontier, 144.

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Diensten, den Chan sowie andere hohe Würdenträger der Kleinen Horde der Kasachen für den ‚Eintritt‘ in die russländische Untertanenschaft zu gewinnen.166 Doch sollte die russländische Seite rasch merken, dass mit dem schriftlich beeidigten Beitritt die Einverleibung de facto noch in weiter Ferne lag.167 Die kasachische Lebens- und Wirtschaftsweise taugte nicht für das russländische Ziel, das Siedlungsgebiet der drei Horden als Durchzugsgebiet für Handelskarawanen z­ wischen dem Russländischen Reich, den Chanaten von Chiva und Buchara sowie eines Tages mit Indien und dem Chinesischen Reich zu n­ utzen. Die Karawanen wurden regelmäßig überfallen und ausgeraubt. Menschen wurden entführt und als Sklaven auf den Märkten des Krim-­Chanats und Zentralasiens verkauft.168 Es existierte keine Staatsgewalt, die ­diesem Treiben der Kasachen trotz anderslautender Versprechen (seit Annahme der russländischen Untertanenschaft) Einhalt gebieten wollte oder konnte. Die politischen Strukturen der Horden erschienen der Zarenregierung nicht nur undurchsichtig, unzuverlässig und wenig durchsetzungsstark. Die nomadische Lebensform mit ihren ständig wechselnden Lebensmittelpunkten widersprach zudem allen Ordnungskonzepten des Reiches zur Gewährleistung von Ruhe und Stabilität.169 Dazu gesellten sich für die Zarenregierung Probleme mit den Baschkiren, deren angestammtes Siedlungsgebiet nördlich an die Weidegebiete der Kasachen der Kleinen Horde grenzte. Zwar hatte schon Zar Ivan IV. nach der Eroberung von Kazan Mitte des 16. Jahrhunderts den Bitten der Baschkiren entsprochen, sie in die russländische Untertanenschaft aufzunehmen, und ihnen Privilegien gewährt. Doch die Integration blieb Stückwerk: Die Baschkiren zahlten zwar seither Tribut und akzeptierten mit dem 1586 erfolgten Bau der russländischen Festung Ufa auf baschkirischem Siedlungsgebiet die Verbreitung einer russländischen Voevoden­ administration. Doch von einer russländischen Kontrolle über baschkirisches 166 Donesenie M. Tevkeleva v Kollegiju in. Del o priezde ego k chanu Abulchairu dlja peregovorov o poddanstve kazachov. In: KRO Bd. 1, Nr. 32 (26. 8. 1731), 45 – 48; B odger , Abulkhair; E rofeeva , Chan Abulchair. – Wann genau Kutlu-­Muchammed Tevkelev (1674 – 1766) sich taufen ließ und in „Aleksej Ivanovič“ umbenannt wurde, ist unklar. C hanykov , Svedenija o rode Tevkelevych. 167 Vgl. Kap. 4.5; T repavlov , „Belyj Car’“, bes. 134 – 197. 168 Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirillova na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114, hier 108 – 109; Protokol’naja zapis’ peregovorov načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva s chanom Abulchairom i ­drugimi kazachskimi feodalami, a takže s džungarskimi i karakalpakskimi ­poslami vo vremja ich preizda v Orsk. In: KRO Bd. 1, Nr. 96 (22. 9. 1742), 229 – 253, hier 241; Pis’mo orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva sultanu Ablaju o razrešenii svobodnoj torgovli v ­Troickoj kreposti. In: KRO Bd. 1, Nr. 193 (4. 3. 1750), 504 – 505; Predstavlenie sekretnoj komissii pri ­sibirskom gubernatore Kollegii in. del o proekte general-­majora fon Vejmarna o merach po ­usileniju vlijanija carizma v Kazachstane. In: KRO Bd. 1, Nr. 246 (2. 11. 1761), 630 – 632. 169 Iz žurnala perevodčika M. Tevkeleva, ezdivšego v Malyj žuz dlja peregovorov o poddanstve kazachov. In: KRO Bd. 1, Nr. 33 (3. 10. 1731 – 14. 1. 1733), 48 – 86, hier 73.

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Siedlungsgebiet konnte auch fast zwei Jahrhunderte s­ päter noch keine Rede sein. Im Gegenteil: Baschkiren beteiligten sich weiterhin in wechselnden Bündnissen mit Krimtataren, Kasachen oder Karakalpaken an Überfällen auf russische Bauern, die ihrerseits den Baschkiren zunehmend ihr angestammtes Land streitig machten.170

Festungslinien als Instrument imperialer Politik Seit Jahrhunderten reagierten die Zarenregierungen auf diese Art von organisierten Überfällen an ihren südlichen Grenzen mit dem Bau von Verteidigungslinien, die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert mit dem Begriff čerta (Strich, Linie) sowie in Anlehnung an ihre Funktion, die Einfallsrouten (šljachy) der Nomaden abzuschneiden (zaseči), mit zaseka bezeichnet wurden.171 Das Moskauer Reich griff damit auf die Praxis zurück, mit der bereits die Fürsten der Kiever Rus’ seit Fürst Vladimir durch herangewälzte Baumstämme oder ‚Schlangenwälle‘ (zmievye valy) die Nomaden von Überfällen auf ihre Städte abzuhalten versucht hatten.172 Gegen die Tataren wurde 1518 ein Schutzwall errichtet, der nicht nur nach Süden abwehren, sondern auch in umgekehrter Richtung wirken sollte, um den Angreifern bei möglicherweise geglückten Überfällen den Rückweg abzuschneiden.173 Doch erst in den 1560er Jahren entwickelte die Moskauer Regierung den für die kommenden Jahrhunderte so typischen Linienbau, der die Verkettung mehrerer Festungen zu kilometerlangen zusammenhängenden Schutzwällen gegen die Steppenvölker umfasste. Ihr Schutz und ihre Instandhaltung wurden nur zu einem Teil durch Steuern der gesamten Bevölkerung getragen. Der andere Teil wurde mit Abgaben finanziert, die Einwohner nah angrenzender Siedlungen zu leisten hatten. Seit den 1570er Jahren wurden ‚Liniengelder‘ (zasečnye den’gi) erhoben sowie Dienstleute dazu verpflichtet, die Schutzlinien instand zu halten.174 170 A kmanov , Baškirskie vosstanija; D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria. 171 Slovar russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 5, 295; J akovlev , Zasečnaja čerta, 15 – 18. 172 Die Bezeichnung leitete sich nicht, wie man denken könnte, von einer schlangenlinienförmigen Ausrichtung der Wälle ab, sondern von einer Legende, wonach es zwei Schmieden gelang, eine regelmäßig die Dorfbewohner heimsuchende und diese verschlingende Schlange zu bezähmen und sie zur Pflugarbeit und Aushebung eines Grenzgrabens und eines Walls zu bezwingen. K učera , Zmievye valy, 3. – Die Wälle bestanden aus einer Kombination von Baumstämmen und davor und dahinter angelegten Gräben. Sie richteten sich zu Beginn gegen die Einfälle der Pečenegen in der mittleren Dnjepr-­Region und verhalfen erheblich zur wirtschaftlichen und sozialen Konsolidierung der Kiever Rus’ unter Fürst Vladimir. K učera , Zmievy valy, 184 – 190; S underland , Taming the Wild Field, 14. 173 J akovlev , Zasečnaja čerta, 18. 174 J akovlev , Zasečnaja čerta, 21; D mitriev , Politika carskogo pravitel’stva; ders ., K voprosu o zaselenii.

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Erfolgreiche Tatareneinfälle offenbarten in den 1630er Jahren jedoch gravierende Mängel, deren Analyse in den Bau der sogenannten Belgoroder Verhaulinie mündete – einer durch Belgorod und Voronež bis zunächst nach Tambov laufenden, s­ päter noch bis nach Simbirsk ausgedehnten, mehr als 800 Kilometer ­langen Festungslinie. Damit hatte der Linienbau Mitte des 17. Jahrhunderts seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.175 Die Länge des gesamten Walls, die Bauzeit von zwei Jahrzehnten, die Höhe der Ausgaben und der Einsatz von Material und Arbeitskräften überragten bei weitem alle bislang errichteten Verteidigungslinien. Der durchgehende Festungswall kombinierte natürliche Hindernisse wie Flüsse und Sümpfe mit erbauten Festungen, umfasste zudem mehrere Reihen von Gräben, gefällten Bäumen und Palisaden in Kombination mit vorgelagerten Warntürmen und schloss auch zahlreiche mit Kanonen bestückte Forts ein. Er war Ausdruck eines erstarkten Moskauer Reiches, das im Gegensatz zu seinen Nachbarn, dem Osmanischen Reich und Polen-­Litauen, sowohl die Kräfte als auch die finanziellen Mittel besaß, um sich gegen die notorischen Einfälle zu s­ chützen.176 Das aus Moskauer Perspektive hinter dieser Festungslinie ‚nach innen‘ sich erstreckende Land wurde rasch mit Bauern aus dem russischen Kernland besiedelt, die nicht zuletzt für die Versorgung der Militärkräfte zu sorgen hatten, die auf den Wällen neu stationiert worden waren.177 Auf diese Weise dienten bereits die neuen Linien des 17. Jahrhunderts längst zwei Zielen: der Verteidigung des Kernlands gegen Überfälle sowie der gesicherten territorialen Expansion gen Süden. Dies zeigte sich erst recht, als in den 1680er Jahren – nur rund drei Jahrzehnte nach Fertigstellung der Simbirsker Linie – diese bereits obsolet und mit dem Bau der Syzraner Linie hunderte Kilometer weiter gen Süden verschoben wurde.178 Noch stieß das gewaltige Ausgreifen des Reiches mit den beständig sich ändernden Walldemarkationen aufgrund der verhältnismäßig gering besiedelten Gebiete auf wenig Widerstand. Kühn legten Kartographen und Ingenieure immer neue Pläne zur Verschiebung vor. Mit der in den 1650er Jahren errichteten Transkama-­ Linie (Zakamskaja čerta) gelangte die russländische Expansion erstmals an den Rand des baschkirischen Siedlungsgebiets. Die Bezeichnung dieser Linie leitete sich davon ab, dass die Zarenregierung sie aus russländischer Sicht ‚hinter‘ dem Fluss Kama bauen ließ, um Belyj Jar an der Wolga mit der zarischen Festung Menzelinsk zu verbinden. In d­ iesem Linienbau manifestierte sich Moskaus Sorge vor

175 Z agorovskij , Belgorodskaja čerta; J akovlev , Zasečnaja čerta; N ovosel ’skij , Bor’ba moskovskogo gosudarstva; S haw , Southern frontiers of Muscovy, 118 – 142. 176 P lokhy , Crossing National Boundaries. 177 N ovosel ’skij , Bor’ba moskogskogo gosudarstva, 302; S underland , Taming the Wild Field, 29.f. 178 S anin , Južnaja granica Rossii, 440 – 441.

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dem Herannahen der westmongolischen Kalmücken, die auf ihrem Weg westwärts andere Steppenvölker aufgemischt und zusammen mit Nogai-­Tataren Angriffe auf russländische frontier-­Siedlungen oder Städte verübt hatten.179 Für rund achtzig Jahre riskierte die Zarenregierung keine weitere Vorverlegung der Transkama-­Linie, wohlwissend, dass bereits mit ihrem Bau kleine, wenn auch noch unbedeutende Teile des baschkirischen Siedlungsgebiets vom übrigen baschkirischen Kernland abgeschnitten worden waren. Aber auch ohne eine weitere Verlegung waren die baschkirisch-­russländischen Beziehungen durch die wachsende Anzahl russischer Bauern, die sich infolge der ersten Transkama-­Linie im angestammten baschkirischen Siedlungsgebiet nieder­ ließen, um die Jahrhundertwende angespannt.180 Die Korruption vieler Zarenbeamte sowie vor allem die unter Peter I. erhöhten Steuern und Abgabenlasten zur Vermehrung der Staatseinnahmen und die Anordnung, tausende baschkirische Pferde für den Staat einzuziehen, brachten das Fass zum Überlaufen. Es kam zu mehreren, langjährigen Aufständen der Baschkiren, die bei den ebenfalls muslimischen Krimtataren Unterstützung suchten und fanden.181 Hingegen boten sich die Kalmücken, die mittlerweile ­zwischen Wolga und dem Jaik-­Fluss ansässig geworden waren, der Zarenregierung an, den Aufstand der Baschkiren, mit denen sie verfeindet waren, niederzuschlagen. Zwischendurch aber wechselten auch sie die Fronten. Nicht abreißende Unruhen und Überfälle auf russländische Siedlungen durch Krimtataren, Nogai-­Tataren, Baschkiren, Kasachen, Karakalpaken und Kalmücken ließen auf Seiten der Zarenregierung das Bedürfnis wachsen, das ‚Nomadenproblem‘ in großem Maßstab anzugehen.182 Den ersten, entscheidenden Schritt machte Zar Peter I. Mit seinem Regierungsantritt und seinen gewaltigen Ambitionen zur territorialen Expansion und nicht zuletzt mit der von ihm forcierten Übernahme westeuropäischer Denkweisen, die auf der Annahme eigener zivilisatorischer Überlegenheit fußten, wandelte sich die bisherige Regierungspraxis. Sein Befehl von 1694, die Caricyn-­ Festungslinie zu errichten, mithin eine Linie, die den Landweg z­ wischen den beiden ‚Knien‘ der großen Flüsse Don und Wolga abschnitt, leitete eine neue Politik des Festungsbaus ein. Der 1718 fertiggestellte, 64 Kilometer lange Wall aus Gräben, Rampen, Holzpalisaden, 25 Vorposten und 4 Festungen verband nicht nur erstmals die alte russländische Tradition des Baus von Grenzverhaulinien mit westeuropäischer militärischer Ingenieurskunst. Vor allem trennte er die nördlich und südlich dieser neuen Linie lebenden Nogai-­Tataren und fixierte 179 180 181 182

D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria, 21. F irsov , Inorodčeskoe naselenie, 211 – 304. D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria, 24; S teinwedel , Threads of Empire, 28 – 30. D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria, 26; S teinwedel , Threads of Empire, 29.

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die nördlich lebenden Nogai-­Tataren (muslimische Nomaden, die einst mit dem Krim-­Chanat verbündet waren) auf das Dreieck ­zwischen der Caricyn-­Linie, dem Fluss Chopër und der Wolga. Darüber hinaus versperrte diese Linie den Kalmücken den Weg, um ihr Vieh im Winter in die nördlich gelegenen fruchtbaren Weidegebiete zu führen.183 Zweifelsohne bezweckte auch Peter I., das nördlich gelegene Land für russländische Siedlungen gegen nomadische Einfälle vom Süden zu s­ chützen. Zudem wollte er die Simbirsker Linie um weitere 600 Kilometer nach Süden verschieben und neue Gebiete dem Russländischen Reich einverleiben.184 Doch mit dem Bau der Caricyn-­Linie begann eine Politik, die neben der Verteidigung und Expansion auch das Ziel enthielt, Herrschaftsgebiete für die bereits einverleibte, aber nicht restlos unterworfene Bevölkerung nach russländischen Interessen neu zu strukturieren. Dass die neuen Begrenzungen dabei die Lebensadern der ansässigen einheimischen Bevölkerung durchschnitten, war Teil des Kalküls.

Die neue Dimension: Räumliches ‚Ordnen‘ und koloniale Politik Verteidigungslinien wurden schon in der Antike gebaut. So ließen die alten Römer Wälle errichten, um sich vor Einfällen „barbarischer Stämme“ zu s­ chützen. Seit Ende des 17. Jahrhunderts führten die Vollendung der Belagerungsmethode, die Entwicklung der Artillerie und der militärischen Ingenieurskunst in ganz Europa zur Einführung des bastionären Festungsbaus. Bollwerke (auch Basteien genannt), die aus der Linie eines Festungswalls vorsprangen, ermöglichten es nun, den Raum unmittelbar vor einem Wall einsehen zu können, ein Vorteil, der den Verteidigern von der Brustwehr aus nicht gegeben war. Im Zuge dieser Entwicklung erreichte der Linienbau um die Wende zum 18. Jahrhundert nicht nur im Russländischen Reich, sondern auch in Westeuropa eine erneute Hoch-­Zeit. Die Grundlagen hatte Sébastien le Prestre de Vauban (1633 – 1707) gelegt, der als Festungsbaumeister ab 1678 vom französischen König Ludwig XIV . zum Generalkommissar aller französischen Festungen ernannt worden war. Sein geometrischer Aufbau 183 R jabov /S amojlov /S uprun , Petr I v Caricyne, 104 – 108; L avrinova , Caricynskaja linija; ­D ubman , U istokov Zakamskoj Ėkspedicii; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 163 – 166; L e D onne , The Grand Strategy, 48. 184 Vermutlich hatte sich Peter I. mit dem geplanten Verlauf der Caricyn-­Linie bereits 1695 befasst, nachdem sein Berater, Fürst B. I. Kurakin, sich ein Jahr zuvor nach einer geeigneten Strecke für die Überquerung des Gebiets z­ wischen der Wolga und dem Don durch die petrinischen Truppen während des ersten Azov-­Feldzuges umgesehen hatte. R jabov /S amojlov /S uprun , Petr I v Caricyne, 104.

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von Bastionen in Form regelmäßiger Fünfecke schuf neue Maßstäbe und ließ ihn zum Schöpfer des ‚eisernen Gürtels‘ (enceinte de fer) für die Außengrenzen Frankreichs werden.185 Auch der K ­ aiser versuchte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit dem Bau eines neuen Befestigungssystems zu s­ chützen. Er beauftragte den Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden-­Baden (1655 – 1707), wegen seiner Verdienste im Krieg gegen die Osmanen auch ‚Türkenlouis‘ genannt, das Reich gegen die im Rahmen des spanischen Erbfolgekriegs vorrückenden Franzosen zu verteidigen. Der Markgraf ließ für diesen Zweck z­ wischen 1692 und 1701 ein ausgedehntes defensives Befestigungssystem am Oberrhein bauen. Es integrierte ältere Befestigungen aus dem Mittelalter und dem Dreißigjährigen Krieg in eine ‚Linie‘ von miteinander verbundenen Schanzen. Von Nord nach Süd erstreckten sich diese ‚Schwarzwaldlinien‘ im Verbund mit den angrenzenden ‚Eppinger‘ und ‚Bühl-­ Stollhofener Linien‘ (später durch die ‚Ettlinger Linie‘ ersetzt) immerhin auch über eine Länge von 200 Kilometer.186 Zar Peter I. ließ vermutlich mit Blick auf diese mittel- und westeuropäischen Festungslinien auch für Verhauwälle im Russländischen Reich den Begriff Linija einführen, zumal die russländischen Wälle mit Hilfe ausländischer Ingenieure ähnlich kunstvoll gebaut wurden und durch den zunehmenden Einsatz von offenen und geschlossenen Schanzen den westeuropäischen in nichts mehr nachstanden.187 Im Gegensatz zu den Wällen im Russländischen Reich aber war es dem französischen ‚eisernen Gürtel‘, allen badischen Linien sowie auch der Weißenburger Linie in Mittelfranken und der Brabanter Linie in den Niederlanden gemeinsam, dass sie fast ausschließlich zur Verteidigung eingesetzt wurden, zumeist wenige Jahre nach den Kriegen ihre Bedeutung verloren und als Bauwerke verfielen.188

185 W olfe , Walled Towns and the Shaping of France, bes. 149 – 155. 186 P lassmann , Krieg und Defension am Oberrhein. 187 Auch vor dem 18. Jh. gab es den Terminus linija, aber erst in der petrinischen Zeit wurde er eingeführt, um damit jene Ketten von aneinandergereihten militärischen Bauten zu bezeichnen, die in gleicher Weise zur Verteidigung und Expansion eingesetzt wurden. Vgl. Slovar’ Russkogo Jazyka XI ‒XVII vv., Bd. 8, 236; Slovar’ Russkogo Jazyka XVIII veka, Bd. 11, 180 – 181. – Zum Niveau russländischer Ingenieurskunst im Festungswesen Anfang des 18. Jh. L askovskij , Materialy dlja istorii inženernogo iskusstva, Bd. 3; F riman , Istorija Kreposti, Bd. 1, bes. 62 – 77; O gurcov , Tipologičeskaja klassifikacija russkich ukreplenij. 188 P lassmann , Krieg und Defension. – Die holländischen Festungsanlagen, die als Verteidigungsring für Holland, Zeeland, Friesland und Utrecht dienten, spielten vor allem Anfang des 17. Jh. eine große Rolle. I srael , The Dutch Republic, 262 – 267. – Vaubans Konzeption von Festungen enthielt zwar auch die Möglichkeit, als Basis für offensive Operationen auf Feindesland zu dienen. Damit war aber weniger die Expansion intendiert als vielmehr die erfolgreichere Abwehr des Feindes. G uerlac , Vauban, 45.

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Abb. 12: Modelle von Schanzen, Redouten und Festungen entlang der sibirischen Linie im 18. Jahrhundert aus Archivunterlagen

Auch aus dem Kontext anderer europäischer Imperien, s­ eien es Überseeimperien oder Kontinentalreiche wie das Osmanische Reich, ist die Methode, Festungs­ linien zur Einverleibung neuer Gebiete einzusetzen, nicht bekannt. Zwar spielten bei der spanischen, britischen und französischen Kolonisierung Amerikas Forts als Militär- und Handelsstützpunkte eine wichtige Rolle.189 Im Osmanischen Reich kamen seit dem 16. Jahrhundert Festungen eine elementare Bedeutung zu (to stamp sovereignty onto contested regional space)190. Doch nach Beispielen von dauerhaft angelegten Wällen, mit denen die Festungen untereinander verbunden und die territoriale Expansion linienförmig vorangeschoben wurde, sucht man vergeblich. Erst recht einzigartig erscheint globalgeschichtlich der Einsatz von Festungslinien, um mit ihnen Herrschaftsräume so zu ordnen, dass die in ihnen lebenden, bereits nominell unterworfenen ethnischen Gruppen auch faktisch bezwungen und kolonialisiert werden konnten. In ­diesem Sinne bildete die Caricyn-­Linie mit ihren gravierenden Wirkungen für Nomaden wie die Nogai-­Tataren und Kalmücken nur den Auftakt. Mit 189 C hartrand /S pedaliere , The Forts of Colonial North America; H art , Forts on the Frontier; Q uesada /W alsh , Spanish Colonial Fortifications; S totz , Outposts of the War for Empire. 190 B rummett , The Fortress, 32.

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der 1730/1731 erfolgten Vorverlegung der achtzig Jahre zuvor errichteten alten Transkama-­Linie nach Süden wurde die Politik, angestammte Siedlungsräume nach russländischen Interessen neu zu gliedern, auf die Spitze getrieben. Bis Ende der 1720er Jahre hatte es mit Ausnahme der russländischen Garnisonsfestung Ufa und wenigen anderen isolierten Forts im baschkirischen Siedlungsraum z­ wischen der Wolga und dem Samara-­Fluss im Westen sowie dem Ural-­Fluss im Süden keine russländische Präsenz gegeben. Schon für Vasilij Nikitič Tatiščev, damals Leiter der Ural-­Bergwerke, war diese Unterpräsenz angesichts baschkirischer Aufstände ein unhaltbarer Zustand. Um den baschkirischen Unruhen Einhalt gebieten zu können, forderte er schon 1724 in einem Schreiben an das Kabinett ein strategisches Vorgehen: Um zu verhindern, dass sie [die Baschkiren] in die Steppen weglaufen und mit anderen Steppenvölkern sich zusammenschließen und keine Gelegenheit mehr haben, Übles anzurichten, wäre es geeignet, nach dem Vorbild von Zar Ivan Vasil’evič [gemeint war Zar Ivan IV.] vorzugehen, der die Kazaner Tataren mit dem Bau verschiedener Städte entlang des Kama und Vjatka-­Flusses umgab, die es dort auch heute noch gibt, womit, wie mir scheint, man diese umschließen könnte.191

Auch wenn Tatiščev seinen Vorschlag in eine Tradition der Politik von Zar Ivan IV. nach dessen Eroberung von Kazan im 16. Jahrhundert zu stellen versuchte, so konnte dieser Rekurs nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wille zur t­ erritorialen Gestaltung im frühen 18. Jahrhundert eine gänzlich andere Dimension angenommen hatte als noch anderthalb Jahrhunderte zuvor. Der Gedanke, durch Siedlungsprogramme Expansion sowohl zu festigen als auch voranzutreiben, hatte sich keines­wegs geändert. Der Wille aber, wie er von Tatiščev und seinen Zeitgenossen weiterentwickelt wurde, die bereits inkorporierte, aber noch ‚Unruhe‘ stiftende baschkirische Bevölkerung durch verbundene Festungen zu „umschließen“, sie durch den Bau von Befestigungslinien inmitten ihrer Siedlungsräume endgültig zu „befrieden“, war neu. Die anti-­baschkirische Stimmung in der Zarenadministration wurde zudem noch durch einen Vermerk des Kazaner Gouverneurs Artemyj Petrovič ­Volynskij von 1730 geschürt. Volynskij machte die Baschkiren als einen inneren Feind aus, der schon seines muslimischen Glaubens wegen dezimiert werden müsse.192

191 Predstavlenie načal’nika Glavnogo Pravlenija Sibirskich i Kazanskich kazennych zavodov Vasilija Nikitiča Tatiščeva v Kabinet o pričinach baškirskich volnenij i o merach dlja ulučšenija upravlenija baškirami. In: MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 545 (1724), 481 – 483. 192 Zapiska o baškirskom voprose v Rossijskoj imperii i o nailučšich sposobach ego razrešenija, sostavlennaja kazanskim gubernatorom A. P. Volynskim. In: MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 134 (1730),

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Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung als russländischer Gesandter in Persien warnte Volynskij davor, den Fehler des persischen Staates zu wiederholen und in seinem Inneren räuberische ethnische Gruppen gedeihen zu lassen, die dann nur auf einen Moment von Schwäche warteten, um über den eigenen Staat herzufallen. Volynskij brachte zwar noch nicht den Gedanken der Umzingelung auf, wohl aber die Idee, die Baschkiren durch einerseits hohe Abgaben sowie andererseits durch russländische Truppen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft derart in die Enge zu treiben, dass sie sich aus Angst mit der Zeit entwaffnen und allgemein schwächen ließen. Aber auch darauf, dass dies gelinge, könne er, Volynskij, sich nicht vollständig verlassen, „nicht nur, weil es [das baschkirische Volk] ein wildes und ungezähmtes Volk ist (dikij i neobuzdannyj narod), sondern auch einem unterwürfigen [Volk] würde ich [Volynskij] nicht ohne Widerstand geeignete und bewohnbare Gebiete überlassen“.193 Diese Auffassung, „geeignete und bewohnbare Gebiete“ nicht den Baschkiren zu überlassen, teilte auch Zarin Anna, die 1730 zur Zarin gekrönt wurde. Von ihrer Regierung, insbesondere von ihrem engen Berater Burkhard Christoph Graf von Münnich (1683 – 1767), der selbst aus früheren Zeiten als Ingenieur der französischen Armee sowie im Rahmen des Spanischen Erbfolgekrieges auf Seiten von Hessen-­Darmstadt die westeuropäischen Linienbauten gut kennengelernt hatte, gingen die nächsten entscheidenden Impulse gegenüber den Baschkiren aus.194 Nach einer umfassenden Analyse der als schwach empfundenen Sicherheitslage russländischer Grenzsiedlungen östlich der mittleren Wolga mahnte die Regierung im Sinne Tatiščevs und aus Sorge vor einem möglichen Zusammenschluss der verschiedenen Steppenvölker neue Festungsbauten an.195 Im Februar 1731, zwei Jahre, nachdem von Münnich zum Generalfeldzeugmeister und Generalingenieur ernannt worden war und damit sowohl die Artillerie als auch das Ingenieurwesen in seinen Händen hielt, gab der Senat die Anweisung, eine neue Transkama-­Festungslinie 302 – 306. 193 Zapiska o baškirskom voprose, MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 134 (1730), 305 f. 194 Burchard Christoph Reichsgraf von Münnich gehört zu jenen Akteuren, die mit ihrem Lebensweg die Europäisierung russländischer Politik unter Peter I. verkörperten. Nach seinen französischen, hessischen und späteren kursächsischen Erfahrungen trat er 1721 als Ingenieurgeneral in den Dienst der russländischen Armee, wurde noch von Peter I. zum Generalleutnant befördert und 1729 Gouverneur und Statthalter von St. Petersburg. Zarin Anna ernannte ihn bereits 1730 zum Vizepräsidenten des Militärkollegs, von 1731 bis 1740 war er Kabinettsminister, ab 1732 Präsident des Militärkollegs sowie Generalfeldmarschall. B erg , Burchard Christoph Reichsgraf von Münnich. – Auch von Münnichs Zeitgenossen General Weisbach, Kommandeur des Ukrainischen militärischen Korpus, ist bekannt, dass ihm die Linienbauten Vaubans ein Vorbild waren und er vermutlich vor d­ iesem Hintergrund den Bau der „Ukrainischen Linie“ initiierte. S kal ’kovskij , Chronologičeskoe obozrenie; P etruchincev , Carstvovanie Anny Ioannovny, 128. 195 P etruchincev , Carstvovanie Anny Ioannovny, 128; S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija, 18.

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zu bauen.196 Neues Land sollte erworben und für dessen Sicherheit vor baschkirischen Überfällen gesorgt werden. Geheimrat Fedor Naumov, der begleitet von einem Expeditionsteam mit der Detailplanung beauftragt worden war, regte an, die Linie an Stelle des bisherigen Verlaufs quer durch baschkirischen Landbesitz zu verlegen.197 Generalleutnant Vladimir Petrovič Šeremet’ev, der jüngere Bruder des s­ päter bekannt gewordenen Feldherrn, mit der Sicherheit im Kazaner Gebiet beauftragt, zeigte sich alarmiert. Ihm war die Brisanz des in dieser Form bislang beispiellosen Vorgehens wohl bewusst. Vehement wehrte er sich gegen Naumovs Idee, die Linie quer durch das Transwolga-­Gebiet zu führen, warnte vor den seiner Meinung nach unkalkulierbaren Folgen und warb für einen Alternativplan. Es sei unmöglich, so Šeremetev, die Linie durch die Steppe zu führen, ohne die Ländereien der Baschkiren zu berühren. Die Baschkiren aber würden nicht nur den Bau der Festungslinie, sondern sogar schon deren anvisierte Begutachtung, Vermessung und Beschreibung des Territoriums, das sie bislang als das Ihrige ansahen, scharf attackieren. Die Stabilität des ganzen Gebiets aber, so Šeremetev, hänge von den Baschkiren ab.198 Der Disput ­zwischen den beiden Verantwortlichen machte eines deutlich: Die russländische Seite war sich der Provokation sehr wohl bewusst, die darin bestand, einen Wall von der Festung Sergievsk nach Menzelinsk quer durch den Siedlungsraum einer dem Reich nominell bereits seit langem unterworfenen ethnischen Gruppe zu verlegen. Längst ging es nicht mehr nur darum, die Gefahren der Expansion für die russländischen Siedlungen zu minimieren. Im Gegenteil: Der massive baschkirische Widerstand gegen den geplanten Linienbau, die zu erwartenden Unruhen und Überfälle auf russländische Dörfer wurden vorausgesehen und bewusst einkalkuliert. Als Leiter der ‚Expedition‘ zur Errichtung der Linie konnte sich Naumov durchsetzen. Aus imperialer Sicht sprach viel für den Bau. Die Verlegung der Transkama-­Linie in erkennbar nicht ‚leeres‘ Gebiet war zudem kein Präzedenzfall, sondern folgte dem Beispiel der Caricyn-­Linie. Auch hatte Naumov ein massives Eigeninteresse am Bau, da er selbst beabsichtigte, „Steppengrasländereien“ für sich günstig zu erwerben.199 Die Prophezeiungen der Kritiker aber erfüllten sich. Schon bei der Festlegung des genauen Linienverlaufs und den dafür notwendigen Landbegutachtungen kam

196 197 198 199

D ubman , U istokov Zakamskoj Ėkspedicii, 30; S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija, 21. D ubman , Načalo rabot Zakamskoj Ėkspedicii, 32. D ubman , Načalo rabot Zakamskoj Ėkspedicii, 34. Tatsächlich konnte Naumovs Familie mit dem günstigen Erwerb von mehr als 18.000 Desjatinen brach liegenden Steppenlandes und seinem Verkauf vierzig Jahre ­später einen gewaltigen Gewinn verbuchen. S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija, 21.

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es zu Auseinandersetzungen, wenn auch bei weitem nicht nur mit den Baschkiren. Plötzliche Überfälle der Kalmücken und Karakalpaken bereiteten der Transkama‚Expedition‘ erhebliche Probleme.200 Die zum Schutz der Mess- und Bauarbeiten abgeordneten Regimenter erhielten die Anweisung, Kalmücken und Karakalpaken von dem geplanten Linienverlauf und den dahinter begonnenen russländischen Siedlungsbauten fernzuhalten.201 Auf der Grundlage einer ersten Projektzeichnung wies der Regierende Senat im Juli 1731 Naumov an, die Festungen der neuen Transkama-­Linie so zu bauen, dass vorhandene baschkirische Behausungen nicht angerührt, sondern diese vielmehr „von dem Linienverlauf und den Festungen umschlossen sein würden“.202 Der neue Kazaner Gouverneur Michail Vladimirovič Dolgorukov wurde beauftragt, mit Gesprächen beschwichtigend auf die baschkirischen Ältesten einzuwirken und ihnen zu versichern, dass der Bau der Transkama-­Linie in keiner Weise ihren Inte­ ressen zuwiderlaufe.203 Zudem drang der Senat darauf, sie während der Bauarbeiten zu ihren Weide- und Nutzflächen durchzulassen, um sie ja nicht zu beunruhigen.204 Mit massiver Truppenunterstützung gelang es der russländischen Seite, alle Messungen für die Planung der 240 Kilometer langen neuen Transkama-­Linie 1731 abzuschließen, 1732 mit dem Bau zu beginnen und den Linienverlauf 1736 zu vollenden.205 Spätestens zu ­diesem Zeitpunkt aber hatten andere Ereignisse die Bedeutung der Linie in den Hintergrund gedrängt. Zwar war mit dem Bau der Caricyn- und der neuen Transkama-­Linie ein Wandel in der russländischen Gestaltung von Herrschaftsräumen mit großer politischer Tragweite eingeleitet worden. Doch die frisch errichtete neue Transkama-­Linie war noch vor ihrer Fertigstellung bereits dadurch überholt, dass die Kleine Horde der Kasachen, die südlich lebenden nomadischen Feinde und Nachbarn der Baschkiren, aufgrund steppenpolitischer Zwänge die russländische Untertanenschaft angenommen hatten. Damit wurden völlig neue Fragen für die Ordnung der zarischen Peripherie aufgeworfen. Die bevorzugte Form für die Planung und Durchführung einer Neuordnung war die militärisch-­wissenschaftliche ‚Expedition‘ (ėkspedicija),

200 D ubman , Načalo rabot Zakamskoj Ėkspedicii, 35. 201 D ubman , U istokov Zakamskoj Ėkspedicii; D ubman , Načalo rabot Zakamskoj ėkspedicii, 35 – 36. 202 Senatskij, po donošenijam Tajnago Sovetnika Naumova. O postroenii krepostej po za-­Kamskoj linij i o sredstvach k privideniju cih rabot v okončanie. In: PSZRI Bd. 8, Nr. 5808 (27. 7. 1731), 517 – 518, hier 518; D ubman , Načalo rabot Zakamskoj Ėkspedicii, 39. 203 D ubman , Načalo rabot Zakamskoj Ėkspedicii, 39. 204 D ubman , Zakamskaja ėkspedicija i stroitel’stvo, 10. 205 D ubman , Načalo rabot Zakamskoj Ėkspedicii, S. 37. – Der gestiegenen Bedeutung des Baus von Festungen und Linien wurde 1732 mit der Gründung einer eigenen Kanzlei für die Hauptartillerie und Befestigung (Kanceljarija Glavnoj artillerii i fortifikacii) Rechnung getragen. S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija, 20; D ubman , U istokov Zakamskoj Ėkspedicii, 28.

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wie sie bereits für die Konzipierung der Transkama-­Linie zusammengestellt und von Tatiščev als ein „außergewöhnliches Unternehmen zu Wasser oder zu Lande“ definiert worden war, das einem „talentierten Offizier“ anvertraut und gewöhnlich von Truppen begleitet wurde.206 In der Praxis führten derartige Expeditionen fast immer sowohl wissenschaftliche als auch politische Aufträge aus, die von der Beschreibung von Flora, Fauna und Menschen über die Beanspruchung neuer Ländereien bis hin zur Kartographierung neuer Häfen und Handelsplätze und zur Organisation von Kolonisation reichen konnte.207 Was die Leiter der neu gebildeten ‚Orenburger Expedition‘ (sowie anschließend die ersten Gouverneure des Orenburger Gouvernements) nun in enger Abstimmung mit der Zentrale an Linienbauten planten und umsetzten, ließ alle vorherigen Befestigungsbauten verblassen.

Vom Kaspischen Meer bis zum Altaj-Gebirge Ausschlaggebend für die neuen Pläne waren die Visionen Ivan Kirilovs, des bereits erwähnten einstigen Vertrauten Peters I. Ihm ging es bei seiner ‚Expedition‘, zu der er im Auftrag von Zarin Anna 1734 in die Gegend des mittleren Jaik-­Flusslaufes aufgebrochen war, um die Realisierung des petrinischen Plans, mit der zu gründenden Stadt Orenburg über die Kasachen „das Tor nach Asien“ aufzumachen.208 Doch schon gleich zu Beginn drohte seine Vision zu scheitern: Kirilov hatte das Ausmaß baschkirischen Unmuts unterschätzt, der sich in den 1730er Jahren – nicht zuletzt aufgrund der neuen Transkama-­Linie und hoher Abgaben – angestaut hatte und sich unter der Drohkulisse, auch noch südlich von neuen russländischen Festungen eingeschlossen zu werden, in einem großangelegten Aufstand entlud.209 Um ein Haar hätte die Zarenregierung trotz des nominell bereits erfolgten Beitritts der Kasachen in die zarische Untertanenschaft das ganze Orenburger Projekt, den Aufbau eines „neuen Russlands“ (novaja Rossija), ad acta gelegt.210 Zu bedrohlich 206 T atiščev , Leksikon rossijskoj istoričeskoj, geografičeskoj, političeskoj i graždanskoj [handschriftl. Original von spätestens 1749], in: Izbrannye proizvedenija, 273. 207 S underland , Imperial Space, 40. 208 Iz zapisi A. Tevkeleva po povodu vyskazyvanija Petra I o privlečenii kazachov v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 24 (1722), 31. 209 Auf einer baschkirischen Versammlung von 1735 äußerten Delegierte ihren Unmut über eine drohende Umzingelung durch das Zarenreich. D obrosmyslov , Baškirskij bunt, 9; T ajmasov , Rol’ Orenburgskoj Ėkspedicii. 210 Kirilov gratulierte am Tag der Stadtgründung von Orenburg (der heutigen Stadt Orsk) der Zarin Anna zum „neuen Russland“ und machte Hoffnungen auf ein Land, das „reich an Metallen und Mineralien“ sei. Mit dem Hinweis auf das „neue Russland“ eignete sich Kirilov noch lange vor der Gründung eines Gouvernements mit der Bezeichnung ‚Neurussland‘ unter Katharina II. den

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wirkten die baschkirischen Rebellionen, zu kraftlos das Russländische Reich an seiner Südostflanke.211 Vor dem Hintergrund dieser kritischen Situation machte Kirilov aus der Not eine Tugend und entwickelte die mit der Caricyn- und Transkama-­Linie begonnene neue Strategie weiter fort. Auch wenn sein ursprüngliches Konzept gescheitert war, das frisch gegründete Orenburg sowie weitere geplante Forts über eine Versorgungsroute, die quer durch Baschkirien hätte verlaufen sollen, abzusichern, so kam er jetzt auf den Gedanken, durch den Bau neuer Festungslinien entlang des Samara und damit südlich Baschkiriens sein Projekt doch noch zu einem Ende zu führen. Die Fortführung der Transkama-­Linie bis zu dem Punkt, an dem der Samara den damals noch Jaik, ­später Ural genannten Fluss erreichte, bedeutete, die Baschkiren auch vom Südwesten her einzuschließen und sich damit sowohl im Norden als auch im Süden gegen ihre Überfälle abzusichern. Wenn es gelinge, so schrieb Ivan Kirilov 1736 an den Universalgelehrten und Direktor der Ural-­Bergwerke Vasilij Tatiščev (1686 – 1750), die drei Versorgungswege nach Orenburg mit vielen Redouten und Festungen abzusichern, „dann wird sich nicht nur an den neuen Orten friedlicher leben lassen, sondern auch die alten, stets aufständischen Baschkiren werden wie innerhalb von Wänden friedlicher leben“.212 Auch Tatiščev sah in dem von Kirilov geplanten Ausbau der Festungslinien das geeignete Mittel, um Gehorsam zu erzwingen, und unterstützte die einschneidende Wende in der russländischen Politik gegenüber den Baschkiren.213

europäischen Kolonialstil in Analogie zur Ausrufung von ‚Neuspanien‘ oder ‚Neuengland‘ an. Donošenie I. K. Kirillova v Kabinet ob ispokaemych bogatstvach okrestnostej g. Orenburga. In: MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 551 (16. 8. 1735), 497 – 498, hier 497; S underland , Taming the Wild Field, 47. 211 S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija, 25. 212 Pis’mo I. K. Kirilova V. N. Tatiščevu o stroitel’stve ukreplennoj linii ot Tečenskoj slobody do r Jaika i polnom prekraščenii vosstanija. In: MpiB Bd. 6, Nr. 90 (12. 5. 1736), 165 [kursiv von R. V.]. – Als eine Redoute (vom mittelalterlichen reductus, ein Ort der Zurückgezogenheit) bezeichnet man im Festungsbau eine geschlossene Feldschanze, die nach allen Seiten von gleich starken Brustwehren umgeben ist und vorspringende Winkel aufweist. 213 Iz’’jasnenie V. N. Tatiščeva na sdelannoe im predloženie. In: MpiB Bd. 6, Nr. 176 (zw. 2. – 10. 11. 1736), 303 – 304, hier 304. – L. Tajmasov hat überzeugend herausgearbeitet, dass mit der Gründung der Orenburger Expedition zunächst noch kein Festungsliniensystem an der südlichen Grenze Baschkiriens angedacht worden war. Die Idee der Umzingelung entstand erst durch den baschkirischen Widerstand. Die Durchdringung der kasachischen Steppe ist damit im engen Zusammenhang mit dem Ende einer kooperativen Politik gegenüber den Baschkiren zu sehen. Die Wende drückte sich im Erlass vom 11. 2. 1736 aus, der die Enteignung baschkirischer Ländereien vorsah. Diese Enteignung brach mit dem seit Jahrhunderten für die Baschkiren geltenden Privileg auf die Unverletzlichkeit ihres Landeigentums. T ajmasov , Rol’ Orenburgskoj Ėkspedicii, 147 – 148.

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Abb. 13: Die Umkreisung baschkirischer Siedlungsgebiete durch die Transkama und Orenburger Festungslinien, 1736 – 1743

Damit kam die durch Festungslinien geprägte Ordnung der frontier erst so richtig in Fahrt. Kirilov und sein Nachfolger Tatiščev im Amt des Leiters der ‚Orenburger Expedition‘ sorgten für den Bau von rund 25 Festungen und dazwischenliegenden Wällen.214 Diese machten nicht Halt an den Quellen des Samara-­Flusses, sondern wurden auch entlang des gesamten Ural-­Flusses bis zu dessen nördlichen Quellen fortgesetzt. Schon für die Gründung Orenburgs hatte Kirilov damit geworben, dass dessen Lage genau ­zwischen dem baschkirischen und dem kasachischen Siedlungsraum liege und außerdem noch die Wolga-­Kalmücken von den Baschkiren trennen könne – wohlgemerkt alles Untertanen des Reiches.215 Mit der Fertigstellung der Orenburger Linie war daher nicht nur die Umzingelung der Baschkiren im Südosten und Osten perfekt. Darüber hinaus konnten mit ihr auch die neu beigetretenen Kasachen in ihren Bewegungen Richtung Norden gehindert und zunehmend unter russländische Kontrolle gebracht werden.216

214 S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija, 26 – 76; A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 122 – 138. 215 D onnelly , The Russian Conquest, 60 f. 216 Es sei „nützlich“, so heißt es in einem Erlass von 1743, wenn kasachische Notabeln nahe der Linien lebten und sie damit zunehmend „im Griff zu haben“ (pod rukami imet’). Senatskij. O postroenii Jaickim kazakam dvuch gorodkov, i o presečenii vorovskich nabegov proizvodimych Kirgiz-­Kajsakami i Kalmykami. In: PSZRI Bd. 11, Nr. 8720 (8. 8. 1743), 787 – 791; K raft ,

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Tatiščevs Nachfolger als Leiter der ‚Orenburger Expedition‘, Ivan Ivanovič Nepljuev (1693 – 1773), der zugleich zum ersten Orenburger Gouverneur ernannt werden sollte, setzte die Politik der Einkreisung jetzt gegenüber den Kasachen fort. Der Bau weiterer Festungslinien fügte sich in seinen Generalplan, den er zusammen mit Generalmajor Stokman im Januar 1744 dem Senat vorlegte und der von ­diesem in allen Punkten gebilligt wurde.217 Darin machte Nepljuev deutlich, dass im vergangenen Jahrzehnt alle nur denkbaren gewaltlosen Mittel zur ‚Beruhigung‘ der Kasachen zum Einsatz gekommen s­ eien, Letztere sich dadurch jedoch nicht hätten ‚beruhigen‘ lassen. Aufgrund ihrer „unbeständigen Natur“ (po ich nepostojanstvu) sei es daher notwendig, einen Plan in der Tasche zu haben, wonach im Falle von kasachischen Überfällen auf russländische Siedlungen die gebührende Vergeltung verübt werden könne, ohne dass die Kasachen ihrerseits die Möglichkeit hätten, sich zu rächen.218 Als Basis für eine „gebührende Vergeltung“ in Form bewaffneter Strafexpeditionen (poiski) kamen in erster Linie die Festungslinien in Frage.219 Sie machten es nicht nur militärisch leichter zu umzingeln, sondern konnten auch als gesicherte Rückzugslinien dienen.220 Gouverneur Nepljuev sorgte in den 1740er Jahren mit weiteren neun Festungen für den Ausbau der Orenburger Linie im Westen (Jaiker Linie) und erreichte im Osten durch die Vollendung der bereits von Kirilov begonnenen Ujsker Linie den Tobel.221 Damit waren die Orenburger, Jaiker und Ujsker Linien miteinander verbunden und umfassten zusammen 114 befestigte Anlagen, die alternierend aus Festungen, Zwischenvorposten oder Redouten bestanden und ­zwischen denen sich Flüsse, Sümpfe und mit Baumstämmen stabilisierte Erdwälle abwechselten.222 Da auch Nepljuevs Nachfolger diese Politik verstetigten, gelang es der Zarenregierung, in den 1760er Jahren eine Gesamtlänge von über 4000 Kilometer aneinander gereihter Festungslinien zu erreichen.223 Diese erstreckten sich Chronologičeskij perečen’ (1731 – 1896) vysočajšich gramot, ukazov i uzakonenij, izd. V period carstvovanija Imper. Elizavety Petrovny, in: Sbornik uzakonenij, 11 (Nr. 39), 350. 217 R yčkov , Istorija Orenburgskaja [1759], 173. 218 O kirgis kasackach. Kniga Aziatskogo departamenta Nr. 21, in: B., Iz istorii Kazachstana XVIII v., 146. 219 Mehr zum Charakter der ‚Strafexpeditionen‘ weiter unten. 220 Detailliert zu den Plänen zur Aufstellung von Militäreinheiten, um die Kasachen bei Vergeltungsmaßnahmen umzingeln zu können, siehe O kirgis kasackach, in: B., Iz istorii Kazachstana XVIII  v. 221 E rofeeva , Chan Abulchair, 261 – 262; A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 130 – 131. 222 Eine Aufstellung sämtlicher Festungen und Redouten, angefangen vom Kaspischen Meer entlang des Jaik zum Uj, Tobol bis hin zu den sibirischen Vorposten findet sich in der Arbeit des Zeitgenossen R yčkov , Istorija Orenburgskaja [1759], 176 – 181. 223 Grundlegend zu den Festungslinien im 18. Jh. L askovskij , Materialy dlja istorii inženernogo iskusstva, Bd. 3; Potanin, Materialy dlja istorii Sibiri, 1 – 53; Slovcov, Istoričeskoe obozrenie Sibiri, Bd. 2; Usov, Statističeskoe opisanie; Stebelsky, The Frontier in Central Asia, bes. 149; Apollova,

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Abb. 14: Die Orenburger Festungslinie (vom Kaspischen Meer bis zum Altaj-­Gebirge) trennt Kalmücken und Baschkiren von den Sommersiedlungsgebieten der Kleinen, Mittleren und Großen Horde der Kasachen. 2. Hälfte 18. Jahrhundert

vom Kaspischen Meer über den Fluss Jaik (Ural) entlang der westsibirischen Ebene bis nach Omsk und von dort entlang des Irtyš bis zu den nördlichen Ausläufern des Altaj-­Gebirge in Kuzneck.224 Sogar noch jenseits der Saja-­Berge im Osten wurden Rudimente einer weiteren Linie konzipiert, die Irkutsk mit Selenginsk und Nerčinsk verbinden und damit feindlichen Annäherungen an den Bajkal-­See vorbeugen sollten – freilich nicht mehr in einer vergleichbaren Dichte von Festungen wie entlang der zentralasiatischen Steppe.225 Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 132. – Die imponierende Länge darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wälle unterschiedlich dicht waren und nicht alles von dem gebaut wurde, was nach Papierlage geplant worden war. Laskovskij erklärt die Kluft ­zwischen „Soll“ und „Ist“ an Festungsbauten mit dem Diensteifer im Schriftverkehr der Zeit einerseits und den ungenügenden finanziellen Mitteln andererseits. Laskovskij, Materialy dlja istorii inženernogo iskusstva, 278. 224 Die drei Linien, die sich an der Südgrenze Westsibiriens aneinanderketteten, waren die Irtyšer Linie (1745 – 1752), die Tobol-­Išim-­Linien (1752 – 1755) sowie die Kolyvan-­Kuznecker Linie (1747 – 1768). M uratova , Na straže rubežej Sibiri, bes. 45 – 101. 225 L e D onne , Building an Infrastructure, 589.

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Eine umfassende Studie steht noch aus, die sich mit sämtlichen südöstlichen Linienplanungen und Bauten des 18. Jahrhunderts befasst. In ihr müssten Analysen der Ausmessungs- und Bauarbeiten angesichts zunächst nicht vorhandener Karten genauso einen Platz finden wie jene von Fehlplanungen, mangelhafter Versorgung der Arbeiter sowie der Widerstände in den eigenen wie in den Reihen von Baschkiren, Karakalpaken und Kasachen verschiedener Horden. Desertierende Kosaken und als Arbeiter eingesetzte Soldaten, fehlendes Material, Kälte, Hitze und Hunger, mangelnde Bereitschaft von Anwohnern, die Arbeiter zu versorgen, Trinkwasserengpässe und angreifende Kasachen erschwerten immens die Realisierung von tausenden von Kilometern aneinandergereihter Linienbauten, führten aber nicht zu ihrem Abbruch und konnten deren beabsichtigte Auswirkungen für die Steppennomaden nicht verhindern.226

Das Personal zur territorialen ‚Ordnung‘ der Herrschaftsräume Die größte Herausforderung stellte sich für die Zarenadministration jedoch erst nach Vollendung der Festungslinien ein: Die neue Ordnung erforderte eine dauerhafte Bemannung der Linien, um der mentalen wie physischen Gestaltung der Herrschaftsräume auch in der sozialen Praxis dauerhaft Wirkung verleihen zu können. Sämtliche mit den Linienbauten verbundenen Ziele, angefangen von der Schutzfunktion über jene der Einkreisung, der Ausgangsbasis für Strafexpeditionen bis hin zur fortschreitenden Expansion bedurften einer ausreichenden Ausstattung mit einem ständig einsetzbaren und militärisch geschulten Personal. Im 17. Jahrhundert hatte die Zarenregierung entlang der Linien militärische Kolonien von ‚Einhöfern‘ (odnodvorcy) gebildet, die gegen die Ableistung von Grenzwachdiensten mit einem Stück Land (in der Regel nur ein Hof, daher der Name) pro Mann und Familie entlohnt worden waren.227 Ihre Anzahl reichte auch zusammen mit dem Einsatz von hier und da verpflichteten Kosaken für die ständig in der Länge anwachsenden Linienbauten nicht mehr aus. Als Zar Peter I. erstmals

226 Benjuch hat bereits eine Vielzahl von Problemen für die Neue-­Išim-­Linie („Bittere Linie“) heraus­ gearbeitet. B enjuch , „Gor’kaja Linija“; daneben K rivoščekov , Na Orenburgskoj pograničnoj linii; G orban ’, From the History of the Construction of Forts; P roskurjakova , Planirovočnye kompozicii gorodov-­krepostej; S ergeev , Oboronitel’nye sooruženija Kolyvano-­Kzneckoj Linii; M uratova , Na straže rubežej Sibiri. – Die schwerwiegenden Folgen der Linienbauten, die Landknappheit, das Viehsterben, die Verarmung und der Verlust vertrauter Siedlungsräume sind beständige ­Themen in den Dokumenten der Bände KRO Bd. 1, KRO Bd. 2, KabRO Bd. 1 – 2 sowie in MpiK SSR Bd. 4, MpiB ASSR Bd. 1 – 5 und in MpiB Bd. 6. 227 V ažinskij , Zemlevladenie i skladyvanie obščiny odnodvorcev; T kačeva , Iz istorii odnodvorcev; E sper , The Odnodvortsy; F erguson , Russian Landmilitia.

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unter allen Bevölkerungsschichten Rekruten aushob, kam es zwar zu einer massenhaften Vergrößerung der regulären Truppen.228 Doch die vermehrte Soldatenzahl wurde vollständig durch den Bedarf absorbiert, die sämtliche Kriege einforderten, die der Zar führte und die es nicht zuließen, noch die Linien aus den Reihen der regulären Truppen zu bemannen. Zudem verschlang die Unterhaltung und Verpflegung von regulären Militärkräften, die an die Linien versetzt wurden, Unsummen an Geld. Ihre schwere Ausrüstung eignete sich nicht für den Liniendienst, war zu teuer und zu unbeweglich.229 Vor d­ iesem Hintergrund griff Peter I. zu zwei neuen Maßnahmen. Zum einen bildete er nach 1713 aus dem Kreise der Einhöfer sogenannte Landmilizenregimenter (landmilickie polki), die fortan in neuer und erweiterter Formation ihren Dienst entlang der Linien zu leisten hatten.230 Zum anderen befahl er mehreren Fünfhundertschaften-­Kommandos der Don-­Kosaken, Wachdienst an der 1720 fertiggestellten Caricyn-­Linie zu leisten, wenn auch vorerst jeweils nur für ein Jahr und ergänzt um reguläre Garnisonsoldaten.231 Dieser Schritt war der Beginn einer mit den Linienbauten verbundenen Praxis neuen Ausmaßes, große Menschengruppen, und hier vor allem die Kosakenbevölkerung, zwangsweise um- bzw. an neuen, liniennahen Orten anzusiedeln.232 Von dieser neuen Methode sollte ab Ende der 1730er Jahre noch weit umfassender Gebrauch gemacht werden. Zwar hatte die Zarenadministration bereits seit Jahrhunderten in Grenzstädten und an Grenzverhaulinien Dienst- oder Stadtkosaken, freie Kosaken oder Dienstleute zum Grenzschutzdienst verpflichtet.233 Sie wurden besoldet, erhielten wie die Einhöfer 228 Peter I. ließ z­ wischen 1699 und 1725 insgesamt mehr als 280.000 Männer neu in die Armee eingliedern. W ittram , Peter I., Bd. 2, 9; Ėnciklopedičeskij slovar’, Bd. 27 [1899], 172 – 173. 229 So urteilten zum Beispiel die kundigen Berater Tevkelev und Petr Ryčkov, dass die russländischen regulären Truppen den wendigen Kasachen auf ihren schnellen Pferden unterlegen ­seien (nesposobny protivu takogo legkogo i vetrenago naroda). Predstavlenie general-­majora A. ­Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 587. 230 Unter Zarin Anna wurde der Dienst der Landmilizen zum Bau wie zur militärischen Erhaltung der Ukrainischen Festungslinie noch erheblich ausgeweitet und belastete besonders die Einhöfer schwer. F erguson , Russian Landmilitia, 138 – 158; P etruchincev , Carstvovanie Anny Ioannovny, 128 – 131. 231 Lavrinova, Caricynskaja linija, 15 – 18; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 49 – 50; G usev , ­Poselenie na Volge, 3. – Für eine dauerhafte Ansiedlung der Don-­Kosaken entlang der Caricyn-­Linie sowie deren alleinige Übernahme der Linienbewachung fehlte es Peter I. noch an Vertrauen zu ihnen. Zunächst soll er sogar angewiesen haben, gar keine Kosaken, sondern nur Dienstleute an der Caricyn-­Linie anzusiedeln. R jabov /S amojlov /S uprun , Petr I v Caricyne, 108 – 109. 232 Auf diese Praxis griffen die zarischen Behörden in den 1730er und 1740er Jahren auch im Zuge der Missionierungsmaßnahmen zurück. Vgl. Kap. 4.3. 233 Seit dem 16. Jahrhundert tauchen in den Quellen neben „freien Kosaken“ auch „Dienstkosaken“ auf. Die Kategorien sind nicht trennscharf auseinanderzuhalten. Beide Kosakenformen dienten dem Moskauer Staat als Grenzposten, Kundschafter und Kuriere, beide kämpften in Moskauer

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im 17. Jahrhundert ein kleines Grundstück, wurden persönlich freie Dienstleute, die keine Abgaben bezahlen mussten und unterstanden direkt der Moskauer Regierung.234 Mit ihnen hatte man jedoch keine starken, lokal gebundenen Heere geschaffen.235 Auch unterlagen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts die historisch gewachsenen freien Kosakengemeinschaften, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert entlang der großen Flüsse Dnjepr, Terek und Jaik siedelten und aufgrund ihrer ‚Wildheit‘ und ihrer militärischen Fähigkeiten gleichermaßen umworben wie gefürchtet wurden, noch keiner wirkungsmächtigen russländischen Kontrolle.236 Dies sollte sich Anfang des 18. Jahrhunderts ändern. Mit der gewaltsamen Eingliederung der Dnjepr-­Kosaken nach dem Seitenwechsel von Hetman Mazepa im Zuge des Nordischen Krieges sowie der Niederschlagung des Bulavin-­Aufstandes von 1707 bis 1709 bei den Don-­Kosaken hatte Peter I. bereits den Willen gezeigt, den Staatsausbau voranzutreiben und die organisch gewachsenen und unzuverlässig erscheinenden Kosakenverbände einer rigiden Aufsicht des russländischen Staates zu unterstellen.237 Mit der Heraustrennung von Don-­Kosaken aus ihrer traditionell gewachsenen Gemeinschaft löste Peter I. 1720 insofern gleich zwei Probleme: Er schwächte einerseits ihren angestammten Siedlungsverband und konnte andererseits kostengünstig die Caricyn-­Linie bemannen. Die Anweisung, jeweils über tausend Don-­Kosaken provisorisch abzukommandieren, war dabei nur der erste Schritt. Ab 1733 ließ man sie mit ihren Familien an der Linie zur dauerhaften Bleibe ansiedeln und 1734 zum Heer der Wolga-­Kosaken ausrufen.238 Nur drei Jahre s­ päter fasste die Regierung unter Zarin Anna auch die Stadtkosaken Astrachans und getaufte und in Astrachan angesiedelte Kalmücken (sowie weitere teils ethnisch, teils sozial verfasste Kleingruppen) zum neuen Verband des Astrachaner Kosakenheeres zusammen, die ihren Dienst als Grenzwächter in Vorposten und Schanzen, als Kuriere, als Begleitung von Postdiensten sowie zum Fischfang entlang der Flusslinie von der Wolga-­Mündung ins Kaspische Meer bis zum Wolga-­Knie nach Caricyn zu leisten hatten.239 Auch sie wurden in einem bis

234 235 236 237

238 239

Heeren gegen die Tataren, das Osmanische und das Persische Reich. K appeler , Die Kosaken, 21 – 22. K appeler , Kosaken, 22. Lediglich das 1658 geschaffene Belgoroder Regiment unter der Kontrolle des Voevoden von Belgorod könnte bereits als Vorläufer bezeichnet werden. Shaw, Southern frontiers of Muscovy, 129. Zu Klischees und Geschichtsbildern, die mit dem Begriff Kosak in Verbindung gebracht werden: K appeler , Kosaken, 7 ff. A. V. Kuryšev spricht von „Verstaatlichung“ (ogosudarstvlenie) der ehemals freien kasachischen Truppen in der petrinischen Ära. K uryšev , Volžskoe Kazač’e Vojsko, 5; B oeck , Imperial Boundaries, bes. 187 – 207; K appeler , Kosaken, 44 – 46. K uryšev , Volžskoe Kazač’e Vojsko, 16 – 46; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 50; G usev , Poselenie na volge, 3 – 12. Š ovunov , Kalmyki v sostave, 50.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

zur petrinischen Ära ungekannten Ausmaß Teil der neuen ‚Ordnungspolitik‘, nach Gutdünken von hier nach da versetzt, um- und angesiedelt, zu neuen ‚irregulären‘ Militärverbänden zusammengeführt und auf den Liniendienst verpflichtet.240 Und selbst das Astrachaner und das Wolga-­Kosakenheer bildeten nur die Speerspitze dieser neuen Politik. Für die Transkama-­Linie wurde 1731 eine Transkama-­ Landmiliz gegründet 241 und auf die Niederschlagung des baschkirischen Aufstands folgte in den Jahren nach der Gründung von Orenburg und dem dazugehörigen Linienbau die Etablierung des Orenburger Kosakenheeres.242 Waren in vorherigen Neugründungen bereits nach ethnischen und sozialen Kriterien verfasste Kleingruppen zum Liniendienst verpflichtet worden, so ragte die Zwangsverpflichtung von Baschkiren (und Meščerjaken, heute: Mišari) für den Dienst entlang der Orenburger Linie ab 1742 besonders heraus. Dies lag sowohl an dem Zeitpunkt ihrer Verpflichtung als auch an dem Charakter ihres Zwangseinsatzes, der allein den Interessen der Zarenregierung diente und jenen der Baschkiren elementar zuwiderlief. Zwar waren baschkirische Einheiten zum Schutz der Grenzen des Moskauer Reiches schon seit ihrer Inkorporation im 16. Jahrhundert eingesetzt worden. Auch hatten sie zuvor für ihren Wachdienst (storoževaja služba) nie ein Gehalt bekommen. Doch nach der blutigen Niederschlagung der baschkirischen Aufstände von 1735 bis 1740, die sich nicht zuletzt gegen die drohende Umzingelung durch Festungslinien und den damit verbundenen Landentzug

240 Als „irreguläre“ Militärkräfte wurden ethnisch (Baschkiren, Mišari, Stavropoler Kalmücken) oder ethnisch-­ständisch (Teptjari) verfasste Verbände außerhalb der allgemeinen Militärstruktur bezeichnet. Sie spiegelten nicht bloß die Vielfalt des Russländischen Imperiums, sondern vor allem seine der Heterogenität folgende, fragmentierte Verfasstheit wider. Auch die Kosaken (z. B. Jaiker, Orenburger) zählten zu den „irregulären“ Militärkräften. Einen Überblick bietet R ­ achimov , Na službe u „Belogo carja“, 28 – 99; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 217. – Die neue Politik gegenüber den Kosaken hatte zur Folge, dass es künftig zwei Typen kosakischer Gemeinschaften gab: jene der seit Jahrhunderten bestehenden und gewachsenen Heere an Dnjepr, Don, Terek und Jaik (Ural) und jene von der russländischen Regierung administrativ verordneten, „erfundenen“ Heere. K appeler , Kosaken, 47 – 48. 241 Landmilizen als angesiedelte reguläre Grenztruppen gab es im Zarenreich von 1713 bis 1775. Der primäre Grund für ihre Etablierung war der Versuch, weniger Ausgaben tätigen zu müssen als für Feldregimenter. Sie entstand, als 1713 in der Hetmanats-­Ukraine Reste verschiedener Truppenformate zu Regimentern zum Schutz der südlichen Grenze zusammengeführt worden waren. Auch für die Neue Transkama Festungslinie war 1731 eigens eine Transkama Landmiliz gebildet worden. R achimov , Na službe u „Belogo carja“, 74. 242 R achimov , Na službe u „Belogo carja“, 71 f.; A minov , Tatary-­kazaki, 36 f. – Das Orenburger Kosakenheer bestand 1755 aus über 16.000 Mann und wurde 1758 mit den anderen Kosakenheeren gleichgestellt. B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 25; K appeler , Kosaken, 47. – Die betont lokale Ausrichtung all dieser neu gegründeten Kosakenverbände führte dazu, dass die Kosaken im 18. und im 19. Jh. keinen übergeordneten Identitätssinn entwickelten. Sie orientierten sich ausschließlich an ihren Regimentern und ihren Dörfern. B arrett , At the Edge of Empire, 188 – 189.

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Abb. 15: Ein Grebener Kosake sucht von seinem Wachturm der Kaukasischen Festungslinie den Horizont ab. Zeichnung aus einem Album von Petr I. Čeliščev, ausgehendes 18. Jahrhundert

gerichtet hatten, war die Lage verändert: Zum einen hatten ohnehin sämtliche, an den Aufständen beteiligten Baschkiren, sofern sie noch lebten, aus russländischer Sicht das seit Jahrhunderten verteidigte Besitzrecht auf ihre angestammten Ländereien verwirkt.243 Zum anderen befanden 1742 der damalige Orenburger Gouverneur Nepljuev und der Vizegouverneur von Ufa, Aksakov, dass die Baschkiren nach ihrer „Befriedung“ nun unter die strenge Kontrolle russländischer Kommandeure zu stellen s­ eien, um sie auf diese Weise künftig „von Eigenmächtigkeit und bösen Vorhaben abzuhalten“.244 Fortan hatten die Baschkiren statt gelegentlicher Wachdienste für Grenzschutzzwecke eine reguläre, berittene Patrouille von 2000 Mann für den Sommerdienst entlang der von ihnen zuvor bekämpften Orenburger Linie sowie eine Reserve von 243 Zapiska Orenburgskogo gubernskogo pravlenija, po voprosam upravlenija raznymi gruppami naselenija Baškiri. In: MpiB ASSR Bd. 5, Moskau-­Leningrad 1960, Nr. 449 (16. 7. 1800), 579 – 585; A kmanov , Zemel’naja politika, 34 – 35; S teinwedel , Threads of Empire, 58. 244 Zapiska Orenburgskogo gubernskogo pravlenija, MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 449, 579.

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2500 Mann zu stellen, und dies ab 1769 auch entlang der Sibirischen Linie.245 Sie mussten selbst für ihre Bewaffnung, die Pferde und ihre Ausrüstung aufkommen, erhielten bis in die 1790er Jahre weder Proviant noch Gehalt, hatten das erste Jahrzehnt trotz ihres halbjährlichen Einsatzes fern von ihren Familien und Verbänden noch monetären jasak zu zahlen und den Dienst zudem gemeinsam mit den ihnen verhassten Meščerjaken zu verrichten.246 Hinter der Verpflichtung zum gemeinsamen Dienst stand das Kalkül, dass sich die wechselseitige Feindseligkeit für die Linienbewachung und damit für die russländische Seite auszahlen werde. Denn mit den Meščerjaken wurden just jene zu ‚Arbeitskollegen‘ der Baschkiren gemacht, die gerade erst von der Zarenadministration dafür eingesetzt worden waren, die baschkirischen Aufstände niederzuschlagen, und die zur Belohnung ihrer Dienste genau die Ländereien erhielten, die zuvor den Baschkiren gehört hatten.247 Beschwerden und Fluchtversuche waren nicht nur hier die Folge. Angesichts von rund 4000 Kilometer langen Linien blieb der Bedarf an geeigneten Leuten zur Bemannung der Festungen und der Einkreisung der Nomaden trotz der von oben geschaffenen Kosakenheere sowie des Einsatzes der Baschkiren und Meščerjaki über das ganze Jahrhundert hinweg ein nicht abreißendes Thema. Der Orenburger Gouverneur Igel’strom machte angesichts der Probleme 1786 sogar den Vorschlag, ob man die Linien nicht wieder verkürzen wolle.248 Zugleich bereitete die Versorgung der Linientruppen nachhaltig Probleme, insbesondere die Trinkwasserversorgung. Entlang des Walls, der z­ wischen den 245 Zapiska Orenburgskogo gubernskogo pravlenija, MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 449, 579 – 585. – Versuche, Baschkiren und Miščerjaki (später Mišari genannt) an der Sibirischen Linie einzusetzen, erfolgten in den 1750er Jahren mehrfach. Regulär wurde der Dienst an der Sibirischen Linie jedoch erst für 1769 festgelegt. Siehe Anm. 1 zu Nr. 507 (23. 4. 1758), in: MpiB ASSR Bd. 4, 604. 246 V asil ’ev , Baškirija v poslednej četverti XVIII veka. In: MpiB ASSR Bd. 5, Moskau 1960, 3 – 20, hier 16 – 17; Zapiska Orenburgskogo gubernskogo pravlenija, in: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 449, 579 – 585; Prošenie baškirskich deputatov Amirchana abyzaeva i Abdullzelilja Sultanova imp. Ekaterine II ob izmenenijach v porjadke nesenija baškirami linejnoj služby i o podtverždenii ich prav na vladenie zemlej. In: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 445 (Sept. 1793), 567 – 568; Predstavlenie ufimskogo namestnika A. Peutlinga general-­prokuroru A. N. Samojlovu s mneniem na prošenie baškirskich deputatov. In: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 446 (4. 1. 1794), 569 – 573; R achimov , Na službe u „Belogo Carja“, 87. – Angesichts der Armut vieler Baschkiren wurde 1754 der monetäre jasak abgeschafft, gleichzeitig aber die Abnahme von Salz zu einem im Rahmen des staatlichen Salzmonopols festgelegten Preis verlangt. Donošenie orenburgskogo gubernatora I. I. Nepljueva v Senat o snjatii s baškir i mišarej jasak i zamene ego pokupkoj soli iz kazny. In: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 486 (8. 2. 1754), 426 – 438. 247 Zapiska Orenburgskogo gubernskogo pravlenija, MpiB ASSR, Nr. 449 (16. 7. 1800), 579 – 585; S teinwedel , Threads of Empire, 50, 52. 248 Zapiska bar. O. A. Igel’stroma členu Koll. in. del. Gr. A. A. Bezoborodko o merach, kotorye sleduet prinjat’ dlja vodvorenija spokojstvija v Orde. Zapiska gen.-porutčika bar. Igel’stroma, personačal’no podannaja im v Petersburge, pri ot’’ezde v gubernii, emu vverennyja, po delam pograničnym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 1 (24. 2. 1785), 45 – 46.

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Festungen Petropavlovsk und Omsk quer durch die Steppe führte, ließ sich aus den angelegten Brunnen nur bitteres und salziges Wasser gewinnen. Die Neue ­Išimsker Linie wurde daher in ‚Bittere Süßwasser-­Linie‘ (Presnogorkovskaja Linija) umgetauft. An einigen Orten erwies sich die Trinkwassernot als so groß, dass gerade erst erbaute Redouten verlassen, abgerissen und neue an anderen Stellen errichtet werden mussten.249 Ein anderes Problem war der Brotmangel. Gezielt versuchte die Zarenadministration seit den 1740er Jahren, bislang ‚nur‘ von Nomaden genutztes, „leeres Land“ (pustych zemel’) entlang der Linien als Dienstgüter zu vergeben, um den Ackerbau und damit die Brotproduktion zu stimulieren.250 Auch der seit den späten 1750er und vor allem in den 1760er Jahren geförderte Haus- und Ackerbau unter den Nomaden hatte neben deren ‚Bezähmung‘ die Linienversorgung im Auge.251 Vor allem bemühte sich die Zarenregierung, die Versorgung sicherzustellen, indem sie die 1755 gebildeten ‚Orenburger Kosaken‘ entlang der Orenburger Linie ansiedelte und mit fruchtbaren Grundstücken versorgte. Daneben wurden Handwerker, religiös Verfolgte aus Polen, ausgemusterte Soldaten, Verbannte und entlaufene Leibeigene verpflichtet, sich entlang der Linien anzusiedeln und den Liniendienst mit Lebensmitteln und handwerklichen Fertigkeiten zu versorgen.252 Während Nepljuev zunächst noch alle Zugezogenen auf den Festungsanlagen unterbringen wollte, erwies sich dies bald als unmöglich. Viel zu rasch entwickelten sich am Rande der Festungen regelrechte Vororte, die durch den Zustrom beständig neu eintreffender Bauern, Dienstleute, Reservesoldaten und Kosaken schneller wuchsen als die Festungen selbst.253 Bei einer solchen sozial wie ethnisch bunten Mischung entlang der Festungslinien entstanden naturgemäß sehr vielschichtige Beziehungen. Die Heterogenität unterschiedlicher Interessen allein der zum Dienst an der Linie Verpflichteten lässt erahnen, dass deren Begegnungen mit Kasachen von der anderen Seite der Linie nur schwerlich als eine von Kolonisierern und Kolonialisierten beschrieben werden 249 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 131 – 132; B enjuch , „Gor’kaja Linija“, 79 – 108; G orban , From the History of the Construction of Forts, 177 – 194. 250 Einen entsprechenden Vorschlag der Gouverneure von Orenburg (Ivan Nepljuev) und Sibirien (Sucharev) vom 17. 3. 1743 billigte der Regierende Senat wenige Monate ­später. Donošenie orenburgskogo gubernatora kn. A. A. Putjatina v Senat s proektom ob uporjadočenii zemlevladenija nazemljach zapadnee Novoj Moskovskoj dorogi. In: MpiB SSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 496 (21. 3. 1766), 465 – 472, hier 465 – 466. 251 Vgl. Kap. 4.4. – B ykov , Istoki moderinzacii Kazachstana, 26 – 27. 252 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 133 – 136. 253 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 136. – Damit setzte sich auch im 18. Jh. der Prozess der Urbanisierung fort, den Denis J. B. Shaw schon für die Entwicklung im 17. Jh. entlang der Verteidigungslinien in den Schwarzerdegebieten beschrieben hat. S haw , Urbanism and economic Development.

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kann. Zu Recht hat Yurij Malikov darauf hingewiesen, dass auch ‚die Kosaken‘ (die in sich binnendifferenziert zu betrachten sind) keine immer verlässlichen Verbündeten der Zarenadministration waren. Vielmehr verfolgten auch sie ihre eigenen Interessen und räumten diesen im Konfliktfall auch Vorrang ein. In ­diesem Sinne kann die kasachische Steppenregion entlang der Linien im 18. Jahrhundert mit Recht als „Zone des aktiven Austausches und der gegenseitigen Akkulturation“ oder auch als Middle Ground im Sinne von Richard White beschrieben werden.254 Doch würde der Blick auf die Grenzlandkultur entlang der Linien in die Irre führen, bliebe man bei der Wahrnehmung verwischter Loyalitäten stehen. Malikov bleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, inwieweit die von ihm dargestellte praktische Interaktion entlang der Linie grundlegend und nachhaltig gegen die Vorgaben verstieß, w ­ elche das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg und der von der Zentrale vor Ort eingesetzte Gouverneur diktierten. Auch bleibt unklar, ­welche unbeabsichtigten, wirkmächtigen Folgen die lokalen Bedingungen angeblich hervorbrachten, w ­ elche von der Zarenregierung nicht intendiert worden waren. Vielmehr zeigt eine Analyse, mit der die Praxis der territorialen Gestaltung über das ganze 18. Jahrhundert hinweg in den Blick genommen wird, dass die Festungslinien den aus russländischer Sicht beabsichtigten Zweck weitestgehend erfüllten, die Baschkiren gewaltsam ‚befriedeten‘ und die Kasachen der Kleinen, sowie s­ päter auch der Mittleren Horde in eine koloniale Abhängigkeit brachten. Aus dem, was einst eine scheinbar unbeherrschbare frontier-­Region war, wurde doppeltes Grenzland, das sowohl vor wie auch hinter der Linie zunehmend russländischen Spielregeln unterworfen war.

Die Konstruktion von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ Der Begriff ‚Linie‘ war dabei Programm.255 Erst mit den Festungsketten wurden eindeutig definierte Linien geschaffen. Die Übergangszonen von Wald- und Wiesenlandschaften hin zur offenen Steppe hätten genauso wenig von sich aus Linienführungen ergeben wie die Steppenlandschaft selbst.256 Die Linienziehung und 254 W hite , The Middle Ground; M alikov , Tsar, Cossacks, and Nomads. 255 Peter I. hatte das Wort linija, lineja in der Bedeutung einer Verteidigungslinie entweder eingeführt oder zumindest für seine Verbreitung gesorgt. So weist Fred Otten den Begriff in dieser Semantik in mehreren Briefen Peters I. von 1704 und 1705 nach. O tten , Untersuchungen zu den Fremdund Lehnwörtern, 118 – 120. – Auch Max Vasmer datiert linija (volkstümlich lineja), entlehnt über das polnische linja aus dem lateinischen linea (‚leinene Schnur‘ bzw. ‚damit gezogener Strich‘), auf die petrinische Zeit. V asmer , Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, 43. 256 Der Orenburger Gouverneur Volkov betonte gegenüber Zarin Katharina II., dass die Landschaft abgesehen von den bereits errichteten Festungslinien keinerlei andere Linien erkennen lasse.

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der Bau von Vorposten, Redouten oder Festungen wurden danach ausgerichtet, wie es um die Verteidigungsmöglichkeiten, die Bodenbeschaffenheit, die Holzvorräte sowie um die Versorgungsmöglichkeiten der Festungsgarnisonen bestellt sein würde.257 Jetzt zahlte sich aus, dass unter Peter I. die Kartographie nicht nur massiv gefördert, sondern auch strengen europäischen Standards unterworfen worden war.258 Festungsbauingenieure und das Militär benötigten genaue Ortskenntnisse. Es war kein Zufall, dass just Ivan Kirilov und Vasilij Tatiščev, mit denen die Umzingelungstaktik und territoriale Gestaltung durch Festungslinien an der südlichen Peripherie erst so richtig in Fahrt gekommen war, seit langem hauptverantwortlich mit der Koordinierung, Sammlung, Erstellung sowie Auswertung sämtlicher kartographischer Informationen im Russländischen Reich befasst waren. So waren es auch Kirilov, der 1734 den ersten Atlas des ­„Allrussländischen Imperiums“ herausgab, und Tatiščev, der die Unzulänglichkeiten der ­ersten ­Ausgabe beseitigte und in Zusammenarbeit mit der Kaiserlichen Akademie der Wissen­schaften dem bislang kartographisch anspruchsvollsten Atlas zum Russländischen Reich 1745 zur Veröffentlichung verhalf.259 Es könnte für die Kartographie­forschung gewinnbringend sein, stärker als bislang erfolgt den Zusammenhang und die wechselseitige Abhängigkeit von imperialer und kolonialer Politik in den südlichen Steppengebieten, dem Bau der Festungslinien und der gleichzeitigen Intensivierung kartographischer Studien in den 1730er und 1740er Jahren heraus­zuarbeiten.260

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Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova imp. Ekaterine II ob osnovnych voprosach upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR, Bd. 4, Teil 2, Nr. 490 (26. 5. 1763), 444 – 452, hier 448 – 449. Oftmals wurden mehrere Linienverlaufspläne erarbeitet, bevor mit einem Linienbau begonnen wurde. Dabei hatten jene Pläne eine größere Chance auf Realisierung, die im Rahmen dessen, was als möglich angesehen wurde, am weitesten südlich lagen. B enjuch , „Gor’kaja Linija“, 84. S haw , Geographical Practice. Atlas Rossijskoj [1745]. – Kirilov war bereits 1721 von Peter I. beauftragt worden, sämtliche vorhandenen Übersichtskarten des Reiches zu sammeln, zu registrieren und aufzuarbeiten. Seit den 1730er Jahren unterstützte Tatiščev massiv Kirilovs Arbeit, erstellte einen fast 200 Punkte umfassenden Fragenkatalog zur Sammlung von Informationen über frontier-­Städte, Festungen und die physischen Gegebenheiten in deren Umgebung und darüber hinaus. Als Kirilov 1737 starb, setzte Tatiščev dessen geographische Studien fort. I ofa , Sovremenniki Lomonosova I. K. Kirilov i V. N. Tatiščev, 3 – 37; P ostnikov , Razvitie krupnomasštabnoj kartografii, 33 – 53, bes.46; C racraft , The Petrine Revolution, 278; S eegel , Mapping Europe’s Borderlands, 29 – 33. – Zum Stand der Geographie und Kartographie im russländischen 18. Jh. B agrow , A History of Russian Cartography; A leksandrovskaja , Stanovlenie geografičeskoj nauki; P ostnikov , Russia in Maps; ders ., Stanovlenie rubežej Rossii. Angeblich wurden von den vielen handschriftlich angefertigten Karten, die für die Bedürfnisse des Linienbaus gezeichnet wurden, anschließend nur wenige für die Erstellung gedruckter Karten oder Atlanten genutzt. Angesichts der personell engen Verbindung von imperial-­administrativ

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Mit den präzise festgelegten Linien entstanden mit einem Male neue territoriale Gegebenheiten. Wie mit einem Reißmesser gezogen, brachten die Wälle Gebiete hervor, die fortan auch nach den zeitgenössischen Begriffen als ‚Innen-‘ ­(vnutri, vnutrennaja oder zdešnaja storona) und als ‚Außenseite‘ (vnešnaja storona) bezeichnet wurden.261 Gleichwohl lebten diesseits wie jenseits nominell Untertanen des Russländischen Reiches: Genauso wie die ‚innen‘ lebenden Baschkiren hatten auch die ‚außen‘ umherziehenden Kasachen ihren Eid auf Zarin Anna geleistet. Über all jene, die innerhalb der Linien lebten, erhob die russländische Seite ungeachtet ihrer Aufstände den Anspruch, dass sie ‚zum Reich‘ gehörten. Hingegen war der Status jener, die außerhalb der Linien lebten, politisch ambivalent: Als nominelle Untertanen der Zarin standen sie zwar unter ihrem Schutz, unterlagen jedoch nur sehr eingeschränkt der russländischen Rechtsordnung. In Anlehnung an den Staatsrechtslehrer Georg Jellinek zur Charakterisierung kolonialer Gebiete ließe sich zumindest mit Blick auf die Kasachen der Kleinen Horde sagen: „Sie gehören dem Reiche, aber nicht zum Reiche“.262 Mit der Herstellung einer ‚inneren‘ und einer ‚äußeren‘ frontier verfolgte die russländische Regierung mehrere Ziele. Nach innen errichtete sie ein Bollwerk, um in dessen Schatten die Ansiedlung russischer Bauern voranzutreiben sowie Leibeigene adliger Gutsbesitzer an ihrer Flucht in die offene Steppe zu hindern. Nach außen dienten die Festungslinien mit den stationierten Garnisonen dazu, das innere Grenzland vor den Raubüberfällen der Kasachen zu s­ chützen. Zudem schufen sie eine Basis, um fliehenden kasachischen Räubern nachzustellen oder sich an den nächstgelegenen kasachischen Siedlungen zu rächen. Schließlich trennte die russländische Regierung mit den Festungslinien verschiedene Nomadenstämme voneinander. Die Wälle waren nicht zuletzt der Sorge tätigen Akteuren vor Ort, die zugleich die Kartographie des Reiches entscheidend vorantrieben, muss dies verwundern. – In der Historiographie zur Kartographie spielen die 4000 km langen Festungslinien und die im Zusammenhang mit ihnen entstandenen zahllosen Karten, Pläne und Beschreibungen bislang nur eine marginale Rolle. Lediglich der 1744 erstellte handschriftliche „Atlas Orenburgskoj gubernii“, der eine allgemeine Landkarte der gesamten Orenburger Linie enthält, wird als Vorlagearbeit für die 1753 neu erstellte allgemeine Karte des Orenburger Gouvernements erwähnt, ­welche an die Geographische Abteilung der Akademie der Wissenschaften gesandt wurde. F edčina , Kak sozdavalas’ karta Srednej Azii, 69; P ostnikov , Stanovlenie rubežej Rossii, 67, 77 – 78; ders ., Outline of the History of Russian Cartography; ders ., Russia in Maps, 42, 50. 261 Vgl. z. B. Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika M. Ryčkova Kollegii in. del o položenii v Malom i Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 574; Ukaz Kollegii in. del general-­majoru fon Frauendorfu v svjazi s pros’bami sultana Ablaja o razrešenii kazacham Srednego žuza peregonjat’ skot dlja vypasa na vnutrennjuju storonu r. Irtyša. In: KRO Bd. 1, Nr. 257 (9. 2. 1764), 659 – 663. – Auch die Kalmücken diskutierten mit diesen Begriffen, als es um die Entscheidung ging, ob man sich nun ‚innerhalb‘ oder ‚außerhalb‘ der Caricyn-­Linie ansiedeln solle. K hodarkovsky , Where Two Worlds met, 182 f. 262 J ellinek , Allgemeine Staatslehre, 651.

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geschuldet, dass sich Baschkiren, Kalmücken und Kasachen in ihrer als feindlich wahrgenommenen nomadischen Lebensweise gegen das Russländische Reich zusammenschließen könnten.263 Mehr noch: Als es Kasachen aufgrund von Lücken in der Bemannung der Festungslinien gelang, erneut russländische Siedlungen anzugreifen oder Karawanen zu überfallen, griff die Regierung zu ihrem traditionellen Mittel des divide et impera. Nachdem sie zuvor die baschkirischen Aufstände durch Kasachen hatte niederschlagen lassen, ließ sie nun die Kasachen von den Kalmücken und Baschkiren überfallen und ausrauben. Den Baschkiren untersagte man, die Festungslinien ‚nach außen‘ zu überschreiten, den Kasachen waren Rachefeldzüge ‚ins Innere‘ verwehrt. „Und so, indem wir die einen gegen die anderen aufhetzen“, argumentierten die russländischen Unterhändler und Strategen Tevkelev und Ryčkov 1759, „werden wir sie durch sich selbst befrieden und ihre Stärke verlieren lassen.“ 264 Diese Politik führte langfristig in mehrerer Hinsicht zum Erfolg. Tatsächlich gelang es der russländischen Seite, die Stämme im Laufe der Jahrzehnte derart gegeneinander aufzuhetzen, dass sie sich noch bis ins 19. Jahrhundert hinein in Erbfeindschaft gegenüberstanden.265 Außerdem war den Baschkiren durch die Festungslinien jede Möglichkeit der Politik wechselnder Allianzen genommen. Zudem gab es für sie als Nomaden, eingekesselt durch Linien von gleich drei Seiten, keine Möglichkeit mehr, zum Krim-­Chanat zu fliehen. Die Kleine Horde der Kasachen hingegen sah sich durch den Bau der Jaiker und der Orenburger Linie derselben lebensbedrohlichen Folge gegenüber, der zuvor die Kalmücken durch die Errichtung der Caricyn-­Linie unter Peter I. ausgesetzt gewesen waren: Der Zugang zu ihrem in Winterzeiten wertvollstem Weideland war ihnen mit einem Male verwehrt. Viehdezimierung und Verarmung waren die Folge. Es gab kein Thema, das aus kasachischer Sicht die Beziehungen zur russländischen Regierung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mehr belastet hätte als ­dieses.266 Doch weder die eindringlichen Bittschreiben an die Gouverneure und Zaren noch Rebellionen oder unerlaubte Übertritte über die Jaiker Linie erreichten einen Sinneswandel der Regierung. Erst der Pugačev-­Aufstand in den 1770er Jahren führte zu vorübergehendem Einlenken: Die russländische Regierung benötigte ihre Kräfte zur Niederschlagung des Aufstands, so dass sie den Kasachen erlaubte, an bestimmten Stellen die Jaiker Linie zu übertreten und dort zu 263 Vor einer möglichen kalmückisch-­baschkirisch-­karakalpakisch-­kasachischen Allianz hatte bereits 1728 der Hohe Geheime Rat unter Kanzler Graf Golovkin, Fürst Dmitrij Golicyn und General­admiral Graf Apraskin gewarnt. O predostorožnosti protiv vozumuščenija kalmykov i baškircev. Protokol’ Verchovnago tajnago soveta (31. 1. 1728). In: SIRIO Bd. 79 (1891), 72 – 73; ­K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 229 – 230. 264 KRO Bd. 1, Nr. 225, S. 587. 265 V jatkin , Političeskij krizis, 4 – 6. 266 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 234.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 16: Baschkire und Kasache. Aquarell von G. Ė. Opic von 1814. Nationalmuseum der Republik Baškortostan, Russländische Föderation

überwintern – allerdings nur unter der Bedingung, dass als Garantie ihrer Friedfertigkeit von den Ältesten zahlreiche Geiseln gestellt wurden und sie mit der Eisschmelze wieder in die ‚äußeren‘ Gebiete zurückkehrten.267 Mit der neuen ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ frontier entstanden auch neue Begehrlichkeiten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wandte sich das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg an den Orenburger Gouverneur Nepljuev mit der Frage, ob es nicht praktikabel sei, die ‚außen‘ lebenden Kasachen aus dem Gebiet nahe der russländischen Linien tiefer in das Innere der Steppen zu vertreiben.268 Die Anfrage unterstrich: Als feste Außengrenzen waren die unter gewaltigen Anstrengungen und mit großem finanziellem Aufwand errichteten Festungslinien keineswegs konzipiert. Vielmehr können sie nur vor dem Hintergrund des russländischen frontier-­Konzepts verstanden werden: Die jenseits der Linien liegenden Reichsgebiete galten nicht als Ausland. Auch sie unterlagen dem 267 S abyrchanov , Zemel’naja politika. 268 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 232.

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Gestaltungsanspruch der Regierung und waren veränderbar. Jene Territorien, die näher zu den Linien lagen, konnten im Verhältnis zu den weiter entfernt liegenden Steppengebieten eines Tages genauso zu ‚Binnenterritorien‘ werden, wie dies mit der jüngst von den Festungslinien eingeschlossenen ‚inneren‘ frontier geschehen war. Und auch die aus russländischer Perspektive als ‚diesseits‘ der Linie liegenden Gebiete unterteilten sich aus Sicht der russländischen imperialen Elite in ein bereits erschlossenes Kernland und ein noch zu stabilisierendes Grenzland. Diese binnendifferenzierte Territorialordnung machte den Kern der russländischen frontier-­Politik im Süden des Reiches aus. Doch selbst wenn die Herstellung von einer ‚inneren‘ und einer ‚äußeren‘ frontier bewusst provisorisch und zudem binnendifferenziert konzipiert war, machten die territorialen Bezeichnungen als ­solche deutlich, mit welch mentalen Land­karten die Zarenregierung und ihre Administration entlang der südlichen Peripherie des Reiches operierte. Mit der Konstruktion, die Gesamtheit aller Territorien auf der ‚Innenseite‘ der Linien als ‚Innengebiet‘ zu bezeichnen, wurde eine Grundannahme offenbar, die viel darüber verriet, welches Raumbild die imperiale Elite vom Russländischen Reich als Ganzes besaß.269 Demnach wurde ­zwischen dem Kernland/der Metropole und der noch zu stabilisierenden Peripherie trotz der dort lebenden nicht-­russischen Bevölkerung keine mentale Trennlinie gezogen. Zumindest geschah dies so lange nicht, wie es um die Beschreibung des Verhältnisses zum Territorium ‚außerhalb‘ der Linien ging. Vielmehr gehörten dann beide, Metropole wie Peripherie, einer universalen Einheit, einem vorgestellten gemeinsamen ‚Innengebiet‘ an. Dieser ‚innere‘ Herrschaftsraum umfasste mental die vom russischen Kernland aus besetzten und kolonisierten oder in unmittelbarer Zukunft zu kolonisierenden Territorien. Das Raumbild stand nur scheinbar im Widerspruch dazu, dass gegenüber Teilen dieser nicht-­russischen Bevölkerung des ‚Innengebiets‘ koloniale Politik betrieben wurde. Tatsächlich drückte sich in Analogie zur Vorstellung von russländischer Untertanenschaft auch im Bild des Herrschaftsraumes die im 18. Jahrhundert dominierende Zielvorstellung der russländischen Elite aus, den sich herausbildenden russisch geprägten vormodernen Nationalstaat mit dem russländischen, in seinen südlichen und östlichen Peripherien zu zivilisierenden Imperium zu fusionieren.270 269 Leider hat Gorizontov in seiner erkenntnisreichen Analyse mentaler Landkarten vom russischen Kernland weder die Festungslinien des 18. Jahrhunderts noch die im Kontext mit ihnen entstandenen Raumbilder berücksichtigt. G orizontov , The „Great Circle“ of Interior Russia. 270 Zur Untertanenschaft vgl. Kap. 1; Fusionsdiskurse werden auch im Kap. 4.4 analysiert. – Erkenntnisreich ist der Vergleich der Konstruktion eines positiv bewerteten, universal russländisch zivilisierten Innenraums, wie ihn die Zarenelite mit Blick auf ihr Grenzland im 18. Jh. konstruierte, mit amerikanischen Raumdiskursen gegenüber ihrer frontier. Susi Frank arbeitete brilliant den Kontrast heraus,

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Festungslinien und Festungen als Basis russländischer Zivilisierungspolitik Die mittelfristig angestrebte Veränderung auch der bisherigen, nur provisorisch gedachten äußeren frontier ließ die Reflexion darüber, wie diese Veränderung zu erreichen sei, nicht abreißen. Die Idee, diejenigen kasachischen Stämme vollständig zu zerschlagen und zu vertreiben, deren angestammte Siedlungsräume nahe der Linien lagen, fand in den Folgejahrzehnten immer wieder Resonanz, sowohl in der Zentrale als auch auf lokaler militärischer Seite.271 Doch die politisch Verantwortlichen vor Ort winkten ab. Jage man erneut die Kalmücken, Baschkiren und Kosaken auf die Kasachen los, so der Orenburger Gouverneur Ivan Nepljuev, um sie damit von den russländischen Linien fernzuhalten, so bewirke man mit solch einem Massaker mehr Negatives als Positives. Die Kleine Horde, derzeit untereinander zerstritten, wäre in der Gegenwehr wieder vereint, würde die „äußere“ Grenzregion aus Rache weitaus mehr als jetzt unsicher machen und den Handel ­zwischen asiatischen und russländischen Kaufleuten nachhaltig torpedieren. Außerdem sei darauf zu achten, die Kasachen nicht dem dsungarischen, chinesischen oder gar persischen Herrscher in die Arme zu treiben.272 Statt einer einseitigen militärischen ‚Lösung‘ des Kasachenproblems warb Nepljuev daher für eine Politik, die Zuckerbrot und Peitsche kombinierte: Während wir die Festungen weiter beschützen, die Baschkiren bezähmen, sollten wir die Kasachen von ihrer üblichen Räuberei abhalten und, unter Berücksichtigung ihrer Raffinessen, mögliche Strafexpeditionen (poiski) organisieren. Im Übrigen sollten wir diese Völker zum Teil durch Angst und Schrecken, noch mehr aber durch gute Anordnungen in Treue halten und sie mit der Zeit durch Handel und gute Verordnungen in einen besseren Zustand und zur Ruhe bringen.273

Damit charakterisierte Nepljuev die Doppelstrategie: Neben der militärischen Präsenz ­seien den Kasachen Handelsmöglichkeiten zu eröffnen und „gute Verordnungen“ zu erteilen. Dadurch werde man sie „zur Ruhe“ und „in einen besseren Zustand“ bringen. Hinter diesen Formulierungen verbarg sich nicht zuletzt das wonach Frederick J. Turner entgegen der russländischen positiven Bewertung von abgeschlossenen Räumen gerade im offenen Raum die Chance ansah, um mit der ‚Wildheit der Natur‘ die Zivilisationsdekadenz Europas zu überwinden. Frank, „Innere Kolonisation“ und frontier-­Mythos. 271 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 225 – 243. 272 Raport orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob organizacii voinskich poiskov protiv kazachov i o sostojanii torgovli v Kazachstane. In: KRO Bd. 1, Nr. 135 (15. 5. 1747), 341 – 349. 273 Raport orenburgskogo gubernatora, KRO Bd. 1, Nr. 135, hier 346.

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Ziel, die Kasachen mittel- und langfristig zur Aufgabe ihres nomadischen Lebens zu bewegen und sie zum Ackerbau und zur Sesshaftigkeit zu erziehen. Sesshaftigkeit und Ackerbau stiegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an der südlichen frontier des Reiches zum alles beherrschenden Ordnungsprinzip auf.274 Für Dmitrij Vasil’evič Volkov, Nachfolger von Nepljuev im Amt des Gouverneurs von Orenburg, gab es aus Gründen der Staatsraison zu dieser Umerziehung keine Alternative: „Wo Ackerbau betrieben wird, dort findet auch Hausbau statt, und wo Hausbau ist, dort herrscht Ruhe, und es gilt die Herrschaft der Gesetze. Demgegenüber werden die nomadisierenden Völker immer unbesonnen bleiben und sich den Gesetzen nicht unterwerfen.“ 275 Als Ort für diese Umerziehung und für die Anreize, die für die Umerziehung gesetzt werden sollten, eigneten sich die Festungslinien hervorragend. Hier ­ließen sich von Garnisontruppen bewachte Handelsplätze gründen, ­welche – wie im Falle des Handelsplatzes der Festungsstadt Orenburg – eine Sogkraft entfalteten, die schon bald bis an die Seidenstraße reichte.276 Kasachische Nomaden lernten durch vergünstigte Angebote Brot und Getreide kennen und wurden entlang der Linien mit russischen Gebrauchs- und Luxusgütern vertraut gemacht.277 Nurali-­Chan und kasachische Älteste der Kleinen Horde konnten sich in den 1760er Jahren auf den Festungen sogar kostenlos Brot abholen, als eine Art von Gehaltszahlung im Winter.278 Gerade über die kasachischen Anführer hoffte die russländische Seite, auf die ­Sitten und Gebräuche der Horde einwirken, sie von ihrer ‚unruhigen‘ nomadischen Lebensweise abbringen und sie allmählich zur Zivilisation nach russländischer Lesart führen zu können.279 Die aus den Brotlieferungen folgende zunehmende Abhängigkeit vieler Kasachen von russländischer Zulieferung in den Festungsstädten brachte der Zarenregierung überdies einen weiteren wichtigen Vorteil: Über die regelmäßig wiederkehrenden Ältesten, die ihr Brot abholen wollten, gelangten die Zarenvertreter auch an geheime und nützliche Informationen zu 274 Detailliert zum Aufkommen von Diskursen und Praktiken der Sesshaftigkeitsoffensive siehe Kap. 4.4. 275 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova imp. Ekaterine II ob osnovnych voprosach upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 490 (26. 5. 1763), 444 – 452, hier 448. 276 Pis’mo orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva sultanu Ablaju o razrešenii svobodnoj torgovli v Troickoj kreposti. In: KRO Bd. 1, Nr. 193 (4. 3. 1750), 504 – 505; Pis’mo bar. O. A. Igel’stroma iz Simbirska prezidentu Komm.-koll. Gr. A. R. Voroncovu s opisaniem sostojanija orenburgskoj torgovli i s predloženiem mer k ee razvitiju. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 17 (24. 2. 1787), 77 – 81. 277 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o položenii v Malom i Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 576 f. 278 Vypiska Kollegii in. del o prodaže chleba kazacham. In: KRO Bd. 1, Nr. 264 (1.1765), 678 – 680. 279 Detailliert zu den politischen Strategien der russländischen Sesshaftigkeitsoffensive in Kap. 4.4.

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allen drei kasachischen Horden sowie über ausländische Absichten gegenüber dem Russländischen Reich.280 Damit beschränkte sich die Funktion der Wälle nicht darauf, Wege zu versperren und Territorien zu zergliedern. Vielmehr bildeten sie selbst mit den Festungen einen Verflechtungsraum, der der Begegnung und der politischen wie kulturellen Durchdringung diente.281 Kennzeichnend hierfür waren die auf den Festungen gehaltenen kasachischen Geisel. Da es sich bei ihnen zumeist um Söhne des kasachischen Chans der Kleinen Horde sowie anderer angesehener kasachischer Familien handelte und sie in regelmäßigen Abständen besucht wurden und auszutauschen waren, boten sich die Festungslinien nicht nur als idealer Ort zur Übergabe und zum Austausch der Geisel, sondern auch als einer zu ihrer dauerhaften Haltung an.282 Die Festungsbauten und die in ihnen errichteten Geiselhöfe versinnbildlichten gleichsam den Raum des Übergangs, den Brückencharakter, z­ wischen der ‚inneren‘ und der ‚äußeren‘ frontier: Im Zuge des gewachsenen Wunsches innerhalb der russländischen Elite, die kasachische Lebensweise zu verändern und sie an die russische Zivilisation heranzuführen, wurden seit den 1760er Jahren zahlreiche Bemühungen gestartet, um den indigenen Geiseln, die auf den Festungen einsaßen, die russische Sprache, Kultur und russische Rechtsprechung beizubringen, bevor sie wieder in ihre Gesellschaften zurückkehrten und dort als Multiplikatoren wirken sollten.283 Doch neben dem ‚Zuckerbrot‘ zählte zur Doppelstrategie des Orenburger ­Gouverneurs Nepljuev auch die ‚Peitsche‘. Während er sich um die ‚Bezähmung‘ der Baschkiren aufgrund ihrer Einkesselung durch die Festungslinien keine großen Sorgen mehr machte, sah er es als notwendig an, die Kasachen mit ihrer offenen Flanke nach Süden und Osten militärisch einzuschüchtern. Auch „durch Angst und Schrecken“ ­seien die Kasachen in einen „besseren Zustand“ zu bringen. Dabei bezeichneten die Grenzkommandeure ihre „Strafexpeditionen“ mal als poiski, mal umschrieben sie ihr Vorgehen mit dem kasachischen Begriff barïmta oder mit der daraus abgeleiteten russifizierten Version baranta.

280 281 282 283

Vypiska Kollegii, KRO Bd. 1, Nr. 264, 678 – 680. Zum Begriff des Verflechtungsraums B ecker /K omlosy , Grenzen und Räume, 46. Detailliert zur Geiselhaltung und Unterbringung in Kap. 3. Iz žurnal’noj zapisi besedy chana Nurali i sultana Ajčuvaka s orenburgskim gubernatorom D. Volkovym vo vremja priezda chana v g. Orenburg. In: KRO Bd. 1, Nr. 256 (9.10. – 7. 11. 1763), 652 – 659, hier 654. – Neben den Geiseln versinnbildlichen auch die Schulen, die im ausgehenden 18. Jh. entlang mancher Linien für kasachische Kinder eingerichtet wurden, den Verflechtungsraum. L evšin , Opisanie kirgiz-­kazač’ich, Bd. 2, 272; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 249.

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Abb. 17: Ein Teptjari-­Kosake des Zweiten Kosakischen Kavallerieregiments, 1819. Gouache von S. S. Petrov, 2007, Rekonstruktion nach Beratung von Ramil’ Rachimov

Mit dieser Bezeichnung rekurrierte man auf eine indigene Methode der Konfliktlösung nach dem Gewohnheitsrecht (adat) vieler ethnischer Gruppen in den Steppen, bei der auf Taten, die als Unrecht empfunden wurden, mit dem Raub des Viehbestands und zuweilen auch von Menschen reagiert wurde. Der Viehbestand wurde so lange einbehalten, bis die Seite, die sich ins Unrecht versetzt sah, von der anderen Partei Kompensation erhielt. Im Prinzip brandmarkte die Zarenadministration die baranta zwar seit Mitte des 18. Jahrhunderts als ­­Zeichen der Rohheit und Gewaltbereitschaft der „wilden Völker“ (ab 1822 galten Kasachen, die sich an baranty beteiligten, juristisch sogar als Kriminelle). Doch über Jahrzehnte hinweg wurden derartige Raubüberfälle von Seiten russländischer Festungstruppen immer wieder bewusst zugelassen, als Strafexpeditionen getarnt oder sogar die Anweisung erteilt, dass Kosaken und andere lokale russländische Garnisonseinheiten kasachische Siedlungen überfallen und ausrauben sollten.284 284 Siehe z. B. Raport orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob organizacii voinskich poiskov protiv kazachov i o sostojanii torgovli v Kazachstane. In: KRO Bd. 1, Nr. 135 (15. 5. 1747)

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Häufig ging es dabei den kosakischen Grenztruppen nicht darum, die von Kasachen verübten Raubüberfälle auf russländische Siedlungen zu sühnen, „Verbrecher“ in die Steppe hinein zu verfolgen und sie zu bestrafen. Die Bezeichnung des russländischen Vorgehens als „Strafexpeditionen“ (ob poiski oder baranty) verschleierte vielmehr die eigentliche Absicht und das wahre Vorgehen russländischer Truppen. Tatsächlich entkamen kasachische Überfallkommandos regelmäßig, da sie sich viel zu schnell in die Steppe zurückzuziehen wussten. Überfallen, ausgeraubt und oft genug getötet wurden hingegen Kasachen, die gerade mit ihrem Vieh nahe den Grenzlinien weideten und nichts mit den Raubkommandos auf russländische Siedlungen zu tun hatten.285 Damit handelte die russländische Administration nicht anders als die meisten anderen Kolonialmächte im Rahmen der europäischen Expansion, so beispielsweise die Spanier 1599 in Neumexiko, die Portugiesen im 16. Jahrhundert in Brasilien, die Holländer Anfang des 17. Jahrhunderts auf der Gewürzinsel Ambon oder die Buren 1772 im südafrikanischen Roggeveld.286 Die von Dierk Walter herausgearbeiteten Charakteristika der ‚Strafexpeditionen‘, „das klassische Herrschaftsinstrument an der militarisierten frontier“ im Rahmen der europäischen Expansion, galten ohne Abstriche auch für die zarische Vorgehensweise im Süden (und Osten): „Strafe und Prestigewahrung als Ziele; exzessive Gewalt, die zum Anlass in keinem Verhältnis steht, ganze Gruppen für einzelne Übergriffe haftbar macht und allein der Einschüchterung und dem encourager les autres dient; und völliges Desinteresse an den Konsequenzen der Intervention“.287 Wieder waren es die Festungslinien, die durch ihre Unterscheidung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ die frontier für diese über Jahrzehnte hinweg geführten ‚minimalinvasiven‘ Feldzüge strukturierten: Die Festungen selbst waren für die russländischen Grenztruppen Ausgangspunkt und Rückzugsort zugleich, der Radius der Feldzüge beschränkte sich auf Entfernungen, die an einem Tag mit Pferden hin und zurückgelegt werden konnten. Während die Überfälle den russländischen Truppen und insbesondere den Kosaken zur eigenen Bereicherung dienten, führten sie bei den Kasachen zu 341 – 349. – Allgemein zur Baranta/Barïmta M artin , Barymta. 285 Raport orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob organizacii voinskich poiskov protiv kazachov i o sostojanii torgovli v Kazachstane. In: KRO Bd. 1, Nr. 135 (15. 5. 1747) 341 – 349. 286 W alter , Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion, 125 – 126. 287 W alter , Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion, 125 [kursiv im Original]. – Vgl. von T rotha , Was war der Kolonialismus?, 61 – 62; und O sterhammel : „Die strafende Expeditionstruppe ist das Leitsymbol d­ ieses [imperialen] Interventionismus.“ In: ders ., Die Verwandlung der Welt, 611.

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Verzweiflung und fortschreitender Verarmung.288 Dabei richtete sich ihr Unmut nicht allein gegen derartige ‚Strafexpeditionen‘. Das russländische Vordringen als solches, der Raub ihrer lebenswichtigen Weidegebiete und die Vergabe von Weideland an russländische Siedler ließen die Kasachen entgegen der Planung der Orenburger Gouverneure auch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht ‚zur Ruhe kommen‘. Stattdessen entluden sich die Spannungen immer wieder in größeren Unruhen und Aufständen.289

Das Experiment: Die Gründung einer ‚Inneren Horde ‘ Als innerkasachische Zwiste 1799 zur Anfrage des kasachischen Sultans Bukej bei der Zarenregierung führte, ob er mit seinem verarmten Gefolge von rund 5000 Zelten der Kleinen Horde den Ural-­Fluss überqueren dürfe, um sich auf der ‚inneren‘ Seite für immer niederzulassen, sah die Zarenregierung neue Chancen für ihre frontier-­Politik gekommen. Das angefragte Gelände hatte sich durch den Exodus der Kalmücken von 1771 fast vollständig entleert.290 Auch wenn der Nutzen der Kasachen für das Reich nicht als groß eingeschätzt werde, so der Astrachaner Grenzinspektor Irinarch Ivanovič Zavališin gegenüber Innenminister Viktor Pavlovič Kočubej, so sei zu hoffen, dass der Umgang mit russischen Siedlern auf der „inneren“ Seite „zu einer Abmilderung der wilden S ­ itten [der Kasachen] und 291 am Ende allmählich zur Sesshaftigkeit führe“. Wenn sie sich an das Leben auf der „inneren“ Seite gewöhnt hätten und „zu Russen würden (obrusejut)“, solle man Dörfer anlegen.292 Mit dieser Verknüpfung der Zuteilung von Herrschaftsraum und Zivilisierungs- wie Assimilierungserwartungen genehmigte Zar Alexander I. 1801 den Kasachen um Sultan Bukej, den Ural zur dauerhaften Niederlassung auf der ‚inneren‘ Seite zu überqueren, und nannte diese fortan die Bukej- oder auch die Innere Horde. Damit freilich kam die bisherige territoriale Gestaltung der frontier ins Wanken. Die ‚außen‘ verbliebenen Kasachen der Kleinen Horde, denen jahrzehntelang das Recht verweigert worden war, ihr Vieh über die Wintermonate auf die fruchtbaren 288 „Ob’’jasnenie“ bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II v otvet na obvinenija, vydvinuye polk. D. A. Grankinym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 33 (10. 5. 1789), 108 – 127. 289 S abyrchanov , Zemel’naja politika, 40 – 54. 290 Zu den Gründen, die die Kalmücken zu ihrem tragischen Exodus bewegte, siehe Kap. 4.5. 291 Pis’mo inspektora astrachanskogo kordona I. I. Zavališina min-­ru vn. Del gr. V. P. Kočubeju o neobchodimosti ograničit’ propusk kazachov v Astrachanskie stepi. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 88 (31. 12. 1803), 261 – 263. 292 Iz doklada Senata imp. Aleksandru I o pros’be sultana Bukeja otvesti kazacham zemli v ­Astrachanskoj gub. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 86 (nicht ­später als 13. 4. 1803), 256 – 259, hier 257.

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Abb. 18: Die Bukej-­Horde auf der „inneren Seite“, die Kleine, Mittlere und Große kasachische Horde auf der „äußeren Seite“. Zentralasien im 19. Jahrhundert

‚inneren‘ Weiden zu führen, ließen ihrer Verbitterung über die Sonderbehandlung für Sultan Bukej freien Lauf und verschafften sich in Winterzeiten nun auf eigene Faust den Zutritt zur ‚inneren‘ Seite.293 Auf diese Weise reichten die Weideflächen, die der Bukej-­Horde für ihr Überleben zugewiesen waren, nicht länger aus. Ein Teil der Bukej-­Horde versuchte, heimlich wieder zurück in die ‚Außengebiete‘ zu entkommen. Eine s­ olche Rückbewegung widersprach nun gänzlich den Vorstellungen der Zarenregierung, die im Unterschied zur ‚äußeren‘ frontier für die ‚innere‘ frontier den Anspruch erhob, Bewegungen ihrer Untertanen vollständig kontrollieren und mit Gewalt unterbinden zu können.294 Um Ordnung ins Chaos zu bekommen, befahl Zar Alexander I. 1808, den Übertritt der ‚äußeren‘ Kasachen der Kleinen Horde zwar zu genehmigen, aber strikt 293 Raport inspektora astrachanskogo kordona I. I. Zavališina imp. Aleksandru I o stremlenii k­ azachov roda Berš i Serkeš Bukeevskoj Ordy perejti obratno v zaural’skie stepi. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 89 (10. 3. 1804), 263; Ukaz imp. Aleksandra I Orenburgskomu voennomu gubernatoru G. Volkonskomu po povodu perechoda kazachov na tak nazyvaemuju Vnutrennjuj storonu r. Urala. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 97 (17. 6. 1808), 175. 294 Raport inspektora, MpiK SSR Bd. 4, Nr. 89 (10. 3. 1804), 263; Pis’mo orenburgskogo voennogo gub-­ra kn. G. S. Volkonskogo tovarišču min.ra in. del kn. A. A. Čartorižskomu o merach, ­prinjatych protiv perechoda kazachov roda Serkeš i Berš Bukeevskoj Ordy v zaural’skie stepi. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 90 (22. 3. 1804), 264; Pis’mo komandira Astrachanskogo kazač’ego polka P. S. Popova min-­ru vn. del gr. V. P. Kočubeju ob otkočevke bol’šej časti kazachov Bukeevskoj Ordy obratno v zaural’skie stepi, vsledstvie pritesnenij činjaimych im inspektorom astrachanskogo kordona I. I. Zavališinym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 93 (12. 5. 1804), 266.

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auf die Wintermonate zu begrenzen, durch Geiselstellung (bevorzugt in Form der Stammeshäuptlinge selbst) abzusichern sowie die Übertrittsmöglichkeit an Berechtigungsscheine (bilety) zu binden, die von der Orenburger Grenzkommission auszugeben ­seien.295 Tatsächlich gelang es der Zarenadministration, die Kontrolle über die Binnengrenze wieder zurückzugewinnen: Konsterniert stellte der Orenburger Militärgouverneur Grigorij Semënovič Volkonskij 1810 gegenüber Zar Alexander I. fest, dass im Falle der Kasachen [der Inneren Horde] ihre Eingliederung weniger durch eine weitere Expansion der Festungslinien geglückt, als vielmehr durch ein „Hineinholen“ der Kasachen nach „innen“ erfolgt sei.296 Zugleich verwandelte das Experiment mit der Inneren Horde den Charakter der Orenburger Linie. Aus einer russländischen Expansionsbasis wurde vorübergehend eine Art innerimperialer Staatsgrenze: Zwölf Jahre nach Einführung der Berechtigungsscheine waren diese bereits in „Visa“ umbenannt, die je nach beantragter Übertrittsdauer unterschiedliche Geldmengen kosteten und mit dem Aufenthaltsstatus die Kasachen auch berechtigten, als Arbeiter zu Niedriglöhnen bei Anwohnern der Orenburger Linie auf der ‚inneren‘ Seite angestellt zu werden.297 Und als 1827 erneut zahlreiche Kasachen die Linie von ‚innen‘ nach ‚außen‘ zur umgekehrten Übersiedlung überqueren wollten, begründete der Orenburger Militärgouverneur Pëtr Kirilovič Ėssen seine Androhung schwerer Strafen für diese Art des Grenzübertritts damit, dass es darum gehe, die „Unverletzlichkeit der Grenze“, der „Ganzheit (celost’) der Linie“ zu bewahren.298 Damit hatte sich eine 295 Ukaz imp. Aleksandra, MpiK SSR Bd. 4, Nr. 97 (17. 6. 1808), 175. – Im Nordkaukasus war bereits Ende der 1770er Jahre für die Kaukasische Linie eine Art Passregime (bilet) eingeführt worden, die Bewegungsfreiheit war aber begrenzter als beim Pass. Bobrovnikov/Babič, Severnyj Kavkaz, 51. – Vermutlich diente das kaukasische Modell als Vorbild für die Einführung desselben Systems in Orenburg. Peter I. hatte bereits 1719 ein Passsystem mit den Worten eingeführt: „Keiner darf irgendwo von Stadt zu Stadt oder von Dorf zu Dorf reisen, ohne Reise- oder Transitbriefe, vielmehr muß jeder von seinen Vorgesetzten einen Pass oder einen Reisebrief beantragen.“ Entlang der Linien und gegenüber den erst nominellen Untertanen kam diese Regel jedoch bis Ende des 18. Jh. noch nicht zum Tragen. – Das Bilet-­System entlang der Orenburger Linien wird in der Sekundärliteratur bislang nicht erwähnt. Černucha , Pasport v Rossii, 17 – 57, 214 – 237 (hier nur zum Nordkaukasus im 19. Jh.); dies ., Pasport v Rossijskoj Imperii; M atthews, The Passport Society, 2. 296 Raport orenburgskogo voennogo gub-­ra kn. G. S. Volkonskogo imp. Aleksandru I ob ubijstve sultanom Karataem chan Žan-­tore s predloženiem predostavit’ vybor novago chan samim staršinam. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 81 (12. 1. 1810), 246. 297 Ukaz imp. Aleksandra I orenburgskomu voennomu gubernatoru o razrešenii kazacham nanimat’sja v rabotniki. In: KRO Bd. 2, Nr. 107 (12. 8. 1820), 185; Predpisanie orenburgskogo voennogo gubernatora Orenburgskoj pograničnoj komissii po povodu naplyva bajgušej v g. Orenburge. In: KRO Bd. 2, Nr. 111 (nicht ­später als 1820), 187 – 188. – Mit derartigen Anstellungen verstärkten sich die schon vorhandenen ökonomischen Abhängigkeiten der liniennah lebenden Kasachen von der russländischen Seite und zementierten das koloniale Verhältnis. 298 Predpisanie orenburgskogo voennogo gubernatora P. K. Ėssena Ural’skoj vojskovoj kanceljarii o zapreščenii kazacham Bukeevskogo chanstva perechodit’ na stepnuju storonu r. Urala. In: KRO

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für K ­ olonialherrschaften typische frontier mit dem Paradoxon herausgebildet, dass einerseits ein staatsähnliches Grenzregime mit Ein- und Ausreisebestimmungen konzipiert wurde, andererseits weder die Grenze als eine allgemeingültige angesehen wurde noch mit dem Grenzregime grenzüberschreitende Bewegungen verhindert, sondern lediglich die Bewegungen von Untertanen auf beiden Seiten nach den Regeln der russländischen Metropole gesteuert werden sollten.299 Insgesamt zahlte sich das gewalthafte Ordnen der Territorien an der südlichen Peripherie des Reiches für die Zarenadministration aus. Mit der politischen Durchdringung der Kleinen und Mittleren Horde sowie ihrer schrittweisen Auflösung verwandelte sich auch die liniennahe ‚äußere‘ frontier allmählich in eine Erweiterung der ‚inneren‘ frontier. Der Bau neuer Festungen und Linien weiter im Süden erschien möglich und verlockend, die Notwendigkeit einer endgültigen Staatsgrenze nicht an der Tagesordnung. Vielmehr versprach sich 1802 der Handelsminister Nikolaj Petrovič Rumjancev von weiteren Linien nicht nur die Belebung des Handels, sondern auch den Erfolg, dass aus den Kasachen mit der Zeit „gute Diener für das Vaterland gemacht werden können, so wie schon aus den Baschkiren (a pri tom i iz samych kirgiscov sodelat’ so vremenem dobrych slug otečestvu, podobno baškircam)“.300 Im Statut von 1822 wurde diese Sicht der Dinge um die Perspektive ergänzt, dass die sibirische Linie „im Zuge der Verbreitung von Ordnung in den von den Kirgisen [Kasachen] besiedelten Gebieten“ weiter „nach vorn“ verlegt werden würde, um eines (unbekannten) Tages als „beständige Bekräftigung an der tatsächlichen Staatsgrenze“ zu enden. Offen gelassen wurde dabei jedoch die Frage, wo sich diese „tatsächliche Staatsgrenze“ befinden sollte. Kollegienrat Grigorij Aleksandrovič Demidov unterstützte 1825 gegenüber Zar Alexander I. die im vergangenen Jahrzehnt immer wieder erhobene Forderung einiger russländischer Generäle, die sibirischen und Orenburger Festungslinien tiefer in die kasachischen Steppen zu verlegen, mit dem Hinweis, dass man auf diese Weise an Gold- und Silberbestände und an wertvolle Steinablagerungen gelange und zudem „weitere Stämme in Angst und Gehorsam“ gehalten werden könnten.301 „Mir schien es immer“, so Demidov, „dass die Natur selbst es dem Bd. 2, Nr. 132 (20. 3. 1827), 225 – 226. 299 B ecker /K omlosy , Grenzen und Räume, 46. 300 Mnenie min-­ra kommercii gr. N. P. Rumjanceva na zamečanija orenburgskogo veonnogo gub­ra N. N. Bachmeteva s predloženniem posylki v step’ činvonika dlja peregovorov s kazachami, ­postrojki novoj linii po r. Ėmbe i vozloženija na kazachov otvestvennosti za bezopasnost’ ­rossijskich karavanov. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 61 (16. 12. 1802), 199 – 201, hier 200. 301 Zu diesen Generälen zählte Kollegienrat Demidov: den Livländer Grigorij I. Glazenap (1751 – 1819), der ausreichend Erfahrung mit Linien sowohl im Nordkaukasus als auch seit 1807 als Oberbefehlshaber der sibirischen Linie hatte sammeln können; Gustav-­Ernst von

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Russländischen Staat vorherbestimmte, seine Militärgrenzen in das Innere der kasachischen Steppen zu verlegen.“ 302 Nur wenig anders hatte bereits Ivan Kirilov rund hundert Jahre früher seinen glühenden Appell gegenüber Zarin Anna zur Gründung Orenburgs und zur weiteren Expansion begründet. Wie s­ päter Demidov hatte auch er mit der Verlockung lukrativer Bodenschätze geworben, außerdem die neuen Spielräume für den Handel bis nach China betont und auf kolonialhistorische positive Erfahrungen anderer Imperien verwiesen. Die bis dahin ungekannte Dynamik in der Kombination aus Expansion und kolonialer Gestaltung von Herrschaftsräumen, die im Süden des Reiches fast das ganze 19. Jahrhundert über fortgesetzt werden sollte, hatte ihren Ursprung im frühen 18. Jahrhundert.303

Transfer der neuen Territorialpolitik in den Nordkaukasus Mittels Festungslinien neue Herrschaftsräume zu schaffen und zu Gunsten eigener Interessen zu ‚ordnen‘, beschränkte sich freilich nicht nur auf den Steppenraum, den Baschkiren, Kalmücken und Kasachen besiedelten. Wie in vielen anderen Bereichen imperialer Politik übertrug die russländische Regierung bewährte Mittel auch in der territorialen Gestaltung Jahrzehnte s­ päter auf andere imperiale Peripherien, in ­diesem Fall auf den Nordkaukasus.304 Dort wurde das russländische militärische Vordringen nach dem Bau der ersten Festung in Kizljar (1735) nahe der Terek-­Mündung in das Kaspische Meer durch die Rivalität mit dem Iran und dem Osmanischen Reich allerdings vorerst noch gebremst. In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Belgrader Friedensvertrag von 1739, in dem sich die osmanische wie die russländische Seite auf die Neutralität der Großen Strandmann (1742 – 1803); den Generaladjutanten von Zar Alexander I., Fedor P. Uvarov (1769 – 1824); und den in russländische Dienste übergewechselten Schweden Georg Magnus Šprengtporten (1740 – 1824). Zapiska kolležskogo sovetnika Demidova na imja imp. ­Aleksandra I o perenose Sibirskoj i Orenburgskoj pograničnych linij v glub’ Kazachstana. In: KRO Bd. 2, Nr. 127 (nicht ­später als Aug. 1825), 217 – 221, hier 219. 302 Zapiska kolležskogo sovetnika Demidova, KRO Bd. 2, Nr. 127 (nicht s­ päter als Aug. 1825), 219. 303 Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirillova [Kirilova] na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114. 304 Andere Beispiele für den Transfer imperialer Herrschaftskonzepte und -praktiken von einer Region zur anderen betreffen die Nutzung des Konzepts russländischer Untertanenschaft als Expansionsmittel, die Geiselhaltung, Zivilisierungsmaßnahmen, Sesshaftigkeitsoffensiven, die etappenweise Vorgehensweise in der Aushöhlung autochthoner politischer Autonomie sowie die Einführung von Grenzgerichten und raspravy. Mehr zu den Beispielen in den jeweiligen Kapiteln dieser Arbeit.

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Kabardei geeinigt hatten, verlegte sich die Zarenadministration auf subtilere Formen politischer Steuerung bzw. auf die Vereinnahmung kabardinischer Fürsten.305 Mit dem Regierungsantritt Katharinas II. aber und dem von ihr angestoßenen Bau der strategisch wichtigen Festung Mozdok (1763) westlich von Kizljar konnte nicht nur eine Festungslinie entlang des Terek etabliert werden (Mozdok-­Linie). Vor allem die unter Grigorij Aleksandrovič Potemkin vorangetriebene Errichtung einer Festungslinie (1772 – 1782) von Mozdok bis zum nordwestlich gelegenen Azov am Azovschen Meer (Kaukasische Linie) setzte eine territoriale Neuordnung und Umgestaltung der frontier in Gang, die nach ganz ähnlichen Mustern verlief wie in den weiter östlich gelegenen Steppengebieten von Baschkiren und Kasachen:306 Auch hier wurde die Linie, die im Ergebnis vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer reichte, mitten durch die Siedlungsräume verschiedener ethnischer Gruppen errichtet (allen voran durch jene der Kabardiner und Nogai-­ Tataren) und mit dem Entzug der fruchtbarsten Weidegebiete das Leben im fragilen Ökosystem der Steppengebiete weitgehend zunichte gemacht. Die zarische Seite zermürbte Kabardiner wie Nogai-­Tataren durch verschärfte Kontrollen über Märkte, Fischbestände, Weiden und Wälder und nutzte die großen Festungen als Orte der Geiselhaltung.307 Kosakeneinheiten wurden neu gebildet bzw. von Wolga-­Kosaken zwangsweise abgezogen und zur dauerhaften Bemannung entlang der Linien angesiedelt, das ‚innere‘ Land der russländischen bäuerlichen Kolonisation überlassen, die Linien von den Kosaken als Ausgangsbasis für ‚Strafexpeditionen‘ genutzt, in deren Folge einheimische Dörfer willkürlich zerstört, Vieh gestohlen, Umsiedlungen erzwungen und Frauen und Kinder gefangen genommen wurden.308 Thomas Barrett konnte für das Leben entlang der russländischen frontier im Nordkaukasus überzeugend darlegen, wie mit dem Linienbau für die südlich 305 Geschenke und Geldzahlungen spielten in dieser instabilen Phase russländisch-­kabardinischer Beziehungen eine herausragende Rolle und verhalfen dazu, die innerkabardinischen Spannungen, die auch aus unterschiedlichen außenpolitischen Orientierungen resultierten, so zu verschärfen, dass sie in den 1750er Jahren zur endgültigen Spaltung und damit weiteren Schwächung der Kabardiner führten. B obrovnikov /K ažarov /S otavov , Severnyj Kavkaz, 45 – 46. 306 B utkov , Materialy dlja novoj istorii Kavkaza, Bd. 2, 48 ff; G nilovskoj , Azovo-­Mozdokskaja oboronitel’naja linija; P ollock , Empire by Invitation?, 164 – 181. 307 K hodarkovsky , Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism. 308 Neben der Umorganisation der alteingesessenen Terek-­Kosaken wurden im Laufe des 18. Jh. unter den Bezeichnungen Grebensk-, Wolga-, Chopersk-, Kuban- und Schwarzmeerkosaken neue Einheiten gebildet. Die Zentrale erteilte ihnen entlang der Linien Eigentum an Landgrundstücken, die vormals von den ansässigen Volksstämmen besiedelt oder als Weideflächen genutzt worden waren. K okiev , Metody kolonial’noj politiki carskoj Rossii; K uryšev , Volžskoe Kazač’e Vojsko, 144 – 207; K lyčnikov , Iz istorii formirovanija rossijskogo Severnogo Kavkaza; B arrett , At the Edge of Empire, 38 – 47; K ozlov , Kavkaz v sud’bach kazačestva; R asskazov (Hg.), Kubanskoe kazačestvo.

Das Territorium: Festungsbau und Festungslinien

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Abb. 19: Die kaukasischen Linien im 18. Jahrhundert und die russländische Südgrenze von 1829

angrenzend lebenden Einheimischen ein „Landstrich der Unsicherheit“ (Lines of Uncertainty) entstand.309 Und ähnlich wie Yurij Malikov es für die russländisch-­ kasachische frontier ausgeführt hat, zeigt Barrett auch für den Nordkaukasus, dass angesichts kabardinischer Fürsten und Anführer anderer Bergvölker, die Überfälle und Menschenraub organisierten, friedlicher indigener Dorfbewohner sowie Kosaken, die entweder mit Erlaubnis oder sogar auf Anordnung russländischer Administratoren auf Raubzüge gingen, einfache Trennlinien z­ wischen ,Kolonisierern‘ und ,Kolonisierten‘ nicht zu ziehen waren, sondern auch hier im Sinne Richard Whites treffender von einem Middle Ground zu sprechen ist.

309 B arrett , Lines of Uncertainty; ders ., The Russian Empire and the Steppe.

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Neben den Parallelen gab es allerdings zwei wesentliche Unterschiede z­ wischen der Kaukasischen und der Orenburger Linie: Die Kaukasische Linie wurde weit mehr als die Orenburger Linie auch zu einer religiösen und zu einer sozialen Grenze ausgestaltet.310 Dies hing mit der anti-­russländischen Einstellung vieler kabardinischer Fürsten zusammen, deren machtvolle Stellung die Zarenadministration gezielt zu schwächen suchte. Indem die russländische Regierung Indigene, die zur Linie kamen und sich taufen ließen, nicht mehr zurückließ, darüber hinaus mit Geschenken und durch Ansiedlungen Neugetaufter entlang der Linien Christianisierungsanreize setzte, bot sich für leibeigene indigene Bauern die M ­ öglichkeit, von ihren kabardinischen Herren zu fliehen und Arbeit unter besseren Bedingungen auf russländischen Gütern zu suchen. Gezielt nutzte die Zarenseite diese Option sozialer Spaltung, um die kabardinischen Fürstentümer zu destabilisieren.311 Zugleich gestaltete sie damit die Linie bewusst zu einer religiösen frontier ­zwischen Muslimen und Christen aus.312 Bei allem erfolgreichen russländischen Vordringen und der geglückten Schwächung indigener ethnischer Gruppen führte die neue territoriale Ordnung jedoch an den meisten Orten zu einem dauerhaften Zyklus der Gewalt: Waren im 16. und 17. Jahrhundert russländische Festungsmauern in erster Linie zum Schutz russischer Siedlungen vor einfallenden ethnischen Gruppen und zur Verringerung von Überfällen errichtet worden, erzielten die zur Bezwingung und Transformation indigener Lebensweise errichteten Linien des 18. Jahrhunderts sowohl in den baschkirischen und kasachischen Siedlungsräumen als auch besonders im Nordkaukasus genau den gegenteiligen Effekt. Sie bewogen die ethnischen Gruppen der Bergregion erst recht zu Überfällen auf Festungen, auf Kosakensiedlungen und dahinterliegende russländische Dörfer. Willkürliche ‚Strafexpeditionen‘ von russländischer Seite ließen nicht auf sich warten und dienten ihrerseits als Anlass für 310 Dieser Diskurs, mit der Kaukasischen Linie eine Grenze z­ wischen „christlichen“ und „barbarischen “ Völkern zu ziehen, entstand bereits mit dem Anlagebau von Mozdok. Vsepoddannejšij doklad Senata imperatrice Ekaterine II ob otvedenii uročišča Mozdok dlja poselenija krestivšichsja kabardincev, vo glave s vladel’cem Maloj kabardy Kurgokoj Končokinym (A. Ivanovym), postroenii tam kreposti i prevyraščenii Mozdoka v centr rasprostranenija promyšlennosti i torgovli. In: KabRO Bd. 2, Nr. 164 (9. 10. 1762), 218 – 220, hier 220. 311 So wies beispielsweise Fürst Grigorij A. Potemkin in einem geheimen Dokument den Befehlshaber der örtlichen Truppen, General Pavel S. Potemkin, an, jegliche Rückgabe von geflohenen kabardinischen Bauern abzulehnen. Die Trennung der Bauern von ihren Adligen sei der beste Weg, die frontier zu sichern. Predpisanie kn. G. A. Potemkina-­Tavričeskogo komandujuščemu Kavkazskim korpusom gen.-poručiku P. S. Potemkinu ne vozvraščat’ kabardinskim vladel’cam ubegajuščich ot ich pritesnenij krepostnych. In: KabRO Bd. 2, Nr. 251 (29. 12. 1782), 354 – 355. – Vgl. daneben K hodarkovsky , Of Christianity, Enlightenment and Colonialism, 423 – 424; ­V inogradov , Specifika Rossijskoj Politiki, 99 – 163. 312 K hodarkovsky , Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism; ders .: From frontier to Empire; ders ., Colonial Frontiers; V inogradov , Specifika Rossijskoj Politiki.

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die nächsten indigenen Überfälle.313 Die Zarenadministration reagierte im Nordkaukasus nur wenige Jahre nach der abgesicherten Annexion der Krim durch den Friedensschluss von Jassy (1792) in alter Tradition mit einer weiteren Vorverlegung des nördlichen Teils der Kaukasischen Linie gen Süden an den Fluss Kuban, ­später als ‚Schwarzmeer-­Kordonlinie‘ benannt. Und auch bei dieser Vorverlegung blieb es nicht. Vielmehr sollten ihr bis zur endgültigen Bezwingung der nordkaukasischen Bergvölker Mitte des 19. Jahrhunderts noch viele weitere folgen.314

Zusammenfassung Die Grenzverhau- bzw. Festungslinien, die schon zu Zeiten der Kiever Rus’ und des Moskauer Reiches eine elementare Rolle für den Grenzschutz und die Reichsexpansion gespielt hatten, erhielten im Zuge der petrinischen Europäisierung des Imperiums eine neue Ausrichtung. Die neue Funktion ist im interimperialen Vergleich einmalig und verdient mikro- wie makrohistorisch noch weit detailliertere Analysen, als sie im Rahmen d­ ieses Unterkapitels geleistet werden konnten. An der südlichen und südöstlichen frontier des Russländischen Reiches nutzte die Zarenregierung erstmals mit der Caricyn-, s­ päter mit der Transkama-­Linie und schließlich mit den Jaiker und Orenburger Festungslinien aneinandergereihte Festungen und Wälle, um die indigene Bevölkerung zu bezwingen und ihre Lebensweise zu verändern. Baschkiren wurden in ihrem Siedlungsraum von Festungs­ linien eingeschlossen, die Wolga-­Kalmücken und Kasachen der Kleinen Horde von ihren fruchtbarsten Weidegebieten im Norden abgeschnitten und damit in ihrer Lebensweise existentiell bedroht. Die ethnischen Gruppen wurden unterein­ander so getrennt, dass antizarische Allianzen nicht mehr möglich und Fluchtmöglichkeiten erheblich erschwert waren. Wenige Jahrzehnte s­ päter übertrug die Zaren­ administration mit dem Bau der Mozdok- und der Kaukasischen Linie das Vorgehen 313 Ein kabardinischer Fürst schrieb 1782 an Zarin Katharina II: „Die neu gebauten Forts an der Mozdok-­Linie bilden die Hauptursache für alle Unruhen und Überfälle, die an Russlands Grenzen ausgeführt wurden.“ P ollock , Empire by Invitation?, 121. – Deutlich spiegelt sich die kabardinische Stimmung auch im Schriftwechsel mit der russländischen Seite unmittelbar nach der Gründung von Mozdok (1763): Siehe bes. Raport kizljarskogo komendanta N. A. Potapova v Kollegiju inostrannych del (…). In: KabRO Bd. 2, Nr. 173 (3. 8. 1764), 235; sowie Otvet, peredannyj vice-­ kanclerom A. M. Golicynym kabardinskomu poslu (…). In: KabRO Bd. 2, Nr. 177 (19. 12. 1764), 238 – 239. Siehe auch Nacional’nye okrainy 295 – 296. – Genaue Zahlen zur Verschleppung zum Raub von Menschen, Vieh, Pferden und Schafen bei K abuzan , Naselenie Severnogo Kavkaza, 33. – Details zu russländischen „Gegenaktionen“ finden sich in der Jahreschronik von B utkov , Materialy dlja novoj istorii, Bd. 3, 117 – 177. 314 Details zu den weiteren Vorverlegungen in der bereits genannten Literatur sowie in S idorko , Dschihad im Kaukasus, 40, 96 sowie Kap. VII.

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mit einigen regionalspezifischen Abweichungen auf den Nordkaukasus und damit auf Kabardiner und Nogai-­Tataren. Im Bereich der transfrontier z­ wischen dem Russländischen Reich auf der einen und dem Persischen, Dsungarischen, Chinesischen und Osmanischen Reich auf der anderen Seite führten die Festungswälle nicht nur zu einer neuen territorialen Ordnung. Auch mental brachten die Linienverläufe, die zuvor durch umfangreiche kartographische Ausmessungen präzise festgelegt worden waren, neue Raumvorstellungen hervor: Sie teilten traditionsreiche Siedlungsräume mit einem Mal in scharf voneinander abgegrenzte ‚innere‘ und ‚äußere‘ frontiers, obwohl diesseits wie jenseits Untertanen des Russländischen Reiches lebten. ‚Innen‘ und ‚außen‘ waren dabei zeitgenössische Begriffe. Gerade der Begriff des ‚Innen‘(gebiets) veranschaulicht die mentale Landkarte, wonach in der Vorstellung der russländischen Elite Metropole und Peripherie (bis zur Linie hin) zu einer universalen Einheit verschmolzen bzw. verschmelzen sollten. Damit drückte sich in Analogie zur Vorstellung von russländischer Untertanenschaft auch im Raumbild die dominierende Zielvorstellung der russländischen Elite aus, den sich herausbildenden russisch geprägten vormodernen Nationalstaat mit dem russländischen Imperium fusionieren zu wollen. In der praktischen Politik dominierte allerdings eine Vorgehensweise, die auch das ‚Innengebiet‘ heterogen behandelte. So galt das liniennahe ‚Innengebiet‘ de facto noch als frontier und zeichnete sich durch das russländische Bemühen aus, die Region zu ‚befrieden‘, die Sesshaftigkeit der Nomaden zu fördern und vor allem das Territorium rasch mit russischen und russländischen Siedlern zu kolonisieren. Die äußere frontier, die im Süden bis zur osmanischen und im Südosten bis zur chinesischen Einflusszone reichte, suchte die Zarenseite nach Kräften zuerst zu destabilisieren, um sie dann im zweiten Schritt zu transformieren. Der Bau der Festungslinien selbst und die damit einhergehende Zerstörung eines Teils der Lebensgrundlagen von Nogai-­Tataren, Baschkiren, Kalmücken, Kasachen und Kabardinern bildeten dabei nicht den einzigen, wenngleich wichtigsten Schritt, um die ethnischen Gruppen zu zermürben. Von großer pauperisierender Wirkung für die liniennahe Bevölkerung waren auch die russländischen ‚Strafexpeditionen‘ im Verbund mit organisierten Raubzügen, für die die Festungslinien die Basis bildeten. Mit ihnen reihte sich das russländische Vorgehen in die Handlungsweise der anderen europäischen Kolonialmächte ein, die an der frontier ihrer außereuropäischen Gebiete mit derselben exzessiven Gewalt wie die Zarenadministration ganze Gruppen für einzelne Übergriffe haftbar machten, um diese einzuschüchtern, zu ‚bestrafen‘ oder um sich an ihnen selbst zu bereichern. Gleichwohl würde der Blick in die Irre führen, betrachtete man die Festungslinien ausschließlich als eine Grenze z­ wischen Kolonisierern und Kolonisierten. Die anwachsende Literatur zum Middle Ground an der süd- und südöstlichen

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russländischen frontier hat überzeugend darlegen können, dass es die Heterogenität der Grenzlandbevölkerung und die damit einhergehenden unterschiedlichen Interessen der Akteure nicht zulassen, von einfachen Dichotomien zu sprechen. Raubüberfälle gingen von allen Seiten aus, und die Interessen von Zarenadminis­ tration und der zum Linienschutz eingesetzten Kosakenverbände divergierten nicht selten voneinander. Stattdessen wurde in d­ iesem Unterkapitel vorgeschlagen, die Festungslinien als Verflechtungsraum zu deuten. Eine ­solche Verflechtung kam besonders in der russländischen Praxis zum Ausdruck, auf den großen Forts der Linien indigene Geisel zu halten. Diese saßen auf Staatskosten in den eigens für sie errichteten Geiselhäusern ein und sollten damit als Transmissionsriemen der Gesellschaften beiderseits der Linien wirken. Verflechtungsräume, hybride Kulturen und verwischte Loyalitäten können jedoch nicht über die grundsätzliche machtpolitische Asymmetrie hinwegtäuschen: Zwar rief der Linienbau kurz- und mittelfristig an vielen Orten neue Zyklen der Gewalt hervor. Langfristig führte er jedoch zur Zermürbung und Bezwingung der nicht-­russischen ethnischen Gruppen. Dabei stärkte es die zarische Seite, bei der territorialen Neugestaltung der Herrschaftsräume auch militärpolitisch erfindungsreich zu sein. Je nach Bedarf der Linienbemannung wurden neue irreguläre und lokal gebundene Militärheere geschaffen, die mit der Absicherung der neu gebildeten Gebiete beauftragt und dafür mit Land versorgt wurden, das vormals von den indigenen ethnischen Gruppen genutzt worden war. Diese vor allem kosakisch geprägten Kräfte hatten zwar ihre eigene Agenda. Doch wurden auch sie im 18. Jahrhundert zum Instrument und Spielball in den Händen der Regierung. Trotz mancher Analogien sind die russländischen Linien des 18. Jahrhunderts, die aus Wällen, Festungen und Schanzen gebildet wurden, nicht mit dem Bau der Mauer gleichzusetzen, wie sie sich das Chinesische Kaiserreich baute. Die chinesische Mauer wurde zum Schutz vor nomadischen Reitervölkern errichtet und verkörperte im Sinne der von Jürgen Osterhammel vorgeschlagenen Grenzdefinitionen die ‚imperiale Barbarengrenze‘. Sie stellte also eine Linie dar, die abschotten, ausschließen und grenzübergreifende Kontakte verhindern sollte.315 Während die chinesische Mauer damit für eine closed border policy stand, zielte die russländische Politik der Gestaltung ihrer Herrschaftsräume mittels Festungslinien auf eine forward policy, auf eine Politik, die sowohl kontinuierlich die Expansion in die transfrontier vorantrieb als auch neu umzingelte Gebiete zu ‚befrieden‘ und nach den Interessen der Metropole mental und machtpolitisch zu ‚eigenen‘ Territorien umzugestalten und damit in das Kerngebiet zu integrieren suchte.

315 O sterhammel , Kulturelle Grenzen, 109 – 110; W aldron , The Great Wall of China.

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4.3  Die Religion: Staatliche Missionierungspolitik Von ‚Mission‘ oder ‚Missionierung‘ im Russländischen Reich vor dem 19. Jahrhundert zu sprechen, erscheint zunächst genauso irritierend wie von ‚Imperium‘ vor dem 18. Jahrhundert: Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts tauchte im Russischen erstmals das Wort missija auf, das vermutlich über das Polnische und Ukrainische aus dem Lateinischen entlehnte wurde. In seiner religiösen Bedeutung wurde es im 18. Jahrhundert jedoch nur zur Beschreibung ausländischer und hier vor allem jesuitischer Christianisierung verwandt, nicht für s­ olche der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche.316 Erst im 19. Jahrhundert wurde der Begriff missija zusammen mit der Bezeichnung für den Missionar (missioner) geläufiger. Doch selbst dann bezog sich missija vorwiegend auf orthodoxe Geistliche, die in anderen Ländern Gottesdienste an Gesandtschaftskirchen verrichteten, nicht aber auf organisierte Bemühungen, Muslime oder ‚Heiden‘ im Russländischen Reich zu christianisieren.317 Weder unter Zar Ivan IV. im 16. noch unter Peter I. oder seinen Nachfolgerinnen im 18. Jahrhundert gab es ein Substantiv für die Christianisierungsmaßnahmen im eigenen Land. Vielmehr ist in den Quellen nur von der Tätigkeit als solcher die Rede – im Sinne von ‚predigen‘, ‚taufen‘ und ‚zur Taufe führen‘, nicht jedoch von dem geistigen Ziel dieser Tätigkeit, das mit dem Begriff der Mission verbunden ist.318 Und dennoch besteht (analog zum Fall des Imperiumbegriffes) kein Zweifel, 316 In erster Linie hatte missija im 18. Jh. die Bedeutung von „Auftrag“, „Beauftragung“, „Entsendung“ und wurde im Kontext von Gesandten und Diplomaten verwandt. Als zweite Bedeutung bezeichnete missija diplomatische Vertretungen an ausländischen Höfen. Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka Bd. 12, 211 – 212. – Selbst noch im Wörterbuch von 1881 von Vladimir Dal’ wird auf die Gesandtschaft im Ausland und erst in zweiter Bedeutung auf die Entsendung Geistlicher zur Bekehrung von ,Ungläubigen‘ oder ,Fremdgläubigen‘ verwiesen. D al ’, Tolkovyj Slovar’, Bd. 2, 329. – Im „Enzyklopädischen Wörterbuch“ von 1896 findet sich kein Eintrag zu missija, wohl aber einer zu Missionerskija obščestva v Rossii („Missionarische Gesellschaften in Russland“). Darunter werden Unterkünfte bei ausländischen K ­ irchen verstanden, in denen ausschließlich Mönche leben, um Gottesdienste bei den ­Kirchen der ausländischen Gesandtschaften zu verrichten. In der weiteren Semantik wird auf die Missionierung im Zuge der Kolonisation und der Verbreitung klösterlichen Lebens in Russland verwiesen. Dabei geht es jedoch ausschließlich um kirchlich angeführte Missionierungen wie jene des Stefan von Perm, der Mönche auf Kad’jak (1794 – 1837) sowie der zahlreichen Missionierungsgesellschaften im 19. Jh. Die staatlich organisierten Missionierungen des 18. Jh. finden keine Erwähnung. Ėnciklopedičeskij Slovar’, Bd. 19, 446 – 449. – Im Wörterbuch der Russländischen Akademie von 1783 sowie im etymologischen Wörterbuch von I. I. Sreznevs’kij taucht der Begriff gar nicht auf. 317 W erth , Subjects for Empire, 102. 318 Inwieweit mit dem Fehlen eines Begriffes speziell eine Haltung der orthodoxen Theologie zum Ausdruck kommt, die der Mission im westeuropäischen Sinne fern steht, mag von kompetenterer Seite erörtert werden. Fest steht, dass weltumfassende Missionen, wie sie sich die Katholische ­Kirche und der Jesuitenorden zur Tradition gemacht hatten, der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche fremd waren. Weiterführende Überlegungen bei G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 249.

Die Religion: Staatliche Missionierungspolitik

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dass sowohl die Russisch-­Orthodoxe K ­ irche als auch der russländische Staat vor dem 19. Jahrhundert phasenweise massiv missionierten, wenn auch weniger im geistlich-­spirituellen Sinne als vor allem in Form einer nominellen Zuschreibung einer russisch-­orthodoxen Identität für bisherige Nicht-­Christen. Die aggressiven missionarischen Feldzüge in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beginnend unter Zar Peter I. und verschärfend fortgesetzt unter seinen Nachfolgerinnen, den Zarinnen Anna. und vor allem Elisabeth, sind in der Literatur bereits ausführlich beschrieben worden und brauchen gerade mit Blick auf die Hochphase von 1740 bis 1755 hier nicht erneut dargelegt zu werden.319 Im Zusammenhang dieser Arbeit stellt sich vielmehr die Frage nach der Einordnung der Missionierungskampagnen in die vorherige und folgende Religionspolitik sowie die Frage nach ihrer Interpretation im Gesamtkontext imperialer russländischer Politik: Welchen Charakter hatte die Missionierungspolitik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und inwiefern kann sie als eine Zivilisierungsstrategie angesehen werden? Handelte es sich bei der intoleranten Religionspolitik gegenüber Muslimen und ‚Heiden‘ im Süden und Osten um eine nur vorübergehende Abweichung von einer flexibel-­pragmatisch ausgerichteten Politik, wie sie das Moskauer Reich verfolgt hatte? Und wurde diese frühere staatliche Verhaltensweise mit der religiösen ‚Toleranz‘-Politik Katharinas II. nach einem halben Jahrhundert wieder in Kraft gesetzt? Ist sie daher in ihrer Begrenzt- und Zeitgebundenheit für eine Analyse imperialer Politik im gesamten 18. Jahrhundert nicht zu vernachlässigen? Und w ­ elche Rolle spielte die petrinische Epoche dabei? Kann sie als Einschnitt angesehen werden, oder trifft dies nicht viel eher für die Zeit massiver Konversionstätigkeit unter Zarin Anna und vor allem Zarin Elisabeth zu?320

319 Wichtige Studien aus der Zeit des Zarenreichs sind M ožarovskij , Izloženie choda missionerskago dela; M alov , O novokreščenskich školach; ders ., O novokreščenskoj kontore; L uppov , ­Christianstvo u votjakov; N ikol ’skij , Christianstva sredi čuvaš. – Bedeutende Beiträge sowjetischer Historiker sind U rsynovič , Novokreščenskaja kontora; G rigor ’ev , Christianizacija nerusskich narodnostej; M akarov , Nekotorye voprosy christianizacii čuvaš. – Wichtige Arbeiten westlicher Historiker sind G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission; ders ., Die Islammission; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten; ders ., Die zaristische Politik gegenüber den Muslimen; ders ., Die „vergessenen Muslime“; K hodarkovsky , Four Degrees of Separation; ders ., Ignoble Savages and Unfaithful Subjects; ders ., Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism; ders ., The Conversion of Non-­Christians; ders ., The non-­Christian Peoples; W erth : Coercion and Conversion; ders ., The Tsar’s Foreign Faiths, bes. 74 – 104. – Eine jüngere russische Studie stammt von I slaev , Islam i pravoslavie v Povolž’e. 320 Unter dem Begriff der Konversion wird hier ein nominell vollzogener Wechsel der Religion verstanden, nicht einer, der grundsätzlich mit einem fundamentalen Austausch der Werte, Glaubensvorstellungen und Identitäten einherging. Dieses Verständnis ist besonders im Kontext der Massen­missionierung im 18. Jh. von Belang. – Zur weit umfassenderen Bedeutung von Konversion als Gegenstand soziologischer Untersuchungen S now /M achalek , The Sociology of Conversion, bes. 170.

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Um die Politik russländischer Regierungen im 18. Jahrhundert gegenüber nicht-­ christlichen Religionen einzuordnen und die eigene Forschungsthese gegenüber den vorherrschenden Auffassungen in der Sekundärliteratur herauszuarbeiten, ist es notwendig, den Blick auf die Jahrhunderte zuvor zu richten. Nur mit einer Rückschau lässt sich die Frage beantworten, inwiefern und in welchem Ausmaß Peter I. eine neue imperiale Politik einleitete. Vor Peter I. hatte es intensive Missionierungsbemühungen der Moskauer Regierung nur unter Zar Ivan IV. im 16. und kurzzeitig unter Zar Fedor Alekseevič im 17. Jahrhundert gegeben.321 Inwieweit ähnelten die von Peter I. ergriffenen Maßnahmen denen Ivans IV.?

Die erste Phase staatlich initiierter Missionierung im 16. Jahrhundert Nach der Eroberung des Kazaner Chanats von 1552 berief Ivan IV. eine Synode der russisch-­orthodoxen Bischöfe ein und ließ sie den Beschluss fassen, im frisch einverleibten, muslimisch geprägten Kazan ein Bistum der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche zu errichten. Schon die Einberufung des höchsten beschlussfassenden geistlichen Gremiums durch den Zaren war ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher war es, dass auch der Missionierungsauftrag, den der neu eingesetzte Erzbischof von Kazan, Gurij, 1555 erhielt, nicht etwa von den Hierarchen der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche, sondern von Ivan IV. selbst erteilt wurde.322 Mit dieser erstmals massiven 321 Zwar gab es auch zuvor Missionierungsversuche, so Ende des 14. Jahrhunderts unter den ­Zyrjänen (Komi) und in den 1520er und 1530er Jahren unter den Lappen und Kareliern im Nordwesten des ehemaligen Novgoroder Gebiets. Doch waren es stets Geistliche, die diese zum Teil gewaltsamen Bekehrungsversuche vorantrieben: im Falle der Zyrjänen der Permer Bischof Stefan, im Falle der Lappen der Novgoroder Erzbischof und spätere Metropoliten Makarij. Zur Zyrjänen-­ Mission Stephans: Žitie sv. Stefana episkopa Permskogo; Moskovskij Letopisnyj Svod Konca XV veka. In: PSRL Bd. 25, 226 f; Prodolženie letopisi o voskresenskomu spisku/Voskresenskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 8, 69 f.; K limenko , Der heilige Stephan von Perm; K appeler , Ethnische Minderheiten im Alten Rußland, hier 143. – Zur Missionierung der Lappen im 14. Jh.: Sofijskija Letopisi. In: PSRL Bd. 6, 282, 289, 295 f. – Zur Missionierung der Karelier: P elenski , Russia and Kazan, 194 – 196; K appeler , Die Moskauer „Nationalitätenpolitik“, 267; K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 119 – 120. – Im Gegensatz dazu war es im 16. Jahrhundert Zar Ivan IV. und damit erstmals die staatlich-­weltliche Seite, die die Missionierung initiierte. Vor dem Erstarken des Moskauer Fürstentums hatten schon Anführer anderer Fürstentümer der Kiever Rus’ christliche Bekehrungen angeordnet, so 1227 Fürst Jaroslav Vsevolodovič, der viele Karelier taufen ließ. Lavrent’evskaja Letopis’. Vyp. 2: Suzdal’sakaja Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. In: PSRL Bd. 1, Sp. 449; und im Jahr 1339: Novgorodskaja pervaja letopis’ mladšego izvoda, 350; G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 12 – 13. 322 Patriaršaja ili Nikonovskaja Letopis’. In: PSRL Bd. 13, St. Petersburg 1904, 249 – 151, 259; SIRIO Bd. 59, Nr. 30 (12.1. – 8. 2. 1555), Teil 5, 463; G lazik , Die Islammission, 47, 54; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 115/116.

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staatlichen Einmischung in kirchliche Belange wurden die Richtlinien für missionarisches Arbeiten festgelegt, ohne dass, wie eingangs erwähnt, ein russischer Begriff für ‚Mission‘ Eingang ins Vokabular fand: „Die Tataren, die sich freiwillig taufen lassen, soll er taufen lassen, jedoch ohne Anwendung von Zwang […]. Sanftmütig soll man mit ihnen reden und sie zur christlichen Religion bringen, […] mit Härte aber soll man nicht mit ihnen reden“.323 Nicht mit Zwang, sondern „durch Liebe“ sollte zum Christentum bekehrt werden. Für diesen Weg ließ Zar Ivan IV. ein Anreizsystem entwickeln, dessen Ansatz er aus dem weltlichen Kontext nur zu übernehmen brauchte: Schon bei der Eroberungsoffensive von Kazan galt, dass jenen Chanatsvertretern, die sich zum ‚freiwilligen‘ Beitritt in die zarische Untertanenschaft bereit erklärten, drei Jahre lang die jasak-­Abgabe zu erlassen sowie zahlreiche Geschenke zu übergeben waren.324 Im Falle der ‚freiwilligen‘ Konvertierung zur russischen Orthodoxie wählte die Zarenregierung als Lockmittel, all jenen ‚Tataren‘, die in irgendeiner Form eine Straftat begangen hatten, ihre Strafe zu erlassen und ihnen die Rückkehr in ihre Dörfer zu erlauben.325 Mit dieser Politik der Anreizsetzung zur Konversion wurde eine Methode eingeführt, die in wachsender Intensität sämtliche Missionierungsanstrengungen begleiten sollte und auch im 18. Jahrhundert eine elementare Rolle spielte.326 Im 18. Jahrhundert verdiente die Methode allerdings zuweilen nurmehr vordergründig noch die Bezeichnung der ‚Anreizsetzung‘. Das ‚Zuckerbrot‘, die Inaussichtstellung von meist finanziellen sowie rechtlichen Vorteilen im Falle der Konversion, wurde nicht selten begleitet von der ‚Peitsche‘, nämlich der Drohung damit, was im Falle der Nichtkonversion eintreten würde: eine gravierende Verschlechterung 323 Nakaznaja pamjat’. In: AAĖ Bd. 1, St. Petersburg 1836, Nr. 241, 259 f.; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 119; G lazik , Die Islammission, 46 – 47; Možarovskij, Izloženie choda ­missionerskago dela, 14 – 17. 324 Für die übrigen Chanatsbewohner, die nicht sogleich zur Unterwerfung bereit waren und stattdessen Kazan zu verteidigen suchten, galten diese Vergüngstigungen nicht. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 73. 325 Nakaznaja pamjat’. In: AAĖ Bd. 1, Nr. 241, 259 f.; G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 26; K appeler , Moskauer „Nationalitätenpolitik“, 272; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 119; M ožarovskij , Izloženie choda missionerskago dela, 14 – 17. – Wenig ­später wurden auch udmurtischen taufwilligen Familien in der Gegend von Vjatka (die nicht zum Chanat von Kazan gehörte) drei Jahre Steuer- und Dienstfreiheit versprochen. O predostavlenii im za prinjatie christianstva trechletnej l’goty (…). In: Dokumenty po istorii Udmurtii XV‒XVII vekov, Nr. 80 (1557), 353 – 354; L uppov , Christianstvo u votjakov, 65 – 70; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 119 Fn. 169. 326 Auch Konversionen nicht-­russischer Adliger zum orthodoxen Christentum wurden seit Mitte des 16. Jh. belohnt: Sie erhielten einen russischen Adelstitel und im Austausch für ihren Militärdienst jährliche Geschenke in Form von Ländereien und Geld. K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 123.

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der Lebensumstände des Betroffenen. In diesen Fällen konnte statt von ‚Anreiz‘ eher von Nötigung gesprochen werden.327 Die Missionierungsoffensive im 16. Jahrhundert unter Ivan IV . lässt sich in zwei Phasen einteilen: Noch unmittelbar nach der militärischen Eroberung des Chanats von Kazan war die Bevölkerung größtenteils umgebracht oder gefangen genommen, waren die Moscheen zerstört und der Chan sowie vornehme Tataren nach Moskau oder in andere Regionen des Reiches verschleppt worden. Dort wurden sie entweder zwangsgetauft oder ertränkt.328 In den Jahren nach 1555 aber – und im Gegensatz zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – durften kazantatarische Dienstfürsten und andere nicht-­russische Ansässige sowohl ihre Besitzungen als auch ihre Rechte in der Kazaner Umgebung sowie innerhalb des Kerngebiets des Moskauer Reiches behalten.329 Konkret bedeutete dies, dass muslimische tatarische Dienstleute der Vjatka-­Region, der mordwinischen Siedlungsgebiete und des autonomen Chanats weiterhin in ihrer privilegierten sozialen Stellung verbleiben und unter ihren abhängigen Bauern auch russisch-­orthodoxe Gläubige besitzen konnten.330 Allerdings beschränkte sich die Großzügigkeit nur auf die genannten Regionen. Innerhalb der Stadt Kazan wurden Nicht-­Christen ausgewiesen, ihre Niederlassung 1556 verboten. Die Handelstätigkeit der Kazantataren war damit stark behindert, die Stadt konnte russisch besiedelt und die islamische Kultur zunehmend aufs Land verdrängt werden.331 Zudem sorgte die Einrichtung von zahlreichen Klöstern dafür, dass die russische Kolonisation auch in den ländlichen Gebieten gefördert wurde.332 Dennoch ist festzuhalten, dass die staatlich initiierte Missionierung nur in den ersten Jahren nach der Eroberung Kazans und damit z­ wischen 1551 und 1555 von

327 Als Beispiel kann der Erlass Peters I. von 1713 dienen, mit dem die muslimischen Grundbesitzer der Wolga-­Region vor die Wahl gestellt wurden, sich taufen zu lassen, oder alle abhängigen russisch-­orthodoxen Bauern und deren Ländereien zu verlieren. Mehr dazu weiter unten. 328 Novgorodskaja vtoraja letopis’. In: PSRL Bd. 3, St. Petersburg 1841, 156, 157; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 98 – 100, 119. 329 K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 106 – 108. 330 K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 268 – 269. 331 G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 26; K appeler , Moskauer „Nationalitätenpolitik“, 270. 332 Ob dabei Missionsschulen zur Unterrichtung Neugetaufter gegründet wurden, darf bezweifelt werden. Vgl. den Fälschungsnachweis zum Brief Ivans IV., der auf das Jahr 1557 datiert und an den Kazaner Erzbischof Gurij gerichtet gewesen sein soll. In ihm sei angeblich angeregt worden, Missionsschulen einzurichten. K aštanov , Zemel’no-­immunitetnaja politika, 173, 185 f. – Glazik hielt das Schreiben offenbar für echt. G lazik , Die Islammission, 47/48. – Ursynovič hält es für eine „Legende“, dass unter Erzbischof Gurij Neugetauften-­Schulen entstanden s­ eien. U rsynovič , Novokreščenskaja kontora, 27, 33.

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einer aggressiven und systematischen Diskriminierung von Nicht-­Christen begleitet war, die sich zudem in erster Linie auf die Oberschicht des ehemaligen Chanats bezog. Die Deportationen und Umsiedlungen sowie das für Kazan geltende städtische Niederlassungsverbot zielten dabei weniger auf eine innerliche, christliche Bekehrung der Betroffenen als vielmehr darauf, die Kontrolle über die eroberte Kazaner Stadt zu festigen und den Herrschaftsanspruch der neuen Machthaber zu demonstrieren.333 Die Christianisierung, zu der Ivan IV. in der Folge aufrief, erfolgte weitgehend ohne Zwang.334 Zudem wurde die aktive Bekehrungspolitik nach dem Tod des Kazaner Erzbischofs Gurij bereits 1563 wieder aufgegeben.335 Und doch hinterließ Zar Ivan IV. neben der Politik der Anreizsetzung noch eine weitere Methode als Erbe, die unter ihm zwar nur vereinzelt und inkonsequent eingesetzt worden war, jedoch in der Folgezeit in Erinnerung blieb und im 18. Jahrhundert zum Standardrepertoire von Missionierungspolitik gehören sollte: Bei dieser Methode ging es darum, Neugetaufte zu zwingen, sich an einem anderen Ort anzusiedeln. Dies hatte meist in kompakter Form, vor allem aber weit entfernt von jeder Nachbarschaft zu ‚Ungläubigen‘ zu erfolgen. Zar Ivan IV. übertrug mithin Muster zwangsvollzogener An-, Aus- und Umsiedlungen, wie er sie bereits im Zuge weltlicher Eroberungen anhand der städtischen Elite Novgorods und Kazans erprobt hatte, auf Gruppen mit einem religiös 333 Andreas Kappeler erklärt die Diskrepanz z­ wischen Ivans IV. Missionierungspolitik in der Zeit von 1551 bis 1555 und der Politik in den nachfolgenden Jahren zum einen mit Ivans IV. allgemein politischer Neuorientierung, nachdem er seine schwere Erkrankung überwunden hatte (u. a. ließ er sich russisch-­orthodoxe Kirchenleute weit stärker als zuvor unterordnen). Zudem vollzog er eine außenpolitische Wendung nach Westen, führte Krieg gegen Schweden und Livland und war dadurch stärker als zuvor auf kazantatarische Soldaten angewiesen. Auch der Widerstand unter den Kazantataren legte eine Neuorientierung in der Missionierungspolitik nahe. K appeler , Die Moskauer „Nationalitätenpolitik“, 272 – 273. 334 Auch bei der Eroberung von Astrachan (1554 – 1557) gab es keine vergleichbaren Bekehrungsversuche mehr. K appeler , Die Moskauer „Nationalitätenpolitik“, 272, 274. 335 Andreas Kappeler überzeugt mit seinen Ausführungen, dass es sich bei dem Brief des Zaren Fedor Ivanovič vom 18. 7. 1593 an die Voevoden von Kazan um eine Fälschung handeln muss. Der Brief überrascht mit einer für die Zeit ungewöhnlich aggressiven Missionierungsrhetorik. Hinzu kommen terminologische Ungereimtheiten, die in der Zeit völlig aus dem Rahmen fallende Anweisung nach strikter Segregation und Zählung aller Neugetauften und vor allem der Befehl, neu errichtete Moscheen zu zerstören. Diese Anweisungen passen in keiner Weise in das Gesamtbild des ausgehenden 16. Jahrhunderts und finden auch in keiner anderen Quelle Bestätigung. Folgt man der Fälschungsthese Kappelers, bleibt es daher bei der Beobachtung, dass nach 1563 andere Wertesysteme geduldet und Bekehrungsversuche eingestellt wurden. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 147 Fn. 36; ders ., Javljaetsja li gramota (…) fal’sifikaciej (…)? – Der vermeintlich echte ‚Brief‘ (gramota) ist abgedruckt in AAĖ Bd. 1, Nr. 358 (18. 7. 1593), 436 – 439. – Unkritische Interpretationen des Briefes in M ožarovskij , Izloženie choda missionerskago dela, 9, 24 – 28; N olte , Religiöse Toleranz, 116 – 119; L emercier -­Q uelquejay , Les missions orthodoxes, 379; P elenski , Russia and Kazan, 274 f.; D imitriev , Rasprostranenie christianstva, 89 f.; G lazik , Die Islammission, 57 – 58; K hodarkovsky , Four Degrees of Separation, 259 – 260.

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definierten Status.336 Dabei ging es dem Moskauer Herrscher auch im religiösen Kontext primär um die Oberschicht.337 Ganz offensichtlich stand für ihn mehr im Vordergrund, die kazantatarische Elite zu kontrollieren, ihren Gehorsam zu sichern, als darauf zu achten, dass sie ihren neuen Glauben wahrte. Dies zeigte sich im Auftrag, den Ivan IV. 1556 an Novgoroder Diakone richtete: Bei getauften Kazaner Tataren sollte nicht etwa die Einhaltung christlicher Gebräuche kontrolliert werden, sondern es galt zu überwachen, dass sie sich nicht aus den Novgoroder Klöstern entfernten, in denen sie zu leben hatten.338 Die meisten anderen ‚Neugetauften‘ (novokreščennye), wie die Konvertierten bereits im 16. Jahrhundert genannt wurden, konnten hingegen weiterhin unter ihren bisherigen Glaubensgenossen verbleiben.339 Wenn sie nicht unter der unmittelbaren Aufsicht eines Klosters standen, waren sie damit ungehindert dem Einfluss ihrer muslimischen Umgebung ausgesetzt, lebten häufig wie zuvor nach alten tatarischen Bräuchen und kehrten teilweise sogar offen zu ihrem alten Glauben zurück.340

Staatliche Missionierung im ausgehenden 16. sowie im 17. Jahrhundert Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Quartal des 17. Jahrhunderts finden sich kaum mehr staatliche Anweisungen zur Missionierung von Muslimen oder ‚Heiden‘.341 Die Christianisierung der ‚Ausländer‘ (inozemcy) galt 336 Beispiele von gewaltsamen Umsiedlungen bei Mordwinen, Čeremissen sowie bei den Kasimo-­ Tataren in Moskovskij Letopisnyj Svod Konca XV veka, in: PSRL Bd. 25, 194, 280 – 283; Vologodsko-­Permskaja Letopis’, in: PSRL Bd. 26, 279, 312; Sofijskija Letopisi, in: PSRL Bd. 6, 264. 337 Neugetaufte tatarische Mirza hatten kompakt im Tverer Land zu leben. Allerdings ist an einer Stelle auch von der Ansiedlung „neu getaufter“ Ackerbauern in der Umgebung von Laišev die Rede. Patriaršaja ili Nikonovskaja Letopis’, in: PSRL Bd. 13, 281 f.; T ichomirov , Rossija v XVI stoletii, 199; K appeler , Russlands erste Nationalitäten, 98 Fn 81, 113 Fn. 144. 338 Gramota Novgorodskim d’’jakam Fedoru Eremeevu I Kazarinu Dubrovskomu, o Tatarskich novokreščenach, rozdannych dlja kormlenija po Novgorodskim monastyrjam. In: DAI Bd. 1, Nr. 97 (11. 2. 1556), 148 – 149. 339 Die Bezeichnung „Neugetaufte“ (novokreščennye) taucht sogar schon bei den Bekehrungen des Permer Bischofs Stefan in der 1. Hälfte des 16. Jh. auf. E pifanij , Žitie Svjatogo Stefana, 24; K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 119. 340 Carskaja gramota, in: AAĖ Bd. 1, Nr. 358 (18. 7. 1593), 436 – 439; G lazik , Die Islammission, 57; ders ., Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 28; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 147. 341 Die Anweisung des Zaren Michail Fedorovič und des Patriarchen Filaret Niktič an den Erzbischof Makarij vom 8. 2. 1625, wonach Letzterer Tataren ohne Angst und Härte, wohl aber „mit Liebe“ zur Taufe führen möge, muss da als Ausnahme gelten. K onev , Pravovoe položenie „novokreščenych inovercev“, 21.

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zwar als wünschenswert. Sie wurde auch von staatlicher Seite insofern gefördert, als jasak-­Zahler im Falle ihrer Taufe in der Regel von der jasak-­Zahlung befreit und in die Gruppe der russischen nichtadligen niederen Dienstleute (služilye ljudi po priboru) eingegliedert wurden.342 Generell aber galt die Missionierung jetzt wieder als eine Angelegenheit der ­Kirche. Dies bedeutete im Umkehrschluss, dass sich der Staat mit Blick auf Christianisierungen auch mit keinerlei Vorgaben mehr an die Adresse der ­Kirche wandte – mit der einen Ausnahme, dass die gewaltsam vorgenommene Taufe verboten blieb.343 Statt Bekehrungsbemühungen schälte sich als Leitfaden für die staatliche Gesetzgebung des 17. Jahrhunderts das Anliegen heraus, Neugetaufte vor den Einflüssen Ungetaufter abzuschirmen. Bereits ein Erlass von 1599, der die Freilassung nicht-­ russischer Kriegsgefangener aus der Knechtschaft (cholopstvo) vorsah, legte fest, dass nur die Nichtgetauften (lica nekreščennye) in ihre angestammten Siedlungsräume zurückkehren durften. Getaufte hingegen hatten fortan „unter Russländern“ zu bleiben. Getaufte Frauen wurden sogar aufgefordert, Dienstleute des Zaren zu heiraten, und getaufte Männer sollten in die Reihen der Strelitzen und Kosaken aufgenommen werden.344 Damit offenbarte sich, dass die Umsiedlung und der Wunsch, einmal Konvertierte vor ihrem ‚Rückfall‘ in ihren alten ‚Unglauben‘ zu bewahren, nur als erster Schritt gedacht war. Der zweite Schritt sollte die allmähliche Assimilierung der Neugetauften an die mehrheitlich russisch geprägte Bevölkerung des Zarenreiches sein, wenn auch nur auf der Basis von Freiwilligkeit.345 342 Beispiele für die Eingliederung neu getaufter Tataren und Mansen („Wogulen“) in den Zarendienst nennen K onev , Pravovoe položenie, 20; S lezkine , Arctiv Mirrors, 49 (Verweis auf die Aufnahme von Neugetauften in den Kosakendienst von 1670) sowie vor allem O gryzko , ­Christianizacija narodov, 9 – 14. – Für die erste Hälfte des 16. Jh. wurde die jasak-­Zahlungspflicht auch nach der Taufe beibehalten. F irsov , Položenie inorodcev, 201 Fn. 236; S olov ’ev , Istorija Rossii, Bd. 7, 87 – 90. – Die meisten Autoren gehen für das 17. Jh. von einer jasak-­Befreiung für alle Neugetaufte aus, können dafür aber keine gesetzliche Grundlage benennen. O gryzko , ­Christianizacija narodov, 13 – 14, 21 – 23; B ucinskij , Zaselenie Sibiri, Bd. 1, 294 – 295; F edorov , Pravovoe položenie, 26, 84. – Ein wichtiges Indiz ist die Anweisung Peters I. von 1702, wonach der neu ernannte sibirische Metropolit Filofej Leščinskij „Fremdstämmige“ ohne Befreiung von jasak-­ Zahlungen taufen lassen solle. Für Ogryzko steht im Umkehrschluss fest, dass dies zuvor nicht der Fall gewesen sei. O gryzko , Christianizacija narodov, 25. 343 F irsov , Položenie inorodcev, 203. 344 O globlin , Obozrenie stolbcov, 221; F edorov , Pravovoe položenie, 83. – Strelitzen (Eindeutschung von strel’cy, zu Deutsch „Schützen“) dienten in Schützenregimentern, w ­ elche Ende des 16. Jh. als Vorläufer der regulären Heeresteile des 17. Jh. anzusehen sind. 345 In eine ähnliche Richtung wies der Befehl von Zar Michail Fedorovič von ca. 1630, alle Verbannten unter den ,Fremdländern‘ (inozemcy), die sich zur orthodoxen Taufe bereit erklärten, s­ eien Bojarenkindern gleichzustellen. K ljueva , Inozemcy v Sibiri XVII v., 469. – Aus beiden Anordnungen geht hervor, dass die Annahme der Orthodoxie auch mit einem Aufstieg in einen höheren Stand einhergehen konnte. Vor allem aber zeigt sich die Offenheit der vorgestellten ,Wir‘-Gruppe der Russländer des ausgehenden 16. und des 17. Jh. für Angehörige anderer ethnischer Gruppen,

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In der Praxis verleitete die Regel, wonach einmal Getaufte nicht mehr zu den Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe zurückgegeben werden durften, zu Missbrauch in großem Umfang.346 Viele Moskauer Dienstleute und Voevoden nutzten sie als Grundlage für Zwangskonvertierungen. Sie beeilten sich, nicht-­russische Gefangene und Geisel an der Wolga sowie vor allem in Sibirien und Fernost taufen zu lassen, um sie anschließend für den eigenen Haushalt in die Knechtschaft zu überführen. Die Neugetauften hatten nun kein Recht mehr, zu ihren nichtgetauften Angehörigen zurückzukehren.347 Angesichts der stark wachsenden Anzahl Neugetaufter unter den Knechten (cholopy; im Deutschen auch mit ‚Hörige‘ zu übersetzen) versuchte die Zentrale im Laufe des 17. Jahrhunderts immer wieder, die Nicht-­Russen (inozemcy) zu s­ chützen und d­ iesem offensichtlichen Missbrauch mit dem Verbot jeglicher Gewalt bei der Taufe einen Riegel vorzuschieben.348 Der andere Grundsatz, der die Gesetzgebung des 17. Jahrhunderts wie ein roter Faden durchzieht, betraf den Schutz von russisch-­orthodoxen Gläubigen, die als Knechte für Nicht-­Christen zu arbeiten hatten. So war es ihnen seit 1628 verboten, weiter auf den Höfen Ungetaufter zu leben, da sie dort „bedrängt würden, ohne geistlichen Zuspruch stürben und in der Fastenzeit Fleisch äßen“.349 Dieses Verbot wurde in der Uloženie, dem ersten Gesetzbuch des Moskauer Reiches von 1649, sowie in späteren Instruktionen von Voevoden dahingehend bekräftigt, dass sogar vormals ungetaufte Knechte im Falle ihrer Taufe ihren andersgläubigen nicht-­ russischen Herren wegzunehmen s­ eien.350 Anders als im größten Teil der Forschungsliteratur dargestellt, ließ man es hingegen bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein zu, dass auf den Gütern muslimischer Dienstleute abhängige russisch-­orthodoxe Bauern lebten und arbeiteten.351 Daraus lässt sich ablesen, dass der Zarenregierung weniger an einer

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sofern diese sich mit der Konversion zur russisch-­orthodoxen Religion für das zu der Zeit wichtigste Unterscheidungsmerkmal ­zwischen den ethnischen Gruppen untereinander gewinnen ließen. O gryzko , Christianizacija narodov, 11 – 14. F edorov , Pravovoe položenie, 83. PSZRI Bd. 1, Nr. 1 (29. 1. 1649), 1 – 161, hier 117 – 118, 137; Bd. 2, Nr. 1117 (5. 4. 1685), 662 – 663; Bd. 3, Nr. 1594 (1. 9. 1697), 335 – 375, hier Pkt. 20, 355 – 356, Pkt. 27, 372. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 166; B ajdakova , Politika rossijskich vlastej, 13; dies ., Zakonodatel’nyj aspekt, 138 – 148. Uloženie. In: PSZRI Bd. 1, Nr. 1 (29. 1. 1649), 1 – 161, glava 20; M akarov , Samoderžavie i christianizacija, 118; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 166. Ein großer Teil der Forschung interpretierte den Erlass von 1628 ungenau und glaubte ihm zu entnehmen, dass tatarischen Gutsbesitzern ihre christlichen Bauern weggenommen worden ­seien. Andreas Kappeler hat d­ ieses Missverständnis aufgedeckt und gezeigt, dass es sich bei dem Begriff cholopy im 17. Jh. nicht um (leibeigene) Bauern, sondern um Knechte handelte. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 165 – 166. – Cholopy und krest’jane bildeten im 17. Jh. noch zwei verschiedene soziale Kategorien. Z imin , Cholopy na Rusi; K olyčeva : Cholopstvo i krepostničestvo; H ellie , Slavery in Russia.

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Diskriminierung Ungetaufter oder Andersgläubiger gelegen war. Vielmehr wird es vornehmlich darum gegangen sein, getaufte Knechte (ob russischer oder nicht-­ russischer Herkunft) in ihrem russisch-­orthodoxen Glauben zu ­schützen, da sie im 17. Jahrhundert noch weitaus mehr ihren Herren ausgeliefert waren als leibeigene Bauern. Es ging mithin aus der Wahrnehmung der Moskauer Regierung um die Abschirmung ‚schutzloser‘ Christen vor Nicht-­Christen. Wäre es der Regierung in erster Linie um einen Angriff auf andersgläubige Gutsbesitzer gegangen, hätte man denselben 1628 nicht nur untersagt, russisch-­orthodoxe Knechte zu besitzen, sondern auch verboten, russisch-­orthodoxe Bauern zu haben.352 Nur in der Mitte der 1650er Jahre erfolgte eine kurzzeitige Abkehr von der Politik, wie sie seit den 1560er Jahren üblich geworden war, und bei der es weniger um Missionierung als vielmehr um den Schutz einmal Getaufter ging. Seit der Einnahme von Kazan ein Jahrhundert zuvor kam es erstmals wieder zu einer gewaltsam erfolgten Missionierung, die von staatlicher Seite zumindest begleitet wurde. Die Initiative ging vom Patriarchen Nikon aus, der die Bekehrung der „heidnischen“ Mordwinen (und Tataren) zum Christentum als besonderes Anliegen verfolgte.353 Er, der selbst mordwinischer Abstammung war, gewann Zar Aleksej Michajlovič dafür, den ihm vertrauten Klostervorsteher Misail zum Erzbischof von Rjazan’ und Tambov zu ernennen und ihn mit der Missionierung der Mordwinen und Tataren zu beauftragen. Mit des Zaren Zustimmung ließ Erzbischof Misail anschließend innerhalb eines Jahres über 4000 Mordwinen und Tataren im Wolga-­Raum taufen. Als sich Widerstände bildeten, stellte die Regierung dem Erzbischof eine bewaffnete Abteilung von Dienstleuten zur Seite, damit er die restlichen „Mordwinen und Tataren zur heiligen Taufe führe“ (vo svjatoe kreščenie privoditi). Der Erzbischof wurde von den Aufständischen erschossen, der Missionsversuch daraufhin abgebrochen.354 Leider liegen die Motive für die ungewöhnliche Unterstützung des Zaren zur gewaltsamen Missionierung im Dunkeln. Da die Initiative vom Patriarchen und Erzbischof ausging und die Regierung diese bloß wohlwollend unterstützte, mag sich Letztere erst angesichts der indigenen Widerstände und damit eher ungeplant zum gewaltsamen Eingreifen genötigt gesehen haben.355 Aus dem Abflauen der 352 Eine andere Auffassung vertritt Makarov, der die Verbote von 1628 und 1648 in einer Linie mit dem 1681 erteilten Verbot zur Haltung russischer Bauern auf Gütern Ungetaufter sieht. M ­ akarov , Samoderžavie i christianizacija, bes. 126 – 127. 353 M el ’nikov , Očerki Mordvy, 40 – 41. 354 Pokazanie syna bojarskogo Akindina Bacholdina ob ubijstve mordvoj v Šackom uezde archiepiskopa Misaila. In: Dokumenty i materialy po istorii Mordovskoj ASSR, Bd. 1, Teil 1, Nr. 70 (1656), 298 – 300; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 176 – 177; N olte , Religiöse Toleranz, 24 – 25; D ubasov , Očerki iz istorii, 17 – 18, 81, 424 Fn. 8. 355 D ubasov , Očerki iz istorii, 80 – 81.

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Bemühungen nach dem Tod des Erzbischofs lässt sich in jedem Fall ablesen, dass zumindest auf Regierungsseite der Wille zu einer nachhaltigen, von Gewalt flankierten Missionierung nicht gegeben war.356

Vorboten des petrinischen Wandels: Missionierungspolitik am Ende des 17. Jahrhunderts Anzeichen neuer Denk- und Handlungsweisen, wonach Konversionen nicht mehr nur auf freiwilliger Basis und durch positive Anreizsetzung erfolgen sollten, kündigten sich gegen Ende der Herrschaft von Zar Aleksej Michajlovič an (1645 – 1676). Im vorletzten Jahr seiner Regentschaft gab er einen Erlass ­heraus, wonach die Dienst- und Erbgüter von „Tataren und anderen Fremdländern“ (­ Tatarskie i inych inozemcov) dann wegzunehmen s­ eien, wenn sie sich nicht taufen ließen.357 „Russen“ (Russkim ljudem) und Neugetauften s­ eien sie zu geben. Und wenn sich anschließend „Mirza und Tataren“ doch noch taufen ließen, solle man die bereits konfiszierten Güter ihnen nicht mehr zurückgeben, sondern sie anweisen, sich neue unter den eingezogenen Ländereien zu suchen.358 Diese frappierende Abkehr von der bislang zurückhaltenden Missionierungspolitik setzte sich auch unter Zar Fedor Alekseevič fort (1676 – 1682). Unter seiner Führung kam es sogar zu einem ganzen Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen, bei denen Anreize zur Taufe einhergingen mit Elementen des Zwangs, die sich wie bei seinem Vater primär gegen die nicht-­christliche Oberschicht in der Wolga-­Region richteten.359 Vor ­diesem Hintergrund und angesichts der zeitlichen Nähe zur petrinischen Ära stellt sich erneut und weit dringlicher als im Falle Zar 356 Nicht restlos geklärt ist, ob es sich bei der Taufe des Chans von Kasimov, Seid-­Burgan mit muslimischen Namen, z­ wischen 1653 und 1655 um eine weitere Ausnahme von der ansonsten weitgehend gewaltfreien Missionierungspolitik der Russisch-­Orthodoxen K ­ irche im 17. Jahrhundert handelte. V el ’jaminov -­Z ernov , Issledovanie o Kasimovskich carjach, Bd. 3, 183 – 207, 218 f., 317 – 425; v . R auch , Studien, 36 – 37; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 246. 357 Ethnonyme in den russländischen Quellen des 17. und 18. Jh. sind mit besonderer Vorsicht zu betrachten: Oftmals wurden ethnische Termini eingesetzt, wenn eigentlich soziale Kategorien beschrieben wurden. Bei ,Tataren‘ handelte es sich z. B. meist um turksprachige Dienstleute, bei ,Čuvašen‘ meist um turksprachige, lastenpflichtige jasak-­zahlende Leute. In beiden Fällen konnten in Wirklichkeit (unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen) Tataren oder Čuvašen dahinterstecken. Selbst im 18. Jh. gingen ethnische, soziale und wirtschaftliche Identitätszuschreibungen auf russländischer Seite noch kreuz und quer. K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 84; K hodarkovsky , ,Ignoble Savages‘; K hodarkovsky , Four Degrees of Separation, 265 – 266. 358 PSZRI Bd. 1, Nr. 616 (1675), 1029. 359 PSZRI Bd. 1, Nr. 823 (21. 5. 1680), 267; Bd. 2, Nr. 867 (16. 5. 1681), 312 – 313; Bd. 2, Nr. 870 (24. 5. 1681), 315; Bd. 2, Nr. 955 (23. 9. 1682), 467 – 468.

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Ivans IV. die Frage, inwiefern die Missionierungspolitik Zar Peters I. tatsächlich einen Einschnitt oder aber bloß die Fortsetzung eines bereits vor ihm eingeleiteten neuen Kurses gegenüber ‚Fremdgläubigen‘ darstellte.360 Zunächst ließ Zar Fedor Alekseevič nur den Mirza (der tatarischen Oberschicht) und Tataren aus Romanov und Jaroslavl’ im Mai 1680 damit drohen, ihnen ihre Güter wegzunehmen, falls sie sich nicht taufen ließen. Hingegen sicherte er für den Fall ihrer Konvertierung zu, ihnen einen Fürstentitel nach der russischen Adelsordnung und den Rang eines stol’nik (wörtlich ‚Truchsess‘) zu verleihen. Außerdem sollten sie eine dreijährige Befreiung vom Dienst erhalten. Dies galt auch für andere muslimische Dienstleute der Region, denen zudem versprochen wurde, dass ihnen im Fall ihrer Konvertierung Grundbesitz verliehen werde.361 Kurze Zeit ­später weitete Zar Fedor Alekseevič diesen lokal begrenzten Erlass zu einem umfassenden Schlag gegen die gesamte muslimische Oberschicht aus: Im Mai 1681 wies er an, dass alle muslimischen Dienstleute, wenn sie sich nicht taufen ließen, zu enteignen ­seien, sofern auf ihren Gütern russisch-­orthodoxe Bauern siedelten.362 Dieser Erlass blieb nur ein Jahr in Kraft, doch da er energisch in die Tat umgesetzt wurde, führte er durchaus zu Konvertierungsbewegungen unter vielen der begüterten muslimischen Gutsbesitzer.363 Verstärkt wurde der Druck zur Konversion dadurch, dass die Taufwilligen zusätzlich zur Bewahrung ihres Besitzes noch ein weiteres Dienstgut verliehen bekamen, das einem Fonds von solchen Ländereien entstammte, die zuvor taufunwilligen Tataren weggenommen worden waren.364 360 James Cracraft sieht in der petrinischen Gesetzgebung zu Muslimen und ‚Heiden‘ sogar ein aussagekräftiges Beispiel für das Ausmaß, in welchem die politischen Strategien Peters I. auf jenen seiner Vorgänger basierten. C racraft , The Church Reform, 64. 361 PSZRI Bd. 2, Nr. 823 (21. 5. 1680), 267; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 246; N olte , Religiöse Toleranz, 70 f. – Im nächsten Schritt vom Februar 1681 wies Zar Fedor seinen Voevoden von Jadrinsk dazu an, allen „murzy, Tataren, Mordvinen, Čeremissen und inozemcy jeglicher anderer Glaubensrichtungen“ im Falle ihrer freiwilligen Taufe sechs Jahre entweder Befreiung vom Dienst oder, im Falle der jasak-­Zahler, Befreiung vom jasak sowie jeglicher anderer Abgaben zu geben. Akty, otnosjaščiesja do obraščenija v christianskuju veru Tatar, Mordvy, Čeremisov i drugich inovercev. In: DAI Bd. 8, St. Petersburg 1862, Nr. 89 (15. 2. 1681), 310 – 311; Gramota jadrinskomu voevode L. G. Efim’evu o kreščenii tatar, mordvy i čeremis (mari). In: ­Dokumenty i materialy po istorii Mordovskoj ASSR Bd.  2, Nr.  182 (15. 2. 1681), 45 – 46; M ­ akarov , ­Samoderžavie i christianizacija, 115. 362 PSZRI Bd. 2, Nr. 867 (16. 5. 1681), 312 – 313.; Bd. 2, Nr. 870 (24. 5. 1681), 315; Bd. 2, Nr. 923 (29. 5. 1682), 403 und Nr. 944 (13. 7. 1682), 456. 363 Zwar versprach man ihnen als Ersatz andere Güter und zudem ungetaufte mordwinische Bauern. In Wirklichkeit kam es dazu aber offenbar nicht. N olde , La Formation de L’Empire Russe, Bd. 1, 101; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 246. 364 N olte , Religiöse Toleranz, 70 – 72; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten 247.

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Zwar nahm die Regentin Sof’ja, Schwester des 1682 verstorbenen Fedor Alekseevič und des noch jungen Peters I., den Konfiskationserlass ihres Bruders nach nur einem Jahr im Mai 1682 zunächst teilweise, 1685 dann vollständig wieder zurück.365 Das Ende des Russländisch-­Osmanischen Krieges sowie die Unruhen tatarischer Dienstleute in Moskau und unter Baschkiren ließen es ratsam erscheinen, den Besitz orthodoxer Bauern durch muslimische Gutsbesitzer wieder für rechtmäßig zu erklären.366 Doch kehrte auch die Regentin nicht vollständig zum früheren Kurs zurück. Sie machte die bereits erfolgten Enteignungen nicht rückgängig, sondern ließ im April 1683 Landstreitigkeiten dahingehend klären, dass die unter Zar Fedor Alekseevič konfiszierten Güter, die bereits an orthodoxe Russländer oder Neugetaufte vergeben worden waren, nach Rücknahme des Erlasses nicht wieder an ihre alten muslimischen Gutsbesitzer zurückzugeben s­ eien.367 Damit verabschiedete auch sie sich trotz des Widerrufs des Konfiskationsgebots von einer Politik relativer Ausgewogenheit, wie sie noch in der Uloženie 1649 und in späteren Erlassen zum Ausdruck gekommen war. Dort hatte die Regierung trotz des Vordringens der russischen Kolonisation im Kazaner Gebiet darauf geachtet, gleichzeitig den Landbesitz der tatarischen Oberschicht zu s­ chützen.368 Mangels Quellen, in denen die Motive vor allem des Zaren Fedor Alekseevič für seinen Generalangriff gegen die muslimische Oberschicht umfassend reflektiert werden, muss sich die Forschung bislang weitgehend mit den Erlassen selbst begnügen, um den kurzzeitigen Politikwandel im letzten Quartal des 17. Jahrhunderts zu erklären. Als wichtigste Ursache kann wohl die antiislamische Grundstimmung infolge des ersten großen Russländisch-­Osmanischen Krieges um die Vorherrschaft über die Hetmanats-­Ukraine gelten, der sich über fünf der sechs Herrschaftsjahre von Zar Fedor Alekseevič erstreckte (1676 – 1681).369 Die ­anti-­islamische

365 PSZRI Bd. 2, Nr. 923 (29. 5. 1682), 403; Bd. 2, Nr. 944 (13. 7. 1682), 456; Bd. 2, Nr. 1117 (5. 4. 1684), 662 – 663. 366 M akarov , Samoderžavie i christianizacija, 122 – 126; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 247. 367 PSZRI Bd. 2, Nr. 1009 (26. 4. 1683), 521 – 522; M akarov , Samoderžavie i christianizacija, 125. 368 Schon 1615 untersagte ein Gesetz den Wechsel von Landbesitz z­ wischen tatarischen und russischen Gutsbesitzern. Nolde legt diese beständig in den Gesetzen auftauchende Formel überzeugend als Bemühen aus, die Interessen der nicht-­russischen Oberschicht in der Wolga-­Region ­schützen und vor einer schleichenden Verdrängung durch russische Adlige bewahren zu wollen. N olde , La Formation de L’Empire Russe, Bd. 1, 97 – 99. – Nolde beurteilt zwar Sofijas Gesetzgebung insgesamt als eine milde Politik gegenüber Nicht-­Christen. Doch räumt er ein, dass der Erlass vom 26. 4. 1683, mit dem die vorherige Konfiskation für unumkehrbar erklärt wurde, vor allem den russisch-­orthodoxen Gutsbesitzern nützte. N olde , La Formation de L’Empire Russe, Bd. 1, 103. 369 Zu den osmanischen Provokationen des Zarenreiches auch nach Kriegsende S mirnov , Rossija i Turcija, Bd. 2, 168 – 173.

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­ instellung spiegelte sich bereits in dem Generalverdacht wider, unter den sich E sämtliche Mirza und andere Tataren durch den Erlass von 1681 gestellt sahen, wonach sie angeblich ihren (russisch-­orthodoxen) Bauern wirtschaftlich und auch sonst Beschwernisse bereiteten, sie zum muslimischen Glauben zwängen und Entweihungen orthodoxer Rituale oder Gegenstände vornähmen.370 Misstrauen wurde weiter dadurch genährt, dass in diesen Kriegsjahren eine große Anzahl muslimischer Soldaten aus der Zarenarmee desertierte, da sie nicht bereit waren, gegen ihre Glaubensbrüder im Osmanischen Reich zu kämpfen. Ihnen wurden daraufhin umgehend ihre Güter entzogen.371 Zudem heizten Berichte über verschwörerische Verbindungen von Wolgatataren mit dem Sultan die Stimmung weiter an.372 Vor allem aber offenbaren die Erlasse, dass es nicht darum ging, den muslimischen Glauben an sich oder Muslime selbst sprachlich herabzusetzen oder zu verdammen. Auch ist ihnen kein Bewusstsein zu entnehmen, man wähne sich den Muslimen gegenüber zivilisatorisch überlegen. Es fehlt jeglicher belehrender Charakter. Vielmehr wird die Sorge um die russisch-­orthodoxen Bauern zum Ausdruck gebracht, dass sie schlecht behandelt, beleidigt und zum Abfall von ihrem Glauben und in den Islam hinein gedrängt werden könnten. Zudem ist überhaupt keine Rede von einer Bekehrungsoffensive gegenüber den ‚Heiden‘ in Sibirien.373 Damit lässt sich zur vorpetrinischen Missionierungspolitik der Moskauer Herrscher insgesamt festhalten, dass zwar die seit den 1560er Jahren vorangegangene Politik der geringen staatlichen Einmischung unter den Zaren Mitte der 1650er Jahre sowie für wenige Jahre unter Aleksej Michajlovič und Fedor Alekseevič im späten 17. Jahrhundert eine Unterbrechung erfuhr. Die staatliche Strategie der sanften Christianisierung mit Anreizen wich kurzfristig einer Politik rabiater Diskriminierung mit erheblichen sozioökonomischen Konsequenzen für die Taufunwilligen. Doch hatte auch im letzten Quartal des 17. Jahrhunderts nicht zuletzt infolge der stärkeren Zurückhaltung der Regentin Sof’ja die russländische Politik der Duldung und Bewahrung anderer Religionen, wie sie zu dieser Zeit im Vergleich mit Westeuropa eine Ausnahmeerscheinung darstellte, noch nicht völlig ihr Ende gefunden. Zum einen richtete sich die Politik Anfang der 1680er Jahre primär gegen die muslimische Oberschicht. Selbst für sie bestand ungeachtet des sozialen und 370 PSZRI Bd. 2, Nr. 867 (16. 5. 1681), 312 – 313. 371 PSZRI Bd. 2, Nr. 955 (29. 9. 1682), 467 – 468. – Nolte kann zum Teil einen direkten Zusammenhang ­zwischen Enteignungen und vorhergegangenen Dienstverweigerungen nachweisen. N olte , Religiöse Toleranz, 60, 71; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 248 – 249. 372 K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 248; Z abelin , Posol’skija putešestvija, 27 – 28; Očerki istorii SSSR, 518 – 531; N olte , Religiöse Toleranz, 69 – 71, 74. 373 PSZRI Bd. 1, Nr. 823 (21. 5. 1680), 267; Bd. 2, Nr. 867 (16. 5. 1681), 312 – 313; Bd. 2, Nr. 870 (24. 5. 1681), 315; Bd. 2, Nr. 955 (23. 9. 1682), 467 – 468.

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wirtschaftlichen Drucks weiterhin die Möglichkeit, beim alten muslimischen Glauben zu verbleiben, wovon auch die Mehrheit der Nicht-­Russen in der Wolga-­ Region wie in Sibirien Gebrauch machte.374 Zum anderen hielt man im Anschluss und bis ans Ende des Jahrhunderts an den Ermahnungen fest, die von staatlicher Seite ausgegeben wurden, dass die Taufe von Nicht-­Russen ausschließlich auf freiwilliger Grundlage und ohne jeden Zwang zu erfolgen habe.375 Zudem spielten bei den fortschreitenden Eroberungsfeldzügen in Ostsibirien und Fernost Glaubensfragen weiterhin keine Rolle. Auf diese Weise wurde auch von der Methode, Neugetaufte kompakt an- oder umzusiedeln, die Zar Ivan IV . hier und da eingesetzt hatte, im 17. Jahrhundert kaum Gebrauch gemacht. Zwar durften weder neu getaufte Unfreie noch neu getaufte jasak-­Zahler (oder zur Orthodoxie konvertierte Muslime) in irgendeiner Abhängigkeit oder im Haushalt von Ungetauften verbleiben. Doch konnten neu getaufte Männer z­ wischen verschiedenen Möglichkeiten wählen, wo sie künftig leben wollten. Und neugetaufte Mädchen und Frauen wurden bloß allgemein angehalten, russische Dienstleute zu heiraten. Wie zudem die zahlreichen Ermahnungen an Ungetaufte zeigen, wonach Gottesdienste und Umzüge der Christen nicht gestört werden dürften, verblieben offensichtlich viele der Neugetauften an ihren früheren Lebensorten.376

Die petrinische Epoche Mit dem Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert aber vollzog sich innerhalb der russländischen Elite und vorangetrieben von Peter I. in der Religionspolitik eine einschneidende geistige Wende. Die Auswirkung dieser Wende auf die Missionierungspolitik ist in ihrer Tragweite in der Forschung noch wenig herausgearbeitet worden.377 Russisch-­orthodoxe Missionierungen, die unter Peter I. drastisch verstärkt und unter seinen Nachfolgerinnen Anna und Elisabeth für ein Vierteljahrhundert systematisch und zu großen Teilen gewaltsam betrieben wurden, werden gewöhnlich

374 Von den muslimischen Gutsbesitzern, die zum Christentum übertraten, ließ sich zum Teil nur das Familienoberhaupt taufen, während Familie und Gesinde muslimisch blieben. Skazka ob otkaze ženy knjaz’v Andreja Enikeeva Šarsoltan Ibraimovoj (…). In: Dokumenty i materialy po istorii Mordovskoj ASSR Bd. 1, Teil 2, Nr. 50 (1682), 376 – 377; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten 246 – 248; N olde , L’Empire russe, Bd. 1, 101; PSZRI Bd. 2, Nr. 867 (16. 5. 1681), 312 – 313. 375 Besonders nachdrücklich: PSZRI Bd. 2, Nr. 1117 (5. 4. 1685), 662 – 663. Wiederholungen in PSZRI Bd. 3, Nr. 1542 (18. 2. 1696), 235 – 248, hier 244 – 245; Bd. 3, Nr. 1670 (18. 1. 1699), 547 – 548. 376 PSZRI Bd. 2, Nr. 1117 (5. 4. 1685), 662 – 663; O gryzko , Christianizacija narodov Tobol’skogo Severa, 10 – 14; F edorov , Pravovoe položenie, 84. 377 Die bislang wohl wichtigsten Beiträge hierzu stammen von K appeler , Rußlands erste Nationalitäten; S lezkine , Savage Christians, 15 – 31; S lezkine , Arctic Mirrors.

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als eine von vielen Ausdrucksformen des petrinischen Drangs zur rabiaten Umgestaltung des ganzen Zarenreiches angesehen.378 Zur katharinäischen Epoche lautet eine verbreitete Sichtweise, dass die Zarin zwar die meisten der politischen Anstöße Peters I. habe fortentwickeln wollen, die von ihm angestoßene Missionierungswelle jedoch beendet habe, weil diese mit ihrer Politik der ‚aufgeklärten Vernunft‘ und der Erklärung, die Religion sei Privatsache, unvereinbar gewesen sei. Die Betrachtung der Abläufe in dieser Vereinfachung ist unzutreffend. Zum einen fanden die aggressiven und flächendeckenden Missionierungsbemühungen bereits sieben Jahre vor der Regierungszeit von Katharina II. ihr Ende, da Zarin Elisabeth die negativen Auswirkungen in Form von Aufständen der indigenen Völker, insbesondere der Baschkiren, nicht länger in Kauf nehmen wollte. Zum anderen ließ auch Katharina II. Religion keineswegs zur Privatsache werden. Vielmehr griff auch sie auf Missionierungskampagnen zurück, sofern ­solche in der jeweiligen Region ihren Zielen der Machtkonsolidierung dienlich erschienen.379 Dies betraf vor allem die indigene Bevölkerung in Russisch-­Alaska sowie Osseten und Kabardiner im Nordkaukasus.380 Darüber hinaus aber birgt die zitierte Betrachtungsweise die Gefahr, dass die unter Peter I. begonnenen Missionierungen zu einer Fußnote degradieren. Damit jedoch ginge die Erkenntnis verloren, was der Missionierungswut in ihrem Kern zu Grunde lag. Um dies zu erfassen, gilt ein erster Blick dem dominierenden europäischen Zeitgeist im ausgehenden 17. Jahrhundert. Zweifellos stand das Moskauer Reich mit seiner insgesamt pragmatischen Politik der Duldung fremder Religionen im 378 Ohne Belege ist Islaev der Meinung, dass die russisch-­orthodoxe Kirchenleitung die missionspolitische Wende Peters I. bewirkt habe. Diese Auffassung kann auch deshalb nicht überzeugen, weil im Gegensatz zum Zaren die Russisch-­Orthodoxe K ­ irche danach strebte, auch die Anhänger aller christlichen, nicht-­orthodoxen Konfessionen zu missionieren. Peter I. verfolgte ein deutlich anderes Konzept, auf das im Weiteren noch näher einzugehen sein wird. I slaev , Islam i ­pravoslavie, 19. 379 Die pragmatische und ambivalente Natur der katharinäischen Religionspolitik betonen auch L iszkowski , Aufgeklärter Pragmatismus; und K usber , „Ein Kleid schneidern, das für alle passt“?, bes. 190, 197. 380 Siehe z. B. die Dokumente Nr. 58 (30. 11. 1787), 348 – 361, bes. 359; Nr. 69 (20. 6. 1793), 413 – 415. In: Dmytryshyn (Hg.), To Siberia and Russian America; außerdem die Dokumente in KabRO Bd.2, Nr. 164 (9. 10. 1762), 218 – 220; Nr. 220 (24. 4. 1775), 311 – 317. – Die Zarin erlaubte 1793 die Einrichtung einer ersten Mission auf den aleutischen Inseln, die 1794 auf Kodjak ihre Arbeit began. Shalkop, The Russian Orthodox Church in Alaska, 197. – Katharinas Festhalten an dem Ziel, irgendwann alle Irrgläubigen dem russisch-­orthodoxen Glauben zuzuführen, kam in dem von ihr 1767 verfassten Artikel 494 zur Erläuterung ihrer Religionspolitik gut zum Ausdruck, den sie im Rahmen ihrer allgemeinen Arbeitsanweisung (Nakaz) der Gesetzgebenden Kommission mit auf den Weg gegeben hatte. Nakaz imperatricy Ekateriny II., 134. – Vgl. außerdem die Missionierungseinstellung von Katharinas II. Favorit Fürst Grigorij Potemkin und seinen Plan der Rechristanisierung des Nordkaukasus. Khodarkovsky, Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism.

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Vergleich zur Politik Mittel- und Westeuropas isoliert da. Die zuvor humanistisch beeinflusste Toleranz der katholischen Höfe war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich, Polen-­Litauen, Böhmen und im Habsburger Reich aufgegeben worden.381 Duldung und Pragmatismus gegenüber anderen, nicht-­christlichen Konfessionen, besonders gegenüber Muslimen oder Buddhisten, galten nicht mehr als positiv. Im Gegenteil, es verbreitete sich die Auffassung, dass es Aufgabe und Ruhm der weltlichen Obrigkeit sei, für die „Rechtgläubigkeit“ der Untertanen Sorge zu tragen.382 Die hergebrachte pragmatische Religionspolitik des Moskauer Staates wurde vor d­ iesem Hintergrund als Zeichen ­­ von Rückständigkeit gedeutet. Ausländische Reisende machten dem Reich Vorwürfe, die in ihrem Staat lebenden ‚Heiden‘ und Muslime nicht oder kaum zu bekehren.383 Angesichts der traditionellen Abschirmung Moskaus vor geistigen Debatten und Auseinandersetzungen, die in Westeuropa stattfanden, wie es stets ein Anliegen der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche gewesen war, hätte ein solcher Diskurs ausländischer Reisender und Gesandter keine große Wirkung im Zarenreich hinterlassen müssen. Doch die Dinge standen anders, seit das Moskauer Reich Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Hetmanats-­Ukraine ein politisches Gebilde inkorporiert hatte, das tief in die konfessionellen Auseinandersetzungen z­ wischen Unierten, Katholiken und Orthodoxen im Polnisch-­Litauischen Reich verwickelt und vom gegenreformatorischen Ringen der Jesuiten geprägt war.384 Diese Einverleibung führte nicht nur dazu, dass die russisch-­orthodoxen Hierarchen sich mit einem Mal damit konfrontiert sahen, den jetzt zum Zarenreich zugehörigen ukrainischen Glaubensbrüdern in intellektuellen Auseinandersetzungen weit unterlegen zu sein. Ukrainische Geistliche hatten fast ausnahmslos das von Petro Mohyla begründete angesehene Kiever Kollegium einschließlich des Lateinstudiums absolviert, für 381 Die Rückkehr der Intoleranz zeigte sich im Habsburger Reich durch die Gegenreformation, in England durch die religionspolitisch intolerante Diktatur Cromwells sowie in Frankreich durch die Aufhebung des Edikts von Nantes. Ausführlich zum Begriff der Toleranz und zur Entwicklung in Westeuropa in N olte , Verständnis und Bedeutung, 525. 382 N olte , Verständnis und Bedeutung, 495. 383 So äußerten die französischen Russlandreisenden Jacques Margeret und Philippe Avril ihr Missfallen, dass muslimische Tataren, Mordwinen und sogar „unglückliche Götzenanbeter“ (malheureux Idolatres) zum Teil „im Zentrum Moskowiens“ lebten, ihre Religion dort ungehindert praktizieren dürften, und sprachen sich dafür aus, diese bald dem Christentum zuzuführen. M argeret , Estat de l’Empire de Russie, 33; A vril , Voyage en divers états, 129. – In ähnlicher Sprache ist auch der Reisebericht von Peters I. deutschem Zeitgenossen Friedrich Christian Weber abgefasst, der über die Chanten/Ostjaken des Russländischen Reiches schrieb: „In solchem bejammerswürdigen Zustande lebten die Leute bis hero, und schiene keine Hülffe zu seyn, wodurch ihnen die Augen geöffnet, und sie von dem Satan zu Gott geführet werden kunten.“ W eber , Das veränderte Rußland, 1. Teil, [1721/1738], bes. Kap. 4, 209 – 214. 384 Zur Bedeutung der kulturellen „Ruthenisierung“ vor und während Peter I. T orke , Moskau und sein Westen.

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dessen Ausbildungsniveau es im Moskauer Reich bis ins 18. Jahrhundert hinein kein Äquivalent gab.385 Vor allem aber hatte die Inkorporation zur Folge, dass ukrainische Geistliche auch s­ olche Überzeugungen ins Moskauer Reich hineintrugen, wonach es richtig sei, von staatlicher Seite aus zu missionieren und zu bekehren.386 Aber erst Zar Peter I. war es, der die Rezeption ideeller Einflüsse aus dem Westen zur Chefsache machte. Auf dem Gebiet der Staatskunde ließ er sich von deutschen Kameralisten wie Ananias Christian Pott von Luberas (1655 – 1722) und Heinrich Fick (1678 – 1750) beraten, auf philosophischem Gebiet zeigte er sich stark von den Schriften des frühaufklärerischen Philosophen Samuel P ­ ufendorf (1632 – 1694) beeindruckt und stand in engem Austausch mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716). Über seinen Oberst Balthasar von Campenhausen rezipierte er mittelbar die pietistischen Gedanken rund um den Hallenser August ­Hermann Francke (1663 – 1727).387 Kurze Zeit nach der Rückkehr von seiner ‚Großen Gesandtschaft‘, seiner ersten großen Reise quer durch Mitteleuropa, die ihn nicht nur ungezählte Fachleute der unterschiedlichsten Gewerke, sondern auch Geistesgrößen der Frühaufklärung treffen ließ, drängte es ihn, seine Erkenntnisse zum Zusammenhang von Christentum, Bildung und Kameralismus in staatliche Politik umzusetzen.388 Genau, wie Ivan IV. es anderthalb Jahrhunderte vor ihm getan hatte, mischte sich auch Peter I. mit seinem Erlass vom Juni 1700 massiv in die kirchlichen Angelegenheiten ein: Zum einen maß sich der Zar an, die russisch-­orthodoxe Metropolie im sibirischen Tobol’sk neu zu besetzen – eine Entscheidung, die nach Kirchenrecht allein Patriarch Adrian zustand. Zum anderen erteilte der Zar der K ­ irche einen Arbeitsauftrag von einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Hatte Ivan  IV . 1555 angewiesen, Tataren Kazans zum Christentum zu bekehren, so ging es damals um die Absicherung einer gerade erst erfolgten Eroberung. Sie richtete sich vor allem gegen die muslimische Oberschicht und damit gegen eine noch überschaubare Anzahl von Individuen. Die Bekehrung sollte ‚mit Sanftmut‘ erfolgen, ein Wille zur Nachhaltigkeit der Konversion war in den Erlassen nicht zu erkennen. Vor allem ergab sich der vom Zaren erklärte Missionierungswille des 16. Jahrhunderts klar aus dem Gesetz des Siegers. Peter I. hingegen verband achtzig Jahre (sic!) nach bereits erfolgter Einrichtung des Tobol’sker Bischofssitzes mit der Berufung eines neuen Metropoliten den Befehl zur Christianisierung. Die 385 O kenfuss , The Jesuit Origins of Petrine Education. 386 C harlampovič , Malorossijskoe vlijanie. 387 C ederberg , Heinrich Fick; P rokopenko , „Političeskij inžener“; S chmidt , Pott „von Lubras“; B enz , Leibniz und Peter der Grosse. – Peter I. selbst ordnete die Übersetzung von Werken ­Pufendorfs an. Eine Auflistung der wichtigsten Übersetzungen aus sämtlichen Wissenschaften in der petrinischen Zeit bei P ekarskij , Nauka i literatura, Bd. 1, 255 – 257, Fn. 2. 388 Peter der Große in Westeuropa; G uzevič /G uzevič , Velikoe posol’stvo.

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Anweisung, die für seine Zeitgenossen völlig unerwartet gekommen sein dürfte, erstreckte sich zudem auf Gebiete von unüberschaubar großem Ausmaß: auf (ganz) „Sibirien“ und „China“. Neben diese Premiere trat eine weitere, mindestens so wichtige Neuheit, die einen tiefen Einblick in die geistige Wende der Zeit erlaubt: Erstmals verwandte ein russländischer Zar mit Blick auf Andersgläubige unter seinen Untertanen zutiefst abschätzige Begrifflichkeiten. Mit Gottes Hilfe solle der neu in Tobol’sk eingesetzte Metropolit dafür sorgen, „die in der Blindheit des Götzendienstes und in sonstigen Formen des Unglaubens verstockten Menschen“ „zur Erkenntnis und zum Dienst und zur Anbetung des wahren lebendigen Gottes zu führen“. Drei bis vier gelehrte und nicht zu alte Mönche habe der neue Metropolit aus Kiever Kreisen mitzubringen, die Chinesisch und Mongolisch lernen könnten, um „dem Aberglauben auf den Grund zu gehen und mit festen Beweisen aus dem Heiligen Evangelium viele Seelen aus dem Reich der satanischen Finsternis ans Licht der Erkenntnis Christi, unseres Gottes, führen“ zu können.389 Nie zuvor im Moskauer Reich war von der Spitze des Staates in Friedenszeiten und zudem Jahrzehnte nach der Einverleibung fremder ethnischer Gruppen von eben diesen als „in der Blindheit des Götzendienstes verstockten Menschen“ die Rede gewesen, von Seelen, die „aus der satanischen Finsternis“ ans Licht zu führen s­ eien. Im Gegenteil, die Glaubensausrichtung der sibirischen ethnischen Gruppen hatte all die Jahrzehnte seit ihrer Inkorporierung für die staatliche Seite überhaupt keine Rolle gespielt. Zar Aleksej Michajlovič und Zar Fedor Alekseevič hatten im unmittelbaren Vorfeld und während des ersten Russländisch-­Osmanischen Krieges die Muslime als innere Gefahr wahrgenommen, ihnen Bedrängnis russisch-­orthodoxer Bauern vorgeworfen und sie für Desertationen aus der Zarenarmee bestraft. Man ließ regional wie zeitlich begrenzt Muslime unter Druck setzen und wirtschaftlich diskriminieren. Die Motivation ergab sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem anlassbezogenen Bedürfnis, einerseits die angestammte russisch geprägte Bevölkerung ‚schützen‘ sowie andererseits, angesichts der Konfrontation mit dem Sultan, die muslimischen Kräfte im Reich schwächen zu wollen. Es fügt sich in das Gesamtbild, dass die Regentin Sof’ja nach Beendigung des Russländisch-­Osmanischen Krieges die Erlasse von Zar Fedor Alekseevič zur Konfiskation von Gütern muslimischer Tataren rückgängig machte. Darüber hinaus fehlten Instruktionen, mit denen Geistliche aufgefordert wurden, ‚Heiden‘ zu missionieren. Insgesamt ging es bei Peters I. Vorgängern weder um eine großangelegte Missionierungskampagne noch darum, Menschen allein aufgrund ihres ‚falschen‘ Glaubens zu diffamieren.

389 PSZRI Bd. 4, Nr. 1800 (18. 6. 1700), 59 – 60.

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Mit den zitierten Worten Peters I. aber verband der Zar auf einer viel grundlegenderen Ebene Anliegen der westeuropäischen Frühaufklärung mit jenen der Missionierung.390 Aus einer belehrenden Position des vorgestellten Guten gegen das vorgestellte Böse („Satanische“) beendete er die über mehr als ein Jahrhundert andauernde Phase relativer Glaubensduldung im Moskauer Reich. Innerhalb von wenigen Jahren verhalf er damit einem Diskurs im Zarenreich zum Durchbruch, der von der Geringschätzung der Christen gegenüber ‚Naturreligionen‘ sowie im Zusammenhang mit späteren Erlassen auch von der Überzeugung eigener Überlegenheit gegenüber anderen nicht-­christlichen Religionsgemeinschaften kündete.391 Die Hoffnungen des Zaren, seine Anweisungen umgesetzt zu sehen, ruhten dabei nicht nur aus Gründen der Gelehrsamkeit auf dem ukrainischen Klerus. Im russischen Mönchtum und Episkopat sah Peter I. Gegner seines Vorhabens, die unabhängige Institution des russisch-­orthodoxen Patriarchats abzuschaffen. Bei den ukrainischen Geistlichen hingegen musste er in dieser Hinsicht keinen Gegenwind befürchten. Die linksufrigen ukrainischen Eparchien waren selbst erst wenige Jahre zuvor gegen Widerstand aus den eigenen Reihen dem Patriarchat von K ­ onstantinopel entzogen und dem Moskauer Patriarchat untergeordnet 392 worden. Eine besondere Wertschätzung dieser Institution hatte auf ihrer Seite noch gar nicht entstehen können. Mit der Besetzung des Tobol’sker Metropolitensitzes durch den Ukrainer Dmitrij Tuptalo, der 1702 von seinem Landsmann Filofej Lešins’kyj (Leščinskij) ersetzt wurde, sowie der Berufung von weiteren, ukrainischen Geistlichen an die Moskauer Akademie sicherte sich Peter I. dementsprechend gleich dreierlei: einen stark ausgeprägten missionarischen Geist, Bildungselan und Loyalität in den großen kirchenpolitischen Fragen.393 Vom Bildungselan der Geistlichen erwartete der Zar die Gründung von Eparchieschulen an den Bischofssitzen. Kirchendiener und Neugetaufte sollten lesen 390 Zum von Eduard Winter eingeführten Begriff der „Frühaufklärung“ und zur Periodisierung der Aufklärung in Russland allgemein: W inter , Frühaufklärung; R aeff , The Enlightenment in Russia; W irtschafter , Thoughts on the Enlightenment. – Eine andere Frage ist, ob Peter I. insgesamt als „aufgeklärter Monarch“ zu bezeichnen ist. Eine zweifelnde Position nimmt S chippan ein: Sozialgeschichte, Religion und Volksaufklärung, 346 – 347; ders .: Die Aufklärung, 40 – 41. 391 Ganz in demselben Duktus wie Peters I. Sprache von den „verstockten Heiden“ ist auch das Schreiben von Andreevič Vinijus abgefasst, der als Bote 1698 dem Zaren die „neuesten sibirischen Nachrichten“ überbrachte und ihn beschwor, gelehrten Menschen die indigenen Sprachen beizubringen, um „diesen Völkern“ die Kenntnis des wahren Gottes zu überbringen, auf dass sie „die götzenanbeterische, nutzlose Abscheulichkeit“ (idolskuju tščetnuju merzost’) ihres Glaubens hinter sich lassen und „aus der Dunkelheit ans Licht“ geführt werden (iz tmy vo svet). PiB Bd. 1, Nr. 227 (18. 4. 1698), 694 – 695. – Zu Peters Kampf gegen den ‚Aberglauben‘ siehe auch v . S tählin , Originalanekdoten, 56 – 58, 66 – 68, 76 f. 392 Š evčenko , Pro pidporjadkuvannja Kyïvs’koï mytropoliï; T ernovskij , Issledovanie o podčinenij; T orke , Moskau und sein Westen, 115; C harlampovič , Malorossijskoe vlijanie, 149 – 233. 393 C harlampovič , Malorossijskoe vlijanie, 465 – 480.

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und schreiben lernen, um damit die Missionierung nachhaltig werden zu lassen.394 Bereits 1698 und erneut 1701 wies der Zar an, in Tobol’sk eine entsprechende Schule einzurichten. Bei ihr wurde im Gegensatz zum Curriculum, wie er in Kiev üblich war, auf Latein verzichtet und stattdessen die Lehre des Katechismus verstärkt.395 Vor allem aber setzte Peter I. bei den ukrainischen Hierarchen auf ihren missionarischen Geist, für dessen Entfaltung der Erlass von 1700 nur den Anfang setzte.396 Nach wie vor erschienen zwar Anordnungen, dass keiner gegen seinen Willen getauft werden sollte. Doch zeigten nicht nur die häufigen Wiederholungen des Verbots, dass ihnen wenig Folge geleistet wurde. Vor allem standen die Mahnungen zumeist im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Verknechtungen Indigener durch russländische Dienstleute. Da Letztere Anfang des 18. Jahrhunderts nicht nur gegen den Wortlaut des Gesetzes verstießen, indem sie sich getaufte Nicht-­ Russen nach ihrer Konvertierung als Knechte hielten, sondern darüber hinaus mit diesen oft auch in den ‚europäischen‘ Teil des Reiches zogen, beförderte der Prozess die Entvölkerung des ohnehin gering besiedelten Sibiriens.397 Aus Sicht der Zarenregierung trug diese Entwicklung mittelfristig dazu bei, die Felleinkünfte zu verringern, und musste daher unterbunden werden.398 394 L jubimov , Religija i veroispovednyj sostav, 200 – 225. 395 Von 1707 bis 1709 lernten beispielsweise neu getaufte Tataren und Čeremissen in einer Schule der Kazaner Eparchie. Allerdings war den Schulen keine lange Existenz gegönnt: Die meisten neu getauften Kinder, die in Kazan ohne ihre Väter und Mütter waren, erkrankten oder starben. Überhaupt fanden sich für die Beschulung nur wenig Kinder. C harlampovič , Kazan’skija Novokreščenskija Školy, 5 – 6; ders ., Malorossijskoe vlijanie, 633, 729 – 730; F edorov , Pravovoe položenie, 85, 89; O gorodnikov , Russkaja gosudarstvennaja vlast’; G rigor ’ev : Christianizacija nerusskich narodnostej, 233; I slaev , Islam i pravoslavie, 56. 396 Aus nicht nachvollziehbaren Gründen macht Khodarkovsky die „neue Dimension der Mission“ einschließlich der Veränderung in der Haltung zu den Nicht-­Christen im Süden und Osten erst für die 1720er Jahren fest. K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 130 f. 397 Seit 1684 war es gesetzlich verboten, dass Neugetaufte als Knechte dienten, auch wenn es sich bei den Herren um ‚alteingesessene‘ Russen handelte. Der Anreiz, dass bei Russen lebende, hörige Nicht-­Russen, die das Christentum annahmen, sich umgehend von ihrer Knechtschaft befreien konnten, stand in der Tradition jener Gesetzgebung, mit der schon zu Beginn des 17. Jh. ‚fremdländische‘ Untertanen vor dem Missbrauch der eigenen Dienstleute geschützt werden sollten. PSZRI Bd. 2, Nr. 1099 (16. 12. 1684), 644 – 645. F edorov , Pravovoe položenie, 84. – Auf einem anderen Blatt stand, dass dem Gesetz von Seiten der russländischen Herren wenig Folge geleistet wurde und die getauften Knechte oft nicht freikamen. 398 Schon bei der Anweisung Peters I. von 1694 an den jakutischen Voevoden hieß es, dass die unfreiwillige Taufe durch Dienstleute verboten sei, „damit das sibirische Land an der Lena sich bevölkere und nicht entleere“. AI, Bd. 5, Nr. 240, 429 – 443; F edorov , Pravovoe položenie, 84. Eine ähnliche Formulierung findet sich in der Anweisung an den Nerčinsker Voevden von 1701, in dem neben dem Wunsch, dass das „sibirische Land“ nicht entvölkere, auch ausdrücklich vermerkt wird, dass die gegen ihren Willen Getauften nicht aus Sibirien in andere Städte befördert werden dürften. PSZRI Bd. 4, Nr. 1822 (5. 1. 1791), pt. 17, 108. Beide Formulierungen legen

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Abb. 20: Russisch-­orthodoxe Missionierung per Schiff. O. I. Tation, Astrachanskie Eparchial’nye Vedomosti 1910

Die Ermahnungen, nicht mit Zwang zu bekehren, bedeuteten hingegen keineswegs, dass Peter I. in seinem Missionierungseifer nachließ. Im Gegenteil, 1706 wies er den Tobol’sker Voevoden an, einige „Fürsten“ der Chanten („Ostjaken“) und Mansen („Wogulen“) durch Geschenke zur Konversion zu bedrängen.399 Als dies keine Früchte trug, setzte der Zar erstmals auf Gewalt als Mittel der Missionierung: Noch im selben Jahr wies er den Metropoliten an, alle ‚heidnischen‘ Heiligtümer, die er auffinden könne, zu verbrennen und an ihrer Stelle ­Kirchen und Glockentürme zu bauen.400 Als der Metropolit 1709 erkrankte und um Entbindung seiner Aufgaben bat, bedrängte ihn Peter persönlich, mindestens mit der Missionierung fortzufahren, auch wenn Feodor nicht länger parallel dazu das Amt des Metropoliten wahrnehmen könne.401 Peter beunruhigte vor allem, dass einige der neu getauften Chanten/Ostjaken regelmäßig die Niederlassungen der Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe nahe, dass es darum ging, den Missbrauch zu verhindern, dass Dienstleute verknechtete Indigene nach ihrer Taufe zu sich in den ,europäischen‘ Teil des Russländischen Reiches holten. 399 Im 18. Jh. bezeichnete die russländische Regieurng die finno-­ugrische ethnische Gruppe der Chanten (Eigenbezeichnung Chanty) als „Ostjaken“. Gemeinsam mit den als „Wogulen“ bezeichneten Mansen (Eigenbezeichnung Man’si) gelten sie als Ob-­Ugrier und bilden die indigene Bevölkerung der früher Jugorien genannten Region im Westsibirischen Tiefland. 400 O gryzko , Christianizacija narodov, 26; B ucinskij , Kreščenie ostjakov i voguličej, 87. 401 G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 43 – 45; A bramov , Filofej Leščinskij.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 21: Idole von ‚Bratsker Tataren‘ Anfang des 19. Jahrhunderts. Gravur von E. O. Skotnikov nach einer Zeichnung von E. M. Korneev von 1809; Aquarellmalerei von E. M. Korneev

aufsuchten, in denen es noch „ostjakische Götzenbilder“ gab. Aus Sorge vor dem Rückfall der gerade erst Getauften wies er den Hierarchen 1710 an, zu den Chanten/ Ostjaken besonders ausgesuchte Kirchendiener zu s­ chicken, damit ihre „angeblichen götterähnlichen Satane“ (mnimye bogi šajtany) gefunden, diese mit Feuer abgebrannt, zerhackt und ihre Götzentempel zerstört würden (tech ognem palit’ i rubit’ i kapišča ich razorit’). Statt der Götzentempel s­ eien Kapellen zu errichten, „heilige Ikonen“ aufzustellen und die Chanten/Ostjaken zur Taufe und „zum Begreifen des einen und dreifaltigen wahrhaften Gottes“ zu führen. Allen C ­ hanten/ Ostjaken, die sich ­diesem Befehl in irgendeiner Form widersetzten, drohte der Zar mit der Todesstrafe.402 Zwar wurde die Todesstrafe in der Realität wohl kaum vollzogen.403 Doch ließ Peter I. in den folgenden sechs großen Missionierungsexpeditionen (1712 – 1720) die Missionare immer von Soldaten begleiten, die über die Zerstörung der ‚heidnischen‘ Kultorte wachten und die Menschen mit Gewalt zur Taufe zusammentrieben.404 Den vielleicht wichtigsten Erlass zur Christianisierung, der sich gleich auf mehrere ethnische Gruppen bezog und flächendeckend gedacht war, erteilte 402 Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 1, Nr. 96 (7. 6. 1710), 413 – 414. 403 O gryzko , Christanizacija narodov, 51. 404 O gryzko , Christianizacija narodov, 32 – 39, 52; N olte , Religiöse Toleranz, 35.

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Peter I. im Dezember 1714. In ihm wies er den sibirischen Metropoliten an, „das ganze Land“ (vo vsju zemlju) „der Ostjaken, Tataren, Wogulen und Jakuten“ aufzusuchen. Wo er Götzenbilder, Götzenanbeter oder deren „unehrenhaften Heiligtümer“ auffinde, solle er diese auf Befehl des Großen Herrschers verbrennen und alle inozemcy zum christlichen Glauben bekehren.405 Wenn unter Zar Ivan IV . im 16. oder unter Zar Fedor Alekseevič im 17. Jahrhundert muslimische Oberschichten der Kazantataren unter Druck gesetzt worden waren, ihrem tradierten Glauben abzuschwören, so war es doch immer um die Entscheidung Einzelner, um eine Christianisierung des Individuums gegangen. Zar Peter hatte diese Vorgehensweise hinter sich gelassen, ihm ging es um die Missionierung ganzer ethnischer Gruppen. Der Historiker Leonid Taimasov hat dafür den Begriff der „ethnischen Christianisierung“ eingeführt und kontrastiert ihn mit der zuvor anvisierten individuellen oder „territorialen Christianisierung“, wie es zum Beispiel im 16. Jahrhundert unter Ivan IV . partiell in Kazan versucht worden sei.406 Taimasov geht jedoch davon aus, dass diese neue Phase der Christianisierung erst ab den 1730er Jahren eingesetzt habe. Damit übersieht er die deutlich ethnisch konnotierten petrinischen Missionierungsbefehle gleich zu Beginn des Jahrhunderts.407 Auch kann Taimasovs Analyse dahingehend nicht überzeugen, die Missionierungsaktivitäten unter Peter allein nach ihrem Wirkungsgrad einzuordnen. Zweifellos zeitigten sie nur geringe Erfolgsraten und glückten, wenn überhaupt, so nur lokal begrenzt.408 Es fehlte sowohl von der Zahl wie von der Eignung her an 405 PSZRI Bd. 5, Nr. 2863 (6. 12. 1714), 133. – Ein Jahr zuvor hatte der Zar auch die Missionierung der Einheimischen auf der jüngst von russländischen Abenteurern endeckten Halbinsel Kamčatka angewiesen. Nakaz kapitanu Petru Tatarinovu o zavedyvanii Kamčadal’skimi i Anadyrskim ostrogami. Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 1 (1700 – 1713), Nr. 118 (17. 2. 1713), 508 – 510. 406 T aimasov [T ajmasov ], From „Kazan’s Newly Converted“, 121/122; L emercier -­Q uelquejay , Les missions orthodoxes, 381 – 393. 407 Zu Recht hat Mami Hamamoto darauf hingewiesen, dass der ethnische Charakter der Missionierungen in der ersten Hälfte des 18. Jh. nicht überbetont werden dürfe. Regionale Kriterien hätten eine ebenso gewichtige Rolle gespielt. Hamamoto weist dies anhand unterschiedlicher russländischer Verhaltensweisen in einzelnen Regionen nach. So habe die russländische Regierung auf der einen Seite in den 1740er und 1750er Jahren die Tataren im Wolga-­Raum gewaltsam zu christianisieren versucht. Auf der anderen Seite aber sei sie mit den tatarischen Kaufleuten im Südural (in Qarghali, einer Vorstadt von Orenburg) tolerant umgegangen. H amamoto , Tatarskaia Kargala, bes. 45. – Anders als Hamamoto wird in dieser Arbeit das unterschiedliche Verhalten primär als Folge davon angesehen, dass die Christianisierung zuvorderst der Zivilisierung dienen sollte: So bedurfte man nahe Orenburg dringlich der Ansiedlung von Kaufleuten, um die russländische Kolonisation zu stabilisieren und auf diese Weise auf die Kasachen der Kleinen Horde zivilisierend einwirken zu können. Eine harsche Christianisierungspolitik hätte hingegen die Region destabilisiert und erschien daher dort ungeeignet. 408 Angaben zu vollzogenen Zerstörungen und Verbrennungen ‚heidnischer‘ Kultorte in der petrinischen Ära bei I slaev , Islam i pravoslavie, 36 – 37. – Ogrzyko geht im Rahmen der petrinischen

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Personal, an staatlicher und kirchlicher Infrastruktur sowie am nötigen Geld für die Auszahlung der angekündigten Taufbelohnungen, um eine Massenchristianisierung in dem Ausmaß umzusetzen, wie sie angewiesen worden war.409 Zudem stießen die Missionierungsversuche auf zum Teil vehementen und listigen Widerstand der indigenen Bevölkerung, indem sie russische Soldaten vermeintliche Gottesidole zerstören ließen, die wahren hingegen versteckten.410 Vor allem aber ist Taimasovs These problematisch, wenn er von einer ‚neuen‘ Phase der Christianisierung im Russländischen Reich spricht (nach einer ersten, deren Beginn er um 1552 ansetzt), die erst 1731 mit der Gründung der Kommission für die Angelegenheiten der Neukonvertierten unter Zarin Anna begonnen habe. Dann nämlich fällt die große Wende in der Religionspolitik, die unter Peter I. eingeleitet wurde, aus seiner Analyse heraus.411 Stattdessen bietet gerade eine Untersuchung des großen Wandels, der sich in dem Ausmaß der Missionierungsanweisungen, in der herablassenden Ausdrucksweise, in der Überzeugung eigener zivilisatorischer Überlegenheit und im Bemühen um Nachhaltigkeit heraus­lesen lässt, den Schlüssel, um den tiefen Einschnitt in der imperialen Politik des Landes zu erfassen. Erstmals führte der Zar in Erlassen von 1713 und 1714 aus, wie die Massenmissionierung umzusetzen sei: Zum einen habe sie vollständig auf Staats- und nicht auf Kirchenkosten zu erfolgen. Die Kommandanten aller sibirischen Städte wurden angewiesen, dem Hierarchen in Tobol’sk alles zur Verfügung zu stellen, was gebraucht werde.412 Zum anderen sei allen ‚Fremdländern‘ (inozemcy) zu versprechen, dass sie nach ihrer Taufe eine Belohnung des Zaren in Form eines Leinenhemdes bekämen sowie für eine gewisse Zeit von der jasak-­Zahlung befreit würden.413 Damit verband Peter I. 1714 den Missionierungsdruck mit der Taktik der Anreizsetzung, die schon von Ivan IV. sowie Ende des 17. Jahrhunderts von Zar Fedor Alekseevič gegenüber Muslimen angewandt worden war. Gleich nach seinem Amtsantritt von 1702 hatte Metropolit Filofej Lešins’kyj (Leščinskij) diese Vorgehensweise Peter I. bereits nahegelegt.414 Im Erlass von 1714 fehlte

409 410 411 412 413 414

Zwangskonversionen bei den Chanten/Ostjaken und Mansen/Wogulen archivgestützt von über 40.000 Getauften aus. O gryzko , Christianizacija narodov, 34. N olte , Religiöse Toleranz, 88 – 89; G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 39, 46 – 49, 84 – 85; G lazik , Islammission, 73. O gryzko , Christianizacija narodov, 37. T aimasov [T ajmasov ], From „Kazan’s Newly Converted“, 122/123. Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 2, Teilbd. 1, Nr. 3 (Sept. 1713), 22 – 23. T aimasov , From „Kazan’s Newly Converted“, 122/123. Glazik erwähnt eine Denkschrift, in der Leščinskij dem Zaren Vorschläge zur Anreizsetzung durch Geschenke gemacht habe. Von einer Reaktion Petes I. erfährt man jedoch nichts. G lazik , Die russisch-­orthodoxe Heidenmission, 42.

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es a­ llerdings noch an einer genauen Angabe zur Dauer der versprochenen Zahlungsbefreiung. Diese wurde erst nach und nach ausgesprochen und bewegte sich ­zwischen anfänglich sechs und s­ päter drei Jahren.415 Und nicht nur um die Missionierung der „Götzenanbeter“ ging es Peter I. Auch auf die Muslime und insbesondere auf die muslimischen Gutsbesitzer hatte er es abgesehen:416 Der Erlass vom November 1713, der auf persönliche Anweisung des Zaren zurückging, wiederholte in noch detaillierterer Form den Inhalt jenes Erlasses, der für kurze Zeit unter Zar Fedor Alekseevič Anfang der 1680er Jahre gegolten hatte: Muslimischen Gutsbesitzern der Mittleren Wolga, die orthodoxe Bauern und Hofleute besaßen, wurde befohlen, sich „selbstverständlich“ innerhalb eines halben Jahres taufen zu lassen. Andernfalls würden ihnen die Güter mit den darauf lebenden abhängigen Bauern weggenommen und dem Herrscher gutgeschrieben.417 Damit wurde die seit den 1680er Jahren noch ungetauft verbliebene tatarische Elite erneut und d­ ieses Mal endgültig vor die Wahl gestellt, sich mit dem Religionswechsel entweder vollständig in die vorgegebene russländische Sozialstruktur zu integrieren (nichts anderes bedeutete in ihrem Fall die Annahme des orthodoxen Glaubens) oder wirtschaftlich zu verarmen. Die rabiate Umsetzung des Erlasses führte zudem nicht selten dazu, dass die Landenteignungen über den Wortlaut des Erlasses hinausreichten. Tatarische Beschwerden veranlassten die Regierung 1715 zu präzisieren, dass den Mirza und Tataren ‚nur‘ die russisch-­orthodoxen Bauern mit deren Ackerland und allem Dazugehörigen wegzunehmen ­seien, nicht aber alle übrigen Häuser und Ländereien, die sonst noch in tatarischem Besitz waren.418 415 Der Metropolit von Tobol’sk überreichte bei seiner Missionierungsreise durch das Land der Ostjaken den Getauften 1717 eine Geldbelohnung des „Großen Herrschers“ (velikogo gosudar’ja žalovan’e). Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 2, Teilbd. 1, Nr. 50 (5. 7. 1717), 179 – 180. – Der politische Denker I. T. Posoškov hatte 1719 empfohlen, als Taufanreiz gar zehn Jahre Steuerlass zu gewähren. P osoškov , Zaveščanie otečeskoe [1719], 321, 325 f. – Patriarch Tichon regte 1720 an, Steuerprivilegien für Neugetaufte gesetzlich zu fixieren. M ožarovskij , Izloženie choda missionerskago dela, 40 f. – Tatsächlich erfolgte noch 1720 ein Erlass, wonach als Anreiz für die Taufe eine dreijährige Befreiung von „allen staatlichen Abgaben und Diensten“ gewährt sowie zusätzlich den Neugetauften eine Belohnung versprochen wurde. PSZRI Bd. 6, Nr. 3637 (1. 9. 1720), 234 – 235; Bd. 6, Nr. 4048 (11. 7. 1722), 736. – Als 1722 die Rekruten-­Stellungspflicht auf viele Nichtrussen ausgedehnt wurde, verschaffte man den Neugetauften zudem das Privileg, von diesen Aushebungen ausgenommen zu sein. Sämtliche Privilegien, die man taufwilligen Sibirjaken gewährte, wurden auch auf die Neugetauften im Kazaner Gebiet ausgedehnt. PSZRI Bd. 6, Nr. 4123 (2. 11. 1722), 792. – Wer bei der Steuerrevision falsche Angaben gemacht hatte und taufwillig war, erhielt ab 1723 Straffreiheit. PSZRI Bd. 7, Nr. 4254 (25. 6. 1723), 85. 416 Erste anti-­muslimische Gesetze wie z. B. eine an den muslimischen Glauben gebundene höhere Besteuerung soll Peter I. bereits im ersten Jahrzehnt des neuen Jh. erlassen haben. I slaev , Islam i pravoslavie, 25 – 26. 417 PSZRI Bd. 5, Nr. 2734 (3. 11. 1713), 66 – 67. 418 PSZRI Bd. 5, Nr. 2920 (12. 7. 1715), 163; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 249 ff.; I slaev , Islam i pravoslavie, 33 – 34.

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Zum letzten großen Schlag in der Reihe missionsspezifischer Gesetzgebungsakte holte Peter 1715 und 1718 aus. Dieses Mal richteten sich seine Anweisungen gegen die muslimisch verbliebenen Dienstleute der Mittleren Wolga, die an Feldzügen russländischer Heere teilnahmen und in den Jahren nach 1713 zunehmend zu Arbeitsdiensten herangezogen worden waren. Da der Zar kostbare Eichenwälder an der Mittleren Wolga ausfindig gemacht hatte, deren Holz er dringend für den Bau seiner Flotte in St. Petersburg benötigte, verband er den staatlichen Holzbedarf mit einer nach dem Glauben sortierten Abordnung zur Zwangsarbeit: Sämtliche nicht-­christlichen Dienstleute der Mittleren Wolga, „die Dienst-­murzy, -Tataren, -Mordwinen und -Čuvašen“ wurden dafür als Arbeiter ohne Bezahlung angestellt und in den Akten als eine „den Schiffswäldern“ (korabel’nye lesa) zugeschriebene Bevölkerungskategorie eingeführt. Zwar konnten sie sich mit der Zeit durch Ablösesummen von der Arbeit befreien.419 Doch führten die Belastungen verbunden mit der Pflicht, Rekruten zu stellen, langfristig dazu, dass diejenigen Dienstleute, die in ihrem nicht-­christlichen Glauben verblieben, darunter besonders viele Tataren, sich von ihrem Grundbesitz trennen und ihre wirtschaftliche Basis auf den Handel verlegen mussten.420 Mit dieser Ausgestaltung schien die petrinische Religionspolitik gegenüber den ‚Naturreligionen‘ in Sibirien und den Muslimen im Wolga-­Raum in eine Richtung zu weisen: Es schien sich um eine Kampfansage an alle diejenigen zu handeln, die nicht zur Annahme der russisch-­orthodoxen Religion bereit waren. Es schien sich um eine Politik zu handeln, die danach trachtete, zum einen die russisch-­orthodoxe Religion als Ausdruck eines machtpolitischen (und kulturellen) Anspruchs der Hegemonie russländischer Herrschaft zu stärken, sowie zum anderen die gesamte Bevölkerung religiös zu homogenisieren. Marc Raeff und in seiner Folge Paul Werth haben eine andere und tiefergehende Interpretation für den Drang Peters I. herausgearbeitet, das Zarenreich und damit auch die religiöse Sphäre grundlegend zu verändern. Sie verweisen auf das vom Zaren in Westeuropa rezipierte, dort vorherrschende Idealbild des wohlgeordneten Policeystaates.421 Demnach ging es Peter I. darum, in der Imitation deutscher Kanzleiordnungen jegliche öffentliche Aktivität, die auch die Neuorganisation von K ­ irche und religiösem Leben einschloss, rational zu organisieren.422 Damit 419 K lejankin , Jasačnye krest’jane, 46 – 55. 420 K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 252 – 259; N olte , Religiöse Toleranz, 87 – 88. 421 R aeff , The Well-­Ordered Police State (1975); ders ., The Well-­Ordered Police State (1983); W erth , The Tsar’s Foreign Faiths, 40 – 47. 422 Marc Raeff sieht Peters I. Bestrebungen als Ausdruck derselben weltlichen Denkart, deren Wurzeln im protestantischen Verständnis von der Aufgabe des Fürsten und dessen christlicher Verpflichtung lag, für das Wohlergehen seiner Untertanen zu sorgen. R aeff , The Well-­Ordered Police-­State (1975), 1231.

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deuten Raeff und Werth den missionarischen Impuls des Zaren als einen Auswuchs des Policeystaates und des Kameralismus: Religion sollte zur Regulierung des Benehmens nützlich gemacht und Nicht-­Christen der moralischen Autorität des orthodoxen Klerus unterworfen werden. Außerdem sollte der Eintrag in die Gemeinderegister dabei helfen, die Eingliederung der Untertanen in die beginnende bürokratische Staatsstruktur zu vertiefen und sie für eine Mobilisierung entlang kameralistischer Politik zugänglicher zu machen.423 Diese Argumentation wirkt auf den ersten Blick überzeugend. Sie bietet eine Erklärung für den interventionistischen Charakter petrinischer Politik, die darauf abzielte, die Lebensweise aller Untertanen zu verändern. Auf den zweiten, noch zu erläuternden Blick aber wird deutlich, dass die Übernahme kameralistischer Konzepte sowie das Idealbild vom wohlgeordneten Policeystaat zum Verständnis zwar wichtig, aber noch nicht ausreichend sind, um die petrinische Missionierungskampagne gegenüber den Nicht-­Christen im Süden und Osten adäquat zu erfassen und einzuordnen.

Missionierung nach Zivilisierungsgrad Tatsächlich nämlich täuscht das Bild einer interventionistischen Politik mit dem Ziel, alle Untertanen nach rationalen Prinzipien zu homogenisieren, über ein grundlegend anderes Motiv hinweg – ein Motiv, das zur analytischen Einbettung der Missionierungsfeldzüge ganz wesentlich ist. Es wird erst dann erkennbar, wenn der Blick auf die Politik gegenüber dem ganzen Imperium geweitet wird, genauer gesagt auf die petrinische Religionspolitik gegenüber nicht-­orthodoxen, aber christlichen Konfessionen: Das ganze 17. Jahrhundert über wurde jeder, der nicht dem orthodoxen Glauben anhing, als ein ‚Fremdländer‘ (inozemec) auf russischem Boden bezeichnet. Dies bezog sich in gleicher Weise auf sibirische Rentierhalter wie auf deutschbaltische Adlige. Die ‚Wir-­Gemeinschaft‘ der russischen und russländisch geprägten Bevölkerung basierte auf der Zugehörigkeit zum russisch-­orthodoxen Glauben.424 Wer daher einmal zum orthodoxen Glauben konvertiert war, wurde zum Untertan des Russländischen Reiches. Er durfte nur noch mit Erlaubnis des Zaren das Land verlassen und auch dies nur vorübergehend.425 423 R aeff , The Well-­Ordered Police State (1975), 1231, 1235; W erth , The Tsar’s Foreign Faiths, 40 – 41. – Siehe auch die grundsätzlichen Überlegungen bei C rews , Empire and Confessional State, 57 – 69. 424 K appeler , Bemerkungen zur Nationsbildung; B ushkovitch , The Formation of a National Conscious­ness; T olz , Russia, bes. 192 f. 425 PSZRI Bd. 6, Nr. 4067 (31. 7. 1722), 754 – 755, hier 755; N olte , Verständnis und Bedeutung, 505, Fn. 109.

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Die Gemeinschaft all derer, die einer anderen Konfession anhingen, aber auch christlichen Glaubens waren, nahm aus russisch-­orthodoxer Sicht bis Ende des 17. Jahrhunderts keine gehobene Stellung ein. Schon gar nicht wurden sie mit den Angehörigen der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche gleichgestellt: Protestanten galten als „heidnische Deutsche“ (poganye nemcy),426 Westeuropäer als „ungetaufte Fremdländer“ (nekreščenye inozemcy)427 und Katholiken als Häretiker, die erst Buße abzuleisten hätten und dann wiedergetauft werden müssten.428 In seinem Testament rief Ioakim, der Moskauer Patriarch der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche, 1690 dazu auf, „nicht zuzulassen, dass orthodoxe Christen sich mit den häretischen Ungläubigen, den Lateinern, Lutheranern, Calivinisten und den gottlosen Tataren anfreundeten“ und erinnerte daran, dass „den ungläubigen Häretikern“ zu verwehren sei, „an irgendeinem Ort römisch-­katholische Kathedralen, deutsche ­Kirchen und tatarische Moscheen zu errichten“.429 Mit dieser Tradition des 17. Jahrhunderts brach Peter I. infolge seiner Orientierung nach Westeuropa. Schon den 1701 begonnenen Nordischen Krieg gegen Schweden wollte der Zar bewusst nicht als einen religiös aufgeladenen Krieg verstanden wissen, sondern als einen, bei dem es um eisfreie Häfen, die Ostseeprovinzen und die dort lebenden Menschen ging.430 Der konfessionelle Gegensatz, den er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem abtrünnigen Kosakenhetman Ivan Mazepa 1708/1709 besonders hervorhob (dieser sei ein „Verräter“ des eigenen Glaubens gegenüber den katholischen Polen), spielte er mit Blick auf das protestantische Schweden herunter. Die religiöse Gegnerschaft gegenüber dem Westen sollte ein für alle Mal beendet werden.431 In seinem Manifest vom 16. April 1702, mit dem er Westeuropäer einlud, zur „Verbesserung“ des russländischen Staates nach „Russland“ zu kommen und in den Zarendienst einzutreten, griff er die neuesten und revolutionärsten Formulierungen seiner Zeit zum Problem der Glaubensfreiheit auf. Möglichen Interessenten versicherte er, dass sie ihrem jeweiligen christlichen Glauben unbeschadet weiter

426 Zitiert nach B uganov , Razrjadnye knigi, 35 (Zitat von 1615). 427 Pamjat’ v Aptekarskij Prikaz. In: DAI Bd. 3, Nr. 69 (18. 3. 1650), 250; N olte , Verständnis und Bedeutung, 505, Fn. 112. 428 Ein Text, der in der ersten Hälfte des 17. Jh. vor der Konversion eines Anhängers einer christlichen, aber nicht-­orthodoxen Konfession vorgetragen werden musste und das Ausmaß offenbart, wie sehr Katholiken, Lutheraner oder Calvinisten geringgeschätzt und als Häretiker angesehen wurden, findet sich in O parina , Ivan Nasedka, 340 – 342. – Daneben: dies ., Inostranec na gousdarevoj službe, 23; dies ., Ukrainskie kazaki; N olte , Religiöse Toleranz, 110 – 122; S okolovskij , Služilye „inozemcy“, 104. 429 I slaev , Islam i pravoslavie, 19. 430 P lokhy , The Origins of the Slavic Nations, 288. 431 N olte , Verständnis und Bedeutung, 507.

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anhängen dürften.432 Es solle, so Peter wörtlich, „hiermit von neuem bestätigt seyn, […] dass Wir […], bey der Uns von dem Allerhöchsten verliehenen Gewalt, Uns keines Zwanges über die Gewissen der Menschen anmassen, und gerne zulassen, dasz ein jeder Christ auff seine eigene Verantwortung sich die Sorge seiner Seeligkeit lasse angelegen seyn“.433 Derselbe Zar, der gewaltsame Heidenmissionen und Enteignungen muslimischer Grundbesitzer angeordnet hatte bzw. teilweise noch anordnen würde, erkannte mit seinem Manifest von 1702 das Prinzip der Gewissensfreiheit als einen positiven Wert an. Wie konnte das zusammengehen? Die petrinische Ausrichtung des politischen Lebens an den Prinzipien des Kameralismus kann hier als Erklärung nicht weiterhelfen. Vielmehr liegt der Schlüssel zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs in dem petrinischen Verständnis von Religion, Christentum und K ­ irche. Peter I. ging es bei seiner Missionspolitik weder primär um kameralistische noch um religiöse Motive. Orthodoxe Frömmigkeit auf der staatlichen Ebene war ihm kein Anliegen.434 Wie er mit der Abschaffung des Patriarchats und der Einführung des Heiligen Synods als einer ihm als Zaren vollständig unterworfenen Kirchenverwaltung, einem Bestandteil der staatlichen Verwaltung, demonstrierte, war auch die K ­ irche für ihn kein Selbstwert. Sie war seiner Auffassung nach dazu da, dem Staat zu dienen, nicht umgekehrt.435 Mehr noch, die (christliche) Religion war für Peter dazu da, dem Menschen zu ­nutzen. Nur sie konnte seiner Auffassung nach das wichtigste Werkzeug zur Befähigung des Menschen vermitteln, um sein eigenes Schicksal zu formen: Bildung. Peters Missionierungsfeldzüge folgten derselben Logik, wie sie die meisten seiner Zeitgenossen teilten, die von der Frühaufklärung inspiriert waren, so auch der deutsche Philosoph und Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz. Leibniz, der einige Male persönlich mit Peter I. zusammengetroffen war, hatte sich gleich mehrfach

432 In Peters I. Manifest, das Johann Reinhold von Patkul (1660 – 1706) für den Zaren entworfen hatte, klingen viele Gedanken Samuel Pufendorfs an. S tupperich , Staatsgedanke und Religionspolitik, 42; W ittram , Peters des Großen Verhältnis, 276; E rdmann , Der livländische Staatsmann Johann Reinhold von Patkul. – Pufendorfs Schrift „De habitu Religionis Christianae ad vitam civilem“, die 1687 in Bremen erschienen war, ließ Peter I. 1724 ins Russische übersetzen. N olte , Verständnis und Bedeutung, 513. 433 Das hier auf Deutsch zitierte Manifest wurde schon bald in dem Handbuch des Russlandhandels nachgedruckt. M arperger , Moscowitischer Kauffmann, 89 ff.; N olte , Verständnis und Bedeutung, 513, Fn. 170. – Der deutsche Text in PiB Bd. 2, Nr. 421 (16. 4. 1702), 39 – 50, hier 41 – 42. 434 Dies schließt nicht aus, dass der Zar persönlich sich der russisch-­orthodoxen Religion verbunden fühlte. Dafür sprechen seine religiösen Kindheitsprägungen durch die orthodoxe Liturgie, Gebete, Katechismen und Psalme. Zudem besaß er in seiner persönlichen Bibliothek religiöse Texte, ging regelmäßig zur K ­ irche, sang häufig, las Messen und nahm die Kommunion. H ughes , Russia in the Age of Peter the Great, 150 – 151. 435 S molitsch , Geschichte der russischen K ­ irche, 133.

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in mahnenden Denkschriften an den Zaren gewandt, die „Völker“ des Russländischen Reiches s­ eien „zur Wissenschaft und zu guten S ­ itten“ zu bringen.436 Dafür ­seien Frömmigkeit und das Christentum zu verbreiten. Die von Peter initiierten Missionierungsfeldzüge pries Leibniz daher auch mit den Worten, es handele sich um „eines der nützlichsten und rühmlichsten Dinge, die so ein großer Monarch vornehmen kann“.437 Ivan Tichonovič Posoškov, einer der bedeutendsten russischen politischen Denker seiner Zeit, der nicht in staatlichen Diensten stand, erachtete die bisherige petrinische Religionspolitik hingegen als überaus unzureichend. In einem Traktat von 1719 forderte er dazu auf, die „Heiden“ im Fernen Osten nicht der katholischen Mission der Jesuiten zu überlassen und Missionare auf die Kamčatka-­Halbinsel zu senden: „Wenn die Katholiken es herausfinden [dass dort noch Heiden leben], werden sie ihre Mission ­schicken“.438 Darüber hinaus konfrontierte Posoškov die geringen Missionierungserfolge der russländischen Regierung und Russisch-­ Orthodoxen K ­ irche mit den Methoden und Erfolgen westeuropäischer Mächte. Mordwinen, Čeremissen und Čuvašen ­seien schon seit fast zweihundert Jahren unter „russischer“ Herrschaft, und, „obwohl sie nicht in weiter Entfernung, sondern inmitten unseres russischen Staates leben, an der Wolga und Kama, haben sich weder die weltlichen Behörden noch die Geistlichkeit im geringsten um ihre Aufklärung gekümmert“. Im Gegensatz dazu, so wetterte Posoškov, hätten die Katholiken ihre Missionstätigkeit sogar in China und Amerika entfaltet. „Wenn wir auf ihre Bemühungen schauen, müssen wir uns da nicht schämen?“ Doch mehr noch als Posoškovs Vergleich mit dem Vorgehen westeuropäischer Mächte offenbarte sein Plädoyer für Maßnahmen jenseits der Christianisierung, dass es auch ihm nicht allein um die Religion ging: Nicht-­russischen Eltern s­ eien ihre Kinder gewaltsam wegzunehmen und in die Dienste von Russen zu stellen. Erwachsenen wie Kindern müsse der Gebrauch ihrer Muttersprache verboten werden, damit „sie alle russifiziert werden (vsi obrusêjut): Denn solange ihre Sprachen nicht ausgerottet sind, können sie keine richtigen Christen sein, sondern bleiben Halbgläubige.“ 439 Auch wenn die petrinische Missionierungspolitik schon lange vor den Schriften und Mahnungen einsetzte, die von Leibniz, Posoškov und anderen ausgegeben 436 Peter übernahm die meisten der von Leibniz erteilten Ratschläge für eine kulturelle Modernisierung und dankte ihm, indem er ihn in den Zarendienst aufnahm und in den Rang eines Geheimrats hob. P ekarskij , Nauka i literatura, Bd. 1, 26 – 31; de M adariaga , Russia and the Enlightenment, 262. – Auch die Freunde des Zaren, Franz Lefort und James Bruce, standen mit dem deutschen Philosophen in engem Austausch. B enz , Leibniz und Peter der Grosse; W inter , Frühaufklärung. 437 Hier zitiert nach B enz , Leibniz und Peter der Grosse, 79. 438 P osoškov , Zaveščanie otečeskoe, 327, 343. 439 P osoškov , Zaveščanie otečeskoe, 322, 326 f.

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wurden, und zudem unbekannt ist, inwieweit Peter I. sich überhaupt mit ihnen auseinandergesetzt hatte, so offenbart sich in den Zitaten doch eine große Ähnlichkeit in der Denkweise der Zeitgenossen.440 Die orthodoxe Religion war nur ein Teil der russischen Lebenskultur. Daneben galt es als genauso wichtig, den ‚Unwissenden‘ im eigenen Land die russische Sprache zu vermitteln. Säkularisierung, verstanden als Förderung der Ratio in Form von Wissenschaft und guten ­Sitten, gerichtet gegen jegliche Bigotterie und religiösen Aberglauben, sollte durch Christianisierung erreicht werden. Anders ausgedrückt: Christianisierung bedeutete Bildung, Bildung bedeutete Zivilisiertheit, und Zivilisiertheit bedeutete, Russe oder Russländer zu werden. Dies war das Grundprinzip, das Peters tolerante Politik gegenüber Vertretern anderer christlicher Konfessionen, die diese Bildungs- und Zivilisationsstandards in seinen Augen bereits besaßen, auf der einen Seite und sein rigoroses und diskriminierendes Vorgehen gegenüber Nicht-­Christen erklärte, denen zivilisierend nachzuhelfen war. Mittels der russisch-­orthodoxen Religion und ihrer kirchlichen Vermittlung konnte die nicht-­christliche Bevölkerung in Peters Augen – wie oben bereits zitiert – „aus der Dunkelheit ans Licht“ geführt werden und damit an Wert und Nutzen für den Staat nur gewinnen. Anders als noch zu Zeiten Ivans IV. oder der Zaren Aleksej Michajlovič und Fedor Alekseevič ging es Peter I. bei seiner Missionierung daher von Anfang an um mehr als die Taufe. Sein Ziel war die nachhaltige Veränderung der ‚Unwissenheit‘ bzw. der ‚Barbarei‘ der Eingeborenen.441 Einen Ausdruck fand dieser neue Missionsansatz in der bereits erwähnten erstmaligen Gründung von Schulen für die Kinder des Klerus wie für Neugetaufte.442 Die bildungspolitische Offensive umfasste auch das Bemühen des Zaren, Katechismen und andere Bücher christlichen Inhalts in die indigenen Sprachen übersetzen zu lassen.443 440 Neben Posoškov sind als bedeutende russische Frühaufklärer der Erzbischof Feofan Prokopovyč (1681 – 1736) zu nennen, der ab 1716 Peters wichtigster kirchenpolitischer Berater war und mit dem er die Unterordnung der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche in die staatliche Verwaltung umsetzte, sowie der Satiriker Antioch D. Kantemir (1709 – 1744). Auch Kantemir legte großen Wert auf Gottgläubigkeit, verurteilte jedoch scharf jegliche Bigotterie, religiösen Fanatismus und religiösen Aberglauben. C racraft , Feofan Prokopovich; O nasch , Prokopowitsch; G rasshoff , Das Humanitätsideal der russischen Frühaufklärung, bes. 211 – 212. 441 Tatsächlich findet sich der Begriff des ,Barbaren‘ mit Blick auf Muslime bereits mehrfach in der petrinischen Zeit. Ein Beispiel ist die von Peter I. zusammen mit Petr Šafirov herausgegebene Streitschrift von 1717 zum Nordischen Krieg, in der von den „barbarischen Türken“ (Varvaram Turkam) die Rede ist. Š afirov , Razsuždenie [1717], 35. – Ausführlich zum Begriff Kap. 4.1. 442 C harlampovič , Malorossijskoe vlijanie, 633, 729 – 730; F edorov , Pravovoe položenie, 85; O gorodnikov , Russkaja gosudarstvennaja vlast’, 95; M akarov , Samoderžavie i christianizacija, 158. – Zur starken Prägung der bildungspolitischen Vorstellungen Peters I. durch die Jesuiten O kenfuss , The Jesuit Origins, 131 – 148. 443 PSZRI Bd. 7, Nr. 4427 (20. 1. 1724), 207; Bd. 7, Nr. 4493 (19. 4. 1724), 278.

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Ein weiteres ­­Zeichen ging von einer begrifflichen Änderung aus: Während zu Zeiten Ivans IV. Missionierte oder Konvertierte ausschließlich als ‚Neugetaufte‘ (novokreščennye) bezeichnet worden waren, eine Namensgebung, die das ganze 17. Jahrhundert über und auch im Rahmen der Missionierungsfeldzüge Anfang des 18. Jahrhunderts andauerte, setzte sich zumindest innerhalb der Kirchenverwaltung noch zu Peters I. Zeiten allmählich der Begriff der ‚Aufgeklärten‘ (prosveščennye) oder der ‚Neuaufgeklärten‘ (novoprosveščennye) für die bekehrten Nicht-­Russen durch.444 Die begriffliche Veränderung spiegelte das petrinische Umdenken wider: Der Akzent verschob sich semantisch von dem rein religiös verstandenen Akt der Taufannahme auf den Aspekt der nun religiös und säkular ausgerichteten Erleuchtung, die zunehmend mit prosveščenie als Auftrag zum Erlernen von Lesen und Schreiben verbunden wurde.445

Umsiedlung als Instrument russisch-orthodox geprägter Mission Die von Peter beabsichtigte nachhaltige Veränderung der ‚Neugetauften‘ (oder ‚Neuaufgeklärten‘) drückte sich schließlich darin aus, dass er zunächst gegenüber den Kalmücken, ­später auch gegenüber anderen ethnischen Gruppen die schon von Zar Ivan IV . eingesetzte Methode gezielter Um- und Ansiedlungen dafür nutzte, um die Neugetauften in ihrem christlichen Glauben zu festigen und sie vor Angriffen ungetaufter Angehöriger ihrer ethnischen Gruppe zu ‚schützen‘. Mit dieser Form kompakter Ansiedlungen von Missionierten oder Konvertierten griff er nach anderthalb Jahrhunderten eine Methode wieder auf, die unter seinen Nachfolgerinnen zu einer der wichtigsten Strategien avancieren sollte, um das Ziel nachhaltiger Missionierung und ‚Zivilisierung‘ zu erreichen. Da es im 17. Jahrhundert keine konsequenten Segregationsmaßnahmen ­zwischen Christen und Nicht-­Christen gegeben hatte, waren Neugetaufte zwar aus Haushalten Ungetaufter entnommen, aber nur vereinzelt umgesiedelt worden.446 444 PSZRI Bd. 7, Nr. 4683 (19. 3. 1725), 437. N olte , Verständnis und Bedeutung, 515, Fn. 182. 445 PSZRI (I) Bd. 7, Nr. 4683 (19. 3. 1725), 437 – 438; Bd. 11, Nr. 8075 (23. 4. 1740), 86; Bd. 21, Nr. 15586 (10. 11. 1782), 751 – 752; N olte , Verständnis und Bedeutung, 515, Fn. 182; K ­ hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 130. – Zum Begriff der prosveščenie, der im Russischen des 18. Jh. ­zwischen Aufklärung, Bildung und Zivilisation schwankt, vgl. Kap. 4.1. – Jetzt wurden allerdings die vor Peter I. christianisierten Nicht-­Russen als „Altgetaufte“ (Starokrjaščennye) bezeichnet. Da der Begriff sich ausschließlich im Zusammenhang mit Tataren findet, ist davon auszugehen, dass sich diese Gruppe der einst Neugetauften am wenigsten assimiliert hatte. K appeler , Kak klassificirovali, 13 – 39; B arkar ’, Starokreščënye i novokreščënye tatary. 446 PSZRI Bd. 1, Nr. 37 (15. 5. 1650), 122 – 124; Bd. 1, Nr. 70 (Okt. 1651), 128 – 129; O gryzko , Christianizacija narodov, 10 – 14; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 236; K hodarkovsky , Four Degrees of Separation, 262 – 263; O rlova , Istorija Christianizacii kalmykov, 37.

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In aller Regel lebten Nicht-­Christen und Christen auch nach ihrer Konvertierung friedlich nebeneinander. Dies galt gleichfalls für Christen unterschiedlicher Konfessionen.447 Eine gewichtige Ausnahme in der Politik homogener Ansiedlungen von Gleichkonfessionellen bildeten nur die Moskauer Vorstädte, darunter die tatarskaja sloboda aus dem 16. Jahrhundert und die Novaja Nemeckaja Sloboda aus dem 17. Jahrhundert.448 In der ‚Deutschen Vorstadt‘ siedelte die Zarenregierung in geschlossener Form die dringend erwünschten fremdkonfessionellen Dienstund Kaufleute, Handwerker und Künstler an, deren Zahl seit dem 17. Jahrhundert stetig anwuchs und die vorwiegend aus dem protestantischen, nördlichen Europa stammten.449 Auch waren aus nicht missionarischen, vorrangig verteidigungspolitischen und strategischen Gründen getaufte Kalmücken 1679 unter Zar Fedor Alekseevič in einer Vorstadt von Čuguev, einer Frontstadt am rechten Ufer des nördlichen Don innerhalb des Charkover Gouvernements, sesshaft gemacht worden. Sie sollten die Kosaken dabei stärken, die beständigen Einfälle der Krimtataren abzuwehren.450 Dieses Anliegen verfolgte Peter I. zunächst weiter, als er 1696 neu getaufte Kalmücken, die an seinem Feldzug nach Azov teilgenommen hatten, gleichfalls zur Verstärkung in Čuguev ansiedeln ließ.451 Allmählich und schleichend aber erhielt die Vorgehensweise eine ergänzende Zielsetzung.452 Bei der Gründung einer Siedlung für getaufte Kalmücken am Fluss Tereška oberhalb von Saratov spielten für Peter nicht mehr bloß verteidigungspolitische Gründe eine Rolle. Jetzt kam zunehmend das Bemühen um nachhaltige

447 PSZRI Bd. 2, Nr. 1117 (5. 4. 1685), 662 – 663, hier 663. „V Svijažskom že uezde v tatarskich i čuvašskich selech i v derevnjach živut poloneniki s novokreščeny i s tatary i s čuvašeju vmeste“. Iz piscovoj i meževoj knigi g. Svijažska i uezda. Kazan 1909, 66, 106, abgedruckt in: Istorija Tatarii v materialach i dokumentach, 107; C hudjakov , Očerki po istorii Kazan’skogo Chanstva, 207; T ichomirov , Rossija, 472 – 473; K ämpfer , Die Eroberung von Kasan, 117. 448 Seit dem 16. Jh. lebten die tatarischen Übersetzer der zentralen prikazy (Ämter) in einer ‚tatarischen Vorstadt‘ Moskaus (tataraskaja sloboda). N olte , Religiöse Toleranz, 57 – 58; K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 101. 449 Anders als der Name suggeriert, lebten im 17. Jh. in der „Deutschen Vorstadt“ Vertreter verschiedener Herkunftsländer miteinander vereint. Zu ihnen zählten Niederländer, Schweden, Engländer, Schotten, Dänen und aus vielen verschiedenen Regionen stammende Deutsche. K ovrigina , Nemeckaja sloboda Moskvy; B ogojavlenskij , Moskovskaja Nemeckaja sloboda; B aron , The Origins. 450 O rlova , Istorija Christianizacii kalmykov, 62; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 42. 451 Unter Peter I. durften dabei auch ungetaufte Kalmücken in den Kosakendienst eintreten. Mit dem Senatsbeschluss von 1725 wurde dies geändert und der Eintritt in den Kosakendienst nur noch erlaubt, wenn zuvor die Taufe erfolgt war. PSZRI Bd. 7, Nr. 4784 (29. 9. 1725), 539 – 540; Bd. 7, Nr. 4795 (27. 10. 1725), 548. 452 Die Aufstockung der Čuguev-­Kosaken durch neu getaufte Kalmücken wurde in den Folgejahren massiv verstärkt. S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 210.

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Missionierung hinzu.453 Zum einen ging es dem Zaren darum, durch eine kompakte Ansiedlung der Neugetauften den Rückfall in ihren alten Glauben zu erschweren. Zum anderen sollten Angehörige der eigenen ethnischen Gruppe, die in nicht allzu großer Entfernung im Herrschaftsverband des kalmückischen Ajuki-Chans dem lamaistischen Buddhismus treu geblieben waren, durch die geographische Nähe zu den Neugetauften zum Christentum gelockt und damit dem Machtbereich des Chans entzogen werden.454 Die Reaktion des verärgerten Ajuki-­Chans sprach für sich: 1704 ließ er die Ansiedlung niederbrennen.455 Zwar sollte es dem kalmückischen Chan nicht gelingen, die Fortexistenz der Siedlung dauerhaft zu verhindern. Doch rang er 1717 der Zarenregierung das Zugeständnis ab, den neu getauften Kalmücken die aktive Missionierung innerhalb seiner ulusy zu verbieten und künftige Neugetaufte nicht länger entlang der Wolga in der Nähe seiner Herrschaftsgebiete, sondern an anderen „russischen Orten“ anzusiedeln.456 Frieden kehrte damit aber noch lange nicht ein. Der russländischen Seite kam eine Destabilisierung der Herrschaft von Ajuki-­Chan entgegen.457 Der Senat weigerte sich, Ajuki-­Chans Forderung entgegenzukommen und taufwillige Kalmücken ungetauft wieder an ihn zurückzuschicken. Dies sei mit der christlichen Religion nicht vereinbar.458 Wenig s­ päter siedelte sich eine Gruppe neugetaufter Kalmücken 453 O rlova , Istorija christianziacii kalmykov, 64; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 42 – 45. 454 Bereits im Rahmen des Treueids von 1673 hatte die russländische Seite versprochen, alle Kalmücken, die in russländische Städte flüchteten, ungetauft wieder zurückzuschicken. PSZRI Bd. 1, Nr. 540 (27. 2. 1673), 927. – Im russländisch-­kalmückischen Abkommen von 1677 hieß es erstmals, dass der kalmückische Chan nicht weiter verlangen dürfe, Kalmücken zurückzufordern, die auf eigenen Wunsch getauft wurden. PSZRI Bd. 2, Nr. 672 (15. 1. 1676), 84. – Im Abkommen von 1697 wurde diese Regel wieder zurückgenommen und Ajuki-­Chan zugestanden, dass ins Zarenreich geflohene Kalmücken zum einen nicht getauft werden dürften und zum anderen, dass im Falle einer erzwungenen Taufe eine Strafe von 30 Rubel pro Person an Ajuki-­Chan zu zahlen sei. PSZRI Bd. 3, Nr. 1591 (17. 7. 1695), 329 – 331; K ostenkov , O rasprostranenij christianstva; K hodarkovksy , Where Two Worlds Met, 106 – 107, 112, 132. – Zu den Anweisungen, die Kalmücken in Čuguev anzusiedeln: PSZRI Bd. 5, Nr. 3001 (15. 3. 1716), 201 – 202; Bd. 5, Nr. 3062 (14. 1. 1717), 485 – 487; Bd. 7, Nr. 4795 (27. 10. 1725), 548; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 42 – 45. 455 O rlova , Istorija christianziacii kalmykov, 64. 456 Orlova, Istorija christianziacii kalmykov, 64; PSZRI Bd. 5, Nr. 3062 (14. 1. 1717), 486. 457 Daher verstärkte sogar die russländische Seite ihre Christianisierungsbemühungen in den folgenden Jahren. PSZRI Bd. 7, Nr. 4427 (20. 1. 1724), 207. – Ausführlich zu den konfliktreichen Beziehungen von Kalmücken und dem Zarenreich K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 134 – 169; O rlova , Istorija christianziacii kalmykov, 58 – 78, bes. 59. 458 PSZRI Bd. 5, Nr. 3062 (14. 1. 1717), 485. – Damit kehrte die russländische Seite zu der Position zurück, die sie schon 1677 gegenüber Ajuki-­Chan vertreten hatte. PSZRI Bd. 2, Nr. 672 (15. 1. 1676), 84. – Zeitgleich wies Peter I. an, dieselbe Politik auch gegenüber den nordkaukasischen Kabardinern zu betreiben, denen er ab 1718 fortan die Rückgabe von geflüchteten und anschließend getauften Čerkessen oder Kabardinern mit Verweis auf die „christliche Glaubenslehre“ verwehrte. Gramota Petra I kabadrinskim knjaz’jam Atažuke Misostovu (Fežadčuku Museevu) (…). In: KabRO Bd. 2, Nr. 17 (20. 3. 1718), 32. – Gegenüber den Kasachen der Kleinen

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Abb. 22: Innenansicht, lamaistisches Gebetshaus der kalmückischen Geistlichkeit: Hauptgottheit (Schigimumi), Opfertisch, Altar, Wasser- und Opferschalen, Tierfiguren, Lampen, Räucherkerzen; geistliche Schüler mit Handpauken, Klangtellern, Posaunen und Schalmeien, vorne ein betender Kalmücke. Kupferplatte von 1779. Peter Simon Pallas

sogar entgegen der Abmachung, aber mit Erlaubnis der zarischen Regierung erneut am Fluss Terešk an. Die Neugetauften wurden von Einheiten des Ajuki-­Chans zum Teil erschlagen, zum Teil in die kalmückischen Steppen zurückgetrieben. Die Ereignisse führten bei Peter I. zum Umdenken: Fortan ließ er die getauften Kalmücken nicht mehr in der Nähe der ulusy von Ajuki-­Chan ansiedeln, sondern verschickte sie in entfernt gelegene, „unbesiedelte Ländereien“ (na porožnie zemli) des Kiever Gouvernements.459 Mehrere Vertreter der russländischen imperialen Elite, darunter der Gouverneur von Astrachan, Artemij Volynskij, Generalmajor Ivan Horde, die Anfang der 1730er Jahre Untertanen des Zaren wurden, hielt man sich mit Missionierungen in den ersten Jahrzehnten noch zurück. In Analogie zum Umgang mit getauften Kalmücken und Kabardinern untersagte Katharina II. aber 1776 auch kasachischen Gefangenen, nach ihrer Taufe zu ihrer Sippe oder Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe zurückzukehren, und wies stattdessen an, sie weit ins Innere des Reiches (vo vnutr Rossii) umzusiedeln. PSZRI Bd. 20, Nr. 14.489 (26. 7. 1776), 402 – 403. 459 PSZRI Bd. 5, Nr. 3062 (14. 1. 1717), 485 – 486.

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Von-­Mengden, Generaloberst Lev Izmajlov, Generalleutnant Dmitrij Bachmet’ev und der Kommandant von Saratov, Vasilij Beklemišev, griffen diesen Umsiedlungsgedanken in den Folgejahren auf: Seit 1724 warben sie gegenüber dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten dafür, getaufte Kalmücken nicht länger in Grenzgegenden zu ‚halten‘, sondern sie „im Inneren des Russländischen Imperiums“ anzusiedeln.460 Die Politik, Konvertierte nicht nur aus Schutzgründen in ‚sicherer‘ Distanz zu den anderen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe unterzubringen, sondern ihnen damit gleichzeitig auch die Chance zu nehmen, zurückfliehen zu können, war einer der Aspekte, die Zarin Anna in den 1730er Jahren veranlasste, ganze Städte für Neugetaufte zu gründen, so im Falle von Nagaibak für baschkirische und tatarische Konvertierte im Gouvernement von Ufa, und 1739 von Stavropol’ für konvertierte Kalmücken nördlich der Stadt Samara.461 Die Politik der gezielten An- und Umsiedlung aus religiösen Gründen, die Trennung Neugetaufter von den ‚fremdgläubig‘ (inovernyj) verbliebenen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe, wie sie in den 1730er Jahren zunächst von Zarin Anna und s­ päter von Zarin Elisabeth zu einem der wichtigsten Instrumente staatlich unterstützter russisch-­orthodoxer Missionierungspolitik aufstieg, war mithin keineswegs neu. Vielmehr knüpfte sie an die späten Jahre Peters I. an.462 Freilich nahm die Taktik der Umsiedlung s­ päter völlig andere Ausmaße an, vor allem ab dem Zeitpunkt, als unter Zarin Elisabeth 1743 angeordnet wurde, nicht länger die Neugetauften, sondern die ‚Fremdgläubigen‘ aus ihren Dörfern umzusiedeln.463 460 V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 508. 461 Ausführlich zur Stadtgründung von Stavropol’ in Kap. 4.4. – Siehe auch V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 439; K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 131. – Im Falle der 1736 erfolgten Gründung von Nagaibatsk suchte Zarin Anna zwei Probleme gleichzeitig zu lösen. Einerseits sollte die Bekehrung bei den getauften Baschkiren und den konvertierten Angehörigen vieler anderer nicht-­russischer ethnischer Gruppen der Region nachhaltig sein, andererseits das neu geschaffene Nagaibaker Kosakenheer und die südliche russländische frontier insgesamt mit der Ansiedlung gestärkt werden. PSZRI Bd. 9, Nr. 6890 (11. 2. 1736), 741 – 745; D onnelly , The Russian Conquest, 165. – Obwohl die neu getauften Nagaibaker sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammensetzten und nur auf administrativen Befehl hin an einem bestimmten Ort zum Kosakendienst verpflichtet wurden, reifte mit den Jahrzehnten ein tatarisch-­christliches Eigenbewusstsein heran, das sich bis heute erhalten hat. A tnagulov , Nagajbaki; A minov , Tatary-­kazaki, 37  ff. 462 Die petrinischen Umsiedlungen aus religiösen Gründen werden in der Abhandlung von Hans-­ Heinrich Nolte vernachlässigt. N olte , Umsiedlungen als Instrument. 463 PSZRI Bd. 11, Nr. 8792 (28. 9. 1743), 916. – Zu den Komplikationen, die mit den Umsiedlungen verarmter Konvertierter verbunden waren, die mit dem Verlust ihrer Heimat und ohne soziales Netz oftmals in existentielle Nöte gerieten, siehe T aškin , Inorodcy Privolž’sko-­Priural’skago kraja i Sibiri, 115 – 118; M alov , O novokreščenskoj kontore, 83 – 87; W erth , Subjects for Empire, 48 ff. – Nach erheblichen Unruhen, die anschließend im Zusammenhang mit der Umsiedlung der Ungetauften entstanden, ging man 1756 zur Regelung über, nur dann die nicht-­christliche Dorfbevölkerung umzusiedeln, wenn die Neugetauften mehr als ein Zehntel von ihr ausmachten, andernfalls aber

Die Religion: Staatliche Missionierungspolitik

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Zusammenfassung Die petrinische Wende in der Politik gegenüber den Nicht-­Christen im Süden und Osten, insbesondere gegenüber den ‚Naturreligionen‘ in Sibirien und Fernost und den Muslimen im Wolga-­Raum, war von fundamentalem Charakter. Das Ziel leitete sich nicht aus einem kurzfristigen Eroberungswillen ab wie noch 1551 bis 1555 in der Herrschaftszeit Zar Ivans IV. Weder die Absicherung politischer Herrschaft noch die Übernahme kameralistischer Konzepte und des Idealbildes vom wohlgeordneten Policeystaat reichen aus, um die Missionierungskampagne unter Peter I. einzuordnen. Vielmehr ist die Missionspolitik Peters I. als Zivilisierungspolitik zu begreifen: Die russisch-­orthodoxe Religion diente Peter I. als Transmissionsriemen für Bildung und moralische Grundsätze. Seine Zivilisierungspolitik leitete sich aus der Überzeugung ab, nicht-­christlichen ethnischen Gruppen ein zivilisatorisch höher zu bewertendes Glaubenssystem, einen ‚höherwertigen‘ Wertekanon beibringen zu müssen. Eine s­ olche Überzeugung lässt sich bei den Moskauer Herrschern im 17. Jahrhundert (noch) nicht erkennen. Erst unter Peter I. kann die staatliche Missionierungspolitik in die Tradition eines Juan Ginés de Sepúlveda gestellt werden, der als spanischer Historiker in der Debatte um die Rechte der Indios in Südamerika gegenüber Bartolomé de Las Casas schon 1550 die gewaltsame spanische Bekehrungspolitik damit verteidigte, dass die Indios ungebildet und barbarisch s­ eien. Auch Sepúlveda berief sich dabei auf die Vorstellung, dass die Spanier durch ihre Überlegenheit dazu berufen und verpflichtet s­ eien, die „barbarischen Bräuche“ zu bekämpfen.464 Neben der neuen Geisteshaltung machte sich der Bruch petrinischer Missionierungspolitik gegenüber der Zeit des Moskauer Reiches auch in dem Versuch der ethnisch verfassten Massenmissionierung innerhalb bestimmter Regionen fest. Sie trat an die Stelle individueller Bekehrungen einer präzise benannten Oberschicht. Zudem kam erstmals unter Peter I. der Gedanke auf, die Konversionen durch Beschulung und Bildung nachhaltig werden zu lassen. Nicht neu waren hingegen die einzelnen Methoden der Missionierung. Vielmehr griff Peter I. auf Praktiken zurück, die in den anderthalb Jahrhunderten zuvor auch schon zum Einsatz gekommen waren: die Anreizpolitik für Taufwillige durch die Last der Umsiedlung den Neugetauften aufzuerlegen. PSZRI Bd. 14, Nr. 10.597 (23. 8. 1756), 607 – 612. 464 Allerdings bestand in einem Aspekt ein großer Unterschied z­ wischen der spanischen und der russländischen Missionierungspolitik: Im spanischen Fall ging die Bekehrung der Eroberung voraus oder mit ihr einher. Im russländischen Fall erfolgte die Bekehrung erst lange nach der Eroberung. – de S epúlveda , Democrates segundo. Ausführlich zu den Argumenten Sepúlvedas und Las Casas S tuchtey , Die europäische Expansion und ihre Feinde, 39 – 44; W allerstein , Die Barbarei der anderen, 12 – 20; B owden , The Empire of Civilization, 135 – 137.

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Steuerbefreiung, Geschenke und Belohnungen, Befreiung von Rekrutenaushebungen und Straffreiheit in bestimmten Fällen sowie die Politik der kompakten Anund Umsiedlung für religiös homogene Gruppen. Der Einsatz dieser Methoden wurde in den Jahrzehnten nach der petrinischen Ära massiv ausgebaut, insbesondere in der Zeit von 1740 bis 1755, so dass die Zahlen der Neugetauften in der Herrschaftszeit Elisabeths weitaus größer waren als zu Beginn des Jahrhunderts. Entgegen der bisherigen Forschermeinung waren jedoch die Unterschiede in der Religionspolitik z­ wischen den Jahrzehnten der ersten Jahrhunderthälfte bloß gradueller, nicht grundsätzlicher Natur. Das Manifest von 1702, mit dem Peter I. das Prinzip der Gewissensfreiheit für Anhänger christlicher, nicht-­orthodoxer Konfessionen ausrief, steht nur auf den ersten Blick in Kontrast zur Politik aggressiver Missionierung. Bei näherer Betrachtung fügt es sich in das Gesamtkonzept ein, wonach Vertreter der ‚zivilisierten Nationen‘ anders zu behandeln waren als s­ olche, bei denen es sich um „in der Blindheit des Götzendienstes und in sonstigen Formen des Unglaubens verstockte Menschen“ handelte. Betrachtet man aus der Vogelperspektive des Historikers die Religionspolitik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts insgesamt, so kann nur in einem eingeschränkten Sinne von einer vorübergehenden, kurzfristigen Abweichung von einer Grundlinie gesprochen werden, die vor Peter I. und in gleicher Weise nach Elisabeth darin bestanden hätte, fremde Religionen im eigenen Reich zu dulden. Zweifelsfrei setzte Katharina II. weit mehr auf die Duldung fremder Religionsgemeinschaften sowie auf die Zusammenarbeit mit deren Vertretern als auf Konfrontation. Doch kann eine ­solche Betrachtung, mit der die petrinische und die ihm folgenden Missionierungsoffensiven auf Fragen des Glaubens beschränkt gesehen werden, leicht den Blick auf die tieferliegenden Kontinuitätslinien z­ wischen der imperialen Politik Peters I. (und seiner unmittelbaren Nachfolgerinnen) und Katharinas II. verschleiern. Erst wenn man erkennt, dass die petrinischen Angriffe auf die Glaubens- und Wertesysteme der Nicht-­Christen nur den Anfang einer weit umfassender verstandenen Politik der Zivilisierung darstellten, die bloß zunächst bei der Religion ansetzte, aber noch während der Phase systematischer Missionierung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf viele andere Bereiche wie die Lebens- und Wirtschaftsweise, die Sprache und Alltagskultur der nicht-­russischen Einheimischen ausgedehnt wurde, dann wird der tiefe Einschnitt in der imperialen Politik unter Peter I. begreiflich. Dann treten die Gemeinsamkeiten ­zwischen den als ‚groß‘ titulierten Zaren hervor, die beide nicht länger gewillt waren, nicht-­russische ethnische Gruppen im Süden und Osten auf ihre Weise leben zu lassen, sondern eine tiefgreifende, kulturelle Transformation einforderten. Trotz Katharinas II. duldsameren Umgangs mit den nicht-­christlichen Religionen verzichtete auch sie nicht grundsätzlich auf

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lokale Missionierungskampagnen. Vielmehr erschienen Konversionsbemühungen auch ihr opportun, wenn sie sich als Instrumente der Machtkonsolidierung und Herrschaftsrationalisierung eigneten. Der Schritt von der Zivilisierungsstrategie auf dem Gebiet der Religion zur Zivilisierungsstrategie auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Lebensweise war denkbar klein, die Übergänge fließend.

4.4  Wirtschaft und Lebensweise: Offensive für Sesshaftigkeit Die Missionierungspolitik Peters I. enthielt zentrale Charakteristika einer Zivilisierungsstrategie. Und doch ist Skepsis angebracht, inwiefern diese Form der religiös untermauerten Zivilisierungspolitik bereits als Teil einer Zivilisierungsmission gelten kann. Jürgen Osterhammel weist in seiner Definition von ‚Zivilisierungsmission‘ zu Recht auf die Bedingung hin, dass eine wie auch immer geartete Mission ein Sendungsbewusstsein umfassen muss, bei dem nicht (mehr) der christliche Glaube im Zentrum der Argumentation steht.465 Zwar war auch für Peter die religiöse Konversion nur vordergründig das Hauptziel. Doch machte sich an ihr alles Weitere fest. Sie stand im Zentrum, und bei aller massiven staatlichen Unterstützung brachte es die vordergründig religiöse Ausrichtung mit sich, dass ausschließlich Geistliche als Missionsträger beauftragt wurden. Im Gegensatz dazu gelten als Kern der modernen Zivilisierungsmission säkulare Zivilisationsvorstellungen der Aufklärung. Demnach sei die Vervollkommnung des Menschen eben gerade nicht alleinige Sache der Religion, sondern bereits eine innerweltliche Angelegenheit. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit sich die Behauptung belegen lässt, bei der petrinischen Politik habe es sich bereits um den ersten Teil einer weit umfassender verstandenen Zivilisierungsmission gehandelt. Gibt es Kontinuitäten oder sogar Kongruenzen z­ wischen den vordergründig religiös ausgerichteten Missionierungsbemühungen und etwaigen Sesshaftigkeitsoffensiven, die nach Peter I. einsetzten? In der Literatur dominiert bislang der Eindruck, die russländische Politik habe im 18. Jahrhundert nur marginal Versuche unternommen, auf administrative Weise in die traditionelle Wirtschaftsweise und in das System der Landnutzung Indigener einzugreifen, so auch nur geringfügig bei den pastoral wirtschaftenden nomadischen Gesellschaften im Süden.466 Es wird zu prüfen sein, inwieweit dieser Eindruck einer Analyse der Bemühungen um Sesshaftigkeit unter den Zarinnen Anna, Elisabeth und Katharina II. standhalten kann. 465 O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 8. 466 O lcott , The Kazakhs, 42; E schment , Wider die leichtsinnigen, 138. – Einen deutlich anderen Aktzent setzt die Studie von S underland , Taming the Wild Field.

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Der Wandel in der Wahrnehmung Die Moskowiter verband eine jahrhundertelange Bekanntschaft mit den Nomadenvölkern im Osten, Süden und Südwesten des Reiches. Schon die Bevölkerung der Kiever Rus’ hatte sich mit den nomadisch lebenden Pečenegen und Polovcer auseinanderzusetzen. Vor allem aber hatten die rus’ischen Fürstentümer im Falle der Mongolen für mehr als zweihundert Jahre selbst unter der Herrschaft eines weitgehend nomadisch lebenden Reitervolkes gestanden. Damit waren sie im Gegensatz zu den westeuropäischen Mächten nicht nur größtenteils vertraut mit deren Alltag und deren Herrschaftstechniken, die sie zum Teil selbst übernahmen. Durch ihre sukzessive Eroberung der Nachfolgereiche der ehemals nomadisch lebenden, dann sesshaft gewordenen Mongolen (Chanat von Kazan, Astrachan und Sibir’) und durch die allmähliche Inkorporation noch nomadisch verbliebener ethnischer Gruppen wie der Nogaier, Baschkiren und Kalmücken in das Moskauer Reich war ein Bewusstsein von der eigenen machtpolitischen Überlegenheit gegenüber Nomadenvölkern gereift.467 Diese Erfahrung hinderte indes das Zarenreich nicht daran, je nach Konstel­ lation eine pragmatische Politik der wechselnden Allianzen mit den ethnischen Gruppen der Steppe einzugehen. Insbesondere aber waren die Nomaden eines nicht: Anders als für Westeuropäer, die mit ihnen im Zuge imperialer Expansion nur auf anderen Kontinenten zusammentrafen, waren Nomadenvölker für Russen des 16. und 17. Jahrhunderts keine Exoten. Sie erweckten auch keine Neugierde. Infolge der Vertrautheit sah die russländische Elite es nicht als notwendig an, die Nomaden oder ihre Grasländer zu erforschen oder zu beschreiben.468 Sie wurden im 16. und 17. Jahrhundert aus Sicht der Russen in erster Linie dadurch definiert, dass sie nicht der russisch-­orthodoxen Religion anhingen, also „nicht-­christliche Völker eines anderen Glaubens“ (nechristianskie inoverčeskie narody) oder „Muslime“ (busurmany) waren.469 Und sie lebten auf Land, das schon zu Zeiten Ivans IV . als das „wilde Feld“ (dikoe pol’e) bezeichnet wurde.

467 Die Ausführungen folgen dem engen Begriff des Nomaden, der im 18. Jh. vorherrschte und der nicht jede Form mobiler Lebensführung (wie die von Jägern und Sammlern) einschloss. Primär wurden unter Nomaden Hirten verstanden, die ihre Tiere auf Naturweiden hielten und mit ihnen je nach klimatischen Bedingungen umherzogen. Bei den Steppenvölkern im Süden und Südosten des Zarenreiches gingen mobile und sesshafte Formen des Patoralismus (von lat. pastor, Hirte) oftmals ineinander über. Ausführlich zur Definition des Nomaden K hazanov , Nomads and the outside world, bes. 15 – 25; zur (west)europäischen Betrachtungsweise des Nomaden im 18. Jh. O sterhammel , Die Entzauberung Asiens, 264 – 270. 468 S lezkine , Arctic Mirrors, 11 – 32; B assin , Expansionism and Colonialism, 11 – 12. 469 K hodarkovsky , Ignoble Savages and Unfaithful Subjects, 14 – 15.

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Mit dieser vorerst wertneutral gemeinten Beschreibung wies das Adjektiv „wild“ lediglich daraufhin, dass das Land unbewirtschaftet war.470 Es bedeutete noch nicht, dass man sich kulturell von den Steppenvölkern abheben wollte.471 Auch die Errichtung der Festungslinien im 16. und 17. Jahrhundert war nicht in der Weise zu verstehen, dass man ausschließlich feindselige Beziehungen zu den Nomaden unterhielt oder danach strebte, sich von ihnen in jeder Hinsicht abzugrenzen.472 Zwar entstanden die Linien aus dem großen Bedürfnis heraus, sich gegen nomadische Überfälle abzusichern und russländische Siedlungen zu ­schützen. Doch dienten sie genauso der Möglichkeit des Kontaktes, des Handels und als Basis für weitergehende Expansion.473 Durch die neue Selbstverortung Anfang des 18. Jahrhunderts, das Russländische Imperium zu den „zivilisierten Völkern“ (političnye narody) in Abgrenzung zu den noch „in Dunkelheit“ verharrenden zu zählen, veränderte sich in den Augen der russländischen Elite auch die Wahrnehmung der Nomadenvölker.474 Peter I. selbst schlug in seiner Anweisung von 1722 einen für innerrussländische Verhältnisse gänzlich neuen Ton an, als er darauf drang, die Kasachen in die russländische Untertanenschaft zu überführen. So bezeichnete er die Kasachen als ein „unsolides“ oder „unverständiges Steppenvolk“ (stepnoj i lechko-­myslennyj narod).475 Zu ­diesem Zeitpunkt waren Kalmücken und Baschkiren nominell längst Untertanen des Reiches und lösten mit ihrer Fremdgläubigkeit genauso wie die „götzenanbetenden Sibirjaken“ beim Zaren den Wunsch aus, sie durch die russisch-­orthodoxe Religion zu verändern. Großes Interesse gewann die russländische Seite dabei an den Kalmücken. Deren kriegerische Fähigkeiten zu Pferde weckten das Begehren, sie für Grenzsicherungsdienste in den Kosakenstand zu integrieren oder in russländischen 470 Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv. Bd. 4, 245 sowie Bd. 16, 206; S reznevskij , Materialy dlja slovarja drevnerusskogo jazyka po pismennym pamjatnikam, Bd. 2, 665 – 666; Sunderland, Taming the Wild Field, 20; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 185, 265 Fn. 1. – Zum Steppenbild der Kiever Rus’ C hekin , The Godless Ishmaelites. – Eine andere Auffassung, wonach die russischsprachige Bevölkerung die südliche Steppenfrontier bereits im 17. Jh. als eine ,Zivilisationsgrenze‘ empfunden hätten, findet sich bei P allot /S haw , Landscape and Settlement, 13 – 32. 471 S underland , Taming the Wild Field, 19 f. 472 Darin unterschieden sich die Russländer von den alten Griechen, den Persern, den Römern und den Westeuropäern der Neuzeit: Sie alle verachteten die Nomaden schon vor dem 18. Jh. K ürsat -­ A hlers : Zur frühen Staatenbildung von Steppenvölkern, bes. 40 – 48. 473 Vgl. Kap. 4.2. 474 Vgl. Kap. 4.1. 475 Iz zapisi A. Tevkeleva po povodu vyskazyvanija Petra I o privlečenii kazachov v rossijskoe poddanstvo. In: KRO Bd. 1, Nr. 24 (1722), 31. – Zur doppelten Bedeutung von legkomyslennyj im Sinne von „unverständig“, „kenntnislos“ sowie „unbeständig“ und „unsolide“ siehe Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka, Bd. 11, 137. – In der 2. Hälfte des 17. Jh. hatte die Bezeichnung „Steppe“ (step’) den Terminus „Feld“ (pol’e) abgelöst und signalisierte den Beginn neuer Assoziationen, wie sie bei Peter I. deutlich zum Ausdruck kamen. Mehr zum Ursprung der Bezeichnung step’ in S underland , Taming the Wild Field, 34, Fn. 86.

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Feldzügen gegen Perser oder Tataren einzusetzen.476 Vor d­ iesem Hintergrund war es sowohl der petrinischen als auch den folgenden Regierungen ein besonderes Anliegen, gerade die Kalmücken mittels der räumlichen Disziplinierung durch die Caricyn-­Linie und durch die Konversion zum russisch-­orthodoxen Glauben zu loyalen und „umgänglichen“ Untertanen für zarische Dienste heranzuziehen.477 Als Baksaday-­Dorji, der Enkel des mächtigen kalmückischen Ajuki-­Chans, sich 1724 bereit erklärte, den lamaistischen Glauben abzulegen und sich taufen zu lassen, kam Peter I. persönlich zur Taufzeremonie, die in St. Petersburg stattfand, und ließ sich als Pate und als Namenspatron für den dann in „Petr Tajšin“ umbenannten Kalmücken einspannen.478 Nach dem Tod des Großvaters hatte sich Petr Tajšin große Chancen ausgerechnet, nach seiner Konvertierung mit russländischer Hilfe zum neuen kalmückischen Chan ernannt zu werden.479 Zwar scheiterte er mit d­ iesem Anliegen. Doch dafür gelang es dem Kalmücken, neben einem umfangreichen Jahresgehalt, einer Leibgarde und einem eigens für ihn eingestellten Vertrauensmann für Kontakte zu den russländischen Behörden auch das vage Versprechen des Zaren zu erhalten, eines Tages nahe Astrachan für sich und die getauften Kalmücken seiner Sippe eine Stadt errichtet zu bekommen. Der Wunsch ging vom kalmückischen Chan-­Enkel selbst aus, zumindest im Winter und damit saisonal sesshaft zu werden, während im Sommer er und seine Sippe weiter mit ihren Herden umherstreifen wollten.480 Doch vorerst besaß der Kalmücke nur das Versprechen Peters I., für seine konvertierten Kalmücken im Astrachaner Gouvernement eine Stadt zu bekommen. Zu des Zaren Lebzeiten wurde die Idee nicht mehr umgesetzt. Für Peter I. war primär wichtig, dass die religiöse Konversion mit einem umfassenden Identitätswechsel (einschließlich der Annahme eines russischen Namens) einherzugehen hatte. Die Bekämpfung der nomadischen Lebensweise an sich, die Einführung der Sesshaftigkeit als eigenständiges politisches Ziel für die nomadisch Umherziehenden und das Erlernen des Ackerbaus als neuer Wirtschaftsform spielten für ihn noch keine Rolle.481

476 Š ovunov , Kalmyki v sostave, bes. 215 – 217. 477 K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 182. – Zur territorialen Disziplinierung siehe Kap. 4.2. 478 Tajši war nach dem Chan der höchste aristokratische Titel der Kalmücken. Er wurde für den Anführer des größten kalmückischen Herrschaftsverbandes (ulus) verwandt, bezeichnete aber auch die Stellung als Chan-­Anwärter oder als Vize-­Chan. Im Russischen wird der Titel meist mit Tajša wiedergegeben. 479 P al ’mov , Etjudy po istorii privolžskich kalmykov,Bd. 3 – 4, 139; ders ., K astrachanskomu periodu žizni V. N. Tatiščeva; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 39. 480 R yčkov , Topografija Orenburgskaja [1762], Bd. 1, 110 [in der Ausg. von 1887: 78]; V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 509; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 181 – 183. 481 Dies zeigt sich im Inhalt der Regelung, nach der neu getaufte Kalmücken künftig nicht mehr in der Nähe des kalmückischen Ajuki-­Chans, sondern im Kiever Gouvernement angesiedelt werden

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Das Projekt Stavropol’ Erst gegen Ende der Regierungszeit von Zarin Anna (1730 – 1740) bahnte sich eine Veränderung in der Einstellung zur Steppe und zu den Steppenvölkern an, die direkt ihre „unstete“ Lebensweise ins Visier nahm. Ausgangspunkt war jedoch auch hier, wie schon im Falle der Ansiedlung getaufter Kalmücken in einer Vorstadt von Čuguev unter Peter I., die Nachhaltigkeit der Missionierung. Dieser glaubte man sich sicher zu sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt waren: wenn zum einen das Alltagsleben inmitten einer (zumindest weitgehend) christlichen Umgebung stattfand und wenn zum anderen die Neugetauften weit genug von den nicht-­ christianisierten Anhängern ihrer jeweiligen ethnischen Gruppe lebten und damit vor deren Heimsuchungen oder Rückholaktionen geschützt waren.482 Das Versprechen, das Peter I. seinem kalmückischen Patenkind Petr Tajšin gegeben hatte, war nicht vergessen. Tajšins kalmückische Witwe, die sich im Beisein ihrer Patin Zarin Anna zur gleichnamigen „Fürstin Anna Tajšina“ hatte taufen lassen, bekniete 1737 die Zarin, aus Furcht vor Heimsuchungen durch die nicht-­ christlich verbliebenen Kalmücken den Plan der Stadtgründung endlich in die Tat umzusetzen. Ihr war das Recht zugesprochen worden, Oberhaupt aller bekehrten Mitglieder ihrer Sippe zu sein. Jetzt wollte sie sich mit ‚ihren‘ Kalmücken und mit mehreren getauften zajsani 483 in ausreichender Entfernung von ihren angestammten Weideplätzen im Saratover Gouvernement niederlassen.484 Die Zarenregierung nahm die Petition zum Anlass, ihre Politik fortzuentwickeln.485 Aufbauend auf dem Ansiedlungsmodell von Kalmücken in Čuguev genügte es ihr jetzt nicht länger, darüber zu wachen, dass die Kalmücken ihren neu angenommenen christlichen Glauben bewahrten und vor den anderen Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe ‚geschützt‘ wurden.486 Anders als in Čuguev ging es jetzt auch nicht um die Stärkung russländischer Verteidigungsposten durch eine sollten: Es geht allein um die Frage des Ortes der Ansiedlung. Die Ansiedlung als ­solche, das Ziel der Sesshaftigkeit, wird gar nicht thematisiert. PSRZI Bd. 5, Nr. 3062 (14. 1. 1717), 485 – 486. 482 Vgl. Kap. 4.3. 483 Zajsani war ein kalmückischer Adelstitel niederen Ranges, zumeist der Titel eines Sippenanführers. Er wurde auf Russisch mit Zajsangi wiedergegeben. 484 PSZRI, Bd. 10, Nr. 7228 (18. 4. 1737), 126 – 128; V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 510. 485 Allerdings hatte bereits der kalmückische Chan Donduk-­Ombo zuvor wiederholt Druck auf die Zarenregierung ausgeübt, getaufte Kalmücken in weit entfernten Gegenden unter „Russländern“ oder bei seinem konvertierten Cousin Petr Tajšin unterzubringen, um missionarische Tätigkeiten zu unterbinden. Očerki istorii Kalmyckoj ASSR, 204; B elikov , Učastie Kalmykov, 24. 486 Auch bei der 1736 erfolgten Ansiedlung baschkirischer Neukonvertierter in der Festung von ­Nagajbak im Ufa-­Gouvernement war es den Behörden angesichts der baschkirischen Aufstände in erster Linie darum gegangen, die Konvertierten beobachten und Fluchtversuche zu den

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Integration der Kalmücken in den Kosakendienst. Vielmehr sollte der bei den Bewohnern von Čuguev eingetretene Nebeneffekt, dass die unter Peter I. dort zwangsangesiedelten Kalmücken schlicht zum Überleben gezwungen waren, Ackerbau zu erlernen und sesshaft zu werden, jetzt zum Hauptanliegen werden.487 Diesen ambitionierten Vorschlag unterbreitete kein anderer als Ivan Kirillovič Kirilov, Berater von Zarin Anna und Leiter der ‚Orenburger Expedition‘. ­Kirilov war schon wenige Jahre zuvor als Visionär aufgefallen, als er der Zarin eine der bemerkenswertesten Empfehlungen für eine russländische imperiale Strategie im Süden des Reiches vorgelegt hatte.488 Die Zarin ließ sich bereits damals für die Pläne Kirilovs begeistern und erteilte dem glühenden Anhänger Peters I. und Autoren der ersten geographischen Übersicht des Russländischen Reiches 1734 den Auftrag, aus den imperialen Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Auch jetzt folgte sie seinem Rat und beauftragte ihn persönlich damit, für die getaufte kalmückische Fürstin Anna Tajšina und ihr Gefolge Höfe, eine kleine Festung, ­Kirchen und Schulen zu bauen mit dem Ziel, diese „an Ackerbau und das häusliche Leben zu gewöhnen“ (obyknut’ k pašne i k domovnomu žit’ju). Während dieser Zeit, in der die Fürstin und ihr Gefolge sich an die neue Lebensweise gewöhnten und, so die Anweisung, zur Wahrung der Interessen der Regierung gut zu behandeln s­ eien, sollten die anderen Kalmücken vorerst weiter nomadisieren dürfen.489 Damit wurde in zweifacher Hinsicht Neuland betreten. Zum einen benannte die russländische Regierung neben der Wahrung des Glaubens erstmalig das Ziel, die nomadischen Untertanen in die Sesshaftigkeit zu überführen. Zum anderen wurde die Frage beantwortet, wie sich die Transformation der Lebensweise der einfachen Kalmücken vollziehen sollte: Wenn einmal die feste Ansiedlung der Fürstin mit ihrem Gefolge und das Erlernen des Ackerbaus geglückt waren, dann, so die Hoffnung der russländischen Regierung, werde das Beispiel der Elite Anziehungskraft auf die breite Bevölkerung der Kalmücken entfalten. Das bloße Vorbild sollte ausreichen. Damit hatte die russländische Seite eine Art Modell für die Transformation der Lebensweise ihrer nomadischen Untertanen entwickelt, ein Modell, auf das in leicht abgewandelter Form das ganze Jahrhundert über zurückgegriffen werden sollte, um Sesshaftigkeitsoffensiven zu starten. Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe besser unterbinden zu können. V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 439; K hodarkovsky , The Conversion of Non-­Christians, 131. 487 R yčkov , O sposobach k umnoženïju zemledelija, 10; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 204. – Dass die erzwungene Sesshaftwerdung der kalmückischen Čuguev-­Kosaken für die Pläne der Gründung von Stavropol’ von 1737 als Vorlage diente, zeigen die Ausführungen von Oberst Andrej Zmeev, abgedruckt in P opov , V. N. Tatiščev i ego vremja, 623. 488 Vgl. Kap. 4.2. 489 PSZRI Bd. 10, Nr. 7335 (26. 7. 1737), 226 – 228.

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In einem ersten Anlauf scheiterte der Ansiedlungsversuch Kirilovs auf ganzer Linie. Als die Pläne zur Übersiedlung publik wurden, flohen die meisten Kalmücken, die im Zuge der Taufe ihrer Herrin gegen ihren Willen gleich mitgetauft worden waren, aus dem Gefolge der Fürstin Anna zurück in die ulus 490 und damit zurück zu den ungetauften Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe.491 Kirilov selbst hatte keinen großen Optimismus gehegt, dass die Ansiedlung sogleich gelingen werde: „Ackerbau wird man wohl erst von den Enkeln oder Urenkeln dieser Kalmücken erwarten können.“ 492 Mit dem Tod Ivan Kirilovs und der Berufung von Vasilij Tatiščev als neuem Leiter der ‚Orenburger Kommission‘ wurde das Projekt im Sommer 1737 jedoch mit großem Schwung fortgesetzt. ‚Orenburger Kommission‘ war jetzt die offizielle Bezeichnung des zuvor ‚Expedition‘ genannten Amtes, das wenig ­später in der Gründung des Orenburger Gouvernements mit dem Amt eines Gouverneurs aufgehen sollte. Mit Tatiščev war ein russländischer Historiker, Geograph und Staatsmann nach Orenburg berufen worden, der kaum mehr Kenntnisse und Eignung für einen Einsatz in der Region hätte mitbringen können. Ähnlich wie schon Kirilov von der Frühaufklärung inspiriert strebte er in seinen wissenschaftlichen Arbeiten eine systematische Auflistung und Beschreibung sämtlicher „Steppen und Wüsten“ des Reiches an, suchte ihre Örtlichkeiten und physischen Eigenschaften zu definieren, interessierte sich für die Herkunft der Bezeichnungen von Nomadenvölkern, ihre ­Sitten und Gebräuche, für ihre Herrscher sowie für die Grenzen ihrer Lebensräume.493 Im Gegensatz zu vielen seiner wissenschaftlichen Kollegen, die sich mit dem Sammeln von Informationen begnügten, hatte Tatiščev auch politische Ambitionen.494 Ihm erschien zwar der Zustand der Ungetauftheit der Nomaden als ein Problem, mehr noch aber ihre Ungebildetheit und ihr beständiges Umherziehen.495 490 Ulus bezeichnete bei den Kalmücken die umfassendste gesellschaftliche Einheit. Diese Einheiten waren polyclanische, territoriale Formationen mit einem Tajši oder einem Chan an der Spitze. S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 286, 292. 491 Das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten verbot dem Astrachaner Gouverneur eine Verfolgung der Geflohenen. In der Zentrale befürchtete man, andernfalls die gerade dringlich benötigte Unterstützung des kalmückischen Chans Donduk Ombo im Feldzug gegen die Tataren hinter dem Kuban zu verlieren. Die Gouvernementskanzlei wurde lediglich damit beauftragt herauszufinden, wo sich die Entflohenen versteckten. T oropicyn , Pereselenie kreščenych kalmykov v Stavropol’,110; B lanc , Un disciple de Pierre le Grand, Bd. 1, 396; V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 504 – 512. 492 Das Zitat findet sich bei Vitevskij, allerdings ohne Beleg. V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 510. 493 S verdlov , Vasilij Nikitič Tatiščev; K uz ’min , Tatiščev; G rau , Der Wirtschaftsorganisator, Staatsmann und Wissenschaftler; P opov , V. N. Tatiščev i ego vremja. 494 J ucht , Gosudarstvennaja dejatel’nost’ V. N. Tatiščeva. 495 Grundlegend zu Tatiščevs Ansichten: T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733]. In: Izbrannye proizvedenija, 87.

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Schon 1733 hatte er mit Blick auf die Chanty und Man’si, die im hohen Norden des Reiches lebten, Kritik an einer Christianisierung geübt, w ­ elche nicht die Lebensweise der Getauften verändere. Statt einer nominellen Taufe müsse es (im Zusammenhang mit der Einrichtung russischer Schulen) darum gehen, die Einheimischen „rasch zum [inhaltlich getragenen] Christentum“, zum „wohlgeordneten Leben“ (privesti v blagočestivoe žitie) zu bringen und sie das häusliche Leben zu lehren (k domovomu žitiju priučit’).496 Ganz im Sinne der schon für die petrinische Ära herausgearbeiteten Zivilisierungspolitik verband Tatiščev mit Christianisierung eine tiefergehende Umgestaltung des Lebens der Einheimischen. Im Unterschied zu Peter I. aber hatte für Tatiščev die Taufe nicht nur mit schulischer Bildung, sondern explizit auch mit Sesshaftigkeit einherzugehen. Vor d­ iesem Hintergrund machte er sich selbst auf die Suche nach einem geeigneten Ansiedlungsort für die rund 2400 verbliebenen getauften Kalmücken im Gefolge der Fürstin Anna Tajšina. An der Grenze ­zwischen der Steppe und der Waldsteppe oberhalb der Stadt Samara an der Wolga wurde er fündig. Er wies an, der neu zu errichtenden Siedlung den sprechenden Namen Stavropol’, griechisch „Stadt des Kreuzes“ zu geben (heute bekannt als Tol’jatti).497 Zusammen mit Oberst Andrej Ivanovič Zmeev, der in Stavropol’ als Kommandant eingesetzt wurde, und Generalmajor Leontej Jakovlevič Sojmonov gelang es Tatiščev, das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten davon zu überzeugen, das kalmückische Projekt in Stavropol’ mit großen staatlichen Ausgaben zu unterstützen.498 Das Ministerkabinett gab 1740 die Mittel frei, um Schulunterricht für kalmückische Kinder in russischer Sprache anzubieten sowie vier K ­ irchen und bis zu einhundert Holzhütten für Kirchenbedienstete auf Staatskosten zu bauen. Soweit entsprachen die Maßnahmen noch dem üblichen Schema, nach dem die Missionierung in den 1740er Jahren an vielen Orten des Reiches vorangetrieben wurde. Beim Stavropol’er Projekt kamen jedoch drei neue Aspekte hinzu: Zum ­Ersten ließen Tatiščev und Zmeev bereits im Voraus für neu getaufte Kalmücken Holzhütten errichten. Damit hoffte man, die Kalmücken in die Sesshaftigkeit zu

496 T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733], in: Izbrannye proizvedenija, 104. 497 PSZRI Bd. 10, Nr. 7800 (14. 5. 1739), 773; Bd. 11, Nr. 8393 (6. 7. 1741), 434 – 436; T oropicyn , Pereselenie kreščennych kalmykov, 108, 111. – Ursprünglich soll Tatiščev dem Ort den Namen Prosveščenie (zu ­diesem Zeitpunkt noch: „Erleuchtung“, „Bildung“; s­ päter: „Aufklärung“) gegeben haben wollen. K uz ’min , Tatiščev, 266; P opov , V. N. Tatiščev i ego vremja, 262, 622; V ­ itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 516. 498 Die erste, an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten gerichtete Beschlussvorlage von Vasilij Tatiščev und Leontej Sojmonov auf der Basis von Andrej Zmeevs Überlegungen ist abgedruckt in P opov , Tatiščev i ego vremja, 620 – 629 (Predstavlenija polkovnika Zmeeva i postanovlenija Tatiščeva i Sojmonova vom 18. 12. 1737).

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locken.499 Zum Zweiten sollten speziell Soldaten mit einer bäuerlichen Herkunft ausgesucht und befristet dazu abgeordnet werden, den Kalmücken beim Erlernen von Techniken des Ackerbaus und der Getreidewirtschaft zu helfen.500 Zum Dritten sollten nach Ablauf dieser ersten Phase die Soldaten wieder abgezogen und durch andere, dauerhaft geeignetere ‚russische Zivilisationsträger‘ abgelöst werden. Tatsächlich gelang es Tatiščev und Zmeev, die Zustimmung des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten dafür zu gewinnen, dass eine Gruppe russischer Bauern und raznočincy nach den Soldaten als dauerhaft geeignetere ‚Zivilisationsträger‘ unter den Kalmücken anzusiedeln s­ eien.501 Für die getauften Kalmücken, bislang noch „wilde, nicht umgängliche Menschen“ (ljudi dikie neobyklye), die „russische Umgangsformen noch überhaupt nicht“ verstünden (ešče i Russkago obchoždenija soveršenno ne razumejut), so Zmeev, könne von den Bauern und raznočincy großer Nutzen ausgehen: Wenn diese in Häusern in den Vororten mitten unter den Kalmücken ansiedelten und die Kalmücken mitten z­ wischen ihnen sind und sie beobachteten, dann werden sie [die Kalmücken] sich außerordentlich gerne der Heumahd, des Ackerbaus und der Errichtung eigener Häuser annehmen.

Und dann könne man sie sogar noch dahin bringen, dass die Kalmücken bei Russen einheirateten und Russen Kalmücken zur Frau nähmen und auf diese Weise sie [die Kalmücken] sich mit der Russländischen Nation v­ ermengten (i tem mešat’ ich s Rossijskoju nacieju).502

499 PSZRI Bd. 11, Nr. 8394 (6. 6. 1740), 436 – 438. 500 PSZRI Bd. 10, Nr. 7733 (15. 1. 1739), 702 – 704; Utverždennoe kabinet-­ministrami soobščenie (…). In: SIRIO Bd. 124, Nr. 73 (7. 12. 1738), II, 464 – 467. 501 Raznočincy (wörtlich: „Leute verschiedener Stände“) war im 18. Jh. eine gesetzlich wenig klar definierte Bezeichnung einer heterogen zusammengesetzten Bevölkerungsgruppe, die sich seit der petrinischen Zeit neben den anerkannten sozialen Kategorien Adel, Kirchenleute, Stadtleute (Kleinbürger) und Bauern formierte. Als nichtadlige Bildungsschicht rekrutierten sich die raznočincy im 18. Jh. vorwiegend aus Söhnen von entlassenen Soldaten und Kanzleibediensteten. B ecker , Raznochintsy. – In der ersten Beschlussvorlage gegenüber dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten vom Dezember 1737 plädierten Tatiščev und Sojmonov auf der Grundlage von Zmeevs Überlegungen noch für die Ansiedlung von Kaufleuten aus Kazaner Gouvernements­ städten. Wenn sich keine Freiwillige fänden, dann ­seien bis zu fünfzig Kaufmannsfamilien abzuordnen; allerdings sollten die Kaufleute die Auswahl selbst vornehmen. Predstavlenija polkovnika Zmeeva i postanovlenija Tatiščeva i Sojmonova vom 18. 12. 1737. In: Popov, Tatiščev i ego vremja, 620 – 629, hier 629. 502 PSZRI Bd. 11, Nr. 8393 (6. 6. 1741), 434 – 436, Zitat 435.

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Zmeevs Überlegungen gehören wohl zu den ersten Belegen, mit denen russländische imperiale Akteure in zarischen Diensten dezidiert das Ziel formulierten, mehr als die bloße ‚Zivilisierung‘ der Nomaden in Form der Überführung in die Sesshaftigkeit anzustreben.503 Bereits 1713 hatte Fedor Saltykov, ein enger Vertrauter Peters I., dem Zaren vorgeschlagen, die ‚Zivilisierung‘ der Fremdländer (inozemcy) mit ihrer Russifizierung zu verknüpfen.504 Auch der Kaufmann und Gewerbetreibende Ivan Posoškov plädierte 1719 nicht nur für eine Christianisierung und Unterrichtung der autochthonen Bevölkerung des Zarenreiches in russischer Sprache, sondern trat auch für ein Verbot indigener Muttersprachen ein, damit „sie alle Russisch werden“.505 Doch weder Saltykov noch Posoškov können im engeren Sinne als ‚imperiale‘ Akteure bezeichnet werden, waren sie doch weder strategisch noch operativ am Imperiumsaufbau oder seiner Aufrechterhaltung beteiligt.506 Damit kommen Zmeevs Überlegungen besonderes Gewicht zu. Bei ihm bildeten Haus- und Ackerbau nurmehr den ersten Schritt. Der zweite Schritt bestand in der Vermischung von Russen und Indigenen mit mindestens dem Ziel der Akkulturation, der Heranführung, wenn nicht gar der Assimilation, dem Aufgehen in der „russländischen Nation“.507 Immer wieder ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, dass die Idee der Zivilisierung noch keineswegs beinhaltet, dass die indigene Bevölkerung sich an die neuen ‚Herren‘ auch akkulturieren oder assimilieren müsse.508 Im Gegenteil, in vielen Kolonialreichen betrieben die Kolonialherren zwar eine ‚Zivilisierungspolitik‘, lehnten aber eine Annäherung an die koloniale Metropole oder gar ein 503 Der Historiker Vladimir N. Vitevskij schreibt, dass auch Artemij P. Volynskij, der von Peter I. eingesetzte Gouverneur von Astrachan, nicht nur die Christianisierung der Kalmücken, sondern auch ihre Assimilierung an die russländische Bevölkerung angestrebt habe. Vitevskij liefert dafür allerdings keinen Beleg. Zudem bleibt offen, ob nach Volynskijs Vorstellung die angestammte Bevölkerung neben der allgemeinen Rolle, als Vorbild zu dienen, auch zur Assimilierung beitragen sollte. V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 504. 504 [S altykov ], Propozicij Fedora Saltykova [1713], 27. Ausführlicher zu Saltykovs Vorschlägen und Begrifflichkeiten in Kap. 4.1 sowie in der Schlussbetrachtung. – Für die Zeit vor dem 18. Jahrhundert gibt es hingegen keine Belege für die Verwendung des Begriffes obruset’. So fehlt der Terminus im Slovar’ russkogo jazyka XI‒XVII vv., Bd. 12. 505 [P osoškov ], Zaveščanie otečeskoe, bes. 326. 506 Fedor Saltykov stand zwar im Unterschied zu Ivan Posoškov in zarischen Diensten, war jedoch mit dem Kauf von Schiffen in England für die russländische Marine betraut. R amer , Saltykov, Fedor Stepanovich. 507 Vitevskij schreibt auch Tatiščev eine ähnliche Äußerung zu, gibt allerdings keinen Beleg dafür an. Demnach soll Tatiščev sein Plädoyer für die Errichtung von Schulen für die kalmückischen Kinder unter anderem damit begründet haben, dass „die Kenntnis der russischen Sprache den Kalmücken viel dabei hilft, sich untereinander die russische Nationalität (k usvoeniju russkoj nacional’nosti) […] anzueignen“. V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 518. 508 O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission; H ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren, 163 – 164.

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Aufgehen in der Bevölkerung der Kolonialherren ab. Dies traf bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts für die spanische Kolonialpolitik in Südamerika wie auch für jene Englands in Indien und Nordamerika zu. Die Franzosen schwankten hingegen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts z­ wischen einer Politik der „Französisierung“ (francisation) und jener der Segregation.509 Im russländischen Kontinentalreich, wo indigene ethnische Gruppen schon seit den Anfängen imperialer Expansion nach demselben Untertanenschaftskonzept aufgenommen worden waren wie die Fürstentümer beim ‚Sammeln der Kiever Rus’‘, wo sich darüber hinaus im 18. Jahrhundert das Konzept von Staatsvolk und Nation erst während der entscheidenden Phase des Imperiumsausbaus herausbildete, galt das Bestreben als selbstverständlich, die nicht-­christlichen Ethnien nach ihrer Taufe auch zu integrieren, zu akkulturieren und nach Kräften zu assimilieren.510 Damit ging einher, dass es für die russländischen Akteure im 18. Jahrhundert außerhalb des Denk- und Sagbaren lag, z­ wischen sich als ‚Zivilisierern‘ und den ‚zu Zivilisierenden‘ bewusst eine Distanz aufrechterhalten zu wollen, wie es innerhalb des Russländischen Reiches wohl nur im späten 19. Jahrhundert partiell gefordert wurde, so unter ‚Zivilisationsträgern‘ im Gouvernement Turkestan.511 Mit Blick auf die Frage, ob es im russländischen 18. Jahrhundert eine Differenz ­zwischen einer Selbst- und einer Fremdzivilisierungspolitik gegeben habe, ist die von Zmeev und Tatiščev getroffene Wahl der Zivilisationsträger aufschlussreich. Nicht nur Vertretern der russländischen Administration oder des Militärs sollte die Aufgabe übertragen werden, dafür zu sorgen, dass die Nomaden ihren Lebensstil änderten. Auch „russische Bauern und raznočincy“ sollten durch ihre gezielte Ansiedlung unter den Kalmücken zur Mitarbeit an der ‚Zivilisierung‘ verpflichtet werden. Ganz offensichtlich kam Zmeev und Tatiščev sowie dem Obersten Kabinett, das ihre Vorschläge im Juni 1741 absegnete, gar nicht erst die Vorstellung in den Sinn, dass die raznočincy oder die russischen Bauern möglicherweise selbst zu grob, schmutzig oder ungebildet sein könnten.512 Allein ihre Lebensform der 509 B elmessous , Assimilation and Racialism; T ricoire , Der koloniale Traum. 510 Vgl. Kap. 2. – Allerdings war Tatiščev die Bildung der ethnischen Gruppen weitaus wichtiger als ihre Akkulturation oder Assimilation. Vor allem die schulische Bildung sollte seiner Auffassung nach nicht etwa auf Russisch, sondern mit Büchern erfolgen, die in der Sprache der jeweiligen Völkerschaften verfasst waren. T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733], in: Izbrannye proizvedenija, 70 – 79. 511 Allerdings ging selbst im russländischen Turkestan des ausgehenden 19. Jahrhunderts der russländische Diskurs zur zivilisatorischen Differenz nie in eine Politik über, die bewusst eine Distanz z­ wischen ‚Zivilisierern‘ und ‚zu Zivilisierenden‘ aufrechtzuerhalten suchte. Zur kolonialen Ambivalenz von Annäherung und Abstoßung im russländischen Diskurs in Turkestan H ­ ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren, 295 – 300. 512 Der Beschluss des Kabinetts zur Bestätigung der Vorlage des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten in PSZRI Bd. 11 Nr. 8393 (6. 6. 1741), 436. – Zur Frage, inwieweit russische Bauern

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­ esshaftigkeit, ihre Kenntnisse im Ackerbau sowie ihre Zugehörigkeit zur Russisch-­ S Orthodoxen K ­ irche reichten aus, um sie als Zivilisationsträger gegenüber den ,zu Zivilisierenden‘ als geeignet anzusehen.513 Immens war zudem das Vertrauen, dass die „wilden“, „nicht umgänglichen“, zwangsumgesiedelten Kalmücken in der Lage waren, ‚zivilisierte‘ Russen zu werden, und dass sie dies auch selbst wollten. Der Glaube an die überragende Kraft des von Russen vorgelebten Vorbilds ließ daran keinen Zweifel aufkommen. Freilich mochte man die zu ‚Zivilisierenden‘ auch nicht überfordern. Den Wunsch der kalmückischen Fürstin Anna Taišina, ihr bereits russländische Dörfer und damit russische Bauern zu übertragen, auf dass sie selbst und ihr Gefolge sich bei ihnen die bäuerliche Arbeit anschauen und für sich wie für andere Kalmücken die häusliche Ordnung von ihnen erlernen könnten, wies das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten zurück. Nomaden s­ eien an den Besitz von Dörfern nicht gewohnt, und es könne für die russischen Bauern von Beschwer sein, wenn die Fürstin mit dieser Aufgabe noch nicht zurechtkäme.514

Erfolg, Ernüchterung und strategische Vielfalt Das Projekt startete verheißungsvoll. Die Bevölkerung von Stavropol’ wuchs nominell von anfangs etwas über zweitausend Konvertierten zu fast achttausend Kalmücken 25 Jahre s­ päter. In den 1760er Jahren zwangen Behörden Kalmücken sogar, sich statt in Stavropol’ in Orenburg niederzulassen, weil Letzteres als zu überfüllt eingeschätzt wurde.515 Stavropol’ wurde zum Synonym der Hoffnung für das Experiment, religiöse und sozioökonomische Konversion zu verbinden.516 So wurden neben Kalmücken auch „neu getaufte Asiaten“, die aus kasachischer

würdige Zivilisationsträger sein könnten, wenn auch nur mit Blick auf das 19. Jh. S underland , The ,Colonization Question‘; R emnev /S uvorova , ,Russkoe delo’ na aziatskich okrajnach. 513 Dieser Glaube zarischer Dienstleute an die Fähigkeit der russischen Bauern, als Kulturträger unter den Nomadenvölkern zu wirken (und zudem eine allmähliche Verschmelzung herbeizuführen), findet sich unverändert auch im 19. Jahrhundert. M artin , Law and Custom in the Steppe, 42 – 43. 514 Allerdings hing die Haltung auch mit der Furcht des Kollegs zusammen, dass zur Landwirtschaft ggf. nur die Bauern der geschenkten Dörfer eingesetzt werden könnten und die Kalmücken selbst den Ackerbau dann gar nicht erlernten. SIRIO Bd. 124, 464 – 467 (7. 12. 1738); PSZRI Bd. 11, Nr. 8393 (6. 6. 1741), 434 – 436, hier 436. 515 PSZRI Bd.  12, Nr.  9110 (15. 2. 1745), 308 – 328; Nr.  9444 (28. 9. 1747), 758 – 764; Bd.  17, Nr. 12.317 (20. 1. 1765), 13 – 15; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 209. 516 Michael Khodarkovsky übersieht das großangelegte Experiment Stavropol’, wenn er meint, erst in den 1830er Jahren habe das Zarenreich die religiöse Ansiedlung Indigener mit der Intention kombiniert, nicht nur zu konvertieren, sondern auch zu ‚erziehen‘ und zu ‚zivilisieren‘. ­K hodarkovsky , Between Europe and Asia, 25.

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Sklavenhaltung entflohen waren, in Stavropol’ mit der Hoffnung angesiedelt, dass aus ihnen christliche Ackerbauern würden.517 Auf Initiative des neuen Orenburger Gouverneurs Ivan Nepljuev stimmte der Senat 1744 der Einführung von gemeinschaftlich bearbeiteten Anbauflächen nach dem Vorbild der Uraler Kosakentruppen zu. Kern der Neuerung war es, allen Familien Saatgut zuzuteilen, während die Ernte unter den Angehörigen einer ulus aufgeteilt werden sollte.518 Doch bald stellten sich auch Zweifel ein, ob die angestrebte Veränderung der Lebensweise auf Staatskosten breitenwirksam eintrat. Tatsächlich ließen sich in den ersten fünf Jahrzehnten nur wenige Getreue um Anna Tajšina auf den Ackerbau ein. Der erhoffte Sog zur Transformation der Lebensweise blieb bei dem Großteil der Umgesiedelten aus. Die meisten Stavropol’er Kalmücken blieben nur dem Namen nach getauft und hielten an ihren lamaistischen Anschauungen fest. Zudem zogen sie es vor, weiterhin mit ihren Viehherden umherzuziehen, anstatt das ihnen überlassene Land zu pflügen.519 Mehr noch, die Fluchtversuche der zwangsangesiedelten Stavropol’er Kalmücken nahmen in den 1750er Jahren derart zu, dass sich die Regierung gezwungen sah, immer ausgefeiltere Tricks einzusetzen und immer drakonischere Maßnahmen zur Abschreckung zu ergreifen.520 Der Orenburger Gouverneur Avram Putjatin drang 1768 bei der Regierung darauf, die Seite der ‚Zivilisationsträger‘ zu verstärken und russische Bauern, ausgesonderte Soldaten sowie jetzt sogar auch getaufte Mordvinen anzusiedeln, damit sie den Nomaden die Techniken des Ackerbaus beibringen und diese in der Anfangszeit auch mit Getreide und Brot versorgen könnten.521 Allein, die ‚zu Zivilisierenden‘ sahen die Notwendigkeit ihrer ‚Zivilisierung‘ durch Sesshaftigkeit und Ackerbau nicht ein. Aufmerksame Beobachter konnten auch dreißig Jahre s­ päter noch keine Zunahme des Ackerbaus erkennen.522 Und selbst zur Jahrhundertwende ließ sich nur ein Teil der Stavropol’er Kalmücken auf eine gemischte Wirtschaftsform ein und bemühte sich neben der traditionellen Viehwirtschaft um Heumahd und ein wenig Landwirtschaft. Die Veränderungen vollzogen sich so schleichend, dass sich im Jahr 1836, also ein Jahrhundert nach

517 O vyrabotke kanceljariej opekunstva inostrannych sovmestno s orenburgskim gubernatorom Volkovym položenija (…). In: Senatskij archiv, St. Petersburg 1910, Bd. 14, 93; PSZRI Bd. 16, Nr. 11861 (1763), 297 – 299; K hodarkovsky , Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism, 417, 422, 425 – 426; S underland , Taming the Wild Field, 74. 518 V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 566 – 567; Š ovunov , Kalmyki v sostave, 205; Š ovunov , K voprosu o zemel’noj politike, 36. 519 P allas , Reise durch verschiedene Provinzen des Russischen Reichs [1771 – 1776], Bd. 1, 114 – 115; K hodarkovksy , Where Two Worlds Met, 209. 520 V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 611 – 612. 521 Š ovunov , Kalmyki v sostave, 205. 522 R yčkov , O sposobach k umnoženïju zemledelija v Orenburgskoj gubernïi, 5.

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Gründung von Stavropol’ und der Offensive zur Sesshaftwerdung, gerade etwas über die Hälfte der dort lebenden Sippen der Kalmücken überwiegend mit Landwirtschaft befassten. Mehr als 30 Prozent der Familien hielten unverändert an der Viehwirtschaft fest.523 Die Eindrücke von Nikolaj Aleksandrovič Nefed’ev, der 1817 die Stavropol’er Kalmücken an der Wolga aufsuchte, fielen aus der Perspektive russländischer ‚Zivilisierer‘ noch weit ernüchternder aus: Diese Kalmücken unterscheiden sich in nichts von jenen, die im Astrachaner Gouvernement leben; sie führen genauso ein Nomadenleben und treiben Viehwirtschaft, während es scheint, dass sie über Getreidewirtschaft niemals auch nur nachgedacht haben oder nachdenken, da sie die ihnen gewährten Ländereien, Wiesen, Wälder und Gewässer russischen Bauern der nächsten Ansiedlungen zur Pacht gegeben haben, was ihnen die Möglichkeit verschafft, glückliche Verpächter zu sein (byt’ ščastlivymi arendatorami).524

Das Bestreben der russländischen Regierung, mit dem Stavropol’er Projekt ein Exempel zu statuieren, rückte mithin in weite Ferne; und mit ihm auch das Ziel, die Kalmücken mit der „russländischen Nation zu vermischen“.525 Dennoch wagte der Astrachaner Gouverneur Nikita Afanas’evič Beketov 1764 die Frage zu stellen, ob nicht versucht werden solle, alle Kalmücken seines Gouvernements in die Sesshaftigkeit zu überführen.526 Anlass dafür war die Anfrage des Kalmückenfürsten Zam’jan-­Tajši, der sich seinem persönlichen Widersacher, dem kalmückischen Donduk-­Daši-­Chan, zu entziehen suchte und dafür auch um die Erlaubnis bat, sich niederlassen zu dürfen. Doch ­dieses Mal winkte das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten ab. Zamjan-­Tajši, der nach dem Stavropol’er Vorbild auch für sich den Bau einer Ansiedlung, erhöhte

523 Š ovunov , Kalmyki v sostave, 205 – 206. 524 Nefed’ev, Podrobnye svedenija o volžskich kalmykach [1834], 56; Šovunov, Kalmyki v sostave, 5. 525 Eine umfassendere Überführung der Kalmücken in die Sesshaftigkeit und in den Ackerbau gelang der Zarenadministration erst ab Mitte des 19. Jh. U stjugov /K ičikov , Izmenenija v chozjajstvennom i social’nom stroe kalmykov, 232 – 233, 246 – 247. – Erfolgreicher zur Akkulturation trug hingegen bei, dass die Stavropol’er Kalmücken Ende des 18. Jh. zu großen Teilen in den Militärdienst eingezogen wurden, dem sogenannten Kanton. Das Kanton wurde 1803 nach dem Modell der Orenburger Kosakentruppen zum Stavropol’er Kalmückischen Regiment umgebildet, der auch in den Kämpfen gegen die napoleonischen Truppen 1812 zum Einsatz kam. 1842 wurde das Regiment aufgelöst und die Stavropol’er Kalmücken z­ wischen den Orenburger und Uraler Kosakentruppen aufgeteilt. S tarikov , Kratkij istoričeskij očerk Orenburgskogo kazač’ego vojska, 99 – 101; U stjugov /K ičikov , Izmenenija v chozjajstvennom i social’nom stroe kalmykov, 226 – 257, 229; D žesjupov , Stavropol’skij kalmyckij polk; ders ., Učastie Stavropol’skogo kalmyckogo polka; R achimov , Na službe u „Belogo carja“. 526 Š ovunov , Kalmyki v sostave, 210; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 225.

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Abb. 23: Aufbau eines Kalmückenlagers mit Filzhütten, Pferden, Kamelen und Gepäck nahe der Flussmündung. Links ein Grabdenkmal von 1772 für einen kalmückischen Lama. Kupferplatte, angefertigt 1768 – 1769 oder 1772 – 1773 von D. R. Nitschmann

Jahreszahlungen und den Schutz der Behörden wünschte, erlaubte man zwar, sich unter 250 Kosaken am Westufer der Wolga nördlich von Astrachan anzusiedeln. Man finanzierte seinen Hausbau, sorgte für Heuvorräte, zahlte ihm ein hohes Jahresgehalt und hoffte mit diesen Maßnahmen, ihn und sein kalmückisches Gefolge die ‚Zivilisiertheit‘ zu lehren (priobučit’ kalmyk k vjaščej ljudkosti).527 Zugleich aber wandte sich das Kolleg gegen die Idee, das ganze „kalmückische Volk“ sesshaft werden zu lassen. Eine Ansiedlung im großen Stil sei nicht im Interesse des Reiches. Auch wenn die Kalmücken von Natur aus „barbarisch“ und der Plünderei und dem Diebstahl ergeben s­ eien, so dienten sie doch der Absicherung der russländischen frontier. Aufgrund ihres beständigen Umherziehens wüssten feindliche Überfallkommandos nicht über deren genauen Aufenthaltsorte Bescheid und scheuten vor Einfällen zurück. Zum anderen würde eine vollständige Sesshaftmachung der Kalmücken die Steppen leeren. Damit könnten die Kasachen von jenseits des Jaik hin zur 527 Allerdings zog sich die Planung hin, so dass Zamjan-­Tajši sich erst 1770 in einem für ihn gebauten Haus niederlassen konnte. PSZRI Bd. 16, Nr. 12.198 (5. 7. 1764), 827 – 832, hier 829 – 832; P al ’mov , Etjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 5, 31 – 32; K hodarkovsky , Russian ­Peasant and Kalmyk Nomad, 59. – Zu Katharinas Hoffnung, mittels der Maßnahmen Zam’jan und sein Gefolge zu zivilisieren (priobučit’ kalmyk k ljudkosti’): Proekt Reskripta k Astrachanskomu Gubernatoru (30. 7. 1770). In: SIRIO Bd. 97 (1896), 113 – 123, hier 123.

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Wolga drängen, was sie schon lange wollten.528 Eine ­solche Bewegung aber sei gefährlich, weil die Kasachen eine Allianz mit ihren muslimischen Glaubensbrüdern im Kuban und auf der Krim bilden könnten. Schließlich komme es dem Russländischen Reich zugute, jederzeit mobile Truppen zu haben, die rasch in Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich zum Einsatz kommen könnten.529 Es ist unklar, ob das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten mit dieser Position einen Kurswechsel vollziehen wollte, nachdem eine gewisse Desillusionierung über die Anpassungsfähigkeit und den Anpassungswillen der Kalmücken in Stavropol’ eingetreten war, oder ob eine Ansiedlung sämtlicher Kalmücken auch schon in den 1730er Jahren nicht erwünscht worden war. So oder so enthalten die Gedanken für die Zeit nach Mitte des 18. Jahrhunderts überraschende Elemente. Gleich drei positive Attribute wurden dem (kalmückischen) Nomadenleben abgewonnen: Just die Unberechenbarkeit des Umherziehens der Nomaden (mit der Folge, den Feind abzuschrecken), die bloße Bevölkerung der Steppe (um ein Vakuum zu verhindern, in das unliebsame andere ethnische Gruppen eindringen könnten) und die hohe Mobilität, die das Nomadenleben mit sich bringt (zur raschen Mobilmachung für russländische Feldzüge), wurden als Vorteile für die eigene Sache gedeutet. Damit macht die Positionierung des Kollegs deutlich, dass die Nomaden selbst Mitte des 18. Jahrhunderts nicht ausschließlich negativ bewertet wurden. Im Gegenteil beweist diese Argumentation zu einer Zeit, in der das Superioritätsgefühl gegenüber den Nicht-­Sesshaften innerhalb der russländischen Elite immer mehr um sich griff, den Pragmatismus der Regierung. Einer Politik der ‚Zivilisierung‘ sollte nicht grundsätzlich der Vorrang vor allen anderen Überlegungen eingeräumt werden.530 Allerdings konnte sich diese Sicht, Kalmücken (zumindest teilweise) noch als Nomaden zu benötigen, weil sie dem Reich mehr Nutzen erbrachten als 528 Bis zum Pugačev-­Aufstand (1772 – 1775) hieß der Fluss Jaik. Danach benannte ihn Katharina II. in Ural um, in der Absicht, jegliche Erinnerung an die Jaiker Kosaken auszulöschen, die an dem Aufstand beteiligt waren. 529 PSZRI Bd. 16, Nr. 12.198 (5. 7. 1764), 827 – 829; K hodarkovsky , Russian Peasant and Kalmyk Nomad, 59; P opov /U stjugov /B elikov , Kalmyckoe chanstvo v XVIII v., 199. 530 Die gegenüber den Kalmücken noch relativ pragmatisch betriebene Politik der Sesshaftmachung konnte nicht dazu beitragen, sie als loyale Untertanen des Reiches zu gewinnen. Im Gegenteil, die Verarmung der kalmückischen Sippen, die zunehmende Verringerung von Weideflächen durch die Festungslinien und fortschreitende Kolonisation sowie ihre wachsende Beanspruchung, verpflichtend an russländischen Feldzügen teilzuhaben, ließen in ihnen den Entschluss zum Exodus reifen. Der Versuch fast des gesamten Volkes, zu den Dsungaren in die Qing-­Dynastie zu fliehen, endete tragisch. Nur wenige erreichten ihr Ziel. Zum langen tödlichen Marsch der Kalmücken D ordžieva , Ischod kalmykov v Kitaj v 1771g; K olesnik , Poslednee velikoe kočev’e; Očerki istorii Kalmyckoj ASSR, Bd. 1, 216; Dnevnye zapiski putešestvija kapitana Nikolaja Ryčkova [1772], 55; P erdue , China Marches West, 295; H ummel (Hg.), Eminent Chinese of the Ch’ing Period (1644 – 1912), Bd. 2, 659 – 661; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 229 – 235.

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wenn sie sesshaft würden, Mitte des 18. Jahrhunderts nicht grundsätzlich als Kurs gegenüber Nomaden durchsetzen. Vielmehr griff der Zivilisierungsdiskurs, den Staatsmänner wie Kirilov und Tatiščev in den dreißiger Jahren angestoßen hatten, innerhalb der russländischen Elite wie ein Lauffeuer um sich.531 Die Konvertierung zum Christentum galt es durch Ansiedlung unumkehrbar zu machen, das häusliche Leben und der Ackerbau mit Hilfe von Russen und Russländern fest zu verankern. Das Experiment mit den Kalmücken machte Schule. Das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten plädierte 1750 auch mit Blick auf getaufte Kabardiner und Kumyken im Nordkaukasus dafür, sie „in russländischen Behausungen zusammen mit Russländern anzusiedeln“ (selit’ v rossijskich žiliščach i obšče s rossijanami), „damit sie sich mit der Zeit an den Ackerbau gewöhnen“ könnten.532 Besonders entlang der „Kaukasischen Festungslinie“, die ­zwischen Kizljar und Mozdok dem Verlauf der Flüsse Terek und Sunža folgte, sollte die Gründung zahlloser Kosakendörfer (stanicy) dazu dienen, Osseten und Kabardiner die Ansiedlung und den Ackerbau zu lehren.533 Obwohl das Land gerade der Osseten für Landwirtschaft außerordentlich geeignet sei und wegen der häufigen Regenfälle keine Brände das Wachsen des Korns behindere, verbleibe das Bergvolk, so der Astrachaner Gouverneur Petr Nikitič Krečetnikov, „in äußerster Ungebildetheit“ und verlasse sich „in seiner nackten Armut“ neben der Viehwirtschaft bloß auf Räubereien. Die Umsiedlung von Osseten und Kabardinern in Häuser mit richtiger Befestigung nahe den Kosakendörfern und Garnisonen russländischer Soldaten werde die „Ungebildeten“ zu einem guten Zusammenleben verleiten. Auf diese Weise, so Krečetnikov in explizitem Bezug auf das Experiment 531 Im Zuge der Arbeiten der Gesetzgebenden Kommission in der katharinäischen Ära verfassten zwar der Baron Ungern-­Sternberg gemeinsam mit einigen anderen Autoren ein Gesetzesprojekt, mit dem die Nomaden auf Augenhöhe betrachtet und mit dengleichen Rechten versehen werden sollten wie Ackerbauern. Doch die Initiative blieb die einer Minderheit und versandete. Proekt prav tret’jago roda gosudarstvennych žitelej v redakcii prinjatoj kommissieju o gosudarstvennych rodach. In: SIRIO Bd. 36, St. Petersburg 1882, 275 – 276, 285; Bykov, Istoki modernizacii Kazachstana, 41. 532 PSZRI Nr.  125 (13. 8. 1750), 168 – 169; Ukaz Kollegii inostrannych del orenburgskomu gubernatoru I. I. Nepljuevu o vozmožnosti pereselenija v Orenburgskuju guberniju krestivišichsja kabardincev (…). In: KabRO Bd. 2, Nr. 125 (13. 8. 1750), 168 – 169; L e D onne , Ruling Russia, 294 – 297; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 218. – Noch viele Jahre ­später sollte das Stavropol’er Modell auch für getaufte Osseten und Kabardiner in der Region um Kizljar ­herhalten. Vsepoddannejšij doklad Senata imperatrice Ekaterine II ob otvedenii uročišča Mozdok dlja poselenija krestivšichsja kabardincev (…). In: KabRO Bd. 2, Nr. 164 (9. 10. 1762), 218 – 219; PSZRI Bd. 22, Nr. 16194, 388 – 392; P al ’mov , Etjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 5, 6; K ­ hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 218. 533 Kokiev, Metody kolonial’noj politiki, 112/113; Gnilovskoj, Azovo-­Mozdokskaja oboronitel’naja linija.

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von Stavropol’ an der Wolga, „verschwinden ihre ­Sitten, Gebräuche und ihre Sprache und sie werden auf nicht spürbare Weise leicht zu richtigen Untertanen (suščestvitel’nye poddannye)“.534

Die Säkularisierung der Sesshaftigkeitsoffensive Während hier Christentum und Sesshaftwerdung (mit Hilfe russländischer ‚Kulturträger‘) noch in enger Symbiose gesehen wurden, die religiöse Konvertierung gleichsam als Vorstufe für die Mission in der Lebensweise fungierte, löste sich in den späten 1750er Jahren die Offensive zur Sesshaftwerdung aus der religiösen Umklammerung.535 Entscheidend war hierfür der Kurswechsel der Zarin Elisabeth, die aus Gründen der inneren Sicherheit und imperialen Stabilität 1755 ihre Missionierungspolitik abänderte und andere Glaubensrichtungen zunehmend akzeptierte.536 Nichtgetauften wurden Rückstände in ihren Mehrzahlungen, die ihnen nach der Konvertierung von Mitgliedern ihrer Dorfgemeinde aufgebürdet worden waren, erlassen. Die Regierung hob 1756 die Regel auf, wonach die Pflicht, Rekru­ ten zu stellen, in gemischten Dorfgemeinden allein den Nicht-­Christen aufgebürdet worden war. Bestimmungen zur Umsiedlung von Nicht-­Christen ließ sie stark abmildern.537 Damit wurde für Regierungsvertreter im Zentrum des Reichs wie an der Peripherie eine Politik möglich, die auch ohne die Vorstufe der Konvertierung auskam, um die als zurückgeblieben wahrgenommene Lebens- und Wirtschaftsweise der nomadischen Viehzucht zu überwinden. Das Nomadentum rückte als primär zu beseitigendes Übel in den Vordergrund. An die Stelle von „Willkür und Regellosigkeit“ nomadischen Lebens, wo jeder weide, wo er wolle, und Ungebundenheit als das größte Gut angesehen werde, müssten Gehorsam und die Überführung von „Wildheit“ (dikost’) in „Zivilisiertheit“ (ljudskost’) treten. Zudem sei einzufordern, dass „die Völker“ staatlichen Nutzen erbrächten. So lauteten bereits 1759 die Überlegungen des Generalmajors 534 Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 312 – 317, hier 312, 315. 535 Die einzige Region, in der Konversion auch nach 1755 noch eine große Bedeutung für die Politik der Sesshaftwerdung beibehielt, war der Nordkaukasus. Hier wurden Christentum und Zivilisation bis zum Ende des 18. Jh. als voneinander untrennbar angesehen. K hodarkovsky , Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism, 394 – 430. 536 K appeler , Rußlands erste Nationalitäten, 284 – 285; G lazik , Die Islammission der Russisch-­ Orthodoxen K ­ irche, 89 – 91. 537 PSZRI Bd. 14, Nr. 10.597, 607 – 612; Bd. 14, Nr. 10.666, 693 f.; Bd. 16, Nr. 12.126, 704 – 707; Bd. 19, Nr. 13.490, 101 – 105; M ožarovskij , Izloženie choda missionerskago dela , 92; M alov , O novokreščenskoj kontore, 144 – 148.

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Aleksej Tevkelev und des Kollegienrats Petr Ryčkov.538 Das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten hatte die beiden um eine Stellungnahme zu der Frage gebeten, ob es nicht sinnvoll wäre, Viehställe auf der Außenseite der Orenburger Festungslinie nahe von russländischen Redouten zu errichten. Auf diese Weise könne das Vieh des kasachischen Chans der Kleinen Horde und das seiner Brüder im Winter besser untergebracht werden.539 Die Befragten waren bereits eng mit der Lebensweise der Steppennomaden vertraut. Tevkelev, der als Muslim mit dem Namen Kutlu-­Muchammed noch unter Peter I. als Übersetzer im Kolleg für auswärtige Angelegenheiten zu arbeiten begonnen hatte, war es trotz widriger Bedingungen gelungen, die Kleine Horde der Kasachen in die russländische Untertanenschaft zu überführen. Nach der Aufnahme der Kasachen, seiner eigenen Beförderung und Konversion zum Christentum blieb Tevkelev in der Region, um die ‚Bezähmung‘ von Kasachen wie Baschkiren über zwei Jahrzehnte intensiv zu begleiten. Nach der Abberufung des langgedienten Orenburger Gouverneurs Ivan Nepljuevs und vor der Berufung des Nachfolgers Afanasij Davydov leitete Tevkelev 1759 zusammen mit Petr Ryčkov kommissarisch selbst das Orenburger Gouvernement. Ryčkov war in jungen Jahren als Übersetzer und Buchhalter in dem von Ivan Kirilov geleiteten Zollamt von St. Petersburg durch seine Kompetenzen aufgefallen und s­ päter von Vasilij Tatiščev als großes Talent für die Wissenschaft entdeckt und gefördert worden.540 Als Historiker, Geograph und Ökonom veröffentlichte er wichtige Abhandlungen über die Orenburger Region. Wie Kirilov und Tatiščev beließ er es jedoch nicht bei wissenschaftlicher Arbeit, sondern nahm an der von Kirilov geleiteten ‚Orenburger Expedition‘ von 1734 bis 1737 teil und blieb fortan als politischer Berater eng der Gouvernementsverwaltung verbunden.541 Vor d­ iesem Hintergrund konnte es nicht verwundern, dass Tevkelev und Ryčkov die kleine Anfrage des Kollegs von 1759 zum Anlass nahmen, der Zentrale gleich ein Grundsatzpapier für den Umgang mit den Nomaden zu unterbreiten. Allgemein 538 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier bes. 575. 539 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 167. 540 Žizn i dejatel’nost P. I. Ryčkova; S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija (komissija); M atvievskij / E fremov , Petr I. Rychkov (1712 – 1777). 541 Unter ‚Expedition‘ verstand die russländische Administration im 18. Jh. Aufträge, die meist sowohl wissenschaftlicher als auch politischer Natur waren und von der Beschreibung von Flora, Fauna und Menschen über die Beanspruchung neuer Ländereien bis hin zur Kartographierung neuer Häfen und Handelsplätze sowie dahin reichen konnte, russländische Kolonisation zu organisieren. Ausführlicher zu diversen ‚Expeditionen‘ in Kap. 4.2. – Zu Ryčkovs Studien und Publikationen neben der genannten Literatur K učumov /S mirnov , Pervyj Trud po istorii Baškortostana; T rutnev , P. I. Ryčkov. – Zu seinen bedeutendesten Arbeiten gehörte R yčkov , Topografija Orenburgskaja [1762].

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 24: Petr I. Ryčkov, Historiker, Ökonom, Geograph und Vizegouverneur von Orenburg

ging es ihnen um eine „Überführung“ der Kasachen der Kleinen und Mittleren Horde in einen „besseren Zustand“, der untrennbar mit mehr Sesshaftigkeit verknüpft sein sollte. Sie griffen den bereits Anfang der 1740er Jahre vom damaligen Orenburger Gouverneur Nepljuev diskutierten Vorschlag auf, dem aktuellen kasachischen Chan der kleinen Horde, Nurali, ein Haus mit Schutzmauer sowie Unterkünfte für seine Bedienstete zu bauen. Zudem sei ihm eine Wachtruppe zur Seite zu stellen. Damit könne man mehrere Ziele gleichzeitig erreichen: Die Autorität des Chans und damit sein Durchsetzungsvermögen innerhalb der Horde würden gestärkt, die Kasachen lernten am Beispiel der Heulagerung, die man in der Festung des Chans einführen werde, wie die Heuwirtschaft im allgemeinen funktioniere. Und „das Volk“ könne durch all diese Faktoren an „Zivilisiertheit“ (ljudskost’) und an seine Untertanenpflichten herangeführt werden. Zudem riefen Tevkelev und Ryčkov in Erinnerung, dass das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten bereits 1749 in einem Erlass gefordert hatte, die Kasachen an das „hiesige“ Essen zu gewöhnen. Dies betreffe vor allem das Brotessen. Um bei allen Kasachen ein starkes Bedürfnis danach zu verankern, sei es nützlich, wenn Getreide in kasachisches Gebiet zollfrei ausgeführt werden könne.542 Die beiden Regierungsberater griffen mit ihren Überlegungen auf genau das Modell zurück, das man zuvor für die Kalmücken in Stavropol’ konzipiert hatte: In 542 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, bes. 576, 578, 585.

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einem ersten Schritt galt es, mit Nurali-­Chan den Anführer der Kleinen Horde an die russländischen Lebensgewohnheiten zu gewöhnen. Im Anschluss wurde erwartet, dass von der veränderten Lebensweise der Anführer eine Strahlkraft auf die ganze Horde ausgehen werde. Allerdings wurde mit keinem Wort darauf eingegangen, dass die Erfolge dieser Strategie in Stavropol’ mit Blick auf eine veränderte Lebensweise auch noch zwei Jahrzehnte ­später auf sich warten ließen. Es ist auch unklar, inwieweit Tevkelev und Ryčkov mit der Entwicklung des ­Stavropol’er Projekts vertraut waren. Neu war in jedem Fall der Plan, zusätzlichen Antrieb für eine Veränderung der Lebensweise dadurch zu erzielen, dass man die Ernährung der Nomaden umzustellen und damit Abhängigkeiten vom Ackerbau zu kreieren versuchte. Doch statt den Ernährungsvorschlag aufzugreifen, rückte die Zentrale ins Zentrum der Diskussion die Idee, dass ein von russländischer Seite für den Chan fest errichtetes Winterlager mit Bewachung die Würde und Autorität des Chans unter den Angehörigen seiner ethnischen Gruppe erheblich steigern werde und damit russländische Anliegen über den Chan besser durchgesetzt werden könnten.543 Als allerdings Nurali-­Chan kurze Zeit s­ päter in einen über fast zehn Jahre andauernden Streit mit der Zarenadministration eintrat, an welcher Stelle nun genau sein Haus mit Schutzmauern errichtet werden solle, trat auch diese Vision in den Hintergrund.544 Erfolgreicher verliefen demgegenüber die Bemühungen der Zarenregierung, die kasachische Elite der Mittleren Horde davon zu überzeugen, zumindest saisonal sesshaft zu werden und den Ackerbau einzuführen. Nur wenige Monate, nachdem Tevkelev und Ryčkov ihr Memorandum zur allgemeinen ‚Bezähmung‘ der Kasachen vorgelegt hatten, schickte das Militärkolleg den Oberbefehlshaber der russländischen Truppen entlang der sibirischen Linie, Generalmajor Ivan Fëdorovič Vejmarn, zum Sultan Ablaj von der Mittleren Horde der Kasachen. Vejmarn sollte ausloten, ob auch Sultan Ablaj und andere kasachische Würdenträger dafür zu gewinnen s­ eien, sich während der Wintermonate in Häusern niederzulassen und so als Vorbild auf die gesamte Mittlere Horde einzuwirken. Die kasachische Seite reagierte aufgeschlossen. Das Militärkolleg drängte zum raschen Handeln, bevor sich der Sultan die Dinge noch anders überlege. Der Fall Ablaj biete die Chance herauszufinden, inwieweit es möglich sei, die Kasachen allgemein die Sesshaftigkeit zu lehren. Vejmarn erhielt die Anweisung, Sultan Ablaj umgehend Zimmermänner sowie ein oder zwei Ingenieure zuzusenden, die den genauen Ort zur Errichtung des Winterhauses zu bestimmen hätten. Dabei solle 543 Diese politisch-­taktischen Gründe spielten zumindest für Vizekanzler A. M. Golicyn die wichtigste Rolle. A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 167. 544 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 169 – 170.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 25: Reiterdenkmal von 2000 für Ablaj/Abylaj-­Chan auf dem Bahnhofsvorplatz in Almaty, Kasachstan. Bildhauer: K. K. Satybaldin, Leitender Architekt: S. K. Bajmagambetov. Foto von D. V. Vasil’ev

jedoch „überaus verschwiegen“ vorgegangen werden, um keine Ängste in der kasachischen Bevölkerung zu wecken und damit dem ganzen Plan zu schaden.545 Hauptaugenmerk sei darauf zu legen, Sultan Ablaj zu ermöglichen, dass er sich nicht nur saisonal, sondern auch ganzjährig in seinen Wohnhäusern niederlassen könne. Dafür s­ eien Einrichtungen für das Kleinvieh und überdachte Ställe für die besten Pferde zu bauen. Außerdem sollten keine Backöfen nach russischer Bauart, sondern tatarenübliche Feuerstellen (mit Mantel und Rauchloch) eingerichtet werden. Ablajs Niederlassung solle den Eindruck einer reichen Ansiedlung vermitteln, mit welcher sich der Sultan brüsten könne. Ruhm- und Ehrsucht sei bei den wohlhabenden Viehbesitzern der Steppe üblich, daher ­seien die Wohnhäuser Ablajs auch mit einem kleinen Erdwall und einem Graben zu versehen.546 Trotz der vom Militärkolleg angemahnten Eile zogen sich die Verhandlungen über die Details der Niederlassung in die Länge. Erst 1765 sollten die Bauten zum Abschluss kommen.547 Mittlerweile hatten die Vorstellungen, wie die Kasachen 545 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 171. 546 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 171. 547 Iz pis’ma komandujuščego sibirskimi linijami general-­majora fon Veijmarna sultanu Ablaju na ego pros’bu o prisylke plotnikov dlja postrojki žilogo doma. In: KRO Bd. 1, Nr. 242 (8. 9. 1761), 626 – 627; A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 172.

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zur Sesshaftigkeit gebracht werden sollten, neue Impulse erfahren. Wie schon im Falle der ortserfahrenen Zarenberater Ryčkov und Tevkelev, die sich 1759 mit ihrem Grundsatzpapier zu Wort gemeldet hatten, gingen sie erneut nicht von der Zen­trale, sondern von dem bereits erwähnten, an der imperialen Peripherie wirkenden Generalmajor Vejmarn aus.

Die Strategie der Entkräftung In den drei Jahren als Oberbefehlshaber der russländischen Truppen entlang der sibirischen Linie hatte sich Vejmarn mit den Problemen, die das Aufeinanderprallen der siedelnden, Ackerbau betreibenden russisch-­orthodoxen Bauern mit den umherziehenden, von Viehzucht lebenden Kasachen mit sich bringen, gut vertraut gemacht. Zugleich stand er als Abkömmling einer im 17. Jahrhundert aus Deutschland ins Baltikum eingewanderten Familie in der Tradition einer mit Westeuropa eng verbundenen Bildungselite.548 Wie auch Tevkelev und Ryčkov vor ihm zählte Vejmarn zu jener gebildeten und polyglotten russländischen Führungsriege, die vom Standpunkt der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit zutiefst überzeugt war. Deutlicher als je zuvor verlieh er der Wahrnehmung einer zivilisatorischen Differenz z­ wischen „den Russländern“ und „den Kasachen“ in seiner auf Russisch und Deutsch erschienenen Schrift Ausdruck: „Leichtsinnig, dem Raube, Streifereyen, auch wilden und viehischen Lebens-­Art“ s­ eien die Kasachen verfallen. Sie wiesen „schädliche Neigungen und Gewohnheiten“ auf, s­ eien ein „leichtsinnig in den Wüsteneyen herumschwärmendes Volk“. In ihrer „gewöhnlichen räuberischen Weise, zu plündern und die bewohnten Gegenden zu verheeren“ zeigten sie ihre „ungesittete“, „viehische Erziehung“, ihre „heillose Neigungen“, die „möglichster maaßen aus dem Grunde zu vertilgen“ s­ eien.549

548 Ivan Ivanovič Vejmarn, auf Deutsch Hans Heinrich v. Weymarn‘, wurde 1718 auf der (heute estnischen, 1710 von den Schweden an das Zarenreich übergegangenen) Insel Ösel/Saremaa geboren, im St. Petersburger Landkadettenkorps ausgebildet und machte als Mann des Militärs und der Administration eine glänzende Karriere im russländischen Staatsdienst. Er starb 1793 auf seinem livländischen Gut. Ėnciklopedičeskij slovar’, Bd. 10, 718; A mburger , Geschichte der Behördenorganisation, 306, 406. 549 Vejmarn legte die Schrift der „Geheimen Kommission des sibirischen Gouverneurs“ vor. Diese leitete sie an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg weiter. Der Text findet sich gekürzt in Predstavlenie sekretnoj komissii pri sibirskom gubernatore Kollegii in. del o ­proekte general-­majora fon Vejmarna o merach po usileniju vlijanija carizma v Kazachstane. In: KRO Bd. 1, Nr. 246 (2. 11. 1761), 630 – 632. – Der deutsche Text trägt den Originaltitel „Reflexionen zu den Kasachen mit dem Ziel der Bezähmung, damit es von ihnen nichts mehr zu befürchten gebe und sie unterwürfig gemacht werden“ und wurde in voller Länge von Beate Eschment herausgegeben. E schment , Wider die leichtsinnigen, 140 – 146.

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Weit mehr noch als bei Tevkelev und Ryčkov spiegelten sich in Vejmarns Memorandum die in Westeuropa mittlerweile gängigen negativen Bilder des Nomaden als destruktiv, moralisch minderwertig und zurückgeblieben. Das Nomadentum, die Viehhaltung und ihre extensive Landnutzung wurden gar nicht mehr als Wirtschaftsweise betrachtet, sondern mit ziellosem Umherirren und Landstreichertum konnotiert. Der entscheidende Unterschied zu dem bisherigen Nomadendiskurs im Russländischen Reich verbarg sich allerdings in Wendungen wie „heillose Neigungen“ und „Gebräuche und Gewohnheiten vertilgen“. Vejmarn teilte als Erster nicht länger das Vertrauen in die vollständige Erziehbarkeit der Nomaden. Vielmehr sei „für eine vollkommene Verbeßerung der S ­ itten und Gebräuche unter ihnen wenige oder fast gar keine Hoffnung vorhanden“, ihre vollständige Zivilisierung mit den herkömmlichen Methoden nicht möglich. Aus dieser Einsicht leite sich die gebotene Änderung der Strategie ab: Zwar sollten die Anführer der Horden weiterhin durch Vorzeigebauten für die Sesshaftigkeit eingenommen werden, um dann mittelbar in ihre Stämme hineinzuwirken. Doch entscheidend sei es, diese Taktik mit der „Entkräftung“ der Nomaden zusammenzudenken, damit, dass man „ihre innere Schwächung hervorbringe“. Dann erst könne man sich ihrer bemächtigen und sie an „ein besseres und ruhigeres Leben gewöhnen“.550 Damit ging Vejmarn über die bislang miteinander ringenden Strategien zur ‚Lösung‘ des Kasachen-‚Problems‘ hinaus: Während beim ‚weichen‘ Kurs der Schwerpunkt auf Förderung, Freiwilligkeit und Anreizmethoden zur Veränderung lag, setzte der ‚harte‘ Kurs, der bislang vor allem von Vertretern des Militärs vorgebracht worden war, auf gewaltsame Mittel, wie die Vertreibung der Kasachen von den russländischen Festungslinien in die Tiefen der Steppen. Vejmarn trat mit der Idee, die Kasachen „zu verweichlichen“, für eine dritte Position ein. Schon der frühere Orenburger Gouverneur Nepljuev hatte sich mit dem Hinweis auf die Risiken gegen eine rein militärische ‚Lösung‘ gewandt und stattdessen darauf gedrungen, Zuckerbrot und Peitsche miteinander zu kombinieren. Als ‚Peitsche‘ dienten Nepljuev militärische ‚Strafexpeditionen‘ in kasachische Zeltlager, die er als adäquate Antwort auf kasachische Räubereien betrachtete.551 Zudem hatte man schon seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts mit dem beispiellosen Bau von Festungslinien quer durch die Weidegebiete der Nomadenvölker bewusst in Kauf genommen, sie durch Raumentzug immer stärker ihrer wirtschaftlichen Grundlage zu berauben. Mit Vejmarns Vorschlag zur Umgestaltung der kasachischen (und baschkirischen) Lebensweise verband sich nun eine Politik, die auf Freiwilligkeit, Anreize 550 E schment , Wider die leichtsinnigen, 144; Predstavlenie sekretnoj komissii, in: KRO Bd. 1, Nr. 246, 630. 551 Vgl. Kap. 4.2.

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Abb. 26: Pferdefang bei den Kasachen. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert

und Förderung setzte, mit dem Ziel, die Kasachen durch die mittel- und langfristige Schwächung ihrer Wirtschaftskraft in die Armut zu treiben und dadurch gefügig zu machen. Die geeignete Methode zur Schwächung, so Vejmarn, solle darin bestehen, „auf unmerkliche Weise“ ihren Vieh- und Pferdebestand zu verringern. Dies beides mache nämlich ihren Reichtum und ihre Zufriedenheit aus. Je weniger sie von beidem hätten, „desto weniger darff man auch von ihnen einige ausgelaßene Verwegenheit noch Beunruhigung befürchten“.552 Der Weg zu ­diesem Ziel der Schwächung führe darüber, die Tiere so „weichlich zu machen“ und so zu „verzärteln“, dass Vieh und Pferde, nachdem sie von klein auf in Ställen gehalten und mit fertigem Futter versorgt wurden, derart entwöhnt und davon abgebracht sein würden, sich auf althergebrachte Weise das Futter selbst zu suchen, dass sie bei saisonal fortgesetzter nomadischer Lebensweise umkämen. Daher müssten für zumindest die „vornehmsten Befehlshaber oder Ältesten“ Wohnhäuser und für ihr Vieh Ställe oder Scheunen erbaut und dabei auch sie selbst ans Bauen gewöhnt werden. „Ihre übrigen Mitt-­Brüder“ sollten sich ermuntert sehen, den Beispielen zu folgen und sie nachzuahmen. Je mehr sie sich mit dem Bauen

552 Predstavlenie sekretnoj komissii, in: KRO Bd. 1, Nr. 246, 630.

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befassten, desto mehr würden sie zudem von Raubzügen Abstand nehmen. Dabei helfe auch die Verweichlichung der Menschen selbst. Solange die Nomaden nämlich noch an ihrer alten Lebensweise festhielten, ­seien sie von einer Härte, daß ihnen weder Regen, noch Wind, noch Strenge und unerträgliche Fröster, oder starke Schnee-­Gestöber, so wenig beschwerlich fallen, daß sie, um ihre räuberische ­Streifereyen zu vollziehen, eben dergleichen unbequeme und der Menschlichkeit unerträgliche und überaus unangenehme Witterungen, dazu ausersehen.

Diese Stärke, die Vejmarn als Gefahr für die russländische Seite sah, sei nur dadurch zu brechen, dass man die Nomaden in die Bequemlichkeit führe.553 Zum einen schimmert an dieser Stelle Staunen über die Fähigkeiten der Nicht-­Sesshaften durch, ein Vorbote des späteren Diskurses vom ‚edlen Wilden‘, wenn auch hier versehen mit einem negativem Vorzeichen.554 Zum anderen wurde „Bequemlichkeit“ bei Vejmarn noch nicht als dekadentes Laster von Zivilisation, sondern vielmehr als hilfreicher und für die Transformation der Indigenen anzustrebender Zustand betrachtet. Vejmarns Memorandum war großer Erfolg beschieden. Für viele Jahre sollte es die weitere Politik gegenüber den nomadisch lebenden ethnischen Gruppen des Südens, allen voran gegenüber der Kleinen und Mittleren Horde der Kasachen, bestimmen. Es darf wohl als eines der wichtigsten Strategiepapiere des 18. Jahrhunderts zur ‚Zivilisierung‘ der Steppennomaden an der russländischen Südflanke bezeichnet werden.555 Dabei hatten die Mitglieder der Geheimen Kommission des sibirischen Gouverneurs, an die Vejmarn seine Schrift gerichtet hatte, zunächst erhebliche Kritik an dessen Plan geäußert. So bezweifelten sie, dass andere Kasachen dem Beispiel ihrer Ältesten nacheifern würden. Zudem beweise sich bereits jetzt, dass verarmte Kasachen, die kein Vieh oder keine Pferde mehr hätten, anstatt 553 Paradoxerweise sollte in späteren Diskursen analog zu Edward Gibbon genau die Bequemlichkeit und Verweichlichung der ‚Zivilisierten‘ gegeißelt und eine Rückkehr zur Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit der ‚edlen Wilden‘ propagiert werden. G ibbon , The History of the Decline and Fall, Bd. 3, 522. 554 Zum Aufkommen des Bildes vom ‚edlen Wilden‘ im Russländischen Reich S underland , Taming the Wild Field, 63 – 64. 555 Während der Folgejahre wurde sowohl vom Kolleg für auswärtige Angelegenheiten als auch von Gouverneuren vor Ort immer wieder auf Vejmarns Darlegungen zurückgegriffen. Siehe z. B. Ukaz Kollegii in. del general-­majoru fon Frauendorfu v sjazi s pros’bami sultana Ablaja o razrešenii kazacham Srednego žuza peregonjat’ skot dlja vypasa na vnutrennjuju storonu r. Irtyša. In: KRO Bd. 1, Nr. 257 (9. 2. 1764), 659 – 663; Reskript Kollegii in. del orenburgskomu gubernatoru knjazju Putjatinu po povodu žalob chana Nurali i sultana Ajčuvaka na dejstvija voinskich komand. In: KRO Bd. 1, Nr. 267 (17. 11. 1766), 682 – 684.

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zu ruhigerem Leben überzugehen, nur noch mehr räuberten als vorher.556 Da aber ohnehin das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten über diese Frage zu entscheiden habe und d ­ ieses „am meisten und am vollkommensten Kenntnis über die Umstände sowohl der hiesigen Grenzangelegenheiten hat als auch über den Zustand der Kasachen“, werde man das Memorandum dorthin weiterleiten. Ganz offensichtlich erhoffte sich die Kommission ein Abschmettern der ­Vejmarn’schen Strategie durch Lobhudelei gegenüber dem Kolleg. Denn dass man ausgerechnet dort die größten Kenntnisse haben sollte, kann angesichts der bisherigen einflussreichen Strategiepapiere, die vor allem aus der Feder von staatlichen Akteuren mit Erfahrungen an der imperialen Peripherie stammten (man denke nur an Kirilov, Tatiščev, Ryčkov und Tevkelev), bloß verwundern. Entgegen den Hoffnungen der Kommission des sibirischen Gouverneurs folgte das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten und anschließend der Regierende Senat dem Vejmarn’schen Strategievorschlag auf ganzer Linie.557 Im März 1762 und damit noch ein Vierteljahr vor Thronantritt von Katharina II., mit deren Namen diese Politik s­ päter stets verbunden wurde, nahm das Kolleg den Vorschlag an und wies – ganz im Duktus des Memorandums – noch an demselben Tag den sibirischen Generalgouverneur Fëdor Ivanovič Sojmonov an, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Kasachen auf verborgene Weise in eine Vieh- und Pferdearmut zu treiben.558 Die Preise für das Vieh ­seien an den Märkten niedrig zu halten, das Vieh in großen Mengen zu Dumpingpreisen (po brocovym cenam) abzukaufen, gestohlenes Vieh, das sich jetzt in den Händen von Völkern befinde, die Untertanen des Zarenreiches ­seien, sei den Kasachen nicht zurückzugeben. Schließlich s­ eien den Kosaken „militärische Strafexpeditionen“ (voinskie poiski) in die kasachische Steppe zu erlauben, um sich für Viehdiebstähle zu rächen, die Kasachen entlang der Linie begangen hätten.559 Häuser für Sultane und Älteste sollten unweit der sibirischen Linie errichtet werden, Heu sei ihnen zunächst kostenlos und s­ päter gegen geringe Bezahlung 556 Predstavlenie sekretnoj komissii, in: KRO Bd. 1, Nr. 246, 631. 557 K raft , Sbornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej, Nr. 253 (21. 3. 1762), 89 – 90; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 52. 558 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 172 – 173; B asin , Politika Rossii, 45. 559 K raft , Sbornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej, Nr. 299 (7. 7. 1766), 109; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 52, 91. – Die ‚Strafexpeditionen‘ (poiski), die seit den Zeiten des Gouverneurs Nepljuevs zum gängigen Repertoire der russländischen Orenburger Administration gehörten, wurden meist an die Jaik-­Kosaken delegiert und trafen in den seltensten Fällen Kasachen, die sich des Diebstahls schuldig gemacht hatten. Vielmehr führten sie zu einer wachsenden Armut jener Kasachen, die schlicht in der Nähe der Linien lebten. Erst der Orenburger Gouverneur Osip Igel’strom brach mit dieser Methode, die den Hass und die Verbitterung der Kasachen der Kleinen Horde gegenüber der russländischen Seite über die Jahre stark hatte anwachsen lassen. Mehr dazu in Kap. 4.2 und 4.5.

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zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise gelte es, Sultan Ablaj und die Kasachen der Mittleren Horde so stark wie möglich zur Hauswirtschaft zu drängen und zum Ackerbau zu überführen. Mit der Umsetzung aller Maßnahmen, darunter auch der Entsendung von Sensen und russischen Fachleuten, wurde Vejmarn selbst beauftragt. Er erhielt einen detaillierten Plan, in dem bereits die Lage der Hausbauten genau festgelegt sowie das Geld bestimmt wurde, das für die Geschenke für Sultan Ablaj und andere kasachische Würdenträger vorgesehen war.560 Tatsächlich ließ die Zarenregierung in den nächsten Jahrzehnten auf Staatskosten zahlreiche Häuser, Scheunen und Schuppen für die kasachische Elite und ihr Vieh bauen.561 Auch sorgte sie für die Bereitstellung von Heu und Saatgut, ließ ­Sensen ­schicken und entsandte 1764 gleich zehn russische Fachleute zu ­Sultan Ablaj, um ihn und andere Würdenträger im Ackerbau auszubilden.562 Dieser schickte seinerseits einige Kasachen zum Anlernen der Getreidewirtschaft an russländische Siedlungen entlang der Linie, bat um Nachschub von Pflugeisen, Hacken und Äxten und ließ sich durch russische Jäger das Fangen von Bibern zeigen.563 Auch kostenfreie Mehllieferungen, die Vejmarn Sultan Ablaj mit dem Gedanken zugestanden hatte, ihn zusammen mit zollfreien Getreidelieferungen auf den Weg der Ernährung durch Brot zu führen, gehörten bald zu jenen ‚Geschenken‘, deren Übergabe die Kasachen der Mittleren Horde als jährliche Selbstverständlichkeit von der russländischen Seite erwarteten.564 Vejmarns Nachfolger im Oberbefehl über die russländischen Truppen entlang der sibirischen Linie, Ivan Ivanovič Špringer, bekam jedoch zunehmend Zweifel an dieser Strategie. Zwar behielt er die Praxis vorerst bei, die mit Druck eingeforderten ‚Geschenke‘ weiter auszuteilen, allerdings weit mehr aus Sorge, die Kasachen andernfalls zu enttäuschen und dadurch ihre Loyalität zu verlieren, als aus Überzeugung, dass mit diesen Geschenken irgendeine veränderte Lebensweise angestoßen werde.565 560 B asin , Politika Rossii, 45. 561 Zu ihnen zählten aus der Mittleren Horde neben Sultan Ablaj noch Sultan Soltomamet, Sultan Urus, Batyr Mambet und Batyr Tjulak (Batyr bezeichnete den Anführer einer Sippe). Kraft, S ­ bornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej, Nr. 279 (9. 2. 1764), 103; A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 174 – 177; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 53. 562 Ukaz Kollegii in. del general-­majoru fon Frauendorfu v sjazi s pros’bami sultana Ablaja o r­ azrešenii kazacham Srednego žuza peregonjat’ skot dlja vypasa na vnutrennjuju storonu r. Irtyša. In: KRO Bd. 1, Nr. 257 (9. 2. 1764), 659 – 663. 563 A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 176 – 177. – Die Kasachen, die zum Erlernen des Ackerbaus nach Sibirien kamen, wurden im Status von Geiseln (amanaty) entsandt. Sie kehrten ausgestattet mit landwirtschaftlichen Geräten wieder in die Steppe zurück. Bykov, Istoki modernizacii Kazachstana, 53. – Zur russländischen imperialen Kultur der Geiselhaltung im 18. Jh. Kap. 3.5. 564 B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 53. 565 Raport komandira sibirskich vojsk general-­poručika I. Špringera Kollegii in. del ob otpuske chleba chanam, sultanam i staršinam Srednego žuza. Po sekretu. In: KRO Bd. 1, Nr. 262 (16. 11. 1764),

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Tatsächlich konnte von einer Kehrtwende bei einer nennenswerten Anzahl von Kasachen weg von der nomadischen Viehwirtschaft hin zu Hauswirtschaft und Ackerbau sogar bis Ende des 18. Jahrhunderts nicht die Rede sein: Die Heumahd wuchs nur geringfügig, Sultane und Älteste zogen es vor, das Heu im fertigen Zustand zu erhalten, und baten die Zarenadministration bei jeder Gelegenheit, es ihnen auszugeben, ohne dabei in ihrem eigenen Verlangen einen Anreiz zur Eigenproduktion zu sehen. Vor allem aber ging die Idee der russländischen Seite nicht auf, durch das Vorbild einiger weniger eine Strahlkraft auf viele zu erzeugen. Nach wie vor hielten die meisten der wohlhabenden Viehbesitzer unter den Kasachen sowohl der Kleinen wie der Mittleren Horde ihre Wirtschaftsweise für weitaus vorteilhafter als den mühsamen Ackerbau. Und selbst Sultan Ablaj von der Mittleren Horde war trotz seines Interesses am Ackerbau nicht gewillt, ganzjährig sesshaft zu werden.566 Bedeutung erhält das Vejmarn’sche Strategiepapier daher vor allem ex post. Das in ihm anvisierte Ziel der zunehmenden Verarmung der Kasachen, vor allem jener der Kleinen Horde, die den russländischen Siedlungen am nächsten waren, wurde zwar bis Ende des 18. Jahrhunderts erreicht.567 Die Armut nahm sogar derart zu, dass viele Großfamilien nach dem Verkauf ihres Viehs nur noch durch den Verkauf ihrer Kinder zu überleben wussten.568 Andere versuchten, auf die „innere“ Seite der russländischen Festungslinien zu gelangen und dort tagsüber als Leiharbeiter zu Niedriglöhnen zu arbeiten.569 Doch gelang diese Verarmung vor allem durch den Entzug geeigneten Weidelands infolge des Baus immer neuer Festungslinien, durch den beständigen Zustrom russländischer (und seit der Lockpolitik ­Katharinas  II . auch ausländischer) Siedler und durch die jahrzehntelange

674 – 676. 566 L evšin , Opisanie kirgiz-­kazač’ich, Bd. 3 [1832], 198; A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi, 174. – Einen Überblick über die Topographie derjenigen Kasachen, die sich bis zum ausgehenden 18. Jh. mit dem Ackerbau befassten, vermittelt P rochorov , Istoričeskaja geografija kazachskogo zemledelija; dort auch zu Sultan Ablajs Festhalten am saisonalen Nomadentum. 567 Iz donesenija orenburgskogo gubernatora G. S. Volkonskogo ministru inostrannych del knjazju A. B. Kurakinu o neobchodimosti prinjatija prinuditel’nych mer dlja pereselenija obednevšich kazachov v predely Rossii. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 77 (25. 3. 1808), 238 – 239, hier 239. 568 Soobščenie orenburgskogo voennogo gubernatora v Gos. Koll. In. del po povodu prodaži detej bednych kazachov v rabstvo chivincam. In: KRO Bd. 2, Nr. 89 (20. 9. 1805), 165; Predpisanie orenburgskogo voennogo gubernatora G. Volkonskogo Orenburgskoj pograničnoj komissii v svjazi s prodažej kazachami svoich detej v Chivu. In: KRO Bd. 2, Nr. 91 (23. 7. 1806), 168; Ukaz imp. Aleksandra I ob objazatel’nom osvoboždenii kuplennych ili vymenennych detej kazachov po dostiženiju imi 25-letnego vozrasta. In: KRO Bd. 2, Nr. 96 (23. 5. 1808), 173. 569 Ukaz imp. Aleksandra I orenburgskomu voennomu gub-­ru kn. G. S. Volkonskomu o poselenii obedenevšich kazachov v predely Rossii i o razrešenii russkim poddannym pokupat’ u nich detej. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 78 (23. 5. 1808), 239 – 240.

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Verweigerung, den Kasachen im Winter das fruchtbare Weideland auf der „inneren“ Seite des Ural-­Flusses zur Verfügung zu stellen. Das Vejmarn’sche Memorandum erhält seine Bedeutung daher weniger dadurch, dass sich die darin geäußerten Einschätzungen bewahrheiteten oder sich die gewählten Methoden als erfolgreich herausstellten. Vielmehr kann es zusammen mit jenem Vermerk von Ryčkov und Tevkelev als Beginn eines weit über das 18. Jahrhundert hinweg wirkungsmächtigen Diskurses innerhalb der russländischen Elite angesehen werden, mit dem die Sesshaftmachung der Nomaden ins Zentrum zarischer Politik an seiner südlichen Peripherie rückte. ‚Zivilisierung‘ sollte dabei nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel dienen, um Grenzgebiete zu ‚befrieden‘ und russländische Interessen zu wahren. Den Ausgangspunkt bildete der Diskurs von der zivilisatorischen Differenz. Noch war dieser nicht eingebettet in eine universale Zeitskala der Menschheitsgeschichte, die aus dem Begriff des Fortschritts entwickelt wurde. Vielmehr handelte es sich in den Vorstellungen Vejmarns noch um statische Eigenschaften, die den Nomaden zugeschrieben wurden; eine „Verbeßerung ihrer S ­ itten“ war schwer vorstellbar. Der Gedanke einer dynamischen Menschheitsgeschichte, einer vom Lauf der Geschichte vorgegebenen Entwicklung wurde noch nicht angedacht.

Die Nomaden innerhalb einer universalen Stufentheorie Den Schritt, die Nomaden innerhalb der Menschheitsgeschichte zu verorten, ging erst Dmitrij Vasil’evič Volkov, den Katharina II. 1763 als Orenburger Gouverneur einsetzte. Volkov (1715 – 1785), der im Kolleg für auswärtige Angelegenheiten und als Regierungs- und Privatsekretär unter Zarin Elisabeth und Katharinas Ehemann, Zar Peter III., gedient hatte, sollte nach der Ermordung Peters III. und dem Thronantritt Katharinas II. durch die Versetzung vor allem aus St. Petersburg entfernt werden. Seine Korrespondenz mit der Zarin zeigt zwar, dass Katharina II. seine fachlichen Kompetenzen wertschätzte. Doch belegen andere Briefwechsel der Zarin, dass sie ihm aufgrund seiner früheren Nähe zu ihrem ermordeten Gemahl, Zar Peter III., kein Vertrauen entgegenbrachte.570 Zweifellos aber waren die Zarin und Volkov in ihrer intensiven Rezeption aufklärerischer Gedanken geistige Verwandte, so dass Katharina II. Volkovs Vorschlägen und Anliegen große Aufmerksamkeit schenkte.571

570 Sobstvennoručnyje zapiski imperatricy Ekateriny II., 32, 202; G avrjuškin , Graf Nikita Panin, 49 – 50; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 85. 571 Siehe z. B. den wohlwollend geschriebenen Brief der Zarin an Volkov vom 13. 6. 1763. Pis’mo imp. Ekateriny II D. V.Volkovu o zadačach ego upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 491 (13. 6. 1763), 452 – 453.

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Als vielleicht erster russländischer Staatsmann, der an führender Stelle imperiale Politik betrieb, verband Volkov den Diskurs der zivilisatorischen Differenz mit der Fortschrittsidee.572 Mit der Rezeption dieser im 18. Jahrhundert neu aufkommenden Vorstellung verband sich zugleich die Einführung der Kategorie der ‚Rückständigkeit‘. Sowohl Nomaden als auch Russen/Russländer (gleichgesetzt mit „Sesshafte“) wurden nun auf einer Zivilisationsleiter verortet, die einer Zeitskala entsprach: In den vergangenen Jahrhunderten wanderten auch in d­ iesem Staat die Menschen so wie das Volk der Kirgisen-­Kasachen als Nomaden von Ort zu Ort und genossen dabei auch eine s­ olche Freiheit wie die Kirgisen,

erklärte Volkov gegenüber Nurali-­Chan von der Kleinen Horde der Kasachen. Mit der Zeit wurde es durch weise Herrscher und durch die Vorsehung Gottes allmählich in einen solchen Zustand geführt, dass es jetzt das Glück hat, sich in vollständiger Ruhe zu befinden, oder anders gesagt – der Zustand der hiesigen Menschen war anfangs dem menschlichen Wachstum sehr ähnlich. Wenn zum Beispiel ein Mensch auf die Welt kommt, dann ist er zunächst ein kleines Kind, dann ein Jugendlicher und danach ein vollendeter [Mensch]. So sind auch die russländischen Menschen: Anfangs waren sie wie kleine Kinder, danach wie Jugendliche und auf diese Weise stiegen sie die Stufen hinauf und erreichten als letztes den heutigen Zustand ‒ ein gebührender Gehorsam half dabei besonders.573

Innerhalb ­dieses „durch Gottes Vorsehung“ und „weise Herrscher“ gesteuerten Prozesses lag es nahe, dass diejenigen, die schon ‚vorneweg‘ waren, den ‚Zurückgebliebenen‘ halfen, Stufe um Stufe auf der Zivilisationsleiter emporzusteigen und am Ende ebenfalls die höchste Sprosse zu erklimmen. Auf die zustimmende Äußerung von Nurali-­Chan, wonach die Kasachen derzeit tatsächlich „kleinen Kindern“ ähnlich s­ eien, antwortete Gouverneur Volkov aufmunternd, dass natürlich auch die Kasachen „am Ende den vollendeten Zustand erreichen“ würden. Unmissverständlich verband er dabei diesen zurückzulegenden Weg mit der russländischen Hilfe.574 572 Zum Aufkommen des Fortschrittsgedankens im Russländischen Reich B rang , Fortschrittsglauben in Rußland einst und jetzt; S chmidt , Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in Rußland; L auer , „Progress“ – der russische Fortschritt. – Zum Fortschrittsgedanken allgemein B ödeker , Menschheit, Humanität, Humanismus, 1081. 573 Iz žurnal’noj zapisi besedy chana Nurali i sultana Ajčuvaka s orenburgskim gubernatorom D. Volkovym vo vremja priezda chana v g. Orenburg. In: KRO Bd. 1, Nr. 256 (9. 10. 1763), 652 – 659, hier 653 – 654. 574 Dieser Zusammenhang ergab sich nicht zuletzt dadurch, dass Volkov die Worte sprach, bevor er dem Chan dessen bislang als Geisel gehaltenen Sohn in russländischer Uniform und fließend

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Die Politik, die Nomaden in die Sesshaftigkeit zu überführen, erhielt eine neue Rahmenerzählung: Es ging nicht mehr bloß um eine Dichotomie ­zwischen Wildheit und Sittsamkeit. Stattdessen wurden die Nomaden in einer allgemeinen Zivilisationstheorie verortet, in einen universalhistorischen Rahmen eingefügt, innerhalb dessen sich alle ethnischen Gruppen bewegten – die Russen wie die Kasachen. Neu war damit auch die Beschreibung des Verhältnisses von Russländern und Nomaden. Die Sesshaftigkeitsbemühungen, wie sie Volkov formulierte, sollten sich weder im Ziel noch in den Methoden gegen die Nomaden richten, sondern waren ausdrücklich als Hilfe der Zarenregierung für sie konzipiert, um eine höhere Stufe zu erreichen.575 Im russländischen Kontext beruhte diese Hilfe nicht nur auf aufklärerischen Gedanken, sondern auch auf dem Konzept des Gnade (milost’) gewährenden Herrschers, jener seit Jahrhunderten wirkungsmächtigen Denkfigur der russischen und russländischen Geschichte.576 Sowohl vor dem Hintergrund der Stufentheorie als auch im Geist dieser Gnade war Russen wie Russländern die Aufgabe zugewiesen, aus ihrer Position des ‚Voraus-­Seins‘ den ‚Zurückgebliebenen‘ zur Seite zu stehen. Wie sollte nun eine s­ olche Politik der Gnade in Volkovs Augen aussehen? Genauso wie Vejmarn lehnte auch der Orenburger Gouverneur ein militärisches Vorgehen ab. Dem Ausrauben russländischer Kaufmannskarawanen auf ihrem Weg nach Indien dürfe nicht damit begegnet werden, dass man die Steppenbewohner alle mit der Kriegshand auslösche. In den Zeiten von Dšingiz Chan war es ruhmvoll, blühende Staaten in fürchterliche Wüsten zu verwandeln, aber den Spaniern wird bis heute nicht verziehen, dass sie ihre Herrschaft in Amerika mit dem Blut unschuldiger Einheimischer absicherten,577

so Volkov. Stattdessen ginge es darum, die Kasachen nicht länger bloß nominell als Untertanen zu bezeichnen, sie dafür ein Gehalt beziehen zu lassen und durch russischsprachig zurückgab. Iz žurnal’noj zapisi besedy chana Nurali i sultana Ajčuvaka, in: KRO Bd. 1, Nr. 256, 654. – Vgl. auch Kap. 3.3. 575 Volkov gehörte zu den E ­ rsten, die nicht nur den Fortschrittsgedanken an sich, sondern auch die daraus entwickelte Zivilisationstheorie im Zarenreich verbreiteten. Ab den 1770er Jahren kann sie in akademischen russländischen Kreisen als etabliert gelten. Detailliert legte sie der russisch-­ukrainische Rechtsgelehrte D esnickij dar: D esnickij , Juridičeskoe rassuždenie o ­raznych ­ponjatijach, bes. 60 – 61, 67 – 68. 576 Vgl. die Ausführungen zur russländischen Konzeption von herrscherlicher Gnade in Kap. 2.1 und 4.6. – Im Unterschied zur Rolle der Gnade im Zusammenhang mit der Herausbildung von Untertanenschaft im Moskauer Reich ging es hier allerdings um Gnade im ausschließlich imperialen Kontext (Stichwort gift of empire im Sinne von G rant , The Captive and the Gift). 577 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova imp. Ekaterine II ob osnovnych voprosach upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 490 (26. 5. 1763), 444 – 452, hier 446.

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Geschenke bei Laune zu halten. Vielmehr s­ eien die Kasachen dahin zu bringen, dass sie „Russland um Russland selbst willen lieben und allmählich Russisch werden“ (do togo dovesti čtob kirgiscy Rossiju sobstvenno dlja Rossii sljubili i pomalen’ku ruseli).578 Eine wesentliche Maßnahme, um die Kasachen aus ihren „bestialischen Umgangsformen“ herauszuholen, sei daher die Einführung von Ackerbau und Getreidewirtschaft. Dort, wo Ackerbau eingeführt wird, dort gibt es die Hauswirtschaft, wo aber die Hauswirtschaft gegeben ist, dort herrscht Ruhe und die Herrschaft der Gesetze. Nomadisierende Völker werden dagegen immer unbeständig und den Gesetzen nicht u­ nterworfen sein.579

In diesen Worten Volkovs manifestierte sich das Credo aufklärerischer Gedanken, wonach das Nomadenleben unvereinbar mit der Herrschaft der Gesetze sei und für Volkov daher unvereinbar mit staatlicher russländischer Herrschaft war. Die Akzeptanz anderer Lebensformen durch frühere russländische Herrscher war endgültig ad acta gelegt, die westeuropäische Sichtweise auf ganzer Linie übernommen worden. Kompatibilität mit dem russländischen Staatsleben ließ sich nur durch eine Überführung in die Sesshaftigkeit, verkörpert durch die Haus- und Getreidewirtschaft, herstellen.580 Aber wie genau sollten sie umerzogen werden? Die Zarin rührte mit dieser Frage an die Schwachstelle von Volkovs Ausführungen, der hier vage geblieben war.581 Gegenüber dem Senat legte Volkov nach: Dort, wo es Getreidewirtschaft bereits gebe, solle sie massiv vermehrt werden. Insbesondere entlang der Linien ­seien verstärkt russische Bauern anzusiedeln, um mit ihnen vor Ort die Landwirtschaft zu verankern und diese anderen beizubringen. Selbst Neugetaufte aus anderen Regionen hielt Volkov für geeignet, um als Zivilisationsträger für die Nomaden 578 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova, in: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 490, 447. 579 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova, in: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 490, 448. 580 Nur ein knappes Jahrhundert ­später vertrat V. A. Perovskij als Nachfolger Volkovs im Amt des Orenburger Gouverneurs eine genau entgegengesetzte Auffassung: Jegliche Bemühungen, den Ackerbau unter den Kasachen zu verbreiten, s­ eien einzustellen. Vielmehr s­ eien die Kasachen in ihrer Abhängigkeit vom russischen Getreideanbau zu halten, um von ihnen dadurch besseren Gehorsam erzwingen und Gewinn durch den Tausch von Brot gegen kasachisches Vieh erzielen zu können. I zbasarova , V. A. Perovskij i problemy razvitija chlebopašestva v Orenburgskom krae, 197 – 198. 581 Pis’mo imp. Ekateriny II D. V.Volkovu o zadačach ego upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 491 (13. 6. 1763), 452 – 453.

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zu fungieren.582 Zudem gelte es, die auf den Festungen einsitzenden kasachischen Geisel Getreidewirtschaft und Ackerbau zu lehren. Nach ihrer Rückkehr könnten sie selbst als Zivilisationsträger in ihren Sippen wirken.583 Auch bei den erzverarbeitenden Fabriken nahe den Linien sollten unmittelbar anliegende Haushalte begründet und mit ihnen Getreide- und sesshafte Viehwirtschaft eingeführt werden. Eine Wanderschaft von Russen, die ­zwischen Fabrik und ihrer Heimat über große Entfernungen hin und her pendelten, müsse unbedingt unterbunden werden, sonst lebten sie selbst nicht anders als Nomaden.584 Als weitere Maßnahme ­seien die Getreideausfuhr und der Getreideverkauf anzukurbeln. „Die Asiaten“, und Volkov ließ im Unklaren, wen er alles darunter fasste, „die zuvor nur Milch und Fleisch aßen, beginnen jetzt, auch Brot zu kaufen.“ Wie schon Ryčkov und Tevkelev fünf Jahre zuvor sah Volkov in der zunehmenden Verbreitung des Getreideverzehrs den Schlüssel zum Erfolg in der Veränderung der Lebensweise. „Im Getreide finden wir eher Gold und Silber als auf jede andere artifizielle Weise.“ 585 Zeiten klimatischer Notsituationen für Nomaden wie harte Winter oder der regelmäßig wiederkehrende Džut 586 eigneten sich besonders als Momente, um den vor Hunger und Kälte umkommenden Kasachen und ihrem Vieh Getreide schmackhaft zu machen.587 Damit und mit der gezielten Kolonisation russländischer Bauern werde man auch bei den Baschkiren die Getreidewirtschaft überaus vermehren können. Zudem wolle er selbst, so Volkov, versuchen, baškirische Würdenträger und Älteste dazu zu bewegen, eine ordentliche Haus- und Getreidewirtschaft einzuführen. Es gebe ermutigende Anzeichen: Schon jetzt hätten sie gelernt, obwohl sie zuvor keine Gespanne kannten, im Sommer wie im Winter Erz zu den Fabriken zu transportieren. Wenn aber erst einmal den Baschkiren die Getreidewirtschaft beigebracht 582 Der Senat griff diesen Vorschlag des Orenburger Gouverneurs zwar ­später auf, hielt es aber für nötig, ihn mit dem Plan zur Ansiedlung von „Großrussen“ (velikorusskimi ljud’mi) abzusichern. B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 54. 583 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova imp. Ekaterine II ob osnovnych voprosach upravlenija Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 490 (26. 5. 1763), 444 – 452, hier 446. – Ausführlich zu Volkovs Vorschlägen, wie auf russländischer Seite gehaltene Geisel künftig zu zivilisieren s­ eien, in Kap. 3.3. 584 Donošėnie orgenburgskogo vice-­gubernatora D. V. Volkova, in: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 490, 448. 585 Iz donošenija orenburgskogo gubernatora D. V. Volkova v Senat o neobchodimosti rasširenija zemledelija v Orenburgskoj gubernii. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 492 (13. 6. 1763), 453 – 458, hier 458. 586 Ein Džut ist in der Steppenwelt die Bezeichnung für einen besonders kalten Winter, in dessen Folge der Schnee auf der Erdoberfläche so stark vereist, dass das Vieh nicht mehr in der Lage ist, an Futter unterhalb des Schnees zu gelangen. B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 90 Fn. 287. 587 Zemledelie u kirgiz. In: Orenburgskij listok 1888, Nr. 50 – 52; B ykov , Istoki moderinzacii ­Kazachstana, 54.

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worden sei, dann würden auch die Kasachen anfangen, deren Zustand zu beneiden, und s­ eien schneller auf denselben Weg zu bringen.588 Damit übertrug Volkov das Modell der Strahlkraft, die das Vorbild einer Elite auf die breite Bevölkerung haben könnte, auf die Ebene der ethnischen Gruppen als Ganze: „Die Baschkiren“ sollten die Vorhut bilden, dann nämlich würden sie auch „die Kasachen“ mitreißen können. Um den Baschkiren die Getreidewirtschaft beizubringen, fehle es jedoch an der Erlaubnis, dass die Baschkiren in ihrer Einstufung als „Fremdgläubige“ Arbeiter haben dürften. Als Argumente für das Verbot sei bislang die Sorge angeführt worden, dass unter den sich als Arbeiter anbietenden „Čuvašen, Čeremissen und Tataren“ vor allem Neugetaufte ­seien. Man befürchtete bislang, dass diese bei den fremdgläubigen Baschkiren von ihrem orthodoxen Glauben wieder abkämen. Stattdessen plädierte Volkov nun dafür, alles zu tun, um den Baschkiren den Ackerbau zu ermöglichen, anstatt an erzwungenen Bekehrungen festzuhalten, die ohnehin bei den Betroffenen zu „keinerlei Begriff“ vom orthodoxen Glauben geführt hätten.589 Mit dieser Argumentation brachte Volkov zum Ausdruck, dass zumindest er endgültig mit der früheren Missionierungspolitik gebrochen hatte. Die ‚Zivilisierungs‘offensive, die im ersten Drittel der Jahrhunderthälfte noch vornehmlich der Konversion in den orthodoxen Glauben gegolten hatte, im zweiten Drittel bereits einer doppelten Überführungsstrategie gewichen war, sollte nun Volkov zufolge durch jene abgelöst werden, die ausschließlich der Überführung in die Sesshaftigkeit und Getreidewirtschaft galt. Doch Volkov musste bewusst gewesen sein, dass seine Vorschläge zur ‚Zivilisierung‘ argumentativ zwar auf Anreiz, Überzeugungsarbeit und Selbsterkenntnis der Betroffenen setzte; dass aber mit der staatlich forcierten Ansiedlung russländischer Bauern und ausländischer Siedler auf den ehemaligen Weidegebieten von Baschkiren und Kasachen entlang der Festungslinien (und darüber hinaus), wie sie gerade unter Katharina II. forciert wurde, dem Nomadenleben faktisch und im wörtlichen Sinne zunehmend der Boden entzogen wurde.590 In der ­Denkweise 588 Iz donošenija orenburgskogo gubernatora D. V. Volkova v Senat, in: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 492, 453 – 458. 589 Iz donošenija orenburgskogo gubernatora D. V. Volkova v Senat, in: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 492, 456. 590 Zur Ansiedlungsoffensive von Ausländern unter Katharina II. siehe S underland , Taming the Wild Field, 73 – 77. – Zu Katharinas Manifesten von 1762 und 1763, mit denen sie ausländische Siedler einlud, sich im Zarenreich niederzulassen, B artlett , Human Capital, 31 – 56; K laus , Naši kolonii, Bd. 1, 7 – 13, 15. – Vermutlich wird Volkov wie die Zarin die Auffassung vertreten haben, dass die Kalmücken sich in ihrer Wahrnehmung irrten, durch die fortschreitende Kolonisation eingeengt zu sein. Ihre Auffassung sei dahingehend zu verändern, dass sie erkennten, bei einer veränderten Lebensweise sehr wohl noch genügend Raum für ihre Viehhaltung zu haben. Ukaz k nachodjaščemusja pri kalmyckich delach podpolkovniku Kišenskovo (2. 11. 1766). In: SIRIO Bd. 67, 199 – 203, v. a. 202.

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­Volkovs handelte es sich bei der Vermehrung landwirtschaftlich bearbeiteter Böden und der damit verbundenen zunehmenden Beengung für die Nomaden nicht um illegitimen Druck. Vielmehr sah er darin ein Hilfsmittel, durch das die Steppenvölker zur Aufgabe ihres Nomadenlebens zu bewegen s­ eien. Der aus der Flächenverringerung resultierende Zwang der Umstände war in seinen Augen nichts Verwerfliches, er stand nicht im Gegensatz, sondern in Ergänzung zu allen anderen Initiativen. So führte er wenig s­ päter aus: Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass die Baschkiren sich [durch die neuen Siedler] zu sehr beengt fühlen, was gut passieren kann, dann wird das dazu führen, dass sie beobachten, wie die russländischen Bauern unter ihnen in engeren Siedlungen leben, und wenn sie das sehen, werden sie sich selbst dem Ackerbau und dem sesshaften Leben zuwenden.591

Volkov sah in ­diesem Sinne auch die Jaiker Kosaken, die nach ihrer Ansiedlung entlang des Jaik-­Flusses den Ackerbau eingeführt hatten, als geeignetes Vorbild. Hier widersprach das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten entschieden: Eine Zusammenarbeit von Kasachen und Jaiker Kosaken sei keinesfalls anzustreben. Im Gegenteil, die Jaiker-­Kosaken ­seien „auf künstliche Weise“ davon abzuhalten, „nähere Bekanntschaft“ mit den Kasachen zu machen.592 Ganz offensichtlich suchte die Zarenregierung im Sinne einer Politik der checks and balances jegliche Annäherung ­zwischen den Kosaken, die zur Abwehr und militärischen Einschüchterung der Kasachen in Form von ‚Strafexpeditionen‘ in deren Steppengebieten eingesetzt wurden, und den Steppenvölkern selbst zu unterbinden.593 Stattdessen setzte Katharina  II. zunehmend auf die Mittlerrolle der Wolgatataren. Bereits seit den 1730er Jahren waren sie als Schriftkundige und Übersetzer eingesetzt und zunehmend auch mit Aufgaben im Handel betraut worden. Die Zarin sah in den Wolgatataren das Potential, die Kasachen in deren eigenen Religion auszubilden, sie zu alphabetisieren und nicht zuletzt – als muslimische Repräsentanten einer sesshaften Lebensweise – den Kasachen Kenntnisse in der Landwirtschaft zu vermitteln.594

591 S underland , Taming the Wild Filed, 79. 592 K raft , Sbornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej, Nr. 266 (8. 4. 1763), 96; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 54, 91. 593 In den 1740er Jahren waren zwar aus den Reihen der Kosakenverbände ­welche ausgesucht worden, um entlang der Festungslinien Ackerbau zu betreiben (pachotnye kozaki). Diese erwiesen sich jedoch als wenig produktiv, da sie gleichzeitig nicht von ihren Dienstverpflichtungen befreit wurden und sich daher zu wenig um den Ackerbau kümmern konnten. B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 26. 594 S ultangalieva , The Russian Empire and the intermediary Role of Tatars in Kazakhstan, 52 – 79, hier 53 – 56; C rews , For Prophet and Tsar, 193.

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Trotz der mit Verve vorgetragenen Plädoyers für eine Sesshaftigkeitskampagne bei den Kasachen fühlte sich der Orenburger Gouverneur Volkov mit den Herausforderungen seines Amtes überfordert und bat um Versetzung. Doch auch wenn er nur bis 1764 Gouverneur von Orenburg blieb ‒ seine Gedanken wirkten auch nach seiner Ablösung noch fort. Vor allem der Regierende Senat zeigte sich durch Volkovs Argumentation nachhaltig beeindruckt, wie wesentlich es sei, die Essgewohnheiten „der Asiaten“ zu verändern. Er ordnete an, im Orenburger Gouvernement an den Festungen allen Kasachen Getreide für drei Jahre zollfrei zu verkaufen. Nurali-­Chan und die Sultane der Mittleren Horde erhielten weiterhin kostenlos Getreide.595

Der Blickwechsel: Vom Menschen zum Land Volkovs Nachfolger im Amt des Orenburger Gouverneurs, Fürst Avram Artem’evič Putjatin (1764 – 1768), wurde zwar vom Senat bedrängt, sich in der Tradition von Volkov für die Vermehrung von Ackerbau unter den Nomadenvölkern einzusetzen. Putjatin aber stellte den Bemühungen seiner Vorgänger seit Nepljuev (also seit 1758) ein verheerendes Zeugnis aus. Deren Versuche, die Baschkiren des Orenburger Gouvernements zur Haus- und Getreidewirtschaft zu erziehen, ­seien erfolglos geblieben.596 Damit die Ländereien, die bislang von den Baschkiren belegt s­ eien, nicht länger „ohne jede Frucht“ verblieben, sollten die baschkirischen Ländereien vermessen und ganze Landstriche zur Besiedlung von ausschließlich „Großrussländern“ (velikorossijskie ljudi) freigehalten werden. Bislang s­ eien unter denjenigen, die sich neu niedergelassen hätten, zahlreiche „Fremdgläubige“ (inovercy) und „Neugetaufte“ (novokreščennye, vor allem Tataren und Čuvašen), die dafür weder geeignet noch zuverlässig s­ eien. „Fremdgläubige“ und Neugetaufte sollten stattdessen in Zukunft ausschließlich in „inneren Gouvernements“ unter christlicher Bevölkerung angesiedelt werden. „Großrussländer“ aber s­ eien notwendig, um die Baschkiren in der Getreidewirtschaft anzulernen und ihnen „die übrigen großrussländischen Bräuche“ beizubringen.597 Ging es Tevkelev, Vejmarn und Volkov vornehmlich darum, die Steppennomaden zu ‚zivilisieren‘, sie gefügig zu machen (Vejmarn) und Ackerbau zu lehren

595 Vypiska Kollegii in. del o prodaže chleba kazacham. In: KRO Bd. 1, Nr. 264 (Jan. 1765), 678 – 680. 596 Donošenie orenburgskogo gubernatora kn. A. A. Putjatina v Senat s proektom ob uporjadočenii zemlevladenija na zemljach zapadnee Novoj Moskovskoj dorogi. Po sekretu. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 496 (21. 3. 1766), 464 – 473, hier 468 – 469. 597 Donošenie orenburgskogo gubernatora kn. A. A. Putjatina v Senat, in: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 496 (21. 3. 1766), 472.

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Abb. 27: Weide- und Siedlungswechsel bei den Kasachen. Lithographie von einer Zeichnung von Dž. Kėstl’, 1736

(Volkov), machte sich spätestens bei Putjatin Ernüchterung breit. Die erhoffte Selbsterkenntnis der Nomaden, einer ‚falschen‘ Lebens- und Wirtschaftsweise anzuhängen, sei ausgeblieben. Die ‚Wohltaten‘ der Zarenregierungen in Form von kostenlosen oder vergünstigten Mehl-, Saat- oder Getreidelieferungen würden zwar gern entgegengenommen. Aber weder bei den Baschkiren noch bei den Kasachen veranlasse dies eine nennenswerte Anzahl von Nomaden zur Abkehr von ihrer Lebensweise. Putjatin erhielt in seiner Sichtweise Unterstützung von Petr Ryčkov, dem ersten ‚Historiker‘ des Orenburger Gebiets, der Ende der 1750er Jahre mit Tevkelev noch die Hoffnung hatte, durch eine Veränderung der Essgewohnheiten auch eine Veränderung der Lebensweise der Kasachen bewirken zu können. In seinem Vermerk von 1767, den der Regierende Senat guthieß, kam Ryčkov zu dem Schluss, dass es keinen Sinn mehr ergebe, von den Kasachen eine Aufnahme landwirtschaft­ licher Produktion zu erwarten, solange sie ihre ­Sitten nicht änderten. Die Reihenfolge sei entscheidend: Die Bereitschaft zum Ackerbau werde erst erfolgen, wenn sie ihr Nomadentum abgelegt hätten und die Sesshaftigkeit durchgesetzt sei, und sei diese zunächst auch nur saisonal.598 Damit erteilte Ryčkov jener Politik eine 598 R yčkov , Otvety na ėkonomičeskie voprosy, 111 – 212; sowie ders ., O sposobach k umnoženïju zemledelija v Orenburgskoj gubernïi, 1 – 25. – Zur Reaktion des Regierenden Senats auf die

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Absage, die darauf setzte, die Kasachen erst für den Ackerbau zu begeistern, um ihnen anschließend die Sesshaftigkeit schmackhaft zu machen. Vor allem aber wies er darauf hin, wie wertvoll Grund und Boden speziell des Orenburger Gouverne­ ments für den Ackerbau s­ eien. Das Gouvernement könne potentiell zu den fruchtbarsten Gebieten des gesamten Russländischen Reiches zählen. Wichtig sei es daher, endlich geeignete Ackerbauern anzusiedeln.599 Schon bei Putjatin, der Ryčkovs Vermerk rezipierte, vor allem aber bei seinem 13 Jahre lang amtierenden Nachfolger im Amt des Orenburger Gouverneurs, bei Ivan Andreevič Rejnsdorp (Johann Friedrich Reinsdorf, 1768 – 1781), gerieten zunehmend die fruchtbaren, aber scheinbar ungenutzten Ländereien in den Vordergrund des Interesses.600 Wenn sich die nomadisierenden Menschen nicht änderten, so die Überlegung, dann müsse sich Zivilisation zumindest auf dem Boden entfalten, auf dem die Nomaden bislang bloß umhergezogen s­ eien. Damit wurde ein Topos aufgegriffen, mit denen bereits westeuropäische Kolonialmächte ihr Vorgehen in Amerika legitimierten. Geistige Grundlage dieser Argumentation bildeten Überlegungen, die der englische Rechtsphilosoph John Locke 1689 angestellt hatte. Danach sei das Recht auf Landbesitz erst gegeben, wenn der Mensch das Land bearbeite.601 Der Schweizer Rechtsphilosoph Emer(ich) de Vattel hatte in seinem Standardwerk zum Eigentumsrecht 1758 diesen Gedanken zur These weiterentwickelt, dass der Besitz von Land zu dessen möglichst effektiver Nutzung sogar verpflichte. Der „verantwortungslose“ Umgang der Nomaden mit Land sei daher zu verurteilen, ihre Zurückdrängung auf kleinere Räume und sogar ihre Ausrottung legitim: Völker wie die alten Germanen oder einige Tataren der Jetztzeit, die zwar fruchtbare Länder bewohnen, aber den Ackerbau verabscheuen und lieber von Räubereien leben, Vorschläge Ryčkovs siehe den Erlass vom 12. 10. 1767 in: Kraft, Sbornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej, Nr. 304 (12. 10. 1767), 111; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 57 – 58. 599 R yčkov , Otvety na voprosy kasajuščiesja do zemledelja, 115; R yčkov , O sposobach k umnoženïju zemledelija v Orenburgskoj gubernïi, 4 – 5. 600 [R einsdorf ] Zapiska orenburgskogo gubernatora Reinsdorfa, pt. 29, 95; Doklad orenburgskogo gubernatora I. A. Rejnsdorpa imp. Ekaterine II o nedostatkach Orenburgskoj gubernii i sposobach upravlenija eju. In: MpiB ASSR 4, Nr. 497 (11. 1. 1770), 473 – 484, hier 477. – Neben den wissenschaftlichen Traktaten von Ryčkov nahmen auch Reiseberichte das Thema der bislang zu geringen Produktivität der Steppe auf. P allas , Voyages de M. P. S. Pallas en differentes provinces [1788], Bd. 1, 316; [G il ’denštat (G üldenstaedt )], Discours academique sur les ­produits de Russie [1776]; [L epechin ], Zapiski putešestvija akademika Fal’ka [1824], 203; [Z uev ]: Puteščestvennye zapiski Vasilija Zueva [1787], 226, 228; S chönle , Garden of the Empire, 16; S underland , Taming the Wild Field, 71. 601 L ocke , Two Treaties of Government [1689], 2. Buch, Sektion 37. – Zum Rekurs der Briten und Franzosen auf John Locke in ihren amerikanischen Kolonien siehe P agden , Lords of all the World, 77 – 78.

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verletzten die Pflichten gegen sich selbst, tun allen ihren Nachbarn Unrecht an und verdienen es, wie Raubtiere ausgerottet zu werden. […] Völker, die noch heute ­dieses müßige Leben beibehalten, nehmen mehr Raum ein, als sie bei einer ehrlichen Arbeit nötig hätten, und können sich nicht beklagen, wenn andere Nationen, die fleißiger sind und enger zusammen leben müssen, in ihr Land einfallen und einen Teil besetzen.602

Auch im Russländischen Reich hatte der Topos vom effektiv zu nutzenden Land zusammen mit jenem vom ‚leeren Land‘ seit Beginn des 18. Jahrhunderts Fuß gefasst, wenn auch zunächst noch keine Breitenwirkung erzielt. So empfahl der unabhängige Denker Ivan Posoškov bereits in der petrinischen Ära, „Leere“ in Landstrichen zu vermeiden, da ein „leerer Ort kein Einkommen produziere“.603 Peter I. nahm den Begriff der Leere auf, als er sich 1709 angesichts „einer großzügigen Stadt“ mit Hafen in der Dreifaltigkeits-(Troickij-)Festung von Taganrog darüber freute, dass noch zehn Jahre zuvor nur „leere Steppe“ (pustoe pole) zu sehen gewesen sei.604 Das Bild vom ‚brach‘ liegenden, ungenutzten und daher ‚leeren Land‘ fand Eingang in Ivan Kirilovs „allgemeine Karte“ des Russländischen Reiches von 1734, in dem der gesamte Raum, auf dem die Steppennomaden im Süden des Reiches umherzogen, als leer dargestellt wurde.605 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts avancierte der Ausdruck vom ‚leeren Land‘ zu einer stehenden Redewendung für Administratoren wie für die Zaren (prazdnoležaščie zemli; ­pustye zemli/mesta).606 Atlanten der Gouvernements, die von der Regierung 1783 in 602 Vattel sah daher auch die Errichtung von Kolonien und die Vertreibung der Indianer in Nordamerika als legitim an. de V attel , Le droit de gens ou principes de la loi naturelle, Bd. 1, Kap. 7, § 81, 78 – 79. – Die deutsche Übersetzung folgt der von Walter Schätzel herausgegebenen Ausgabe von Vattels Werk von 1959 (Tübingen): Bd. 1, Kap. 7, § 81, 70 – 71 [Kursiv im Original], 603 P osoškov , Kniga o skudosti i bogatstve, 260; S underland , Taming the Wild Field, 42. 604 K Aleksandru Daniloviču Menšikovu. In: PiB Bd. 9, Teil 1, Nr. 3178 (4. 5. 1709), 168; ­S underland , Taming the Wild Field, 44. – Die Verwendung des adjektivischen Begriffs pustoj/pust tritt im genannten Falle in der Grundbedeutung von „noch nicht unter den Pflug genommenes ‚Wildland‘ (dikoe pole)“ auf. Das Adjektiv pustoj kann aber auch die Grundbedeutung ‚wüst‘, ‚öde‘ tragen und damit auf das Wüstungsphänomen verweisen, also die Aufgabe oder Zerstörung einst genutzter Kulturflächen. G oehrke , Die Wüstungen in der Moskauer Rus’, 22 – 33. 605 Atlas Rossijskoj, sostojaščej iz devjatnadcati special’nych kart [1745, 1. Ausg. von 1734], Allgemeine Karte. – Eine gute Reproduktion der „Allgemeinen Karte“ findet sich in P ostnikov , Russia in Maps, 44 – 45. – Zur Bedeutung ­dieses ersten Atlas P ostnikov , Razvitie krupnomasštabnoj kartografii v Rossii, 33 – 53, bes. 46; C racraft , The Petrine Revolution in Russian Imagery, 278; S eegel , Mapping Europe’s Borderlands, 29 – 33. 606 Hier nur einige Beispiele: Zapiska P. D. Aksakova o sostojanii baškirskogo naroda do i posle vosstanij 30-ch godov i o merach dlja privedenija ego v polnoe povinovenie. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 568 (23. 5. 1743), 526 – 536; Donošenie orenburgskogo gubernatora kn. A. A. Putjatina v Senat s proektom ob uporjadočenii zemlevladenija n zemljach zapadnee Novoj Moskovskoj dorogi. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 496 (21. 3. 1766), 464 – 473; Doklad orenburgskogo

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Auftrag gegeben worden waren, enthielten neben Listen von Dörfern auch s­ olche von „leeren Ländereien“ (pustoši).607 Die wahrgenommene ‚Leere‘ transportierte jetzt immer zugleich die Aufforderung, die Gegenden in blühende Landschaften zu verwandeln. So beschrieb Fürst Grigorij Potemkin beispielsweise der Zarin Katharina II . 1786 den Wandel der Provinz ‚Neurussland‘, dessen Kolonisation nach der 1783 erfolgten endgültigen Eroberung und Annexion der Krim stark zugenommen hatte: Dieses Land wurde mit Eurer Fürsorge von unfruchtbaren Steppen (iz stepej bezplodnych) in den Garten Eden verwandelt (v obil’nyj vertograd obražena) und die Bleibe von wilden Tieren in ein angenehmes Refugium für Menschen aus allen Ländern.608

Im Lexikon der Russländischen Akademie von 1789 wurde die Steppe selbst sogar bereits als „ein leerer, unbevölkerter und baumloser Ort großer Ausdehnung“ definiert.609 Vor d ­ iesem Hintergrund entsprach es ganz dem Zeitgeist, als Fürst Avram Putjatin sowie sein Nachfolger Ivan Rejnsdorp im Amt des Orenburger Gouverneurs das Augenmerk auf die Kosten des Nomadentums in Form entgangenen Gewinns für den Staat legten. Sie mahnten an, nicht nur ‚brach liegendes‘ Land im Orenburger Gouvernement an russländische Adlige zu verkaufen und damit die staatlichen Einkünfte zu erhöhen. Darüber hinaus forderten sie, zur Ansiedlung auch Ausländer (inostrannye ljudi) anzulocken, darunter die sesshaften Karakalpaken.610 Ihnen sei die Befreiung von Abgaben in Aussicht zu stellen, eine finanzielle Grundausstattung, medizinische Einrichtungen und die Erleichterung des Verkaufs von Getreide zu anständigen Preisen. Doch auch mit Blick auf die baschkirischen Ältesten empfahl Rejnsdorp, weitere Anreize zur Bodenkultivierung zu setzen: Da deren vorherrschende Leidenschaft dem Streben nach materiellen Ehren gehöre, solle man jenen mit silbernen und vergoldeten Medaillen

607 608 609 610

gubernatora I. A. Rejnsdorpa imp. Ekaterine II o nedostatkach Orenburgskoj gubernii i sposobach upravlenija eju. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 497 (11. 1. 1770), 473 – 484, hier 473, 474; Predstavlenie orenburgskogo gubernatora I. O. Kurisa senatoram M. G. Spiridovu i I. V. Lopuchinu o „nuždach, nedostatkach i pol’zach obščich“. In: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 450 (Aug. 1800), 586 – 587; Ukaz k nachodjaščemusja pri kalmyckich delach podpolkovniku Kišenskovu (2. 11. 1766). In: SIRIO Bd. 67, 1889, 199 – 203, hier 199, 202. S underland , Imperial Space, 47. Sobstvennoručnye bumagi kn. Potemkina-­Tavričeskogo. In: Russkij archiv 3 (1865), 394 – 416, hier 394. Slovar’ akademičeskoj rossijskoj, Bd. 5, 730. – Kursiv von R. V. Donošenie orenburgskogo gubernatora kn. A. A. Putjatina v Senat s proektom ob uporjadočenii zemlevladenija n zemljach zapadnee Novoj Moskovskoj dorogi. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 496 (21. 3. 1766), 464 – 473, hier 474.

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winken, die den größten Ertrag an Getreide einfuhren, vorausgesetzt, dass sie es selbst gesät hätten.611 Die Antworten der Zarin zeigen, dass es Rejnsdorp gelungen war, einen Politikwechsel einzuleiten. Statt sich in erster Linie darauf zu konzentrieren, die indigene Bevölkerung mit den verschiedensten Anreizen zu Verhaltensänderungen zu bewegen, sprach auch sie sich dafür aus, fortan vor allem den Ackerbau zu vermehren.612 Das Bild der nicht länger tolerierbaren, ‚brach liegenden Ländereien‘ im Orenburger Gouvernement griff die Zarin uneingeschränkt auf. Gemäß ihrer Auffassung, dass „der Ackerbau die erste und vornemste Arbeit [ist], wozu die Menschen müssen aufgemuntert werden“, ordnete sie an, ‚Brachland‘ zu beschreiben, vermessen und von der Staatskasse an Adlige verkaufen zu lassen, sofern sie zur staatlichen Verwendung nicht gebraucht würden.613 Besonderen Ausdruck fand die russländische Vorstellung von der Verpflichtung, ‚brach liegendes‘ Land dem Ackerbau zuzuführen, in der Politik Katharinas II. gegenüber den Kabardinern im Nordkaukasus. Selten zuvor war die Expansion russländischer Herrschaftsgewalt so unverhohlen mit der Ausdehnung von Landwirtschaft legitimiert worden. Als sich kabardinische Würdenträger 1771 zum wieder­holten Male bitter bei der Zarin über die 1763 erfolgte Gründung der Festung Mozdok auf ihren angestammten Weidegebieten beschwerten und deren Abriss einforderten, wies die Zarin dies brüsk mit dem Hinweis zurück, ­welche Wohltat von der russländischen Untertanenschaft einschließlich der Festungsanlage Mozdok für die Kabardiner ausging. Mozdok werde „niemals“ vernichtet, zum einen, weil es sich nicht auf „Eurem kabardinischen Boden“ befinde, und zum anderen, weil die Zeit selbst, die seit der Gründung der Mozdok-­Siedlung vergangen sei, „bester Beweis dafür ist, dass sie nicht zur Überwachung der den Kabardinern eigenen Freiheit (vol’nost’) […], sondern ausschließlich dafür gegründet wurde, dass

611 Doklad orenburgskogo gubernatora I. A. Rejnsdorpa imp. Ekaterine II o nedostatkach Orenburgskoj gubernii i sposobach upravlenija eju. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 497 (11. 1. 1770), 473 – 484, hier 477. 612 Dies bedeutete jedoch nicht, dass den Steppennomaden künftig gar keine Anreize mehr gesetzt wurden. Anders als Rejnsdorp hielt die Zarin allerdings Medaillen mit ihrem Konderfrei für unattraktiv und plädierte stattdessen für die Ausgabe roter Wolltücher. Noch in der 1. Hälfte des 19. Jh. wurde die Strategie weiterverfolgt, Belohnungen wie wertvolle Stoffe und s­ päter Medaillen als Anreize für Steppennomaden auszugeben, die sich im Ackerbau hervortaten. Vypiska iz žurnalov Sibirskogo komiteta o nagraždenii kazachov, zanimajuščichsja zemledeliem. In: KRO Bd. 2, Nr. 167 (30.9. und 9. 10. 1833), 267. 613 Ukaz imp. Ekateriny II I. A. Rejnsdorpu na ego doklad ot 11 janvarja. In: MpiB ASSR Bd. 4, Nr. 498 (22. 2. 1770), 484 – 486, hier 484 – 485. – Das Zitat Katharinas findet sich in ihrer Instruktion für die Gesetzgebende Kommission, hier in der Übersetzung von August Ludwig v. Schlözer. H aigold [A. L. v . S chlözer ] (Hg.): Katharinä der Zweiten, Kaiserin und Gesetzgeberin von Rußland [1768], 87.

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die brach liegende Erde den Grenzbewohnern zum Vorteil gereiche“. Die Kabardiner selbst müssten es sich doch wünschen, dass sich in ihrer Nachbarschaft eine befestigte Siedlung zu ihrem Schutz und zur Ausbreitung von Ackerbau befinde.614 Expliziter konnte auf die enge Verbindung z­ wischen der Ausweitung russländischer Herrschaft und der Verbreitung von Ackerbau kaum hingewiesen werden.615 Nicht minder deutlich war auch die Erwartungshaltung herauszuhören, für die Einführung von ‚Zivilisation‘ als Folge kaiserlicher Gnade auf Dankbarkeit zu stoßen. Um so größer fiel hier wie im Falle der Steppennomaden die russländische Enttäuschung darüber aus, dass auch eine Politik der Anreize nur in geringem Umfang Anklang fand und sie mithin die ‚Zivilisierung‘ kaum voranbrachte. Wie bei vielen Zivilisierungsmissionen im Rahmen kolonialer Herrschaft stellte sich auch der russländischen Mission ein grundlegendes Problem in den Weg: Die vermeintlichen ‚Barbaren‘ lehnten es ab, ‚zivilisiert‘ zu werden.616 Statt der erwarteten Dankbarkeit sahen sich russländische Zivilisierer mit Widerständen oder schlicht mit dem Ausbleiben von ‚Fortschritt‘ konfrontiert. Diese built-­in crisis, die Kluft z­ wischen Anspruch und Wirklichkeit, führte in aller Regel dazu, dass von den Kolonialherren mehr Gewalt eingefordert wurde, so auch von Oberst Dmitrij Grankin mit Blick auf die südlichen Steppenvölker. Grankin, der vom Oberbefehlshaber der russländischen Armee Fürst Grigorij Potemkin in die Kleine Horde der Kasachen verlegt worden war, machte in einem Vermerk von 1788 gegenüber dem Fürsten seinem Unmut über die geringen Erfolge bei Baschkiren und Kasachen Luft: Einzig aus „Genusssucht“, um große Geschenke zu bekommen, hätten die Kasachen die russländische Untertanenschaft angenommen. Entsprechend wenig Bereitschaft zeigten sie zur Veränderung ihres Lebensstils. Die Folge sei, dass die Kasachen zu wenig Getreide herstellten. Dadurch befänden sich die russländischen Truppen entlang der Linien in außerordentlicher Beschwernis, es mangele ihnen an Essen. Grankin mahnte an, Kosaken entlang der Linien anzusiedeln, um auf diese Weise mehr Landwirtschaft und damit eine bessere Brot- und Getreideversorgung sicherzustellen.617 614 Gramota imperatricy Ekateriny II Kabardinksim vladel’cam, utverždajuščaja ich pravo na vozvraščenie beglych krest’jan i otkazyvauščaja im v srytii Mozdoka. In: KabRO Bd. 2, Nr. 213 (9. 8. 1771), 299 – 304, hier 300 – 301. 615 Eindrücklich ist auch Katharinas Anweisung zur Organisation des „kaukasischen Gouvernements“ und des „Astrachaner Gebiets“ von 1785. Hier rief die Zarin in einem Atemzug zu maximaler Anstrengung bei der Überführung in die Sesshaftigkeit und dazu auf, den Indigenen alle Barrieren zur Akkulturierung zu nehmen und sie auf diese Weise in eine „allerengste Verbindung mit Unseren anderen Untertanen“ zu führen (starajas’ privodit’ v […] tesnejšuju svjaz’ s pročimi Našimi poddannymi). PSZRI Bd. 22, Nr. 16194 (9. 5. 1785), 388 – 392, hier 391. 616 O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 30 – 31. 617 Zapiska D. Grankina, predstavlennaja knjazju G. Potemkinu, po povodu administrativnogo ­ustrojstva v Mladšem žuze. In: KRO Bd. 2, Nr. 70 (16. 12. 1788), 125 – 127, hier 125.

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Potemkin, der sich als Oberbefehlshaber vor allem um das Wohlergehen seiner Soldaten zu sorgen hatte, rückte diesen, von Grankin vorgetragenen Aspekt in den Vordergrund seiner ‚Zivilisierungs‘politik der südlichen Steppenvölker: Die Kasachen der verschiedenen Horden s­ eien in die Sesshaftigkeit zu überführen, weil sie dadurch den Staat und seine Soldaten mit Lebensmitteln versorgen könnten.618 Diese Ansichten Potemkins, die Generalmajor Jakov Bouver noch Jahre nach Potemkins Tod Katharina II. vortragen sollte, ließen die imperiale Politik des Russländischen Reiches an seinen südlichen Peripherien zunehmend anschlussfähig an wirtschaftlich motivierte Diskurse und Praktiken des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert werden. Ging es bei der ‚Bezähmung‘ der Kasachen Mitte des 18. Jahrhunderts in erster Linie um die Absicherung russländischer Handelsinteressen im Übergangsraum zu Indien und China, rückten nun zunehmend Versorgungsbedürfnisse des expandierenden Staates selbst in den Vordergrund. Erwartet wurde, dass die indigenen ethnischen Gruppen diese bedienten. Nicht nur die den Kasachen „eigene Widerspenstigkeit“ sei aus dem Weg zu räumen, ihr „gewalttätiger Zustand zu bändigen“, sondern sie sollten am Ende auch „zum beträchtlichen Nutzen“ Russlands beitragen.619 Um die Jahrhundertwende fügte der Orenburger Gouverneur Ivan Onfurievič Kuris die einzelnen Argumentationsstränge seiner Vorgänger zu einem Gesamtnarrativ zusammen. Da der Raum (prostranstvo), den die Baschkiren belegten, ohne jegliche Verwendung für den gesellschaftlichen Nutzen bleibe, so Kuris gegenüber den Senatoren Matvej Grigor’evič Spiridov und Ivan Vladmirovič Lopuchin, sei das Mittel der Wahl der Landverkauf. Dadurch könnten die Baschkiren nicht länger im „Müßiggang“ des Nomadentums verbleiben, weil sie für ihr Vieh nicht mehr genügend Weidegrund hätten. Sie müssten sich dem Ackerbau zuwenden, würden dann den von ihm ausgehenden Gewinn erkennen, dem allgemeinen Nutzen dienlich sein „und mit der Zeit sich selbst russifizieren“ (i vremja ot vremeni sami obrusejut).620 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte es bei Posoškov geheißen, die Nicht-­ Russen würden durch die Annahme des russisch-­orthodoxen Glaubens allmählich 618 Predstavlene general-­majora Ja. Bouvera Ekaterine II o položenii del v Srednem žuze i o merach ulučšenija torgovli i razvitii osedlosti. In: KRO Bd. 2, Nr. 83 (9. 4. 1795), 143 – 148, hier 144 – 145. – In eine ähnliche Richtung argumentierte 1795 der Kommandeur der Sibirischen Truppen, Generaloberst Štrandman, gegenüber Graf P. A. Zubov. Er sah im potentiellen Ackerbau der Mittleren Horde allerdings sowohl den Nutzen für die Versorgung der Soldaten als auch für diejenige der Kaufmannskarawanen. Diese bräuchten dann weniger Lebensmittel bei sich zu führen, was wiede­ rum den Handel mit den asiatischen Ländern vermehre und dadurch Russland Nutzen bringe. B asin , Rossija i kazachskie chanstva, 246. 619 Predstavlene general-­majora Ja. Bouvera Ekaterine II o položenii del v Srednem žuze i o merach ulučšenija torgovli i razvitii osedlosti. In: KRO Bd. 2, Nr. 83 (9. 4. 1795), 143 – 148, hier 143. 620 Predstavlenie orenburgskogo gubernatora I. O. Kurisa senatoram M. G. Spiridovu i I. V. L ­ opuchinu, in: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 450, 587.

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zu Russen. Zmeev und Tatiščev hegten Ende der 1730er Jahre die Erwartung, dass gemeinsame Ansiedlungen zu Mischehen führten und Nicht-­Russen in der „russländischen Nation“ aufgingen. Bei Kuris war es der Glaube an die Kulturtechnik des Ackerbaus selbst, die als ‚Zivilisationsträger‘ dienen und zunächst zur Angleichung in der Lebensweise und allmählich zur Assimilation führen werde.621 Das Nomadenleben wurde jetzt weniger mit Unruhe und Gesetzlosigkeit als vielmehr mit Müßiggang assoziiert. Die angesprochenen Senatoren Spiridov und Lopuchin sahen allerdings nur bedingt in der nomadischen Viehzucht die Ursache für die angebliche Faulheit der südlichen Steppenvölker. Ihrer Meinung nach sei die Faulheit „diesen Völkern“ angeboren.622 Wie schon bei Vejmarn griffen sie damit auf eine deterministische Argumentation zurück, die auf angeblich naturgegebene Ausgangsbedingungen verwies. Damit wurde zunehmend weniger Raum einer Zivilisierungsmission zugestanden, die auf Erziehung und Einsichtsfähigkeit basierte. Vielmehr tauchten erste Elemente rassischer Denkweisen des 19. Jahrhunderts auf.623 Genau vor ­diesem Hintergrund ergaben die Ausführungen des Orenburger Gouverneurs Kuris Sinn, der erstmals offen aussprach, dass der stetige Verkauf von Land bezwecke, allmählich kein Land mehr zum Nomadentum übrig zu lassen. Aus der Strategie, den Übergang zur Sesshaftigkeit freiwillig und nur mit Überzeugungskraft bewirken zu wollen, die Verringerung von Weidefläche lediglich als Hilfsmittel zur Konversion zu betrachten, entwickelte sich eine Politik, die in erster Linie auf den Zwang der Verhältnisse setzte.624 621 Ähnliche Vorstellungen hatte vermutlich auch Katharina II., als sie Generalgouverneur Fürst Grigorij Potemkin 1785 anwies, alles dafür zu tun, um die ethnischen Gruppen des kaukasischen Gouvernements sowie des Astrachaner Gebiets in ihrer Denk- und Auffassungsweise (v obraze umstvovanija ich i ponjatija o veščach) „in die allernächste Bekanntschaft und allerengste Verbindung mit den anderen Unserern Untertanen“ zu führen. PSZRI Bd. 22, Nr. 16.194 (9. 5. 1785), 391. 622 Raport senatorov M. G. Spiridova i I. V. Lopuchina Senatu s otčetom ob obsledovanii imi ­Orenburgskoj gubernii. In: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 451 (August 1800), 589 – 600, hier 598 – 599. 623 Mit der Beobachtung, dass gegen Ende des 18. Jh. Elemente rassischer Diskurse festzumachen sind, wird die These von Saliha Belmessous bekräftigt, wonach die Idee der Rasse und rassisches Denken an sich nicht erst im Zuge der modernen Wissenschaften Mitte des 19. Jh., sondern im kolonialen Kontext enttäuschter Akkulturierungs- oder Assimilierungspolitik aufkamen. ­B elmessous , Assimilation and Racialism; B elmessous , Assimiliation and Empire. – Weitere Quellenbeispiele und Belege, in denen behauptet wird‚ die ‚Natur‘ der ethnischen Gruppen stehe einer Veränderungsmöglichkeit entgegen: T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733], in: Izbrannye proizvedenija, 88 (mit Blick auf die „teuflische Natur“ von Juden); L epechin , Dnevnyja zapiski puteščestvija doktora [1771 – 1772], Bd. 1, 168 (mit Blick auf die ,Unkonvertierbarkeit der Wolga-­Heiden‘); A ndreev , Opisanija o žizni i upražnenii obitajuščich v Turuchanskoj i Berezovskoj okrugach, 94 (mit Blick auf Indigene Sibiriens); S lezkine : ­Naturalists versus Nations, 45. 624 In diesen Trend fügt sich auch der Versuch Katharinas II., 250.000 nomadisch lebende Nogaier aus dem Kuban-­Gebiet in die Wolga-­Region 1783 zwangsweise umzusiedeln. Die Umsiedlung,

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Vom Anreiz zur Diskriminierung Bislang sollte dieser ‚Zwang der Verhältnisse‘ primär durch wirtschaftlich und politisch geförderten Landentzug und damit nur mittelbar durch sichtbares menschliches Diktat erfolgen. Der Militärgouverneur von Cherson und Taurien, Andrej Grigor’evič Rosenberg, ging mit seinem Vorschlag, den er 1805 Innenminister Aleksandr Graf Voroncov sowie dem Minister der Landstreitkräfte Sergej Kuz’mič Vjazmitinov unterbreitete, einen Schritt weiter. Ihn störten vor allem die nomadisierenden Nogaier im taurischen Gouvernement, deren Bekehrung zur Sesshaftigkeit (obraščenie)625 er nicht länger mehr auf freiwilligem Wege zu erreichen gedachte.626 Um diese Unruhen zu beenden und sozusagen einen ersten Stein zur Begründung von Moral und Wohlstand bei ­diesem groben Volk [der Nogaier] zu legen, muss man in erster Linie auf spürbare Weise ihm die großen Vorteile eines beständigen Lebens im Vergleich zum Nomadenleben zeigen.627

Nur „durch Vorschriften“ sei diese Einwirkung nicht zu erwarten. „Spürbar“ müsse vielmehr bedeuten, dass man in den nogaischen Siedlungen unaufhörlich einen russländischen Regierungsvertreter habe. Dieser sei innerhalb der bislang ausschließlich in nogaischer Hand geführten „Expedition“ (in d­ iesem Fall eine Art nogaische Selbstverwaltung) als Leiter einzusetzen und müsse in unmittelbarem Kontakt zur Gouvernementsregierung stehen.

die am Widerstand der Nogaier weitgehend scheiterte, sollte zwar auch dazu dienen, potentielle Bündnisse eben dieser mit dem Osmanischen Reich zu verhindern. Als genauso wichtiges Ziel wurde aber die Freimachung des Landes für ausländische Kolonisten angesehen. SIRIO Bd. 26, Teil 1, St. Petersburg 1879, 466 – 468; sowie Bd. 28, 275. 625 Auffällig ist an dieser Quellensprache erneut die Analogie zu den Begrifflichkeiten, die im Rahmen der religiösen Missionierungsoffensive in der ersten Hälfte des 18. Jh. gebraucht wurden – auch dort war von „Bekehrung“ (obraščenie) die Rede. Vgl. Kap. 4.3. 626 Bei den Nogaiern, die im taurischen Gouvernement verblieben, handelte es sich um Abkömmlinge einer tatarischen Horde, die ursprünglich einmal zur großen tatar-­mongolischen Horde gehört hatte und seit dem 16. Jh. ­zwischen den Flüssen Don, Volga und Kuban lebte. Nach dem Russländisch-­Türkischen Krieg von 1768 – 1774 wurde sie vom Zarenreich einverleibt und 1792 gegen ihren Willen aus der Grenzregion zum Osmanischen Reich in die Azov-­Steppe umgesiedelt. Viele Nogaier starben bei dem Versuch, in den Kaukasus zu entfliehen; andere zogen ins taurische Gouvernement. Zehntausende emigrierten Anfang der 1860er Jahre ins Osmanische Reich. Nogajsko-­Russkie otnošenija v XV‒XVIII vv., 232 – 260; S ­ ergeev, Nogajcy na moločnych vodach, 14; ders., Uchod tavričeskich nogajcev; Sunderland, Taming the Wild Field, 60, 64; Skal’kovskij, O nogajskich tatarach živuščich v Tavričeskoj gubernii, 150. 627 PSZRI Bd. 28, Nr. 21752 (13. 5. 1805), 1032 – 1042, hier 1033 (kursiv von R. V.).

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Indem er diese Leute in Ordnung und Gehorsam hält, führt er sie Stück für Stück an das allgemein zivile Leben (k obščej graždanskoj žizni), zur festen Niederlassung und zu Tätigkeiten, die guten Landwirten eigen sind.628

Damit war die Idee geboren, politisch-­administrativ nicht mehr nur über indigene Mittelsmänner, die von der russländischen Zentrale eingesetzt waren, auf die Nomadenvölker Einfluss zu nehmen, sondern auch eigene Leute als ‚Aufpasser‘ und Überwacher vor Ort dauerhaft zu stationieren. Dann erst, so Rosenberg, ließen sich die Probleme beseitigen, die dadurch entstünden, dass die indigenen Anführer kein Russisch könnten, die Kanzleigebräuche nicht kennten und auf diese Weise „natürlich nicht anders als chaotisch handeln könnten“ (estestvenno ne mogli inače dejstvovat’, kak tol’ko bezporjadočno). Um die „Zivilisierung“ (obrazovanie) der Nogaier aber so schnell wie möglich voranzubringen, müsse man bei denen anknüpfen, die im Ackerbau und in der beständigen Sesshaftigkeit schon Fortschritte zeigten. Zu d­ iesem Zweck sei zwei Jahre nach Einführung eines neuen Statuts zur Verwaltung der Nogaier jenen unter ihnen das Recht zu verwehren, als nogaische Vertreter in die „Expedition“ gewählt zu werden, die noch kein Haus für sich gebaut hätten. Nach vier Jahren sei denselben Nogaiern auch das aktive Wahlrecht sowie das Recht zu entziehen, zum Dorfvorsitzenden der Polizei gewählt zu werden.629 Erstmals brachte damit ein hochrangiger Vertreter der Zarenregierung den Gedanken auf, bei ausbleibender Sesshaftigkeit staatsbürgerliche Rechte zu verweigern, die bislang allen nicht-­russischen Untertanen auf der Basis von Selbstverwaltung zugestanden worden waren. Die bisherige Politik der Anreize wurde damit auf der lokalen Ebene zum ersten Mal – wenn auch vorerst nur als Vorschlag – um eine Strategie erweitert, die mit den Mitteln rechtlicher Diskriminierung die ‚zivilisierte‘ Lebensweise durchzusetzen suchte. Innenminister und Reichskanzler Aleksandr Graf Voroncov und der Minister der Landstreitkräfte Sergej Kuz’mič Vjazmitinov, die um ihre Urteile zu Rosenbergs Vorschlag gebeten worden waren, stimmten der Vorlage grundsätzlich zu. Auch sie waren der Ansicht, dass die Administration der Nogaier aus deren eigenen Händen zu lösen und stattdessen dem Zivilgouverneur und an dessen Seite einem russländischen Regierungsvertreter zu übertragen sei. Dieser solle als leitender Vormund die Pflicht haben, die Nogaier an den Übergang vom Nomadendasein zum „beständigen Leben“ zu gewöhnen. Im Unterschied zu Rosenberg warnten sie jedoch in der Tradition der vorherrschenden Diskurse des 18. Jahrhunderts vor der Anwendung jeglicher Zwangsmittel und setzten darauf, dass die Nogaier 628 Ebd. 629 PSZRI Bd. 28, Nr. 21.752 (13. 5. 1805), 1032 – 1042, hier 1034.

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die Vorteile des „beständigen Lebens“ schon selbst spüren und nachahmenswert finden würden.630 Das Statut, das Zar Alexander I. zur neuen Verwaltung der Nogaier des Taurischen Gouvernements 1805 in Kraft treten ließ, entsprach am Ende weit mehr den Vorstellungen seines Chersoner Militärgouverneurs Rosenberg. Nicht nur entmachtete er mit einem Schlag die bisherige nogaische Selbstverwaltung (ėkspedicija) und ersetzte sie durch einen russländischen Beamten (pristav), der dem taurischen Zivilgouverneur untergeordnet wurde und dessen Amt gewählten Nogaiern gar nicht offen stehen sollte. Vor allem griff der Zar die von Rosenberg ins Spiel gebrachte neue Idee auf, jenen Nogaiern staatsbürgerliche Rechte zu entziehen, die sich der Übernahme der von der russländischen Regierung angeordneten Lebensweise verweigerten: Wer weiterhin ein Nomadenleben führe, werde sowohl vom passiven als auch vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen und verliere damit die Möglichkeit, pro Dorf, Gehöft oder Gezelt Älteste für die Landpolizei zu bestimmen.631 Schon Katharina II. hatte bei der Einberufung der Gesetzgebenden Kommission Nomaden davon ausgeschlossen, Vertreter zur Versammlung in die Hauptstadt zu entsenden, und sie damit der Möglichkeit beraubt, an den Beratungen über ihren eigenen künftigen Rechtsstatus teilzuhaben.632 In ­diesem Fall handelte es sich um eine einmalige Diskriminierung und um die Verweigerung von Mitspracherechten auf der Reichsebene. Mit dem Verbot für nomadische Nogaier, an der Wahl von Dorfältesten je Gehöft, Dorf oder Gezelt teilzuhaben, verweigerte ihnen das Statut jedoch ein Mitspracherecht auf der elementarsten Ebene ihres alltäglichen Lebens. Zudem sollte sich die Behandlung der Nogaier erstmals nach ihrem individuellen Zivilisierungsfortschritt richten. Damit verschärfte die Zarenregierung den Grad des Drucks ihrer kolonial verfassten Politik gegenüber denjenigen, die nicht bereit waren, ihre Lebensweise derjenigen der expandierenden russländischen Staatsmacht anzupassen.633 630 PSZRI Bd. 28, Nr. 21.752 (13. 5. 1805), 1032 – 1042, hier 1041. 631 PSZRI Bd. 28, Nr. 21.752 (13. 5. 1805), 1042. 632 PSZRI Bd. 17, Nr. 12.801 (14. 12. 1766), 1092 – 1110, hier 1094. – Am Ende schafften es drei Vertreter der nomadisierenden Jakuten und Burjaten dann doch, an den Arbeiten der Kommission teilzunehmen. Entgegen den Regeln für die Delegiertenwahl, an deren Ausarbeitung Katharina II. federführend beteiligt war und die explizit Nomadenvölker von der Teilnahme ausschloss, und entgegen dem abschlägigen Urteil des eigens dafür angerufenen Senats hatte die Zarin in einer persönlichen Entscheidung die Teilnahme eines Jakuten ermöglicht. Offenbar spielte die Tatsache eine Rolle, dass er zumindest im Winter sesshaft lebte. Die beiden burjatischen Delegierten ließ der Senat auf eigene Faust zu; der Grund für das Einlenken ist unklar. F edorov , Pravovoe položenie, 158 – 162. 633 Nur sieben Jahre ­später ärgerte sich der als Aufpasser und Überwacher (russkij pristav) eingesetzte de Maisons derartig darüber, dass mehrere hundert nogaische Haushalte weiterhin keine Häuser errichtet hatten, stattdessen die meisten neben den neu erbauten Häusern in ihren nomadischen

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Wie weit die Expansion noch voranschreiten sollte, war dabei alles andere als geklärt. Der Blickwechsel weg von den Menschen hin zu den Territorien, deren Bodenschätzen und dem daraus erwarteten Gewinn ließ ein weiteres Vordringen des Reiches gen Süden nur opportun erscheinen.634 Als der Kollegienrat D ­ emidov Zar Alexander I. 1825 seine Pläne erläuterte, die Sibirische und Orenburger Festungslinien gen Süden und damit in die Tiefe kasachischer Siedlungsräume zu verlegen, begründete er den anvisierten erneuten Expansionsvorstoß damit, dass „die Natur selbst es dem Russländischen Staat vorherbestimmte, seine Militärgrenzen in das Innere der kasachischen Steppen zu verlegen“.635

Regionale Vielfalt Welche Auffassungen herrschten unter den imperialen Akteuren im Nordpazifikraum und in Russisch-­Amerika vor? Die Einführung von Ackerbau und Sesshaftigkeit besaß hier keinen vergleichbar hohen Stellenwert wie in den südlichen Steppen. Schon in Ostsibirien und im Fernen Osten hatte die Zentrale bis ins ausgehende Jahrhundert nur zögerlich eine Politik verfolgt, ­welche die Einführung von Ackerbau und einer damit verbundenen Sesshaftigkeit unter den nicht-­russischen Untertanen unterstützte.636 Zu groß war entweder das fiskalische Interesse an den

Zelten lebten, dass er die Zelte beschlagnahmte, verbrannte und „feste Häuser“ zur einzigen Option machte. S ergeev , Nogaicy na moločnych vodach, 32; S underland , Taming the Wild Field, 104. – Auch im Falle der autochthonen Bevölkerung in Sibirien und Fernost gestand die Zarenadministration nach 1800 nur noch jenen Landgrundstücke zu, w ­ elche vollständig sesshaft geworden waren. F edorov , Pravovoe položenie, 75 – 80. 634 S underland , Imperial Space, 33 – 66. – Dabei gerieten teilweise auch Bodenschätze ins Visier, und dies nicht nur in den südlichen Steppen. So waren es vermutlich die Bodenschätze, die 1789 den Kaiserlichen Rat bewogen, der jakutischen Bevölkerung im Fernen Osten eine Absage in der Frage zu erteilen, ob sie bei den von ihnen genutzten und teilweise beackerten Landgrundstücken ein Recht auf Eigentum hätten. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde dies explizit gemacht: Der Irkutsker Gouverneur stellte 1806 fest, dass die inorodcy („Fremdstämmige“) nur ein Verfügungsrecht für ihre Ländereien besäßen. Der Staatsrat bestätigte dies 1818 (präzisiert 1824) mit dem Hinweis, dass nur dem Staat und privaten Gewerbetreibenden das Recht auf Ausbeutung der Bodenschätze zustehe. PSZRI Bd. 35, Nr. 27.501 (22. 8. 1818), 537; F edorov , Pravovoe položenie, 79. 35 Zapiska kolležskogo sovetnika Demidova na imja imp. Aleksandra I o perenose Sibirskoj i 6 Orenburgskoj pograničnych linij v glub’ Kazachstana. In: KRO Bd. 2, Nr. 127 (nicht ­später als Aug. 1825), 217 – 220, hier 218. 636 Während die Gouvernementsregierung die ersten drei Jahrzehnte von den ungetauften jasak zahlenden Untertanen, die den Ackerbau einzuführen versuchten, eine Abgabe (obrok) verlangten, gewährte ihnen die Zentralregierung ab 1740 eine dreijährige Befreiung von der Abgabe, sofern sie weiterhin die Tierfelljagd fortsetzten. PSZRI Bd. 11, Nr. 8017 (1. 2. 1740), 20 – 31, hier 31; F edorov , Pravovoe položenie, 65 – 67; Z alkind , Obščestvennyj stroj burjat, 24 – 47; K im , Iz

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Einnahmen von Jagderträgen wandernder jasak-­Zahler (Zobel) oder der Bedarf an Arbeitskräften für die ersten (meist erzverarbeitenden) Fabriken.637 Auch im Nordpazifikraum und in Russisch-­Alaska stellten Ackerbau und Sesshaftigkeit daher lediglich zwei von mehreren Elementen der ‚Zivilisierungs‘politik dar und waren von vornherein in eine weit umfassendere Zivilisierungsmission eingebettet, als dies in der Steppenregion der Fall war. Ivan Alfereevič Pil’, Generalgouverneur von Irkutsk, wies den erfolgreichen Kaufmann und Eroberer Grigorij Ivanovič Šelichov 1794 an, bei den Ansiedlungen in Nordamerika dafür zu sorgen, „dass die ungebildeten Köpfe der einheimischen Amerikaner durch die Beispiele der guten Lebensweise der Russen geprägt werden“. Sie s­ eien nicht nur mit dem Lebensstil, den Gebräuchen, Wissenschaften und Künsten der Russen bekannt zu machen, sondern auch mit den landwirtschaftlichen Methoden und der Viehfütterung. Bei Zweifeln an der Loyalität der Einheimischen s­ eien Geisel zu nehmen, denen man die Vorteile „unseres Lebensstils beibringen“ werde und ihnen auf diese Weise helfe, diesen Lebensstil unter ihnen zu etablieren. […] Versuchen Sie, die einheimischen Amerikaner von Wilden in zivilisierte Personen zu verwandeln (amerikancov prevratit’ iz dikich v obchoditel’nych). Verändern Sie sie von Personen, die die Notwendigkeit von Bildung nicht verstehen, in s­ olche, die Lernen wertschätzen; von solchen, die keinen Glauben haben, kein Wissen von der Existenz Gottes hin zu Christen. Kurz, bringen Sie sie zur Erkenntnis und erwecken Sie in ihnen ein Gefühl für all die Tätigkeiten, die Russen leisten.638

Auch wenn der Ackerbau nur als eine von vielen beizubringenden Tätigkeiten galt, war er doch zur Versorgung der russländischen Siedler unabdingbar. Vor

istorii zemledelija u burjat, 99 – 125; B ašarin , Iz istorii priobščenija jakutov; S afronov , Russkie krest’jane v Jakutii. 637 So beklagte sich ein Delegierter der Evenken (früher auch Tungusen genannt) im Rahmen der Sitzungen der von Katharina II. eingesetzten „Gesetzgebenden Kommission“ darüber, dass Angehörige seiner ethnischen Gruppe, die nach ihrer Taufe zusammen mit Russen lebten und Ackerbau betrieben, gezwungen worden s­ eien, den Ackerbau aufzugeben und schwere Fabrikarbeit zu leisten. V Kommisiju o sočinenii Novago Uloženija goroda Nerčinska deputata knjazja Pavla Gantimurova primečanie. In: SIRIO Bd. 32 (1881), Nr. 21 (1. 5. 1768), 392 – 393; F eodorov , Pravovoe položenie, 171. 638 Order irkutskogo general-­gubernatora I. A. Pilja G. I. Šelichovu. In: Russkie otkrytija v Tichom okeane, Nr. 43 (11. 5. 1794), 323 – 336, hier 331 – 332. – Ivan A. Pil’ hatte bereits 1792 die Zustimmung des Kaiserlichen Rates dafür gewonnen, die Einführung des Ackerbaus bei den Burjaten und Tungusen finanziell in großem Umfang zu unterstützen. Er stellte ihnen Saatgut sowie landwirtschaftliche Geräte zur Verfügung. Archiv Gosudarstvennogo soveta, Bd. 1, Teil 2, St. Petersburg 1869, 263 – 264 (10. 1. 1793); F edorov , Pravovoe položenie, 66.

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d­ iesem Hintergrund suchte Šelichov gezielt „russische“ Familien aus, die er auf dem Festland wie auf einzelnen Kurilen-­Inseln mit dem Auftrag ansiedeln ließ, Landwirtschaft und mit ihr „die russische Lebensweise“ einzuführen. Stets s­ eien einheimische amerikanische Männer und Frauen dafür zu gewinnen, sich gemeinsam mit den Russen anzusiedeln. Wenn man dabei Gefangene nutze, so Šelichov gegenüber seinem Verwalter der Nord-­Ost-­Gesellschaft Aleksandr A. Baranov, könnten diese eine größere Zuverlässigkeit und besseren Gehorsam gegenüber den „russischen Siedlern“ entwickeln.639 Doch die Ackerbaubemühungen Šelichovs und auch die seines Nachfolgers Aleksandr Baranov scheiterten auf ganzer Linie: an den klimatischen Gegebenheiten, am indigenen Widerstand, am Mangel an freiwilligen und geeigneten russländischen Siedlern, an Streitigkeiten der Siedler untereinander und an der schwierigen Versorgungslage.640 Das Engagement der 1799 gegründeten Russisch-­ Amerikanischen Handelsgesellschaft (RAK) konzentrierte sich daher auch weniger auf den Ackerbau und die Kolonisation als auf das ungeminderte Einkommen an Fellen.641 Die größte Gemeinsamkeit ­zwischen dem russländischen Vorgehen gegenüber den Einheimischen in Fernost, im Nordpazifikraum und in Russisch-­Alaska und jenem gegenüber den Steppennomaden im Süden lag im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vor allem in dem Zustand von Rechtlosigkeit, der den Indigenen beschieden war. Erst das Statut des Reformers Michail Michajlovič Speranskij von 1822 sollte hier zumindest mit Blick auf Sibirien, Fernost und die Steppennomaden im Süden Abhilfe schaffen und der Schutzlosigkeit rechtliche Riegel vorschieben:642 Um die administrative Willkür einzudämmen, hatte Speranskij, 639 Pis’mo G. I. Šelichova pravitelju Severo-­vostočnoj amerikanskoj kompanii A. A. Baranovu. In: Andreev (Hg.), Russkie otkrytija v Tichom okeane, Nr. 44 (9. 8. 1794), 336 – 353, hier 345, 353. 640 F edorova , Russkoe naselenie Aljaski i Kalifornii; G rinëv , The First Russian Settlers in Alaska. 641 Die RAK erhielt für zwanzig Jahre das Handelsmonopol in Russisch-­Amerika, so dass nach dem Vorbild der Monopolgesellschaften anderer Kolonialstaaten der Wettbewerb ausgeschaltet blieb. – Zum wirtschaftlichen Interesse der RAK an Fellen G rinëv , The First Russian Settlers in Alaska, 466 f; V inkovetsky , The Russian-­American Company as a Colonial Contractor, 171; W heeler , The Russian Amcerican Company. 642 Bereits im Rahmen der Arbeiten der Gesetzgebenden Kommission unter Katharina II . war 1768/1769 an einem Gesetzesprojekt zur Klärung der „Rechte nomadischer Völker“ gearbeitet worden. Das Projekt erreichte die Kommissionsleitung (direkcionnaja komissija), wo es anschließend versandete. Allerdings geht aus der im Gesetzesprojekt verwendeten Definition von ‚Nomaden‘ hervor, dass damit ausschließlich die Nomadenvölker in Sibirien und Fernost, nicht aber Steppenvölker im Süden des Reiches gemeint waren. Die Definition findet sich in Proekt pravam tret’jago ili nižnajago roda gosudarstvennych žitelej, podpisannyj členami kommissii o gosudarstvennych rodach (Okt. 1774). Kap. VI: Pravo kočujuščich narodov, Teil 1: SIRIO Bd. 36, 285; F edorov , Pravovoe položenie, 173 – 175. – Ein Beispiel für die Schutzlosigkeit der Steppen­ nomaden war die über viele Jahre hin uneingeschränkt bestehende Möglichkeit, kasachische

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der von 1819 bis 1821 in Sibirien als Generalgouverneur eingesetzt worden war, Regeln für die Verwaltung der „Fremdstämmigen“ (inorodcy) und eine neue Verwaltungsordnung für ganz Sibirien ausgearbeitet.643 Unter das Statut für inorodcy fielen von den Steppennomaden zunächst nur die Kasachen der Mittleren Horde (unter der Bezeichnung „sibirische Kirgisen“), ab 1824 auch jene der Kleinen und bis 1848 schrittweise auch jene der Großen Horde.644 Erstmals wurde darin festgehalten, dass es ab sofort keine rechtlichen Unterschiede mehr z­ wischen den Nomaden, die „hinter den Linien“ (­ zalinejnye) lebten, und jenen „treuen Untertanen“ (vernopoddannye) geben dürfe, die diesseits der Linien siedelten.645 Die Nomaden erhielten zwar manche Sonderbestimmungen. Im Statut aber wurden sie erstmals als Staatsbürger gleichen Ranges bezeichnet, deren Bewegung ins „Innere“ der Linie und wieder zurück nicht eingeschränkt werden dürfe. Zudem wurde der Erwerb von Kasachen als Unfreie künftig verboten.646 Das Statut war zwar aus Sicht der Steppennomaden ein Meilenstein auf dem Weg zu weniger Willkür. Es änderte jedoch nichts daran, dass ihnen im Gegensatz zu Sesshaften das Recht auf Landeigentum abgesprochen wurde. Dies galt in gleicher Weise für die Steppennomaden wie für die nicht-­sesshafte indigene

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Kinder von verarmten Eltern zu kaufen und die Kinder bei sich als Leibeigene zu halten. Eltern sahen im Verkauf ihrer Kinder oft die einzige Möglichkeit zu deren und zum eigenen Überleben. Zum Umgang mit dem Thema und zur Diskussion, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, siehe PSRZI Bd. 30, Nr. 23.038 (23. 5. 1808), 275 – 276); Bd. 38, Nr. 29.056 (30. 5. 1822), 216 – 218; Bd. 40, Nr. 30.528 (8. 10. 1825), 520 – 521. – Die indigene Bevölkerung in Russisch-­Alaska hing von den Regeln der RAK ab. Diese untersagte erst mit ihrem Statut von 1821, dass von den Einheimischen keine Geisel mehr gewaltsam zu nehmen s­ eien. PSRZI Bd. 37, Nr. 28.756 (13. 9. 1821), 842 – 854, hier 851 – 852. Der Begriff inorodcy („Fremdstämmige“) trat seit Ende des 18. Jh. allmählich an die Stelle des Terminus inovercy („Andergläubige“). Er war erstmals in einem 1798 ausgearbeiteten Gesetzesprojekt zu den „sibirischen Fremdstämmigen“ verwandt worden. S locum , Who, and When, Were the Inorodtsy?; F eodorov , Pravovoe položenie, 179 – 181; K appeler , Kak klassificirovali russkie istočniki; S okolovskij , Obrazy Drugich. PSZRI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 417 – 433. Damit war insbesondere auch eine Angleichung der Rechte an jene Kasachen intendiert, die unter der Führung des Sultans Bukej 1801 die Erlaubnis von Zar Alexander I. erhalten hatten, den Ural-­Fluss zu überqueren und mit ihrem Vieh dauerhaft in den einst von den Kalmücken besiedelten Gebieten z­ wischen den Flüssen Ural und Wolga zu weiden. Diesen kasachischen Verband bezeichnete die Zarenregierung in Anlehnung an den Namen ihres ersten Herrschers als „Buchenbach-­Horde“ (Bukeevskaja orda) oder als „Innere Horde“, da sie sich ‚innerhalb‘ der Festungslinien aufhalten durften. Die Zarenregierung hatte Sultan Bukej, den sie 1812 zum Chan ernannte, mit denselben Rechten auf Landbesitz ausgestattet, wie sie in den „inneren“ russländischen Gouverne­ments galten. Trotz großer Anstrengungen der Regierung, die Buchenbach-­Horde in die Sesshaftigkeit zu überführen, erzielte sie bis Mitte des 19. Jh. auch hier keine großen Erfolge. B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 95 – 103. – Mehr zur Buchenbach-­Horde in Kap. 4.2 und 4.5. PSZRI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 417 – 433, § 280, 281.

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Bevölkerung in Sibirien und Fernost.647 Ihre Lebensweise galt weiterhin als rückständig und als ein zu überwindendes Relikt alter Zeiten. Auch das Speranskij-­ Statut nahm in dieser Hinsicht kein Blatt vor den Mund. Im Paragraphen zur „Beweglichkeit der Festungslinien“ folgte auf den Hinweis, dass die Linie nicht für alle Ewigkeiten als eine Einrichtung zur Bewachung konzipiert sei, die Erläuterung: Vielmehr solle sich diese Bewachung in dem Maße, „in dem sich in den von den Kirgisen [Kasachen] besiedelten Gebieten Ordnung verbreitet, nach vorn bewegen, und am Ende soll sie [die Linie] in einer ständigen Einrichtung als tatsächliche Staatsgrenze enden“.648 Diese „Ordnung“ bedeutete nichts anderes als die Überführung von Land und Leuten in den Ackerbau und in die Sesshaftigkeit.

Zusammenfassung und Ausblick Die Sesshaftigkeitsoffensiven der russländischen Regierung im 18. Jahrhundert sahen regional sehr unterschiedlich aus und richteten sich nach den je nach Gebiet variierenden Bedürfnissen der Administration. In den südlichen Steppenregionen verliefen die Sesshaftigkeitsbemühungen am intensivsten. Hier galt es nicht nur, den Überfällen auf Siedlungen russischer Bauern Einhalt zu bieten. Vor allem bedrohten die Steppennomaden mit ihrem Lebensstil das schon von Peter I. anvisierte Ziel, den vielversprechenden Handel entlang der Seidenstraße und mit Indien auszubauen. Die ersten größeren Bemühungen, die Steppennomaden im Süden des Russländischen Reiches in die Sesshaftigkeit zu überführen, finden sich in den späten 1730er Jahren unter der Herrschaft von Zarin Anna gegenüber den Kalmücken. Der aufkommende Anspruch, nicht-­sesshafte ethnische Gruppen zu transformieren, leitete jedoch keinen Bruch zur Politik der petrinischen Ära ein. Im Gegenteil, die Diskurse, die in Sesshaftigkeitsoffensiven mündeten, fußten auf der von Peter I. forcierten Uminterpretation indigener Andersartigkeit in eine kulturelle Rückständigkeit. Die unter Zarin Anna entwickelten Konzepte zur Transformation führten den von den Frühaufklärern um Peter I. propagierten Anspruch, religiöse Konversion als Bildungsoffensive und mithin als umfassenden Identitätswandel zu begreifen, lediglich fort. Sie erweiterte den Anspruch um den Aspekt der Sesshaftigkeit, löste allerdings nicht die Christianisierungspolitik ab. Für die Kongruenz der Bemühungen, Religion wie Lebensweise nachhaltig zu verändern, stand vor allem die Gründung der Wolgastadt Stavropol’. Mit dieser nahtlosen Erweiterung des Transformationsanspruchs ging eine Reihe von methodischen Kongruenzen z­ wischen den Offensiven zur Konversion 647 F edorov , Pravovoe položenie, 80. 648 PSZRI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 417 – 433, § 316.

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in der Religion und in der Lebensweise einher. Sie zeigten sich in der Konzeption, durch eine Politik der Anreize für die Konversion zuerst die Elite einer ethnischen Gruppe einzunehmen, von der anschließend erhofft wurde, dass sie Strahlkraft auf die ganze Gruppe entfalten werde. Der Anspruch, die notwendigen Kenntnisse mit Hilfe ‚russischer Zivilisationsträger‘ vermitteln zu können, war ebenso beiden Offensiven gemeinsam wie der Wandel, von einer anfänglichen Politik der Anreize zu einer des mittelbaren und unmittelbaren Drucks überzugehen. Beide Politikansätze hielten auf der Basis eines erst im 18. Jahrhundert entwickelten zivilisatorischen Imperativs den Eingriff in das Leben der Indigenen für unerlässlich, gingen prinzipiell von der Erziehbarkeit der Einheimischen aus und können daher als Zivilisierungsstrategien bezeichnet werden. In der strukturellen Analogie zu französischen imperialen Zivilisierungsbemühungen auf der Basis der Rezeption der Aufklärung, mit der sich die Diskurse zur Sesshaftigkeitsoffensive von den großen Visionen hin zur Ernüchterung und Enttäuschung über die ‚zivilisierungsunwilligen‘ Indigenen entwickelten, zeigt sich, wie sehr das Russländische Reich in den gesamteuropäischen Kontext eingebettet war.649 Entgegen einer verbreiteten Sicht marschierte die imperiale Elite des Zarenreiches dabei, wie schon in der Entwicklung von Zivilisationsvorstellungen, auch in der Konzipierung imperialer Politik entlang aufklärerischer Stufenmodelle der Menschheitsentwicklung im europäischen Vergleich eher im Gleichschritt mit Frankreich oder sogar vorneweg.650 Wenn auch im Zarenreich des 18. Jahrhunderts noch kaum eine vom Staat getrennt zu sehende Gesellschaft, keine Öffentlichkeit der philosophes, auszumachen war, rezipierten seine imperialen Akteure intensiv Denkmodelle europäischer Aufklärung und leiteten daraus eine eigene Politik gegenüber den nicht-­christlichen ethnischen Gruppen des Reiches ab. Bislang hat die Forschung zur Aufklärung in ‚Russland‘ die Breite und die Folgen dieser Rezeption für die imperiale Politik noch kaum zur Kenntnis genommen. Vor dem Hintergrund eines interimperialen Vergleichs von Zivilisierungsstrategien fällt die Politik der Assimilierung, wie sie gerade in der Sesshaftigkeitsoffensive des Russländischen Reiches von Beginn an angestrebt und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durchgehend beibehalten wurde, als eine Besonderheit auf. Von den europäischen Kolonialmächten des 18. Jahrhunderts verfolgte nur Frankreich einen vergleichbaren Akkulturierungs- bis Assimilierungsdiskurs, wie zum Beispiel 649 T ricoire , Enlightened Colonialism?; T ricoire , Der koloniale Traum; O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 30 – 31. 650 Damien Tricoire macht in der französischen Kolonialpolitik erst für die Zeit nach 1763 erste Ideen der Zivilisierungspolitik und einer Zivilisierungsmission aus. T ricoire , Der koloniale Traum, 330 f. – Jürgen Osterhammel spart das Russländische Reich gänzlich aus, wenn er eine Geschichte der ­Theorie und Praxis der Zivilisierungsmission erst „im späten 18. Jahrhundert“ sowie „zunächst in Frankreich und Großbritannien“ ansetzten lässt. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 1175.

Wirtschaft und Lebensweise: Offensive für Sesshaftigkeit

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auf Madagaskar. Der entscheidende Unterschied ­zwischen der russländischen und französischen Variante besteht jedoch darin, dass im französischen Fall der Assimilierungsdiskurs erst durch das universalhistorische Narrativ der Spätaufklärung in Form der Zivilisationsleiter angestoßen wurde. Im Russländischen Reich hingegen etablierte sich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und damit in der Frühphase der Rezeption aufklärerischer Narrative nicht nur ein Diskurs, sondern auch eine Politik der Akkulturierung und partiellen Assimilierung. Damit war die Akkulturations- und partiell sogar die Assimilationsabsicht von Anfang an der russländischen Zivilisierungspolitik inhärent. Von einer Übertragung französischer Zivilisierungskonzeptionen, die die Assimilation beinhalteten, auf das Zarenreich ab den 1770er Jahren kann daher keine Rede sein.651 Vielmehr ging das Russländische Reich in dieser Hinsicht einen von den übrigen europäischen Imperien deutlich verschiedenen Weg. Auf diesen Aspekt wird in der Schlussbetrachtung der Arbeit noch einmal zurückzukommen sein. Aber nicht nur die Akkulturation, auch die Dezimierung der Nomaden, sei es durch Verringerung ihres Viehbestands oder durch die Verringerung der Landfläche, die ihnen zum Umherwandern zur Verfügung stand, erhielt die Zustimmung der Zentrale. Die Option der Vertreibung wurde im Falle der kasachischen Horden zwar zur Diskussion gestellt, zu keinem Zeitpunkt aber als Lösung angesehen. Dies hing in erster Linie mit der interimperialen Konkurrenz asiatischer Großreiche zusammen, allen voran mit China. Die Befürchtung, die Horden der Kasachen durch Vertreibung an China zu verlieren und damit das ‚Reich der Mitte‘ bis an die russländischen Grenzen vordringen zu lassen, sollte um jeden Preis vermieden werden. Stellt man die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen z­ wischen der dargelegten Genese der Sesshaftigkeitsoffensive im 18. und der Politik in den neuen russländischen Besitzungen Zentralasiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so fallen als Erstes die Ähnlichkeiten ins Auge.652 In beiden Fällen ging man zunächst wie selbstverständlich davon aus, dass die Nomaden bereit waren, sich in die Sesshaftigkeit überführen und zur Getreidewirtschaft anleiten zu lassen. In beiden Fällen setzte man auf das „russische Vorbild“, das zur Nachahmung anregen sollte. Und in beiden Fällen versuchte die Regierung Anreize zu setzen, indem sie Mittel zur Unterstützung sesshaftwilliger Nomaden freigab. In beiden Phasen schließlich spielte mit fortschreitendem Ausbleiben einer Lebensveränderung das Gebot, Land effektiv zu n­ utzen, eine große Rolle, um Nomaden zunehmend zu verdrängen. Allerdings nahm dieser Aspekt in den Diskursen und Praktiken des späten 19. Jahrhunderts noch weit größere Ausmaße an als ein Jahrhundert zuvor. 651 T ricoire , Der koloniale Traum, 339. 652 Als Grundlage für diesen Vergleich dient die Arbeit von H ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren.

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Und damit fällt der Blick auf die Unterschiede. Denn während im 18. Jahrhundert die Verringerung des von den Nomaden genutzten Lands aus den Festungsbauten resultierte, aus den beständigen Verlegungen und Erweiterungen der Festungslinien und der von Regierungsseite geförderten Kolonisation, bekämpfte die Zarenregierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Nomaden vor allem mit Hilfe von Gesetzen und deren Umsetzung: Mit der 1868 erfolgten formalen Annexion der kasachischen Steppe und dem Steppenstatut von 1881 wurden von Nomaden „nicht genutzte“ (das hieß: nicht kultivierte) Ländereien dem Ministerium für Staatsdomänen zur Verfügung gestellt. Das „Statut für Turkestan“ versagte 1886 der nomadischen Bevölkerung endgültig das Recht auf Grundbesitz, es sei denn, sie nutzte den Boden für Landwirtschaft oder Häuserbau. Angeblich ungenutztes Land fiel als „überschüssiges Land“ direkt an den Staat.653 Die rechtliche und administrative Unterwerfung der Steppe führte dazu, dass die Nomaden im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr im Fokus des russländischen Zentralasiendiskurses standen. Ihre ‚Zivilisierung‘ stellte kein prominentes Thema mehr dar, und ihre Überführung in die Sesshaftigkeit wurde vorwiegend unter dem Blickwinkel der damit verbundenen Freiwerdung von Weideflächen und des Landgewinns zur Kolonisation diskutiert.654 Demgegenüber beschäftigte die imperiale Elite des 18. Jahrhunderts das Thema, die Nomaden in die Sesshaftigkeit und in den Ackerbau zu überführen, viele Jahrzehnte lang. Die Sesshaftigkeitsoffensive diente zum einen als ­Mittel, um die imperiale Peripherie zu stabilisieren. Zum anderen ergab sie sich aus dem pädagogischen Imperativ, den einige der imperialen Akteure aus ihrer Rezeption der Aufklärung ableiteten. Während dieser pädagogische Auftrag der ‚Bezähmung‘ zuweilen auch mit der Strategie der Entkräftung zusammengedacht wurde, richtete er sich an ethnische Gruppen, die entweder bereits vor langer Zeit zarische Untertanen geworden waren (so die Nogaier, Kabardiner, Kalmücken 653 MipsK Bd. 1, 323 – 340, hier bes. 337, 352 – 379, hier bes. 373 f. und 387 – 400, hier bes. 395; K endirbay , Der Kampf um das Land, 382; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’; H appel , Nomadische Lebenswelten und zarische Politik, 75 – 76. – Zum „überschüssigen“ Land W endelken , Russian Immigration and its Effect, 77. – Zur 1910 erteilten Genehmigung der Regierung an die Umsiedlungsbehörde, die Nomaden nach der Eroberung von Semireč’e zu enteignen, siehe V asil ’ev , Semirečenskaja oblast’ kak kolonija, 80 – 82; K aganovič , Nekotorye problemy carskoj kolonizacii Turkestana, 9. 654 Statt auf eine ‚Zivilisierung‘ der Nomaden setzte Innenminister Stolypin Anfang des 20. Jh., wie schon die imperialen Akteure ein Jh. zuvor, auf den Zwang der Verhältnisse. In seiner Denkschrift zur Kolonisation Sibiriens von 1912 führte er aus, dass die russländische Kolonisation und die mit ihr verbundene Reduktion freier Flächen zugleich auch die „mächtigste und vorläufig einzige Anregung“ sei, um aus Nomaden Ackerbauern zu machen. S tolypin /K rivošein , Die Kolonisation Sibiriens [1912], 111; K indler , Stalins Nomaden, 36.

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und Baschkiren) oder aber an s­ olche, bei denen dies erst seit kurzem der Fall war (die Kleine und Mittlere Horde der Kasachen). Demgegenüber diente die Zivilisierungsmission im 19. Jahrhundert als Legitimation für das V ­ oranschreiten russländischer Eroberung und für die Besatzungsherrschaft selbst. Der Zivilisierungsanspruch wurde damit zu einer abstrakten moralischen Verpflichtung stilisiert, die vor allem instrumentellen Charakter besaß. Dennoch gingen die Blaupausen auch für diese Form einer instrumentalisierten Zivilisierungsmission auf das 18. Jahrhundert zurück, wenn auch damals noch mit dem Schwerpunkt auf einer ‚friedlichen‘ Umerziehung. Auf einem anderen Blatt steht freilich, dass selbst unter den Steppennomaden im Süden die Bemühungen zur Einführung von Haus- und Ackerbau im 18. Jahrhundert, insbesondere unter den Kasachen der Mittleren und Großen Horde, zahlen­ mäßig vorerst nur bescheidene Resultate verbuchen konnten. Doch selbst im 19. Jahrhundert, als weitaus umfangreichere Maßnahmen ergriffen wurden und Enteignungsgesetze den Druck zur Sesshaftwerdung massiv verstärkten, wurde das Ziel der Entnomadisierung Zentralasiens nicht einmal zur Hälfte erreicht. Robert Kindlers jüngst erschienene Studie zu „Stalins Nomaden“ zeigt, dass dem Nomadentum der Kasachen erst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert mit Stalins brutalen Methoden endgültig das Rückgrat gebrochen wurde.655 Die Weichen für die oftmals gewalttätigen Sesshaftigkeitsoffensiven des 19. und 20. Jahrhunderts wurden jedoch in vielerlei Hinsicht im 18. Jahrhundert gelegt, und zwar sowohl diskursiv als auch methodisch.

4.5  Herrschaft und Recht: Transformation indigener Strukturen Imperiale Herrschaft im Russländischen Reich war heterogen. Nicht nur die Verschiedenheit der imperialen Peripherien zwang die Administration zu rechtlich und institutionell unterschiedlichen Herangehensweisen. Zudem existierten weder ein einheitliches politisches Konzept noch eine einheitliche Verwaltung, die den Ausbau russländischer Herrschaft über sämtliche nicht-­christliche Untertanen im Osten und Süden des Reiches angeleitet hätten. Dies galt sowohl für das 18. Jahrhundert als auch für die Zeit danach. Der Prozess der Einverleibung, der Absicherung und Intensivierung russländischer Herrschaft verlief überall auf eigene Weise. Lokale historische und politische Traditionen, gesellschaftliche Strukturen, indigene Widerstände, der Zeitpunkt der Bezwingung oder Eingliederung, das russländische Interesse sowie imperiale Rivalitäten sorgten je nach Region für große

655 K indler , Stalins Nomaden.

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Unterschiede und erzwangen vom Zentrum und von der lokalen russländischen Administration eine große Flexibilität.656 Dennoch stellt sich die Frage, ob es bei der Durchdringung und Zersetzung indigener Herrschaftsstrukturen im Süden und Osten des Reiches nicht Konzepte und Praktiken gab, auf w ­ elche die imperiale russländische Elite gegenüber verschiedenen ethnischen Gruppen in gleicher oder sehr ähnlicher Weise zurückgriff. Andreas Kappeler hat in seinem vor 25 Jahren erschienenen Standardwerk „Russland als Vielvölkerreich“ bereits darauf hingewiesen, dass die Zarenadministration neben einem repressiven Politikansatz grundsätzlich immer auch die Zusammenarbeit mit loyalen nicht-­russischen Eliten suchte und weitestgehend die Beibehaltung des Status quo garantierte. Zudem arbeitete er die Kooptation nicht-­russischer Eliten in den russländischen Adel als eine entscheidende Methode des Zarenreiches zur Integration jener ethnischen Gruppen heraus, die eine Sozialstruktur aufwiesen, die der russischen ähnlich war.657 Wie aber erfolgte die Inkorporation nicht-­russischer ethnischer Gruppen mit einer deutlich anderen Sozialstruktur und einer zumeist nomadischen Lebensweise? Gab es auch hier einen gemeinsamen Ansatz oder gar Lerneffekte? Lassen sich trotz großer Unterschiede z­ wischen den nomadischen Herrschaftsverbänden transregionale Praktiken herausarbeiten, mit denen die russländische Elite die indigenen Herrschaftsstrukturen aushöhlte und durch russländische Institutionen ersetzte? Auf der Suche nach Antworten ist nach Mustern der Loyalisierung, ‚Zivilisierung‘ und der politischen Entmachtung indigener Eliten durch die Zarenadministration zu suchen. Mit dem Begriff der ‚Loyalität‘ wird herrschaftssoziologisch eine Disposition beschrieben, die sich „auf die Annahme der Legitimität von Herrschaft stützt und die die Ausübung von Herrschaft ohne direkte Anwendung von Zwang ermöglicht“. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei die Herstellung von Loyalität im herrschaftssoziologischen Sinne nicht einseitig erfolgen kann, sondern immer auf gewissen Aushandlungsprozessen mit dem Gegenüber basiert.658 Bei den zu analysierenden Loyalisierungs- und ‚Zivilisierungs‘-Bemühungen liegt daher zwar der Fokus auf der russländischen imperialen Elite. Jedoch müssen mögliche Muster und Konzepte vor dem Hintergrund der Prägungen gesehen werden, die diese durch Begegnungen und Erfahrungen mit der indigenen Bevölkerung erhielten. Immer fließen daher auch Vorstellungen und Handlungsweisen 656 K appeler , Historische Voraussetzungen des Nationalitätenproblems; ders ., Rußland als Vielvölkerreich; R aeff , Patterns of Russian Imperial Policy. 657 Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich, 33, 50 – 51, 64 – 65; ders., Centr i Ėlity Periferii; ­Kamenskij, Ėlity Rossijskoj imperii. 658 S chulze W essel , „Loyalität“ als geschichtlicher Grundbegriff, 11, 18; O sterkamp /S chulze W essel , Texturen von Loyalität, 553 – 573, 557, 563; O sterkamp /S chulze W essel , Exploring Loyalty; C ole /U nowsky (Hg.), The Limits of Loyalty.

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der Beherrschten mit ein. Gleichwohl bringt das erkenntnisleitende Interesse der Studie eine asymmetrische Betrachtungsweise mit sich. Im Folgenden wird das russländische Vorgehen zur politischen Entmachtung der Steppenvölker im Südosten am Beispiel der Kalmücken und der Kasachen der Kleinen Horde verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt. Es werden nicht die Details des Niedergangs kalmückischer wie kasachischer Autonomie im Fokus stehen, da sie in der Literatur zur Genüge bekannt sind.659 Vielmehr geht es um grundlegende Methoden russländischer Unterwerfung, um deren Wandel im Laufe des 18. Jahrhunderts und um die Wendepunkte in den Machtbeziehungen ­zwischen der russländischen und der indigenen Seite, die in der Literatur bislang zu wenig beleuchtet wurden. Die administrative Politik gegenüber den Kalmücken und Kasachen eignet sich besonders zur Analyse, weil bei ihnen die politische Herausforderung für die Zarenregierungen besonders groß war. Anders als viele andere ethnische Gruppen, die militärisch bezwungen worden waren und denen anschließend eine Administration mit russländischer Führung aufoktroyiert wurde, waren die Anführer der genannten Steppenvölker dem Zarenreich ‚freiwillig‘ beigetreten.660 Zudem besaßen beide ethnische Gruppen eine ausdifferenzierte Sozialstruktur.661 Beide verfügten auch 659 Zu den Kalmücken: N ovoletov , Kalmyki; Pal’mov, Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov; P reobreženskij , Kalmykija v pervoj polovine XVII v.; S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met; ders . Russia’s Steppe Frontier; M aksimov , Istorija nacional’noj gosudarstvennosti Kalmykii. – Zu den Kasachen: V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj; V jatkin , Očerki po istorii Kazachskoj SSR; ders ., Batyr Srym; A pollova , Ėkonomičeskie i političeskie svjazi; Z imanov , Političeskij stroj Kazachstana; B ekmachanova , Formirovanie mnogonacional’nogo naselenija Kazachstana; dies ., Rossija i Kazachstan; dies ., Prisoedinenie Central’noj Azii; B asin /S ulejmenov , Kazachstan v sostave Rossii; O lcott , The Kazakhs; E rofeeva , Chan Abulchair; Istorija Kazachstana; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana; A sfendiarov , Istorija Kazachstana; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’. 660 Tatsächlich erfolgte die Entscheidung zum Beitritt der Kasachen der Kleinen Horde in die russländische Untertanenschaft nur bedingt freiwillig. Zwar spielten auch persönliche Motive von Abulchair-­Chan eine Rolle. Doch war sie vor allem eine Folge räumlicher Einkreisung und steppenpolitischer Zwänge. Darüber war sich die Zarenadministration auch im Klaren. So schrieb der Leiter der Orenburger Expedition Ivan Kirilov 1734 an Zarin Anna: „Der kirgisisch-­kasachische Chan ist nicht freiwillig in die Untertanenschaft gegangen, sondern nur, weil er hinter sich die Karakalpaken und Kalmücken hatte, und aus dem Landesinneren von der neuen Stadt her die Kosaken, so daß er nirgendwohin mehr ausweichen konnte“. Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirillova na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114, hier 113/114. – Eine differenzierte Analyse bei E rofeeva , Chan Abulchair. – Jürgen Osterhammel bezeichnet die sog. freiwillige Unterwerfung, um sich vor einem noch unerfreulicheren Nachbarn zu s­ chützen, als einen der ältesten und verbreitetsten Mechanismus der Reichserweiterung. O sterhammel , Die Verwandlung der Welt, 637. 661 Die kalmückische Gesellschaft war durch den Gegensatz ­zwischen einer elitären Aristokratie (‚weißer Knochen‘), deren gesellschaftliche Stellung und Titel erblich waren, und dem lamaistischen

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über gewachsene politische Herrschaftsstrukturen sowie über eine langtradierte politische Kultur. Infolgedessen musste die russländische Seite mit besonderem Geschick und außerordentlicher Umsicht vorgehen, um mit einer Transformation dieser Steppenvölker nach den Interessen des Reiches nicht zu große Widerstände hervorzurufen. Dies war umso bedeutsamer, insofern sowohl Kasachen als auch Kalmücken (wie so viele der unterworfenen ethnischen Gruppen im Osten und Süden des Imperiums) ein völlig anderes Verständnis von ihrer Untertanenschaft hatten als die russländische Seite. Zudem verbot sich ein rigoroses Vorgehen angesichts der interimperialen Konkurrenz um Kasachen wie Kalmücken durch die Dsungaren, die Qing-­Dynastie und die Chanate von Buchara und Kokand. Grundlegend war daher jener strategische Ansatz, der die formale Gewährung politischer Autonomie mit einer verdeckt betriebenen zunehmenden Einmischung in die inneren Angelegenheiten kombinierte. Ganz im Gegensatz zum Kurs einer behutsamen Eingliederung (wie gegenüber Kalmücken und Kasachen) stand die Politik, ­welche die russländische Regierung verfolgte, wenn sie bei Einheimischen auf zu viel Widerstand traf. Dies war der Fall bei den Baschkiren. Der Aufstand, mit dem sich die Baschkiren nahezu flächendeckend 1735 gegen die intensivierte russländische Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zur Wehr setzten, mündete in einen fünf Jahre andauernden baschkirisch-­russländischen Krieg und führte mit der Vernichtung aller baschkirischen Rädelsführer, ihrer Familien, dem Aushungern und Abbrennen zahlreicher Siedlungen zu einer demographischen wie wirtschaftlichen Katastrophe.662 Die russländische Elite brach bereits kurz nach Beginn der Kämpfe mit ihrer vorherigen Politik, Zugeständnisse geschickt auszuhandeln und sich schleichend in innere Angelegenheiten einzumischen. Priorität erhielt eine Politik der harten Hand: Als illoyal geltende Baschkiren wurden deportiert oder ihrer herausgehobenen Klerus einerseits sowie der Masse der abhängigen Bevölkerung (‚schwarzer Knochen‘) andererseits gekennzeichnet. Der Begriff „Knochen“ (jasun bzw. russ. kost’) bezeichnete die patrilineare Herkunft im Gegensatz zum Terminus „Fleisch“, der die Verwandtschaft über die mütterliche Linie bezeichnete. Die Aristokratie fächerte sich in drei Schichten auf: den Hochadel (Chan und Tajši), die mittlere Ebene (Nojone) und den Niederadel (Zajsane). S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 272 – 276. – Die kasachische Gesellschaft teilte sich in den Hochadel (‚weißer Knochen‘), den Klerus (‚guter Knochen‘) sowie in die abhängige und Abgaben zahlende Bevölkerung (‚schwarzer Knochen‘), die in sich erneut sozial stark ausdifferenziert war. Nur Mitglieder des Hochadels, Čingissiden (Nachfahren von Čingis-­Chan), hatten Chancen auf die Position des Chans (Sultane). Ihnen gegenüber standen die Anführer des ‚schwarzen Knochens‘, die ihre Position durch persönliche Fähigkeiten erlangt hatten. Zu ihnen zählten Bij (Volksrichter), Batyr (Militärführer) und ‚Älteste‘ (staršina), die sich durch Viehreichtum und intellektuelle Fähigkeiten auszeichneten. Auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchien standen die Sklaven (kas. kuly/russ. raby) und die zumeist fremdstämmigen Hilfsgesellen (telenguty). B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 12 – 18. 662 D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria; S teinwedel , Threads of Empire.

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Stellung enthoben (Entzug des Tarchan-­Status),663 ab 1742 eine permanente Rekru­ tierungspflicht eingeführt, kleinere administrative Einheiten gebildet und vermeintlich „leere Steppenländereien“ aus baschkirischem Besitz von Getöteten, Deportierten oder Geflohenen an russländische Adlige, Offiziere und Kosaken vergeben.664 Damit waren der russländische Führungsanspruch und die Eingliederung in die Staatsstrukturen gesichert, wenngleich sich auch hier der Prozess noch über viele Jahrzehnte hinziehen und weitere Aufstände das Land erschüttern sollten.665 Bei der Bevölkerung Ostsibiriens, des Fernen Ostens und des Nordpazifikraums hingegen ist z­ wischen dem Regierungskurs gegenüber den Burjaten und Jakuten auf der einen und jenem gegenüber kleineren ethnischen Gruppen wie den Čukčen, Korjaken, Itel’menen, Aleuten, den Bewohnern der Kurilen und der Kodjak-­Insel auf der anderen Seite zu unterscheiden.666 Erstere waren nach der brutalen militärischen Bezwingung im 17. Jahrhundert zu Teilen in der Lage, sich im Laufe des 18. Jahrhunderts einerseits an russländische Anforderungen anzupassen und andererseits Freiräume für ihre inneren Belange zu bewahren und wirtschaftlich zu erstarken.667 Oberhäuptern von Clans sowohl der Burjaten als auch der Jakuten verhalf die von der Zentrale geforderte jasak-­Eintreibung, um zu einer privilegierten Gruppe von Vermittlern („kleine Fürsten“, knjažec) ­zwischen der indigenen Bevölkerung und den Moskauer Steuereintreibern aufzusteigen. Ihnen wurden sogar lokale Polizeifunktionen und Gerichtskompetenzen übertragen.668 663 Tarchane bildeten eine privilegierte Schicht und zahlten weder Steuern noch Abgaben. Details zum Tarchan-­Status im Kap. 4.6. 664 S teinwedel , Threads of Empire, bes. 50 – 55; A kmanov , Zemel’naja politika, 24. 665 Ein letztes Mal erhoben sich große Teile der Baschkiren im Rahmen des Pugačev-­Aufstandes von 1775. G vozdikova , Baškortostan nakanune i v gody krest’janskoj voiny; Istorija Baškortostana s drevnejšich vremen; S teinwedel , Threads of Empire, 69 – 74. 666 Einen Überblick bieten die Autoren in S uvorova (Hg.): Aziatskaja Rossija; D ahlmann , Sibirien. – Nominell war Sibirien mit der Auflösung des sibirischen Amtes (sibirskij prikaz) von 1763 in die allgemeine Verwaltung des Russländischen Reiches eingeordnet. Doch die Unterschiede in den geographischen Verhältnissen, die Kommunikationsprobleme aufgrund der Distanzen sowie die anders gearteten Sozial- und Wirtschaftsstrukturen der verschiedenen ethnischen Gruppen ließen den Versuch scheitern, Sibirien und den europäischen Teil des Reiches auf g­ leiche Weise zu verwalten. Für ganz Sibirien (mit Ausnahme von Perm’ und Vjatka) wurde 1803 ein Generalgouverneur eingesetzt. 667 Kolonial’naja politika Moskovksogo gosudarstva; B orisov , Reformy samoupravlenija ­jakutov; G lebov , Siberian Middle Ground; Sbornik dokumentov po istorii Burjatii; P avlinov /­V itaševskij / L evental , Materialy po obyčnomu pravu; Š unkov , Očerki po istorii kolonizacii Sibiri; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 2; Z alkind , Obščestvennyj stroj burjat; ders ., Učastie predstavitelej korennogo naselenija Zabaikal’ja; F irsov , Položenie inorodcev; F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 48 – 83. 668 Wegweisend war der zarische Erlass von 1727 und die daraus erwachsene Instruktion von 1728 an S. V. Raguzinskij, die es einzelnen indigenen Gruppen erlaubte, den jasak an russländischen Mittelsmännern vorbei über ihre eigenen Vertreter zusammenzutragen. Zwar bezog sich die

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Damit veränderte sich das bisherige Selbstverwaltungssystem d­ ieser ethnischen Gruppen fundamental.669 Die jakutische Elite erreichte es schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, gegenüber der Zarenregierung als vollberechtigte Vertreter ihrer ethnischen Gruppe anerkannt zu werden. Auf diese Weise war die politische Grundlage dafür gelegt, eine jakutische Steppenduma ins Leben zu rufen, die 1827 eröffnet wurde.670 Auch kulturell gelang es der jakutischen Elite, lokal eine s­ olche Dominanz zu entwickeln, dass sich viele ansässige Russen sprachlich an die Jakuten assimilierten.671 Im jakutischen wie burjatischen Falle kann daher für das 18. Jahrhundert zwar von einer imperialen, aber nur schwerlich von einer kolonialen Politik des Russländischen Reiches gesprochen werden.672 Anders sah es bei den im hohen Norden sowie am und im Pazifik lebenden ethnischen Gruppen der Čukčen, Korjaken, Jukagiren, Itel’menen, Aleuten und Kodjaken sowie auch bei Teilen der einheimischen Bevölkerung Russisch-­Alaskas aus. Zwar gab es auch bei der Politik ihnen gegenüber je nach geographischer Lage, russländischem Interesse und Intensität des Widerstands Unterschiede.673 Doch führten hier die Zaren angefangen mit Peter I. im 18. Jahrhundert die Bezwingungsmethoden des 17. Jahrhunderts fort, ließen im russländischen Sinne widerspenstige (also nicht tributwillige) Einheimische mit Kanonen bekämpfen, Kinder gewaltsam als Geisel nehmen und die Männer zu Zwangsarbeit verpflichten, so dass sich die Zahl der Stammesangehörigen auf diese Weise und durch die Übertragung von Krankheiten drastisch reduzierte.674 Darüber hinaus wurden gerade Itel’­menen,

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Anweisung zunächst nur auf die Grenzterritorien im Bajkalgebiet, doch wurde sie allmählich auf die ganze Region Burjatiens sowie Jakutiens angewandt. S yčevskij , Istoričeskaja zapiska o kitajskoj granice, 25 – 36; B ogdanov , Očerki istorii burjat-­mongol’skogo naroda; Istorija Sibiri s drevnejšich vremen, Bd. 2, 309 – 310; R aeff , Siberia and the Reforms of 1822, 92 – 93; ­A lekseev / A lekseeva /Z ubkov /P oberežnikov (Hg.), Aziatskaja Rossija, 398; B orisov , Jakutskie ulusy; G lebov , Siberian Middle Ground, 132 – 136. B orisov , Reformy samoupravlenija jakutov, 271 – 282; F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 163 – 174. Allerdings ließ Zar Nikolaus I. die Steppenduma 1838 wieder schließen, als der Zarenadminis­ tration das jakutische Selbstbewusstsein zu groß geworden war. Letzter Anlass für die Schließung war die Forderung von sechs ulus-­Anführern, das Jakutsker Gebiet vom Irkutsker und Jenissejer Gouvernement abzutrennen. B orisov , Reformy samoupravlenija jakutov, 279 – 280. Glebov verweist zum Beispiel auf die Memoiren eines russischen Dienstmannes, der in jakutischer Sprache schrieb. G lebov , Siberian Middle Ground, 136. – Daneben F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 165; J adrincev , Sibir kak kolonija, 39. Zur russländischen Politik der Einbindung und Stärkung einer Elite in Burjatien Zalkind, Jasačnaja politika carizma v Burjatii; dies., Učastie predstavitelej, 110 – 117; dies., Obščestvennyj stroj burjat. A lekseev /A lekseeva /Z ubkov /P oberežnikov (Hg.), Aziatskaja Rossija, 389 – 411; Z uev , Russkaja politika v otnošenii aborigenov; ders ., K voprosu o prisoedinenii k Rossii; ders ., ­Prisoedinenie Čukotki. Z uev , Russkie i aborigeny na krajnem severo-­vostoke Sibiri. – Besonders groß waren die demographischen Verluste bei den Jukagiren, den Korjaken und Itel’menen sowie bei den Aleuten und

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Aleuten und Kodjaken wirtschaftlich derart ausgebeutet und ihre Ökonomie auf das russländische Interesse des Walross- und Seeotterfangs hin ausgerichtet, dass sie nicht länger in ihren traditionellen Strukturen überleben konnten, sondern zunehmend in die Abhängigkeit von russländischer Überlebenshilfe gerieten.675 Im Falle dieser zahlenmäßig kleinen ethnischen Gruppen mit einer gering ausdifferenzierten Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur gaben sich russländische Vertreter keine Mühe damit, jenseits der Geiselhaltung und Gabenkultur indigene Eliten zu loyalisieren und Herrschaftsstrukturen schleichend zu transformieren. Administrative Einbindung indigener Eliten diente vor allem dazu, die Organisation des Tierfangs (im Küstenbereich vor allem der Seeotter und Walrösser) sowie der Transporte sicherzustellen.676 Im Falle sozial hochausdifferenzierter ethnischer Gruppen wie der Kabardiner im Nordkaukasus hingegen kamen auf administrativ-­politischer Ebene sehr ähnliche Strategien zum Einsatz wie bei Gruppen, denen – wie im Falle der Kalmücken und Kasachen – politische Autonomie zugestanden wurde. Im Nordkaukasus setzte das russländische militärische Vordringen mit dem Bau erster Festungen allerdings erst viel s­ päter ein: Kizljar wurde 1735 errichtet, Mozdok 1763; die erste Mozdok-­Azov-­Festungslinie wurde von 1772 bis 1782 und damit rund vierzig Jahre nach der Transkama-­Linie gebaut. Auf diese Weise erfolgte auch die politisch-­administrativ verdeckt betriebene Einmischung im Vergleich zu jener bei den südlichen Steppenvölkern zeitlich versetzt.677 Mit dem Russländisch-­Persischen Kodjaken. K abuzan /T rojtskij , Čislennost’ i sostav naselenija Sibiri; G ibson , Russian Dependence upon the Natives of Alaska, 80 – 81; S lezkine , Arctic Mirror, 65. – Schätzungen zufolge halbierte sich die Bevölkerung der Aleuten ­zwischen Mitte und Ende des 18. Jh. G ibson , Russian Dependence, Fn. 27. 675 F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 136 – 140; G ibson , Russian Dependence; G rinëv / M akarova , Promyslovoe osvoenie aleutskich ostrovov; G rinëv , Russkie promyšlenniki na Aljaske. 676 F orsyth , A History of the Peoples of Siberia, 131 – 154. – Auch die 1784 – 1786 erfolgte Etablie­ rung russländischer Herrschaft auf der Alaska vorgelagerten Insel Kodjak folgte kolonialen ­Mustern. Abgesehen von wenigen Ausnahmen wurde das Vorgehen von Kosaken und Gewerbetreibenden von der Zarenadministration geduldet. Der im Namen der Zarin expandierende russische Seefahrer Šelichov zerstörte innerhalb von zwei Jahren die indigenen Strukturen der Kodjaken und errichtete auf der Insel mit permanenter russländischer Besiedlung die Basis für alle weiteren Jagdoperationen. Unter dem Einsatz massiver Gewalt sicherten umfangreiche Geiselnahmen (je ein Junge pro angesehener Familie) und eine großzügige Gabenkultur die Herrschaft eines von Šelichov eingesetzten und abhängigen indigenen Anführers (tojon; die Russen übertrugen den jakutischen Begriff tojon auch auf aleutische Anführer; aleutisch: anayugak). B lack , The Russian Conquest of Kodiak; dies ., Russians in Alaska; L uehrmann , Alutiiq Villages, bes. 63 – 95; M iller , Kodiak Kreol. 677 B utkov , Materialy dlja novoj istorii kavkaza; S mirnov , Politika Rossii na Kavkaze; K ­ azemzadeh , Russian Penetration of the Caucasus; K injapina /B liev /D egoev (Hg), Kavkaz i Srednjaja Azija; G nilovskoj , Azovo-­Mozdokskaja oboronitel’naja linija, 42 – 47; M alachova , Stanovlenie

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und Russländisch-­Osmanischen Krieg von 1804 bis 1813 bzw. von 1806 bis 1812 entstand darüber hinaus eine unübersichtliche Situation, wie sie nicht mit jener in den südlichen Steppen vergleichbar war. Die interimperiale Konkurrenz setzte dem russländischen Vorgehen im Nordkaukasus weit engere Grenzen. Gleichwohl gilt vor allem für die südlichen Steppen und den Nordkaukasus, dass Konzepte und Praktiken von einer Peripherie zur nächsten weitergereicht wurden. Der Umgang mit den Kalmücken wird in den Quellen immer wieder als Vorbild für jenen mit den Kasachen bezeichnet, während Institutionen, die bei den Kasachen eingeführt wurden, zum Vorbild gereichten, um Kabardiner in die russländische Administration einzubinden.678 Zudem spielte die Erfahrung mit einer weiteren imperialen Peripherie beim Umgang mit Kalmücken und Kasachen eine große Rolle. Die 1654 erfolgte Inkorporation der Hetmanats-­Ukraine bildete nicht nur ein Modell, sondern sogar den Ursprung für die Ausbildung eines russländischen Systems regionaler Autonomien. Erstmals war es hier im 17. Jahrhundert zur Übertragung von Herrschaftsrechten von ‚des Zaren Gnaden‘ an einen Vertreter einer nicht-­russischen Ethnie gekommen. Und erstmals führte das Zarenreich ein Prozedere der Investitur ein, dessen Symbolik anschließend auch dazu diente, Kalmücken und Kasachen zu loyalisieren: Nach der Ableistung des Treueids gegenüber dem russländischen Zaren sah das russländische Protokoll 1654 eine feierliche Zeremonie vor, während derer Vasilij Vasil’evič Buturlin als russländischer Abgesandter dem kosakischen ­Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj ­­Zeichen der Herrschaftsdelegation überreichte, die bezeichnenderweise „Zeichen der Gnade“ (znaki milosti) genannt wurden.679 Zu den symbolischen Insignien, die die russländischen Diplomaten ausgesucht hatten, zählte zum ­Ersten eine Ganzkörperumhüllung in Form der Ferezej (ein i razvitie Rossijskogo gosudarstvennogo upravlenija; K okiev , Metody kolonial’noj politiki; ­K hodarkovsky , Colonial frontiers; L e D onne , The Grand Strategy; V inogradov , Specifika Rossijskoj Politiki na Severnom Kavkaze; P ollock , Empire by Invitation?; B obrovnikov /B abič (Hg.), Severnyj Kavkaz; Muchanov/Ajrapetov/Volchonskij, Doroga na Gjulistan. 678 So diente die Ansiedlung der Stravopoler Kalmyken als Modell für die Politik gegenüber den Kasachen, während die Einrichtung der raspravy, vollziehende Gerichtsorgane mit indigener Beteiligung, von der Kleinen Horde der Kasachen auf die Kabardiner übertragen wurden. Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o položenii v Malom i Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591; Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 310 – 317, hier 312, 315; Raport gen.-anšefa Gudoviča Eja I. V., ot 16-go janvarja [1792]. In: Akty, sobrannye Kavkazskoj Archėografičeskoj Komissiej. Hg. von A. Berže. Tiflis 1868, Bd. 2, 1123; B lieva , Administrativnoe i sudebnoe ustrojstvo, 9 – 13. 679 Es ist Richard Wortman zu verdanken, dass Zeremonien und die in ihnen verwandten Symbole als wichtiger Gegenstand historischer Herrschaftsanalyse in die Russlandforschung eingeführt wurden. W ortman , Scenarios of Power.

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auch von Männern getragenes langes Kleid mit langen Ärmeln, ohne Kragen und Taille), zum Zweiten eine Kopfbedeckung in Form einer Pelzmütze, zum Dritten der Hetmansstab (bulava) als symbolisch in der Hand zu tragender Ausdruck der Herrschaftsübertragung 680 und zum Vierten ein Banner (vermutlich eine Fahne mit dem Doppeladler als zarischem Hoheitszeichen).681 Drei der erwähnten Insignien wählte die russländische Zentrale nach anfänglichen kleineren Unsicherheiten auch fortan, um Würdenträgern nicht-­russischer ethnischer Gruppen eine vom Zaren abgeleitete Befehlsgewalt zu verleihen: ein Kleidungsstück zur Ganzkörperumhüllung (künftig immer ein Pelzmantel), die Pelzmütze zur Kopfbedeckung und das Banner. Nur der Hetmansstab wurde im 18. Jahrhundert durch einen Säbel ersetzt. Diese Insignien sollten künftig immer dann zum Einsatz kommen, wenn russländische Unterhändler einerseits den abgestuften Status untertäniger nicht-­russischer Anführer zu unterstreichen und anderer­seits die Ehre d­ ieses Status als eine vom Zaren abgeleitete Befehlsgewalt hervorzuheben suchten. Neben der Insignienvergabe etablierte die Zarenregierung auch mit ihrem taktischen Vorgehen gegenüber dem Hetmanat ein Muster, von dem s­ päter Anleihen genommen werden sollten. Erstmals nämlich führte die Regierung vor, wie sie in der Lage war, eine regionale Autonomie, die dem Hetmanat im Abkommen von 1654 gewährt worden war, nach einigen Jahrzehnten Stück für Stück auszuhöhlen und in eine immer stärker von der russländischen Zentrale bestimmte Herrschaft zu verwandeln.682 Während sich im Falle des Hetmanats für Peter I. schon wenige Jahre nach Beginn der vermehrten Einmischung, die mit Beginn des Nordischen Krieges anzusetzen ist, die Gelegenheit bot, den Seitenwechsel von Hetman Ivan 680 Die umstrittene Bedeutung des Abkommens von Perejaslav (vorübergehendes Vasallenbündnis vs. ewige Untertanenschaft) spiegelt sich in den unterschiedlichen Bedeutungen, die dem Hetmans­ stab zuschreibbar sind. Einerseits unterscheidet sich seit biblischen Zeiten der Befehlshaberstab eben gerade darin vom Zepter, dass ihn ein König jemandem als Zeichen ­­ der Übertragung von Befehlsgewalt verleiht. Andererseits war Bulava als Hetmansstab noch vor dem Abkommen von Perejaslav das ­­Zeichen des Kommandoführers bei den Zaporoger Kosaken. Es ist auch bis heute ein Staatsinsignium des Präsidenten der Ukraine. Die Konzeptionen abgeleiteter vs. eigenständiger Herrschaftsbefugnis stehen sich damit gegenüber. Mehr zu den Schwierigkeiten der Auslegung von Perejaslav siehe Kap. 2. 681 PSZRI Bd. 1, Nr. 115 (8. 1. 1654), 315 – 321, hier: 319/320; Gramota carja Alekseja Michajloviča V. Buturlinu, I. Alfer’evu i I. Lopuchinu s pochvaloj za vypolnenie poručenij russkogo pravitel’stva, svjazannych s vossoedineniem Ukrainy s Rossiej. In: Vossoedinenie Ukrainy s Rossiej, Bd. 3, Nr. 229 (23. 1. 1654), 520 – 521, hier 521. 682 Peter I. begann 1707 mit der administrativen Umstrukturierung und Entmachtung der Hetmanats-­ Ukraine in vier Feldern: der Transformation des Kleinrussischen Amtes (malorossijskij prikaz) in ein Militäramt (razrjad), der Einführung von Gouvernementstrukturen, der Umstrukturierung der Kosakenregimenter in Kompanien sowie dem Transfer ukrainischer Festungen in die Jurisdiktion des Militäramtes des Zarenreiches. T airova -­J akovleva , Ivan Mazepa im historischen Kontext.

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Mazepa zum schwedischen König Karl XII . mit dem Ende der Autonomie zu bestrafen, nutzten Peters Nachfolgerinnen im Falle der Steppenvölker jeweils den Moment des Ablebens einer indigenen Führungsfigur, um die Machtverhältnisse deutlich zu Gunsten der russländischen Seite zu verschieben.

Russländische Politik der administrativen Durchdringung und Loyalisierung der kalmückischen Elite Nur drei Jahre nach Perejaslav erhielten erstmals die kalmückischen Tajšis 683 Chuda Šukur Dajčin und sein Sohn Puncuk nach Ableistung ihres Treueids Pelzmäntel und Pelzmützen (und wenig ­später ein Militärbanner). Dies erfolgte allerdings mehr noch im Duktus der Gabenkultur und ohne eine entsprechende Zeremonie der Herrschaftsübertragung. Während des 17. Jahrhunderts dienten die Gaben bloß als ­­Zeichen, um an die russländische Untertanenschaft zu erinnern, und verdeutlichten, dass damit auch die kalmückische Kavallerie Teil der russländischen Armee geworden war.684 Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts aber wurde weder verstärkt das von Kalmücken bewohnte Territorium kontrolliert noch größerer Einfluss auf die Stammeseliten ausgeübt. Von einer realen Untertanenschaft und infolgedessen von einem Status der Autonomie konnte noch keine Rede sein.685 Erneut war es der Regierungsantritt Peters I., der in den russländisch-­kal­ mückischen Beziehungen für einen Einschnitt sorgte. Grundlegendes Mittel bei der verstärkten Einmischung war der Rückgriff auf eine alte Methode der Herrschaftssicherung: der massive Einsatz der Gabenkultur.686 Mit ihrer Hilfe ermöglichte die russländische Seite dem damaligen kalmückischen Anführer Ajuki-­Tajši bereits in den 1670er Jahren, seine Herrschaft über die Kalmücken zu konsolidieren.687 Zwar war die Hilfe zu ­diesem Zeitpunkt nicht nur einseitig. Auch die russländische 683 Tajši war nach dem Chan der höchste aristokratische und vererbbare Titel der Kalmücken. Er wurde für den kalmückischen Anführer einer Horde (ulus) verwandt, bezeichnete aber auch die Stellung als Chan-­Anwärter oder Vize-­Chan. 684 Da die Kalmücken mehrere Treueide schworen, die sie für vorübergehende Allianzen hielten und daher auch wieder brachen, ist umstritten, wann tatsächlich von einem ‚Beitritt‘ in die russländische Untertanenschaft gesprochen werden kann. Unstrittig ist, dass mit den Abkommen von 1657 und 1661 die Kalmücken erstmals in die Kriegsdienste des Zarenreiches eintraten und der russländischen Seite auch Geisel nach Astrachan schickten. Očerki istorii Kalmyckoj ASSR, Bd. 1, 118; P reobraženskaja , Iz istorii russko-­kalmyckich otnošenij, 83; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 70; S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 167 – 169. 685 T repavlov , Prisoedinenie narodov k Rossii; ders ., „Belyj Car’“, 134 – 197. 686 Ausführlich zur Gabenkultur im imperialen Kontext siehe Kap. 4.6. 687 K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 103 f.

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Seite brauchte Ajuki und seine Gefolgsleute, um sie als eine Art mobiler Verteidigungslinie gegen aufmüpfige Don-­Kosaken und einfallende Nogai-­Tataren sowie gegen Baschkiren und Kabardiner einzusetzen. In einer entsprechenden Notlage und vor dem geplanten Einsatz von Kalmücken im Krieg gegen Schweden rang sich die russländische Zentrale 1708 sogar dazu durch, Ajuki-­Tajši den Titel eines kalmückischen Chans zuzugestehen.688 Doch auf lange Sicht geriet Ajuki-­Chan in seinen Abwehrkämpfen gegen die Kuban-­Nogaier im Süden, die Baschkiren im Norden, die Kasachen im Osten sowie durch seine innerkalmückischen Fehden in eine viel größere Abhängigkeit von der Hilfe Moskaus als umgekehrt. Mit 1000 Rubel im Jahr, Schießpulver und Blei erhielt Ajuki-­Chan 1710 nicht nur gewaltige Mittel, um seine persönliche Macht auszubauen.689 Darüber hinaus gewährte die russländische Zentrale ihm auch das Privileg, aus der Reihe seiner Getreuen Gesandtschaften in die Hauptstadt ­schicken zu dürfen, die anschließend mit großen Geldsummen und Geschenken zurückkehrten.690 Seit Beginn des 18. Jahrhunderts stärkte die russländische Regierung mit dem massiven Ausbau der Gabenkultur aber nicht nur Ajuki-­Chan persönlich. Sie veränderte das politische Gefüge der Kalmücken als Ganzes. In der kalmückischen Tradition hatte der Chan bislang nur im Kriegsfall eine größere Rolle gespielt. Dann nämlich übernahm er das Oberkommando. Ansonsten achteten die anderen Tajšis auf eine wenig herausgehobene Position des Chans. Einkünfte hatte der Chan vor der russländischen Einmischung genauso wie andere Würdenträger ausschließlich aus seinem eigenen ulus bezogen.691 Doch spätestens als die russländische Seite 688 Seit Mitte des 17. Jh. stand der Chan-­Titel nicht mehr in Verbindung mit einer direkten Abstammung von den Činggisiden, die sich auf Čingis-­Chan beriefen. Der Titel war nurmehr mit politischem Prestige verbunden. Ajuki-­Chan war es nach seinen militärischen Siegen über die Kasachen und Turkmenen in den 1690er Jahren gelungen, das Siegel und die Urkunde für den Chan-­Titel vom Dalai Lama aus Tibet zu erhalten. Bakunin, Opisanie istorii kalmyckogo naroda, 198; Khodarkovsky, Where Two Worlds Met, 15. – Zur russländischen Anerkennung des Titels von 1708: MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 104, 238. 689 PSZRI Bd. 4, Nr. 2291 (5. 9. 1710), 547 – 550; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 107; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 147. 690 K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 174. 691 Ulus bezeichnete bei den Kalmücken die umfassendste gesellschaftliche Einheit. Sie waren polyclanische, territoriale Formationen mit einem Tajši oder einem Chan an der Spitze und konnten aus mehreren untergegliederten Ajmak (Clan, Sippe) bestehen. Ein Ajmak setzte sich aus 150 bis 300 Jurten mit je einer Kernfamilie (kibitka) zusammen und war nur durch politische Loyalität zum Anführer vereint. Seit Mitte des 17. Jh., als es unter den Kalmücken üblich wurde, einen ulus zu gleichen Teilen unter den Söhnen eines Tajši aufzuteilen, wurde ulus zunehmend zum Eigentum, zur Apanage eines bestimmten Tajšis. S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 286, 292; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 9. – Zur Chan-­Stellung: P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov Bd. 3/4, 18 – 19. Kennzeichnend ist die Antwort eines kalmückischen zajsan, der noch 1722 auf die Frage des russländischen Gouverneurs

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1715 Ajuki-­Chan eine Schutzgarde von 600 Kavalleristen unter Befehl von Dmitrij Efremovič Bachmet’ev zur Seite stellte, die Ajuki-­Chan nicht nur gegen äußere, sondern auch gegen innere Feinde einsetzen konnte, wirkte die neue Machtfülle des Chan-­Amtes aus innerkalmückischer Sicht systemverändernd. Angesichts des reifen Alters von fast siebzig Jahren wuchsen entsprechend die Begierden derer, die sich eine Chance auf Ajuki-­Chans Nachfolge ausrechneten.692 Bereits damit hatte sich die russländische Seite eine vorteilhafte Position verschafft: Sie geriet mit Hilfe der ausgebauten Gabenkultur zunehmend in die Position des Königsmachers. Und nicht nur das. Mit der Einrichtung der Schutzgarde gelang der russländischen Seite ein doppelter Schachzug. Der offizielle Auftrag lautete, Ajuki-­Chan mit der Garde zu unterstützen. Der inoffizielle Auftrag aber zielte auf eine Kontrolle der außenpolitischen Tätigkeiten und auf eine Aufsicht des politischen Verhaltens des Chans.693 In einem Atemzug mit der Schutzgarde gründete die russländische Regierung eine administrative Einheit (kalmyckie dela), die dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten zugeordnet war, aber nicht als Vermittlung z­ wischen dem kalmückischen Chan und der russländischen Administration fungierte, sondern die allmähliche Durchdringung kalmückischer Herrschaftsstrukturen zum Ziel hatte.694 Zunächst bestand der Auftrag an Dmitrij Bachmet’ev nur darin, sich beständig im Hauptquartier des Chans aufzuhalten und der russländischen Zentrale fortwährend zu berichten. Allmählich aber entwickelte sich daraus ein vor Ort residierender Ansprechpartner für die Zentrale und ein Chef eines Netzes kalmückischer Informanten, die zunehmend administrative Aufgaben für die russländische Regierung übernahmen und mit deren Hilfe versucht wurde, die außenpolitischen Kontakte Ajukis zu kontrollieren.695 Volynskij, wer ein geeigneter Kandidat für das Amt des Chans sei, antwortete: „Es spielt keine Rolle, wer Chan ist. Alles, was er gewinnt, ist ein Titel und der erste Platz; sein Einkommen stammt nur von seinen eigenen ulusy, und die anderen Tajšis haben ihre eigenen ulusy und herrschen über sie. Der Chan hat sich da nicht einzumischen, und wenn er es tut, dann gehorcht niemand.“ P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3/4, 289 – 290. 692 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 108; K hoddarkovsky , Where Two Worlds Met, 174. 693 B atmaev , Dokumental’nye materialy, 44. 694 Die kalmyckie dela wurden zunächst im Posol’skij Prikaz koordiniert, das 1718 ins Kolleg für auswärtige Angelegenheiten umgewandelt wurde (Kolleg inostrannych del). Zu den Aufgaben des Kollegs zählten unter anderem die kalmyckie dela, die Angelegenheiten der Jaik-­Kosaken und die der ‚Kleinrussen‘. „A.Ja.“, Kollegija inostrannych del, in: Brokgauz/Efron (Hg.), Ėnciklopedičeskij slovar’, Bd. 30, 695 – 696, hier 696; B určinova , Kalmykija v sisteme, 49. 695 Das Archivdokument (Kalmyckie dela 1715 goda, Nr. 6, l. 96), das die geheimen Instruktionen an Dmitrij E. Bachmet’ev enthält, ist abgedruckt in P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3/4, 41 – 42. – Vgl. auch B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 3, 202; B atmaev , Dokumental’nye materialy, 44. – Die Funktion des Bevollmächtigten, der einerseits dem Astrachaner Gouverneur unterstand, andererseits unmittelbar dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten berichtete, wurde erst 1771 mit der Aufhebung des Chanats abgeschafft. Während

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Artemij Petrovič Volynskij als neuer Gouverneur von Astrachan Dies war die Ausgangssituation, als 1718 mit Artemij Petrovič Volynskij (1689 – 1740) ein enger Weggefährte Peters I. neuer Gouverneur von Astrachan wurde. Er teilte die neue petrinische Sicht, wonach die Welt in ‚unzivilisierte‘ und ‚zivilisierte Völker‘ aufzuteilen war, und ließ keinen Zweifel daran, zu welcher Seite in seinen Augen die russländische und zu welcher die kalmückische zu zählen war.696 Er verfolgte eine Politik der eisernen Faust, erwartete absoluten Gehorsam und Loyalität gegenüber der Zarenregierung und behandelte die Kalmücken bevormundend und herablassend als „meine Kinder“.697 Vor allem brach er mit der bisherigen Strategie, die Machtposition des kalmückischen Chans stärken zu wollen. Vielmehr ging es ihm im Sinne des divide et impera nun darum, nicht länger zuzulassen, dass ein Einzelner die Mehrheit aller ulus unter sich vereinen könne. Innerkalmückische Fehden s­ eien stattdessen so zu nähren, dass die russländische Seite ihre Macht immer weiter ausbauen könne. In ­diesem Sinne, so Volynskij in einem Schreiben von 1723 an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten, sei auch die Balance, die Ajuki-­Chan unter seinen Söhnen zu halten versuche, aufzubrechen und die Söhne einander zu Feinden zu machen. Und so wird die Chanmacht nicht so eigenmächtig, als wie sie es zum Nutzen und Vorteil Ihrer Kaiserlichen Hoheit sein soll, denn wenn der eine den anderen fürchtet, wird er treuer dienen. Indem der eine seine Treue zeigen will, wird er den anderen anprangern. Wenn aber die Macht nur in einer Hand sein wird, dann wird kaum einer mit ihnen [den Kalmücken] klarkommen können.698

Volynskijs Strategie ging auf. Zwar gelang es trotz der eingesetzten Überwachung kaum, die Tätigkeiten von Ajuki-­Chan umfassend zu kontrollieren. Doch Bachmet’ev sich zunächst direkt beim Ajuki-­Chan aufhielt, wurde der Bevollmächtigte von 1717 bis 1727 nach Saratov, von 1727 bis 1742 nach Caricyn und von 1742 bis 1771 in die Festung von Enotaev verlegt. 696 Wüst hatte sich Volynskij bereits über die Baschkiren geäußert, die ein „unzivilisiertes Volk“ (neobuzdannyj narod) und „von überaus schwerer Boshaftigkeit“ s­ eien. V olynskij , Zapiska o Baškirskom voprose v Rossijskoj imperii i o nailučšich sposobach ego razrešenija. In: MpiB ASSR Bd. 1, Nr. 134 (1730), 302 – 306. – Um Volynskij freie Hand für seinen politischen Kurs zu geben, übertrug der Kazaner Gouverneur 1719 an ihn als Astrachaner Gouverneur die Zuständigkeit für die Kalmücken. B určinova , Kalmykija v sisteme, 49. 697 Von „meinen kalmückischen Kindern“ schrieb Volynskij am 28. 1. 1722 an V. I. Mons. Zitiert in P al ’mov , Ėtiudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3 – 4, 87; P al ’mov , K astrachanskomu periodu žizni V. N. Tatiščeva, 317 – 342; B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, 223 f. 698 P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3 – 4, 123; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 108.

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mit Hilfe des beständig weiter ausgebauten Informantennetzes und der regelmäßigen Berichte gewann die Zentrale ein immer genaueres Bild über die kalmückische Elite und war durch eine geschickte divide-­et-­impera-­Politik in der Lage, nach Ajuki-­Chans Tod 1724 das Recht der Wahl eines Nachfolgers an sich zu reißen.699 Zweifellos trugen zu ­diesem wichtigen Wendepunkt in den russländisch-­kalmückischen Beziehungen mehrere Faktoren bei. Die ältere Strategie, die Chan-­Position zu stärken, war eine genauso wichtige Voraussetzung wie die jüngere, durch das Anstacheln von Streit noch zu Lebzeiten des Ajuki-­Chans die Nachfolgekämpfe ein ungekanntes Ausmaß annehmen zu lassen.700 Daneben hatten die russländische Politik der allmählichen Einkesselung der Kalmücken durch die Caricyn-­Festungslinie im Süden, die Don-­Kosaken im Westen, Festungen im Osten und dichte russländische Ansiedlungen im Norden Stück für Stück den Bewegungsspielraum eingeschränkt und das Gewicht der russländischen Position vermehrt. Als vorläufiger Höhepunkt in dem Bemühen um Einmischung in die innerkalmückischen Angelegenheiten sollte die erste Zeremonie zur Einsetzung eines neuen Chans von des Zaren Gnaden dienen. Allein der Aufwand, der von russländischer Seite zur Aushandlung der Einzelheiten der Zeremonie betrieben wurde, zeigt, ­welche Symbolkraft ihr beigemessen wurde. Nach der Einsetzung des kosakischen Hetmans Bohdan Chmel’nyc’kyj von 1654 war es ein Dreivierteljahrhundert s­ päter erst das zweite Mal in der Geschichte des Reiches, dass Herrschaftsgewalt des Zaren an eine autochthone Institution einer untergebenen, nicht-­russischen ethnischen Gruppe an der imperialen Peripherie verliehen wurde.701 Entsprechend dürftig und unausgearbeitet war bislang noch das dazugehörige Protokoll, entsprechend unklar die zu nutzenden Symbole. Die Insignien Pelzmantel, Pelzmütze und Banner, die der russländische Gesandte damals dem ukrainischen Hetman überreicht hatte, erschienen vorerst noch ungeeignet, da man sie bereits den Vorgängern im Amt des kalmückischen Anführers, den taiši Dajčin und Puncuk, in Form von Geschenken nach Ableistung ihrer Treueide übergeben hatte. Dieses Mal aber sollte es den markanten 699 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 114 – 116; B atmaev , Dokumental’nye materialy, 47. 700 Ausführlich zu den Nachfolgekämpfen K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 170 – 178. 701 Das Fürstentum Smolensk war gleich nach seiner Eroberung in die russische Verwaltung inkorporiert und einem neu geschaffenen Moskauer Zentralamt unterstellt worden (Prikaz knjažestva Smolenskago). Auch Estland und Livland wurden nach ihrer Eroberung 1710 zu zwei Gouvernements des Reiches gemacht, doch folgte die russländische Herrschaft hier den Prinzipien der indirekten Herrschaft, bei der die (oft baltendeutschen) (General-)Gouverneure praktisch die einzige Verbindung zum russländischen Zentrum darstellten und den Ritterschaften und Städten ihre alten Privilegien belassen wurden. Gleichwohl gab es keine dem kalmückischen oder kasachischen Chanat vergleichbare, singuläre einheimische Herrschaftsinstitution, die nach der Annexion beibehalten wurde. K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 66, 69.

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Unterschied geben, dass nicht bloß ein Treueid gegenüber dem Zaren abzuleisten war, sondern dass die russländische Seite den neuen kalmückischen Chan auch ausgesucht hatte und ihn kraft der Gnade der Zarin einzusetzen gedachte. Der Astrachaner Gouverneur Volynskij machte dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten den Vorschlag, dem Chan einen Säbel, einen Brustpanzer mit Armschienen und Garnitur sowie ein Wappenschild zu überreichen. Dies, so Volynskij, sollten die Kalmücken fortan „als ­­Zeichen des Chantums achten, und so werde es mit der Zeit vielleicht bei ihnen ins Brauchtum eingehen, auf dass demjenigen [Chankandidaten], dem dies nicht gegeben wird, nicht als der richtige Chan anerkannt wird“.702 Der Zar hieß die Initiative zur symbolischen Aufladung der Zeremonie mit neuen Gegenständen gut und änderte lediglich ab, dass neben dem Säbel und Brustpanzer noch eine Kriegshaube in altrussischer Tradition aus der Waffenkammer zu überreichen ­seien (eine erichonka oder eine der besten misjurka), „damit Kalmücken in diesen das ­­Zeichen von S. K. H. [Seiner Kaiserlichen Hoheit] Gnade ehrten und auf dass diese ihnen künftig mit der Zeit ins Brauchtum eingingen“ (i vpred’ by to im v obyčaj so vremenem prijtit’ moglo).703 Unübersehbar war der Wille, mit dem Rückgriff auf eigene Traditionen eine russisch geprägte neue politische Kultur in der kalmückischen Elite zu verankern. Tatsächlich wurden weder der eine noch der andere Vorschlag umgesetzt. Das vorgesehene Protokoll kam vollends durcheinander, weil der von russländischer Seite vorgesehene Kandidat seine Einsetzung als Chan angesichts seiner geringen Machtposition für zu unrealistisch hielt und ablehnte. Die Stimmung unter den sich übergangen fühlenden kalmückischen Söhnen bzw. Enkeln von Ajuki-­Chan war explosiv, es drohten massive Fluchtbewegungen sowie Bündnisse mit den Krimtataren, und Gouverneur Volynskij stand unter hohem Handlungsdruck. Nach mehrwöchigen Verhandlungen gelang ihm 1724 der Durchbruch: Alle wichtigen Tajšis und 70 Zajsane 704 einigten sich auf den Sohn Ajukis, Čeren-­Donduk, als neuen Kandidaten.705 Aufgrund der angesagten Eile wurde Čeren-­Donduk jedoch vorerst nicht zum Chan, sondern – und das war eine im imperialen Kontext von der russländischen Seite erfundene Neuheit – zum „Statthalter“ (namestnik) – vereidigt.

702 B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 5, 210 – 211; P al ’mov , Ėtjudy po istorii ­privolžskich kalmykov, Bd. 3/4, 227. 703 P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3/4, 228. – Erichonka (Wort tatarischen Ursprungs) ist eine besondere Form eines Helms, den früher die Voevoden des Reiches trugen. Misjurka ist eine eiserne Kriegshaube in altrussischer Zwiebelform. 704 Zajsan (russ. Zajsangi) ist ein kalmückischer Adelstitel niederen Ranges, zumeist der Titel eines Sippenanführers. 705 In manchen Quellen wird Čeren-­Donduk auch als Ceren-­Donduk bezeichnet.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 28: Kalmückisches Paar. Chromolithographie, Mitte 19. Jahrhundert, Maler unbekannt. Erstveröffentlicht von Gustav-­ Féodor Chr. Pauli in: Narody Rossii. St. Petersburg 1862

Als ‚Statthalter‘ wurden seit Zar Ivan IV . höhere Beamten bezeichnet, die als Vertreter des Herrschers in Städten oder Gebieten fungierten, unter direkter Aufsicht des Zaren standen, ein staatliches Gehalt erhielten und Steuern zahlten.706 Mit dem vorläufigen Verzicht auf den traditionsreichen Chan-­Titel und mithin einer nominellen Gleichstellung mit staatlichen Beamten erreichte Gouverneur Volynskij symbolisch gesehen eine noch stärkere Unterordnung der Kalmücken, als dies zunächst von russländischer Seite für möglich gehalten worden war. Auf die Überreichung von Gegenständen, der „Zeichen der Gnade“ (znaki milosti), in denen sich die Übertragung von Herrschaftsgewalt manifestieren sollte, wurde vorerst verzichtet, da sich diese aufgrund der chaotischen Situation und nach der Absage des anderen Kandidaten wieder auf dem Rückweg nach Moskau befanden.707 Volynskij nutzte allerdings die seit Jahren sorgsam angestachelten innerkalmückischen Fehden zu einem weiteren Durchbruch: Neben der Vereidigung des Statthalters Čeren-­Donduk vermochte er erstmalig weitere kalmückische Tajšis

706 Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka, Bd. 13, 239 – 240; [ohne Autorenname]: Namestnik, in: Enciklopedičeksij Slovar’ Bd. 20, 517; G raham , Namestnik, in: MERSH, Bd. 24, 55 – 57. 707 B akunin , Opisanie kalmyckich narodov, 70.

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und Zajsane dazu bewegen, den für die russländische Seite so bedeutenden Treueid abzuleisten und zu unterzeichnen.708 Damit war es Volynskij gelungen, die Kalmücken auf breiterer Basis in die russländische Untertanenschaft einzubinden. Auch wenn die Eidleistenden ein grundlegend anderes Verständnis von dem unterzeichneten Dokument hatten und weiterhin mehr von einer vorübergehenden Allianz als von „ewiger Untertanenschaft“ ausgingen, so erkannten selbst kalmückische Nachfahren diesen Eid von 1724 im Unterschied zu den Treueiden der Anführer Dajčin, Puncuk und Ajuki aus dem 17. Jahrhundert als gültig an.709 Das Protokoll zur Zeremonie, bei der Čeren-­Donduk vor 70 Zajsane und bis zu 2000 einfachen Kalmücken zum „Statthalter“ ernannt wurde, war aufgrund der Umstände weiterhin dürftig. Zwar erwarteten Čeren-­Donduk bei seiner Ankunft zwei Dragonerkompanien, die ihre Gewehre präsentierten und die Trommel zum Marsch schlugen; Gouverneur Artemij Volynskij hielt eine Rede, warum die Regierung Čeren-­Donduk zum Statthalter erkläre; es folgten Glückwünsche und Umarmungen und anschließend ein gesetztes Essen, während die einfachen Kalmücken Stier- und Hammelfleisch gebraten mit Wein und Honig in Kübeln ausgegeben bekamen. Doch geht aus der Beschreibung, die der bekannte Historiker Nikolaj Nikolaevič Pal’mov auf der Grundlage des Tagebuchs von Volynskyj in den 1920er Jahren verfasste, deutlich hervor, dass die Feierlichkeit von 1724 einen weitgehend improvisierten Charakter trug.710 Genauso, wie sich auch bei der Zarenaudienz in der Hauptstadt erst allmählich detailliertere zeremonielle Praktiken herausbildeten, brauchten die Regierungen auch für zentrale Ereignisse in der imperialen Peripherie mehrere Jahrzehnte, um den Wert von ausgefeilten Zeremonien zu erkennen, die sich n­ utzen ließen, um die Loyalität der Anführer ethnischer Gruppen zu erlangen und Macht zu demonstrieren. Einen besonderen Trumpf hielt Gouverneur Volynskij gleichwohl in der Hand. Noch in seiner Rede zur Ernennung des kalmückischen Statthalters verwies er darauf, dass dieser in seinem Amt bleibe „bis zum Erlass S. K. H. [Seiner Kaiser­ lichen Hoheit]“, mit dem der neue Chan zu bestimmen sei.711 Auch wenn vor allem die Uneinigkeit unter den kalmückischen Würdenträgern und der Zeitdruck die Gründe dafür gewesen sein mögen, dass statt eines Chans nur ein Statthalter 708 Ausführlich zu den komplizierten Motivlagen, aus denen heraus die verschiedenen kalmückischen Vertreter zustimmten, siehe P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, 3/4, 288 – 323. 709 B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 3, 215. Eine Ausnahme bildete das weithin anerkannte Abkommen von 1697, das z­ wischen Ajuki-­Chan und Fürst Golicyn auf Augenhöhe geschlossen worden war. K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 131 – 133, 178. 710 P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3/4, 320 – 321. Der Eid in seiner ausgehandelten Endfassung findet sich in PSZRI Bd. 7, Nr. 4576 (Sept. 1724), 352 – 353. 711 P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 3 – 4, 322.

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ernannt worden war – Volynskij verwies mit diesen Worten den neuen kalmückischen Anführer gleich nach seiner Ernennung in den Wartestand eines bittenden Untertanen. Volynskij ließ sogar im Unklaren, ob Čeren-­Donduk überhaupt Aussichten auf den Chan-­Titel habe. Der russländischen Seite war es mithin gelungen, die politischen Strukturen der Kalmücken so zu verändern, dass sie den Fuß in der Tür zu deren inneren Angelegenheiten gewonnen hatte. Allerdings bestimmte die russländische Regierung nicht ganz selbst den Zeitpunkt, zu dem Čeren-­Donduk dann tatsächlich als kalmückischer Chan eingesetzt wurde. Vielmehr sah sie sich durch die interimperiale Konkurrenz mit dem Chinesischen Reich 1731 zu ­diesem Schritt gedrängt, wollte sie nicht Gefahr laufen, die Kalmücken an den Rivalen im Südosten zu verlieren.712

Das Auf und Ab des russländischen Ringens um die Chan-Investitur bei den Kalmücken Die erneut chaotischen Umstände, unter denen Čeren-­Donduk zum Chan ernannt werden sollte, ließen auch d­ ieses Mal keinen Gedanken an ein ausführlicher ausgearbeitetes Protokoll zur Einsetzung aufkommen. Jetzt aber wurden Čeren-­Donduk Machtinsignien bzw. ‚Gnadenzeichen‘ (znaki milosti) überreicht. Der amtierende Gouverneur von Astrachan, Ivan Petrovič Izmajlov, wählte in Absprache mit dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten in leicht abgewandelter Form jene Herrschaftszeichen aus, die schon 1654 dem ukrainischen Hetman verliehen worden waren: eine Ganzkörperbekleidung (Pelzmantel aus Zobelfell, bedeckt mit goldenem Brokat) sowie eine Zobelpelzmütze als Kopfbedeckung. Nur das Banner und der Hetmansstab bzw. s­ päter der Säbel fehlten noch.713 Damit war den russländischen Vorstellungen eines ‚Chans von der Zarin Gnaden‘ Genüge getan. In allen anderen Fragen der Zeremonie zeigte man sich gegenüber Čeren-­Donduk äußerst flexibel. Kalmückischen Traditionen zufolge besaßen Chan-­Ernennungen nur dann Gültigkeit, wenn sie auf Anweisung des Dalaj-­Lamas erfolgten.714 So bezog die Zarenadministration den Gesandten des Dalaj-­Lamas Šakur-­Lama, der zugleich das geistliche Oberhaupt der Kalmücken war, in die Zeremonie mit ein und folgte auch in Fragen der Musik, der Einkleidung in 712 PSZRI Bd. 8, Nr. 5699 (17. 2. 1731), 382 – 383; B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 3, 234; P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 1, 121 – 122; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 194 – 195. 713 B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 3, 234; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 72. 714 B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 3, 128; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 73.

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Abb. 29: Geistliches Oberhaupt der Kalmücken des Astrachaner Gouvernements. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert

mongolische Trachten und sogar bei der Übergabe der Ernennungsurkunde türkisch-­mongolischen Traditionen, wie sie bei den Kalmücken Brauch waren.715 Diese Flexibilität erinnert an die ähnlich gelagerte Beweglichkeit der russländischen Seite in der Frage, wie der Treueid neuer Untertanen zu leisten war. Dafür ließ die Zarenadministration den Koran küssen, bei abgezogenem Bärenfell oder zerteiltem Hund schwören, Gold schlucken oder auf Eisen beißen – für die russländischen Regierungsvertreter war einzig und allein wichtig, dass die Schwüre wahrhaftig waren. Welche Riten und S ­ itten für diese Wahrhaftigkeit aus Sicht der Eidleistenden nötig waren, überließ man ganz ihnen. Genauso verhielt sich Gouverneur Izmajlov angesichts des von kalmückischer Seite prachtvoll inszenierten Spektakels rund um die Chan-­Ernennung. Den Erfolgen der russländischen Politik in dem Ziel, das Gemeinwesen der Kalmücken allmählich politisch zu durchdringen, folgte ein Rückschlag. Nur vier Jahre nach der feierlichen Einsetzung von Čeren-­Donduk als kalmückischem Chan sah sich die russländische Regierung gezwungen, ihn wieder abzusetzen. Das Zarenreich stand vor einem Krieg gegen das Osmanische Reich, benötigte dabei

715 B akunin , Opisanie istorii kalmyckogo naroda, Teil 3, 139 – 146.

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dringlich die Kriegskraft der Kalmücken und musste einsehen, dass Čeren-­Donduk nicht nur dem Alkohol verfallen war, sondern dass seine Machtposition gegenüber den eigenen Leuten einzig auf der russländischen Unterstützung basierte. Längst waren die alten innerkalmückischen Fehden, die durch den Kompromisskandidat Čeren-­Donduk nur notdürftig zugedeckt worden waren, wieder aufgebrochen. Einem Enkel von Ajuki-­Chan, Donduk-­Ombo, war es gelungen, die meisten ulus aller Tajšis unter sich zu vereinen und Čeren-­Donduk in die Enge zu treiben.716 Die Zarenregierung sah daher keine andere Möglichkeit, als eben jenen Donduk-­Ombo 1735 zähneknirschend zum neuen „Anführer des kalmückischen Volkes“ (upravitel’ kalmyckogo naroda) zu ernennen.717 Im Unterschied zu den vorherigen Zeremonien gab d­ ieses Mal Donduk-­Ombo als kalmückischer Kandidat nicht nur den geistlich-­lamaistischen Teil der Zeremonie vor, sondern diktierte sämtliche Umstände, angefangen vom Ort über das Datum des Treueids bis dahin, dass er die Anwesenheit jeglicher Dragoner, Grenadiere oder Kosaken untersagte. Donduk-­Ombo nahm zudem entgegen der russländischen Anordnung die Einsetzungsurkunde aus den Händen des Gesandten der Zarin Anna sitzend und mit Mütze auf dem Haupt entgegen und widersetzte sich auch im weiteren Verlauf der Feier russländischen Gestaltungswünschen.718 Nicht mal ein Festessen gab es hinterher.719 Zweifellos spiegelten sich in ­diesem Ablauf der Zeremonie ins Wanken geratene Machtverhältnisse wider, die der bevorstehende Krieg diktierte. Doch die Veränderungen waren nicht nachhaltig: Nur kurzzeitig hatten sie sich zu Ungunsten der russländischen Seite verschoben. Mit den traditionellen Methoden drastisch erhöhter Geldzahlungen (Donduk-­ Ombo erhielt mit 3000 Rubel ein sechsfach höheres Jahresgehalt als sein Vorgänger Čeren-­Donduk) und wertvoller Geschenke erlangte die russländische Regierung die steuernde Position zurück. Ihr gelang es sogar, die Kalmücken unter Leitung des neuen Anführers zu großen Militäreinsätzen auf russländischer Seite gegen die Osmanen, die Kasachen und die Krimtataren zu verpflichten.720 Als hilfreich erwies sich hierfür der Schachzug, Donduk-­Ombo 1737 vom ‚Anführer‘ zum ‚Chan‘ zu erhöhen und ihn mit den inzwischen etablierten Insignien, dem Pelzmantel und der Pelzmütze, sowie jetzt erstmals mit dem Säbel (wie schon von Peter I. geplant) und dem Banner (wie schon 1654) auszustatten.721 Die russländische Seite hatte 716 K hodarkovksy , Where Two Worlds Met, 196 – 206; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 74. 717 P al ’mov , Ėtjudi po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 1, 219; N ovoletov , Kalmyki, 18 – 21. 718 K olesnik , Poslednee velikoe kočev’e, 104. 719 B akunin , Opisanie kalmyckich narodov, 152 – 154. 720 SIRIO Bd. 117, Nr. 50 (29. 3. 1737), 174 – 180, hier 176; Nr. 53 (18. 3. 1737), 190 – 197, hier 196; Bd. 126, 366. 721 PSZRI Bd. 10, Nr. 7191 (3. 3. 1737), 61 – 62, hier 61.

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die Chan-­Ernennung als Köder für entsprechende Dienste gegenüber der Zarin in der Hinterhand behalten und mithin trotz aller Zugeständnisse die Kontrolle nicht gänzlich verloren.

Die Wende nach Chan Donduk-Ombos Tod Mehr denn je offenbarte sich die russländische Oberhand nach Donduk-­Ombos Tod. Dieses Mal gelang es der Zarenadministration ohne jede Schwierigkeiten, den Nachfolger gegen anderweitige Interessen durchzusetzen und nach eigenem Gutdünken zu bestimmen. Mit Donduk-­Daši wurde 1741 ein Enkel Ajuki-­Chans ausgewählt, der die Kriterien eines russländischen Wunschkandidaten erfüllte: Ähnlich wie beim zwei Jahre zuvor begonnenen Projekt der Ansiedlung getaufter Kalmücken um die Fürstin Tajšina in Stavropol’ hatte sich Donduk-­Daši 1739 bereit erklärt, sesshaft zu werden. Auf Anweisung der Regierung ließ er sich zusammen mit seinen Zajsane und ihrem Gefolge auf der Festung von Krasnojarsk an der Kama-­Festungslinie nieder und erhielt von der Regierung regelmäßige Zuwendungen in Form von Geld, Getreide, Heu, Kerzen und Feuerholz.722 Wie schon bei der erstmaligen Einsetzung eines kalmückischen Anführers durch die russländische Seite von 1724 wurde auch Donduk-­Daši 1741 erneut nur zum ‚Statthalter‘ ausgerufen, ­dieses Mal aber verbunden mit großen Einschränkungen seiner Kompetenzen.723 Wieder zahlte sich für die russländische Seite die Taktik aus, in der wichtigen Titelfrage Luft nach oben zu lassen: Als die militärische Unterstützung kalmückischer Reitertruppen im Siebenjährigen Krieg für das Russländische Reich auf der Kippe stand, wusste sich die Regierung die kalmückische Unterstützung dadurch zu sichern, dass sie erst jetzt, also 1758, Donduk-­Daši zum kalmückischen ‚Chan‘ ernannte. Außerdem stimmte sie zu, dass dessen 13-jähriger Sohn Ubaši sein Nachfolger werden solle.724 Damit beraubte sich die russländische Seite zwar einer freien Kandidatenauswahl bei der nächsten Vakanz. Doch Ubaši bot sich nicht nur angesichts der Loyalität des Vaters an, sondern auch, weil sich an die frühzeitige Nachfolgeklärung die Hoffnung band, innerkalmückische Fehden, die allmählich lästig und militärisch nachteilig wurden, im Keim ersticken zu können. Die Hoffnung erwies sich als Trugschluss. Das junge Alter von Ubaši – er war zum Zeitpunkt, als sein Vater 1762 verstarb erst 17 – ermunterte andere Prätendenten, Anspruch auf das Amt des kalmückischen Chans zu erheben. Die Zarenadministration hielt sich an die mit Donduk-­Daši vereinbarte Nachfolgeregelung 722 PSZRI Bd. 10, Nr. 7774 (13. 3. 1739), 744 – 745, hier 745. 723 K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 213. 724 K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 223.

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und verlieh Ubaši noch 1762 den Titel des kalmückischen Statthalters.725 Dieses Mal begnügte sie sich jedoch nicht länger damit, den Kandidaten im Rahmen einer feierlichen Zeremonie einzusetzen. Bereits 1715 hatte die Zarenregierung mit der Gründung der administrativen Einheit kalmyckie dela begonnen, sich auch administrativ in die innerkalmückischen Belange einzumischen. Bislang aber war das zweite Kernstück kalmückischer politischer Organisation neben der Chan-­Gewalt noch nicht angetastet worden: die traditionelle Einrichtung des zargo – des rechtsprechenden und gesetzgebenden Rats des Chans.726 Jetzt hielt die zarische Regierung den Zeitpunkt für gekommen, die Zusammensetzung und das Abstimmungsprozedere im zargo nach russländischem Interesse neu zu definieren. Schon ein Jahr zuvor hatte das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten vorgeschlagen, die Kalmücken als „ein seit langer Zeit unter russländischer Herrschaft stehendes Volk“ nunmehr einer ‚inländischen‘ Behörde, entweder dem Senat oder dem Militärkolleg, zu unterstellen. So habe man es auch mit den Livländern, Esten, Finnen und sogar Kleinrussen getan, die jetzt ‚inländischen‘ Behörden unterstünden: „Es steht an, die kalmückischen Angelegenheiten direkt als innere und nicht als ausländische und damit zum Kolleg gehörige zu betrachten.“ 727 Deutlicher konnte kaum zum Ausdruck gebracht werden, wie sicher sich die russländische Seite bei den Kalmücken im Sattel sah, wie stark sie sie administrativ bereits unterwandert zu haben glaubte.728 Zwar wurden die Kalmücken vorerst trotz des anderslautenden Plädoyers noch in der Zuständigkeit des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten belassen. Doch setzte sich das Kolleg innerhalb der Regierung mit der Auffassung durch, genügend Vorarbeit geleistet zu haben, um jetzt nach dem Tod von Donduk-­Daši-­ Chan das politische Leben der Kalmücken grundlegend verändern zu können.729

725 SIRIO Bd. 48, Nr. 495, 450; Nr. 501 – 506; S olov ’ev , Istorija Rossii s drevnejšich vremen, Buch 13, Bd. 25, 240 – 241. 726 Der zargo beim Chan hatte die Funktion einer obersten öffentlichen Gerichts- und Beratungs­ instanz, setzte sich aus acht ständigen Mitgliedern und aus periodisch wechselnden Vertretern der lokalen niederen Aristokratie zusammen, die vom Chan aus dem Kreis seiner Vertrauten ernannt wurden. Das geschriebene Gesetz und Gewohnheitsrecht waren Grundlage für die Rechtsprechung, die durch die Bestätigung des Chan rechtskräftig wurde. S chorkowitz , Die sozialen und politische Organisation bei den Kalmücken, 444 – 446. 727 Kalmykcie dela prjamo za vnutrennie, a ne zagraničnye i do Kollegii nesledujuščie priznavat’ nadležit. Zitiert nach K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 118. 728 Gleichwohl wird wohl auch der Wunsch des Kollegs eine Rolle gespielt haben, von dem umfangreichen und als überflüssig empfundenem Schriftverkehr mit vielen verschiedenen Abteilungen der ‚inländischen‘ Behörden mit Blick auf die Kalmücken befreit zu werden. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 118. 729 Kolesnik, Poslednee velikoe kočev’e ,188; Dordžieva, Ischod kalmykov v Kitaj, 38; ­Kundakbaeva, „Znakom milosti E. I. V.“, 119.

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Gehörten dem zargo vormals acht kalmückische Würdenträger (Zajsane) an, die ausschließlich aus dem ulus des jeweiligen Chans stammten, so weitete die russländische Regierung das zargo-­Partizipationsrecht nun für Zajsane aller ulus aus. Zudem bestimmte sie, dass die Anzahl der Zajsane sich proportional zur jeweiligen ulus-­Bevölkerung verhalten müsse, und verfügte, dass Entscheidungen durch ein Mehrheitsrecht zu fällen waren.730 Damit veränderten sich die Machtverhältnisse fundamental. Der neue zargo, den die russländische Regierung jetzt „kalmückische Regierung“ nannte, schwächte drastisch die Macht des Chans und erweiterte erheblich die Möglichkeiten für die russländische Seite, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.731 Nach fast einem halben Jahrhundert der Durchdringung kalmückischer Strukturen schien der Regierung das ausgeworfene Netz stabil genug, um die Maschen enger zu ziehen und das politische Eigenleben der Kalmücken einem Ende zuzuführen. Doch die Zarenseite verkannte das Ausmaß existentieller Not auf kalmückischer Seite. Im Ergebnis steuerte die Administration für beide Seiten auf eine Katastrophe hin. Die Verzweiflung der Kalmücken speiste sich nicht nur aus der wachsenden administrativen russländischen Kontrolle über die innerkalmückischen Angelegenheiten. Vielmehr fügten sich in den späten 1760er Jahren alle Facetten der russländischen kolonialen Politik zu einem erdrückenden Gesamtbild zusammen: Katharina II. hatte die ohnehin seit Jahrzehnten beständig fortgesetzte Kolonisation der Wolgagebiete massiv verstärkt, wodurch den Kalmücken viele der Ländereien entzogen wurden, die vorher nur ihnen als Weideland zur Verfügung gestanden hatten.732 Die Warnungen Ubašis, die kalmückischen Herden würden bald kein Futter mehr haben und umkommen, brachte die Regierung nicht von ihrem Kurs ab.733 Hinzu kamen die wachsenden Forderungen nach kalmückischen Kavalleristen.734 Als 1768 erneut ein russländisch-­osmanischer Krieg ausbrach, brachte die

730 Gramota k namestniku Kalmyckago chanstva Ubaše. In: SIRIO Bd. 48, Nr. 504, 459 – 461; P al ’mov , Ėtjudy po istorii privolžskich kalmykov, Bd. 5, 25. 731 In strittigen Fragen besaß das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten das Recht, sich in die Diskussion des zargo einzuschalten und sogar die Entscheidung zu fällen. Ob upravlenii kalmyckim narodom. Žurnal Ministerstva vnutrennich del. St. Petersburg 1835, č. 15, Nr. 1, IV; B určinova , Kalmykija v sisteme, 50; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 225. 732 K hodarkovsky , Russian Peasant and Kalmyk Nomad. 733 Katharina II. antwortete auf kalmückische Beschwerden, es gebe sehr wohl genügend Weideland beiderseits der Wolga, die zunehmenden Siedlungen steigerten den Handel und böten den Kalmücken Schutz vor gegnerischen Raubüberfällen. Gramota k namestniku chanstva kalmyckago Ubaše. In: SIRIO Bd. 67, Nr. 1446 (1766), 197 – 199. 734 Zur wachsenden Inanspruchnahme kalmückischer Kavalleristen durch die zarische Regierung seit Beginn des 18. Jh. und zum Bemühen, aus deren irregulären Einheiten allmählich Einheiten werden zu lassen, die zum regulären Bestand der russländischen Armee zählen, siehe Š ovunov , Kalmyki v sisteme voennoj organizacii; E mel ’janov , Razvitie taktiki russkoj armii, 74.

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Abb. 30: Kalmückische Siedlung in der Steppe. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert

Anweisung der Zarin, Ubaši habe 20.000 Kalmücken in den Krieg nach Azov zu ­schicken und die übrigen Kalmücken gegen die Kuban-­Tataren einzusetzen, das Fass zum Überlaufen.735 Die Kalmücken stellten nur die Hälfte der angefragten Zahl. Zwischen Ubaši und dem von russländischer Seite eingesetzten Generalmajor Ivan Fedorovič de Medem, unter dem die Kalmücken zu dienen hatten und der ihnen mangelnde Disziplin vorwarf, kam es zu einem persönlichen Zerwürfnis. Die Kalmücken kehrten im späten Herbst zu ihren Herden zurück, ohne dafür auf die Erlaubnis zu warten. Die russländische Regierung betrachtete d­ ieses Verhalten als Desertieren und ordnete harte Körperstrafen an.736 Die Forderungen nach Geiselstellung von Ubašis Sohn taten ihr Übriges, um 1770 den Enkel des früheren Donduk-­Ombo-­Chans, Tajši Cebek-­Dorži, im zargo ausrufen zu lassen: „Von allen Seiten werden Eure Rechte von den Russen beschränkt. Die Befehlshaber ­dieses Volks gehen nicht nur hart mit den Kalmüken um, sondern die Regierung selbst scheint sich mit der Absicht zu beschäftigen, diese unabhängigen Steppenbewohner in ansässige Landleute zu verwandeln. Schon sind die Ufer des Jaik mit Kosakenfestungen

735 Žurnal voennych dejstvij armij imperatorskogo veličestva 1769 goda. St. Petersburg (nicht nummerierte Seiten). Hier zitiert nach Š ovunov , Kalmyki v sisteme, 43. 736 B utkov , Materialy dlja novoj istorii Kavkaza Bd. 1, 303 – 310; B elikov , Kalmyki v bor’be za nezavisimost, 96 – 97; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 228 – 230.

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bedeckt, schon die nördlichen Gränzen [sic!] von ausgewanderten Deutschen besetzt, und bald werden ihnen durch andere Niederlassungen, der Don und Terek, die Kuma und Wolga entrissen werden, um ihr streifendes Leben auf wasserlose Gegenden einzuschränken und ihre Herden zu zerstören. Schon wurde der Sohn des Fürsten zur Geisel gefordert. […] Die Aussicht in die Zukunft lässt Euch keine andere Wahl übrig, als entweder unter das Joch der Sklaverei Euren Nacken zu beugen, oder durch eine schleunige Entfernung aus dem russischen Reiche, Eurem Untergange zuvor zu kommen.“ 737

Tajši Cebek-­Dorži stand mit seiner Analyse der russländischen kolonialen Politik und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen nicht allein. Die Mehrheit der Kalmücken wählte unter Ubaši die Option, das Zarenreich zu verlassen.738 Im Januar 1771 machten sich mehr als 150.000 Kalmücken zu einer langen und tragischen Flucht nach Dsungarien und damit ins Reich der Qing-­Dynastie auf.739 Unterwegs sollten Zehntausende an Krankheiten, Hunger, Kälte und durch kasachische Überfälle sterben, rund 10.000 gerieten in Gefangenschaft. Es wird heute davon ausgegangen, dass fast 100.000 Kalmücken während des Exodus umkamen.740

737 v . B ergmann , Nomadische Streifereien unter den Kalmüken [1804 – 1805], Bd. 1, 181 – 183. (Die in der Quelle trotz Anführungszeichen verwendete indirekte Rede wurde hier zur besseren Verständlichkeit in direkte Rede umgewandelt.) – Bergmann, der aus Lettland stammte, bereiste in der Tradition deutschsprachiger Forschungsreisender des 18. Jh. die Wolga-­Region und verfasste mit seinem Bericht über den kalmückischen Exodus die wohl erste ausführliche Darlegung der Tragödie („Versuch zur Geschichte der Kalmükenflucht von der Wolga“). Aufgrund seiner mongolischen und kalmückischen Sprachkenntnisse beruhen seine Ausführungen auf Aussagen damals noch lebender Augenzeugen. Vgl. Siegbert Hummel: Einführung. In: Bergmann, Nomadische Streifereien, V-VIII. – Kurze zeitgenössische Erwähnungen finden sich außerdem in der Publikation von P allas , Reise durch verschiedene Provinzen [1771 – 1776]; v . B ergmann , Nomadische Streifereien, 141 – 142. 738 Die kalmückische Oberschicht übte allerdings auch Druck auf das einfache Volk aus, den Exodus zu vollziehen. B atmaev , Dokumental’nye materialy, 50. 739 Die zwei zentralen Monographien zu dieser Tragödie sind bislang D ordžieva , Ischod kalmykov v Kitaj v 1771; K olesnik , Poslednee velikoe kočev’e. – Daneben: Očerki istorii Kalmyckoj ASSR, Bd. 1, 216; Dnevnye zapiski putešestvija, 55; H ummel (Hg.), Eminent Chinese of the Ch’ing Period, Bd. 2, 659 – 661; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 232. 740 Očerki istorii Kalmyckoj Bd. 1, 217; S chorkowitz , Die sozialen und politische Organisation bei den Kalmücken, 223 – 234; M ish , The Return of the Turgut; B arkman , The Return of the Torghuts; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 234; Pis’mo chana Nurali grafu N. Paninu s žaloboj na oslablenie ego chanskoj vlasti. In: KRO Nr. 275 (26. 5. 1770), 700 – 702, hier 701. – Ein Kosake, der sich zum Zeitpunkt der Emigration in einem kalmückischen Camp aufhielt, wurde gefangen genommen und gezwungen, mit den Kalmücken zusammen nach Dsungarien zu fliehen. Seine Niederschrift der Erlebnisse überlebte: Adventures of Michailow, a Russian Captive; among the Kalmucks, Kirghiz, and Kiwenses. Written by himself. London 1822. – Auch in der fiktiven Literatur fand der kalmückische Exodus Niederschlag: de Q uincey , Revolt of the Tatars or Flight of the Kalmuck Khan. – Heute ist die Tragödie der Kalmücken in Europa nur wenigen Experten bekannt.

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Zwar waren die russländische Regierung und die Zarin davor gewarnt worden, dass die Kalmücken möglicherweise versuchen könnten zu fliehen. Doch hatte man diese Information für nicht glaubhaft befunden und daher nicht ernst genommen.741 Entsprechend fassungslos und erbost reagierte die Regierung darauf, dass sie den Exodus ihrer Untertanen weder im Vorfeld verhindert hatte noch die laufende Flucht stoppen konnte: Die Jaiker Kosaken widersetzten sich den russländischen Anweisungen, die Kalmücken bei ihrer Überquerung des Jaik aufzuhalten, so dass eine russländische Verfolgungsjagd ‚der Aufständischen‘ erst verzögert in Gang kam und insgesamt zu spät erfolgte, um die Fliehenden auf russländischem Gebiet noch aufzuhalten.742

Die letzte Etappe der Entmachtung kalmückischer Selbstverwaltung Dafür sah die Zarenregierung jetzt keine Notwendigkeit mehr, sich noch weiter mit Vorsicht um die Loyalität der in rund 13.000 Zelten verbliebenen Kalmücken zu bemühen. Widerstand war bei den Zurückgebliebenen kaum mehr zu erwarten. Statt kalmückische politische Institutionen weiter nur mehr Schritt für Schritt zu verändern, hielten der Astrachaner Gouverneur Nikita A. Beketov und mit ihm Katharina II. den Zeitpunkt für gekommen, die kalmückischen Autonomiestrukturen gänzlich abzuschaffen. Mit Dekreten vom Oktober und Dezember 1771 wies die Zarin Beketov an, den Titel sowohl des kalmückischen Chans als auch jenen eines kalmückischen Statthalters des Chanats zu beseitigen. Alle verbliebenen Tajšis wurden direkt dem Astrachaner Gouverneur unterstellt.743 Beketov erhielt 741 Zu den dringlichen Warnungen vor einem Exodus und den Zweifeln innerhalb der Administration bis hin zu Zarin Katharina II., die den Gerüchten über eine bevorstehende Flucht der Kalmücken keinen Glauben schenkte: K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 120 – 122. – Zu den Zahlenangaben der Zelte, die aus den Volkszählungen der folgenden Jahre gewonnen wurden: Kalmyckaja step’, 163 – 166; K hodarkovsky , Where Two Worlds Met, 232 Fn. 88. 742 Den von der Regierung mit der Verfolgung der Kalmücken beauftragten russländischen Generalmajor von Traubenberg begleitete Kapitän Nikolaj Ryčkov, der die „Reise“ in einem Tagebuch festhielt. Ryčkov beschreibt darin die Gegebenheiten der Steppe und den Marsch der russländischen Truppen, kaum hingegen die Kalmücken, die in ihrer Eigenschaft als ‚Aufständische‘ bloß als Ziel des Unternehmens benannt werden. Dnevnye zapiski putešestvija kapitana Nikolaja Ryčkova v kirgis-­kajsackoj stepi 1771 godu. St. Petersburg 1772, zur Bezeichnung als „Aufständische“: 3. – Die Kosaken entlang der Orenburger und Sibirischen Festungslinie waren auch zuvor keine durchgehend verlässlichen Partner der russländischen Regierung gewesen. Weder hatten sie die Priorität noch die Vorstellung einer Zivilisierungsmission verinnerlicht und orientierten sich in erster Linie an praktischen Erwägungen. M alikov , Tsars, Cossacks, and Nomads. 743 B určinova , Kalmykija v sisteme, 48 – 55.

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die Anweisung, künftig die Kalmücken das ganze Jahr über an das Gebiet westlich der Wolga zu binden und jeden Flussübertritt zu untersagen.744 Damit war die politische Autonomie der Kalmücken beseitigt. Der Schritt erfolgte im Einklang mit Katharinas II. Politik gegenüber dem ersten Gebilde politischer Autonomie im Russländischen Reich – der Hetmanats-­Ukraine: Dort hatte sie bereits 1764 den Hetman abgesetzt, 1782 das Hetmanat endgültig abgeschafft und Letzteres durch eine imperiale Gouvernementsverwaltung ersetzt.745 Was für die einen ein Frontalangriff auf ihre Identität, die Tilgung ihres Gemeinwesens sowie vor allem für die einfachen Leute des Hetmanats wachsende Unfreiheit bedeutete, folgte in der Logik der Zarin einem notwendigen Kurs, um die imperialen Peripherien in den Gesamtstaat zu integrieren, diesen zu vereinheitlichen und möglichst viele Regionen durch dieselbe Verwaltungsstruktur einander anzunähern.746 An dieser Stelle wird deutlich, dass die beiden Prozesse der Kolonialisierung und der „administrativen Russifizierung“ im Sinne einer kameralistisch begründeten Strategie des Staatsausbaus ineinander übergehen konnten.747 Letztere bedeutete im angestrebten Ergebnis das Ende kolonialer wie imperialer Politik: Denn wenn im Falle ihres Erfolges die Fremdsteuerung einer gesamten Gesellschaft (und Ausrichtung an den russländischen Interessen) an ihrem Endpunkt der vollständigen institutionellen Angleichung und politischen Gleichstellung mit allen anderen Teilen des Reiches angekommen war, gab es – administrativ gesehen – keinen Unterschied mehr z­ wischen Metropole und Peripherie. Das Imperium hätte sich dann in einen Einheitsstaat verwandelt.748 744 B utkov , Materialy dlja novoj istorii, Bd. 1, 311; B elikov , Kalmyki v bor’be, 104; Očerki istorii Kalmyckoj, Bd. 1, 222. 745 Auch das politische Gebilde der Zaporoher Kosaken, die Zaporoher Seč, die südlich des Hetmanats lag, löste Katharina II. 1775 auf. PSZRI Bd. 20, Nr. 14.354 (3. 8. 1775), 190 – 193. 746 Eine Ausnahme bildeten die Ostseeprovinzen. Aufgrund des hohen Ansehens, das die dort herrschende Elite und ihre politische Selbstorganisation bei der Zarenregierung besaß, durften sie ihre Gesellschafts- und Verwaltungsstrukturen mit zahlreichen Privilegien selbst unter Katharina II. beibehalten. Die Zarin schränkte deren Autonomie zwar ein, schaffte sie aber nicht ab. L aur , Katharina II. und die Kapitulationen von 1710, 120/121; T haden , Russia’s Western Borderlands, 18 – 31; de M adariaga , Russia in the Age of Catherine the Great, 61 – 66, 315 – 324; L e D onne , Ruling Russia, 325 – 334; L aur , Katharina II. und die Kapitulationen von 1710, 119 – 128. – Zur übrigen Politik staatlicher Verreinheitlichung N ol ’de , Essays in Russian State Law, Bd. 4, Nr. 3, 891 – 903; R aeff , Uniformity, Diversity, and the imperial Administration, 91 – 113; K ohut , Russian Centralism and Ukrainian Autonomy, 299 – 305; K ohut , Ukraine: From Autonomy to Integration. 747 Der Begriff der „administrativen Russifizierung“ stammt von T haden , Russification in Tsarist Russia [1983], 206. – Siehe zum Begriff und Phänomen der Russifizierung auch die Schlussbetrachtung dieser Arbeit. 748 Neben dem Wandel vom Imperium zum Nationalstaat gab es auch jenen von der composite ­monarchy zum Nationalstaat. Die „zusammengesetzte Monarchie“ fußte im Gegensatz zum Imperium auf dem Prinzip aeque principaliter („genauso wichtig“), ging also von einander gleichgestellten, wenn auch verschiedenen Teilen eines Staatsgebietes aus. E lliott , A Europe of

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Im Falle der Hetmanats-­Ukraine allerdings war die politische Ausrichtung des Gesamtkurses hin zu einer vollständigen Fusion mit der Metropole sehr viel deutlicher zu erkennen als gegenüber den Kalmücken. Administrative Vereinheitlichung wurde im Falle ‚Kleinrusslands‘ mit einer ausgeprägten Assimilierungspolitik verbunden, zumal sich gegen Ende des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert in der russischsprachigen Bevölkerung zunehmend die Vorstellung durchsetzte, die orthodoxen ‚Kleinrussen‘ ­seien ohnehin Teil einer allrussischen Nation.749 Die kulturelle Differenz z­ wischen dem russischen Titularvolk und den Kalmücken war hingegen weitaus größer. Selbst eine Politik, deren Fokus bloß auf der institutionellen Homogenisierung lag, stand vor großen Herausforderungen, um die verbliebene kalmückische Elite überhaupt nur auf diesen Kurs zu verpflichten.750 Die russländische imperiale Elite und allen voran die Zarin selbst glaubten im Geiste spätaufklärerischer Narrative, die Herausforderung vor allem mit einem Mittel meistern zu können: indigene Eliten administrativ in Institutionen, die von russländischer Seite geschaffen wurden, einzubinden und sie über diese Teilhabe allmählich zu ‚erziehen‘. Zwar kam ­dieses Konzept erst ein Jahrzehnt ­später richtig zur Anwendung – vor allem unter dem Orenburger Gouverneur Igel’strom gegenüber den Kasachen der Kleinen Horde sowie s­ päter gegenüber den Kabardinern (und wird im kasachischen Kontext noch genauer zu beleuchten sein). Doch bildete die russländische Politik gegenüber den Kalmücken von 1771 gleichsam die Vorlage für alle späteren Anwendungen.751 An die Stelle des traditionellen zargos, dem früher rechtsprechenden, beratenden und seit den 1760er Jahren entscheidungsbefugten Gremium beim kalmückischen Chan, und an die Stelle des zwischenzeitlich eingesetzten Obersts Fürst Aleksej Dondukovič Dondukov als Oberbefehlshaber über die Kalmücken sollte nun ein Gericht mit Sitz in Astrachan treten. Diesem Gericht waren sämtliche Composite Monarchies. – Aleksej Miller und Stefan Berger haben jüngst betont, dass Imperien nicht länger in binärer Opposition zu Nationalstaaten gesehen werden sollten, sondern vielmehr die fließenden Übergänge in den Vordergrund zu rücken s­ eien. M iller /B erger , Introduction; Kritische Anmerkungen dazu T her , „Imperial Nationalism“ as Challenge for the Study of Nationalism; L ieven , Empires and Their Core Territories, 647 – 660. 749 Zum Konzept der allrussischen oder ‚großen russischen‘ Nation M iller , „Ukrainskij vopros“, 31 – 41. 750 Im Falle des Hetmanats und der Zaporoher Seč ordnete Katharina II. an, möglichst alle Erinnerungen an sie zu tilgen. N ol ’de , Essays in Russian State Law, 889 – 890. 751 Auch in imperialen Peripherien, denen wie in Jakutien im 18. Jh. keine Strukturen politischer Autonomie zugestanden wurden, gelang das katharinäische Anliegen der Einbindung indigener Eliten in die Institutionen russländischer Staatlichkeit: Die Methode, dass die Regierung jasak-­ Eintreiber in sämtliche jakutischen und burjatischen Gebiete entsandte, wurde unter der Zarin abgeschafft, die jasak-­Eintreibung stattdessen in die Eigenverantwortung von Jakuten und B ­ urjaten übergeben. Z alkind , Jasačnaja politika carizma v Burjatii, 239 – 240; A lekseev /A lekseeva / Z ubkov /P oberežnikov (Hg.), Aziatskaja Rossija, 389 – 411.

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kalmückischen Streitfälle zur Begutachtung und Beratung vorzulegen. Die Entscheidungen oblagen dem Astrachaner Gouverneur.752 Von jedem der vermögenden kalmückischen Viehbesitzer (vladel’cy) sollten drei kalmückische Würdenträger ausgesucht werden, die sich dauerhaft in Astrachan niederzulassen hatten und mit einem Jahresgehalt von 100 Rubel ausgestattet wurden.753 Der Schritt von einem zur Sesshaftigkeit verpflichteten kalmückischen „Richter“ mit beratender und begutachtender Funktion, der seine Besoldung vom russländischen Staat erhielt, hin zu einem Beamten der zarischen Administration war aus russländischer Sicht nicht mehr weit. Zwischen Judikative und Exekutive wurde nicht streng unterschieden, wesentlich waren die Akzeptanz und die Unterstellung unter den russländischen Staat. Dies offenbarte sich auch in der institutionellen Anbindung und den administrativen Bezeichnungen: Zunächst wurde das Gericht einer ‚Expedition für kalmückische Angelegenheiten‘ zugeordnet, die in der Stadt Astrachan neu gegründet worden war.754 Nach weiteren Umstrukturierungen führte die Zarenregierung 1803 die Kalmücken unter das Dach der allgemeinen Verwaltung des ‚Hauptamtes‘ (glavnyj pristav). Die Institution des zargo blieb nur nominell noch eine Zeit lang bestehen.755 Auch wenn der Prozess, die verbliebenen Kalmücken vollständig in die russländischen Verwaltungsstrukturen zu überführen, erst Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war, so fallen die wichtigsten Phasen, in denen die kalmückischen Institutionen ausgehöhlt und umgewandelt wurden, in das 18. Jahrhundert. Zusammenfassend lassen sich drei große Etappen ausmachen: Mit dem Anbruch der petrinischen Ära mischte sich die russländische Regierung zunehmend in die innerkalmückischen Angelegenheiten ein, indem sie zunächst die Machtfülle des 752 Bereits Anfang des 18. Jh. war mit der Eröffnung eines „Astrachaner Kontors für kalmykische und tatarische Angelegenheiten“ unter der Führung des Astrachaner Gouverneurs ein Gremium gegründet worden, in dem Regierungsbeamte mit vom Chan bestimmten kalmückischen Z ­ ajsane sowie mehreren tatarischen Mirza strittige Fragen der Steppenbewohner begutachteten. Ob upravlenii kalmyckim narodom. Žurnal Ministerstva vnutrennich del. St. Petersburg 1835, č. 15, Nr. 1, II; B určinova , Kalmykija v sisteme, 50. 753 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 123. 754 Der Beginn russländischer Expansion in die kasachischen Steppen begann mit der Bildung einer ‚Orenburger Expedition‘. Die dt. Semantik dieser Bezeichnung ist irreführend, da es sich nicht bloß um eine Forschungsreise handelte, sondern um ein ausgefeiltes Programm, das die dauerhafte Unterwerfung der Kasachen anstrebte. S mirnov , Orenburgskaja ėkspedicija (komissija). – Zum zeitgenössischen Verständnis von ekspedicija siehe das Lemma in T atiščev , Leksikon ­rossijskoj istoričeskoj, geografičeskoj, političeskoj i graždanskoj [Original von spätestens 1749], in: ­Izbrannye proizvedenija, 273. Tatiščev macht deutlich, dass eine ‚Expedition‘ immer auch militärisch begleitet wurde sowie unter anderem der Kolonisationsvorbereitung dienen konnte. 755 PSZRI Bd. 27, Nr. 21.011 (26. 10. 1803), 955; Bd. 33, Nr. 26.196 (14. 3. 1816), 555 – 556; Očerki istorii Kalmyckoj ASSR, Bd. 1, 243; B určinova , Kalmykija v sisteme, 52; S chorkowitz , Die sozialen und politische Organisation bei den Kalmyken, 247 – 255.

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Ajuki-­Chans massiv verstärkte, um ihn für die russländische Seite einzunehmen und ihn im Kampf gegen seine Rivalen durchsetzungsfähig werden zu lassen. Als diese Politik zum Erfolg geführt hatte, traf der Astrachaner Gouverneur Artemij Volynskij als zweiten Schritt innerhalb derselben Etappe Maßnahmen, um die Macht des Chans wieder zu begrenzen und den russländischen Einfluss durch den Ausbau eines Agentennetzes und der Überwachung des Chans auszuweiten. Als es der russländischen Regierung 1724 gelang, nach dem Tod des Ajuki-­Chans statt eines neuen Chans einen Statthalter des Chanats von der Zarin Gnaden einzusetzen, sah sich die russländische Seite zwar immer wieder gezwungen, den Kalmücken Zugeständnisse zu machen, konnte aber insgesamt ihre einflussreiche Position ausbauen. In der dritten Etappe, die mit dem Regierungsantritt Katharinas II. um 1762 anzusetzen ist und mit dem Exodus der Kalmücken 1771 endete, beraubte die russländische Regierung die Kalmücken der Funktionsfähigkeit des zargo als der zweiten wichtigen traditionellen Institution. Nach dem Exodus eines Großteils der Kalmücken war die politische Autonomie gebrochen, das Amt des Chans abgeschafft. Im weiteren Verlauf der 1770er Jahre folgten Maßnahmen zur administrativen Akkulturierung der verbliebenen kalmückischen Elite, die für den Umgang mit indigenen Eliten an der Peripherie auch künftig wegweisend sein sollten. Gleichwohl ist fraglich, inwieweit die russländische Politik aus zarischer Sicht als erfolgreich bezeichnet werden konnte. Die Flucht derart vieler russländischer Untertanen war nicht nur blamabel für die Administration. Sie offenbarte vor allem eklatante Schwächen in der Politik der imperialen Elite, die zuweilen die tatsächlich erreichte Machtposition sowie Attraktivität der Reichszugehörigkeit überschätzte und sich zu stark als Herr des Verfahrens von Unterwerfung und Eingliederung betrachtete. Hinzu kam das Problem, dass die Strategie der starken Anbindung kalmückischer Anführer an das Russländische Reich zu deren politischen Ohnmacht gegenüber der eigenen ethnischen Gruppe führte und damit das russländische Ziel der Disziplinierung nach russländischen Interessen konterkarierte. Im Ergebnis hatte das Zarenreich zwar das von den Kalmücken zuvor besiedelte Land zur eigenen Disposition gewonnen, die Herrschaft über einen Großteil der schon lange einverleibten ethnischen Gruppe jedoch verloren.

Russländische Politik der administrativen Durchdringung, Loyalisierung und Zivilisierung der kasachischen Elite Als mit Abulchair-­Chans Eid auf die zarische Untertanenschaft von 1731 die Kasachen der Kleinen Horde nominell zu Untertanen des Russländischen Reiches geworden waren, hatte die Zarenregierung im Umgang mit der Hetmanats-­Ukraine sowie mit

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den Kalmücken bereits erhebliche Erfahrung damit gesammelt, zunächst Autonomie zu gewähren und diese dann schrittweise auszusetzen. Sie hatte Methoden entwickelt, wie indirekte Herrschaft und damit das anfängliche Versprechen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten einer ethnischen Gruppe einzumischen, allmählich ausgehöhlt und Schritt für Schritt in Richtung einer direkten russländischen Herrschaft transformiert werden konnte. Im Falle der Kasachen der Kleinen Horde kamen diese erprobten Praktiken administrativer Einmischung zum Teil identisch zur Anwendung, zum Teil wurden sie wesentlich verfeinert bzw. durch ausgefeilte imperiale Inszenierungen verstärkt. Vor allem aber spielte im Unterschied zur russländischen Politik gegenüber den Kalmücken weitaus stärker die Frage eine Rolle, wie die Kasachen im Rahmen dieser Praktiken erfolgreich ‚zivilisiert‘ werden könnten. Dieser Unterschied im Umgang mit Kalmücken und Kasachen rührte daher, dass die Kasachen erstens wesentlich s­ päter als die Kalmücken nominelle Untertanen des Russländischen Reiches geworden waren (1731 versus 1657). Damit fiel die Verdichtung administrativer Maßnahmen bei den Kasachen bereits in die Zeit, in der ein Großteil der imperialen Elite Narrative der Aufklärung mit dem Fokus auf dem Paradigma der Zivilisiertheit rezipierte. Zweitens und mindestens so gewichtig aber wird das jeweils unterschiedliche russländische Interesse an den beiden Bevölkerungsgruppen gewesen sein: Während zwar seit den 1740er Jahren im Zusammenhang mit der Gründung von Stavropol’ große Bemühungen stattfanden, (getaufte) Kalmücken zu ‚zivilisieren‘ („bezähmen“, taufen, sesshaft werden und den Ackerbau erlernen sowie russländische Alltagsgepflogenheiten annehmen zu lassen),756 gibt die Diskussion von 1764 zur Frage, ob nicht die Kalmücken vollständig sesshaft gemacht werden sollten, Aufschluss darüber, wozu sie aus russländischer Sicht vorrangig nützlich waren: als mobile Krieger, die umherzogen und dadurch andere vor dem Einfall in die Steppen abhielten, da ihr Aufenthaltsort wechselte, sowie vor allem als jederzeit zu mobilisierende, herausragende Kavalleristen, die in zahlreichen Kriegen des Russländischen Reiches schon erfolgreich eingesetzt worden waren und auch in Zukunft eingesetzt werden sollten.757 Eine ‚Zivilisierung‘ konnte ­dieses Anliegen nur konterkarieren und die Abschreckungskraft der gerade auch im Siebenjährigen Krieg von Westeuropäern gefürchteten Krieger nur verringern.758 Anders lagen die Dinge bei den Kasachen. Hier bestand das russländische Interesse vorrangig darin, dass sie den Transithandel, der über ihre Gebiete nach 756 Vgl. die Ausführungen in Kap. 4.4. 757 PSZRI Bd. 16, Nr. 12.198 (5. 7. 1764), 827 – 829; K hodarkovsky , Russian Peasant and Kalmyk Nomad, 59; P opov /U stjugov /B elikov , Kalmyckoe chanstvo v XVIII v., 199. – Den kalmückischen Verbänden eilte ein angsteinflößender Ruf voraus, der auf ihrer blitz- und überfallartigen Angriffstaktik und überlegenen Beweglichkeit beruhte. S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 170 – 172. 758 S chorkowitz , Die soziale und politische Organisation bei den Kalmücken, 171.

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Indien, Buchara und China verlief, friedlich passieren ließen. Darüber hinaus konnten sie durch vermehrten Ackerbau die Versorgungslage von Karawanen sowie Festungsbesatzungen verbessern und durch Sesshaftwerdung Land für kolonisierende russländische Ackerbauern frei werden lassen. Für alle drei Ziele erschien der russländischen Regierung eine „Loyalisierung“, „Bezähmung“ und „Zivilisierung“ unabdingbar.759 Trotz dieser Unterschiede in der Frage, zu w ­ elchen Zwecken die russländische Seite die beiden ethnischen Gruppen jeweils zu instrumentalisieren gedachte, eigneten sich die Praktiken, die anhand der Kalmücken (und teilweise zuvor anhand der Hetmanats-­Ukraine) zur politischen Loyalisierung und administrativen Einmischung entwickelt worden waren, auch für die Kasachen. Wie bei den Kalmücken bestand unmittelbar nach Aufnahme in die Untertanenschaft die Strategie für den ersten Schritt darin, die Beziehung zum indigenen Anführer zu intensivieren, Vertrauen wachsen zu lassen und durch eine großzügige Gabenkultur materielle Abhängigkeiten aufzubauen. Wie bei den Kalmücken war das zweite Etappenziel noch weit ehrgeiziger. Es ging darum, den Fuß in die Tür zu bekommen, wenn innerkasachische politische Abstimmungsprozesse anstanden. Im Kern ging es um das russländische Mitspracherecht bei der Bestimmung des Anführers. Nun war Abulchair bereits Chan der Kleinen Horde, als er und sein Gefolge 1731 die zarische Untertanenschaft annahmen; er konnte nicht nachträglich von „I. K. H. Gnaden“ abhängig gemacht und von russländischer Seite eingesetzt werden. Um so größere Bedeutung erhielt aus russländischer Sicht der von ihm zu leistende Treueid, mit dem er sein Chan-­Amt doch zumindest indirekt der Zarin unterstellte. Auf diese Weise würdigte die Zarenregierung die Eidleistung von Abulchair-­Chan im Oktober 1731 mit denselben Insignien, mit denen auch fünf Monate zuvor Čeren-­Donduk bei seiner Einsetzung als kalmückischer Chan von der Zarin Gnaden bedacht worden war: Abulchair-­Chan erhielt die jetzt etablierten „Zeichen der Gnade“ (znaki milosti) in Form eines Zobelmantels, einer Fellmütze (dieses Mal aus Silberfuchsfell) und eines Säbels überreicht.760 759 Alle drei Begriffe sind Quellenbegriffe und wurden ab den 1740er Jahren (obuzdanie, „Bezähmung“ und uderžanie v vernosti, „Haltung in Treue“, „Loyalisierung“) bzw. ab den 1750er Jahren (prividenie v ljudkost’, „Zivilisierung“) von der russländischen imperialen Elite vielfach verwandt. Siehe zum Beispiel: Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob ubijstve chana Abulchaira i o predprinjatych im v svjazi s ėtim merach. In: KRO Bd. 1, Nr. 153 (3. 9. 1748), 395 – 403, hier 401; Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. Del po povodu peregovorov chana Abulmambeta s Galdan-­Cerenom (Sekretnejše). In: KRO Bd. 1, Nr. 104 (18. 11. 1742), 268 – 269, hier 268; Predstavlenie general-­majora A. ­Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o položenii v Malom i Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 585. 760 Iz žurnala perevodčika M. Tevkeleva, ezdivšego v Malyj žuz dlja peregovorov o poddanstve kazachov. In: KRO Bd. 1, Nr. 33 (3. 10. 1731 – 14. 1. 1733), 48 – 86, hier 56.

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Abb. 31: Empfang von Gästen im Zelt von Abulchair-­Chan, Kleine Horde der Kasachen. Lithographie einer Zeichnung Dž. Kėstl’ von 1736

Die äußeren Umstände des Treueids und der Insignienübergabe waren jedoch alles andere als günstig. Unter großen Teilen der Würdenträger (Batyry und Älteste), die sich strikt gegen den Eintritt in die zarische Untertanenschaft ausgesprochen hatten, herrschte eine gewaltbereite Unzufriedenheit mit Abulchair-­Chans Schritt. Eine größere feierliche Zeremonie war undenkbar, vielmehr erhielt Abulchair-­Chan die Insignien rasch während eines Mittagessens übergeben. Der russländische Gesandte Tevkelev musste sich anschließend unter Lebensgefahr aus dem kasachischen Lager schleichen.761

761 Ebd., bes. 83 – 86.

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Im Zuge ihrer Loyalisierungsstrategie gelang es der russländischen Regierung binnen weniger Jahre, die Stimmung unter vielen kasachischen Würdenträgern zu wandeln. Nicht nur Geschenke wurden großzügig verteilt. Erstmals bestimmte die Zarenregierung Weide- und Jagdgebiete, die nur den Kasachen der Kleinen Horde zugedacht waren, und dies selbst auf der begehrten rechten Uferseite des Jaik.762 Damit verband sich für die Kasachen die Hoffnung, den seit Jahrhunderten immer wieder aufflammenden Kämpfen um konkurrierende territoriale Ansprüche mit zunächst Nogaiern, dann Kalmücken, Jaiker Kosaken und Baschkiren ein Ende bereiten zu können.763 Die gewandelte Stimmung machte es möglich, 1738 unter weitaus festlicheren Umständen und im Rahmen eines schon sorgfältiger ausgearbeiteten Protokolls eine zweite Vereidigung Abulchair-­Chans durchzuführen.764 Aus russländischer Sicht war eine neue Vereidigung zum einen überfällig, weil sich der kasachische Chan äußerst ambivalent während der baschkirischen Aufstände und des sich anschließenden russländisch-­baschkirischen Krieges verhalten hatte.765 Zum anderen galt es, die gewandelte pro-­russländische Stimmung unter der kasachischen Oberschicht auszunutzen und diese Oberschicht durch eine machtvolle imperiale Selbstinszenierung stärker für das Zarenreich einzunehmen. Statt Abulchair-­ Chan für seine eidverletzenden Verhaltensweisen abzustrafen, konnte der Chan mit einem Schlag in seiner Ehrsucht befriedigt und konnten jene Kasachen der Kleinen und möglicherweise auch der Mittleren Horde beeindruckt werden, die der zarischen Untertanenschaft noch fern geblieben waren.766 Zudem hatte sich auch am Hofe in St. Petersburg Ende der 1730er und Anfang der 1740er Jahre das Bewusstsein breit gemacht, dass es politisch von Nutzen sei, mit repräsentativen Zeremonien die kaiserliche Herrschaft und zarische Gnade sichtbarer werden zu lassen.767 Nun hielt diese Methode auch an der imperialen Peripherie Einzug. In der neu errichteten Stadt Orsk wurde Abulchair-­Chan 1738 unter dem Klang von Pauken und Trompeten ein prächtiger Empfang bereitet, eine Paradeschau lokaler 762 PSZRI Bd. 9, Nr. 6576 (16. 5. 1734), 323 – 330, hier 324 Punkt 9; E rofeeva , Chan Abulchair, 213. 763 Tevkelev beschrieb den Sinneswandel gegenüber dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten folgendermaßen: „Das ganze kasachische Volk konnte Abuclhair-­Chan nicht leiden, als er auf seine Bitte hin 1731 in die Untertanenschaft des Russländischen Imperiums aufgenommen wurde. Aber nach ihrer Aufnahme in die Untertanenschaft, als sie begannen, im Wohlstand zu leben, da liebte und verehrte das kasachische Volk ihn außerordentlich.“ E rofeeva , Chan Abulchair, 215. 764 Gramota imp. Anny na imja chana Abulchaira v svjazi s povtornoj prisjagoj chana i sultana Nurali na poddanstvo Rossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 67 (19. 9. 1738), 129 – 130. 765 V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 1, 158 – 159; E rofeeva , Chan Abulchair, 225. 766 E rofeeva , Chan Abulchair, 226. 767 A geeva , Imperatorskij dvor Rossii; dies ., Diplomatičeskij ceremonial; Z acharova , Svetskie ceremonialy; dies .: Vlast’ ceremonialov i ceremonialy vlasti; dies ., Gosudarstvennyj Ceremonial.

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Armeeeinheiten präsentiert, es wurden Artillerieschüsse abgegeben und nach Ableistung des Treueids großzügig Geschenke verteilt. Der Versuch, durch die Inszenierung militärischer Stärke die russländische Untertanenschaft attraktiver aussehen zu lassen, zahlte sich aus. Einen Tag s­ päter gelang dem amtierenden Leiter der ‚Orenburger Expedition‘, Vasilij Nikitič Tatiščev, auch die Abnahme des Treueides vom Sohn des Chans, von Sultan Ėrali sowie von 56 weiteren Ältesten, Bij und Batyry.768 Auch die Strategie, mit pompösen Feierlichkeiten und großzügigen Geschenken die Position des Chans der Kleinen Horde gegenüber den Chanen der anderen Horden sichtbar zu erhöhen und die russländische Untertanenschaft mit Glanz nach außen zu versehen, erzielte Wirkung. Generalleutnant Fürst Vasilij Urusov, der Tatiščev 1739 im Amt des Leiters der ‚Orenburger Expedition‘ ablöste, konnte schon 1740 den Chan der Mittleren Horde der Kasachen, Abulmambet, sowie 129 Sultane, Älteste und Batyry auf der Festung Orsk mit Pauken und Trompeten zum Treueid führen. Zeremoniell hatten bereits die Feierlichkeiten von 1738 neue Maßstäbe gesetzt. Doch Fürst Urusov baute sie noch aus. Die Idee, mit Zeremonien innerstaatliche Machtpositionen abzubilden, gesellschaftliche Hierarchien zu festigen und kulturelle Leitbilder an der imperialen Peripherie zu vermitteln, wurde derart ausgefeilt wohl erstmals 1740 von ihm in Szene gesetzt: Eine Militärparade aus Regimentern und Kosaken begrüßte die kasachischen Würdenträger. In der Mitte des reich mit Teppichen ausgelegten Zeltes war ein zarisches Portrait aufgestellt worden. Im Rahmen des Festmahls ließ Urusov zum Wohle der laut Ausgerufenen Kanonensalven abfeuern: 17 Salven für die Zarin, 13 für die zarische Familie, 9 für erfolgreiche Waffengänge, hingegen nur 7 für die Gesundheit des Chans und seiner ganzen Mittleren Horde, 7 für Abulchair-­Chan (von der Kleinen Horde) und seine Untertanen, 7 für die Gesundheit der Sultane und zum Schluss noch 5 Salven für all jene, die in die zarische Untertanenschaft noch einzutreten wünschten.769 Einerseits wurde damit das Bild vermittelt, die Zarin befinde sich in einer nahezu unerreichbaren Sphäre (dem eidleistenden Chan der Mittleren Horde standen nicht einmal die Hälfte der Kanonensalven zu, die für die Zarin abgegeben wurden), andererseits stieg auch der Wert der Gnade, eben dieser Zarin untertänig sein zu dürfen. Die Salven für jene, die vielleicht künftig in die Untertanenschaft noch eintreten wollten, waren da bloß noch ein Wink mit dem Zaunpfahl.770 768 K raft , Prinjatie kirgizami russkogo poddanstva, 38 – 43; E rofeeva , Chan Abulchair, 226. 769 Žurnal’naja zapis’ peregovorov general-­lejtenanta knjzazja V. Urusova s predstaviteljami ­Malogo i Srednego žuzov vo vremja ich priezda v g. Orenburg dlja prinjatija prisjagi na poddanstvo R ­ ossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 70 (19. 8. 1740), 134 – 168, hier 135 – 138. 770 Auch beim prächtigen Tafelessen richtete Urusov die Unterhaltung darauf aus, die Größe und Stärke der Zarin sowie die russländischen Heldentaten im jüngst vergangenen Russländisch-­ Türkischen Krieg zu preisen. Die Kasachen sollten Gefühle des Stolzes, Glücks und der

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Ivan Ivanovič Nepljuev als Leiter der Orenburger Kommission und erster Orenburger Gouverneur Als Fürst Urusov 1741 verstarb und von Ivan Nepljuev im Amt des Leiters der ‚Orenburger Kommission‘ (früher: ‚Expedition‘) ersetzt wurde, ähnelte der Grad an Loyalität der Kasachen der Kleinen Horde gegenüber dem Russländischen Reich demjenigen der Kalmücken von 1718, als Artemij Petrovič Volynskij zum neuen Gouverneur von Astrachan ernannt worden war. Während die Zarenregierung jedoch bei den Kalmücken bereits kurz zuvor eine ständige russländische Vertretung in Form eines Agenten beim kalmückischen Chan eingesetzt hatte und damit die allmähliche Durchdringung kalmückischer Strukturen beginnen konnte, hatten sich die russländischen Bemühungen gegenüber den Kasachen bis zu Beginn der 1740er Jahre ausschließlich auf den quantitativen Ausbau kasachischer Loyalitätsbekundungen und auf die Intensivierung der Beziehungen gerichtet. Das erste Etappenziel war erreicht, das zweite schien noch in weiter Ferne. Mit dem Antritt von Ivan Nepljuev (1693 – 1773) als dem neuen Leiter der in ‚Orenburger Kommission‘ umbenannten früheren ‚Expedition‘ und ab 1744 dem ersten Gouverneur von Orenburg setzte in der russländischen Politik gegenüber den Kasachen der Kleinen Horde die zweite Etappe ein. Wie auch schon ­Volynskij gehörte Nepljuev zu jener Riege neuer russländischer Politiker, die Peter I. als seine Geistesverwandten erkannt und in den Staatsdienst geholt hatte.771 Und wie auch Volynskij sollte es Nepljuev gelingen, die in seine Verantwortung gestellte Bevölkerung, die Kleine Horde der Kasachen, politisch-­administrativ so zu zermürben, dass am Ende die russländische Seite den nächsten Chan bestimmen konnte. Ausgangspunkt für Nepljuev war dieselbe Analyse wie 25 Jahre vorher die seines Astrachaner Kollegen: Nicht länger sollte der Chan hofiert werden. Ganz im Gegenteil galt es nun, durch die Anstachelung innerkasachischer Gegensätze dessen Machtposition zu unterminieren. Seiner Einschätzung nach, so Nepljuev 1743, sei es für das Russländische Reich weitaus nützlicher, wenn „unter ihnen Dankbarkeit empfinden, dass sie nun Untertanen einer solch mächtigen Herrscherin sein durften. Fürst Žurnal’naja zapis’ peregovorov general-­lejtenanta knjazja V. Urusova s predstaviteljami Malogo i Srednego žuzov vo vremja ich priezda v g. Orenburg dlja prinjatija prisjagi na poddanstvo Rossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 70 (19.8. – 1. 9. 1740), 134 – 168, hier 138, 139, 141, 142. 771 Nepljuevs Biograph V. N. Vitevskij bezeichnete ihn aufgrund seiner Energie, seines Verstandes, seiner Härte und seines berechnenden Charakters gar als „Peter der Große des Orenburger Gebiets“. V itevskij , Vospominanija o P. I. Ryčkove, 2; ders ., I. I. Nepljuev, vernyj sluga; ders ., I. I. Nepljuev; R yčkov , Istorija Orenburgskaja; E rofeeva , Chan Abulchair, 261. – Ähnlich wie Volynskij sah Nepljuev auf die Steppenvölker von oben herab und betrachtete es als seine Aufgabe, sie „in Furcht und in die Bezähmung zu überführen“ (v strach i vo obuzdanie privesti). Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Prav. Senatu o položenii v Malom i Srednem žuzach. In: KRO I, Nr. 111 (8. 7. 1743), 283 – 286, hier 286.

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[den Kasachen] keine Einigkeit mehr zugelassen werde“ (čtoby ich meždu soboju v soglasie ne dopuskat’).772 Im Unterschied zu seinen Vorgängern wie Tevkelev, Kirilov, Tatiščev und Urusov fürchtete Nepljuev das Risiko, ein gestärkter Chan sehe sich möglicherweise nicht mehr darauf angewiesen, die Zarenherrschaft an seiner Seite haben zu müssen.773 Daher s­ eien nur noch s­ olche Bitten des Chans zu erfüllen, die seine Abhängigkeit von der Zarenregierung erhöhten. Entsprechend abschlägig reagierte die russländische Seite auf Abulchair-­Chans häufig vorgetragene Bitte, die Zarenregierung möge seine Macht dadurch stärken, dass sie für die Wahl seines Nachfolgers das Prinzip der Erbfolge festlege.774 Tatsächlich gelang es Nepljuev, Abulchair-­Chan in den nächsten Jahren innerhalb seiner eigenen ethnischen Gruppe erst zu diskreditieren und dann zu isolieren, nicht zuletzt durch die Erniedrigung, die darin lag, ihm den Austausch seines als Geisel gehaltenen Sohnes Chož-­Achmet durch einen anderen Sohn nach der vorgesehenen Frist mit fadenscheinigen Argumenten zu verweigern.775 Daneben vermochte es Nepljuev, mit Sultan Barak von der Mittleren Horde der Kasachen einen einflussreichen Gegenspieler Abulchair-­Chans aufzubauen.776 Mit diesen beiden sich feindlich gesinnten Kasachen und ihren Familien sei eine gute Balance geschaffen, so Nepljuev 1748, zumal beide Familien in ihren jeweiligen Horden zur „optimalen Bezähmung (k lučšemu obuzdaniju) dieser wilden Völker angesichts ihres derzeitigen Zustands noch außerordentlich notwendig“ s­ eien.777 Mit der Verweigerung jedoch, den als Geisel gehaltenen Sohn des Chans auszutauschen, brachte Nepljuev bei Abulchair-­Chan das Fass zum Überlaufen. Unter Abulchair-­Chans Führung starteten einige seiner verbliebenen kasachischen 772 Donošenie glavnogo komandira Orenburgskoj komissii I. I. Nepljueva v Koll. In. Del ob iz’’javlenii vernosti Rossii chanom Abulmambetom i vernuvšimsja iz džungarskogo plena sultanom Ablaem i o neobchodimosti, v interesach Rossii, podderživat’ vraždu meždu sultanskimi gruppirovkami. In: MpiK SSR Bd. 2, Teil 2 (1741 – 1751gg.), Nr. 17 (nicht ­später als 20. 10. 1743), 67 – 68, hier 68. 773 S emenjuk , Politika carizma v Kazachstane, 421; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 141. 774 Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Prav. Senatu o prisvoenii tarchanskogo zvanija batyru Džanybeku. In: KRO Nr.  97 (27. 9. 1742), 253 – 254, hier 254; Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob ubijstve chana Abulchaira sultanom Barakom. Ebd., Nr. 152 (26. 8. 1748), 392 – 395, hier 394. 775 Diese Erniedrigung wurde von den Kasachen als Zeichen ­­ der Kraftlosigkeit und Ohnmacht Abulchair-­Chans gesehen. V jatkin , K istorii raspada kazachskogo sojuza, in: MpiK SSR Bd. 2, Teil 2, 15; E rofeeva , Chan Abulchair, 274. 776 Ein Mittel zur Steigerung von Sultan Baraks Machtposition war ein Empfang von dessen Gesandten, Batyr Syrymbet, durch die Zarin Elisabeth, die ihm einen Säbel mit Inschrift und Urkunde überreichte – eine der frühen Instrumentalisierungen von Empfängen am Zarenhof für imperiale Zwecke. Gramota imp. Elizavety o nagraždenii imennoj sablej sultana Srednego žuza Bara (24. 3. 1743). In: Sulejmenov/Basin, Kazachstan v sostave, 176. 777 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob ubijstve chana Abulchaira i o predprinjatych im v svjazi s ėtim merach. In: KRO Bd. 1, Nr. 153 (3. 9. 1748), 395 – 403, hier 401.

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Anhänger 1747 erneut Überfälle auf russländische Vorposten. Nepljuev beabsichtigte, darauf wie schon bei der Niederschlagung der baschkirischen Aufstände mit harter Hand zu reagieren und „ein oder zwei ulusy bis zum letzten Säugling zu vernichten und sie auf diese Weise in Angst zu überführen“. Zugleich gestand er ein, dass es in solchen Fällen unmöglich sei, den Unschuldigen vom Schuldigen zu trennen. Zwar wurde Nepljuev vom Kolleg für auswärtige Angelegenheiten in seinem Vorhaben ausgebremst.778 Doch gegenüber dem kasachischen Chan saß Nepljuev am längeren Hebel. Von dsungarischen Angriffen aus dem Südosten gepeinigt, durch russländische Festungslinien (massiv forciert durch Nepljuev) im Norden fruchtbarer Weidegebiete beraubt, von der Zarenregierung entrechtet, im Winter noch auf der fruchtbaren rechten Seite des Jaik zu weiden, versagten die Kasachen nicht nur zunehmend Abulchair-­Chan die Gefolgschaft.779 Vor allem gelang es dem von Nepljuev stark gemachten Widersacher Abulchairs, Sultan Barak, den Chan im August 1748 zu ermorden.

Der Wendepunkt: Die russländische Einsetzung von Nurali-Chan Tatsächlich hatte der Orenburger Gouverneur Nepljuev auf einen solchen Moment nur gewartet. Das Feld war bestellt. Die von Nepljuev geschürten Feindseligkeiten ­zwischen verschiedenen kasachischen Clans waren so weit gediehen, dass keine Seite mehr in der Lage war, ohne russländische Schützenhilfe das Chan-­Amt anzustreben. So wie die Zarenregierung bei den Kalmücken das ganze 18. Jahrhundert über das Ableben eines Anführers jeweils als Chance zu n­ utzen wusste, um die indigenen politischen Strukturen zu verändern, sahen Zarin Elisabeth und Gouverneur Nepljuev die Zeit gekommen, um den Kasachen einen Chan „von der Zarin Gnaden“ vorzusetzen. Und wie bei der Einsetzung kalmückischer Chane und Statthalter sollte auch der kasachische Chan die entsprechenden Insignien zarischer Machterteilung erhalten (Pelzmantel, Pelzmütze, Säbel mit Inschrift).780 Der als 778 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 137. 779 Nur vier Jahre nach der Erlaubnis von Zarin Anna von 1738 erließ ihre Nachfolgerin das Verbot, den Jaik zu übertreten. Ukaz načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva o zapreščenii kazacham kočevat’ bliz reki Jaik. In: KRO Bd. 1, Nr. 100 (19. 10. 1742), 262 – 263; Instrukcija Orenburgskoj komissii podpolkovniku Rtiščevu v svjazi s Ukazom o zapreščenii prekočevki kazachov Maldšego žuza čerez r. Jaik. In: KRO Bd. 1, Nr. 102 (nicht ­später als Okt. 1742), 265 – 267, hier 266. 780 Ukaz imp. Elizavety orenburgskomu gubernatoru I. Nepljuevu ob utverždenii sultana Nurali chanom. In: KRO Bd. 1, Nr. 175 (2. 5. 1749), 444 – 446 (der explizite Verweis auf die Analogie

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Bote und Übersetzer eingesetzte Tevkelev erhielt die Anweisung, den Kasachen gegenüber so zu argumentieren, dass „es ihnen jetzt, als Untertanen I. K. H. nicht mehr zieme, ohne Zustimmung I. H. solche Dinge unter sich auszumachen“. Zudem sollten sie versichert sein, dass sie nach ihrer ‚Wahl‘ von der Zarin Gnaden reich beschenkt werden würden und „dass eine s­ olche Allerhöchste Bestätigung für ihr ganzes Volk und besonders für die neuen Chane weitaus für sie nützlicher und vor anderen vladel’ci [wohlhabende Viehbesitzer] ehrenwürdiger und vorteil­ hafter sei“.781 Da war sie wieder, die Logik vom ‚Geschenk des Imperiums‘ (gift of empi782 re). Der zarische Eingriff in die kasachische Selbstbestimmung, von dem bei der Aufnahme in die Untertanenschaft weniger als zwei Jahrzehnte zuvor noch keine Rede gewesen war, sei in Wahrheit ein Vorteil. Denn der Chan werde dann, wenn die Zarin seiner Ernennung zugestimmt und ihn eingesetzt habe, gegenüber den anderen Herrschern der benachbarten ethnischen Gruppen herausgehoben sein. Und tatsächlich hatte Nepljuev nicht vor, an der Hervorhebung des neu einzusetzenden Chans zu sparen. Vielmehr übertrafen die von ihm ein Jahr ­später inszenierten Feierlichkeiten zur Investitur des Sohnes von Abulchair, Sultan Nurali, mit dem er schon seit vielen Jahren engen Kontakt gepflegt hatte, alles bisher Dagewesene, was das Russländische Reich im Umgang mit nicht-­christlichen ethnischen Gruppen an der imperialen Peripherie je veranstaltet hatte. Selbst nach Nepljuevs eigenem Urteil stand eine derart pompöse und kostspielige Investiturfeier eigentlich nur einem Monarchen zu.783 In der vor rund eintausend Kasachen inszenierten Zeremonie ging es nicht mehr bloß um die Überreichung einer Bestätigungs- bzw. Einsetzungsurkunde für Sultan Nurali. Es ging zu einem Zeitpunkt, in dem Zeremonien längst als Teil russländischer Machtausübung auch für den imperialen Kontext entdeckt worden waren, um die Repräsentation zarischer Macht, um eine Vorführung der kaiser­ lichen Gnade und um eine Belehrung für das „wilde Steppenvolk“, w ­ elche Symbolik und Zeichensprache die Macht und Autorität der Zarin adäquat zum Ausdruck brachten. Damit einher ging zugleich das Anliegen, indigene politische Traditionen und Gebräuche zu verdrängen und die wenig hierarchisch strukturierte politische Kultur der Kasachen allmählich durch die russländische zu ersetzen. zur Praxis gegenüber den Kalmücken auf 445). 781 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob ubijstve chana Abulchaira i o predprinjatych im v svjazi s ėtim merach. In: KRO Bd. 1, Nr. 153 (3. 9. 1748), 395 – 403, hier 399. – Vladel’cy wurden unter den Kasachen Eigentümer großen Viehbesitzes genannt. 782 G rant , The Captive and the Gift. Vgl. auch Kap. 2.1 sowie Kap. 4.f. 783 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o ceremonii publičnogo izbranija sultana Nurali chanom i sostojavšichsja pri ėtom peregovorach s kazachskimi feodalami. In: KRO Bd. 1, Nr. 181 (9. 8. 1749), 475 – 481, hier 479.

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Am 9. August 1749 wurde innerhalb eines Zeltlagers nahe Orenburg ein mit Gold verzierter Teppich aus dem Besitz der Zarin ausgerollt. Rundherum saßen die angesehensten Würdenträger der kasachischen Kleinen Horde auf dem Boden. Auf dem Teppich kniete der kasachische Chan-­Kandidat Nurali, während vor ihm stehend der Orenburger Gouverneur Nepljuev als Vertreter der Zarin auf Russisch ein als „Patent“ bezeichnetes Dokument vorlas, wonach Sultan Nurali im Namen Ihrer Kaiserlichen Hoheit, Kaiserin Elisabeth, hiermit die Chan-­Würde der Kleinen Horde der Kasachen verliehen werde.784 Ein muslimischer Geistlicher wiederholte die Worte des „Patents“ auf Tatarisch, bevor Nurali-­Chan kniend den vom Kolleg für auswärtige Angelegenheiten festgelegten Treueid auf die Zarin in tatarischer Sprache ablegte, den Koran zur Bekräftigung der Wahrhaftigkeit seines Eides küsste und seinem Eidestext den Siegel hinzufügte. Anschließend folgten die Militärparade, Trinksprüche für die Zarin, ihren Erben, für die treuen Untertanen, die russländische Generalität, die russländische Armee und erst als Letztes für den neu gewählten Chan und „das kasachische Volk“.785 Das Spektakel näherte sich sodann seinem Höhepunkt: Wie 1740 von Generalleutnant Vasilij Urusov eingeführt übernahmen die Kanonen das ‚Wort‘. Mit 21 Salven wurden noch mehr als beim vorhergehenden Mal für die Zarin und ihre Familie abgegeben, es folgten jene für die Generalität und die „unbesiegbare russländische Armee“, nur 7 für den Chan und 5 für die Kleine Horde. In das Getöse und Geprassel der Salven hinein mischte sich schließlich der Lärm von Trommeln, Trompeten und Pauken genau in dem Moment, als russländische Offiziere dem frisch gekürten Chan die russländischen Insignien zarischer Gnade (znaki milosti) anlegten: den Pelzmantel in Brokat und aus Zobelfell, die Pelzmütze aus Silberfuchsfell und einen in Gold eingefassten Säbel mit Inschrift.786 Mit doppelt so hohen Ausgaben wie ursprünglich vom Kolleg für auswärtige Angelegenheiten veranschlagt (insgesamt weit über 2000 Rubel) wurde anschließend ein rauschendes Volksfest mit Wein, Bier und Fleisch vom Ochsen und Schafsbock gefeiert und wurden die Würdenträger und die einfache Bevölkerung mit Geschenken und Gunstbezeugungen nur so überschüttet. Nurali hatte den Gouverneur schon im Vorfeld gebeten, Geld und Geschenke zur Verfügung zu stellen, die ausnahmslos von ihm an die Menschen zu verteilen s­ eien, da dies zur 784 Ebd. Nr. 181 (9. 8. 1749), 475 – 481, hier 476. 785 Ebd. Nr. 181 (9. 8. 1749), 476; J udin , Ceremonialy chanskich vyborov u kirgizov, 501 – 502. 786 Ukaz imp. Elizavety orenburgskomu gubernatoru I. Nepljuevu ot utverždenii sultana Nurali chanom. In: KRO Bd. 1, Nr. 175 (2. 5. 1749), 444 – 446, hier 445; Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o ceremonii publičnogo izbranija sultana Nurali chanom i sostojavšichsja pri ėtom peregovorach s kazachskimi feodalami. In: KRO Bd. 1, Nr. 181 (9. 8. 1749), 475 – 481, hier 476.

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kasachischen Tradition gehöre.787 Die hohen Ausgaben zwangen freilich Gouverneur Nepljuev, sich gegenüber dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten zu rechtfertigen: Angesichts des Zustands und der Gebräuche des kasachischen Volkes und anlässlich ­dieses ersten Males, bei dem das Chan-­Recht verliehen und bekräftigt wurde, diente dies alles dazu, um für alle Zeiten jenem wilden Steppenvolk seine willfährigen Handlungen aus seinem Brauchtum auszutreiben (vyvest’ iz obyčaja) oder mindestens jene vom Volk gewählten Chane gegenüber den von Ihrer Kaiserlichen Hoheit Bestätigten und jenen auch künftig auf diese Weise zu Bestätigenden zu erniedrigen und zu schwächen. Ich hielt es daher für notwendig, sowohl die Sultane als auch die Ältesten sowie das allgemein anwesende Volk mit Zuwendungen und Zeichen ­­ der Gnade Ihrer Kaiser­ lichen Hoheit derart zufriedenzustellen, wie es keiner ihrer vladelec [wohlhabenden Viehbesitzer] oder Sultane ihrerseits je imstande wäre zu tun.788

Tatsächlich erlebten die Kasachen nicht nur ein überbordendes Fest, wie sie es noch nicht kannten. Sie erlebten auch, dass viele ihrer Bräuche zur Chan-­Einführung, die einen turkisch-­mongolischen Ursprung hatten, in ein Zeremoniell russländischer Art umgewandelt worden waren. Während zuvor die Zeremonien mitten in ihren Weidegebieten stattgefunden hatten, war der Chan ­dieses Mal verpflichtet worden, 5 Werst entfernt von der russländischen Festungsstadt Orenburg vor russländischen Beamten zu seiner Einsetzung zu erscheinen. Durchführende waren keine kasachischen Würdenträger, sondern Vertreter der lokalen Administration. Zudem hatte das Protokoll dafür gesorgt, die niedrige Stellung der Chanwürde durch das Niederknien sowie durch die Anzahl der Kanonensalven deutlich zum Ausdruck zu bringen. 18 Jahre nach Annahme der Untertanenschaft hatte sich die Zarenregierung durch faktische Einkreisung mittels Festungslinien, durch Geisel­ haltung sowie durch viel Geschick, List und Hinterhalt das Recht verschafft, den Chan der Kleinen Horde der Kasachen in sein Amt einzuführen und dafür zu sorgen, dass diese Prozedur nur stattfand, wenn die Zarin dafür zuvor die Anweisung gegeben hatte. Um d­ ieses neue Prozedere dauerhaft gültig werden zu lassen, führte die Zarenadministration eine Symbolsprache ein, die noch für viele Jahrzehnte imperialer 787 Kasachische Älteste hatten bei früheren Chan-­Erhebungen traditionell einen Fetzen vom schafswollenen weißen Filzteppich erhalten, auf dem der Chan nach seiner Wahl hochgehoben und der anschließend in kleine Teile zerrissen worden war. Die Teppichfetzen standen symbolisch für die gegenseitige Verbundenheit. Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o ceremonii publičnogo izbranija sultana Nurali chanom i sostojavšichsja pri ėtom peregovorach s kazachskimi feodalami. In: KRO Bd. 1, Nr. 181 (9. 8. 1749), 475 – 481, hier 479. 788 Ebd.

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russländischer Politik von Bedeutung sein sollte. Nepljuev legte nicht nur großen Wert darauf, die Einsetzungsurkunde so aufwendig zu gestalten, „auf dass ihnen ihre Untertanenschaft in Brauchtum und Gesetz übergeht“:789 Die Ernennung war auf persönliche Anweisung der Zarin hin auf einem Pergament mit durch Lorbeeren verzierten Rändern in goldener Schrift verfasst, mit dem Siegel des Russländischen Reiches versehen, umlegt von goldenem Brokat und in der Mitte mit Taft verlängert 790 – so symbolgeladen und aufwendig, dass es Nurali-­ Chan noch 1770 ein großes Anliegen war, vom späteren Orenburger Generalgouverneur Rejnsdorp aufgrund des schlechter gewordenen Zustands ein neues Exemplar zu erbitten.791 Die eigentliche Neuheit aber war die Bezeichnung: Die Zarin ließ der Urkunde, mit der die Chanwürde bestätigt wurde, den Namen „Patent“ geben.792 Das Wort war erst Anfang des Jahrhunderts im Russländischen Reich in Umlauf gekommen – einer jener unter Peter I. eingeführten Neologismen aus dem Holländischen und Deutschen, der bislang für gesiegelte Urkunden und im Sinne von Befähigungszeugnissen an Offiziere oder Schiffsingenieure oder zur Vergabe bestimmter Ränge (čin) und Titel (zvanie) eingesetzt worden war.793 Erstmals fand das Wort nun Eingang in den imperialen Kontext. Die Urkunde mit ihrem prätentiösen neuen Namen drückte weit mehr aus als ein Befähigungszeugnis. Das Patent sollte für die Verleihung des Rechts zur Herrschaftsausübung stehen. Das Recht für eine s­ olche Verleihung aber hatte sich die russländische Seite eigenmächtig zugesprochen. Es war 1749 noch ungewiss, ob es gelingen würde, den Anspruch auf eine Investitur kasachischer Chans dauerhaft zu verankern. Insofern handelte es sich bei der Patentverleihung von 1749 in erster Linie um die Manifestation eines Anspruchs. Die pompöse Zeremonie hatte die Funktion, diesen Anspruchscharakter zu kaschieren und die Investitur als bereits gelebte und gefeierte Tradition wirken zu lassen.794 789 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob ubijstve chana Abulchaira i izbranii sultana Nurali chanom. In: KRO Bd. 1, Nr. 165 (25. 10. 1748), 417 – 424, hier 420. 790 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva, in: KRO Bd. 1, Nr. 165 (25. 10. 1748), 417 – 424, hier 420 – 421; Ukaz imp. Elizavety orenburgskomu gubernatoru I. Nepljuevu ob utverždenii sultana Nurali chanom. In: KRO Bd. 1, Nr. 175 (2. 5. 1749), 444 – 446. 791 Patent imp. Ekateriny II, dannyj chanu Nurali na utverždenie v chanskom dostoinstve. In: KRO Bd. 1, Nr. 273 (17. 3. 1770), 695; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 89. 792 Ukaz imp. Elizavety orenburgskomu gubernatoru I. Nepljuevu ob utverždenii sultana Nurali chanom. In: KRO Bd. 1, Nr. 175 (2. 5. 1749), 444 – 446, hier 444. 793 Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka, Bd. 18, St. Petersburg 2011, 239; Slovar’ Akademii R ­ ossijskoj po azbučnomu porjadku raspoložennyj. Bd. 4 [1822], 809 – 810. 794 Diese Taktik hatte eine gewisse Analogie zum präventiven Charakter, mit dem zuweilen die russländische Untertanenschaft (poddanstvo) verliehen und ungefragt in einem dem tatsächlichen Einverständnis der ethnischen Gruppe vorauseilenden Bindungsanspruch einseitig deklariert wurde.

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Tatsächlich kann rückblickend die Investiturfeier von 1749 als Schlüsselereignis für die russländisch-­kasachischen politischen Beziehungen bezeichnet werden. Nepljuev war es gelungen, den Anfang für eine dauerhafte Verankerung des Rechts der Investitur kasachischer Chane zu legen. Künftig kamen nur noch diejenigen Kandidaten der Kleinen Horde für das Amt des Chans in Frage, an die zuvor ein entsprechender Erlass der Zarin ergangen war. Rund dreißig Jahre ­später ging die Regierung unter Katharina II. gegenüber der Mittleren Horde noch einen Schritt weiter: Sie verlangte, dass die Kasachen „auf die kaiserliche Bestätigung des Chans nur dann hoffen“ dürften, wenn die Sultane, die Ältesten und die ganze ethnische Gruppe mit dem Kandidaten zusammen Gesandte angesehenen Ranges mit der entsprechenden untertänigsten Bitte an den kaiserlichen Hof schickten, um die kaiserliche „Gnade“ der Einsetzung zu erbitten.795 Die politische Entmachtung kasachischer Herrschaft sollte rundum in das imperiale Gnadenkonzept und in den Diskurs vom gift of empire eingebettet sein. Auch mit der Art und Weise der Investiturfeier, der Synthese von staatlich-­ imperialen Aspekten (Militärparade, Kanonenschüsse, Überreichung von Machtinsignien zur Etablierung mittelbarer Herrschaft) mit solchen der Volkstümlichkeit (Volksfest und Gelage) war ein Muster etabliert, dem noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein große Bedeutung zukam, und dies nicht nur bei der Kleinen Horde.796 Bei der Mittleren Horde blieb die Praxis der Patentverleihung mit entsprechender Zeremonie bis zur 1822 erfolgten Abschaffung der Chanwürde bestehen.797 Und sogar über die Abschaffung der Chanwürde hinaus hielt die Zarenadministration bei der Einsetzung kasachischer Vertreter in staatliche Man denke etwa an die Verhandlungen zur Aufnahme der Čukčen 1778 in die Untertanenschaft. Vgl. Kap. 2. – Zur Bedeutung von Zeremonien als Mittel imperialer Macht des Russländischen Reiches siehe Z acharova , Vlast’ ceremonialov, 62 – 65, 91 – 94, 373 – 376. 795 Otvetnaja gramota Ekateriny II sultanam, staršinam i vsemu kazachskomu naseleniju Srednego žuza ob izbranii novogo chana. In: KRO Bd. 2, Nr. 56 (23. 8. 1781), 104. 7 96 1792 wurden die Regeln der Wahl und Einsetzung der kasachischen Chane in ihr Amt vom Regierenden Senat erstmals schriftlich fixiert: O obrjadach vybora i utverždenija Kirgiz-­kajsackich chanov v ich dostoinstve. In: PSRZI Bd. 23, Nr. 17.080 (9. 11. 1792), 369 – 374. – Die den Regeln folgende Einsetzung des kasachischen Chans Ajčuvaks von 1798 wird im Tagebuch des Generalmajors und Orenburger Gouvereneurs Bachmetev beschrieben. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 86, Fn. 138. 797 Selbst im 1822 erlassenen Statut (Ustav o sibirskich kirigzach) wurde mit der Festsetzung von jährlichen Feiertagen für die Kasachen noch an die Tradition angeknüpft, die mit der Zeremonie von 1749 eingeführt worden war. An diesen Feiertagen sollten die Wahlen für den ‚ältesten Sultan‘ erfolgen sowie alle besonderen Auszeichnungen und Belohnungen für Sultane, ‚Älteste‘ und andere Würdenträger verkündet werden. PSZRI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 417 – 433, hier 418 – 419. – Nur bei der Chan-­Ernennung von Sultan Ablaj von 1778 wurde der Patentbegriff aus unbekannten Gründen nicht genutzt. Gramota imp. Ekateriny II sultanam, staršinam i vsemu kazachskomu narodu ob utverždenii sultana Ablaja chanom Srednego žuza. In: KRO Bd. 2, Nr. 45 (24. 5. 1778), 90 – 91; S uchich , Kak „čužie“ stanovjatsja „svoimi“, 10.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 32: Kasachischer Sultan Anfang des 19. Jahrhunderts. Gravur: E. O. Skotnikov; Zeichnung und Aquarellmalerei: E. M. Korneev, 1809

Behörden an einer Zeremonie der Bestätigung fest. So erhielten die jeweils ‚ältesten Sultane‘ selbst bei ihrer Einführung ins Amt der Kreisbehörden eine feierliche Würdigung, die an die alte Zeremonie erinnern sollte.798 Auch im Falle der Buchenbach-­Horde, der sogenannten Inneren Horde, behielt das 1749 geschaffene Vorbild der Patentausgabe seine Relevanz: Sultan Žangir Bukeev, Sohn des verstorbenen Bukej-­Chans, wurde noch 1824 das russländische ‚Patent‘ zur Chan-­Herrschaft überreicht, begleitet von denselben ‚erfundenen Traditionen‘ wie 1749. Gleichwohl regelten inzwischen weitaus ausgefeiltere Bestimmungen die Frage, wer ­welche Herrschaftsinsignien dem Chan in welcher Reihenfolge zu überreichen habe.799 Verglichen mit den eher bescheidenen Feierlichkeiten, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei der Ernennung eines kalmückischen Anführers organisiert wurden, spielten Zeremonien im imperialen Kontext seit Mitte des Jahrhunderts eine ungleich größere Rolle. Sie entwarfen nicht nur ein Wunschbild zarischer Herrschaft. Gleichzeitig wurde mit ihrer Hilfe versucht, auch die indigene Seite, an w ­ elche zarische Macht delegiert wurde, am Glanz der Herrschergewalt teilhaben zu lassen, auch wenn die delegierte Machtbefugnis nur von vorübergehender Natur sein sollte. Daneben war es das Bestreben der Zarenadministration, jene 798 Dazu weiter unten mehr. S uchich , Kak „čužie“ stanovjatsja „svoimi“, 5 – 29, hier 12. 799 Ceremonial na vozvedenie sultana Džangira Bukeeva v chanskoe dostoinstvo. Nr. 177 (vor Juni 1824). In: Istorija Bukeevskogo Chanstva, 242 – 244.

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Chane, die bislang allein von kasachischer Seite gewählt worden waren, rück­ blickend in schwächerem Licht erscheinen zu lassen.800 Einerseits demonstrierten die Zeremonien mithin Unterordnung. Andererseits sollte gerade auch dadurch, dass die kasachischen Würdenträger als Publikum einbezogen wurden, ein Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu einem imperialen Ganzen geschaffen werden. Und schließlich ging es darum, mit pompösen Feierlichkeiten Neid und Ehrgeiz bei den Chanen der beiden anderen kasachischen Horden zu wecken, die noch nicht von der Zarin eingesetzt worden waren.801 Wenngleich die Quellenlage wenig Rückschlüsse darauf zulässt, inwiefern von den Zeremonien eine größere Wirkung auf die breite Bevölkerung ausgingen, so zeigt die zunehmende Orientierung kasachischer wie kalmückischer Anführer an den symbolträchtigen russländischen Inszenierungen (sei es das Interesse an den Pergamenturkunden oder an der Ausgestaltung der Feierlichkeiten), dass die politische Denkweise der lokalen indigenen Elite nachhaltig beeinflusst werden konnte. In den Zeremonien, die die Investitur begleiteten, kamen mehr als zu jedem anderen Anlass das zarische Gnadenkonzept, die imperiale Gabenkultur und das Anliegen zum Tragen, die Kasachen mit russländischen Machtritualen vertraut zu machen. Alle drei Aspekte zusammen nährten die zarische Hoffnung, die Untertanenschaft der indigenen Eliten festigen zu können.

Desillusionierung und neue Strategieüberlegungen Um die Chane an die russländische Seite zu binden, bedurfte es jedoch auch nach ihrer pompösen Einsetzung nachhaltiger Anstrengungen. Tevkelev konnte sich beim Kolleg für auswärtige Angelegenheiten mit der Auffassung durchsetzen, dass bei einem derart „leichtsinnigen“, „willfährigen und ungezähmten Volk“ wie den Kasachen (po ich lechkomysliju, jako samovol’noj i neobuzdannoj narod) die Bindung ohne jährliche Geld- und Lebensmittelgeschenke nicht dauerhaft gelingen werde. Für Geschenke ­seien Kasachen hingegen bereit, alles zu tun: Wenn die Bevölkerung

800 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o ceremonii publičnogo izbranija sultana Nurali chanom i sostojavšichsja pri ėtom peregovorach s kazachskimi feodalami. In: KRO I, Nr. 181 (9. 8. 1749), 475 – 481, hier 479. 801 Noch 15 Jahre ­später erinnerte Generaloberst Lačinov im Auftrag der Zarenadministration Nurali-­Chan an die große Würdigung, die er mit seiner Einsetzung als Chan von der Zarin Gnaden erfahren habe, die noch keinem Chan vor ihm je zuvor zuteil geworden sei und ihm gegenüber seinen Widersachern eine weit höhere Würde verliehen habe. Donesenie Kollegii in. del imp. Ekaterine II po povodu pretenzii chana Nurali k orenburgskoj administracii i ego svjazej s k­ itajskim bogdychanom i afganskim padišachom. In: KRO Bd. 1, Nr. 261 (6. 11. 1764), 669 – 674, hier 672.

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davon erfahre, dass ihrem Chan ein Gehalt zuerkannt werde, dann würden sie dem Chan gehorchen und „wahrhaftig“ zu „russländischen Untertanen“.802 Tatsächlich sprach die St. Petersburger Administration von 1755 an Nurali-­ Chan ein jährliches Gehalt in Höhe von 600 Rubel zu.803 Die „Wahrhaftigkeit“ im Sinne von Hörigkeit der kasachischen „russländischen Untertanen“ ließ jedoch aus Sicht der Zarenregierung und ihrer Vertreter auf sich warten. Die fortschreitende russländische Landnahme durch den kontinuierlich ausgeweiteten Linienbau, das Ausspielen der Steppenvölker untereinander, nicht zuletzt durch wechselnde militärische ‚Strafexpeditionen‘, die zahlreichen Plünderungen der Kosaken (eine russländische Scheinnachahmung der Baranta/Barïmta), bei denen auch friedliche Kasachen ihrer Viehherden beraubt wurden, und das Verbot, den Jaik im Winter zu übertreten, ließen unter den Kasachen der Kleinen Horde keine Ruhe und keinen „untertänigen Gehorsam“ aufkommen.804 Die Antwort der Gouverneure, die seit Nepljuevs Abgang von 1758 bis Mitte der 1780er Jahre dem Orenburger Gouvernement vorstanden, bestand darin, den kasachischen Chan immer engmaschiger zu kontrollieren, den Plünderungen durch die Jaiker Kosaken freien Lauf zu lassen, dies besonders unter Gouverneur Afanasij Davydov ­zwischen 1759 und 1763, und die mittelbare Herrschaft in eine direkte russländische Herrschaft zu verwandeln.805 Bei unbedeutenden Anliegen wurden Nurali-­Chan Zugeständnisse gemacht, bei wesentlichen Fragen verweigerte man ihm jedes Entgegenkommen. So lehnte Katharina II. es ab, Nurali-­ Chan noch zu seinen Lebzeiten zu gewähren, einen Nachfolger zu bestimmen.806 Gleichfalls weigerte sie sich, Abstand von der in den 1770er Jahren neu eingeführten Regel zu nehmen, auch kasachischen Sultanen direkte Briefwechsel mit der russländischen Administration zu erlauben. Während der offizielle Kontakt 802 Donesenie brigadira A. Tevkeleva Kollegii inostrannych del s chodatajstvom o naznačenii ­žalovan’ja chanam Malogo i Srednego žuzov. KRO Bd. 1, Nr. 168 (24. 12. 1748), 436 – 438. 803 Pis’mo senatora A. Bestuževa-­Rjumina chanu Nurali s soobščeniem o naznačenii ežegodnogo žalovan’ja. In: KRO Bd. 1, Nr. 209 (25. 8. 1755), 538. – Zum Vergleich: Sultan Ablaj, der Chan der Mittleren Horde, erhielt 200 und von 1759 an 300 Rubel. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 157. 804 Siehe zur näheren Erläuterung von barïmta/baranta die Ausführungen in Kap. 4.3. 805 Der russische Historiker M. P. Vjatkin zitiert den Orenburger Gouverneur A. R. Davydov, dass es keine andere Art gebe, über die Kasachen zu herrschen, als sie zu zerreißen (rezat’ ich). V jatkin , Očerki po istorii Kazachskoj SSR, Bd. 1, 164; detailliert zu Davydov D obrosmyslov , ­Turgajskaja Oblast’, 125 – 138. 806 Chan Nuralis Bitte, seinen Sohn Išali zu seinem Nachfolger zu ernennen, wurde offiziell nur mit dem Hinweis beantwortet, dass dies erst mit den ‚Ältesten‘ und „dem Volk“ abgestimmt werden müsse. Unter den gegebenen Umständen kam dies jedoch einer endgültigen Ablehnung gleich. K raft , Sbornik uzakonenij o kirgizach stepnych oblastej, Nr. 327 (20. 6. 1771), 119; Perevod pis’ma Nurali-­chana k grafu N. Paninu s žaloboj na oslablenie svoej vlasti. In: KRO Nr. 275 (26. 5. 1770), 700 – 702, hier 700.

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Abb. 33: Kasachischer Reiter, frühes 19. Jahrhundert

bis dahin nur dem Chan allein zustand, sah die russländische Seite allmählich die Chance gekommen, die soziale Basis der Einmischung und politischen Durchdringung wie schon ein halbes Jahrhundert zuvor bei den Kalmücken wesentlich zu verbreitern. Insgesamt aber blieben derartige russländische Bemühungen aufgrund der häufigen Wechsel der Gouverneure halbherzig, inkohärent und von noch nicht allzu großer Wirkung.807 Für eine erhebliche Destabilisierung sorgte zudem der Zickzackkurs der Zarenregierung in der Frage, ob es den russländischen Interessen eher entsprach, den Chan zu stärken (um damit über ihn die eigenen Anliegen besser durchsetzen zu können) oder ihn zu schwächen (um keine Einigung und damit Stärkung

807 Die durchschnittliche Verweildauer der Orenburger Gouverneure lag nach dem Abgang von Nepljuev für ein Vierteljahrhundert bei nur dreieinhalb Jahren. Mehr Details zur inkohärenten Politik nach Nepljuevs Abgang siehe D obrosmyslov , Turgajskaja Oblast’, 125 – 184; ­K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 140 – 144; B asin /S ulejmenov , Kazachstan v sostave, 73 – 98; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 59 – 70.

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kasachischer Kräfte zuzulassen). Während der Orenburger Gouverneur Nepljuev bis zu seiner Ablösung 1758 den Kurs verfocht, zunächst Abulchair-­Chan sowie anschließend Nurali-­Chan (trotz seiner pompösen Chan-­Einsetzung) möglichst schwach zu halten, entwarfen seine unmittelbaren (kommissarischen) Nachfolger Tevkelev und Ryčkov im Amt des Orenburger Gouverneurs 1759 eine ganz andere Strategie. Beide, Tevkelev wie Ryčkov, waren seit vielen Jahren auf das Engste mit den Problemen und Herausforderungen vertraut, die der Versuch mit sich brachte, die Kasachen in das Russländische Reich einzugliedern. Insbesondere Tevkelevs intimen regionalen und sprachlichen Kenntnissen sowie seiner diplomatischen Geschicklichkeit war es zu verdanken gewesen, dass die Kleine Horde überhaupt den Treueid auf die russländische Untertanenschaft geschworen hatte.808 Nach dem Ende der fast zwanzigjährigen Gouverneurszeit von Nepljuev sahen die beiden die Chance gekommen, für ihre Konzeption von Herrschaft über die Kasachen zu werben. Wenig Dokumente eröffnen einen vergleichbar profunden Einblick in das Nachdenken hochstehender Zarenbeamter darüber, auf w ­ elche Weise eine jüngst erst untertänig gewordene ethnische Gruppe im 18. Jahrhundert politisch bezwungen werden könne, wie der Vermerk von 1759 aus der Feder dieser beiden Beamten. Die zentrale Frage für Ryčkov und Tevkelev lautete, mit ­welchen Institutionen und Schritten die Kasachen allmählich in den „unbedingten Gehorsam“ überführt und vor allem „zum staatlichen Nutzen“ (k pol’ze gosudarstvennoj) eingesetzt werden könnten. Bei jedem neu untertänigen Volk sei es das vorrangige Ziel, d­ ieses „dahingehend auszurichten und zu verwandeln, was das Staatsinteresse von ihnen verlangt“ (naklonjat’ i prevraščat’ ich v to, čego gosudarstvennoj interes ot nich trebuet). Den utilitaristischen Ansatz ihrer imperialen Politik suchten die Autoren genauso wenig zu kaschieren wie ihr Anliegen, die Bedürfnisse der russländischen Metropole als Maßstab dafür zu nehmen, in ­welche Richtung die Lebensweise der jeweiligen nicht-­russischen ethnischen Gruppe verändert werden sollte. Zudem dienten wiederholt die Erfahrungen, die das Zarenreich in seinem Kurs der politischen Entmachtung und Fremdsteuerung gegenüber den Kalmücken und Baschkiren gesammelt hatte, als Referenz und Grundlage.809 Zur ‚Umsteuerung‘ der Kasachen setzten Tevkelev und Ryčkov dort an, wo ihrer Auffassung nach die Wurzel des Übels von Problemen mit den Kasachen lag: in deren Regierungsform und in ihrer politischen Kultur. Unausgesprochen, aber 808 Iz žurnala perevodčika M. Tevkeleva ezdivšego v Malyj žuz dlja peregovorov o poddanstve ­kazachov. In: KRO Bd. 1, Nr. 33 (3. 10. 1731 – 14. 1. 1733), 48 – 85. 809 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 574, 583 – 585.

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Abb. 34: Zeltlager von Kasachen, Foto von Anfang des 20. Jahrhunderts

deutlich erkennbar diente die eigene politische Kultur des autokratisch regierten russländischen Staates als Folie für ihr Urteil. Nicht überraschend fiel es vernichtend aus: Die ganze kasachische Bevölkerung kenne „keinerlei politische Gesetze“, verstehe „keine allgemeinen Interessen“, ordne sich selbst ihren eigenen Ältesten und ernannten Herrschern nur dann unter, wenn es eine Nascherei oder Verlockung gebe (lakomstvo). Die ganze Macht der Chane bestehe nur in ihrer Überzeugungskraft und in ihrem Vermögen, „das Volk zu umschmeicheln“ (flatirovat’ narodu). Damit aber sei ein solch eigenwilliges Steppenvolk nicht zur „Vernunft“ (rezon) und zum Gehorsam zu bringen. Nötig sei vielmehr, einerseits die Macht des Volkes zu schwächen, indem traditionelle Mitspracherechte abgebaut würden, andererseits die Chane durch die Ausstattung mit einer Garde von Unteroffizieren so zu stärken, dass diese die Befehle der Zarenregierung gegebenenfalls auch mit Gewalt umsetzen könnten. Solche Maßnahmen dienten neben der Absicherung von Gehorsam dazu, „dieses Volk in die Zivilisiertheit zu überführen“ (k privedeniju naroda sego v ljudskost’).810 810 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva, in: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 585.

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Mit dieser Begründung war mit Blick auf die Kasachen erstmals explizit die ‚Zivilisierung‘ als eines der Ziele administrativ-­politischer Einmischung genannt worden – ein Argumentationsmuster, das in den folgenden Jahrzehnten (und erst recht im 19. Jahrhundert) zunehmend um sich greifen sollte. Die Zivilisierungsvorstellung blieb vorerst noch mit einem statischen Begriff verknüpft. Die Idee von verschiedenen Stadien, die eine Bevölkerung im Zuge ihrer ‚Zivilisierung‘ zu durchlaufen habe, sollte erst im folgenden Jahrzehnt von Teilen der imperialen Elite rezipiert werden. Auch blieb ‚Zivilisierung‘ stets nur ein Ziel neben anderen, erhielt keine Solitärstellung und keine Priorisierung vor anderen Zielen. Weder bei Tevkelev und Ryčkov noch in den späteren Dekaden des 18. Jahrhunderts wurde ‚Zivilisierung‘ als der treibende Grund für die russländische administrativ-­ politische Durchdringung oder gar als Legitimation für die Notwendigkeit einer weiteren Expansion angeführt. Vielmehr sollte sie als Mittel dienen, um die bereits bestehenden imperialen Herrschaftsansprüche abzusichern und die einverleibten ethnischen Gruppen gehorsame Untertanen werden zu lassen. Damit sind einerseits der Ursprung des Diskurses an sich sowie seine Kontinuitätslinie vom 18. ins 19. Jahrhundert nicht zu übersehen. Andererseits wird der wesentliche Unterschied ­zwischen russländischen (und westeuropäischen) Zivilisierungsdiskursen des 18. und solchen des späten 19. Jahrhunderts deutlich.811 Tevkelevs und Ryčkovs konzeptionelle Überlegungen hallten lange nach. Nikita Graf Panin (1718 – 1783), Leiter des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten, sowie Vizekanzler Aleksandr Golicyn (1762 – 1775) nahmen noch ein Jahrzehnt ­später Bezug auf das Memorandum, als sie in ihrem Schreiben an den Orenburger Oberkommandanten und Generalmajor Lanov über einen geeigneten Nachfolger für Nurali-­Chan räsonierten.812 Doch bis zum Antritt von Osip Andreevič Igel’strom als dem neuen Gouverneur von Orenburg (1784 – 1792) oder, wie es dann hieß, von der ‚Statthalterschaft von Simbirsk und Ufa‘ (zu welchem das ehemalige Orenburger Gouvernement seit 1781 gehörte), konnte sich weder die eine noch die andere Strategie längerfristig durchsetzen. Igel’strom fand bei seinem Amtsantritt 1784 in Nurali-­Chan einen politisch nahezu ohnmächtigen kasachischen Chan vor, der einerseits durch Korruption und Intrigen, andererseits durch zu starke Nähe zur russländischen Seite nicht mehr als kasachischer Vertreter wahrgenommen wurde und damit jeglichen Rückhalt und Einfluss in der kasachischen Gesellschaft verloren hatte.813 Der russ 811 O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 27 – 28; H ofmeister , Die Bürde des Weißen Zaren, 48. 812 Iz ukaza Kollegii in. del orenburgskomu ober-­komendantu general-­majoru Lanovu o porjadke izbranija chanov v malom žuze. In: KRO Bd. 1, Nr. 269 (17. 1. 1768), 686 – 687. 813 Freilich setzte das Autoritätsproblem, das Nurali-­Chan unter seinen Stammesgenossen durch seine zu große Nähe zur russländischen Seite hatte, bereits Anfang der 1760er Jahre ein. Zapis’ pokazanij poručika I. Urakova i perevodčika Ja. Guljaeva o rezul’tatach ich poezdki k chanu Nurali

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ländische ­Zickzackkurs ­zwischen Schwächung und Stärkung des Chans hatte wie schon im Falle des kalmückischen Chans Čeren-­Donduk in eine Sackgasse geführt.

Der neue Politikansatz Katharinas II gegenüber den Kasachen Vorausgegangen war der bedeutenden Zäsur russländischer Politik durch Gouverneur Igel’strom der große Aufstand des Aufrührers Emel’jan Ivanovič Pugačev von 1773 bis 1775. Sein anfänglicher Erfolg und das Ausmaß des Aufstandes hatten Katharina II. und ihre Administration nicht nur schwer erschüttert. Mit dem großen Zulauf unter Kalmücken wie Kasachen der Kleinen Horde hatte der Aufstand auch gezeigt, dass mit Parolen nach Rückgabe des ‚gestohlenen‘ Landes und Versprechen, auf traditionell kalmückische und kasachische Art und Weise weiterleben zu dürfen, die entscheidenden Probleme aufgegriffen worden waren, die zugleich die bedrohlichen Folgen russländischer Politik charakterisierten.814 Die sich anschließenden brutalen russländischen ‚Strafexpeditionen‘, die unter Gouverneur Rejnsdorp (1769 – 1781) bis in die Tiefe der kasachischen Steppe vordrangen, das zunehmend starke Werben des unabhängigen Chanats von Buchara um die Kasachen und die wachsende Anhängerschaft eines kasachischen Anführers namens Syrym (Srym) Batyr, ließen für das Zarenreich eine hochexplosive Situation an ihrer südöstlichen Flanke entstehen. Syrym Batyr war es gelungen, die Mehrheit der kasachischen Ältestenschaft hinter sich zu versammeln und sie gegen die als Marionetten Russlands wahrgenommenen Čingissiden, die Dynastie der Abulchair-­Nachkommen, in Aufstellung zu bringen.815 Schließlich war es der Orenburger Gouverneur Apuchtin (1782 – 1784), der mit seiner Politik den Bogen überspannte: Die sich verschärfende Landfrage und die mit zunehmender Dringlichkeit vorgetragenen Bitten der Kasachen, im Winter auf der ‚inneren Seite‘ der russländischen Linie weiden zu dürfen, beantwortete Apuchtin 1782 mit der Auflage, den Kasachen den Übertritt auf die Ländereien dlja privedenija ego k prisjage po slučaju vosšestvija na prestol imp. Ekateriny II. In: KRO Bd. 1, Nr. 250 (7. 8. 1762), 639 – 641. 814 Allerdings gingen auch Gerüchte um, die nichts mit dem tatsächlichen Ansinnen der Zarenregierung gemein hatten – so das Gerücht, den muslimisch orientierten Kasachen könne eine Christianisierung drohen. W erth , At the Margins of Orthodoxy, 78. – Zur Teilhabe der Kasachen am Aufstand Bekmachanova, Legenda o Nevidimke; dies ., Rossija i Kazachstan, 29 – 52; S abol , Russian Coloniziation, 30 – 31; V jatkin , Očerki po istorii Kazachskoj SSR, Bd. 1, 180 – 194; ­A lexander , Empire of the Cossacks. – Zur Teilhabe der Kalmücken: B elikov , Učastie ­Kalmykov v Krestjanskoj Vojne. 815 T ulibaeva , Kazachstan i Bucharskoe chanstvo, 59 – 60, 76 – 77; G ulomov , Rol’ kazachskoj stepi v istorii mežgosudarstvennych otnošenij Buchary, 58; V jatkin , Političeskij krizis; V jatkin , Batyr Srym, 190 – 222; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 172.

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nur zu erlauben, wenn sie Pachtgebühren zahlten. Pachtgebühren für Ländereien zu zahlen, w ­ elche die Kasachen zuvor als die ihren angesehen hatten und derer sie sich durch den russländischen Linienbau beraubt sahen? Das war zu viel. Im folgenden Frühjahr entluden sich die Spannungen in massiv gesteigerten kasachischen Überfällen auf russländische Festungen und Siedlungen, in vermehrtem Menschenraub und umfangreichem Viehdiebstahl. Der Handlungsdruck für die russländische Seite war unübersehbar, die lokale Administration hilflos.816 In dieser Situation entschied sich Katharina II. für einen radikalen Bruch mit der vorherigen russländischen Politik im Südosten. Bemerkenswert war schon die Ausgangsanalyse ihrer Anweisungen vom Mai 1784 an den Generalgouverneur von Simbirsk und Ufa Apuchtin, Igel’stroms Vorgänger, die mit einem Schuldeingeständnis einherging: Das kasachische Verhalten sei eine Folge der Gewaltspirale, die seit Jahren durch die militärischen ‚Strafexpeditionen‘ von der lokalen Administration befeuert worden sei.817 Notwendig sei jetzt, die Kasachen für eine Kooperation mit der russländischen Seite zu gewinnen. Dabei orientierte auch sie sich an der von Tevkelev und Ryčkov 1759 eingeführten Kategorie der ‚Zivilisierung‘ im Verbund mit dem Ziel, die Reichsgrenzen zu sichern: „Wir haben die Sorge dafür zu tragen, unsere Grenzen in Sicherheit zu bringen sowie die wilden Völker auf jegliche Weise zu bezähmen“ (o vsevozmožnom obuzdanii narodov dikich).818 Die Zarin setzte auf eine Mischung aus Stärkung der eigenen Position in der Grenzregion und einer Politik der Anreize und Kooperation mit den Kasachen. Einerseits s­ eien weitere Festungen in der Steppe zu errichten sowie großräumige Feldforschungen in der Region z­ wischen dem Aralsee und dem Fluss Irtyš und ­zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee zu betreiben, um alles über die dortigen Menschen und ethnischen Gruppen in Erfahrung zu bringen. Andererseits 816 Istorija Kazachskoj SSR. Bd. 1, 282 – 283; B ekmachanova , Legenda o Nevidimke, 185 – 186; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 171; B asin , O suščnosti i formach vzaimootnošenij, 32; K asymbaev , Problemy istorii nacional’no-­osvoboditel’nych dviženij, 92. 817 Ukaz Ekateriny II ufimskomu i simbirskomu general-­gubernatoru Apuchtinu ob obespečenii porjadka v Maloj orde, učredenii pograničnogo suda v Orenburge i pr. In: MipsK Bd. 1, Nr. 34 (2. 5. 1784), 63 (ibo my ne imeem nimalogo somnenija, čto sobstvennye postupki v ranee vremja načal’stvovavšich navlekali ot kirgiscev vorovstva i grabeži iz mščenija). – In ähnlicher Manier reflektierte Katharina II. in ihren Anweisungen an die Expediteure zur Erforschung Ostsibiriens und Alaska, Joseph Billings und Gavriil J. Saryčev, über die Schuld früherer russländischer Gewerbetreibender gegenüber den „unglücklichen Kreaturen“ (sich nesčastnych tvarej) des Fernen Ostens, die „eher in der Dunkelheit der Unwissenheit denn in Bestialität“ (pokrytych mrakom, pače nevežestva, neželi ljutosti) gelebt hätten und deren angebliche „Rachsucht“ von außen provoziert worden sei. S aryčev , Putešestvie po severo-­vostočnoj časti Sibiri [1802], Art. 7, 289 – 290. In diesen Äußerungen klingen bereits der neue literarische Stil der Zeit und die Ausdrucksform des russischen Sentimentalismus an, als dessen Begründer Nikolaj M. Karamzin (1766 – 1826) gilt. 818 Ukaz Ekateriny II ufimskomu i simbirskomu general-­gubernatoru Apuchtinu, in: MipsK Bd. 1, Nr. 34 (2. 5. 1784), 63.

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richtete Katharina II . Angebote an beide kasachische Gruppen, die sich feindlich gegenüberstanden: Nurali-­Chan wurde in Aussicht gestellt, ein verdoppeltes ­Jahresgehalt zu erhalten (derzeit 600 Rubel im Jahr), wenn es ihm gelinge, die kasachischen Überfälle zu verringern, die Schuldigen aufzusuchen und sie zu bestrafen. Auch auf andere einflussreiche Činggissiden, darunter Sultan Ėrali, solle zugegangen werden. Der Ältestenschaft um Syrym Batyr unterbreitete die Zarin ein Angebot zur Zusammenarbeit, indem sie die mittlerweile jahrzehntealte Idee von Grenzgerichten in paritätischer Besetzung aufgriff. Diese waren das erste Mal von Tevkelev 1733 ins Spiel gebracht worden. Zarin Anna hatte die Idee bereits ein Jahr ­später gutgeheißen, der Astrachaner Gouverneur Tatiščev setzte das Ziel paritätisch besetzter Gerichtsorgane Ende der 1730er Jahre erstmals mit Kalmücken um, und Tevkelev und Ryčkov warben 1759 eindringlich dafür, auch bei den Kasachen das Konzept anzuwenden, damit die Menschen das Zarenreich aufgrund von „Gnade und Rechtsprechung“ ehrten.819 Im Unterschied zu den Vorstellungen ihrer Vorgänger und früheren Regierungsberater sollte das von Katharina II. zu gründende Grenzgericht jedoch erstmals nichts mehr mit der Geiselhaltung gemein haben. Hatten selbst Tevkelev und Ryčkov noch daran gedacht, die Notwendigkeit der Haltung von Geiseln mit dem Nutzen zu verbinden, diese als Richter einzusetzen und sie durch eine „Ehrenwache“ beaufsichtigen zu lassen, so sollten die Richter jetzt stattdessen frei sein und ein staatliches Gehalt verbunden mit der Option auf Leistungszuschlag bei besonderer Auszeichnung beziehen.820 Vor allem aber folgte die Zarin mit der Auflage, dass von den sieben kasachischen Gerichtsmitgliedern nur ein Sultan als Vertreter der Čingissiden, jedoch sechs Vertreter aus der Ältestenschaft verschiedener Sippen stammen sollten, deutlich den veränderten innerkasachischen Machtverhältnissen. Mit der breiten Einbeziehung der Ältestenschaft in eine verantwortliche Stellung unterstrich sie zudem die gewandelte russländische Haltung, nicht mehr nur über den Chan und die Sultane, sondern weitaus stärker als zuvor über die Ältestenschaft in die kasachische Gesellschaft einwirken zu wollen.821 Die russländische Seite sollte durch den Oberkommandanten, zwei Richter aus dem Kreis russländischer Offiziere, zwei aus der örtlichen Kaufmannschaft und durch zwei steuerpflichtige Dorfbewohner vertreten werden. Allerdings hatten ausschließlich russländische Gesetze und Einrichtungen als Grundlage für die Lösung 819 Vgl. Kap. 4.5. 820 Ukaz Ekateriny II ufimskomu i simbirskomu general-­gubernatoru Apuchtinu, in: MipsK Bd. 1, Nr. 34 (2. 5. 1784), 62. 821 Neu war zudem, dass ein derartiges Grenzgericht nicht nur für die Zusammenarbeit mit den Kasachen der Kleinen Horde, sondern auch mit jenen der Mittleren Horde angewiesen wurde. Ukaz Ekateriny II ufimskomu i simbirskomu general-­gubernatoru Apuchtinu, in: MipsK Bd. 1, Nr. 34 (2. 5. 1784), 62.

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von Konflikten ­zwischen Kasachen und der Zarenadministration zu dienen. Damit war die russländische Oberhand gewahrt. Doch das Grenzgericht war noch nicht alles. Statt wie zuvor Geiseln einzufordern und sie unfreiwillig auf russländischen Festungen zu halten, plante die Zarin als weiteres Zeichen ­­ ihres Gesinnungswandels die Gründung einer beständigen kasachischen Vertretung mit Sitz beim Generalgouverneur. Ziel sei es, bessere Informationen über die innere Situation der Kleinen Horde zu erhalten und umgekehrt mittels der kasachischen ‚Abgeordneten‘ (deputaty) besser die kasachische Bevölkerung über die Ratschläge und Vorschriften der Orenburger Administration zu informieren.822 Auch ­seien die kasachischen Gesandten alle zwei bis drei Jahre auszuwechseln, um die eigenen Anordnungen und Vorstellungen besser unter die Bevölkerung zu bringen.823 Damit waren die Parallelen zur kolonialisierten Geisel­ praxis zwar unverkennbar (Stationierung im lokalen Administrationszentrum, regelmäßiges Auswechseln, indigene Gesandte als Transmissionsriemen russländischer Anliegen). Doch sollten jetzt Einwirkung und Transformation mittels kasachischer Vertreter ohne Druck und Zwang und nur durch Überzeugungsarbeit, monetäre Anreize und andere Gaben erfolgen. Darüber hinaus bekräftigte Katharina II . ihre Anweisung, die sie mit Blick auf ethnische Gruppen muslimischen Glaubens in der Steppe bereits im Juli 1782 erstmals erteilt hatte: So bald wie möglich s­ eien mit Hilfe der Zarenregierung an geeigneten Orten Moscheen zu errichten. Mullahs werde man für ihren Dienst in den Moscheen Gehälter auszahlen.824 Auch wenn die Zarin in ihrer Religionspolitik der russischen Orthodoxie weiterhin die führende Rolle zukommen ließ, setzte sie seit den 1780er Jahren auch auf eine aus ihrer Sicht integrierende wie zivilisierende Funktion anderer monotheistischer Religionen, allen voran der des Islams.825 Wie schon mit dem Grenzgericht und der kasachischen Vertretung wollte 822 Seit dem Amtsantritt des neuen Statthalters von Ufa und Simbirsk, Generaloberst I. V. Jakobi, waren die ‚Gesandten‘ (poslanniki) der kasachischen Steppen in ‚Abgeordnete‘ (deputaty) umbenannt worden. Allerdings verblieben sie administrativ weiterhin in der Zuständigkeit des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten. Aus der Umbenennung kann daher kein grundsätzlich anderer Status, wohl aber ihre Zwitterstellung herausgelesen werden (als ‚Gesandte‘ wurden gewöhnlich Vertreter fremder Staaten bezeichnet, während regionale Vertreter des Zarenreiches ‚Abgeordnete‘ genannt wurden). B asin , O suščnosti i formach vzaimootnošenij, 27 – 28. 823 Ukaz Ekateriny II ufimskomu i simbirskomu general-­gubernatoru Apuchtinu, in: MipsK Bd. 1, Nr. 34 (2. 5. 1784), 62. 824 Katharinas II. erster Ukaz hierzu erging am 8. 7. 1782 an den damaligen Statthalter von Ufa und Simbirsk I. V. Jakobi und setzte die Duldungs- und Unterstützungspolitik fort, wie sie vom Heiligen Synod am 17. 6. 1773 für andere Religionen verkündet worden war. PSZRI Bd. 19, Nr. 13.996 (17. 6. 1773), 775 – 776; Š erstova , Islam i pravoslavie v Sibiri, 170. 825 Statthalter Jakobi erklärte 1780 den Beschluss Katharinas, Moscheen auch entlang der Steppen errichten zu lassen, als Folge der Erkenntnis, dass der Versuch, den Kasachen „Zivilisiertheit und eine bessere Umgangsform“ (ljudskost’ i lučšee obchoždenie) mittels der Beschulung und

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Abb. 35: Kosake im Dienst am Ural-­Fluss (früher Jaik) an der Orenburger Festungslinie. Chromolithographie, 19. Jahrhundert. Maler unbekannt, erstveröffentlicht von Gustave-­ Féodor Pauli in: Narody Rossii. St. Petersburg 1862

sie auch im religiösen Bereich die Kasachen durch Anreize und Kooperation für das Russländische Reich gewinnen und dem Werben des Bucharer Emirats eine aus ihrer Sicht starke Alternative entgegensetzen.826 Am bedeutendsten von allen Neuerungen war für die Kasachen die Anweisung der Zarin an den Gouverneur, den militärischen Befehlshabern vor Ort, s­ eien sie Feld- oder Garnisonssoldaten, strikt zu untersagen (strožajšee podtverždenie), künftig noch willkürliche und zerstörerische Raubzüge gegen die Kasachen zu unternehmen. Wer dieser Anweisung zuwiderhandele, so die Zarin, sei ein „übelster Verbrecher“ (zlejšego prestupnika) und werde auf das Härteste bestraft. Damit

Erziehung der Geisel beizubringen, gescheitert sei. Hier zitiert nach R akovski , Jakobi Ivan Varfolomeevič. Vgl. auch S emenov /S emenova , Gubernatory Orenburgskogo kraja, 104 – 110. – Zum Einsatz tatarischer islamischer Geistlicher zur ‚Zivilisierung‘ der Kasachen siehe auch C rews , For Prophet and Tsar, bes. 192 – 205. 826 G ulomov , Rol’ kazachskoj stepi, 59; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 184.

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ächtete Katharina II. erstmals jene mal angewiesene, mal geduldete Praxis der ‚Strafexpeditionen‘ und gewaltsamen Selbstbereicherungsfeldzüge von freien Kosaken, Baschkiren und Festungssoldaten, die allein unter ihrer Ägide seit zwanzig Jahren (sowie zuvor unter Zarin Elisabeth) die Kasachen in Angst und Schrecken versetzt hatten und bei der Unschuldige beraubt, verschleppt oder getötet worden waren. Kann angesichts all dieser auf Einbindung und Kooperation zielenden Anweisungen die Politik Katharinas II. gegenüber den Kasachen zu d­ iesem Zeitpunkt noch als kolonial bezeichnet werden? Zweifelsohne verriet der Ton der Zarin, dass sich ihre Politik auch aus der Überzeugung eigener Überlegenheit sowie der damit empfundenen Pflicht zur zivilisatorischen Mission ableitete. Auch änderte Katharina II. nichts an der Politik der Einkreisung und Landwegnahme durch den Linienbau. Sie setzte die Kolonisation durch russländische Siedler genauso fort wie den Städtebau innerhalb der Steppengebiete und nahm dabei keine Rücksicht auf kasachische Belange.827 Doch schenkt man ihren Anweisungen Glauben, konnte von einer vollständigen und gewaltsamen Fremdsteuerung der kasachischen Gesellschaft, von einer ausschließlichen ‚Umpolung‘ auf die russländischen Interessen und Bedürfnisse nicht mehr uneingeschränkt die Rede sein.828 Um so wichtiger war die Frage, wie die reale Politik gegenüber den Kasachen vor Ort aussehen würde. Mit ihrer Entscheidung, Gouverneur Apuchtin abzuberufen und, der Empfehlung ihres Vertrauten Grigorij A. Potemkin folgend, Osip Andreevič Igel’strom zum neuen Statthalter von Simbirsk und Ufa zu ernennen, zeigte sie, dass ihr zumindest für einige Jahre ernsthaft daran gelegen war, die bislang kompromisslos und ausschließlich an russländischen Interessen ausgerichtete Herrschaft im kasachischen Steppengebiet aufzuweichen.

Osip Andreevič Igel’strom als neuer Gouverneur in Orenburg Mit Igel’strom wurde ein Generalgouverneur (‚Statthalter‘) berufen, der durchdrungen war von dem aufklärerischen Diskurs von der Zivilisation und der stadialen ­Theorie. Wie manche seiner Vorgänger hatte auch er daraus eine paternalistische Einstellung entwickelt. Vor allem aber glaubte er an die Vernunftbegabtheit des Menschen und daraus abgeleitet an dessen Erziehbarkeit. Aus dieser Überzeugung

827 Ukaz, izdannyj Ekaterinoj II v otvet na pis’mo O. A. Igel’stroma ob organizacii rasprav i pograničnogo suda, chanskoj vlasti i pr. In: MipsK Bd. 1, Nr. 36 (3. 6. 1786), 66 – 68, hier 68. 828 Erneut sei darauf hingewiesen, dass bei der Antwort auf die Frage, ob ‚kolonial‘ der adäquate Begriff für Katharinas II. Politik gegenüber den Kasachen ist, nicht normative Kategorien eine Rolle spielen, sondern allein die Kriterien der Definition von Kolonialismus, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Vgl. Kap. 1 (Einleitung).

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speiste sich seine Haltung, unterworfenen ethnischen Gruppen anderer Kulturen dieselbe Achtung wie den eigenen Landsleuten entgegenzubringen und sie allein durch Überzeugung und damit freiwillig auf den ‚richtigen Pfad‘ zu führen.829 Von allen seinen Vorgängern und auch von der Zarin selbst unterschied ihn, dass er den indigenen ethnischen Gruppen im Süden und Südosten nicht mit dem Ausdruck herablassender Überlegenheit gegenübertrat. Im Gegenteil, er verabscheute die Verachtung und den Hass, mit der seiner Meinung nach manche seiner Vorgänger im Amt des Orenburger Gouverneurs wie auch einige der Festungskommandanten, Bataillonskommandeure und Kosaken den Kasachen begegnet waren.830 Seine Maxime war es, einerseits Regelbrüche bei den Kasachen durch die Furcht vor Strafen zu verhindern, andererseits dieselben „durch Liebe und Vertrauen zu demjenigen, dem ihre Angelegenheiten anvertraut sind“, zu gewinnen.831 Schon in seiner Position als Befehlshaber der russländischen Besatzungstruppen auf der frisch annektierten Halbinsel Krim machte er sich einen Namen durch sein Bemühen, die Bedürfnisse und Anliegen der krimtatarischen Bevölkerung ernst zu nehmen. Dasselbe galt für seinen Versuch, die muslimischen Bewohner der Krim über ihre religiösen Führer in die russländischen Herrschaftsstrukturen einzubinden.832 In seiner neuen Funktion in Orenburg ging er in dem Versuch, indigene gesellschaftliche Kräfte in der Breite zu mobilisieren und ihnen Verantwortung für eigene Anliegen zu übergeben, noch einen Schritt weiter. Er gründete nicht nur das von der Zarin bereits angewiesene Grenzgericht.833 Er konnte die Zarin auch 829 Archiv grafa Igel’stroma; J udin , Baron O. A. Igel’strom; Zapiski D. V. Mertvago; Vam krome voli moej dorogi net’: Reskripty imperatora Pavla (…); Ė ngel ’gardt , Zapiski L’va Nikokolaeviča Ėngel’gardta; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma; L jubičankovskij , Reljacii O. A. Igel’stroma v Gosudarstvennyj sovet. 830 „Ob’’jasnenie“ bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II v otvet na obvinenija, vydvinuye polk. D. A. Grankinym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 33 (10. 5. 1789), 108 – 127, hier 109 – 111. – Eine andere Frage ist es, wie Igel’strom als Befehlshaber der russländischen Truppen in Warschau während des polnischen Aufstands von 1795 zu beurteilen ist. Eine ausgewogene Biographie Igel’stroms, die an seiner Person transfer- und beziehungsgeschichtlich Konzepte und Praktiken imperialer Politik an verschiedenen Einsatzorten untersucht, steht noch aus. 831 Zapiska bar. O. A. Igel’stroma členu Koll. In. del. Gr. A. A. Bezoborodko o merach, kotorye sleduet prinjat’ dlja vodvorenija spokojstvija v Orde. Zapiska gen.-porutčika bar. Igel’stroma, personačal’no podannaja im v Petersburge, pri ot’’ezde v gubernii, emu vverennyja, po delam pograničnym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 1 (24. 2. 1785), 45 – 46. 832 Zu Igel’stroms Verhalten gegenüber den Krimtataren: Ė ngelgardt , Zapiski L’va Nikolaeviča Ėngel’gardta, 52 – 53; zur Politik Katharinas II. und Fürst Grigorij Potemkins gegenüber den Krimtataren: SIRIO Bd. 27, 244 – 250 (8. 4. 1783); M urzakevič , Pis’ma svetlejšago knjazja Grigorija Aleksandroviča Potemkina-­Tavričeskago raznym licam, 193; S kal ’kovsky , Zanjatie Kryma v 1783 g., 23 – 24; L aškov , Statističeskie svedenija o Kryme; F isher , Enlightened Despotism and Islam, 547 – 548. 833 Am 3. 10. 1786 wurde das Grenzgericht in Orenburg feierlich eröffnet und anschließend von der Zarin bestätigt. Ekateriny II bar. O. A. Igel’stromu s odobreniem učreždenija Pograničnogo suda

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung Abb. 36: Osip Andreevič Igel’strom (Otto Heinrich Igel’ström), Statthalter von Simbirsk und Ufa/Orenburger Gouverneur. Gemalt von Dmitrij G. Levickij, 1790

dafür gewinnen, innerhalb der Horde mehrere sogenannte raspravy (kleine Exekutivorgane) zu gründen, die (bis auf einen Schriftwart, der aus geistlichen Kreisen Kazaner Tataren gewonnen werden sollte) nur aus kasachischen Würdenträgern verschiedener Sippen (und damit nicht aus dem Kreise der Sultane) zusammenzusetzen waren. Den Mitgliedern der raspravy sollte es obliegen, Entscheidungen des Orenburger Grenzgerichts auszuführen und kleinere lokale Streitigkeiten selbst zu schlichten. Gehälter waren ihnen auszuzahlen.834 Dahinter stand Igel’stroms Anliegen, die Kasachen näher an das reichsweit geltende System von niederen und oberen raspravy heranzuführen, wie sie im Zuge der Gouvernementsreform von 1775 in den meisten Gouvernements eingeführt

i s oktazom utverdit’ chanom sultana Kaipa. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 16 (12. 11. 1786), 76 – 77; Ukaz Ekateriny II ob otkrytii v Orenburge pograničnogo suda. In: MipsK Nr. 41 (23. 12. 1786), 73; sowie in PSZRI Bd. 22, Nr. 16.482 (23. 12. 1786), 768. 834 Donesenie bar. O. A. Igel’stroma Ekaterine II ob organizacii tak nazyvaemych rasprav i dolžnosti staršin v každom iz 32-ch „pokolenij“. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 12 (10. 5. 1786), 71 – 72; Ukaz, izdannyj Ekaterinoj II v otvet na pis’mo O. A. Igel’stroma ob organizacii rasprav i pograničnogo suda, chanskoj vlasti i pr. In: MipsK Nr. 36 (3. 6. 1786), 66 – 68.

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worden waren.835 Von einer Einbeziehung in die administrative Verantwortung versprach er sich, die kasachische Elite „bezähmen“ und „zur Ordnung“ führen zu können (k obuzdaniju i privdenija v porjadok).836 Indem Igel’strom darüber hinaus die Ältesten an den raspravy beteiligte, verlieh er einer innerkasachischen Revolte den russländischen Segen, die sich gegen den offiziell noch amtierenden Nurali-­Chan gestellt hatte.837 Nachdem der Generalgouverneur infolge ausführlicher Briefwechsel keine Grundlage mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Chan gesehen hatte, zudem die Ältestenschaft den Chan im Herbst 1785 regelrecht entmachtet und sich statt seiner nur mehr den Würdenträgern der ‚schwarzen Knochen‘ (Batyry und Bij) verschrieben hatte, war Igel’strom mit der Zarin überein gekommen, dass es auch für die russländische Seite nicht länger in Frage kam, die Herrschaft d­ ieses Chans zu unterstützen.838 Igel’strom strebte eine Dreiteilung der Kleinen Horde und eine allmähliche Angleichung ihrer Verwaltung an die übrigen Teile des Reiches an. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte die Chan-­Herrschaft auch gänzlich abgeschafft werden können. Vor einem solchen Schritt schreckte die Zarin noch zurück. Aber die Entscheidung, die sie traf, markierte bereits eine vergleichbar scharfe Zäsur in der russländischen Herrschaft über die Kasachen wie die Investitur von 1749: Sie wies Igel’strom an, Nurali-­Chan auf die russländische Seite zu überführen, dort in Ufa dauerhaft in Gewahrsam zu halten, sowie eine neue Chan-­Wahl vorerst zu verhindern. Damit ging sie einen erheblichen Schritt über die Aneignung des Rechts hinaus, den kasachischen Chan davon abhängig zu machen, dass die russländische Seite ihn bestätigte. Zwar kam sie möglicherweise Nuralis Ermordung durch wutentbrannte Älteste unter Führung von Syrym Batyr zuvor.839 Doch war es präzedenzlos, einen herrschenden Chan zu beseitigen und eine Neuwahl 835 Neben den kasachischen Steppen erhielten von allen imperialen Peripherien des Zarenreiches nur noch Livland und ‚Kleinrussland‘ raspravy. Nach Katharinas II. Tod wurden sie jedoch überall wieder abgeschafft. Ėnciklopedičeskij Slovar’, Bd. 26, 317 – 318. 836 Pis’mo general-­gubernatora Simbirgskogo i Ufimskogo namestničestva barona O. Igel’stroma sultanu Mladšego žuza Erali po povodu vnutrennego poloja v žuze. In: KRO Bd. 2, Nr. 66 (1786), 118. 837 Mit einem Beschluss vom September 1785 hatte eine Versammlung der Ältestenschaft der Kleinen Horde radikal und eigenmächtig die Chan-­Gewalt beschränkt: Sie beschloss, die Horde in drei Teile zu untergliedern, in denen fortan Syrym Datov als gewählter ‚Hauptältester‘ mit Vollmachten herrschen sollte, die jenen eines Chans ähnlich waren. Donesenie bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II o pričinach bor’by v Maloj Orde. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 9, II (31. 10. 1785), 67 – 68. 838 Pis’mo bar. O. A. Igel’stroma chanu Nur-­Ali s obvineniem ego v slabosti i dopuščenii volnenij v Orde. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 8 (12. 9. 1785), 60 – 62. 839 Donesenie bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II o pričinach bor’by v Maloj Orde. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 9 (31. 10. 1785), II , 65 – 68, hier 67. – Lapin zitiert archivgestützt Nuralis Sohn Sultan Bigaly mit der Bitte, seinem Vater Zuflucht auf der russländischen Festung in Orenburg

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eigenmächtig auszusetzen. Das Vorgehen demonstrierte die gewachsene Asymmetrie der russländisch-­kasachischen Machtbeziehung und offenbarte die Verbindung aufklärerischer Narrative im Geiste paternalistischer Fürsorge mit jenen einer Zivilisierungsmission. An Igel’strom schrieb Katharina II. 1786: Die Wahl eines neuen Chans halten wir für genauso ungünstig wie die Führung des jetzigen; und darum muss man eine s­ olche auf jede mögliche Weise verhindern; um aber bei den Kasachen keinen Verdacht aufkommen zu lassen, als ob man sie in ihrer Regierungsform einschränken wolle, sollte man sich mit ihnen zwecks einer guten Herrschaftsordnung beraten, bestehend aus den besten ‚Ältesten‘ der wichtigsten Sippen, und wenn sie sich auf ihr Befugnis berufen, einen Chan auszuwählen, dann sollte man ihnen einflüstern, dass es ungünstig sei, dies zu tun, solange der jetzige noch lebe; nach einiger Zeit könne man dies besser angehen.840

Ursache dafür, dass Katharina II . eine etwaige neue Chan-­Wahl hinauszögerte, waren Igel’stroms Informationen, dass die Ältesten zwar Nurali-­Chan loswerden, nicht aber das Chan-­Amt als solches abgeschafft sehen wollten. Stattdessen favorisierten sie Kaip, der de facto bereits Chan vom südlichen Teil der Steppe war, aber von der Zarenregierung nicht anerkannt wurde.841 Eine Wahl von Kaip an Stelle von Nurali hätte bedeutet, die kasachische Staatlichkeit wiederherzustellen, wie sie die russländische Seite Mitte des 18. Jahrhunderts gerade erst schleichend aufgelöst hatte. Das Chan-­Amt zu einem Zeitpunkt offiziell ganz abzuschaffen, zu dem Nurali als ein zuvor aufwendig von russländischer Seite eingesetzter Chan noch lebte, erschien ihr auch nicht opportun. Tiefergreifende administrative Veränderungen hatten sich auch bei den Kalmücken am ehesten jeweils unmittelbar nach dem Ableben eines indigenen Anführers durchsetzen lassen. So blieb der Zarin die Strategie, die Chan-­Herrschaft zwar formal bestehen zu lassen, faktisch aber auf Eis zu legen und währenddessen eine gänzlich neue politische Ordnung einzuführen – eine Strategie mit gefährlichen Widersprüchen.842

zu gewähren, um sich vor erbosten Kasachen in Sicherheit zu bringen. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 221. 840 Ukaz, izdannyj Ekaterinoj II v otvet na pis’mo O. A. Igel’stroma ob organizacii rasprav i pograničnogo suda, chanskoj vlasti i pr. In: MipsK Bd. 1, Nr. 36 (3. 6. 1786), 66 – 68, hier: 66 – 67, Punkt 5 und 6; PSZRI Bd. 22, Nr. 16400 (3. 6. 1786), 604 – 606. 841 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 146/147. 842 Überzeugend legt Lapin dar, dass bei aller politischen Kräfteverschiebung zu Gunsten der Ältestenschaft mittels der raspravy die Zarin zu d­ iesem Zeitpunkt nicht beabsichtigte, die kasachische Institution der Chan-­Herrschaft abzuschaffen, und auch weder sie noch Igel’strom dies taten. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 217 – 219, 256 – 261.

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In dieser Dimension, etwas gänzlich Neues einzuführen, bewegte sich auch Igel’stroms Initiative, in Orenburg ein islamisches Zentrum, eine ‚Geistliche Versammlung‘, zu begründen, der die gesamte islamische Geistlichkeit (Achun,843 Imame und Muezzine) sowie alle Moscheen und die größtenteils noch zu gründenden Schulen der Steppen und der Wolgaregion unterworfen sein sollten.844 Igel’strom wiederholte hier einen Schritt, den er bereits vollzogen hatte, um die Krim zu befrieden und besser regierbar zu machen. Dort war das von Igel’strom gegründete Muftiat zu einem integralen Bestandteil der zivilen Administration des Russländischen Reiches geworden.845 Wie auf der Krim war es auch in der kasachischen Peripherie das Ziel, die islamische Führung und die niedere Geistlichkeit unter staatliche Kontrolle zu bekommen, um auf sie und auf die muslimischen Glaubensanhänger Einfluss nehmen zu können. Alle schriftlichen Unterlagen der Islamischen Geistlichen Versammlung waren auf Russisch zu verfassen, auch wenn sie mit einer Übersetzung in die tatarischen „Dialekte“ versehen werden sollten.846 Geheim arrangierte Eheschließungen galten ab sofort als nichtig. Stattdessen s­ eien H ­ ochzeiten „wie bei den europäischen Völkern“ zuvor in der Moschee bekanntzugeben. Körperliche Strafen durften fortan nurmehr vollzogen werden, wenn zuvor die städtische oder die zemstvo-­Polizei eingeschaltet worden war. Die geistlichen Schulen, die „jeglichen Aberglauben“ zu tilgen hätten, sollten unter staatliche Aufsicht gestellt werden.847 Es handelte sich mithin um den Ausbau des Staates auch in Lebensbereiche hinein, die schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter Peter I. nicht länger als außerhalb des staatlichen Interesse stehend wahrgenommen worden waren. Hatte damals der Zar noch in der russischen Orthodoxie das Mittel gesehen, um die vermeintliche Ignoranz und Ungebildetheit nicht-­christlicher Gruppen zu beseitigen, sahen Igel’strom und Katharina II. jetzt auch in der islamischen Religion ein

843 Achun war bei den Moslems ein geistlicher Rang, der in der Hierarchie unterhalb eines Muftis angesiedelt war und die Aufsicht über die Gemeindemullahs innehatte. 844 Tatsächlich tagte die ‚Islamische Geistliche Versammlung‘ nur in den Jahren 1797 – 1803 in Orenburg. Gründungsort wurde am 4. 12. 1789 hingegen Ufa, wo es sie bis heute gibt. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 244. 845 M urzakevič , Pis’ma svetlejšago knjazja Grigorija Aleksandroviča Potemkina-­Tavričeskago ­raznym licam; S kal ’kovsky , Zanjatie Kryma v 1783 g., 23 – 24; F isher , Enlightened Despotism and Islam, 547. 846 Položenie o Duchovnom magometanskom sobranii, sostavlennoe simbirskim i ufimskim namestnikom O. A. Igel’stromom. In: MpiB ASSR 4. 12. 1789, Nr. 443, 563 – 564. 847 Proekt položenija o kompetencii Duchovnogo magometanskogo sobranija, predložennyj ­simbirskim i ufimskim namestnikom O. A. Igel’stromom na rešenie imp. Ekateriny II. In: MpiB ASSR Bd. 5, Nr. 444 (5. 12. 1789), 564 – 567.

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Bindungs-, Bildungs- und Zivilisierungspotential, das es zu Gunsten des russländischen Staates zu n­ utzen galt.848 Nicht mehr der falsche Glaube und ‚Unwissenheit‘, sondern die falsche Lebensart, das Nomadentum und die davon ausgehenden Konflikte mit der russischen Sesshaftigkeit waren in den Fokus gerückt. Von einem Muftiat unter kazantatarischer muslimischer Führung glaubte Igel’strom, einen Keil z­ wischen die Kasachen und muslimische ethnische Gruppen treiben zu können, die sich außerhalb des Russländischen Reiches befanden. Außerdem hoffte er, den kriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit den Kasachen ein Ende zu bereiten, indem er sie in die russländische Administration einband. Hier war die Verknüpfung z­ wischen der Einführung partizipatorischer Elemente auf der Ebene des Glaubens sowie jener auf der administrativ-­politischen Ebene mittels des Grenzgerichts und der raspravy zu sehen.849 Nicht weniger radikal war auch die von Igel’strom vollzogene Wende in der Territorialpolitik. Im Unterschied zu fast allen seinen Vorgängern erlaubte Igel’strom 1787 jenen Kasachen, die auf der linken Seite des Ural-­Flusses nicht mehr genügend Weidegrund für ihr Vieh fanden, auf die fruchtbare rechtsufrige Seite des Urals zu wechseln.850 Ein Jahr ­später genehmigte er den Kasachen den Übertritt sogar ohne die Verpflichtung, darum vorher um Erlaubnis zu bitten.851 Auch handelspolitisch sorgte Igel’strom für neue Initiativen. Er griff den schon vor einem halben Jahrhundert gemachten Vorschlag Tevkelevs auf, Ältesten eine Belohnung für ihr sicheres Geleit von Karawanen auszuzahlen. Zudem gewann er die Zarin für seine Idee, innerhalb des Territoriums der großen kasachischen Sippen neben zwei bis drei zu errichtenden neuen Städten mehrere Reiseunterkünfte für durchziehende Kaufleute zu errichten. Dabei sollte mit den Clan-­Chefs der Sippen zusammengearbeitet und ihnen die genaue Ortsbestimmung überlassen werden.852 848 PSZRI Bd. 22, Nr. 16255 (4. 9. 1785), 450. 849 F isher , Enlightened Despotism and Islam; S ultangalieva /A liturlieva , Orenburgskoe magometanskoe duchovnoe sobranie, 6; N ogmanov , Samoderžavie i tatary; R ečkina , Organizacija musul’manskogo pravlenija v kazachskoj stepi, 80; S advokasova , Duchovnaja ėkspansija carizma v Kazachstane; Crews, For Prophet and Tsar, 52 – 55; Š ablej , Orenburgskoe magometanskoe duchovnoe sobranie, 147. 850 „Ob’’jasnenie“ astrachanskogo ober-­komendanta A. O. Bazina prezidentu Komm.-koll. Gr. A. R. Voroncovu o razrešenii kazacham kočevat’ meždu rekami Uralom i Volgoj, o merach predostorožnosti, prinjatych protiv kazachov, i o poytkach prekratit’ vraždu meždu kazachami i volžskimi kalmykami. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 18 (9. 3. 1787), 81 – 83. 851 L evšin , Opisanie kirgiz-­kajsakskich, Bd. 2 [1832], 306. 852 PSZRI Bd. 22, Nr. 16.400 (3. 6. 1786), 604 – 605. – Igel’stroms zuvor unterbreiteter Vorschlag vom 10. 5. 1786 findet sich im Archiv des St. Petersburger Instituts für Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 235.

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Ob administrativ-, handels-, territorial- oder rechtspolitisch – Generalgouverneur Igel’strom suchte auf allen Ebenen, kasachische Älteste und Geistliche aus ihrer Objektrolle einer auf Waffengewalt basierenden russländischen Politik zu befreien und sie mittels Überzeugung als Subjekte des russländischen Staates in die Verantwortung für eine gemeinsam zu gestaltende Politik zu holen.853 Auf vielen Feldern stellten sich kurzfristige Erfolge ein. Der Handel des Reiches mit den zentralasiatischen Staaten, der über das Territorium der Kleinen Horde verlief, nahm deutlich zu. Allein der Warenaustausch mit dem Bucharer Emirat, das zwar einen imperialen Widersacher, aber zugleich auch einen wichtigen Handelspartner darstellte, verachtfachte sich während der Zeit der Statthalterschaft Igel’stroms.854 Der Viehtausch in Orenburg erreichte Rekordzahlen.855 Die Islamische Geistliche Versammlung wurde feierlich eröffnet. Die Muftis und die gesamte islamische Geistlichkeit erhielten Staatsgehälter und mittels der Geistlichen Versammlung erhielt der Islam im ganzen Reich eine rechtliche Stärkung und eine administrative Funktion. Das Grenzgericht und die raspravy nahmen zumindest formal ihre Arbeit auf.856 Vor allem aber schlugen sich die verbesserten Beziehungen ­zwischen kasachischer Ältestenschaft und russländischer Lokaladministration darin nieder, dass der Menschenraub entlang der Orenburger Linie von 175 im Jahr 1785 auf zwei Entführungen im Jahr 1787 zurückging.857

Das Scheitern von Igel’stroms Reformen Doch der Erfolg war von kurzer Dauer. Schon 1788 nahmen der Menschenraub und die Überfälle auf russländische Siedlungen und Festungen wieder drastisch zu. Die kasachischen Vertreter im Grenzgericht, aus den Reihen niederer Leute

853 Damit wird der Auffassung M. P. Vjatkins widersprochen, wonach Igel’stroms Projekt als „vollständiges Programm einer kolonialen Politik“ (polnuju programmu kolonial’noj politiki) zu bezeichnen sei. V jatkin , Batyr Srym, 228. 854 G ulomov , Rol’ kazachskoj stepi v istorii mežgosudarstvennych otnošenij Buchary, 58; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 239, Fn. 3. 855 Vedomost’ o torgovle skotom na orenburgskoj jarmarke. In: KRO Bd. 2, Alma-­Ata 1964, Nr. 61 (31. 10. 1785), 109; Levšin, Opisanie kirgiz-­kazač’ich, Bd. 2, 289. 856 Die raspravy wurden am 20. 10. 1787 feierlich eröffnet. Jede rasprava wurde dabei mit einer ins Tatarische übersetzten Ausgabe des Erlasses zur Gouvernementsreform von 1775 ausgestattet. Darin zeigte sich Igel’stroms Auffassung, wonach die Neuorganisation der Verwaltung dem allgemeinstaatlichen Kurs unterlag und aus der Eingliederung in den Staat folgte. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 149. 857 Čislo uvezënnych v plen ljudej ot Zverinogolovskoj stanicy do Gur’eva gorodka. In: Mejer, Kirgizskaja step’ orenburgskogo vedomstva. Materialy dlja geografii, 18 – 19; L evšin , Opisanie kirgiz-­kazač’ich, Bd. 2, 289.

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gewählt, waren ihrer Arbeit nicht gewachsen. Die raspravy existierten mehr auf dem Papier als in der Realität. Es gab keinen Aktendurchlauf, und nur, wenn die Zeit gekommen war, das Gehalt zu holen, kamen die kasachischen ‚Richter‘, es einzufordern. Sie kehrten nach Erhalt wieder dorthin zurück, „wohin es ihnen gefiel“ – in die Tiefe der Steppe.858 Kritische Stimmen wie die von Oberst Dmitrij Andreevič Grankin behaupteten, die anfänglich gezeigte kasachische Kooperation habe einzig und allein auf dem Bestreben nach einem Maximum an Geld und Geschenken basiert; ihr Treueid entspringe nicht einem „reinen Herzen“, sondern einer einzigen Genusssucht.859 Die Zugeständnisse in der Religionspolitik könnten deshalb nicht greifen, weil die Kasachen sich dem Glauben nur wenig verbunden fühlten und in ihrer Wildheit nur selten in die Moschee gingen. Stattdessen, so Grankin 1788 in seinem einflussreichen Vermerk an Fürst Potemkin, verwiesen die drastisch gestiegenen Kosten, um die vermehrten Überfälle entlang der Linien abzuwehren, darauf, dass der Kurs radikal zu einer härteren Gangart zu verändern sei: „Je rauer man mit d­ iesem Volk umgeht, desto bessere Schuldigkeit kann man von ihm erwarten.“ 860 Igel’strom gab Probleme zu, beschwor aber die Zarin, beim eingeschlagenen Kurs zu bleiben: Die Horde, die bislang noch nicht an die inneren Teile Ihres [der Zarin] Staates angeglichen worden ist, erfordert einige Geduld bei der Heranführung ihres Volkes in einen mit den übrigen Untertanen Eurer Hoheit gleichen Zustand. Hier sind Städte und Dörfer, im Gegensatz dazu gibt es dort aber nur die Steppe und ein Volk, das dessen Weite da ausfüllt, wo es den besten Platz findet, seine Herden herumtreibt und mit ihnen von Ort zu Ort nomadisiert. […] Es lohnt sich, die Einführung der Wissenschaften für sie fortzusetzen, dann wird nach dem Umfang ihrer Bildung mit der Zeit auch ihr Gottesdienst unter ihnen mit mehr Eifer durchgeführt. Und der Aberglaube, an dem sie derzeit wegen der Unkenntnis ihres Glaubens festhalten, wird zurückgehen. So wie ihr ganzes Leben sich mit der Zeit unbemerkt an das der anderen Muslime angleichen wird, die

858 Ob’’jasnenie polk. D. A. Grankina ob usilenii dviženija kazachov, bespoleznosti Pograničnogo suda i rasprav, bezdejstvii bar. O. A. Igel’stroma i celsoobraznosti razdela Maloj Ordy. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 32 (13. 12. 1788), 104 – 109; mit einer etwas späteren Datierung außerdem in: Zapiska D. Grankina, prestavlennaja knjazju G. Potemkinu, po povodu administrativnogo ustrojstva v Mladšem žuze. In: KRO Bd. 2, Nr. 70 (16. 12. 1788), 125 – 132; Levšin, Opisanie kirgiz-­kazač’ich, Bd. 2, 304 – 305. 859 Zapiska D. Grankina, in: KRO Bd. 2, Nr. 70 (16. 12. 1788), 125. 860 „Ob’’jasnenie“ polk. D. A. Grankina ob usilenii dviženija kazachov, bespoloeznosti Pograničnogo suda i rasprav, bezdejstvii bar. O. A. Igel’stroma i celesoobraznosti razdela Maloj Ordy. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 32 (13. 12. 1788), 104 – 108, hier 107.

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in d­ iesem Gebiet leben. Denn schon jetzt beginnen einige Kasachen den Wunsch zu verkünden, sich mit der Landwirtschaft zu beschäftigen, indem sie um die Erlaubnis bitten, diese an der Grenze zu beginnen.861

Igel’strom schwebte auf der Basis von Freiwilligkeit, Partizipation und Überzeugungskraft eine allmähliche Akkulturation in der Frage der Lebensweise, der Organisation von Religion, von Bildung und Wirtschaftsweise vor, eine Integration der Kasachen nach allgemein-­staatlichem Muster. Seine Widersacher votierten hingegen dafür, eine Politik beizubehalten, die das russländische Interesse nach ‚Ruhe und Ordnung‘ an die erste Stelle setzten und mithin fortgesetzten Landentzug sowie den Einsatz von Zwang und Gewalt als Mittel zum Umgang mit widerspenstigen „wilden Völkern“ propagierten. Die Zarenregierung stand vor einer Richtungsentscheidung. Igel’stroms Kurs ließ sich nicht länger halten. Das Hauptproblem bestand dabei weniger in ‚kasachischer Genusssucht‘ oder mangelnder Religiosität. Das Hauptproblem war die Dynamik, die von russländischer Seite seit Jahrzehnten selbst verursacht wurde und der Igel’strom mit seinen Reformen lediglich die Krone aufgesetzt hatte: Mit dem vor Jahrzehnten erfolgten Eingriff in die kasachische politische Verfasstheit, der zunehmenden Entmachtung und Anbindung des Chans an das Russländische Reich und dem damit einhergegangenen Autoritätsverlust innerhalb der kasachischen ethnischen Gruppe war dessen traditionelle gesellschaftliche Struktur aufgebrochen. Die zwei Lager, die selbstbewusst gewordene Ältestenschaft auf der einen und die um ihre Entmachtung fürchtenden Sultane auf der anderen Seite, standen sich unversöhnlich gegenüber. Das Modell Igel’strom, das den Ältesten breite Partizipation anbot, verschärfte diesen Gegensatz nur weiter. Ein innerkasachischer Friede war damit genauso in weite Ferne gerückt wie ein Friede ­zwischen der Sultanpartei und der russländischen Administration. In d­ iesem Sinne war Igel’strom der Totengräber seiner eigenen Reformen. Die Sultane boykottierten die raspravy, in denen sie eine Beschränkung ihrer Macht sahen. Den Anführer der Ältesten, Syrym Batyr, hielten sie zwischenzeitlich sogar gefangen.862 Die Ältesten ihrerseits misstrauten teilweise der russländischen Administration, teilweise plädierten sie dafür, den selbsternannten Chan Kaip beizubehalten, und betrachteten die raspravy als Einschränkung für dessen Herrschaft.863 Es herrschte Chaos, die innerkasachischen Konflikte entluden sich in zunehmender Gewalt. Der Grenzadministration fehlten 861 „Ob’’jasnenie“ bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II v otvet na obvinenija, vydvinuye polk. D. A. Grankinym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 33 (10. 5. 1789), 108 – 127, hier 117, 125. 862 V jatkin , Batyr Srym, 231. 863 K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 149.

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die Ansprechpartner, und 1789 erhielt Igel’strom die Anweisung, ein neues Regierungssystem für die Kleine Horde auszuarbeiten: Die Chan-­Herrschaft sollte w ­ ieder in den Mittelpunkt gerückt werden.864 Ein letztes Mal rang Igel’strom um seine Vorstellungen, statt einer zentralen Chan-­Herrschaft die Horde mehrfach zu teilen, damit einem starken Zentrum vorzubeugen und Vorbereitungen für die Eingliederung der Horde in die reichsweiten Strukturen zu schaffen.865 Doch Igel’stroms Reformversuche hatten ausgedient. Er selbst wurde nach St. Petersburg berufen und als Anführer der russländischen Delegation zur Friedensvertragsverhandlung mit Schweden eingesetzt.866 Zwar blieb er offiziell noch bis 1792 im Amt des Generalgouverneurs. Doch zeigte die Ernennung von Aleksandr Aleksandrovič Peutling (1739 – 1801) als seinem zunächst kommissarisch und ab 1792 regulär eingesetzten Nachfolger, dass die Zarenregierung die Rückkehr zu früheren Verhältnissen anstrebte: Unter dem Eindruck der Französischen Revolution erschien nicht nur die Orientierung an der Sultanpartei, sondern auch die Rückkehr zu Härte und Gewalt im Umgang mit den Kasachen das Gebot der Stunde, um die russländische Herrschaft in der kasachischen Steppe zu sichern.867 Die Erlaubnis zum Ural-­Übertritt wurde zurückgenommen, den Uralkosaken für ihre Überfälle auf Kasachen wieder freie Hand gelassen.868 Als Nurali-­Chan in russländischem Gewahrsam 1790 verstarb, setzte Peutling mit der Unterstützung bewaffneter Truppen durch, dass Ėrali als neuer kasachischer Chan eingesetzt wurde. Esim hingegen, den die Ältesten favorisierten, ging leer aus.869 Die Kluft z­ wischen der aufwendig inszenierten Einsetzung Nurali-­Chans von 1749, bei der die gesamte kasachische Elite eingebunden worden war, und der Ernennung Esims von 1791, die militärisch gegen Übergriffe abgesichert werden musste, hätte kaum größer sein können. Nicht mehr die tradierte Taktik schleichender Transformation und subtiler Fremdsteuerung schien Peutling angebracht. Vielmehr wähnte er sich und die Administration in einer Position der Stärke, von der aus er glaubte, mit Gewalt die kasachische Gesellschaft auf russländische

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D obrosmyslov , Turgajskaja Oblast’, 195 – 202; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 150. K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 179. C hrapovickij , Pamjatnye zapiski A. V. Chrapovickogo, 213 – 215. Zur Diskussion, inwieweit Igel’stroms Abberufung im Kontext von Katharinas II. Reaktion auf die französische Revolution zu sehen ist: V jatkin , Batyr Srym, 271; K asymbaev , Gosudarstvennye dejateli kazachskich chanstv, 165; O lcott , The Kazakhs, 47; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 193 – 194. 868 Donesenie batyra Sryma imp. Ekaterine II ob ograblenii i ubijstvach kazachov vojskovym atamnom Ural’skogo kazačego vojska D. Donskovym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 42 (11. 9. 1790), 135 – 137; S abyrchanov , Zemel’naja politika carskogo pravitel’stva, 47; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 180; K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 151. 869 K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 180.

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Interessen hin ‚umpolen‘ zu können.870 Die Igel’strom’schen Reformen hatten jedoch andere Möglichkeiten von Herrschaft offenbart, Ansprüche geweckt und politisch mobilisiert. Die Ältestenschaft um Syrym Batyr erklärte Peutling und seiner Administration mit entlarvenden Worten den offenen Krieg: Es ist offensichtlich, dass Ihr uns mit Eurem Betrug und Euren Tricks wie schon die Nogaier und Baschkiren dahin führen wollt, uns so schnell wie möglich zu bezähmen (obuzdat’), uns zum Dienst zu verpflichten, unsere Kinder zu Soldaten zu machen und sie für [Eure] Feldzüge einzusetzen sowie uns verschiedene Lasten aufzuerlegen. Wir haben verstanden, was Eure Absichten sind, denn auch zuvor habt Ihr, Russländer (rossijane), indem Ihr sie mit Silber und anderem umschmeichelt habt, viele in Eure Sklaverei (rabstvo) geführt.871

Die Parallelen zur Analyse russländischer Politik durch die Kalmücken vor ihrem Exodus rund zwanzig Jahre früher sind offensichtlich. Auch ein Teil der Kasachen hatte damit den kolonialen Charakter der Politik des Reiches im Sinne der Instru­mentalisierung nicht-­russischer Ethnien für die Interessen der zarischen Metropole entlarvt. Die Zarenadministration war erneut in einer Sackgasse angelangt. Der Zickzackkurs führte zu einer Spirale der Gewalt. Selbst die von einigen kasachischen Ältesten (Batyr Srym, Kara-­Kobek Bij und andere) sehnlichst erwünschte Rückkehr Igel’stroms in das Amt des Generalgouverneurs von Ufa und Simbirsk, die der neue Zar Paul I. den Kasachen 1796 zugestand, konnte daran nicht mehr viel ändern.872 Igel’strom gelang es zwar, mit dem Chan-­Rat erneut eine Institution mit partizipativen Elementen einzuführen.873 Der Rat sollte sich aus sechs Ältesten zusammensetzen, die jeweils die größten Sippen repräsentierten. Doch auch diese Idee war von Beginn an zum Scheitern verurteilt: Das 870 Das vom Regierenden Senat 1792 erlassene Statut, mit dem die zarische Seite ein für alle Mal die Regeln festlegte, nach denen kasachische Chane zu wählen und zu bestätigen waren, kann als weitere Demonstration der Machtverhältnisse verstanden werden. Ukaz Pravitel’stvujuščego Senata „O obrjadach vybora i utverždenija kirgiz-­kajsackich chanov i ich dostoinstve“. In: PSZRI Bd. 23, Nr. 17.080 (9. 11. 1792), 369 – 374. 871 Hier zitiert nach einem von Vjatkin eingesehenen Archivdokument. V jatkin , Batyr Srym, 317; V jatkin , Očerki po istorii Kazachskoj SSR, Bd. 1, 202. 872 Pis’mo Kara-­Kobek bija i Šubar bija členu Koll. In. del gr. A. A. Bezborodko s pros’boj o smeščenii vojskogovo atamana Ural’skogo kazač’ego vojska D. Donskova i gen.-gub-­ra Simbirskogo i Ufimskogo manestničestva A. A. Peutlinga, razorjajuščich kazachov. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 41 (2. 8. 1790), 132 – 135; Donesenie batyra Sryma imp. Ekaterine II ob ograblenii i ubijstvach ­kazachov vojskovym atamnom Ural’skogo kazačego vojska D. Donskovym. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 42 (11. 9. 1790), 135 – 137. 873 D obrosmyslov , Turgajskaja oblast’, 211; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 269 – 270.

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Lager um Syrym Batyr verweigerte die Mitarbeit, weil es die Reform als viel zu halbherzig betrachtete, da weiterhin ein Vertreter der Činggissiden-­Partei als Chan an der Spitze stand.874 Das Lager der Sultane und ihrer Anhänger sah sich ihrerseits durch die zahlenmäßig große Stärke der Ältesten um ihre Macht gebracht.875 Als Syrym Batyr anschließend Išim-­Chan ermordete, den die russländische Seite 1796 eingesetzt hatte, wandte sich auch Igel’strom endgültig von dem Gedanken ab, noch länger eine enge Zusammenarbeit mit den Ältesten um Syrym Batyr zu suchen.876

Der Anfang vom Ende kasachischer Selbstverwaltung Von nun an bis zur endgültigen Abschaffung der Chan-­Herrschaft in der Kleinen Horde 1824 ließen sich Igel’strom, der 1799 wieder abgelöst wurde, und seine Nachfolger im Amt des Generalgouverneurs von Ufa und Simbirsk vor allem von der Maxime leiten, schwache kasachische Vertreter als Chane auszuwählen, damit die Horde zu destabilisieren, die Chan-­Idee als s­ olche zu diskreditieren und die Ältesten untereinander zu spalten. Das von Katharina II. initiierte und von Igel’strom eingeführte Grenzgericht wurde noch 1799 geschlossen, die letzten raspravy 1804 aufgelöst, Igel’strom ­später als „Romantiker“ verspottet.877 Von den fünf Chanen, die seit Nurali-­Chans Tod bis 1824 über die Kleine Horde herrschten, starb nur einer im Amt eines natürlichen Todes (Ėrali 1794). Zwei wurden von kasachischen Rivalen ermordet (Išim 1797 und Žan-­Tore 1809) und zwei von russländischer Seite zur Abdankung gezwungen (Ajčuvak 1805 und Širgaz Ajčuvak 1824).878 Zudem gelang der Zarenadministration während der letzten zwei Jahrzehnte vor der Abschaffung der Chan-­Institution noch ein besonderer Coup: Nuralis Sohn Bukej sah sich durch den zunehmenden Landmangel für sein Vieh und 874 Ivanov, K stoletnemu jubileju Vnutrennej (Bukeevskoj) kirgiz-­kajsackoj ordy, 907. Zur Diskussion um die Einordnung und Bewertung des Chan-­Rates: Levšin, Opisanie kirgiz-­kazač’ich, Bd. 2, 278; Mejer, Kirgizskaja step’ orenburgskogo vedomstva. Materialy dlja geografii, 23; D ­ obrosmyslov, Turgajskaja oblast’, 211 – 212, 214; Vjatkin, Očerki po istorii Kazachskoj SSR, 208; Kasymbaev, Gosudarstvennye dejateli, 201; Lapin, Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 273 – 277. 875 V jatkin , Srym Batyr, 336 – 339; K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 182. 876 L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 269. 877 Žurnal Aziatskogo komiteta o necelesoobraznosti razdela Ordy na 2 chanstva s predpisaniem mer dlja ukreplenija v Orde vlasti chana Šir-­Gazy. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 116 (19. 2. 1820), 349 – 352. Zamečanija, predstavlennye v Aziatskij departament stolona’nikom ėtogo Departamenta A. I. Levšinym, na instrukciju MID polk. F. F. Bergu. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 138 (8. 4. 1823), 435 – 439. 878 O lcott , The Kazakhs, 44 – 53.

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seine Leute sowie durch innerkasachische Anfeindungen derart in Not, dass er, ähnlich wie rund siebzig Jahre zuvor die kalmückische Fürstin Anna Tajšina, um die Erlaubnis bat, sich mitsamt seinem Gefolge (rund 7500 Familien) auf der ‚inneren‘ Seite niederzulassen.879 Wie schon damals Zarin Anna erkannte auch jetzt Zar Paul I. die große Chance, die von einem möglichen Vorzeigeprojekt der Sesshaftigkeit auf die anderen Kasachen ausgehen könnte. Die Zarenadministration gestattete Sultan Bukej und seinem Gefolge, sich auf dem Gebiet niederzulassen, das durch den Exodus der Kalmücken ­zwischen Ural und Wolga frei geworden war. Die Erlaubnis galt unbefristet, war aber an die Tributpflicht gebunden.880 Sultan Bukej wurde mit seiner Inneren Horde den Gouverneuren von Astrachan und Orenburg unterstellt, erhielt jedoch 1812 von russländischer Seite auch die Chan-­Würde verliehen. Damit unterstanden die Kasachen der Kleinen Horde für die letzten zwölf Jahre gleich zwei Chanen, ein Zustand, der die traditionsreiche Herrschaftsinstitution der Kasachen weiter schwächte und diskreditierte.881 Allerdings wurde auch die Bukej- oder Innere Horde zu keinem Vorzeigeprojekt. Die anfängliche wirtschaftliche Belebung, die durch die große Landmasse ausgelöst wurde, die man ihnen zur alleinigen Verfügung stellte, wich allmählich einem Niedergang: Willkürliche Schenkungen an russländische Siedler wie Il’ja Graf Bezborodko und Nikolaj Fürst Jusopov hatten das ohnehin strikt begrenzte Gebiet drastisch verringert.882 Sesshaftigkeit und Ackerbau fanden nur wenig Nachahmer.883 Gleichzeitig suchte die Zarenadministration Rückbewegungen kasachischer Sippen in die Steppengebiete jenseits des Urals zu unterbinden.884 Unruhen brachen aus und weiteten sich in den 1820er Jahren sowie auch noch Jahrzehnte ­später unter der Führung von Isataj Tajmanov und Machambet Utemisov zu großen Aufständen aus, die sich sowohl gegen die eigenen Chane richteten, die als 879 I vanov , K stoletnomu jubileju, 919 – 922. 880 Iz doklada Senata imp. Aleksandru I o pros’be sultana Bukeja otvesti kazacham zemli v ­Astrachanskoj gub. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 86 (nicht ­später als 13. 4. 1803), 256 – 259; I vanov , K stoletnomu jubileju 910 – 943; O lcott , The Kazakhs, 49 – 50. 881 Raport orenburgskogo voennogo gubernatora imperatoru ob izbranii v Maloj orde dvuch ­chanov – Širgazy Ajčuvakova i Bukeja Nuralina. MipsK Bd. 1, Nr. 26 (17. 10. 1811), 47 – 50. 882 Raport orenburgskogo voennogo gub-­ra kn. G. S. Volkonskogo imp. Aleksandru I ob ubijstve sultanom Karataem chana Žan-­tore s predloženiem predostavit’ vybor novago chan samim staršinam. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 81, 246. 883 B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 95 – 102. 884 Raport inspektora astrachanskogo kordona I. I. Zavališina imp. Aleksandru I o stremlenii k­ azachov roda Berš i Serkeš Bukeevskoj Ordy perejti obratno v zaural’skie stepi. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 89 (10. 3. 1804), 263; Predpisanie orenburgskogo voennogo gubernatora P. Ėssena Ural’skoj vojskovoj kanceljarii o zapreščenii kazacham Bukeevskogo chanstva perechodit’ na stepnuju storonu r. Urala. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 132 (20. 3. 1827), 225.

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Marionetten russländischer Herrschaft empfunden wurden, als auch gegen die Zarenadministration als s­ olche.885 Die jenseits des Urals verbliebe Kleine Horde war ähnlich wie die Mittlere Horde der Kasachen durch die inneren Kämpfe und das sich immer weiter verschärfende Landproblem mürbe geworden. Da die Tiere, die Haupteinkunftsquelle der Kasachen, nicht mehr genügend Land zum Grasen hatten, nahm die durchschnittliche Herdengröße innerhalb der Kleinen Horde stetig ab. Landwirtschaft war nach wie vor entweder wenig bekannt oder erschien unattraktiv und wurde nur von den Allerärmsten auf primitive Weise zum Überleben betrieben. In dieser Situation gelang es einer Gruppe von russländischen Beamten um den reformfreudigen Generalgouverneur Sibiriens, Michail Michajlovič Speranskij, und den Orenburger Generalgouverneur Pëtr Kirillovič Ėssen, fast drei Jahrzehnte nach Igel’strom, dessen Ideen einer Aufteilung der Horden und seiner Einbindung in den zentralisierten Staat nach territorialen Prinzipien zu realisieren. Sie nahmen dabei jedoch nicht explizit Bezug auf Igel’strom. Speranskijs Name wird gemeinhin vor allem mit dem Statut für die nicht-­ russische Bevölkerung Sibiriens verbunden.886 Häufig wird dabei übersehen, dass er auch eine administrative Struktur entwarf, die mit dem Statut von 1822 ihre Geltung über die Kasachen der Mittleren Horde erlangte. Zudem arbeitete er zusammen mit Ėssen und in Kooperation mit dem Komitee für asiatische Angelegenheiten 1824 ein zweites Statut aus, in dessen Folge die Kleine Horde gänzlich aufgelöst wurde.887 Speranskijs Anliegen entsprang derselben Kombination aus paternalistischer Fürsorge und einem Glauben an die zivilisierende Kraft von Recht und administrativer Struktur, wie sie auch Igel’stroms Reformversuchen zu Grunde lag.888 Zudem band wie schon Igel’strom auch Speranskij sein Reformwerk 885 Hier nur eine Auswahl an Dokumenten zu Unruhen und Aufständen in der Buchenbach-­Horde in den 1820er Jahren: Istorija Bukeevskogo Chanstva, Nr. 239 (26. 3. 1827), 444 – 445; Nr. 331 (1. 4. 1827), 446 – 447; Nr. 342 (19. 2. 1829), 458 – 460; Nr. 349 (25. 2. 1829), 465 – 466; Nr. 355 (2. 3. 1829), 470 – 472). – Zu den späteren Aufständen Bekmachanov, Kazachstan v 20 – 40 gody XIX veka; Basin/Sulejmenov, Kazachstan v sostave, 123 – 126; Zimanov, Političeskij stroj Kazachstana; Počekaev, Pravovaja situacija v Kazachstane; Abdrachmanova, Istorija Kazachstana. 886 J adrincev , Sibir’ kak kolonija; R aeff , Siberia and the Reforms of 1822; F edorov , Pravovoe položenie, 178 – 202; M inenko , Severo-­Zapadnaja Sibir’; D amešek , Vnutrennjaja politika carizma i narody Sibiri, 31 – 45; H undley , Speransky and the Buriats; K onev , Korennye narody severo-­ zapadnoj sibiri; S chorkowitz , Staat und Nationalitäten in Rußland; Š erstova , Tjurki i Russkie v Južnoj Sibiri, 128 – 138. 887 B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 106 – 115 (zum Statut von 1822), 115 – 116 (zum Statut von 1824); Z imanov , Političeskij stroj, 143 – 193 (zum Statut von 1822), 194 – 199 (zum Statut von 1824); V asil ’ev , Rossija i kazachskaja step’, 244 – 248. 888 Proklamacija general-­gubernatora Zapadnoj Sibiri, adresovannaja kazachskomu naseleniju, bijam, sultanam v svjazi s vvedeniem Ustava o sibirskich kirgizach. In: KRO Bd. 2, Nr.120 (7. 1. 1824),

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daran, es nicht gegen, sondern mit den Untertanen sowie für ihr Wohl, wie er es verstand, umzusetzen. Mit Zar Alexander I. gesprochen ging es im Umgang mit den Kasachen als einem noch wenig gebildeten und „sich im Grad der Zivilisiertheit (na stepeni blagustrojstva graždanskogo) noch im Jünglingsstadium befindenden Volk“ darum, es auf die höchste Stufe „zivilisierter Bildung“ (graždanskoj obrazovannosti) zu führen. Unbedingt habe dies aber Schritt für Schritt und auf der Grundlage lokaler S ­ itten und Gebräuche zu erfolgen.889 Erstmals beschrieb Speranskijs Statut einen ganzen Katalog klar umrissener Rechte und Pflichten.890 Unbestritten war dies ein Meilenstein auf dem Weg zu mehr Rechtssicherheit für die nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Osten und Südosten, die bislang als ‚jasak-­Zahlende‘ (jasačnye) definiert worden waren, wenn auch ohne Berücksichtigung der Baschkiren und Kalmücken, dafür aber einschließlich der Kasachen. Gleichzeitig aber leitete die Orientierung an der Idee des einen und unteilbaren zentralisierten Staates, wie sie im Statut erstmals konsequent ausbuchstabiert wurde, das Ende kasachischer politischer Eigenständigkeit ein. Die schon im frühen 18. Jahrhundert mit Blick auf die Kalmücken zum Ausdruck gebrachte russländische Vorstellung von der Verschmelzung des Imperiums zu einem Staatsvolk bedeutete in seiner Fortentwicklung im Geiste Speranskijs, dass sich das Reich administrativ eben nicht nach dem ethnischen, sondern nach dem territorialen Prinzip zu gliedern hatte.891 So war es nur konsequent, dass Speranskij und das Komitee für die asiatischen Angelegenheiten, das der Orenburger Militärgouverneur Pëtr Ėssen gegründet hatte, auch bei der Umgestaltung und Neubenennung territorialer Einheiten das Ziel hatte, diese stärker in die imperiale Staatsstruktur einzubinden. Die historisch gewachsene kasachische Identitätsbeschreibung als „Horde“ (žus) verschwand ersatzlos. Stattdessen wurde die Kleine Horde in vier Teile geteilt und mit Namen versehen, die keinerlei historische Traditionen mehr berücksichtigten. Sie waren nunmehr ausschließlich an geographischen Konstanten wie den Himmelsrichtungen (westlich, östlich) sowie den Positionen „mittlere“ und „innere“ ausgerichtet.892

207 – 209. 889 Proekt reskripta Aleksandra I orenburgskomu voennomu gubernatoru P. K. Ėssenu, 1821 g. Hier zitiert nach S uchich , Kak „čužie“ stanovjatsja „svoimi“, 21. – Speranskij äußerte sich freilich in einem Brief an seine Tochter vom 10. 7. 1819 persönlich entsetzt über das unzivilisierte Verhalten der Kasachen. B yčkov (Hg.), V Pamjat’ grafa M. M. Speranskogo, 198; R aeff , Siberia and the Reforms, 112. 890 R aeff , Siberia and the Reforms, 121 f. 891 Auch S. G. Agadžanov hat ­dieses Prinzip für die russländische Verwaltung der Grenzgebiete heraus­gearbeitet. A gadžanov /T repavlov (Hg.), Nacional’nye okrainy Rossijskoj Imperii, 388. 892 Utverždennoe mnenie Komiteta aziatskich del otnositel’no preobrazovanija upravlenija Orenburgskim kraem. In: MipsK Nr. 101 (31. 1. 1824), 205 – 210, hier 206.

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Auch die kasachische Selbstbezeichnung „Kasache“ (Qazaq, russisch Kazak), die sich bislang in der russischen Bezeichnung zumindest in einem Teil des Wortes wieder­fand (kirgiz-­kajsak), wurde getilgt. Künftig nutzte die Zarenadministration die Bezeichnung, die mit den Statuten von 1822 und 1824 eingeführt wurde: „Sibirische Kirgisen“ für die Kasachen der ehemaligen Mittleren Horde und „Orenburger Kirgisen“ für jene der ehemaligen Kleinen Horde.893 Trugen die im Statut zum Ausdruck gebrachten Versuche, die sibirische Bevölkerung und die Kasachen nominell, administrativ und in Bezug auf ihre Lebensweise auf lange Sicht mit den übrigen Teilen des Reiches zu verschmelzen, klar akkulturierende Züge, so hatte die Einführung der neuen rechtlichen Kategorie der inorodcy („Fremdstämmige“) genau die entgegengesetzte Stoßrichtung. Unter inorodec wurden nicht-­russische und nicht-­christliche Menschen zusammengefasst, die von ihrer Herkunft und ihrer sozialen Stellung her nichts gemeinsam hatten.894 Ihr Spektrum reichte von Händlern und Kaufleuten über sesshafte Bauern bis hin zu nomadisierenden Viehhirten und Jägern. Es war allein die Wahrnehmung durch die russländische Elite, die sie zusammenführte.895 Diese seit mehr als einem Jahrhundert gewachsene Wahrnehmung bestand darin, dass all die ethnischen Gruppen im Osten und Südosten des Reiches „im Grad ihrer Zivilisiertheit und in ihrer aktuellen Lebensweise“ der russisch geprägten Mehrheitsgesellschaft unterlegen ­seien (po različnomu stepeni Graždanskago ich obrazovanija i po nastojaščemu obrazu žizni).896 893 Die turksprachigen nomadischen kirgisischen ethnischen Gruppen des heutigen Kyrgyzstan wurden hingegen Kara-­Kirgiz („schwarze Kirgisen“) oder dikokamennyj Kirgiz („wilde Bergkirgisen“) genannt. – Ausführlich zur Umsetzung der neuen Strukturen I zbasarova , „Utverždennoe mnenie Komiteta aziatskich del otnositel’no preobrazovanija upravlenija orenburgskim kraem“ 1824 god. 894 Im Statut von 1822 heißt es: „Alle in Sibirien lebenden fremdstämmigen Stämme (inorodnye plemena), die bislang jasak-­Zahlende genannt wurden, werden je nach ihrem Grad an staatsbürgerlicher Bildung und derzeitigen Lebensweise in drei Hauptkategorien unterteilt.“ Diese drei Kategorien waren „Sesshafte“, „Nomaden“ sowie „Jäger, Sammler, Fischer“ (brodjačie ili lovcy). Zum inorodcy-­Begriff S locum , Who, and When, Were the Inorodtsy?; A bašin /B obrovnikov , Čto vyšlo iz proektov sozdanija v Rossii „inorodcev“? 895 Knapp anderthalb Jahrzehnte ­später wurde diese Form der Wahrnehmung im Zuge zarischer Gesetzgebung auch auf Juden ausgeweitet, die ab 1835 ebenfalls zur Kategorie der inorodcy gezählt wurden. G reenberg , The Jews in Russia; K lier , The Concept of „Jewish Emancipation“ in a Russian context. 896 PSZRI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 394 – 433, hier: 394, §1. – Vorläufer der inorodcy-­ Bezeichnung war im 18. Jh. vor allem der Terminus der inovercy (‚Fremdgläubige‘). Als ­solche Bezeichnete konnten ungeachtet ihrer Annahme des Christentums den Status als inovercy in aller Regel nicht loswerden, sondern wurden dann in Form eines Oxymoron „getaufte Fremdgläubige“ genannt, konnten also der Zuschreibung einer Differenz nicht entkommen. In d­ iesem Sinne besaß die staatliche Zuschreibung für nicht-­christliche Untertanen bereits im 18. Jh. diskriminierenden Charakter. In Analogie zu Homi Bhabhas Analyse des kolonialen Diskurses könnte man auch

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Die Kluft z­ wischen der Intention, akkulturierend bis teilweise assimilierend wirken zu wollen und sich um das Aufgehen der nicht-­russischen ethnischen Gruppen des Südens und Ostens in der metropolitanen Gesellschaft zu bemühen auf der einen Seite und der faktischen Aufrechterhaltung der Unterschiede ­zwischen indigener und nicht-­indigener Bevölkerung auf der anderen Seite, war kein russländischer Sonderfall. Ähnlich verhielt sich zum Beispiel auch Portugal im ausgehenden 18. Jahrhundert gegenüber den Indios.897 Die Historiker Jane Burbank und Frederick Cooper sprechen davon, dass „sämtliche Imperien bis zu einem gewissen Grad sowohl auf Eingliederung als auch auf Differenzierung angewiesen waren“.898 Vor allem aber war die russländische Herrschaft ein knappes Jahrhundert nach Aufnahme der Kleinen und Mittleren Horde, nach allmählicher politischer Durchdringung und Zersetzung kasachischer Strukturen, mit dem Speranskij-­und-­Ėssen-­ Statut an ihrem wichtigsten Ziel angelangt: Man fühlte sich militärisch wie politisch stark genug, um die politisch bedeutsamste Institution der Kasachen, die Chan-­ Herrschaft, endgültig abzuschaffen. An seine Stelle trat für die neu gebildeten westlichen, östlichen und mittleren Teile (časti) der ehemaligen Kleinen Horde die Funktion von je einem „Ältesten“-Sultan (staršij sultan), der jeweils nur aus dem Kreise der Sultan-­Partei stammen und von der Zarenregierung ernannt werden sollte.899 Um den Schock über die politische Entmachtung unter den Kasachen abzumildern, dachten sich Speranskij und Ėssen Praktiken aus, die den Einschnitt vorerst zeremoniell zu kaschieren suchten. So sollten die ‚Ältesten Sultane‘ bei ihrer Einführung in ihre Funktion als ‚Bezirksamtsvorsitzende‘ an alljährlichen Feiertagen eine Zeremonie erleben, die an jene vorheriger Chan-­Bestätigungen erinnerte: In einem eigens für die neue Behörde errichteten Haus mit russländischem Wappen an der Hausfassade wurden feierlich Portraits des Zaren hineingetragen, der ‚Älteste Sultan‘ mit einer Urkunde aus verziertem Pergament, einem Banner mit dem kaiserlichen Wappen sowie einem goldenen Säbel vom Orenburger Militärgouverneur ‚bestätigt‘, anschließend die Kasachen auf Kosten des Gouverneurs verköstigt und schließlich traditionelle kasachische Spiele abgehalten.900 Zur Suggestion irrealer Verhältnisse hätten nur noch der Pelzmantel und die Pelzmütze

897 898 899 900

sagen, die russländischen inovercy des 18. und inorodcy des frühen 19. Jh. wurden gleichsam „white but not quite“. B habha , Of mimicry and Man. C elistino de A lmeida , Portuguese Indigenous Policy. B urbank /C ooper , Imperien der Weltgeschichte, 30. PSZRI Bd. 38, Nr. 29127 (22. 7. 1822), 394 – 433, hier 419 §44 – 47, §51 – 52; R emnev /S uchich , Kazachskie deputacii, 131; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’, 247. I zbasarova , „Utverždennoe mnenie Komiteta …“, 111; S uchich , Kak „čužie“ stanovjatsja „svoimi“, 12; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’, 247.

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gefehlt, die zuvor dem kasachischen Chan bei dessen Einsetzung als Symbole der übertragenen Macht umgelegt bzw. aufgesetzt worden waren. In Wirklichkeit aber zielte die Zarenadministration darauf, komplett neue Verhältnisse zu schaffen: Aus den ‚Ältesten Sultanen‘ sollten Befehlsempfänger, aus Herrschern Ausführende und gewöhnliche imperiale Beamte werden. Anordnungen erhielten die Sultane fortan in Form von Rundschreiben, Proklamationen und Vorschriften. Ihre Vollmachten für die ihnen unterstellten Territorien waren zeitlich befristet, und die Bezahlung erfolgte im Rang eines Majors.901 Der letzte noch amtierende Chan der Kleinen Horde, Širgaz Ajčuvak, der längst jeglicher Autorität unter den Kasachen entbehrte, wurde gegen seinen Willen 1824 zum „Ehrenvorsitzenden der Orenburger Grenzverwaltung“ ernannt, hatte sich künftig „zum Nutzen der Kirgisen“ in Orenburg aufzuhalten, wurde von größeren Verantwortlichkeiten ‚befreit‘ und erhielt ein monatliches Gehalt in Höhe von 150 Rubel.902 Der von russländischer Seite nicht anerkannte, von unzufriedenen Kasachen aus Protest gewählte ‚Chan‘ Aryngazy wurde 1821 nach St. Petersburg gebracht, dort festgehalten und anschließend nach Kaluga verbannt, wo er 1833 verstarb.903 In der Mittleren Horde, wo es der Zarenregierung schon 1819 gelungen war, eine erneute Chan-­Wahl zu verhindern, war die Chan-­Herrschaft mit dem Speranskij-­ Statut von 1822 offiziell abgeschafft. Der Nachfolger von Bukej-­Chan auf der ‚inneren‘ Seite, Žangir Bukeev, durfte in Würdigung seiner engen Anbindung an die Zarenadministration seinen Chan-­Titel behalten, musste allerdings künftig einen Rat akzeptieren, wie ihn auch die Sultane an die Seite gestellt bekamen.904 Erst Žangir-­Chans Tod von 1845 diente als Zäsur, um die Chan-­Herrschaft auch bei der Inneren Horde abzuschaffen.905 Die Große Horde der Kasachen, die erst 901 S uchich , Kak „čužie“ stanovjatsja „svoimi“, 11. 902 Utverždennoe mnenie Komiteta aziatskich del, in: MipsK Bd. 1, Nr. 101 (31. 1. 1824), 205 – 210, hier 208. 903 K an , Istorija Kazachstana, 94. 904 Žangir Bukeev war im Kindesalter als Geisel gestellt und im Hause der Astrachaner Generalgouverneure A. Knoring und V. Andrievskij erzogen worden, studierte anschließend in der Militärschule in Astrachan und im Pagenkorps von St. Petersburg. Die russische Rechts-, Alltagsund Sozialstruktur galt ihm als Ideal und Muster zur Nachahmung für die Kasachen. Otnošenie orenburgskogo voennogo gubernatora P. K. Ėssena direktoru Aziatskogo departamenta MID K. K. Rodofinikinu s predloženiem o naznačenii sultana Džangira pravitelem Bukeevskoj ordy i vozvedenii ego v chansko dostoinstvo. In: Istorija Bukeevskogo chanstva Nr.  164 (23. 2. 1823), 230 – 232, hier 231; Obzor Orenburgskoj pograničnoj komissii o položenii v Bukeevskom chanstve. In: KRO Bd. 2, Nr. 238 (17. 8. 1850), 370 – 382, hier 373; B ykov , Istoki modernizacii Kazachstana, 99; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’, 300 – 301. 905 Predpisanie orenburgskogo voennogo gubernatora V. A. Obručeva Orenburgskoj pograničnoj komissii o Vremennom sovete po upravleniju Vnutrennoj ordoj. In: Istorija Bukeevskogo chanstva Nr. 635 (23. 1. 1846), 736; Svedenija, sekretno polučennye o Vnutrennej Bukeevskoj orde. In:

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1824 zu Untertanen des Reiches wurde, behielt noch am längsten ihre Unabhängigkeit. Sie wurde bis 1848 schrittweise aufgelöst.906 Die letzte Etappe der Eingliederung in den Zentralstaat bestand darin, kasachische Würdenträger auch auf der lokalen Ebene durch russländische Beamte zu ersetzen. 1838 stellten Kasachen der ehemaligen Mittleren Horde nur noch einen Berater für den ‚Ehrenvorsitzenden der Orenburger Grenzverwaltung‘, der künftig an der Spitze des Gebiets der ‚Sibirischen Kirgisen‘ stand. 1855 wurde gesetzlich festgelegt, das Amt des ‚Ältesten Sultans‘ in der Kleinen Horde grundsätzlich durch einen russländischen Beamten zu besetzen. Vier Jahre s­ päter wurde die Verwaltung der kasachischen Steppe vom Außenministerium an das Innenministerium übergeben.907 Mit der politischen und administrativen schritt parallel auch die territoriale Durchdringung der kasachischen Steppe fort. Schon das „Statut für die sibirischen Kirgisen“ von 1822 hielt fest, dass die sibirische Linie in ihrer gegebenen Form nicht „für alle Zeiten“ gedacht sei, sondern dass sie „im Zuge der Verbreitung von Ordnung in den von den Kirgisen besiedelten Gebieten“ weiter „nach vorn“ verlegt werde, um irgendwann in der Zukunft dann als „beständige Bekräftigung an der tatsächlichen Staatsgrenze“ zu enden.908 Wo diese „tatsächliche Staatsgrenze“ eines Tages liegen sollte, wurde weise offengehalten. Stattdessen sorgten neue Festungen und sie verbindende neue Festungslinien dafür, die russländische Kolonisation weiter gen Süden zu treiben.909 Das Statut von 1822 für die Mittlere Horde enthielt weder Angaben zu scharf abgegrenzten Gebieten, die allein den Kasachen zustehen sollten, noch genaue Regeln, wie etwaige Grenzen ­später festzulegen waren.910 Die Grenzen ­zwischen den einzelnen Teilen der Kleinen Horde wurden zwar vom Komitee für asiatische Angelegenheiten

906 907 908 909

910

Istorija Bukeevskogo chanstva, Nr. 644 (9. 6. 1846), 751 – 752; B ykov , Istoki modernizacii ­Kazachstana, 100; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’, 310 – 312. Gramota, dannaja sultanam Bol’šoj ordy, o prinjatii ich v poddanstvo Rossii. In: MipsK Nr. 30 (13. 5. 1824), 53 – 54. S uchich , Kak „čužie“ stanovjatsja „svoimi“, 13; B ekmachanova , Prisoedinenie Central’noj Azii, Kap. 4; V asil ’ev , Rossija i Kazachskaja step’, 264 – 277. PSZRI Bd. 38, Nr. 29.127 (22. 7. 1822), 394 – 433, hier 433 (otd. IV : Dvižimost’ linii); MIPSK Nr. 54 (22. 6. 1822), 93 – 109, 109. Kollegienrat Demidov begründete seine Zustimmung, die Sibirische und Orenburger Grenzlinie weiter in die Tiefe der kasachischen Steppe zu verlegen, wie es 1825 von den Generälen Glazenap, Štrandman, Uvarov und Baron Šprengporten angeregt worden war, in seinem Vermerk an Zar Alexander I. mit der Geographie: „Mir schien immer, dass die Natur selbst dem Russländischen Staat vorherbestimmte, seine Militärgrenzen in das Innere der kasachischen Steppen zu verlegen“. Zapiska kolležskogo sovetnika Demidova na imja imp. Aleksandra I o perenose Sibirskoj i Orenburgskoj pograničnych linij v glub’ Kazachstana. In: KRO Bd. 2, Nr. 127 (nicht s­ päter als Aug. 1825), 217 – 221, hier 217. R aeff , Siberia and the Reforms of 1822, 126.

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genau markiert. Doch sollte sich der ‚Östliche Teil‘ der Kleinen Horde einem Territorium zugeschrieben sehen, das traditionell Sippen der Mittleren Horde für sich beanspruchten.911 Beides zusammen, die Abschaffung der Chan-­Herrschaft, die beständig fortgesetzten Bauten neuer Festungslinien und die damit verbundene existentielle Bedrohung durch die immer stärker beschnittenen Weidegründe, führte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu heftigem Widerstand der Kasachen. Im Falle der von Kenisary Kasymov angeführten Massenerhebung von 1837 bis 1847 gelang es, die Aufstände nahezu flächendeckend und über die Grenzen der ehemaligen Kleinen, Mittleren und Großen Horde hinweg zu entfachen. Die Revolten wurden von der Zarenregierung jedoch brutal niedergeschlagen und beschleunigten trotz großer Verluste auf der Zarenseite im Ergebnis eher die Ausbreitung russländischer Herrschaft, als dass sie sie aufhalten konnten.912

Zusammenfassung und Ausblick Zwar macht es die Vielfalt der ethnischen Gruppen des Zarenreiches und seiner Herrschaftsstrukturen in den imperialen Peripherien unmöglich, für das 18. Jahrhundert von einem einheitlichen Konzept für die Transformation indigener Herrschaftsstrukturen sämtlicher nicht-­christlicher Untertanen im Osten und Süden zu sprechen. Gleichwohl wandte die Zarenadministration gegenüber den Kalmücken und den Kasachen der Kleinen Horde trotz unterschiedlicher Ausgangssituationen ähnliche Konzepte und Praktiken an, mit denen sie die autochthonen Herrschaftsstrukturen erst langsam und schleichend aushöhlte, um sie anschließend durch russländische Institutionen zu ersetzen. In beiden Fällen handelte es sich – wie schon bei der Hetmanats-­Ukraine – um politische Gebilde, die zunächst nur der mittelbaren russländischen Herrschaft unterstanden. Die Anführer der Kalmücken wie der Kasachen der Kleinen Horde hatten sich infolge steppenpolitischer Zwänge zum Beitritt in die russländische

911 I zbasarova , Imperskaja vlast’ i debaty po opredeleniju granic zemel’ kazachov. 912 Kenisary Kasymov (1802 – 1847) war ein Enkel Ablajs, des letzten bedeutenden Chans der Mittleren Horde. B ekmachanov , Kazachstan v 20 – 40 gody XIX veka, 170 – 173; S abol , Kazak resistance to Russian colonization. – Zur kasachischen Anti-­Kenisary-­Fraktion M alikov , Tsars, Cossacks, and Nomads, 151 – 181. – Daneben gab es Aufstände unter den Kasachen der ‚Inneren Horde ‘ unter Führung von Isataj Tajmanov und Machambet Utemisov 1836/1837. Die Kasachen am Aralsee rebellierten von 1855 bis 1858, die Kasachen der Mittleren Horde 1856/1857 sowie jene der Großen Horde 1858. O lcott , The Kazakhs, 62 – 69; K an , Istorija Kazachstana, 101 – 110; B asin /S ulejmenov , Kazachstan v sostave, 123 – 126; K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, 158.

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Untertanenschaft entschieden und damit ihre Herrschaftsverbände zu Protektoraten des Russländischen Reiches gemacht. Allerdings unterschied sich nicht nur ihr Verständnis von der Verbindlichkeit d­ ieses Schrittes von jenem der russländischen Seite. Vor allem existierten auf beiden Seiten verschiedene Vorstellungen über die Zukunft der Protektorate. Grundlegend für den zumindest institutionellen Erfolg russländischer Entmachtungspolitik war der strategische Ansatz, einerseits die Steppenvölker in dem Glauben zu wiegen, ihnen politische Autonomie zu gewähren und diesen Eindruck zeremoniell zu verfestigen, andererseits verdeckt eben diese Autonomie zu zersetzen und zu zerstören. In beiderlei Hinsicht ging die Zarenadministration in je drei Etappen vor, auch wenn diese keineswegs geradlinig verliefen. In der ersten Etappe wurde mittels einer massiv ausgebauten Gabenkultur der jeweilige indigene Anführer in seiner Position innerhalb der Machtelite seiner ethnischen Gruppe deutlich gestärkt: Dies galt für den kalmückischen Ajuki-­Chan in der petrinischen Ära bis zu dessen Tod 1724 und für den kasachischen Abulchair-­ Chan in der Ära der Zarinnen Anna und Elisabeth bis zu seinem Tod 1749. Zur Aufrechterhaltung des emporgehobenen Status wurde das indigene Oberhaupt zugleich in eine zunehmende Abhängigkeit von der russländischen Seite gebracht. Zum Zeitpunkt des Todes der Anführer sah die Zarenadministration ihre Machtposition genügend gefestigt, um den Anspruch durchzusetzen, dass ein neuer Chan erst dann zu einem solchen werden könne, wenn er zuvor die Zustimmung und mithin die Einsetzung durch der Zarin Gnaden erhalten habe. Dieser Schachzug gelang sowohl bei den Kalmücken (1724) als auch bei den Kasachen der Kleinen Horde (1749). In der zweiten Etappe, die mit den jeweiligen Chan-­Einsetzungen begann und bei den Kalmücken von 1724 bis 1762, bei den Kasachen der Kleinen Horde von 1749 bis 1785 andauerte, ging es darum, den maßgeblichen russländischen Einfluss einerseits auszubauen, andererseits die Position des Chans innerhalb seiner ethnischen Gruppe so zu schwächen, dass damit auch das Amt selbst zunehmend überflüssig wurde. Die dritte Etappe sah die Transformation indigener politischer Institutionen bis hin zur eigenmächtigen Abschaffung der Chan-­Herrschaft vor (bei den Kalmücken 1762 bis 1771, bei den Kasachen der Kleinen Horde 1790 bis 1822/1824). Während die Politik der meisten russländischen Akteure darauf setzte, ihre Anliegen im Sinne von Zuckerbrot und Peitsche stets auch mit der Androhung oder Ausübung von Gewalt in Form willkürlicher militärischer Nachstellungen zu begleiten, leitete Katharina II. 1784 eine vorübergehende Wende ein, indem sie Osip Andreevič Igel’strom zum neuen Orenburger Gouverneur berief (1785 – 1790). Wie seine Vorgänger hatte auch Igel’strom aufklärerische Gedanken rezipiert und unterschied z­ wischen zivilisierten und unzivilisierten ethnischen Gruppen. Im

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Unterschied zu seinen Vorgängern aber (mit der Ausnahme des nur kurz amtierenden Gouverneurs Dmitrij Volkov) vertrat Igel’strom die Position, eine Politik gegenüber den Kasachen könne diese nur dann erfolgreich zur (russländisch geprägten) Zivilisation führen, wenn sie statt auf Gewaltanwendung auf Freiwilligkeit, Partizipation und Überzeugungskraft setze. Seine Bemühungen scheiterten an dem inhärenten Widerspruch, einerseits in paternalistischer Manier eine Transformation indigener Herrschaftsstrukturen nach russländischem Muster aufzuoktroyieren, andererseits aber die Mitsprache und Eigenverantwortung der Betroffenen einzufordern.913 Eine ähnliche Widersprüchlichkeit lag den Statuten von 1822 und 1824 zu Grunde, die der Generalgouverneur Sibiriens, Graf Michail Speranskij, und der Orenburger Militärgouverneur Pëtr Ėssen ausarbeiteten. In der geistigen Nachfolge Igel’stroms ging es auch ihnen darum, die Kasachen nicht länger bloß als Objekte zu sehen, sondern ihnen mit der erstmaligen Ausformulierung individueller Rechte und Pflichten einen Subjektstatus zuzusichern. Gleichzeitig aber setzten sie sich mit der eigenmächtigen Abschaffung der Chan-­Herrschaft in der Mittleren und in der Kleinen Horde über die kasachischen Interessen hinweg und bereiteten der politischen Schlüsselinstitution der Kasachen nach einer fast 350-jährigen Geschichte in kolonialer Manier ein Ende.914 Darüber hinaus konterkarierte die Einführung der rechtlichen Kategorie der ‚Fremdstämmigen‘ (inorodcy) das Anliegen, die Bevölkerung des Imperiums zu vereinheitlichen. Die neue Kategorie, die de facto die Kriterien nicht-­russischer Herkunft und nicht-­christlicher Religion von Menschen in ganz unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Lebensweisen ins Zentrum rückte, stand einer Entwicklung entgegen, an deren Ende eine einheitlich gestaltete und nur nach sozialen Ständen unterteilte Untertanenschaft stehen sollte. Sie perpetuierte rechtlich gleichsam die Differenz, die mit Hilfe der Akkulturierungspolitik eigentlich schwinden sollte. Trotz ­dieses Paradoxons, das für Zivilisierungsmissionen im Rahmen europäischer kolonialer Politik typisch ist, kann die neue Kategorie als logische Folge der Politik des vorangegangenen Jahrhunderts gesehen werden. Der Vergleich der russländischen Politik ­zwischen den Kalmücken einerseits und den Kasachen andererseits brachte allerdings auch einen Unterschied zu Tage: Während die ‚Zivilisierung‘ der Kalmücken (jenseits der Bemühungen in Stavropol’) bei der politischen Entmachtung und Eingliederung eine untergeordnete Rolle spielte, kam ihr in der Politik gegenüber den Kasachen seit Mitte

913 Dieser Widerspruch war dem Herrschaftsansatz des ‚aufgeklärten Absolutismus‘ insgesamt inhärent. Differenziert zur Dialektik des aufgeklärten Absolutismus K rieger , An Essay on the Theory of Enlightened Despotism. 914 Tursun I. Sultanov sieht 1470 als den Beginn kasachischer Chan-­Herrschaft an und bezeichnet die Zäsur sogar als den Anfang „kasachischer Staatlichkeit“. S ultanov , Podnjatye na beloj košme.

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des 18. Jahrhunderts eine große Bedeutung zu. Dieser Unterschied lässt sich in erster Linie mit dem unterschiedlichen russländischen Interesse an den ethnischen Gruppen erklären. Aber auch bei den Kasachen blieb ‚Zivilisierung‘ für die Zarenadministration nur eines von mehreren Zielen. Sie sollte als Instrument dienen, um den russländischen Herrschaftsanspruch besser durchzusetzen. Anders als im 19. Jahrhundert wurde der Wunsch nach Zivilisierung noch nicht zur alleinigen Legitimation politischer Durchdringung und Entmachtung stilisiert. Stellt man die Frage nach der Bilanz russländischer Politik in dem Anliegen, indigene politische Strukturen zu transformieren und durch russländische Institutionen zu ersetzen, so sind zwei Blickwinkel möglich. Einerseits handelte es sich aus Sicht der Zarenadministration um einen großen Erfolg. Sowohl die Kalmücken als auch die Kasachen der Kleinen und Mittleren Horde konnten sich nach langer russländischer Einwirkung der Auflösung ihrer politischen Institutionen nicht mehr widersetzen. Die indirekte Herrschaft wurde schleichend zersetzt und in eine direkte Herrschaft umgewandelt. Zudem bewies die Zarenadministration vor allem im Falle der Kasachen der Kleinen Horde einen langen Atem. Zwar wurde die Transformation derselben schon bald nach dem ‚Beitritt‘ ihrer Anführer in die Untertanenschaft angedacht. Doch lag z­ wischen der Chan-­Einsetzung ‚von der Zarin Gnaden‘ (1749) und der Abschaffung des Chan-­Amtes (1824) ein dreiviertel Jahrhundert. Auch demonstrierten die russländischen imperialen Akteure große Stärke, auf Krisen und indigene Widerstände geschickt und flexibel mit Zugeständnissen zu reagieren, so gegenüber den Kalmücken im Zuge der Niederschlagung baschkirischer Aufstände in den 1730er Jahren und gegenüber den Kasachen der Kleinen Horde im Zusammenhang mit dem Pugačev-­Aufstand in den 1770er Jahren. Andererseits enthält das Gesamtbild auch deutlich andere Schattierungen. Der Exodus der Kalmücken infolge der russländischen Politik war nicht nur für die ethnische Gruppe selbst eine traumatische Erfahrung. Es war auch für das Zarenreich eine große Blamage und ein immenser Verlust an Untertanen. Bei den Kasachen der Kleinen Horde führten der Raub ihrer Weideländereien zum Bau von Festungslinien und die fortgesetzte russländische Kolonisation zu drastischer Verarmung und Verzweiflung, die sich in massiven Überfällen auf russländische Festungen und Siedlungen sowie in einer Beteiligung am Aufstand von Pugačev (1773 – 1775) entluden. Zusammen mit dem Verlust identitätsstiftender politischer Institutionen war damit der Nährboden für die großen, kaum abreißenden Aufstände der Nomaden im 19. Jahrhundert gelegt. Die russländische Transformation der politischen Strukturen von Kalmücken und Kasachen der Kleinen Horde lässt sich nicht ausschließlich mit der Kategorie des ‚absolutistischen‘ Staatsausbaus beschreiben. Die ‚Umpolung‘ ganzer Gesellschaften nach russländischen militärischen, handels- und siedlungspolitischen

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Interessen verbunden mit einer – vor allem gegenüber den Kasachen artikulierten – Überzeugung von der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit geriete aus dem Blick. Dennoch sind Staatsausbau und koloniale Politik nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheiden. Vielmehr darf eine Politik, die darauf ausgerichtet war, indirekte Herrschaft zu beseitigen, reichsweit einheitliche Institutionen zu schaffen und russländische Gesetze einzuführen, mit Fug und Recht als Ausdruck von Staatsausbau gelten. Zugleich aber kann diese Politik auch als kolonial eingestuft werden, wenn sie sich ausschließlich an Interessen der russländischen und nicht auch an jenen der indigenen, zu inkorporierenden Bevölkerung orientierte sowie diese in Entscheidungsprozesse miteinbezog. Das Beispiel des Orenburger Gouverneurs Osip Andreevič Igel’strom zeigt, dass eine imperiale Politik der für die Frühe Neuzeit charakteristischen Vereinheitlichung im Sinne des Staatsausbaus, die auf Teilhabe der Eliten und Überzeugungskraft anstatt auf Gewalt und Fremdsteuerung setzte, ihre kolonialen Züge verlor. Wie schon bei der Einführung zivilisierend gedachter, interventionistischer Politikformen seit Peter I. war der Motor auch seines paternalistischen Politikansatzes die Rezeption aufklärerischer Gedanken. Narrative der Aufklärung wiesen damit im Rahmen ihrer politischen Umsetzung weder eindeutig in Richtung einer kolonialen noch in Richtung einer nicht kolonialen Politik. Vielmehr lieferten sie Argumente für beide Richtungen. Entscheidend war neben dem zeitgenössischen Diskurs, w ­ elche Persönlichkeit sich mit welcher Interessenlage die aufklärerischen Gedanken zu eigen machte.915

4.6  Politische Kultur: Loyalität durch Gnade und Gabe Alle bislang untersuchten Konzepte und Praktiken der ‚Zivilisierung‘ und Eingliederung sind nicht zu denken ohne die Herrschaftskultur, die im 18. Jahrhundert das Russländische Reich prägte. Max Weber verstand unter ‚Herrschaft‘ die Chance, für „Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“.916 Die Kritik an dieser Definition, die eine Trennung in Herrschende und Befehlsempfänger impliziert, hat schon seit langem dazu geführt, in Beherrschten mehr als bloß passive Adressaten zu sehen. Herrschaft wird längst auch als 915 Bei der Frage nach einem Zusammenhang z­ wischen der Rezeption von Aufklärung und kolonialer Politik ist es hilfreich, ­zwischen früh- und spätaufklärerischem Denken zu unterscheiden. Gerade in der Spätaufklärung dominierten infolge westeuropäischer antikolonialistischer Diskurse und des Bemühens, dennoch an den Idealen der Aufklärungsbewegung festzuhalten, paternalistische Denkweisen. Wie auch Igel’strom sahen sich deren Anhänger primär humanitären Werten verpflichtet. L üsebrink , Kolonialismus, bes. 294. 916 W eber , Wirtschaft und Gesellschaft, 28, 122.

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ein Aushandlungsprozess betrachtet, im Zuge dessen Anordnungen durch die Betroffenen interpretiert und an die jeweiligen Verhältnisse angepasst werden.917 Damit kommt die Ebene der politischen Kultur, genauer der Herrschaftskultur ins Spiel. Mit ihr wird kein einzelner Teilbereich (imperialer) Herrschaft thematisiert wie in den vorangegangenen Kapiteln, sondern die Basis politischen Handelns überhaupt.918 In d­ iesem Sinne umrahmt d­ ieses Unterkapitel alle anderen. Mit ihm steht das grundsätzliche Bestreben der herrschenden russländischen imperialen Elite im Fokus, politische Loyalität zu erzeugen. Es geht mithin um die Analyse der Bemühungen, Herrschaft ohne direkte Anwendung von Zwang auszuüben.919 Die dafür notwendigen Aushandlungsprozesse erfordern ein Gegenüber. Im Sinne der erweiterten Herrschaftsdefinition werden daher auch hier – wie schon im vorangegangenen Unterkapitel – Vorstellungen und Verhaltensweisen der indigenen Seite einfließen, wenngleich grundsätzlich die asymmetrische Betrachtungsweise beibehalten wird, mithin der Schwerpunkt auf der Analyse von Interpretations- und Handlungsweisen der russländischen imperialen Elite liegt. Erneut stellt sich die Frage nach dem Umbruchscharakter des 18. Jahrhunderts: Welche Loyalisierungsversuche gab es gegenüber nicht-­russischen Untertanen in den früheren Jahrhunderten, die auch im 18. Jahrhundert fortgesetzt wurden? Inwiefern durchliefen diese Praktiken einen Wandel? Welche neuen Loyalisierungsformen wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts erdacht und angewendet? Und vor allem: In welchem Zusammenhang standen diese neuen oder gewandelten Loyalisierungskonzepte und -formen zur Politik der ‚Zivilisierung‘, die im Laufe des Jahrhunderts gegenüber nicht-­russischen Untertanen im Osten und Süden des Reiches immer konkretere Formen annahm?

Das Gnadenkonzept und seine Inszenierung im imperialen Kontext Im Kapitel zur Untertanenschaft wurde bereits die zentrale Rolle des Begriffs und der Vorstellung vom ‚Gnade‘ (milost’) gewährenden russischen Herrscher bei der Einverleibung neuer Untertanen herausgearbeitet. Dabei zeigten sich Kontinuitäten vom 15. bis ins 18. Jahrhundert. Wie Uwe Halbach jedoch dargelegt hat,

917 L üdtke , Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, 12 ff.; B rakensiek /W under (Hg.), Ergebene Diener ihrer Herren? 918 B eichelt , Herrschaftskultur zur kulturwissenschaftlichen Öffnung, 60. 919 Zum Konzept der Loyalität in der historischen Analyse, seiner historischen Semantik, seinen verschiedenen Bedeutungsebenen und der Vielfalt seiner Erscheinungsformen vgl. die zu Beginn von Kap. 4.5 angegebene Literatur.

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sind der Gnadenbegriff und seine hervorgehobene Bedeutung im gesellschaftlich-­ politischen Leben viel älteren Datums. Sowohl der Begriff milost’ wie das Wortfeld und mit ihm der dichotome Begriff der ‚Ungnade‘ (groza) oder des ‚Zorns‘ (gnev) lässt sich bis in die Zeit der Kiever Rus’ und damit bis ins 9. bis 12. Jahrhundert zurückverfolgen.920 Von Anfang an bildeten Gnade und Zorn, Milde und Strenge eine Einheit und ein Grundprinzip rus’ischen Herrscherverhaltens. Gnade, Milde, Erbarmen wurden in rus’ischen Quellen mit Blick auf die Fürsten durch Begriffe wie krotost’ (Milde), tichost’ (Stille, Sanftmut, Friedfertigkeit), ljubov (Liebe), žalovanie (Erbarmen), dobrodejanie (Güte, Wohltätigkeit) wiedergegeben. Eine herausragende Rolle nahmen innerhalb ­dieses Wortfeldes schon damals milost’ (Gnade) sowie die etymologisch verwandten Begriffe wie milovanie, milostynja, milostivij, milostivec, miloserdie ein. Kontinuität bis ins 18. Jahrhundert zeigt sich auch in den Gegenbegriffen: Sie waren in den altrus’ischen Quellen wie in den Dokumenten des 18. Jahrhunderts durch Begriffe wie strach (Schrecken), gnev (Zorn) und im 16. und 17. Jahrhundert vor allem opala (Ungnade) vertreten.921 Die Ursprungsbedeutung von milost’ lag in der Fürsorge des Herrn für seine Knechte und hatte als eine der Christuseigenschaften einen deutlich sakralen Bezug.922 Mit der Zeit wurde milost’ auf die Beziehung übertragen, die Fürsten zu ihren Untertanen hatten, die ihm verpflichtet waren. Mit dem Begriff des milostnik (Gnadenempfänger)923 charakterisierten die Novgoroder Chroniken das Verhältnis einer ganzen Schicht zur Fürstengnade.924 Damit wurde dasjenige Beziehungselement hervorgehoben, das dem Verhältnis des Adels zum russischen Herrscher und dem sich in der Folge allmählich herausbildenden Moskauer Staat zu Grunde lag: die bedingungslose Unterwerfung unter die Gnade des Herrschers. In der Herrschaftszeit von Zar Ivan IV. (1533 – 1584) spielte die Instrumentalisierung der herrschaftlichen ‚Ungnade‘ (opala) sogar eine Schlüsselrolle, um die autokratische Macht zu konsolidieren. Der als ‚Ivan der Schreckliche‘ bekannte Herrscher löste die bisherige Praxis, wann und wie er Gnade erteilte oder entzog, aus seinen bisherigen Beschränkungen. Er bestand darauf, dass allein er ohne 920 H albach , Milost’ und groza. 921 Zur den genannten altrussischen Begriffen H albach , Milost’ und groza, 71. Die Belege für die Quellenbegriffe des 18. Jahrhunderts folgen weiter unten. 922 Christus-­Assoziationen wurden auch beim Zarentitel sowie der Zarensalbung bewusst gesucht. Peters I. Selbsternennung zum „Imperator“ löste aufgrund der fehlenden christlichen Konnotation ­dieses Begriffs entsprechend Proteste in kirchlichen Kreisen aus. U spenskij , Car’ imperator, 37. 923 Halbach weist daraufhin, dass bei der Übersetzung von milostnik mit „Günstling“ nur eine Seite der von milost’ abhängigen Existenz erfasst wird. Die andere sei die Abhängigkeit, die Angewiesenheit auf die Gnade des Herrschers. H albach , Milost’ und groza, 90. 924 H albach , Milost’ und groza, 89 – 90.

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jegliche Beratung das Recht besitze, jemanden in ‚Ungnade‘ zu versetzen.925 Dabei blieb in aller Regel ungeklärt, wie Gnade und Ungnade aussehen konnten. Gerade die Vielfalt von Begünstigungs- und Strafmaßnahmen sowie die Ungeregeltheit ihrer Anwendung ließen die Gewährung von Gnade sowie ihren Entzug zu einem mächtigen Instrument politischer Kontrolle werden. Allerdings brauchte es eine Weile, bis d­ ieses Herrschaftsverständnis über die politische Elite des Landes hinaus den Großteil der Bevölkerung erreichte. Doch auch hier gilt die Herrschaftszeit Ivans IV. als prägend. In den 1550er Jahren führte er entscheidende rechtliche Veränderungen herbei, um breitere Bevölkerungskreise dem neuen Gnaden- und Strafverhalten des Zaren zu unterwerfen: Dazu gehörten sowohl die Bestimmung, dass Kriminalprozesse nur mehr nach Vortrag (doklad) vor dem Zaren zu entscheiden waren, als auch die Einrichtung einer Petitionskammer direkt beim Zaren. Während die Untertanen mit ihren Petitionen fortan an die Gnade des Herrschers appellieren konnten, diente die Einführung einer allgemeinen Denunziationspflicht in Fällen politischer ­Illoyalität und Widersetzlichkeit gegen die Regierung in Tat und Wort dazu, die Bevölkerung mit dem herrscherlichen ‚Zorn‘ (gnev) und der ‚Ungnade‘ (opala, groza) vertraut zu machen.926 Genau d­ ieses Herrschaftsverständnis aus dem innerrus’ischen bzw. späteren innerrussischen Kontext bildete auch die Basis für den Beitritt jeglicher neuer, nicht-­russischer Untertanen (so zumindest aus der russischen bzw. russländischen Perspektive): Statt vertraglich abgesicherter Rechte und Pflichten (Schutz-­und-­ Trutz-­Bündnis) legten die Moskauer und späteren St. Petersburger Regierungen gegen zuweilen massive Widerstände fest, dass der Zar stets nur in seiner herrschaftlichen Gnade neue Untertanen aufnahm, niemals jedoch sich selbst zu irgendetwas verpflichtete.927 Für das Prozedere von Beitritten „unter die hohe Hand des Zaren“ war es entsprechend wichtig, dass vor der Aufnahme immer ein Bittschreiben der Aufzunehmenden aufgesetzt wurde. Dies galt selbst dann, wenn die Aufnahme faktisch auf Druck der russländischen Seite zustande kam. Das Vorgehen spiegelte gleich 925 K leimola , The Muscovite Autocracy at Work, bes. 38 und 49 – 50. 926 L ehtovirta , Ivan IV as Emperor, Kap. 3; K leimola , The Duty to Denounce. – Ann Kleimola konnte zeigen, dass die Anweisungen Ivans IV. am Ende einer Entwicklung standen, die sich seit langem angebahnt hatte. Moskauer Großfürsten und Zaren wandelten eine für das 14. Jh. nachgewiesene Verpflichtung von Fürst zu Fürst, sich gegenseitig über das, was über den anderen gesagt wurde, zu informieren, allmählich zu ihren eigenen Gunsten ab. Daraus wurde im späten 16. Jh. eine Verpflichtung der Untertanen des Moskauer Zaren zur Denunziation ,regierungsfeindlicher Tätigkeit‘. Zur Denunziationspflicht von Majestätsverbrechen im 17. und 18. Jh. (Protestbewegungen, verbale Beleidigungen sowie Grenzflucht) siehe die eindrucksvolle Studie von R ­ ustemeyer , Dissens und Ehre. 927 Vgl. die Ausführungen zum Abkommen von Perejaslav in Kap. 2.

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drei Aspekte des Herrschaftsverständnisses wider: Erstens unterstrich die Bitte um Aufnahme als Geste der Demut und Unterwerfung die hohe Stellung des Herrschers. Zweitens wurde dem Zaren die Gelegenheit verschafft, sein Gnadenverhalten zu demonstrieren, indem er der Bitte stattgab. Drittens konnte aufbauend auf d­ iesem Gnadenakt anschließend eine Erwartungshaltung an die Aufgenommenen k­ onstruiert werden: Wer sich in der Folge einem Herrscherwillen widersetzte, zeigte sich undankbar gegenüber der ihm zuvor erwiesenen Gnade und setzte sich von Anfang an ins Unrecht. Mit d­ iesem Prinzip, den unterworfenen Anderen im russischen Narrativ der Herrscherseite gegenüber in eine Bringschuld zu versetzen, ist ein Mechanismus benannt, der die politische Kultur der imperialen Expansion in Sibirien im 17. und 18. Jahrhundert elementar charakterisiert.928 Zwar legten Dienstleute und Kosaken in Sibirien und Fernost nicht so viel Wert auf die formale Seite des Beitrittser­ suchens und der Eidableistung wie die Zarenadministration in den südlichen Steppen und im Nordkaukasus. Stattdessen leitete man dort aus der Tributabgabe (jasak), die durch die zuvor erfolgten gewaltsamen Festsetzungen von Geiseln abgesichert wurde, häufig konkludent bereits die Bereitschaft ab, dem Zaren untertänig zu sein. Wer sich jedoch einer Tributabgabe und damit der Untertanenschaft verweigerte, obwohl der Zar bereit war, seine herrschaftliche Gnade bis an den Pazifik und darüber hinaus auszuweiten, der setzte sich im Narrativ der russländischen imperialen Elite selbst ins Unrecht, reagierte „unfriedlich“ (nemirno), „verräterisch“ und „ungehorsam“: „Wenn aber die inozemcy auf keine Weise bereit sind, die ewige jasak-­Abgabe (večnoj jasašnoj platež) zu erbringen, wenn sie also ungehorsam und verzogen sich gebären“, so eine typische Anweisung der petrinischen Administration von 1716 an einen Adligen, wie er mit Jukagiren und Kor’jaken in Fernost umzugehen habe, dann sind diese Verräter (izmenniki) zu bekriegen, und zwar so, dass allen anderen die Lust zur Nachahmung vergeht. Die einen sind mit dem Tod zu bestrafen, die anderen in Todesangst zu versetzen, um sie dann kurz vor dem Tod zu begnadigen. […] Ihnen ist mitzuteilen, dass ihr Großer Herrscher sie aufgrund ihres Fremdländertums (za inozemčestvo) von der Todesstrafe begnadige, obwohl sie sie eigentlich verdient hätten, und dass er stattdessen angewiesen hat, sie zu befreien.929 928 Bruce Grant sieht in dem Prinzip, wonach der Akt des Nehmens (von Land, Personen oder Gütern) durch die Sprache des Gebens erfasst wird, ein generelles Charakteristikum der Logik souveräner Herrschaft. Grant, The Captive and the Gift, bes. das Kap. Noble Giving, Noble Taking, 43 – 62. 929 Nakaz dvorjaninu Stepanu Trifonovu ob učinenii rozyska o pričinach neprijaznennych dejstvij Jukagirej i Korjakov i o prizyvanii ich pod gosudarevu samoderžavnuju ruku. In: Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 2, Teilbd. 2, Nr. 26 (1. 8. 1715 – 9. 2. 1716), 76 – 84.

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Aus dieser Anweisung wird ersichtlich, wie Anlässe geschaffen wurden, um das Prinzip des Gnade und Ungnade erteilenden Herrschers zur Geltung zu bringen. Wer nicht im vorauseilenden Gehorsam bereit war, sich der herrschaftlichen Gnade zu unterwerfen, indem er Tribut zahlte, machte sich bereits zum Zeitpunkt der Nicht-­Unterwerfung (im Status des Nicht-­Untertanen!) zum Verräter. Dem daraufhin angekündigten Tod konnte er nur durch die Gnade des Herrschers entrinnen, in dessen tiefer Schuld er fortan stand. Die Begriffe „friedlich“ und „jasak zahlend“ bzw. ihre Umkehrung sind in nahezu allen zeitgenössischen staatlichen Dokumenten zu Sibirien und Fernost gleichgestellt.930 Dabei galten zuweilen nicht nur diejenigen Einheimischen, die sich der jasak-­Zahlung widersetzten, als „unfriedliche“ und „verräterische“ Leute, sondern auch diejenigen, die prospektiv noch zu unterwerfen waren. Bei ihnen reichte schon ihr bloßer Nicht-­Untertanenstatus als Z ­­ eichen des Unfriedens aus.931 Bereits das Gebiet, auf dem sie nicht jasak zahlend lebten, wurde als „unfriedlicher Landstrich“ (nemirnaja zemlica) bezeichnet.932 Während ostsibirische und fernöstliche Einheimische sich folglich erst durch die Tributzahlung als der Gnade des Herrschers würdig erwiesen, konstruierte die russländische Seite für die Kalmücken, die in Südsibirien entlang des Flusses Irtyš lebten, eine andere Bringschuld. Zar Peter, der sich mit Verweis auf die Eroberung der drei Chanate des mongolischen Großreiches (Kazan, Astrachan, Sibir’) im Besitz ganz Sibiriens sah, beauftragte 1716 Matvej Gagarin, den ersten Gouverneur des 1708 gegründeten Sibirischen Gouvernements, damit, in Südsibirien nach Bodenschätzen wie Silber, Gold und Kupfer zu suchen. Dafür sollten Städte in der Nähe von Siedlungen eines noch nicht untertänigen Stammes der Kalmücken errichtet werden. Die zarische Argumentation passte sich flexibel den 930 Nakaznaja pamjat’ jakutskogo voevody Dmitrija Francbekova Vasiliju Nefed’evu i pjatidesjatniku Kurbatu Ivanovu o posylke ich (…) i o privedenii v „jasačnoe cholopstvo“ nepokornych „bratckich ljudej“. In: Kolonial’naja politika Moskovskogo gosudarstva, Nr. 19 (12. 10. 1648), 51 – 53, hier 52 – 53; Otpiska jakutskim voevodam prikaščikov Anadyrskago ostroga o položenii ostroga i o dejstivjach protiv nemirnych inozemcev. In: Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 1, Teilbd. 2, Nr. 91 (7. 10. 1709), 403 – 407; Nakaz kapitanu Petru Tatarinovu o zavedyvanii Kamčadal’skimi i Anadyrskim ostrogami. In: Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 1, Teilbd. 2, Nr. 118 (17. 2. 1713), 508 – 510; Vvedenie iz Senata v Sinod ot 22 dekabrja 1730 g. In: Kolonial’naja politika carizma na Kamčatke i Čukotke, Nr. 50 (22. 12. 1730), 135 – 136, hier 135; Vsepoddannejšij raport irkutskogo general-­gubernatora I. V. Jakobija o dejatel’nosti kompanii Golikova i Šelichvoa na ostrovach Tichogo okeana. In: Russkie otkrytija v Tichom okeane, (30. 11. 1787), 250 – 265, hier 257. 931 Ukaz irkutskomu komendantu ob okazanii sodejstvija polkovniku El’činu (…). In: Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 2, Nr. 34 (12. 7. 1716), 109 – 110. 932 Otpiska irkutskogo voevody Leontija Kisljanskogo v Sibirskij prikaz o „rassprosnych rečach“ krasnojarskich kazakov (…) s vestjami ot poslancev mongol’skogo Geleja kutuchty, vyrazivšego želanie vstupit’ v russkoe poddanstvo. In: Sbornik dokumentov po istorii Burjatii, Vyp. 1, Ulan-­ Ude 1960, Nr. 125 (nicht vor 1. 8. 1689), 359 – 361, hier 360.

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staatlichen Bedürfnissen an: Die ganze Region gehöre zum „sibirischen Zarenreich“ (Sibirskoe carstvo) und mithin dem russischen Herrscher. Infolgedessen befinde sich das nicht dem Zaren untertänige „Volk der Kalmücken“ als Gast auf fremdem Land.933 Der Zar aber habe Erbarmen (miloserduja o vas) mit den Kalmücken und erlaube ihnen, in seiner Gnade dort zu verbleiben (u nas v milosti prebyvali), wo sie jetzt s­ eien, auch wenn das Land ihnen nicht gehöre. Die Bringschuld der Kalmücken gegenüber dieser herrschaftlichen Gnade sei es, dass sie friedlich blieben und dem Bau von Städten wie der Suche nach Bodenschätzen keine Hindernisse in den Weg legten. Dann werde der Zar sie auch nicht aus diesen Gegenden vertreiben, mehr noch, man werde ihnen keinerlei Leid zufügen und sie vor Feinden ­schützen und bewahren.934 Auch in d­ iesem Falle konstruierte das imperiale Narrativ eine Bringschuld der Indigenen, bevor sie überhaupt zu Untertanen des Reiches gemacht worden waren. Hier sahen sich die Kalmücken mit einem Mal in der Bringschuld, sich dankbar dafür zu erweisen, aus herrschaftlicher Gnade als Gäste geduldet zu werden auf einem Gebiet, das sie bislang als eigenes Land betrachtet hatten. Dafür wurde von ihnen erwartet hinzunehmen, dass auf ihren Weidegründen Städte gebaut und Bodenschätze ausgebeutet werden sollten.935 Eine der großen Herausforderungen an die russländische imperiale Elite bestand allerdings darin, das Grundkonzept von herrschaftlicher Gnade und Ungnade in der Vorstellungswelt nicht-­russischer Untertanen (oder solcher in spe) dauerhaft zu verankern. Wenn z­ wischen der imperialen Peripherie und dem Herrschaftszentrum mehrere tausend Kilometer lagen, wie sollte dann in der Peripherie der Respekt und die bedingungslose Unterwerfung unter die Gnade des Zaren eingefordert 933 Donald Ostrowski hat herausgearbeitet, dass die Moskauer Großfürsten die Denkfigur, dass das „gesamte Land“ dem Herrscher gehöre, im 14. Jh. von den Mongolen übernahmen, w ­ elche es ihrerseits von den Chinesen adoptiert und westwärts getragen hätten. O strowski , Muscovy and the Mongols, 45 f. – Zu den Implikationen dieser Vorstellung des Landbesitzes für die nicht-­ russischen Untertanen im Moskauer Reich F irsov , Položenie inorodcev, 79. 934 1. Pis’mo kalmyckago voenačal’nika k russkomu polkovniku po povodu stroenija novych gorodkov bliz Kalmyckoj zemli; 2. Carskaja gramota kalmyckomu kontajše s predloženiem ne prepjatstvovat’ v stroenii označennych gorodkov. In: Pamjatniki sibirskoj istorii, Bd. 2, Teilbd. 2, Nr. 40 (21.2. – 18. 12. 1716), 150 – 152. 935 Die Ähnlichkeiten zum Schicksal der Nordindianer, die sich ihres Landbesitzes durch vordringende englische und französische Siedler zunehmend beraubt sahen, ist augenfällig. Das englische Narrativ beruhte allerdings nicht auf dem Gedanken eines rundum ererbten Landbesitzes wie im Falle des Zarenreiches mit Blick auf Sibirien, sondern spätestens seit dem 18. Jh. darauf, dass erst die Bodenbearbeitung und Bewirtschaftung ein Recht auf Eigentum kreiere und d­ ieses Recht aufgrund der nomadischen Lebensweise der nordamerikanischen Indianer an die europäischen Siedler gefallen sei. W ashburn , The Moral and Legal Justifications for Dispossessing the Indians, bes. 22 – 23; S eed , Ceremonies of Possession; M ac M illan , Common and Civil Law?; A kimov , Severnaja Amerika i Sibir’.

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werden? Wie sollten überhaupt der Glanz und die Attraktivität des gnadespendenden Herrschers in St. Petersburg in die entlegensten Provinzen Ostsibiriens oder der kasachischen Steppe vermittelt werden? Eines der Hilfsmittel waren Portraits der Zaren. Sie dienten dazu, das imperiale Zentrum bildlich bis in die entferntesten Peripherien hineinzutragen. Vor einem prächtigen Portrait der Zarin Anna ließ Generalleutnant Fürst Vasilij ­Urusov Vertreter der Mittleren Horde der Kasachen 1740 in Orenburg ihren Untertaneneid ableisten. Urusov freute sich daran, wie unablässig und mit welch großem Erstaunen und Gefallen die Ältesten der Mittleren Horde angeblich das Portrait betrachteten.936 Auch den weit ferner vom Reichszentrum lebenden Einwohnern der Alaska vorgelagerten Inseln im Pazifik wurde ein Abbild der Zarin, in ­diesem Falle Katharinas II ., präsentiert. Der expansionslustige Unternehmer Grigorij ­Šelichov und seine Frau Natalja Šelichova ließen eigens einen Raum errichten, um dort ein Portrait der Zarin aufzuhängen. Mit Hilfe der Abbildung versuchten sie, den Einheimischen die Barmherzigkeit, Autorität und Macht der Zarin zu erklären. Und wie glücklich, so führte Šelichov in der Hoffnung auf die Gewinnung neuer Untertanen aus, schätzten sich jene, die unter ihre Gnade kämen, wie unglücklich jene, die dies nicht täten!937 Als anderes Mittel, um Respekt und Ehrfurcht vor dem russländischen Herrscher auch in der fernen Peripherie einzuflößen, dienten Gesprächsregeln, sofern über den Zaren gesprochen wurde. Der vom Gouverneur Sibiriens zu den K ­ asachen entsandte Tobolsker Bojare Nikita Belousov erhielt 1716 die Anweisung, dafür zu sorgen, dass über den Zaren nur stehend und nur ohne Hut gesprochen werde dürfe. Sitzend und mit Hut zieme es sich nicht, den Namen seiner „Zarischen Hoheit“ zu nennen.938

Huldigungsreisen Viel stärker als Abbildungen wirkte sich die Repräsentation zarischer Macht und Gnade aus, wenn Vertretern nicht-­russischer ethnischer Gruppen aus dem Süden und Osten erlaubt wurde, ins Zentrum des Imperiums nach St. Petersburg zu reisen 936 Žurnal’naja zapis’ peregovorov general-­lejtenanta kjnazja V. Urusova s predstaviteljami Malogo i Srednego žuzov vo vremja ich priezda v g. Orenburg dlja prinjatija prisjagi na poddanstvo Rossii. In: KRO Bd. 1, Nr. 70, (19. 8. 1740), 134 – 168, bes. 158. 937 Š elichov , Rossijskogo kupca Grigorija Šelichova Stranstvovanija, 46 (nach 18. 11. 1786). 938 Nakaz tobol’skomu bojarinu Nikite Belousovu, poslannomu k chanu Kaipu dlja peregovorov o vozobnovlenii torgovli i zaključenii voennogo sojuza s kasachami. In: KRO Bd. 1, Nr. 16 (14. 10. 1716), 18 – 20, hier 19 (Punkt 5 – 7); O snošenijach s Kirgizami. In: Pamjatniki sibirskoj istorii Bd. 2, Nr. 41 (1716 – 1718g.) 152 – 167, hier 154.

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und dort unmittelbar vom Zaren empfangen zu werden. Da die Vorstellung, an den russländischen Beamten vorbei dem Herrscher selbst Wünsche oder Beschwerden übermitteln zu können, auf die meisten Vertreter einverleibter ethnischer Gruppen eine große Anziehungskraft entfaltete, entwickelte sich die Erteilung des Rechts der Gesandtschaftsreise im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Machtinstrument der russländischen imperialen Elite in den Peripherien. Das Recht konnte verwehrt oder gewährt werden, abhängig vor allem vom Gutdünken der Gouverneure, die ihre Entscheidung wiederum vom Verhalten der Vertreter der jeweiligen ethnischen Gruppe abhängig machten. Mit dem Ziel, Loyalitäten zu stärken, unterstützte der Regierende Senat schon seit den 1720er Jahren die Möglichkeit, dass Vertreter nicht-­russischer ethnischer Gruppen nach Moskau oder St. Petersburg reisten und dort Bittschriften zu großen Nöten und „unerträglichen Beschwernissen“ (o svoich nesnosnych obidach) vortrugen. Dazu wurden Voevoden angewiesen, Reisebriefe (proezžija pis’ma) bzw. ab 1739 Pässe (pašporty) auszuteilen.939 Eine neue Etappe trat ein, als die Krönungsfeierlichkeiten der Zaren als geeignete Folie zur Loyalisierung nicht-­russischer Untertanen entdeckt wurde. Während Peter I. es bei den Feierlichkeiten zu seiner Ausrufung als Imperator 1721 sowie bei der Zeremonie der Krönung seiner Frau Katharina I. zur Kaiserin 1724 noch nicht für nötig befunden hatte, Vertreter nicht-­russischer ethnischer Gruppen einzuladen, hatte Zarin Anna (1730 – 1740) anlässlich der Prozession von 1730 zu ihrer Krönung in der Uspenskij-­Kathedrale immerhin Vertreter der baltischen Städte sowie des estländischen und livländischen Adels zugelassen.940 Zarin Anna gewährte sogenannte Krönungsaudienzen erstmals auch einigen Vertretern ethnischer Gruppen, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Russländischen Reiches im Süden und Osten lebten. So durften sich nach dem georgischen Zar und dem persischen Botschafter weitere Gesandtschaften aus Georgien, Armenien, China und einem kleinen transkaukasischen Bergvolk vor der Herrscherin verneigen. Unter ihnen befanden sich zu d­ iesem Zeitpunkt allerdings keine Untertanen des Reiches.941 939 Ukaz Senata I. I. Nepljuevu ob izmeneijach v upravlenii Orenburgskoj guberniej. O sekretnom dele. In: MpiB ASSR, Bd. 4, Teil 2, Nr. 489 (15. 4. 1756), 439 – 444, hier 439 – 440. 940 Opisanie koronacii E. V. Ekateriny Alekssevny [1724], 19 – 25; Opisanie koronacii (…) Anny Ioannovny [1730], 8 – 18. Auch bei den Krönungsfeierlichkeiten Zar Peters  II. von 1728 werden keine nicht-­russischen Vertreter erwähnt: Ceremonial koronovanija gosudarja imperatora Petra II. – A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 441; W ortman , Simvoly Imperii, 410. 941 Opisanie koronacii (…) Anny Ioannovny [1730], 44 – 45; Ageeva, Diplomatičeskij ceremonial, 441 – 442. Bei dem kleinen transkaukasischen Begvolk handelte es sich um Talyš, deren Herrscher „Mugansker Chane“ genannt wurden. Sie traten erst 1800 in den russländischen Untertanenschaftsverband ein. – Eine Ausnahme von der Regel, keine nicht-­russischen Untertanen zu empfangen, machte Zarin Anna, als sie im Juni 1734 zwei Baschkiren mit einer Audienz bei sich empfing, um ihnen für ihre Unterstützung in den Verhandlungen um die Untertanschaft der

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Doch erst unter Zarin Elisabeth (1741 – 1761) vollzog sich ein größerer Wandel. Nach ihrer Krönungszeremonie von 1742 gewährte sie nicht länger nur Adelsvertretern aus den baltischen Gouvernements, aus Smolensk und ‚Kleinrussland‘ Audienzen.942 Erstmals erweiterte sie den Kreis derer, dem die Gnade der Audienz gewährt wurde, um nicht-­russische Untertanen aus dem Süden und Südosten des Reiches und damit um nicht-­christliche Untertanen. Dabei erteilte sie die Gunst auch solchen ethnischen Gruppen, deren Sozialstruktur wenig Ähnlichkeiten zur russischen aufwiesen, darunter Vertretern der halbnomadischen und ganzjährig nomadisch lebenden Steppenvölker. Generalleutnant Leontej Jakovlevič ­Sojmonov, der als Leiter der Baschkirischen Kommission nach der Niederschlagung des baschkirischen Aufstandes von 1735 bis 1740 nach Möglichkeiten suchte, eine loyale indigene Elite aufzubauen, wies an, dass insgesamt zwanzig Delegierte baschkirischer und meščerjakischer Ältester und Hundertschaftler (sotniki) aus diversen Sippen zur Zarin nach Moskau reisen durften, um ihr anlässlich der Thronbesteigung zu gratulieren.943 Darüber hinaus gewährte die Zarin eine Audienz dem Boten des Abulmambet-­Chans und Sultan Baraks von der Mittleren Horde, Abulchair-­ Chan von der Kleinen Horde der Kasachen und Stammesältesten der Kabardiner, Nogaier, „Tataren“ 944 und der Kalmücken.945 Was hatte sich verändert? Sicherlich konnte noch nicht die Rede davon sein, dass Zarin Elisabeth die ethnische Vielfalt der Untertanen zum Zwecke der eigenen Repräsentation, der Demonstration imperialer Machtentfaltung zu n­ utzen gedachte, wie dies bei ihrer Nachfolgerin Katharina II . zu einem Leitmotiv avancierte.946 So waren die genannten Vertreter noch nicht zur K ­ rönungsprozession, Kasachen der Kleinen Horde zu danken. Außerdem lobte sie sie dafür, dass sie bereit waren, ihren Landbesitz dahin zu verlegen, wo die neue Stadt Orenburg gebaut werden sollte. Die Baschkiren waren jedoch nur als Einzelpersonen, nicht als Vertreter ihrer ethnischen Gruppe geladen. Ukaz imperatricy Anny Ioannovny sibirskomu gubernatoru Buturlinu o k­ omandirovanii v Baškiriju 2000 dvoran i kazakov. In: Dobrosmyslov, Materialy po istorii Rossii, Bd. 1, Nr. 160, 257. 942 Obstojatel’noe opisanie toržestvennych porjadkov blagopolučnogo vsšestvija v carstvujuščij grad Moskvu i svjaščennogo koronovanija Imp. Elizavety Petrovny. St. Petersburg 1744. 943 Ukaz Senata I. I. Nepljuevu ob izmenenijach v upravlenii Orenburgskoj guberniej. O sekretnom dele. In: MpiB ASSR, Bd. 4, Teil, 2, Nr. 489 (15. 4. 1756), 439 – 444, hier 439/440. 944 Das Ethnonym ‚Tataren‘ wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil diese Bezeichnung von der russländischen Elite als Sammelbegriff für völlig verschiedene ethnische Gruppen verwandt wurde. Wichtigste Charakteristika waren der muslimische Glaube und die muslimische Lebensweise. Tatsächlich konnten sich hinter „Tataren“ ganz verschiedene Völker verbergen. S ­ ultangalieva , The Russian Empire and the intermediary role of Tatars in Kazakhstan. 945 Tekst reči posla sultana Baraka-­batyra S. Bekbaševa na prieme u imperatricy Elizavety i otvet Elizavety. In: KRO Bd. 1, Nr. 107 (13. 3. 1743), 275; A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 443. 946 Zum Empfang „asiatischer Völker“ und ihrer Darstellung in Katharinas Krönungsalbum siehe W ortman , Simvoly imperii, 411.

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Abb. 37: Krönungszeremonie der Zarin Elisabeth in Moskau am 6. Mai 1742. Gravur von Grigorij Kalačev

sondern lediglich zu Audienzen im Nachklang geladen. Dementsprechend finden sich bei Elisabeth – anders als bei Katharina  II . – auch noch keinerlei Abbildungen von Vertretern nicht-­christlicher ethnischer Gruppen in ihrem Krönungsalbum.947 Ganz offenbar aber hatten Elisabeth und ihre Berater der imperialen Reichsregierung den Entschluss gefasst, die ‚personale Vergegenwärtigung‘ der Zarenherrschaft als Mittel einzusetzen, um die als noch unbeständig und unzivilisiert wahrgenommenen ethnischen Gruppen der Steppenregionen in ein festeres Treueund Gehorsamverhältnis zu überführen. Das Hofzeremoniell mit eigenen Augen zu sehen, in den prächtigen Thronsaal des Zarenschlosses eingelassen sowie mit untertäniger Verbeugung sich der Hand der Zarin nähern zu dürfen, die man bislang nur von Portraits her kannte, sollten die Größe, Macht und Autorität der

947 Obstojatel’noe opisanie (…) koronovanija Imp. Elizavety Petrovny [1744], 40 – 49. – Wortman weist zu Recht darauf hin, dass auch die zur Prozession geladenen Vertreter der kleinrussischen Kaufmannsschaft sowie die der Kosakenältesten und Offiziere sich in ihrer Erscheinungsform nicht von den einheitlich europäisch gekleideten anderen Teilnehmern unterschieden. Es ging (noch) nicht um die Demonstration von Vielfalt. W ortman , Simvoly imperii, 410.

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Herrscherin für die fremdgläubigen Untertanen persönlich erfahrbar machen und über die Heimkehr hinweg in einer stärkeren Bindung münden lassen.948 Im Zentrum sämtlicher Audienzen stand aus russländischer Sicht die Sichtbarmachung herrscherlicher Gnade. Um sie hatte „untertänigst“ gebeten zu werden, sie sollte „barmherzig“ gewährt und durch reichhaltige Gaben materialisiert werden. In vielen Fällen boten die Audienzen zudem die Möglichkeit, sich nach erneuter Ableistung des Untertaneneides von der neuen Herrscherin die „Gnadenurkunde“ (žalovannaja gramota) überreichen zu lassen. Zwar hatte beispielsweise der Vorgänger des zur Audienz geladenen kasachischen Abulmambet-­Chans, Chan Semek, 1732 bereits den Untertaneneid für die Mittlere Horde geleistet. Doch sah es das Konzept russländischer Untertanenschaft vor, den Schwur als Ausdruck der personalen Verbundenheit bei jedem Thron- wie Chanwechsel erneut abzuleisten.949 In der Regel geschah dies in der Peripherie und bloß vor einem Vertreter der Herrscherin, gewöhnlich vor dem Gouverneur. Im Falle manch ausgewählter Vertreter nicht-­russischer Stämme aber, wie bei Abulmambet-­Chan, gewährte Zarin Elisabeth die Gunstbezeugung, die Gnadenurkunde (žalovannaja gramota) nach Eidableistung selbst zu überreichen.950 Im Falle der Mittleren Horde ergab diese Form der Loyalisierungspraxis besonderen Sinn, drohte die Horde der Kasachen doch an die bis dato imperialen Rivalen des Russländischen Reiches, die Dsungaren, abzufallen.951 Auch Generalmajor Aleksej Tevkelev wird die Intensität von Eindrücken aus dem innersten Machtbereich des Imperiums vor Augen gehabt haben, als er 1756 dem Regierenden Senat in St. Petersburg den Vorschlag unterbreitete, den Baschkiren sogar jährlich das Recht auf die Reise einer Gesandtschaft zur „Erbringung einer alluntertänigen sklavischen Verbeugung“ vor Ihrer Kaiserlichen Hoheit nach St. Petersburg zu erteilen. Es war als eine von mehreren Maßnahmen gedacht, um 948 Audienzen auch für Untertanen nicht-­russischer Herkunft des eigenen Reiches anzubieten war ein überfälliger Schritt, nachdem Zarin Elisabeth erstmals eine detaillierte Ordnung für den Ablauf von Audienzen für ausländische Gesandte ausarbeiten und schriftlich unter dem Titel „Ceremonial dlja čužestrannych Poslov Pri Imperatorskom Vserossijskom Dvore“ festhalten ließ. ­K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 67 – 68; Z acharova , Vlast’ ceremonialov i ceremonialy vlasti, 91. 949 Ausführlich zum russländischen Konzept der Untertanenschaft Kap. 2. 950 Gramota imp. Elizavety chanu Abulmambetu i vsemu kazachskkomu naseleniju Srednego žuza v svjazi s prinjatiem imi rossijskogo poddanstva. In: KRO Bd. 1, Nr. 91 (23. 6. 1742), 216 – 217. 951 Instrukcija Orenburgskoj komissii perevodčiku Urazlinu, napravlennomu v Srednij žuz k chanu Abulmambetu. In: KRO Bd. 1, Nr. 92 (7. 6. 1742), 217 – 218; Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del ob intrigach chana Abulchaira protiv chana Abulmambeta i o merach ograždenija kazachov Malogo i Srednego žuzov ot Džungarskogo vtorženija. Sekretno. In: KRO Bd. 1, Nr. 98 (27. 9. 1742), 254 – 258; Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Kollegii in. del po povodu peregovorov chana Abulmambeta s Galdan-­Cerenom. Sekretnejše. In: KRO Bd. 1, Nr. 104 (18. 11. 1742), 268 – 269.

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nach den heftigen Aufständen die Baschkiren zu größerer „Ruhe“ und zu „größerem Gehorsam“ zu führen. Außerdem, wenn es vorkommt, dass sie [die Baschkiren] irgendwelche Anliegen haben, dann können sie sie untertänigst vortragen; und wenn sie nichts haben, macht man sie damit zufrieden, dass sie I. K. H. untertänigste Verneigungen vorbringen und anschließend in ihre Lebensorte wieder zurückkehren konnten.

Wenn man sie außerdem noch belohne, dann könne das ganze baschkirische Volk, wenn es eine s­ olche ihnen gegenüber gezeigte allerhöchste Gnade erleben, diese als eine allerhöchste von I. K. H. Barmherzigkeit ihnen gegenüber ansehen und unerschütterlich I. K. H. beherzt dienen.952

Der Regierende Senat ließ sich von Tevkelevs Argumentation überzeugen. Er erteilte dem Orenburger Gouverneur Ivan I. Nepljuev die Anweisung, den Baschkiren zu erlauben, fortan aus den Reihen ihrer besten Leute je zwei Mann und einen Ältesten von jedem Clan nach St. Petersburg zu s­ chicken, um sich „der gegenüber dem baschkirischen Volk erwiesenen Gnade dankbar zu erweisen“ und eine Versicherung ihrer „untertänigsten Treue“ abzugeben. Dafür s­ eien sie mit Pässen und Reisegeldern auf Staatskosten auszustatten.953 Vertreter der nicht-­russischen Stämme hatten zwar ihre eigene Agenda, was sie sich von den Huldigungen erhofften.954 Doch hatten auch sie häufig Interesse an einer Huldigungsreise. Dies war der Fall beim kalmückischen Sippenführer 952 Ukaz Senata I. I. Nepljuevu ob izmeneijach v upravlenii Orenburgskoj guberniej. O sekretnom dele. In: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 489 (15. 4. 1756), 439 – 444, hier 439. 953 Ebd. – Lapin behauptet, auch den Kasachen sei 1756 das Recht verliehen worden, alle zwei bis drei Jahre eine Delegation nach St. Petersburg zu entsenden, liefert dafür allerdings keinen Nachweis. L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 163. – Das Recht, auf eigenen Wunsch hin und trotzdem auf Staatskosten eine Delegation in die Hauptstadt zu entsenden, blieb den nicht-­russischen Völkern des Ostens und Südens prinzipiell nur im 18. und frühen 19. Jh. gewährt. Im Statut von 1822 wurde festgehalten, dass künftig Delegationen auf Staatskosten nurmehr auf Initiative der russländischen Behörden reisen dürften. In der Praxis gab es allerdings auch s­ päter noch Ausnahmen, bei denen nach langen Verhandlungen kasachischen Vertretern Delegationsreisen auf Staatskosten genehmigt wurden. PSZRI sobr. 1-oe, Bd. 38, Nr. 29127 (22. 7. 1822), § 280 – 283, 431; R emnev /S uchich , Kazachskie Deputacii, 139. 954 Es wäre ein reizvolles Thema für künftige Forschungen, die im 18. Jahrhundert zunehmende Praxis der Huldigungsreisen viel stärker als hier möglich auch aus der Sicht von Vertretern gerade nicht-­christlicher ethnischer Gruppen nach Moskau und St. Petersburg zu beleuchten. Dabei ließe sich die russländische Huldigungspraxis gewinnbringend mit jener in Westeuropa vergleichen. Dort war die Personengebundenheit ein wesentliches Merkmal vor allem des mittelalterlichen Herrschaftsverständnisses. H olenstein , Die Huldigung der Untertanen, 435.

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Donduk-­Daši. Nach dem Tod des Chans Donduk-­Ombo von 1741 hatte sich unter den Kalmücken ein Kampf um die Chan-­Nachfolge entzündet. Längst spielte die russländische Seite die entscheidende Rolle in der Frage, wer als neuer Chan auserkoren werden sollte.955 Große Chancen rechnete sich der als Statthalter eingesetzte Donduk-­Daši aus. Gezielt bat er bei der Regierung um die „Gnade“, zur Audienz bei Zarin Elisabeth im Anschluss an ihre Krönungsfeierlichkeiten von 1742 erscheinen zu dürfen. Von einem Empfang bei der Zarin erhoffte er sich Rückenwind für seine Position im Ringen um die Chan-­Nachfolge.956 Tatsächlich wurde ihm nicht nur eine Audienz gewährt, er erhielt auch als ­­Zeichen der außerordentlichen Gnade ein Portrait der Zarin sowie eine „besondere (finanzielle) Zuwendung“ geschenkt (osoblivym žalovan’em).957 Als Sahne­ häubchen wurde ihm die Ehre zuteil, an einem Festessen, dem imperatorskij stol, teilzunehmen, was an mittelalterliche und frühneuzeitliche Traditionen auch in Westeuropa erinnert, als das Mahl zur Festigung sozial-­rechtlicher Strukturen eingesetzt wurde, gleichsam um die Zusammenarbeit von Untertan und Herrscher zu antizipieren.958 Das Kalkül der Zarenadministration, Donduk-­Daši derart zu ehren, war einfach zu durchschauen: Einerseits sollte Donduk-­Daši mit einem hohen Maß an Autorität für seine Rückkehr ausgestattet, andererseits durch die Gaben und Ehrbezeugungen in eine besondere Bringschuld und damit in eine größere Abhängigkeit versetzt werden. Wenn der Statthalter sich zurück in der Heimat bei der Ausführung seiner Pflichten der „Gnade“ würdig erweise und er gemäß der Ratschläge des neu eingesetzten Astrachaner Gouverneurs Vasilij Nikitič Tatiščev vorgehe, so die Zarin im September 1742 bei der Abschiedsaudienz, dann stehe ihm „eventuell“ die Beförderung vom Statthalter zum „tatsächlichen kalmückischen Chan“ bevor.959 Hintergrund der Strategie der russländischen Seite, sich den persönlichen Ehrgeiz des kalmückischen Statthalters zu Nutze zu machen, mochte das gerade angelaufene Projekt der Sesshaftmachung christlich konvertierter Kalmücken in 955 Zur erfolgreichen russländischen Einmischung in die innerkalmückischen Angelegenheiten Kap. 4.5. 956 K hodarkovsky , Russian Peasant and Kalmyk Nomad, 47. 957 Das Portrait musste allerdings erst noch restauriert werden. K undakbaeva , „Znakom milosti“, 91. 958 A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 448 – 449, 819 – 820 – dort auch zu den Einzelheiten im Ablauf eines kaiserlichen Festessens. – Zur Bedeutung des Mahls im mittelalterlichen Kontext H olenstein , Herrschaft als Gemeinschaft – zur Symbolik des Mahls. In: Die Huldigung der Untertanen, 472 – 479. – Die Zarenadministration hatte bereits allen Anlass zum Frohlocken auf eine loyale Zusammenarbeit, hatte doch Donduk-­Daši bereits 1741 als erster kalmückischer Anführer im 18. Jh. eingewilligt, seinen Sohn als Geisel zu stellen. K undakbaeva , „Znakom milosti E. I. V.“, 58. 959 A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 449.

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Stavropol’ gewesen sein. Stammesvertreter der Kalmücken hatten sich entschieden dagegen gewehrt. Nun mochten Regierungsvertreter die Chance gewittert haben, den Widerstand mit Hilfe des Statthalters zu bezähmen.960 Auffällig an dem Kreis der Nutznießer von Audienzen bei Zarin Elisabeth im Zuge ihrer Krönungsfeierlichkeiten ist allerdings, dass keine Vertreter ethnischer Gruppen aus Sibirien oder aus Fernost geladen wurden. Vielleicht schien sich die elisabethanische Regierung in den östlichen Gebieten in der Lage zu wähnen, die indigene Bevölkerung durch die bloße Demonstration militärischer Überlegenheit sowie durch die massenhaft vorgenommenen Geiselnahmen (amanaty) genügend an das Zarenreich gebunden zu haben oder binden zu können.961 Vielleicht war aber auch das Interesse an den als unzivilisiert wahrgenommenen Untertanen des Ostens zu gering und die Anführer dieser ethnischen Gruppen galten nicht als adäquate Adressaten der zarischen Ehrung. Erst Zarin Katharina II. erweiterte während ihrer Herrschaftszeit die Loyalisierungs- und ‚Zivilisierungs‘bemühungen, die von einer persönlichen Begegnung mit ihr ausgehen sollten, auf alle nominellen Untertanen des Reiches. Allerdings entwickelte sich die neue Kultur unter ihr auch erst sukzessive, zum Teil befördert durch schwere Krisen an der imperialen Peripherie. Und doch ist es unverkennbar, dass es ihre Regierungszeit war, in welcher sich der bedeutende Wandel im Verständnis dessen vollzog, was ein Imperium ausmacht. Während am Anfang des 18. Jahrhunderts noch Stärke, Stabilität und der Zugang zur Gemeinschaft der „zivilisierten Völker“ die Semantik des Imperiums bestimmten, zeigte Katharina II. auf ganz verschiedene Weise, dass für sie der Imperiumsbegriff über diese Faktoren hinaus unauflöslich mit dem Aspekt ethnischer Vielfalt verknüpft war. Keine Gelegenheit ließ sie aus, um auch nach außen hin ein Bild des riesigen, multiethnischen Reiches zu vermitteln. Dies zeigte sich daran, dass sie die Liste ihrer Titel anders als ihre Vorgänger gern vollständig vorlesen ließ. Ihre Charta zur Dienstbefreiung des Adels von 1785 beginnt mit der Aufzählung der Titel von 38 Gouvernements und Ländereien unter ihrer Herrschaft.962 Zudem unterstützte die Zarin massiv die zahlreichen ethnographischen Expeditionen und Forschungsreisen, die unter der Leitung der Russländischen Akademie der Wissenschaften an die großen Leistungen aus der ersten Jahrhunderthälfte anknüpften und die russländische Völkerkunde erheblich voranbrachten.963 Schließlich begründete K ­ atharina II. 960 Ausführlich zum Projekt der Stavropol’er Ansiedlung konvertierter Kalmücken siehe Kap. 4.4. 961 Ausführlich zur Praxis der Geiselnahme in Kap. 3. 962 PSZRI, Bd. 22, Nr. 16.187 (21. 4. 1785), 344 – 358, hier 344; K appeler , Russland als Vielvölkerreich, 99. 963 Die Geschichte der Bestandsaufnahme der ethnischen Vielfalt des eigenen Landes, die zur Heraus­ bildung der Ethnographie als Wissenschaft im Zarenreich führte, ist nicht vom wachsenden imperialen Selbstbewusstsein zu trennen, das sich spätestens unter Katharina II. im Stolz über

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als erste Zarin den Ritus, das Imperium zu bereisen und dabei demonstrativ mit nicht-­russischen Einheimischen in Kontakt zu kommen, so auf ihrer Reise von 1787 zu den neu eroberten Gebieten entlang des Schwarzen Meeres bis zur Krim mit einer Delegation tatarischer Mirza in Kremenčug.964 Richard Wortman hatte aus der Beobachtung, dass erst unter Zar Nikolaus I. ‚Fremdstämmige‘ (inorodcy) in ihren nationalen Trachten sich bei den Krönungsfeierlichkeiten als Teil aller Untertanen einbringen durften, gefolgert, erst in dieser nikolaischen Zeit sei das europäische Modell vom Staat als das einer „imperialen Nation“ eingesickert, die über verschiedene untergebene ethnische Gruppen herrsche.965 Tatsächlich aber ist der Beginn eines solchen imperialen Selbstverständnisses weit früher auszumachen, wenngleich der Wunsch nach einer extensiven öffentlichen Repräsentation erst verzögert einsetzte. Zu Beginn ihrer Herrschaft beschränkte die Zarin ihre Einladung, an der Prozession anlässlich der Krönungszeremonie in Moskau teilzunehmen, noch auf hochrangige Repräsentanten russischer Stände, der Kosaken sowie der baltischen Provinzen.966 Den Empfang von Vertretern „asiatischer Völker“ im Nachgang der Feierlichkeiten, so des Sultan Ablaj und Sultan Saltamamet von der Mittleren und Nurali-­Chans von der Kleinen Horde, ließ sie immerhin erstmals in Gravur in ihrem Krönungsalbum abbilden.967

das multiethnische Ausmaß niederschlug. Allerdings gab es nur wenig Interaktionen z­ wischen der imperialen Elite, die im staatlichen Dienst die Expansion vorantrieb und die zarische Herrschaft konsolidierte, und den Wissenschaftlern, die ethnographische Studien im Reich betrieben. ­K öhler , Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert; V ulpius , Rez. zu Köhler; V ­ ermeulen , Before Boas; S underland , Imperial Space. 964 Richard Wortman hat diese Form der inszenierten Reise zu Zwecken imperialer Repräsentation als „ceremonial trip“ bezeichnet. W ortman , Ceremony and Empire. C hrapovickij , Žurnal Vysočajšego putešestvija [1787]; I bneeva , Putešestvie Ekateriny II po Volge; J obst , Die Taurische Reise von 1787; Z orin , Kormja dvuglavogo orla; S chönle , Garden of the Empire 965 Zu den ‚Fremdstämmigen‘ (inorodcy), die 1826 auf dem Platz vor der Uspenskij-­Kathedrale auf den zu krönenden Zaren Nikolaus I. warten durften, gehörten Čerkessen, Kabardiner, Kalmücken und Kasachen. Wortman: Simvoly imperii, 414. – Zur Bedeutung der Krönungsalben als Abbild der Mythologie von Monarchie und Imperium: K asinec /W ortman , The Mythology of Empire. – Ausführlich zum Umgang mit Multiethnizität bei den Krönungsfeiern auch der Zaren Alexanders  II., Alexanders  III. und Nikolaus II. R emnev /S uchich , Kazachskie deputacii, 133, 143, 150/151. 966 Opisanie vsšestvija (…) Imperatricy Ekateriny II. Die Beschreibung wurde nicht zur angesetzten Zeit publiziert, die Illustrationen erst im Jahr 1796 veröffentlicht. Vgl. W ortman , Simvoly imperii, Fn. 11. 967 Opisanie vsšestvija (…) Imperatricy Ekateriny II . 7 – 11, 59 – 61, 136 – 137, 141 – 142, 146. – Zur Anreise der Gesandten der Kleinen und Mittleren Horde der Kasachen siehe Raport i. o. sibirskogo gubernatora general-­majora fon Frauendorfa Kollegii in. del o položenii v Srednem žuze i ­vzaimootnošenijach kazachov s sosednimi stranami i narodami. In: KRO Bd. 1, Nr. 255 (11. 3. 1763), 646 – 652, hier 648/49.

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Wenige Jahre s­ päter, bei der Einberufung der sogenannten Gesetzgebenden Kommission, demonstrierte Katharina II . jedoch weitaus mehr ihr verändertes Verständnis von imperialer Herrschaft. Hatte die Vorgängerin, Zarin Elisabeth, für die Arbeiten in der von ihr einberufenen Gesetzgebenden Kommission (Komissija uloženija) nur Adels- und Kaufmannsvertreter eingeladen und dabei ganz Sibirien sowie das Astrachaner Gouvernement ausgenommen, wählte Katharina II. einen neuen Weg.968 Als sie 1766 eine Kommission zur Erstellung des Projekts einer neuen Gesetzgebung (Komissija o sostavlenii proekta novogo uloženija) einberufen ließ, lud sie Vertreter aus den höchsten staatlichen Einrichtungen, aus den Reihen des Adels, der Städter, der Staatsbauern und der Kosaken ein und forderte sie auf, jeweils aus ihren Reihen Delegierte zu benennen. Diese Delegierten aber – und das war das Neue – sollten grundsätzlich aus allen Teilen des Reiches kommen. Gleichwohl gab es Bevölkerungsgruppen, die von ­diesem Delegationsrecht ausgenommen wurden. Dieser Ausschluss erfolgte jedoch nicht auf der Grundlage territorialer oder ethnischer Gegebenheiten. Vielmehr kombinierte der Ausschluss ständische Kriterien (weder der Klerus noch Leibeigene durften Abgeordnete ­schicken) mit jenen der Lebensweise und machte ihn damit vom Grad der Zivilisiertheit nach katharinäischem Verständnis abhängig: Allen nomadisierenden ethnischen Gruppen sollte eine Entsendung von Delegierten in die Hauptstadt verwehrt bleiben.969 Damit wurde Katharinas II. Imperiumsverständnis mit all seinen Widersprüchen erst vollends erkennbar: Zwar war sie stolz auf die ethnische und konfessionelle Vielfalt. Zugleich aber strebte sie danach, die Vielfalt der Lebensweisen zu überwinden. Die Bevölkerung sollte administrativ und kulturell vereinheitlicht und allen dasselbe Zivilisationsverständnis anerzogen werden. Diese transethnisch verstandene, unifizierende Politik drückte sich auch in den von Katharina  II. aufgegriffenen Begriffen des ‚Vaterlandes‘ (otečestvo) und ‚Russlands‘ (Rossija) aus. Wie Ingrid Schierle zeigen konnte, waren beide Termini als innenpolitische Pendants zu dem vor allem außenpolitisch eingesetzten Begriff des ‚Imperiums‘ (imperija) im Gebrauch und wurden mithin als Synonyme verstanden.970 Das Ziel, das russländische Imperium mit dem russischen proto-­Nationalstaat zu fusionieren, war allerdings nicht neu. Schon bei den Bemühungen von 1740, die Kalmücken in Stavropol’ zur Sesshaftigkeit zu bewegen, lautete die Hoffnung,

968 V olkov , Komissii po sostavleniju novogo Uloženija. 969 F lorovskij , Sostav Zakonodatel’noj kommissii, bes. 39 – 41, 55 – 56, 92 – 93, 140 – 144, 460 – 469; K appeler , Russlands Erste Nationalitäten, 299; K appeler , Russia as a multi-­ethnic Empire. Classifying people, bes. 69 f. 970 S chierle , „Otečestvo“; dies ., „For the Benefit and Glory of the Fatherland“; dies ., Ponjatie „Rossija“.

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dass die Kalmücken „sich mit der Russländischen Nation vermengten“.971 Neu war unter Katharina II. jedoch, dass sie bereit war, die in ihren Augen notwendige ‚Zivilisierung‘, die sie für eine Fusion aller Peripherien des Reiches mit der Metropole für erforderlich hielt, auch mit den Mitteln rechtlicher Diskriminierung voranzutreiben. In der praktischen Auslegung zeigte sich die Zarin flexibel. Als jakutische ulusy entgegen ihrem Ausschluss von der Delegiertenwahl dennoch Sofron Syranov als ihren Repräsentanten nach St. Petersburg schickten, lehnte der Staatsrat mit Verweis auf den Nomadenstatus der Jakuten den Kandidaten ab. Doch Syranov gelang es im Anschluss, eine Audienz bei der Zarin zu erhalten. Während dieser muss er die Kaiserin nachhaltig von sich beeindruckt haben: Die Zarin intervenierte anschließend persönlich beim Staatsrat, verwies darauf, dass die Jakuten nicht vollständig nomadisch, sondern einen Teil des Jahres in festen Unterkünften lebten und ermöglichte Syranov doch noch die Teilnahme an der Gesetzgebenden Kommission.972 Ob es diese ungewöhnliche Begegnung mit einem halbnomadisch lebenden Jakuten war, die Katharina II. bewog, ihre Empfangspraxis am Hofe abzuwandeln, sei dahingestellt. Auf jeden Fall veränderte sie in den folgenden Jahrzehnten ihrer Herrschaft das Konzept von Audienzen am kaiserlichen Hofe nachhaltig. Sie ließ diese zu weitaus gewöhnlicheren „Vorstellungen“ (predstavlenija) umfunktionieren, denen zwar ein geringerer offizieller Status als den früheren Audienzen innewohnte und die daher weniger pompös abliefen. Dafür aber dienten diese „Vorstellungen“ dazu, Kommunikation der Zarin mit Vertretern aller (und damit auch aller nicht-­ sesshaften) ethnischen Gruppen des Reiches selbstverständlich werden zu lassen.973 Eine besondere Relevanz erhielt die neue Praxis gegenüber den Kasachen der Kleinen Horde. Als Mitte der 1780er Jahre das russländisch-­kasachische Verhältnis in eine schwere Krise geraten war und gar eine Hinwendung von Teilen der Kasachen zum Chanat von Buchara, Kokand oder zu Qing-­China drohte, sah die Zarin im Empfang von Ältesten am Hofe Potential, um auf die Kasachen Einfluss zu nehmen. Erstmals erhielten auf diese Weise Vertreter jenseits der kasachischen Herrschaftsdynastie der Činggissiden die Einladung, in die Hauptstadt zu reisen. Auch ohne den Anlass von Feierlichkeiten anlässlich einer Krönungszeremonie wurden sie von der Zarin empfangen.974 Weitere Delegationen der Kleinen Horde folgten, 971 PSZRI, Bd. 11, Nr. 8393 (6. 6. 1741), 434 – 436, Zitat 435. Vgl. Kap. 4.4. 972 F edorov (Hg.), Pamjatniki prava Sacha, 24 – 42; B orisov , Reformy samoupravlenija jakutov, 263 – 265; G lebov , Siberian Middle Ground, 143. 973 A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 452. 974 PSZRI, Bd. 22, Nr. 16400 (3. 6. 1786), 604, Punkt 7. – Die Kasachen unter Nurali-­Chan hatten sich schon in den 1760er Jahren sehr um die Erlaubnis bemüht, eine Delegation nach St. Petersburg zu entsenden, hatte jedoch von Gouverneur Afanasij R. Davydov stets eine Abfuhr erhalten. D ­ obrosmyslov , Turgajskaja oblast’, 136; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma,

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so im April 1787, als man der Zarin die dringliche Bitte vortrug, in Winterzeiten auf den „inneren“ Gebieten (also innerhalb des von russländischen Festungslinien eingeschlossenen Raumes am Ural-­Fluss) das Vieh weiden lassen zu dürfen,975 sowie zwei Jahre s­ päter, als Kasachen der Zarin für die „zarische Gnade“ dankten, in der Steppe Exekutivorgane (raspravy) eingerichtet bekommen zu haben.976 Auch Delegierte der Großen Horde der Kasachen durften 1793 die Zarin in St. Petersburg aufsuchen. Zwar unterstanden sie noch gar nicht der russländischen Herrschaft, wurden aber im Sinne der Denkfigur vom zarischen Eigentum an Grund und Boden am Hofe so vorgestellt, als ­seien sie faktisch bereits Untertanen: Es handele sich um ­solche, die „im Land, das unter der Herrschaft Ihrer Hoheit steht, nomadisieren“.977 Das Bemühen um Loyalität konnte aus zarischer Sicht gar nicht früh genug beginnen. Aber nicht nur für die Zarenadministration boten sich mit der direkten Kommunikationsform neue Möglichkeiten, um Vertreter entlegenster Gebiete des Reiches stärker an das Reichszentrum zu binden. Auch auf Seiten der indigenen ethnischen Gruppen maß man der Chance, unmittelbaren Zugang zur Zarin zu erhalten, große Bedeutung bei. Kasachische Älteste drohten der Orenburger Administration 1792 sogar mit Gewalttaten für den Fall, dass man ihnen nicht erlaube, eine Delegation zur Zarin zu entsenden.978 Vertreter jeglicher ethnischer Gruppen im innersten Reichszentrum zu empfangen war nur eine der Veränderungen, die Katharina II . in ihrer imperialen Symbolpolitik einleitete. Eine andere Möglichkeit, imperialen Glanz nach innen wie außen zu demonstrieren, boten Hofzeremonien anlässlich der Aufnahme neuer ethnischer Gruppen in die zarische Untertanenschaft. In den 1730er Jahren hatten die Aufnahmen von Teilen der Kasachen aus verschiedenen Horden noch in der Peripherie stattgefunden. Boten der Zarin waren in die Steppe gereist

163. – Dobrosmyslov behauptet, bereits unter Zarin Elisabeth sei 1756 Nurali-­Chan erlaubt worden, alle zwei bis drei Jahre eine Delegation von Kasachen nach Petersburg zu entsenden. Allerdings gibt er dafür weder Belege noch erwähnt er, ob eine derartige Delegationsreise je stattfand. D obrosmyslov , Turgajskaja oblast’, 136. 975 Die Zarin gab immerhin eine konditionierte Zusage. Raport ufimskogo vice-­guber-­ra kn. I. M. Barataeva gen.-gub-­ru Simbirskogo i Ufimskogo namestničestva S. K. Vjazmitinovu o ­celesoobraznosti vremenno razrešit’ kazacham peregonjat’ skot na pravyj bereg r. Urala (…). In: MpiK SSR Nr. 53 (29. 11. 1794), 182 – 184. 976 „Ob’’jasnenie“ bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II v otvet na obvinenija, vydvinuye polk. D. A. Grankinym. In: MpiK SSR Nr. 33 (10. 5. 1789), 108 – 127, hier 119/120; Ageeva, Diplomatičeskij ceremonial, 453/454. – Zu den raspravy vgl. Kap. 4.5. 977 A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 454. 978 Pis’mo batyra Sryma Datova i dr. v Orenburgskuju pograničnych del ėkspediciju po povodu izbranija sultana Erali chanom. In: KRO Bd. 2, Nr. 75 (nicht vor 1791), 135; L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 264.

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und hatten die Gnadenurkunden dort überbracht. Katharina II . führte eine neue Zeremonie ein, wonach Gesandtschaften beitrittswilliger ethnischer Gruppen an den kaiserlichen Hof nach St. Petersburg zu reisen hatten. Zarischer Glanz, die Hierarchien autokratischer Macht und kaiserliche Gnade konnten hier ganz anders als in der Peripherie in Szene gesetzt und vor den neuen Untertanen, der Hofgesellschaft und möglichst noch vor einem internationalen Publikum zelebriert werden. So empfing Katharina II . 1771 in den mit Ehrengästen gefüllten Thronräumen des Winterpalastes eine Delegation von beitrittswilligen nomadisch lebenden Nogai-­Tataren. Nahe dem Thron mit Baldachin, auf dem die Zarin saß, hatte man den Tisch mit den Herrschaftsregalien aufgebaut, die Krone und das Zepter. Das Gesuch um Beitritt überreichten die Nogai-­Tataren dem Vizekanzler, der es seinerseits der Zarin übergab. Diese nahm eine Rede des Gesandtschaftsanführers und eine Übersetzung derselben zur Kenntnis und ließ dann ihren Staatsrat Golicyn die zarische Gnade verkünden, dem Beitrittsgesuch stattzugeben. Nach Verbeugungen von Seiten der neuen Untertanen erhielt die frisch ausgestellte Urkunde ihren Platz auf einem zweiten Tisch unterhalb des Regalientisches. Die Machtpyramide der russländischen Autokratie kam wirkungsvoll zur Geltung. Zudem sorgte die neue Informationspolitik des Hofes dafür, dass das ganze Land und auch die internationale Öffentlichkeit Kenntnis von der erfolgten Machterweiterung der Zarin erhielten: Sämtliche Reden, Urkunden und Unterschriften wurden anschließend in Anhängen der Sankt Petersburger Nachrichten veröffentlicht.979 Katharina  II . legte mit ihrem Anliegen, die Repräsentation des Imperiums öffentlich zu zelebrieren und Eindruck bei den „wilden Völkern“ (dikie narody) zu hinterlassen, die Grundlage für eine in den folgenden Jahrzehnten stetig anwachsende Mission, mit dem Einsatz von Zeremonien im imperialen Zentrum Unter­ tanen disziplinieren und ‚zivilisieren‘ zu wollen. Die Indienstnahme des Empfangs und der Einladung zu Inthronisationsfeiern nahm mit der Zeit immer ausgefeiltere Züge an. Besondere Sorgfalt galt der Auswahl derer, die kommen durften. Priorität hatten zwar jene, deren Loyalität als noch nicht ganz gesichert erschien.980 Die Auswahl erfolgte aber nach sorgfältiger Prüfung der Kandidaten und ihrer 979 Sankt Peterburgskie-­vedomosti. Pribavlenie k No. 22, 18. 3. 1771, 1 – 6; A geeva , Diplomatičeskij ceremonial, 461 – 464, 474 – 475. Nach einem ähnlichen Zeremoniell erfolgte 1795 auch der Beitritt des Kurländischen Herzogtums. 980 Dazu zählten Vertreter der Großen Horde der Kasachen. Ihre Delegation wünschte auf Staatskosten in die Hauptstadt zu reisen, obwohl die Zentrale eigentlich im Statut für die „Sibirischen Kirgisen“ festgelegt hatte, dass Delegationen dies nur noch dann tun dürften, wenn die Initiative dazu von den russländischen Behörden ausgegangen war. PSZRI, Bd. 38, Nr. 29127, § 280 – 283; R emnev /S uchich , Kazachskie deputacii, 139.

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Abb. 38: Zarin Katharina II. empfängt im Zarenpalast. Gravur nach einer Zeichnung von Louis de Veilly (1730 – 1804)

Verdienste und wurde mit den Jahren immer strenger gehandhabt.981 Es sollten keinesfalls unwürdige „Asiaten mit überaus begrenztem Verstand“ in die Ehre kommen, in der Hauptstadt sein zu dürfen.982 In den 1840er Jahren rückte die zivilisierende Absicht der Zentrale derart in den Vordergrund, dass die Hauptstadtbesuche der kasachischen Delegationen eher Ausbildungsreisen gleichkamen. Mit ­Theater- und Museumsbesuchen, der Teilnahme an Prozessionen und durch Fahrten mit der Eisenbahn sollten „die Wilden“ weit über das Hofzeremoniell hinaus mit der russischen Zivilisation vertraut gemacht werden. Darüber hinaus war es das Ziel, die Gäste der Steppe so zu beeindrucken, dass sie bereit sein würden, ihren Lebensstil auch zu Hause zu verändern.983 981 Mitte des 19. Jahrhunderts erhielten ‚Bewerber‘ nur dann grünes Licht für die Reise, wenn die örtlichen Behörden mit Zeugnissen bestätigen konnten, dass sich der Reisekandidat um das Land verdient gemacht habe. Im Zuge der Bemühungen unter Zar Alexander III., die kulturelle Russifizierung vieler nicht-­russischer Völker zu intensivieren, erfolgte die Auswahl der Delegierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Kriterium, ob die Kenntnis der russischen Sprache bei den Geladenen genügend nachgewiesen werden konnte. R emnev /S uchich , Kazachskie deputacii, 136, 137, 140 f. 982 Kasymbaev zitiert mit diesen Worten unter Archivbeleg die Anfang des 19. Jh. gegründete Orenburger Grenzkommission, die so ihre Politik der Selektion begründete. K asymbaev , Gosudarstvennye dejateli kazachskich chanstv, Bd. 3: Chan Žantore (1759 – 1809), 54. 983 R emnev /S uchich , Kazachskie deputacii, 145.

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Den Glauben an die Wirkungskraft von Zeremonien teilte auch der Orientalist Vasilij Vasil’evič Grigor’ev. Was er in seinem Brief an den damaligen Orenburger und Samarer Generalgouverneur Vasilij Alekseevič Perovskij im Vorfeld der Krönungsfeierlichkeiten Zar Alexanders  II. 1856 schrieb, hatte schon Generalmajor Aleksej Tevkelev genau ein Jahrhundert zuvor mit Blick auf die Baschkiren mit anderen Worten, aber demselben Inhalt formuliert: Die Entsendung kasachischer Delegierten sei „eine Maßnahme, die zehnfach effektiver ist, um den Hordenstämmen die richtige Einstellung und Achtung gegenüber Russland einzuflößen als zehn militärische Strafexpeditionen und alle möglichen Rundschreiben einer Kommission“.984

Gabenkultur als imperiales Herrschaftsinstrument Trotz der Hoffnungen auf die loyalisierende und ‚zivilisierende‘ Wirkung von Empfängen und Einladungen hätten derartige Demonstrationen von Gnadenerteilung und imperialer Machtentfaltung wohl mittel- und langfristig nur eine geringe Wirkung ins Reichsinnere entfaltet, hätten die russländischen Zaren und ihre Regierungen nicht ein ergänzendes, anhaltend wirkungsmächtiges Instrumentarium imperialer Loyalisierung zur Verfügung gehabt – die Kultur der Gabe.985 Weder der Schwur von Treueiden noch die Haltung von Geiseln, die Gewährung von Audienzen oder der Empfang von Delegationen konnten dauerhaft die Loyalität der nicht-­christlichen Untertanen im Russländischen Reich so effizient stärken wie Zahlungen und Geschenke aus dem Machtzentrum. Untersucht man die russländische Gabenkultur im imperialen Kontext des 18. Jahrhunderts, so fällt in erster Linie die Kontinuität zum 16. und 17. Jahrhundert auf. Mit dem Zusammenbruch der Goldenen Horde der Mongolen hatten sich Zahlungen und Geschenke zu einem komplexen System entwickelt, in dem z­ wischen Tribut, Steuern und Geschenken nur schwer oder teilweise auch gar nicht unterschieden werden konnte. Dies galt allerdings nicht nur für den

984 Černovik pis’ma Grigor’eva o želatel’nosti prisutstvija na toržestvach koronacii Aleksandra II delegacii ot kirgizov. 1856 g. in: RGIA f. 853, op. 1, d. 56, l.1. Zitiert von R emnev /S uchich , ­Kazachskie deputacii, 144.  – Vgl. Tevkelevs Äußerung in: Ukaz Senata I. I. Nepljuevu ob ­izmeneijach v upravlenii Orenburgskoj guberniej. O sekretnom dele. In: MpiB ASSR, Bd. IV, Teil 2, Nr. 489 (15. 4. 1756), 439 – 444, hier 439. 985 Richard Wortman ist mit Blick auf die Dienstleute des Zaren der Auffassung, dass symbolschwere Repräsentationen der russländischen Monarchie mittels ihrer Wirkung auf die Vorstellungskraft genauso stark an den Thron banden wie „Sporteln und Bezüge“. W ortman , Scenarios of Power, Bd. 1, 4. – Für nicht-­russische ethnische Gruppen des Südens und Ostens, für die die russische Hofkultur und das Zeremoniell fremd waren, trifft diese Einschätzung vermutlich weniger zu.

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osteuropäischen bzw. den postmongolisch beherrschten Raum. Vielmehr darf allgemein vom Gabentausch in Asien genauso wie im vormodernen Europa und Amerika behauptet werden, dass seine Bedeutung nie präzise war, sondern gerade die Mehrdeutigkeit von Gaben in ihrer „persönlichen, kontextabhängigen Botschaft“ einen großen Spielraum für symbolische Inszenierungen ließ.986 Gaben konnten als Geschenke gegen erwartete oder geleistete Dienste vergeben werden, als Form des Tributs oder als wichtiger Bestandteil diplomatischer Zeremonielle.987 All diesen Anlässen zum Gabenverkehr war gemeinsam, dass zwar einerseits die Fiktion der Freiwilligkeit bei der Übergabe der Gabe aufrechterhalten wurde, andererseits die Gabe aber in irgendeiner Form zu einem gegebenen Zeitpunkt erwidert werden musste.988 Damit unterschied sich die Gabenkultur theoretisch gesehen von einem Tauschakt. Wie Pierre Bourdieu überzeugend herausgearbeitet hat, sind die entscheidenden Kriterien der Gabenkultur die zeitliche Verzögerung der Tauschakte und das „Tabu der expliziten Formulierung“ des Tauschzwecks. Das zeitliche Intervall ­zwischen Gabe und Gegengabe und die Kaschierung des Zwecks führen dazu, dass die Gabenkultur sich der Zweckrationalität des do ut des entzieht.989 Aus der unausgesprochenen Verpflichtung zur Erwiderung aber ergibt sich jene Erwartung auf zukünftige Einlösung der Gegengabe und damit jene unaufhörliche Kette immerwährenden Austausches, ­welche elementare und dauerhafte soziale Bindungen stiftet bzw. auf welcher sich sozialer Zusammenhalt von Gemeinschaften überhaupt gründet.990 Im Falle des Russländischen Reiches, dessen Herrschaftsdoktrin nicht auf einem Herrschaftsvertrag, sondern auf dem Konzept der Gnade basierte, bedurfte es der Gabenkultur in ganz besonderem Maße. Gnade musste sich in Gabe materialisieren, um ihre Wirkung sowohl in ihrer Erteilung als auch in ihrem Entzug zu entfalten. Erst recht kam der Gabe eine elementare Bedeutung zu, wenn sich das Reich nicht durch militärische Eroberung, sondern durch mehr oder weniger subtilen Druck neue ethnische Gruppen einverleibte. Gerade dann fiel dem Reiz der Gabe die Rolle zu, Anführer nicht-­russischer Gruppen 986 A lthoff /S tollberg -­R ilinger , Die Sprache der Gaben, 15; G arnier , Gabe, Macht und Ehre; W inkler , Die Macht der Gaben; W eber , Bárbaros, 186 – 192. – Bei den Germanen war die Gabe die zweite große, neben dem Eid bestehende Form der Begründung und Sicherung von Rechtspflichten. Das Geben war Akt der Versöhnung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. H attenhauer , Zur Autorität des germanisch-­mittelalterlichen Rechts, 270 ff. 987 S idorko , Der Elefant Peters des Grossen, 31 – 56. 988 M auss , Die Gabe, bes. 15 – 27. 989 B ourdieu , Praktische Vernunft, bes. 163 – 172, 194 – 197; ders ., Entwurf zu einer ­Theorie der Praxis, 219 – 226; ders ., Sozialer Sinn, 280 – 321; K irner , Patronage und Gabentausch. 990 A lthoff /S tollberg -­R ilinger , Die Sprache der Gaben, 4 – 5.

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auf die russländische Seite zu ziehen, gegen das Zarenreich gerichtete Gruppen zu schwächen, Plünderungen und Überfälle zu verhindern sowie allgemein die Loyalität nicht-­russischer Untertanen gegenüber dem Herrschaftszentrum nachhaltig zu stärken. Dabei konnte die russländische Elite nicht frei nach eigenem Gusto eine Gabenkultur gestalten, die ihren Interessen der Etablierung von Macht und Hierarchie entsprach. Vielmehr mussten Traditionen berücksichtigt werden, die aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der Goldenen Horde stammten, sich fortentwickelt und besonders unter den Steppenvölkern Erwartungen geschaffen hatten. Die wichtigste Traditionslinie bestand darin, dass das Moskauer Reich selbst über viele Jahrhunderte tributpflichtig gegenüber der mongolischen Horde gewesen war und dabei neben dem Tribut (vychod) und Steuern (jasak) auch stets „Geschenke“ (pominki) abzugeben hatte. Nach dem Zerfall der Horde Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts in mehrere Chanate setzten vor allem Nogaier und das Krim-­ Chanat durch, dass ihnen als Nachfolger der mongolischen Herrscher weiterhin Abgaben des Moskauer Reiches zustanden. Während unter den Frühneuzeit-­Historikern bis heute umstritten ist, ob die von Moskau noch mehrere Jahrhunderte überbrachten „Geschenke“ (pominki) an das Krim-­Chanat zumindest im 16. Jahrhundert zeitweilig noch Tributcharakter besaßen, besteht Einigkeit darüber, dass sich die Moskauer Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert alle Mühe gaben, den Charakter dieser Gaben umzudefinieren.991 Die russländische Strategie, die sich auch in einer sich wandelnden Terminologie widerspiegelte, sah vor, aus dem früheren Tribut „ein Gehalt“ oder „einen Sold“ (žalovan’e) werden zu lassen und ehemalige Steuern und Abgaben terminologisch ausschließlich als „Geschenke“ (pominki) zu bezeichnen.992 „Geschenke“ teilten die Moskauer Zarenregierungen in unterschiedlichem Umfang und abhängig von der jeweiligen Ehre des Empfängers und seiner Position gegenüber Moskau aus. Die zarische Lesart war, mit „Geschenken“ Loyalität oder besondere Dienste für den Zaren zu belohnen. Im Verständnis der nomadischen Nachbarn hingegen wurde mit der Übergabe von „Geschenken“ eine Tradition früherer Abgabenzahlungen bloß fortgesetzt.993 Auch im Falle von ‚Gehaltszahlungen‘ (žalovan’e) suchten russländische Vertreter das Verständnis zu verankern, dass hiermit der Zar jene von Gott aufgetragene

991 C rosky , Muscovite Diplomatic Practice in the Reign of Ivan III .; N ekrasov , Meždunarodnye otnošenija i narody Zapadnogo Kavkaza; F aizov , Pominki; C horoškevič , Rus’ i Krym; ­K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier; T repavlov , Tri stoletija territorial’nogo rasširenija; M oiseev , Posol’skie dary – „pominki“. 992 R ogožin , Posol’skie knigi Rossii, 97; T repavlov , Istorija Nogajskoj Ordy, 608. 993 K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 63 – 69.

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Barmherzigkeit und Gnade gewähre und Moskauer ‚Freunde‘ und Untertanen für ihre Loyalität oder für besondere Dienste für den Zaren in einer festgelegten Regelmäßigkeit belohne. Und auch hier herrschte bei den Steppenvölkern das Verständnis vor, dass Moskau diese Zahlungen wie schon zuvor frei von jeglichen Bedingungen jährlich an sie abzuleisten habe. Damit wird offensichtlich, wie sehr die Gabenkultur Politik widerspiegelte, wie Gaben nach den jeweiligen Machtinteressen definiert oder umdefiniert werden konnten und wie sehr die Ambivalenz der Deutungen es erschwert, zu einer allgemeingültigen Sichtweise zu gelangen.994 Zum Verständnis der Loyalisierungspraktiken der russländischen imperialen Elite, die hier im Zentrum stehen, ist jedoch die Einbettung der Gabenkultur in das bereits skizzierte Gnadenkonzept wichtig: In dem Maße, in dem russländische Zahlungen und Geschenke zunehmend an die Gnade des Zaren gekoppelt wurden, ließen sie sich dahingehend steuern, dass sie nur noch an diejenigen verteilt wurden, die sich dieser Gnade würdig gezeigt hatten. In den Quellen des 18. Jahrhunderts wird sogar des Herrschers Gnade (milost’) begrifflich derart eng mit Belohnung/Zahlung (žalovan’e) verknüpft, dass das eine ohne das andere kaum mehr denkbar erschien.995 Belohnt werden sollten jene, die ihre Loyalität bewiesen hatten oder von denen Loyalität in Zukunft in besonderer Weise erwartet wurde. Was genau unter Loyalität zu verstehen war, wurde immer wieder neu definiert. Die Grenzen ­zwischen dem innerimperialen Gabenverkehr (also Gaben an ­solche, die zumindest nominell bereits Untertanen des Reiches waren) und dem Gabenverkehr mit Ausländern bzw. mit ‚Noch-­nicht-­Untertanen‘ waren dabei fließend. Häufig genug ging es nämlich genau darum, jene, die bislang noch nicht den Treueid geleistet hatten, eben durch die Gabenkultur zum Eintritt in die russländische Untertanenschaft zu bewegen. Diese Strategie spielte besonders bei der Gewinnung neuer Untertanen in Sibirien, Fernost und im Nordpazifikraum eine bedeutende Rolle. So gab Zarin Anna 1732 persönlich die Anweisung an den Seefahrer und Entdecker Vitus Bering, zur Unterstützung seiner zweiten 994 Freilich gab es Wendepunkte in den Machtbeziehungen, mit denen der Anfang von Umdeutungen sowie das Ende jeglicher Zweideutigkeiten verbunden war: Dazu gehörte die Anweisung, die Zar Ivan III. 1473 an seinen Gesandten erteilte, erstmals die Forderung des Chans der Krim zurückzuweisen, „Geschenke“ in unveränderter Quantität zu liefern. Zu einem solchen Wendepunkt gehörte auch der Artikel im Frieden von Karlowitz von 1699, mit dem jeglichen („Tribut“-) Zahlungen von Moskau an das Osmanische Reich sowie an das Krim-­Chanat als seinem Vasallen ein Ende gesetzt wurde. K hodarkovsky , Russia’s Steppe Frontier, 65/66. 995 Dass auch die Empfänger von Gnade (milost’) diese stets nur im Zusammenhang mit Belohnung (nagraždenie) und Gehalt (žalovan’e) dachten, kommt in dieser typischen Quelle zum Ausdruck: Pis’mo kazaniščenskogo vladetelja Tišsiz Bamata kizljarskomu komendantu N. A. Potapovu s pros’boj ob utverždenii ego šamchalom i o gotovnosti verno služit’ Rossii. In: RDagO Bd. 2, Nr. 155 (11. 4. 1769), 126 – 127.

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Expedition nach Kamčatka (1733 – 1743) nicht die Geschenke zu vergessen.996 In der Vergangenheit habe sich die Praxis, Geschenke an Indigene auszugeben, die in die russländische Untertanenschaft eingetreten und zur jasak-­Zahlung bereit gewesen s­ eien, sowohl in Sibirien als auch auf Kamčatka sehr bewährt. Scharlachrote Stoffe, Messer, Näh- und Stricknadeln sowie Blechwaren sollten den Menschen auf den neuen Inseln und auf dem Festland angeboten werden, um sich mit ihnen „anzufreunden“.997 Auf dasselbe Rezept zur Gewinnung neuer Untertanen auf den nordpazifischen Inseln verwies Kapitän Aleksej I. Čirikov in seinem Schreiben an das Admiralitätskolleg von 1747. „Billige Geschenke“ wie Eisentöpfe, kleine Schellen und Glasperlen würden die Eingeborenen anlocken.998 Kosaken berichteten 1762 von ihrem Erfolg, durch die Vergabe von Geschenken derart „freundschaftliche Beziehungen“ zu Eingeborenen auf den Aleuten aufgebaut zu haben, dass diese bereit waren, den jasak zu erbringen.999 Auch Katharina II. wies Kapitänleutnant Joseph Billings an, bei seiner Expedition gen Osten und in den Nordpazifik (1785 – 1794) durch Geschenke und Medaillen neue Untertanen zu gewinnen und dadurch eine positive Einstellung der Eingeborenen zu den Russen zu erzeugen. Die Medaillen ­seien ihnen als „Zeichen ewiger Freundschaft der Russen“ um den Hals zu hängen.1000 Auf diese Weise werde es auch gelingen, auf ihrem Land Steinsäulen mit Waffenzeichen und eingravierten Buchstaben zur Demonstration der „freiwilligen Unterwerfung unter die russländische Herrschaft“ während der „ruhmreichen Herrschaft von Katharina II. der Großen“ aufzustellen. Zwischen den geschenkten Medaillen und den Steinsäulen sei die Analogie zu ziehen, dass beide ­­Zeichen der Freundschaft s­ eien und beide bewahrt und nicht beseitigt werden dürften. „Wenn Ihr einmal erreicht habt, dass

996 Dank der Berichte der Expeditionsteilnehmer Georg Wilhelm Steller und Stepan P. Krašeninnikov sind Ablauf und Ergebnisse der Zweiten Kamčatka-­Expedition (1733 – 1743) detailliert überliefert. D ahlmann , Sibirien, 118 – 136. 997 PSZRI, Bd. 8 (28. 12. 1732), 1002 – 1013, hier 1009. 998 Iz raporta A. I. Čirikova v Admiraltejstv-­kollegiju ob osnovnych napravlenijach dal’nejšich ­issledovanij severnoj časti Tichogo okeana. In: Divin (Hg.), Russkaja tichookeanskaja epopeja, Nr. 61 (Okt. 1747), 300 – 303. 999 Iz raporta kazaka S. T. Ponomareva i promyšlennika S. G. Glotova ob otkrytii imi n­ eizvestnych ostrovov Aleutskoj grjady. In: Divin (Hg.), Russkaja tichookeanskaja epopeja, Nr. 67 (12. 9. 1762), 314 – 320. 1000 Es war kein Zufall, dass Katharina II. darauf drang, Medaillen als Geschenke zu verteilen. Spätestens seit Ende der 1760er Jahre war durch die interimperiale Konkurrenz in Amerika und im Nordpazifikraum die Mode aufgekommen, speziell Medaillen zu verteilen, um die indigene Bevölkerung für sich einzunehmen. Franzosen hatten mit der Medaillenvergabe begonnen, die Spanier folgten seit den späten 1760er Jahren. Ein Indiohäuptling verweigerte 1771 sogar die Annahme einer spanischen Medaille mit dem Hinweis, dass sie kleiner sei als jene, die er von den Franzosen erhalten habe. W eber , Bárbaraos, 187.

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Abb. 39: Handel z­ wischen Čukčen und einer fremdländischen Schiffsbesatzung: Gewehre und Alkohol gegen Rentiere. Im Hintergrund: ein Boot zum Walrossfang, aufgehängt an einem Gestänge aus Walrippen

sie wollen, dass Ihr erneut zu Besuch kommt, dann habt Ihr den Boden für die jasak-­Eintreibung gelegt. Macht sie begierig auf den Handel!“ 1001 Die Vermengung von jasak-­Zahlung als Zeichen ­­ des Eintritts in die Untertanenschaft, von Handel sowie von Geschenketausch war mithin beabsichtigt. Es konnte nicht erstaunen, dass die meisten Einheimischen der Auffassung waren, ihre übergebenen Felle, Walrosszähne oder sonstigen Gaben s­ eien lediglich Handelswaren und mithin eingetauscht gegen Geschenke der anderen Seite. Die meisten waren weit von dem Verständnis entfernt, als neue Untertanen einen Tribut gezahlt zu haben.1002 1001 S auer , An Account of a Geographical and Astronomical Expedition, Appendix V, 29 – 49. Martin Sauer war der Sekretär der Billings-­Saryčev-­Expedition. Die Anweisungen sind auch abgedruckt als „Instructions from Catherine II and the admiralty College to Captain Lieutenant Joseph Billings for his Expedition [1785 – 1794] to Northern Russia and the North Pacific Ocean (1785)“ in: Dmytryshyn (Hg.), To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 47 (1785), 268 – 290, hier 282, Zitat von 284. 1002 K hodarkovsky , Steppe Frontier, 62. – David J. Weber hat eine sehr ähnliche Analyse für die Rezeption der Gabekultur ­zwischen spanischen Kolonialherren und südamerikanischen Indios herausgearbeitet. Der chilenische Gouverneur Guill y Gonzaga erklärte 1766 gegenüber dem spanischen König, dass die einheimischen Indios die „Geschenke“ der spanischen Seite sogar ihrerseits als Tribut betrachteten, den die Spanier ihnen zu zahlen hätten. Auch wenn diese Interpretationsvariante bei den russländischen Einheimischen, die seit Jahrhunderten mit

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Abb. 40: Medaille, ausgegeben zur Krönung von Zarin Katharina II., 1762

Anders sah die Situation für viele Eingeborene auf Kamčatka, den Aleuten und anderen nordpazifischen Inseln aus. Hier ließen die Eroberer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts keinen Zweifel an ihren Intentionen und setzten nicht selten physische Gewalt ein, um die Einheimischen zu unterwerfen und an sich zu binden. Zwar teilten die Russländer ihnen auch billige Waren wie Glasperlen, Ziegen­wolle und kleine Kupferkessel aus und versuchten, die Einheimischen damit zu verpflichten, sie einen ganzen Winter lang mit Fisch und essbaren Wurzeln zu beköstigen. Gleichzeitig aber wurden der Bevölkerung ihre Kinder weggenommen, je nach Reaktion auch gewaltsam, um über den Druck der Geiselhaltung (amanatstvo) auch mittel- und langfristig abzusichern, dass die russländische Seite mit Lebensmitteln versorgt werden würde.1003

jasak-­Zahlungen gegenüber dem mongolischen Chanat vertraut waren, eher unwahrscheinlich ist, verweist sie doch auf die Bandbreite an vorstellbaren Deutungsvariationen. W eber , Bárbaros, 192. 1003 O promysle rossijsich promyšlennych ljudej na ostrovu Unalakše raznych rodov lisic. In: Divin, Russkaja tichookeanskaija epopeja, (April 1771), 357 – 362; „Instructions from Catherine II“, in: Dmytryshyn (Hg.), To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 47 (1785), 268 – 290, hier 285. Ausführlich zur amanatstvo in Fernost siehe Kap. 3.3. – Zuweilen sollen Einheimische in Reaktion auf zahlreiche Geschenke und Wohltaten ihre Kinder auch bereitwillig der russländischen Seite als Geiseln übergeben haben. Š elichov , Rossijskogo kupca Grigorija Šelichova, 35 – 61, hier 45 (nach 18. 11. 1786); A Report on the Voyage of Potap K Zaikov to Islands in the North Pacific Ocean between Asia and America, aboard the Merchant Vessel Sv. Vladimir, as described for the Academy of Sciences by Franz Nikolaevich Klichka, Governor of Irkutsk.

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Der Versuch, Geschenke immer gezielter einzusetzen, um das Verhalten neu gewonnener Untertanen zu steuern, fand auch Eingang in den Umgang mit den Steppenvölkern im Südosten. Angesichts der Weite der Steppe, des damit verbundenen Rückzugsraums für die Nomaden und der beschränkten Möglichkeiten für die zarische Seite, ‚Ungehorsam‘ zu ahnden, kann die Bedeutung dauerhaft erteilter Geldzahlungen (žalovan’e), Belohnungen (nagraždenie), Geschenke (pominki, podarki) sowie das Bindungspotential, das sich aus der Verleihung von Tarchan-­ Titeln ergab, kaum überschätzt werden. Die Verleihung der Tarchan-­Würde war indirekt auch eine materielle Gabe. Ob die Bezeichnung Tarchan aus dem osmanischen oder mongolischen K ­ ontext ins Russländische Reich transferiert wurde, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben.1004 In jedem Fall handelte es sich um einen Titel, der den Steppenvölkern seit dem Mittelalter vertraut war und einen privilegierten bzw. einen von ­Abgaben befreiten Stand bezeichnete.1005 Unter der Zarenherrschaft ähnelten Tarchan-­Würdenträger im 17. und frühen 18. Jahrhundert dem russischen Adel, waren von jasak-­Zahlungen und sämtlichen Abgaben befreit, besaßen jedoch im Unterschied zu Adligen, die einer christlichen Konfession angehörten, weder das Recht, Landeigentum (außerhalb des Clan-­Verbands) zu besitzen, noch Leibeigene zu halten.1006 Die Erhebung in den Tarchan-­Stand war insofern zwar auch eine Methode imperialer Privilegierung, erreichte aber nicht das Aufgehen indigener Eliten im Reichsadel, wie es die Zarenregierungen im Westen mit der Oberschicht des Hetmanats, jener von Smolensk, der baltischen Provinzen sowie tatarischer Mirza der Wolgaregion praktiziert hatten. Grundsätzlich stand die Methode des 18. Jahrhunderts, die Verleihung des Tarchan-­Titels zur Loyalisierung indigener Eliten einzusetzen, in Kontinuität mit der früheren Praxis. Infolge des seit Peter I. einsetzenden Umbruchs erreichte das

In: Dmytryshyn (Hg.), To Siberia and Russian America, Bd. 2, Nr. 46 (22. 9. 1772 – 6. 9. 1779), 259 – 267. 1004 Von einer mongolischen Anleihe spricht H alperin , Muscovite Political Institutions, 238. – Goldfrank bezweifelt diese Anleihe mit dem Hinweis, dass auch die prämongolische Rus’ Abgabenfreiheit kannte. G oldfrank , Muscovy and the Mongols, 260, Fn. 4; K asymbaev , Gosudarstvennye dejateli, 48. Vasmer leitet es in seinem etymologischen Lexikon aus dem Osmanischen bzw. Alttürkischen ab. V asmer , Russisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 3, 80. Ausführlicher zur Wortbedeutung und der dazugehörigen Literatur: P elenski , Russia and Kazan, 56 – 57, Fn. 109. 1005 Belegt ist, dass bereits zu Zeiten Čingiz-­Chans Tarchan-­Würdenträger von Steuern und anderen Abgaben ausgenommen waren. Auch im Chanat von Kazan bildeten Tarchan-­Träger den privilegierten, landbesitzenden Adel, der weder Steuern noch Abgaben zu leisten hatte. P elenski , State and Society in Muscovite Russia, 164. 1006 A sfandijarov , Baškirskie tarchany, 34, 49; R udenko , Baškiry, 43; S teinwedel , Threads of Empire, 24.

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Vorgehen in den folgenden Jahrzehnten jedoch eine neue Qualität. Es ging nicht länger mehr um die bloße Stärkung von Loyalitäten. Es ging darum, über den Köder des Tarchan-­Titels indigene Eliten zu verpflichten, unmittelbar an der russländischen imperialen Expansion mitzuwirken und damit die Kräfte der Metro­pole zu schonen und jene indigener ethnischer Gruppen an der Peripherie zu schwächen. Konkret sah dies so aus: Ivan Kirilov hatte für seine 1734 vorgetragene Vision, das Zarenreich gen Südosten zu erweitern und dafür am Rande der Steppe eine neue Stadt als Tor zur Expansion zu begründen, die uneingeschränkte Rückendeckung von Zarin Anna erhalten. Diese Rückendeckung galt auch für den Plan, zum Bau dieser neuen Stadt, des späteren Orenburgs, örtliche, „fremde“ ethnische Gruppen einzusetzen, denen man als Anreiz zuvor die Tarchan-­Würde verleihe. Niemand werde ihnen nachtrauern, wenn einige von ihnen dort getötet würden. Auf diese Weise locke Gewinn, ohne dass irgendein Verlust eigener Leute befürchtet werden müsse.1007 Im Gegenteil, nicht nur kehrten diejenigen Baschkiren nicht mehr zurück, die getötet würden. Darüber hinaus werde der Arbeitseinsatz in Orenburg dazu führen, dass die Frauen keine Kinder mehr bekämen. Beides trage zur Verringerung der Muslime bei (ko umaleniju sich machometan).1008 Mit ­diesem Plan in der Tasche, der wie selten zuvor die Instrumentalisierung und Ausbeutung nicht-­russischer Arbeitskräfte für „Russlands“ Anliegen andachte und dabei deutlich z­ wischen „eigenen“ und „fremden“ Untertanen unterschied, reiste Kirilov noch Ende 1734 ins baschkirische Land und verlieh in einem bislang ungekannten Ausmaß den begehrten Tarchan-­Titel an „Tataren“, Meščerjaki und vor allem an hunderte von Baschkiren.1009 1007 […] vse to […] polučit’ možet bez poterjanija ljudej svoich, no čužimi i takimi, koi chotja b ­propali, tužit’ ne o kom. Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj ėkspedicii I. Kirillova na imja imp. Anny o trech kazachskich žuzach i o Karakalpakii. In: KRO Bd. 1, Nr. 50 (1. 5. 1734), 107 – 114, hier 112. Weiter fährt Kirilov fort: Sich fremder Völker zum eigenen Nutzen zu bedienen, stehe in der Tradition schon Alexander des Großen. Dieser habe die Sammlung berühmter Besitztümer unter seiner Herrschaft mit fremden asiatischen (čjužimi aziatskimi) und nicht mit seinen eigenen (prirodnymi) europäischen Truppen vollzogen. „Was hat Russland zu verlieren, wenn ein solch glücklicher Zufall gekommen ist, mit fremden Leuten das Fremde [die Aneignung fremden Landes] zum eigenen ewigen Nutzen zu erreichen (čjužimi ljud’mi čjužee v svoju večnuju pol’zu dostavit’)?“ Ebd. 113. – Kirilov rechnete damit, dass jeder Tarchan typischerweise ein Gefolge von mehreren Hundert Männern mit sich bringe. 1008 Iz’’jasnenie I. K. Kirillova o territorial’nom i vnutrirodovom razdelenii baškir Ufimskogo uezda, o živuščem na ich zemle nerusskom naselenii i o merach bor’by s magometanstvom i ­perenaseleniem uezda. In: MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 549 (13. 1. 1735), 492 – 495, hier 494. 1009 Während Ende des 17. Jh. in den Amtsbüchern des baschkirischen Ufa nur 155 Tarchan-­ Würden eingetragen waren, bewilligte Kirilov in einem Winter 773 Titel. Donošenie načal’nika ­Orenburgskoj ėkspedicii Ivana Kirilloviča Kirillova v Kabinet o neporjadkach v upravlenii Ufimskim uezdom i o svoej dejatel’nosti vo vremja prebyvanija v g. Ufe. In: MpiB ASSR Bd. 3, Nr. 548 (13. 1. 1735), 489 – 492, hier 489/490; Raport I. K. Kirilova v kabinet o zapisi v službu baškirskich t­ archanov, o postrojke Verchnejaickoj pristani i o podgotovke pochoda k r. Ori. In:

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Allerdings hatte Kirilov seine Rechnung ohne die Baschkiren gemacht. Seine bekannt gewordenen Pläne und der Beginn seiner Expedition im Jahr 1735 führten unter den Baschkiren zum größten Aufstand des 18. Jahrhunderts. Fünf Jahre sollte er andauern. Von den 773 baschkirischen Tarchan-­Würdenträgern, die ­Kirilov erwartet hatte und die ihm und dem Zarenreich Orenburg errichten sollten, erschienen gerade einmal 100.1010 Die Stadt wurde zwar trotzdem gebaut. Doch Ivan Nepljuev sorgte als Nachfolger der ‚Orenburger Expedition‘ in den Folgejahren dafür, einem Teil der baschkirischen Tarchan-­Würdenträger den Titel aufgrund ihrer ‚Illoyalität‘ wieder zu entziehen.1011 Der Misserfolg, die Verleihung der Tarchan-­Würde bei den Baschkiren für koloniale Zwecke gewinnbringend einzusetzen, tat der Methode als solcher keinen Abbruch. Derselbe Nepljuev, der baschkirische Tarchan-­Titel wieder hatte entziehen lassen, pries gegenüber der Zentrale auch in den Folgejahren die Methode als elementar an, um als Nächstes die Kasachen der Kleinen Horde zu loyalisieren und zu disziplinieren. Die Kasachen mäßen der Ehrung eine „überaus große Bedeutung“ bei und würden nach einer Auszeichnung mit dem Tarchan-­Titel „ihren Dienst und ihre Treue mit ungleich viel größerem Eifer [als zuvor] ausleben“.1012 Auch der Gedanke, die Würdenverleihung in den Dienst kolonialer Politik zu stellen, wurde erneut aufgegriffen – ­dieses Mal verbunden mit der Idee, die Kasachen als Kriegsvolk gegen die Chinesen einzusetzen. Die kasachische Verlässlichkeit sei zwar noch nicht ausgemacht, so Generalmajor Aleksej Tevkelev und der Kollegienrat Petr Ryčkov in ihrem Schreiben von 1759 an das Kolleg für auswärtige Angelegenheiten. Aber mit Hilfe von Geldbelohnungen, Gehaltsversprechen,

MpiB Bd. 6, Nr. 3 (28. 2. 1735), 20 – 21, hier: 20, u. Anm. 663; A kmanov , Baškirija v sostave, 27 – 28; S teinwedel , Threads of Empire, 47, 272 Fn. 30; V el ’jaminov -­Z ernov , Istočniki dlja izučenija tarchanstva. 1010 D onnelly , The Russian Conquest of Bashkiria, 67 – 68; S teinwedel , Threads of Empire, 47. 1011 S teinwedel , Threads of Empire, 55. – Allerdings verloren die Tarchan-­Titel unter den Baschkiren ohnehin in der zweiten Hälfte des 18. Jh. ihre einstige Bedeutung, da baschkirische jasak-­ Zahlungen abgeschafft wurden und stattdessen alle ausnahmslos die Salzsteuer zu entrichten hatten. Als Ehrentitel blieb die Tarchan-­Würde jedoch noch bis ins 19. Jh. hinein erhalten. S teinwedel , Threads of Empire, 68. 1012 Predstavlenie načal’nika Orenburgskoj komissiii I. Nepljueva Prav. Senatu o prisvoenii ­tarchanskogo zvanija kazachskim staršinam Mladšego žuza. In: KRO Bd. 1, Nr. 110 (23. 5. 1743), 282 – 283. – Weitere Beispiele: Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Prav. Senatu o prisvoenii tarchanskogo zvanija batyru Džanybeku. In: KRO Bd. 1, Nr. 97 (27. 9. 1742), 253 – 254; Donesenie načal’nika Orenburgskoj komissii I. Nepljueva Prav. Senatu o položenii v Malom i Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 111 (8. 7. 1743), 283 – 286; Ukaz orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva o prisvoenii tarchanskogo zvanija biju U. Kaškinu. In: KRO Bd. 1, Nr. 180 (16. 7. 1749), 474. – Auch unter Katharina II. wurden noch Tarchan-­Würden verliehen: Gramota imp. Ekateriny II staršine alimulinskogo roda biju Karakubeku na tarchanskoe zvanie. In: KRO Bd. 2, Nr. 72 (nicht ­später als 16. 4. 1789), 132.

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lobpreisenden Schreiben der Zarin sowie mit der Verleihung der Tarchan-­Würde könnten sie vielleicht erfolgversprechend eingesetzt werden, „auf dass damit unter ihnen eine solch nützliche Staatsangelegenheit [wie die Militäreinsätze gegen die Chinesen] zur Gewohnheit werde (v obyčaj vvesti)“.1013 Die Verleihung der Tarchan-­Würde war gleichsam das Sahnehäubchen der russländischen Gabenpolitik und Gnadenkonzeption gegenüber den Steppenvölkern, blieb aber stets eingebettet in die allgemeine, direkte Austeilung von Gaben. Allerdings wirkte sich auch hier der im 18. Jahrhundert zunehmende Trend in der Zarenadministration aus, Gaben sehr gezielt einzusetzen bzw. an Bedingungen zu knüpfen. Als Kasachen der Kleinen und Mittleren Horde für ihre Eidleistung anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten von Zarin Elisabeth 1745 schriftlich eine „Belohnung“ (nagraždenie) in Form von Säbeln und anderem einforderten (und damit ihrer Form des Untertanenverständnisses deutlich Ausdruck verliehen), ließ sie der Orenburger Gouverneur Ivan Nepljuev spüren, wer die Regeln bestimmte: Der Eidesbrief (prisjažnoj list) fehle, der zusammen mit dem Siegel des Chans sowie seiner Ältesten die Voraussetzung sei, um ein ‚Zeichen der Güte‘ der Zarin zu erhalten: Erst s­ eien diese Briefe an die Zarin zu s­ chicken, dann erst könne von ihr eine Anweisung zur Belohnung erfolgen.1014 Andererseits konnte die russländische Seite sich die Zähne ausbeißen in dem Versuch, die Kasachen der Kleinen Horde zu bitten, irgendetwas zu tun, ohne dass diese Gaben der Zarin erhielten. Insofern kann gerade im russländisch-­kasachischen Verhältnis in der Gabenkultur von einer wechselseitigen Abhängigkeit gesprochen werden. Als beredtes Beispiel mag dienen, dass Nurali-­Chan in den 1750er Jahren nur bereit war, einen Überfall auf eine Karawane zu verhindern, wenn er eine Geldzahlung dafür erhielt.1015 Umgekehrt führte die Nichtausgabe von Geschenken des Orenburger Gouverneurs Afanasij Davydov 1759 dazu, dass sich die Kasachen unter Führung Nurali-­Chans hinfort weigerten, überhaupt noch nach Orenburg zu kommen, solange dieser dort noch Gouverneur war. Dies dauerte immerhin noch bis 1763 an.1016 1013 Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o položenie v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 576/577. – ­Tevkelev und Ryčkov verfassten ihr Schreiben, als sie nach Abgang von Ivan Nepljuev für kurze Zeit kommissarisch die Geschäfte des Orenburger Gouverneurs führten. Beide waren durch langjährige Erfahrungen im Umgang mit den Kasachen der Kleinen Horde zu Experten der russländisch-­kasachischen Beziehungen geworden. 1014 Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del o sobytijach v Malom i ­Srednem žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 127 (20. 1. 1745), 323 – 328. 1015 L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 177/178. 1016 Nurali-­Chan verlieh seiner Empörung über das in seinen Augen schäbige Verhaltens Davydovs auch in einem Schreiben vom 16. 8. 1761 an die Zarin Ausdruck. D obrosmyslov , Turgajskaja oblast, 129 – 130 (dort mit Archivbeleg); L apin , Dejatel’nost’ O. A. Igel’stroma, 161.

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Der bereits erwähnte Aleksej Tevkelev hatte schon im Dezember 1748 erkannt, welches Potential sich für die russländische Seite in der Gabenpolitik auftat: Nicht mehr nur ließen sich bei einem derart „ungezähmten“ und „leichtsinnigen Volk“ wie den Kasachen, die „imstande s­ eien, für Geschenke (dlja podarkov) alles zu tun“, einzelne Verhaltensweisen beeinflussen. Vielmehr könne man mit der Ausgabe einer jährlichen Brot- und Bargeldzuwendung (godovoe denežnoe i ­chlebnoe žalovan’e) den neu zu bestimmenden kasachischen Chan von der Gnade der Zarin abhängig machen. Und wenn die Kasachen erführen, dass ihr Chan regelmäßige Zuwendungen erhalte, dann werde sich die Bevölkerung an Ihre Kaiserliche Gnade (milost’) erinnern und fortan dem Chan gegenüber (von dem es seinerseits Zuwendungen erwarten werde) gehorsam sein.1017 Und wenn der Chan der Zarin treu ergeben sei und die kasachische Bevölkerung auf ihn höre, dann werde dies dem Interesse der Zarin überaus nützlich sein. Mit anderen Worten: Geschenke und Zuwendungen sollten nach Tevkelev ein Patronage-­Netzwerk aufbauen, das den Weg bahne, um sich dauerhaft und strukturell in das politische Herrschaftsmodell der Kleinen Horde einzumischen und d­ ieses gegenüber russländischen Interessen gefügig zu machen. Geschenke und Zuwendungen sollten als soft power ein politisches Entmachtungsverfahren einleiten, wie es in anderen imperialen Peripherien von einer gut ausgerüsteten und vor Ort präsenten umfangreichen russländischen Militärbürokratie vollzogen werden konnte.1018 Letztere hatte unter Peter I. das Amt des Hetmans bei den kleinrussischen Kosaken abgeschafft.1019 Russländische militärische ‚Strafexpeditionen‘ in die offenen Steppenregionen hatten hingegen selbst bei weitaus kleineren politischen Anliegen keinen Erfolg gebracht, wenn man einmal von der persönlichen Bereicherung durch die Plünderungen kasachischer Behausungen absieht. Zudem konnte von einer finanziell wie personell gut aufgestellten Orenburger Administration wenige Jahre nach ihrer Gründung noch keine Rede sein.1020 All diese Mängel 1017 Donesenie brigadira A. Tevkeleva Kollegii in. del s chodatajstvom o naznačenii žalovan’ja chanam Malogo i Srednego žuzov. In: KRO Bd. 1, Nr. 168 (24. 12. 1748), 436 – 438, hier 437. ­Tevkelev erwartete darüber hinaus, dass sich auch die übrigen kasachischen Horden, wenn sie von den Zuwendungen erführen, „als wirklich russländische Untertanen“ ansehen würden. 1018 Der Begriff soft power wird hier weiter gefasst als jener bei Nye. Nye geht es bei seiner Konzeption um die Attraktivität der (politischen) Kultur der USA im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jh., die jenseits von Zwang und Zahlungen liege. N ye , Soft Power. – Hier jedoch werden entsprechend dem frühneuzeitlichen Verständnis Zahlungen und die Gabenkultur in die soft power mit einbezogen und dem rein militärischen Vorgehen gegenübergestellt. 1019 K ohut , Ukraine; T airova -­I akovleva , Peter I’s Administrative Reforms in the Hetmanate. 1020 Klagen über eine zu geringe finanzielle wie personelle Ausstattung der Orenburger Gouvernementsadministration waren an der Tagesordnung. Zumal Gouverneur Volkov 1763 feststellte: „Schließlich ist es im Urteil sowohl der Kasachen als auch der Baschkiren das Wichtigste, dass der Gouverneur mit seiner äußeren Ausstattung imponieren kann.“ Donošėnie orgenburgskogo

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an der südöstlichen Flanke des Reiches galt es durch Geschenke und Zuwendungen auszugleichen.1021 Vor allem aber belebte die Konkurrenz das Geschäft. Versuche Qing-­Chinas, die Kasachen dem Zarenreich als Untertanen abzuwerben und für sich zu gewinnen, machten die russländische Seite in den 1750er und 1760er Jahren derart nervös, dass sie glaubten, nurmehr mit überaus großzügigen Geschenken und Bargeldzuwendungen die Gegenseite übertreffen und einen Wechsel der Untertanenschaft abwenden zu können.1022 Sultane erhielten Säbel mit Brokat und Inschriften mit einer persönlichen Widmung von Zarin Elisabeth, Älteste erhielten großzügige Summen, um sie für die militärische Abwehr gegen die Chinesen zu gewinnen, Würdenträgern wurden die gefragten Tarchan-­Titel verliehen.1023 Die Devise in der Anweisung des Kollegs für auswärtige Angelegenheiten an den Orenburger Gouverneur A. Davydov lautete: „besser, sich in Unkosten zu stürzen, als Sultan Ablaj [der Mittleren Horde der Kasachen] und die dortigen Ältesten zu verlieren“.1024 Auch im Nordkaukasus trieb die interimperiale Konkurrenz den Umfang der Gabenkultur nach oben. Hier war vor allem das Osmanische Reich gefährlich für die Bemühungen der russländischen Seite, die Kabardiner in der Untertanenschaft zu halten bzw. andere kaukasische Stämme wie die Avaren zum Eintritt zu bewegen.

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vice-­gubernatora D. V. Volkova imp. Ekaterine II ob osnovnych voprosach upravlenija ­Orenburgskoj guberniej. In: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 490 (26. 5. 1763), 444 – 452, hier 452. Zu ­diesem Vorgehen im Verbund mit weiteren Praktiken, die zur politischen Entmachtung der Kasachen der Kleinen Horde führte, siehe Kap. 4.5. Besonderen Anlass zur Sorge bot der Zarenadministration vor allem die Mittlere Horde der Kasachen, deren Führungsfigur Sultan Ablaj seit den 1750er Jahren in einen engen Kontakt mit Qing-­China eingetreten war. Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob otnošenii sultana Ablaja k Kitaju. In: KRO Bd. 1, Nr. 216 (16. 1. 1758), 549 – 550; Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva i general-­majora A. Tevkeleva Kollegii in. del o vazimootnošenijach Srednego žuza s Kitaem. In: KRO Bd. 1, Nr. 217 (29. 1. 1758), 550; Donesenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del ob otnošenii Kitaja k kazacham. In: KRO Bd. 1, Nr. 219 (19. 5. 1758), 552 – 561. – Nicht anders verhielten sich die Spanier, als sie in Louisiana und Westflorida mit den Briten um die indianischen Loyalitäten warben. Die Ausgaben für die Gabekultur erreichten dort 1794 10 Prozent des gesamten Budgets für die Administration. W eber , Bárbaros, 191. Donesenie orenburgskogo gubernatora I. Nepljueva Kollegii in. del ob otnošenii sultana Ablaja k Kitaju. In: KRO Bd. 1, Nr. 216 (29. 1. 1758), 550; Opredelenie Kollegii in. del o nagraždenii mennym oružiem sultanov Erali, Ajčuvaka i Ablaja. In: KRO Bd. 1, Nr. 218 (27. 3. 1758), 551; Predstavlenie general-­majora A. Tevkeleva i koll. Sovetnika P. Ryčkova Kollegii in. del o poloi v malom i Srednej Žuzach. In: KRO Bd. 1, Nr. 225 (22. 1. 1759), 571 – 591, hier 577; Donesenie orenburgskogo gubernatora A. Davydova Kollegii in. del o položenii del v Malom i Srednem Žusach. O sekretnom dele. In: KRO Bd. 1, Nr. 227 (8. 7. 1759), 594 – 595; Ukaz Kollegii in. del orenburgskomu gubernatoru A. Davydovu o neobchodimosti ukreplenija svjazej so Srednim žuzom. In: KRO Bd. 1, Nr. 236 (18. 7. 1760), 607 – 610. Ukaz Kollegii in. del orenburgskomu gubernatoru A. Davydovu o neobchodimosti ukreplenija svjazej so Srednim žuzom. In: KRO Bd. 1, Nr. 236 (18. 7. 1760), 607 – 610, hier 609.

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Der kaukasische Generalgouverneur Pavel Sergeevič Potemkin beauftragte Fürst Urakov ganz offen damit, durch Geschenke die Großzügigkeit der Zarin vor Augen zu führen und mit dem entsprechenden „Glanz der Zarin auf der ganzen Welt“ zu werben. Urakov gelang es immerhin, dass der avarische Uma-­Chan sich von der osmanischen Seite lossagte. Untertan des Russländischen Reiches wurde er damit jedoch noch nicht.1025 Der für die Gabenkultur an der südöstlichen und südlichen Peripherie notwendige Etat beim Kolleg für auswärtige Angelegenheiten musste von Jahr zu Jahr gesteigert werden.1026 Einen besonderen Sprung gab es Ende der 1780er Jahre, als die russländische Seite bei den Kasachen der Kleinen Horde vorübergehend die Chan-­Herrschaft aussetzte und versuchte, statt eines einzigen Herrschers ein Kollektiv kasachischer Ältester in die politische Führungspflicht zu nehmen.1027 Der amtierende Orenburger Gouverneur Osip Igel’strom empfand es 1789 als Ungerechtigkeit, für die Gabenkultur als ­solche sowie für ihre Steigerung im Besonderen aus den eigenen Reihen kritisiert zu werden: Großzügige Geschenke gegenüber den Kasachen zu verteilen, habe schließlich nicht er initiiert. Vielmehr sei damit bereits mit dem kasachischen Eintritt in die Untertanenschaft vor fast fünfzig Jahren begonnen worden. Die erhebliche Unkostensteigerung hänge unmittel­ bar mit der großen Anzahl kasachischer Würdenträger zusammen, die man in die politische Verantwortung genommen habe. Statt vorher mit nur einem Chan und zweien seiner Brüder müsse er jetzt mit vielen Ältesten im möglichst nahen Kontakt stehen, sie selbst oder ihre Gesandte ständig empfangen und sie bei ihrer Rückkehr in den Orden immer mit irgendetwas beschenken. Da sei es nur folgerichtig, dass die bislang angesetzte jährliche Geldsumme nicht mehr ausreichen könne.1028 Igel’stroms Kritiker Oberst Dmitrij Grankin, der wenige Jahre s­ päter das Kommando über die irregulären Orenburger Kosakeneinheiten übernehmen durfte, geißelte die Zustände hingegen fundamental: „Auch wenn manche der Kleinen Horde der treuen Untertanenschaft zugeneigt sind, so tun sie dies nicht aus reinem Herzen, sondern aus einer einzigen Genusssucht heraus, um große Geschenke zu bekommen 1025 Instrukcija kavkazskogo general-­guvernatora P. S. Potemkina kn. Urakovu, otpravlennomu k Uma-­ chanu avarskomu dlja privlečenija ego v poddanstvo Rossii. In: RDagO Bd. 2, Nr. 270 (12. 8. 1786), 197; Reskript Ekateriny II prezidentu Voennoj kollegii G. A. ­Potemkinu ob učreždenii vojska iz gorskich narodov, razmere žalovan’ja raznym činam, prisvoenii ­tarkovskomu šamchalu Bamatu stepeni tajnogo sovetnika i dr. In: RDagO Bd. 2, Nr. 272 (26. 8. 1786), 198 – 200, hier 198. 1026 Dieselbe Entwicklung spielte sich an der frontier des nördlichen Neuspaniens (des heutigen Mexikos) ab. Das Budget der Spanier für die Gabekultur, mit deren Hilfe sie ihre Machtposition an der frontier zu konsolidieren suchten, wuchs gerade im ausgehenden 18. Jh. ins Unüberschaubare. W eber , Bárbaros, 190 – 191. 1027 Vgl. Kap. 4.5. 1028 „Ob’’jasnenie“ bar. O. A. Igel’stroma imp. Ekaterine II v otvet na obvinenija, vydvinuye polk. D. A. Grankinym. In: MpiK SSR Nr. 33 (10. 5. 1789), 108 – 127, bes. 113 – 114.

Politische Kultur: Loyalität durch Gnade und Gabe

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(iz edinogo lakomstva, polučaja velikie podarki).“ Grankin erhob den Vorwurf, die kasachische Seite verfolge auf Anraten ihres muslimischen Geistlichen (Achun) sogar bewusst die Strategie vorzugeben, sich durch Geschenke von russländischer Seite leiten zu lassen. Getragen von der Auffassung, dass es sich bei den orthodoxen Russen um Christen handele, die als Ungläubige betrogen werden dürften, sei aus muslimischer Glaubenssicht gegen die Annahme der Geschenke der Christen nichts einzuwenden, auch wenn man ihren Erwartungen hinterher nicht entspreche.1029 Auch wenn diese mutmaßlichen Äußerungen des muslimischen Theologen anderweitig nicht belegt sind, so spiegelt das Zitat doch das Misstrauen wider, das sich in Teilen der russländischen imperialen Elite gegenüber der grenzenlosen Schenkerei breitmachte. Anlass für d­ ieses Misstrauen gab es mehr als genug. Weder die aufwendig inszenierte Investitur des ersten kasachischen Chans von der Zarin Gnaden noch die großzügigen finanziellen und materiellen Zuwendungen hatten zu anhaltenden Veränderungen im ‚Gehorsam‘ der kasachischen Untertanen geführt: Es gab auch weiterhin Überfälle auf russländische und ausländische Karawanen, russländische Siedlungen wurden geplündert und Gefangene anderer russländischer Untertanen (zumeist Kalmücken oder Baschkiren) trotz zahlreicher Anweisungen nicht herausgegeben bzw. ihre Aufenthaltsorte nicht verraten. Über Sultan Ablaj aus der Mittleren Horde erfuhr man, dass er neben seiner russländischen Untertanenschaft auch der chinesischen Seite einen Sohn als Geisel und Pfand der Untertanenschaft zu überstellen gedachte.1030 Die aus russländischer Sicht ungenügend wirkende Loyalisierungs- und Zivili­sierungskraft der zarischen Gabenkultur, auf die neben der räumlichen Zivilisie­rung mittels der Festungslinien, der Sesshaftigkeitsoffensiven sowie der ­Geiselhaltung große Hoffnungen geruht hatten, führte um die Jahrhundertwende allmählich zum Umdenken. Kanzler Voroncov überzeugte in seinem Schreiben von 1803 Zar ­Alexander I. davon, nicht länger zu laxen Bedingungen Zuwendungen an den Chan der Kleinen Horde der Kasachen, Ajčuvak, auszuzahlen. Zwar hatte sich Ajčuvak-­Chan massiv über die Heimsuchungen und Überfälle durch Baschkiren und russländische Grenztruppen auf kasachische Behausungen

1029 „Ob’’jasnenie“ polk. D. A. Grankina ob usilenii dviženija kazachov, bespoleznosti Pograničnogo suda i rasprav, bezdejstvii var. O. A. Igel’stroma i celesoobraznosti razdela Maloj Ordy. In: MpiK SSR Bd. IV , Nr. 32 (13. 12. 1788), 104 – 109; Zapiska D. Grankina, predstavlennaja knjazju G. Potemkinu, po povodu administrativnogo ustrojstva v Mladšem žuze. In: KRO Bd. 2, Nr. 70 (16. 12. 1788), 125. 1030 Aus kasachischer Sicht stellte sich die Lage freilich anders da. Danach reagierte die kasachische Seite bloß auf die russländische Vorgehensweise, die ständig neue Festungen und neue Festungslinien baute, den Nomaden fruchtbares Weideland nahm und ihnen Verbote erteilte, sich in Winterzeiten auf den „inneren“ Linienseiten aufzuhalten, was zu verschärftem Landmangel, Viehsterben und zu sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen für die Kleine Horde führte.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

beklagt und die Zarenregierung erteilte (nicht zum ersten Mal) ihren Grenztruppen ein striktes Verbot für weitere Überfälle. Doch rückte sie von ihrer vorherigen freigiebigen Zahlungspraxis ab und strich erstmals einem Chan als Strafe für seine „schwache Führung“ der Kasachen seine Pension. Erst wenn Ajčuvak-­Chan „die Verbrecher“ ausliefere, die Karawanen überfallen hätten, erst wenn die gestohlenen Waren zurückgegeben ­seien und eine schriftliche Entschuldigung an den Zaren für das Vergehen seiner ethnischen Gruppe vorliege, so die Bedingungen, werde man die Auszahlung finanzieller Zuwendungen an ihn fortsetzen. Kaiserliche Gnade gebe es nicht umsonst.1031 Der als Militärgouverneur in Orenburg eingesetzt Fürst Grigorij Semënovič Volkonskij ging ein Jahr s­ päter gegenüber Zar Alexander I. mit der überlieferten Gabenkultur noch schärfer ins Gericht. Seiner Auffassung nach solle man sämtliche Zuwendungen an kasachische Älteste vollständig abschaffen. Nur dem Chan und seinem Rat sei unter Auflagen ein Gehalt auszuzahlen. Ansonsten brächten nach seinen Beobachtungen die Zuwendungen „keinerlei wesentlichen Nutzen, sondern schüren nur bei denen, die keine bekommen, Neid und Unzufriedenheit“. Stattdessen sollten nurmehr präzise erwiesene Dienste mit Geldzahlungen belohnt werden. Damit könne man nicht nur unnütze Staatsausgaben kürzen. Darüber h­ inaus lasse sich so die allgemeine Unzufriedenheit unter den Kasachen verringern, die infolge von russländischen Belohnungen und Auszeichnungen unter denen entfacht würden, die leer ausgingen. Statt ausgiebiger Gabenkultur sei kasachischer Gewalt nur mit Gegengewalt zu begegnen, und Drohungen bewirkten so lange nichts, wie sie nicht umgesetzt würden.1032 Zwar leitete Militärgouverneur Volkonskij mit seinem Vorstoß noch nicht das Ende der Gabenkultur ein. Noch wurden Gaben nicht durch geregelte Geldbezüge ersetzt, wie dies im Zuge des Ausbaus der russländischen Administration ­später geschehen sollte. Doch wurde die Vergabe immer zielgerichteter und zweckgebundener. Gerade im Zuge der letzten Etappe der politischen Bezwingung der Kasachen spielte sie eine erhebliche Rolle. Nachdem die russländische Seite in den 1820er Jahren die kasachische Chan-­Herrschaft zunächst in der Kleinen und dann in der Mittleren Horde vollständig und endgültig abgeschafft hatte, kam Geschenken zur 1031 Doklad kanclera gr. A. R. Voroncova imp. Aleksandru I o soderžanii otveta chanu Ajčuvaku na ego žaloby o razorenii kazachov pograničnymi vojskami. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 64 (29. 6. 1803), 203 – 204. Ajčuvak wird in manchen Quellen auch Ajšuak genannt. – Nurali-­Chan war bereits 1784 auf die Bitte, ihm sein Jahresgehalt zu erhöhen, mitgeteilt worden, dass eine Erhöhung nur in Frage komme, wenn sich nach einem Jahr eine erfolgreiche Erfüllung seiner Pflichten abzeichne. PSZRI, Nr. 15991 (2. 5. 1784), 142 – 144, hier 142. 1032 „Mnenie“, predstavlennoe orenburgskim voennym gub-­rom kn. G. S. Volkonskim imp. ­Aleksandru I, o merach k prekraščeniju napadenij kazachov na liniju (…). In: MpiK SSR Bd. IV, Nr. 66 (19. 4. 1804), 217 – 224.

Politische Kultur: Loyalität durch Gnade und Gabe

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Befriedung aufgebrachter kasachischer Gemüter eine elementare Rolle zu.1033 Als beispielsweise eine kasachische Delegation 1830 in St. Petersburg als Minimum erbat, den Titel der ‚Ältesten Sultane‘ erblich machen zu können, darüber hinaus aber auch forderte, die Chan-­Würde wiedereinzuführen, überschüttete das Asiatische Komitee die Gäste nur so mit Geschenken, um sie trotz der Abweisung ihrer Bitten zufrieden nach Hause fahren zu lassen.1034

Zusammenfassung Für die russländische Strategie der allmählichen Durchdringung indigener Herrschaftsstrukturen, an deren Ende die Übernahme politischer Herrschaft und die vollständige Eingliederung in russländische administrative Strukturen standen, diente die Politik der Gabenkultur im 18. Jahrhundert als essentielles Hilfsmittel. Sie war eng in das russländische Konzept der Gnade sowie in die Strategie der Loyalisierung und ‚Zivilisierung‘ nicht-­russischer ethnischer Gruppen im Süden und Osten eingebunden. Immer stand sie in der Funktion, nach russländischen Vorstellungen Machtverhältnisse und Hierarchien zu etablieren oder zu festigen sowie Verhaltensweisen zu steuern. Gaben – einschließlich der Verleihung von Tarchan-­Titel – wurden mal als Anreize und Lockmittel, mal als unverhohlene Bestechung eingesetzt, mal wurde mit ihrem Entzug gedroht, mal sollte ein tatsächlich vollzogener Entzug als erzieherische Abschreckung wirken. Sie dienten der Gewinnung neuer Untertanen, der Abwehr interimperialer Konkurrenz und spielten eine herausragende Rolle dabei, indigene Eliten zur Akzeptanz ihrer institutionellen Entmachtung zu bewegen. Auch wenn diese Methoden schon in den Jahrhunderten zuvor praktiziert worden waren, erreichten sie im 18. Jahrhundert eine neue, eine koloniale Qualität. Seit der petri­ nischen Wende wurde beispielsweise die Vergabe von Tarchan-­Titeln dafür eingesetzt, um Indigene zu bewaffneten Einsätzen zu bewegen, in deren Verlauf die Tötung Einheimischer bewusst einkalkuliert, imperiale Expansion vorangetrieben und die Kräfte der Metropole geschont werden sollten. Russländische imperiale Herrschaft war im 18. Jahrhundert ohne die Gabenkultur nicht zu denken. Gegen Ende des Jahrhunderts ließ sich anhand der russländischen Diskussion um Sinn und Unsinn der unkonditionierten Gabe ein Wandel erkennen. Er wies in die Richtung einer Praxis, die zunehmend weniger an der individuell erteilten 1033 Zur Verhinderung der Wiederherstellung der Chan-­Struktur siehe R emenv /S uchich , Kazachskie deputacii, 132. 1034 Unter anderem erhielten die Delegierten goldene Medaillen mit dem Portrait der Zarin. R emnev / S uchich , Kazachskie deputacii, 135. – Zur Funktion der ‚Ältesten Sultane‘ siehe Kap. 4.5.

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Konzepte und Praktiken der Zivilisierung und Eingliederung

Gabe als an einheitlichen Regeln für alle orientiert war und sich damit dem Konzept von Gehaltsbezügen für fest umrissene Aufgaben annäherte. In d­ iesem ­Wandel spiegelte sich der allmähliche Eingliederungsprozess indigener Eliten in die allgemeinstaatliche Verwaltung wider. Auch wenn die Gabenkultur in ihrer Bedeutung zweifellos alle anderen Praktiken zur Loyalisierung und ‚Zivilisierung‘ indigener Eliten überragte, kam auch Huldigungsreisen anlässlich von Krönungsfeierlichkeiten und Audienzen am Hofe zum Empfang indigener Delegationen große Bedeutung zu. Diese Praktiken zur Stärkung von Loyalität wurden zu den Herrschaftszeiten der Zarinnen Anna und Elisabeth eingeführt, jedoch erst unter Katharina II. systematisch ausgebaut. Sie zeugen von einem stetig wachsenden Bewusstsein, über eine Vielfalt verschiedener ethnischer Gruppen zu herrschen, sowie von der Einsicht in die Notwendigkeit, sich mit Hilfe einer entsprechenden Herrschaftskultur darum zu bemühen, indigene Eliten für das Reichszentrum einzunehmen. Der Wunsch nach einer öffentlichen Repräsentation der imperialen Vielfalt setzte erst unter Katharina II. ein. Dieser drückte sich unter anderem darin aus, dass die Feierlichkeiten zur Aufnahme neuer ethnischer Gruppen in die zarische Untertanenschaft an den kaiserlichen Hof nach St. Petersburg verlegt wurden. Die These Richard Wortmans, wonach die Neuerungen als Folge des gewachsenen territorialen Bewusstseins zu lesen sind, bedarf einer gewichtigen Ergänzung:1035 Bereits für die Zarenadministration unter Anna und Elisabeth waren die Neuerungen ebenso Folge eines wachsenden zivilisatorischen Impetus. Für K ­ atharina II. spielte die erzieherische Komponente gegenüber dem gestiegenen territorialen Bewusstsein vermutlich die sogar noch größere Rolle. In jedem Fall waren die Grundlagen für die Zivilisierungsbemühungen, wie sie im 19. Jahrhundert mit Exkursionen nicht-­russischer Untertanen in die Hauptstadt und an den Zarenhof noch weit aufwendiger verfolgt wurden, bereits im 18. Jahrhundert gelegt. Vor allem aber entsprangen Gabenkultur, Huldigungsreisen und Delegationsempfänge im 18. wie im 19. Jahrhundert im Kern derselben Konzeption des aus dem Mittelalter tradierten russländischen Herrschafts- und Untertanenverständnisses. Danach standen nicht gegenseitige Rechte und Pflichten im Vordergrund. Im Zentrum stand vielmehr die bedingungslose Unterwerfung der Untertanen unter den Gnade oder Ungnade gewährenden, uneingeschränkt regierenden Herrscher. Dieser vermochte freilich nur dann nachhaltig seiner Herrschaft gegenüber nicht-­russischen Untertanen im Osten und Süden Geltung verleihen, wenn auf die Erteilung der Gnade auch die Gabe folgte.

1035 W ortman , Simvoly imperii, 411 – 412.

5. SC H LUSSBET R AC H T U NG

Wie lassen sich die Ergebnisse der Analyse russländischer imperialer Herrschaft im 18. Jahrhundert in die vergleichende Imperien- und Kolonialismusforschung einbetten? Bestätigt sich die zuweilen behauptete Auffassung, wonach das primär kontinentale Zarenreich mit seinem inklusiven Verständnis von Staat und Imperium einen Weg eingeschlagen habe, der sich mit keinem der europäischen Überseereiche vergleichen lasse?1 Die Antwort auf diese Frage wird die Grundlage für abschließende Überlegungen zur Spezifik russländischer imperialer Herrschaft bilden. Tatsächlich kann von einem exklusiven ‚Sonderweg‘ des Zarenreiches im 18. Jahrhundert keine Rede sein. Vielmehr offenbaren Diskurse und Praktiken der Zivilisierung, Akkulturierung und Assimilierung zahlreiche Parallelen zu Denkweisen und zum Verhalten anderer europäischer Kolonialreiche.2 Zugleich zeigt sich, dass im Bereich der Unterschiede die Linien nicht etwa z­ wischen dem Russländischen Reich auf der einen und allen anderen europäischen Imperien auf der anderen Seite verlaufen. Vielmehr lassen sich die europäischen Reiche in der Frage von Zivilisierungs- und Assimilierungspolitik grob insgesamt vier Kategorien zuordnen.3 Bei Typ 1 wurde wie in Frankreich bereits vor dem 18. Jahrhundert in der ‚Neuen Welt‘ sowohl eine Zivilisierungs- als auch eine Assimilierungspolitik entwickelt. Das Scheitern beider Bemühungen führte in ‚Neufrankreich‘ (Kanada) zwar noch im 17. Jahrhundert zu einer Abkehr von dieser Politik. Doch nutzten Teile der französischen kolonialen Elite das Aufklärungsnarrativ vom Fortschritt, 1 So zumindest die These mit Blick auf das Zarenreich im 19. Jh. bei B ecker , Russia Between East and West, 61. – Auch zahlreiche russische/russländische Zeitgenossen des 19. Jh. sahen das Zarenreich auf einem gänzlich anderen Pfad als alle anderen europäischen Kolonialreiche. ­Häufig stellten sie dabei ,Russlands‘ vermeintlich altruistische und philanthropische Mission einem Vorgehen ,westlicher‘ Imperien gegenüber, das auf rassischer Ideologie basiere. 2 Zum näheren Verständnis der voneinander zu unterscheidenden Begriffe der ‚Akkulturation‘ (Hinführung zu einer Kultur) und ‚Assimilation‘ (Aufgehen in einer Kultur) sowie den daraus abgeleiteten Termini, die den jeweiligen Prozess betonen (die ‚Akkulturierung‘ und die ‚Assimilierung‘), siehe die Einleitung. – Gute Ausgangspunkte für einen Vergleich bieten neben W eber , Bárbaros die Beiträge des Sammelbands von T ricoire (Hg.), Enlightened Colonialism, darunter jene von Maria Regina Celestino de Almeida zum portugiesischen, von Lía Quarleri zum spanischen, von Damien Tricoire zum französischen und von der Verfasserin dieser Arbeit zum russländischen Zivilisierungs- und Assimilierungsdiskurs im 18. Jh. – Grundsätzlich zum Vergleich von Zivilisierungsdiskursen und Praktiken B itterli , Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘; O sterhammel , Entdeckung und Eroberung; ders ., „The Great Work of Uplifting Mankind“; ders ., Europe, the „West“ and the Civilizing Mission; ders ., Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung; ders ., Die Entzauberung Asiens; P agden , Lords of all the World. 3 Die folgende Kategorisierung folgt derjenigen von T ricoire , Introduction, 10 – 12.

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Schlussbetrachtung

um im 18. Jahrhundert zum früheren Assimilationsideal zurückzukehren, jetzt eingebettet in ein so zuvor nicht gekanntes, universalistisch ausgestaltetes Narrativ.4 Andere Imperien wie Spanien und Portugal (Typ 2) entwickelten zwar vor dem 18. Jahrhundert bereits eine Zivilisierungspolitik, strebten jedoch noch keine Assimilation Indigener an.5 Hier wurden erst im späten 18. Jahrhundert Narrative der Aufklärung genutzt, um die bisherige, ausschließlich von Missionaren geführte Zivilisierungspolitik mit Konzepten zu verbinden, die sich aus der Fortschrittsidee ableiteten und auch auf Assimilation zielten. Das Russländische Reich gehört zum Typ 3 eines Imperiums, das vor dem 18. Jahrhundert weder eine Zivilisierungs- noch eine Assimilierungspolitik verfolgt hatte. Erst die Rezeption frühaufklärerischer Diskurse führte hier sowohl zum Entwurf von Zivilisierungsstrategien als auch zum Beginn eines Assimilierungsdiskurses, die vielerorts, wenngleich weder systematisch noch flächendeckend, ihren Niederschlag auch in Praktiken der russländischen Elite fanden. Großbritannien zählt zum Typ 4 der großen europäischen Imperien, wo die Rezeption von Aufklärungsnarrativen erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Folge hatte, dass Zivilisierungsstrategien entworfen wurden, die anschließend auch in eine Politik der Zivilisierung mündeten.6 Anders als die imperialen Eliten der übrigen großen europäischen Imperien dachte die britische Elite während des 18. Jahrhunderts jedoch zu keinem Zeitpunkt daran, ihre Zivilisierungsmission auch mit einer Politik der Akkulturierung oder sogar der Assimilierung zu kombinieren.7 Wenn es also keine ‚europäische Norm‘ für die Antwort auf die Frage gab, ob und wann die Kolonialreiche im 18. Jahrhundert Zivilisierungs- und Assimilierungsabsichten entwickelten, der Fall des Russländischen Reiches vielmehr als eine von unterschiedlichen europäischen Varianten bezeichnet werden kann, stellt sich die Frage, wo die russländischen Spezifika lagen. Mit einer Zuspitzung zentraler Ergebnisse dieser Arbeit soll daher im Folgenden der Frage nachgegangen werden, worin der Ursprung der russländischen Assimilationsidee zu sehen ist, in welchem Verhältnis diese zur russländischen Zivilisierungsabsicht stand, ­welchen Wandel sowohl Konzepte als auch Praktiken der Assimilierungs- und Zivilisierungspolitik im Laufe des 18. Jahrhunderts durchliefen und warum zumindest auf der diskursiven Ebene an beiden Konzepten nachhaltig festgehalten wurde.

4 Auch im späten 19. Jh. hielten Vertreter der französischen kolonialen Elite an der Assimilierungsidee fest. B etts , Assimilation and Association in French Colonial Theory. 5 P agden , Lords of all the World, 79 f. 6 F renz , A Race of Monsters, in: Fischer-­Tiné/Mann (Hg.), Colonialism as a Civilizing Mission. 7 Erst im 19. Jh. spielten Ideen der Akkulturation auch im British Empire eine Rolle, so im Memorandum von 1835, in dem Thomas Babington Macaulay die Anglisierung eines kleinen Teils der Bevölkerung Indiens forderte. M acaulay , Minute of 2 February 1835 on Indian Education, 729.

Schlussbetrachtung

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Wie im Falle französischer Herrschaft in ‚Neufrankreich‘ war auch im Falle des Zarenreiches der Ursprung der Fremdzivilisierungsidee eng verwoben mit dem Gedanken der Selbstzivilisierung. Im Falle Frankreichs waren Teile der Elite seit dem Humanismus zu der Ansicht gekommen, dass die Franzosen Nachfahren der Gallier und somit selbst einst Barbaren gewesen s­ eien, die von den Römern zivilisiert worden s­ eien. Erst die Imitation der Antike, so die Argumentation, habe die Franzosen in die Lage versetzt, wieder aufzuholen, sich erneut zu zivilisieren. Neben der weiterhin als erforderlich angesehenen Selbstzivilisierung, in deren Tradition sich die philo­ sophes der Aufklärung sahen, bot sich in ihren Augen gleichzeitig in Übersee die Chance, in die Fußstapfen Roms zu treten und den früheren unterlegenen Status insofern wettzumachen, als nun Franzosen selbst zivilisierend auf ‚noch gänzlich Wilde‘ einwirken konnten.8 In ähnlicher Weise resultierte auch im russländischen Fall die Fremdzivilisierung aus dem neuen Anspruch Peters I., das eigene Land zur Gruppe der ‚zivilisierten Völker‘ zu zählen. Dieser neue Status drückte sich unter anderem in der Überzeugung aus, jetzt auch Andere, die noch nicht dazugehörten, zivilisieren zu können, zu dürfen oder auch zu müssen. Und wie im Falle ‚Neufrankreichs‘ verband sich die Zivilisierungspolitik von Anfang an mit dem Assimilationsideal. Gleichzeitig zeigt der Seitenblick auf das Spanische und Portugiesische Reich, dass die Verbindung und das gleichzeitige Aufkommen eines Zivilisierungs- und Assimilationsideals keinesfalls selbstverständlich waren. Warum aber kam es zu dieser besonderen Verbindung im russländischen Fall? Und was genau wurde unter Assimilation im Zarenreich verstanden? Inwiefern kann bereits ab Anfang des 18. Jahrhunderts analog zu Diskursen und Praktiken der francisation des 17. Jahrhunderts von Diskursen und Praktiken einer Russifizierung gesprochen werden? Die Schlussbetrachtung eignet sich, um die Einzelbefunde der verschiedenen Kapitel zu diesen Fragen zusammenzuführen und mit ihnen abschließend der großen Frage nach dem Verhältnis von russländischem Imperium und der beginnenden Vision eines russischen Nationalstaates im 18. Jahrhundert nachzugehen. Analog zum Umgang mit den Begriffen ‚Imperium‘ und ‚Kolonialismus‘ in dieser Arbeit wird auch ‚Russifizierung‘ nicht als normativer Begriff verstanden. Die Arbeiten von John Keep, Frederick Starr und Edward Thaden aus den 1980er Jahren haben das damals vorherrschende, politisch geprägte Russifizierungsverständnis finnischer, jüdischer und polnischer Emigranten für die Forschung erfolgreich zurückgewiesen.9 Seit der analytischen Unterscheidung ­zwischen einem

8 M elzer , Colonizer or Colonized; T ricoire , The Enlightement and the Politics of Civilization, bes. 26 – 31; ders ., Der koloniale Traum, 345 – 346. 9 K eep , Imperial Russia, 197, 200; S tarr , Tsarist Governement, 3 – 5; T haden (Hg.), Russification in the Baltic Provinces and Finland; ders ., Russification in Tsarist Russia; ders ., Russia’s Western Borderlands; v . P istohlkurs , Literaturbericht. „Russifizierung“.

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Schlussbetrachtung

­ uellenbegriff, einem Begriff wissenschaftlicher Erkenntnis und einem Begriff Q der politischen Agitation besteht aus Sicht der historischen Forschung kein Zweifel mehr daran, dass von ‚Russifizierung‘ als einer systematisch und flächendeckend geplanten ‚Nationalitätenpolitik‘ der russländischen Regierung, die mit brutaler physischer Unterwerfung einhergegangen sei und das Ziel verfolgt habe, den Minderheiten ihre kulturelle Hegemonie aufzunötigen, weder für das 19. Jahrhundert und erst recht nicht für das 18. Jahrhundert die Rede sein kann.10 Vielmehr betonte die historische Forschung der letzten Dekaden wiederholt, mit welcher Differenziertheit das Phänomen zu betrachten ist und w ­ elche Vielschich11 tigkeit seine Semantik aufweist. Nachdem Edward Thaden mit seiner Unterscheidung z­ wischen einer ‚ungeplanten‘, einer ‚administrativen‘ und einer ‚kulturellen‘ Russifizierung bereits für eine hilfreiche Differenzierung gesorgt hatte, warnte Aleksej Miller in jüngerer Zeit davor, den Begriff der Russifizierung mit dieser Trilogie zu überdehnen.12 Das Verständnis von Russifizierung, das dieser Arbeit zu Grunde liegt, folgt nun Millers Vorschlag: Die Bezeichnung ‚Russifizierung‘ wird ausschließlich auf s­ olche Aktionen oder Strategien beschränkt, die das Bemühen beinhalteten, tatsächlich jemanden ‚zum Russen‘ zu machen und ihn damit in der angestammten Bevölkerung aufgehen zu lassen.13 Dies entspricht in der Trilogie von Edward Thaden dem Begriff der ‚kulturellen Russifizierung‘ und kann auch mit ‚aktiver Assimilierung‘ wiedergegeben werden. Hingegen wird die ‚ungeplante Russifizierung‘ Thadens im Folgenden als ‚freiwillige Assimilierung‘ bezeichnet, im Sinne des Ergebnisses kultureller Interaktion ohne staatlich begleitende Maßnahmen. Thadens Konzept der ‚administrativen Russifizierung‘ wird als kameralistisch begründete Strategie des Staatsausbaus verstanden, die darauf zielte, Grenzbereiche des Imperiums mit dem Reichszentrum rechtlich und institutionell ausschließlich aus dem Grunde zu vereinigen, um die Herrschaft auf einheitlichen Gesetzen und Regeln beruhen zu lassen, den Aufbau einer reichsweiten Bürokratie zu fördern und eine einheitliche Sprache in der Gouvernementsverwaltung als Lingua franca einsetzen zu können.14 Die für das 19. und frühe 20. Jahrhundert so wichtige Differenzierung z­ wischen den Termini obrusěnie/oбрусѢние (‚Russischwerdung‘, im Russischen geschrieben mit dem mittlerweile ersetzten Jat-­Zeichen) oder obrusět’’/obruset’ (‚zum Russen 10 P earson , Privileges, Rights and Russification, 88; K appeler , Rußland als Vielvölkerreich, bes. 224 – 229. 11 W eeks , Religion and Russification, 90; M iller , “Russifications”?; K appeler , The Ambiguities of Russification. 12 T haden , Russification in Tsarist Russia, 205 – 206; M iller , „Russifications“? 13 M iller , „Russifications“?, 129. 14 In ­diesem Sinne definierte Thaden den Begriff der ‚administrativen Russifizierung‘. T haden , Russification in Tsarist Russia, 206.

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werden‘) auf der einen und obrusenie (‚Russischmachung‘) oder obrusit’ (‚zum Russen machen‘, ‚russifizieren‘) auf der anderen Seite spielt dabei für das 18. Jahrhundert insofern keine Rolle, als in den Quellen der Zeit ausschließlich das Verb obrusět’’/obruset‘ verwendet wurde.15 Wie bereits die Einzelbefunde in der Arbeit zeigten, führt jedoch die Annahme in die Irre, aus der rein intransitiven Verbform (‚zum Russen werden‘) zu schließen, Assimilation sei im 18. Jahrhundert ausschließlich ungeplant oder freiwillig erfolgt, und es habe mithin keine Assimilierungsstrategie und erst recht keine Russifizierungspolitik der imperialen Elite gegeben.16 Die Ergebnisse der Arbeit verlangen vielmehr die Modifizierung bisheriger Annahmen zu den Anfängen erster Russifizierungsstrategien und Praktiken gegenüber nicht-­ christlichen ethnischen Gruppen im Süden und Osten des Reiches. Was aber verstand die russländische imperiale Elite des 18. Jahrhunderts überhaupt unter ‚Russe werden‘ oder ‚zum Russen machen‘?17 Das erste Problem bei der Suche nach einer Antwort ergibt sich aus der Abgrenzung z­ wischen ‚Russländer‘ und ‚Russe‘. Innerhalb der russländischen imperialen Elite entstammten viele selbst gar nicht russischen Familien, sondern waren beispielsweise tatarischer oder livländischer Herkunft. Dies scheint angesichts der sie alle verbindenden Nähe zu demselben sozialen und kulturellen Milieu sowie ihres gemeinsamen Dienstes im Namen des Zaren und seiner Regierung nicht als Problem angesehen worden zu sein.18 So entstammten alle höheren Funktionsträger dem Adel oder waren in den Adelsstand erhoben worden, waren mehrsprachig und gehörten entweder schon immer dem Christentum an oder waren spätestens zu Beginn ihrer Dienstzeit konvertiert. Es kann daher angenommen werden, dass es prinzipiell für das Anliegen der ‚Russifizierung‘ von bislang ‚nicht-­zivilisierten‘ Nicht-­Russen als ausreichend galt, wenn jemand zum ‚Russländer‘ wurde.19 15 Zur Differenzierung im 19. und 20. Jh. W eeks , Religion and Russification, 88; M iller , „Russifications“?, 129. 16 T haden , Russification in Tsarist Russia, 206. 17 Vertiefte Auseinandersetzungen zur schwierigen Frage ‚russischer Identität‘ im 18. Jh. bei R ­ ogger , National Consciousness in Eighteenth-­Century Russia, bes. 253 – 275; R aeff , Origins of the Russian Intelligentsia; C herniavsky , Russia; R othe , Religion und Kultur; B ushkovitch , The Formation of a National Consciousness; C racraft , Empire versus Nation; K appeler , B ­ emerkungen zur Nationsbildung; S lezkine , Naturalists versus Nations; P ogosjan , Rus’ i Rossija; T olz , Russia, bes. 156 – 161; M artin , The Invention of ‚Russianness‘; T rubačev , Russkij-­rossijskij; K ivelson / S uny , Russia’s Empires, 116 – 121. 18 Allerdings fehlen bislang noch Untersuchungen, die sich im Sinne der neuen Biographieforschung den wichtigen imperialen Akteuren der russländischen Elite des 18. Jh. widmen. Zur neuen Biographieforschung B ödeker , Biographie. – Bisherige Untersuchungen zu imperialen Akteuren im 18. Jh. legte vor allem vor L e D onne , Frontier Governors General 1772 – 1825 (I: 1999), (II: 2000), (III: 2000); ders ., Russian Governors General, 1775 – 1825. 19 Um das Bild an dieser Stelle nicht weiter zu verkomplizieren, wird auf die Unterscheidung ­zwischen einer allrussischen Identitätskonzeption, w ­ elche sowohl Groß- wie Kleinrussen umfasste,

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Was aber waren dafür die Minimalanforderungen? Elementare Bedeutung behielt das ganze Jahrhundert über die Anerkennung des aus dem 16. Jahrhundert stammenden dynastischen Reichspatriotismus mit dem Konzept der Autokratie (einschließlich der Auffassung von dem von Gott eingesetzten Zaren und seiner Dynastie), der Vorstellung von der territorialen Einheit des Imperiums sowie dem orthodoxen Glauben als der vorherrschenden Religion des Reiches.20 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildeten darüber hinaus die Konversion zur russisch-­ orthodoxen Religion, die Befolgung der orthodox geprägten Feste und Gebräuche sowie die Alphabetisierung auf Russisch wesentliche Merkmale, galten aber zugleich nie absolut. Wie die Arbeit zeigte, stieg ab den 1730er Jahren das Kriterium der Sesshaftigkeit und des Ackerbaus zu einem weiteren Merkmal auf, das ab der Mitte des 18. Jahrhunderts für die imperiale Elite zum mit Abstand wichtigsten Aspekt wurde. Die Beherrschung der russischen Sprache in Wort und Schrift, die Anpassung an russländische Umgangsformen, die Ernährung durch Brot (und andere Getreideprodukte), die Vergabe russischer Vornamen an die eigenen Kinder sowie schließlich das Einheiraten in russische Familien bildeten ergänzende, aber zugleich keine unabdingbaren Faktoren. Wieso aber kam es im Zarenreich, um zunächst zur Ursprungsfrage zurückzukehren, zu der keinesfalls selbstverständlichen Verbindung von Zivilisierungs- und Assimilierungsabsicht? Wie die Ausführungen zum Aufkommen des Paradigmas der Zivilisiertheit zeigen, entwickelten sich aus der Absicht Peters I., die Bevölkerung des russländischen Imperiums zu ‚zivilisieren‘, de facto zwei Zivilisierungsstrategien: Die eine ‚Zivilisierung‘ galt der russischen und russisch akkulturierten Bevölkerung und besonders der eigenen Elite (‚Selbstzivilisierung‘), die andere den ‚Fremdländern‘ (inozemcy), so die Bezeichnung für die nicht-­christlichen Untertanen des Reiches zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Auch wenn sich die Zivilisierungspolitik Peters I. vornehmlich in einer Christianisierungskampagne ausdrückte (und damit zum russisch-­orthodoxen Glauben, zu orthodoxen Gebräuchen und zur russischen Alphabetisierung zu führen suchte) und von seinen Nachfolgerinnen um ­solche Zivilisierungsstrategien erweitert wurden, die – wie zum Beispiel die Offensive zur Sesshaftigkeit und zur Einführung von Ackerbau – ebenfalls der russländischen Lebensweise entsprachen, hätten alle diese Ziele theoretisch noch Ausdruck einer ausschließlich auf Zivilisierung ausgerichteten Politik sein

und einer großrussischen, zu welcher die Ukrainer nicht gezählt wurden, verzichtet, da die Unterscheidung an dieser Stelle keine große Rolle spielt. P lokhy , The Two Russias of Teofan Prokopovyč, 334 – 338; ders ., The Origins of the Slavic Nations; T rubačev , Russkij-­rossijskij, 225 – 236. 20 Der Begriff und das Konzept des ‚dynastischen Reichspatriotismus‘ stammt von K appeler , Bemerkungen zur Nationsbildung der Russen, 29 – 30.

Schlussbetrachtung

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können. Sie hätten noch nicht zwangsläufig bedeuten müssen, dass mit ihnen auch die Assimilation und mithin die Vermischung der Nicht-­Russen des Südens und Ostens mit der russländischen Bevölkerung beabsichtigt wurde. Die tieferen Gründe dafür, dass als Maßstab für jeglichen Zivilisierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts zumindest mittel- und langfristig nur die Angleichung an die Lebensweise und möglichst noch die Vermischung mit der russländischen Bevölkerung zur Debatte standen, liegen in der Frühgeschichte des Imperiums. Sie sind in der Art und Weise zu finden, in der sich das De-­facto-­Imperium seit dem 16. Jahrhundert herausbildete, und in der Weise, wie sich diese Entstehung im russländischen Konzept von Untertanenschaft niederschlug. Wie im zweiten Kapitel dargelegt wurde, war es dasselbe Konzept von Untertanenschaft mit dem Treueid als seinem konstitutiven Element, das genauso beim ‚Sammeln der Länder der Kiever Rus’‘ durch das Großfürstentum Moskau zum Tragen kam wie bei der Inkorporation der kulturell fremden Gruppen des Kazaner Chanats und bei allen weiteren Inkorporationen der folgenden Jahrhunderte. Zwischen ‚natürlichen Untertanen‘ (prirodnye poddanye), heimisch gewordenen Russländern und nicht-­ christlichen ethnischen Gruppen, die im imperialen Kontext inkorporiert wurden und noch zu Russländern werden sollten oder bereits Kinder aus ‚Mischehen‘ waren, wurde begrifflich weder mit Blick auf ihre personengebundene Untertanenschaft noch mit Blick auf die im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Staatsangehörigkeit gewandelte Untertanenschaft unterschieden. Es gab zwar mit den Begriffen der ‚Fremdgläubigen‘ (inovercy) und der ‚Neugetauften‘ (novokreščennye) Kategorien, die im 18. Jahrhundert vor allem eine soziale und kulturelle, nur vereinzelt auch rechtliche Differenz zur angestammten Bevölkerung auf religiöser wie sozialer Ebene diskursiv und in einer Reihe von Verordnungen festschrieben. Ihr konnten die so Benannten sogar oft auch dann nicht entkommen, wenn sie sich im Falle der ‚Fremdgläubigen‘ taufen ließen. Stattdessen wurden sie von staatlicher Seite widersinnig als ‚getaufte Fremdgläubige‘ bezeichnet (novokreščennye inovercy).21 Selbst in zweiter oder dritter Generation blieb es sogar noch häufig bei der Bezeichnung als ‚Neugetaufte‘.22 Doch handelte es sich bei diesen Kategorien nicht um einen jeweils rechtlich 21 Imennyj, dannyj Senatu. O otpravlenii Archimandrita s nekotorym čislom Svjaščennoslužitelej v raznyja Gubernii dlja obučenija novokreščenych Christianskomu zakonu i o preimuščestvach novoobraščennym darovannych. In: PSRZI Bd. 11, Nr. 8236 (11. 9. 1740), 248 – 256. 22 Unter ihnen waren auch s­ olche getaufte ehemalige Muslime oder Angehörige von ‚Naturreligionen‘, die ihre Verbindungen zu früheren Glaubensgenossen beibehielten und mindestens zum Teil als Kryptomuslime oder Kryptoanimisten bezeichnet werden können. Vgl. R einkowski , Krypto­juden und Kryptochristen im Islam; K appeler , Die „vergessenen Muslime“, 32. – Zur Kategorie der ‚Neugetauften‘ K appeler , Kak klassificirovali; W erth , At the Margins of Orthodoxy, bes. 127; K hodarkovsky , Four Degrees of Separation.

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Schlussbetrachtung

klar definierten oder gar durch Regeln der Abstammung dauerhaft fixierten Status, wie dies beim rassisch definierten Kastensystem mit Mestizos, Albinos und Mulatten in ‚Neuspanien‘ (Mexiko) der Fall war. Es gab Möglichkeiten, wenn auch intransparente und uneinheitliche, die Kategorie der ‚Fremdgläubigen‘ oder der ‚Neugetauften‘ zu verlassen, so beispielsweise im Falle von Tataren, die als ‚Neugetaufte‘ in der zweiten Generation ihre Assimilation durch die Vergabe russischer Vornamen an ihre Kinder ‚bewiesen‘ hatten.23 Trotz dieser Einschränkung war insofern bereits in den Entstehungsbedingungen des Imperiums die unauflösliche Verflechtung eines russländischen Einheitsstaates mit der eines Vielvölkerreiches angelegt. Doch diese Tradition der Zusammenführung von Russen und Nicht-­Russen, wie sie sich in der einheitlichen Form von Untertanenschaft des De-­facto-­Imperiums sowie in der damit verbundenen Tradition der Kooptation fremder Eliten in die russländische Elite ausdrückte, war nicht der einzige Grund, der die Assimilation Anfang des 18. Jahrhunderts als allein denkbares Ziel von Zivilisierung nahelegte. Wie Serhii Plokhy zeigen konnte, wurde Anfang des 18. Jahrhunderts, als Hetman Ivan Mazepa sich von Peter I. abwandte und der Zar die übrige ukrainische Elite für die Einheit mit dem Moskauer Staat zu gewinnen suchte, das Konzept eines ethnisch und religiös homogenen ‚ruthenischen Volkes‘, wie es von der Kiever gebildeten Elite im 17. Jahrhundert zuvor konstruiert worden war, auf das Zarenreich übertragen. Dieser Transfer spiegelte sich diskursiv wie begrifflich in dem von Peter I. 1708 erstmals verwandten Terminus ‚Vaterland‘ (otečestvo) wider. Mit ­diesem Begriff verknüpften der Zar und sein Gefolge unauflöslich das Konzept vom russländischen Monarchen mit den Konzepten des russländischen Staates in seiner ganzen imperialen Ausdehnung (gosudarstvo, deržava) und mit dem innerhalb d­ ieses Territoriums lebenden Staatsvolk (narod).24 Dieses proto-­nationale Konzept, das zunächst primär dazu dienen sollte, die Groß- und Kleinrussen sowie insbesondere die Kiever und Moskauer Eliten zu verbinden, gab die Zielvorstellung des Zaren vom Russländischen Reich wieder: ein durch Eroberungen erweiterter Einheitsstaat. Infolgedessen konnte die Zivilisierungspolitik, wie sie Peter I. anstieß, um die in seiner Wahrnehmung kulturell zurückgebliebenen nicht-­christlichen Untertanen ‚aus der Dunkelheit ans Licht‘ zu führen, auch nur mit der Vorstellung verbunden sein, sie an die Lebensweise der mehrheitlich russisch geprägten Bevölkerung heranzuführen, sie mittel- und langfristig mit ihr zu vermischen und mithin den Einheitsstaat auszubauen. 23 Senatskij. O sbore rekrut s Tatar, kotorye krestilis’ do prežnej perepisi i napisany v onuju i po novoj revizii s novoroždennymi ot nich det’mi, Russkimi imenami. In: PSZRI Bd. 15, Nr. 11099 (11. 9. 1760), 506 – 507. 24 P lokhy , The Origins of the Slavic Nations, 270 – 289.

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Ersten Niederschlag fand die Verknüpfung von Zivilisierungs- und Assimilierungsabsichten bei Fedor Stepanovič Saltykov, einem engen Vertrauten des Zaren. Saltykov, polyglotter Abkömmling einer alten Bojarenfamilie und mit diversen Aufträgen von Peter I. betraut, legte dem Zaren 1713 seine ehrgeizigen Reformpläne vor, in denen er dafür plädierte, nicht-­christliche Mordwinen, Čeremissen, Votjaken und Čuvašen an „jegliche Zivilisiertheit in den Umgangsformen“ zu gewöhnen (vsjakoj politike v obchoždenija), sie „in einen solchen Zustand wie auch unsere Völker zu bringen“ (privest’ v takoe sostojanie kak i naši narody), sie dann auch in den russisch-­orthodoxen Glauben einzuführen, auf dass sie am Ende „mit unserem Volk verschmolzen sein werden“ (čto one voploščenny byli s našim narodom vmeste). Dafür ­seien Nichtgetaufte in die Häuser von ehrwürdigen Herren und Richtern zu geben, damit sie dort im direkten Kontakt die (russländische) Umgangsweise und Ordnung erlebten und sich an diese gewöhnten. Erstmals findet sich bei Saltykov der Neologismus obruset’ (‚Russisch werden‘), unter dem der Bojare vorerst noch eine Kombination aus Zivilisierung und Akkulturation verstand.25 Die Reihenfolge des von Saltykov langfristig angestrebten Assimilationsprozesses ähnelte dabei verblüffend derjenigen, die sich die französische koloniale Elite im 17. Jahrhundert in ‚Neufrankreich‘ vorstellte: Wie im Falle der autochthonen Bevölkerung ‚Neufrankreichs‘ galt es auch bei Saltykov, die Indigenen erst zu ‚russifizieren‘ (bei dem Terminus ‚französisieren‘ handelte es sich ebenfalls um einen zeitgenössischen Quellenbegriff), was sowohl als Zivilisierung als auch als Akkulturierung verstanden wurde, dann zu christianisieren und sie im letzten Schritt vollständig in der herrschenden Nation einheiraten und damit in ihr aufgehen zu lassen.26 Unklar ist, warum Saltykov zunächst noch von „unseren Völkern“ im Plural sprach, an die heranzuführen sei, während der dritte Schritt der „Verschmelzung“ nur noch mit „unserem Volk“ im Singular erfolgen solle. Möglicherweise stand an dieser Stelle die in den Quellen sonst selten zu findende Unterscheidung ­zwischen einer Akkulturation an die ‚russländischen Völker‘ und die Assimilation an das ‚russische Volk‘ dahinter.

25 So reicht für Saltykov die Vorstellung aus, dass ‚fremdländische‘ Untertanen „nicht mehr allzu wüst“ (ne očen diki) und „genauso Russisch geworden sind“ (i obruseli) wie die Mordwinen, Čeremissen, Votjaken und Čuvašen, um sie als Soldaten zur „Unterstützung und zur Auffüllung unseres Volkes (k svoemu narodu)“ zu ­nutzen. Daraus geht hervor, dass obruset’ noch nicht gleichgesetzt wird mit einem Aufgehen in dem von ihm vorgestellten ‚russischen Volk‘. S altykov , Propozicij [1713], 27. 26 S altykov , Propozicij, 28.  – Zu der angestrebten Drei-­Stadien-­Abfolge in Neufrankreich ­B elmessous , Assimilation and Racialism, 330 – 332, zum Quellenbegriff franciser 323; ­S tanley , The Policy of ‚Francisation‘; A xtell , The Invasion Within, bes. 23 – 70, 131; P agden , Lords of all the World, Kap. 5.

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Schlussbetrachtung

Saltykovs Idee, für die Zivilisierung und Assimilierung der Nicht-­Russen die angestammte russländische Bevölkerung in die Pflicht zu nehmen, sollte in den folgenden Jahrzehnten immer wieder, auch von zarischer Seite, aufgegriffen werden und zeigt, dass von Anfang an die angestammte Bevölkerung unabhängig von ihrem in der ‚Selbstzivilisierung‘ erreichten Status als geeignete Kultur- und Zivilisierungsträger für nicht-­russische Untertanen angesehen wurde.27 Eine weit radikalere Vorgehensweise in der Russifizierung schwebte dem Kaufmann, Gewerbetreibenden und politischem Denker Ivan T. Posoškov vor. Es ist unklar, inwieweit seine Vorschläge Peter I. bekannt waren.28 Unabhängig davon sind seine Ausführungen jedoch aufschlussreich, da sie zeigen, wie sich das neue Ideal der Russifizierung in der petrinischen Ära verbreitete. Posoškov griff ­Saltykovs Neologismus obrusět’’ auf und verwandte ihn erstmals im Kontext aktiver Assimilierungsabsichten. So forderte er in seinem 1719 veröffentlichten Traktat nicht nur die Christianisierung sämtlicher ‚Heiden‘ im Reich. Darüber hinaus plädierte er dafür, nicht-­russischen Eltern, besonders im Falle zahlenmäßig kleiner ethnischer Gruppen, ihre Kinder gewaltsam wegzunehmen, sie in die Dienste von „Russen“ zu stellen und Erwachsenen wie Kindern den Gebrauch ihrer Muttersprache zu verbieten, um sie so alle „Russisch“ werden zu lassen (i takovà […] vsi obrusêjut’’).29 Der Gedanke, die Kinder den Eltern wegzunehmen, sie zur Taufe zu zwingen und sie auf russländische Art zu sozialisieren, sollte dabei nur einige Jahrzehnte unter Sil’vestr (Glovatskij), dem Leiter des Kontors für Neugetaufte sowie späterem Metropoliten von Sibirien und Tobol’sk, in praktische Politik umgesetzt werden.30 Auch das im dritten Kapitel dargelegte Bemühen seit den 1730er Jahren, die 27 Siehe dazu die Beispiele weiter unten. – Auch von A. P. Volynskij, dem von Peter I. eingesetzten Gouverneur von Astrachan, war bekannt, dass er nicht nur die Christianisierung der Kalmücken, sondern auch ihre Assimilierung an die russländische Bevölkerung anstrebte. Bei Volynskij blieb allerdings unklar, auf w ­ elche Weise die angestammte Bevölkerung neben der allgemeinen Rolle, als Vorbild zu dienen, zur ‚Zivilisierung‘ und wie zur Assimilierung beitragen sollte. V itevskij , I. I. Nepljuev i Orenburgskij kraj, Bd. 2, 504. 28 C hambre , Posoškov et le mercantilisme, 336. 29 An ­diesem Beispiel zeigt sich, dass allein ausgehend von der Tatsache, dass im 18. Jahrhundert nur der Terminus obrusêt’ (,Russisch werden‘) und noch nicht der Ausdruck obrusit’ (‚Russisch machen‘) gebräuchlich war, noch keine Rückschlusse auf den Charakter der vorgestellten Assimilierung gezogen werden konnten. Vielmehr zeigt sich, dass obruset’ trotz der intransitiven Form auch so in einem Sprachfeld angesiedelt werden konnte, dass es der Bedeutung des späteren obrusit’ gleichkam. Daher kommt es zur Klärung der jeweiligen Semantik darauf an, den Kontext und damit die Gesamtintention des Autors einzubeziehen. P osoškov , Zaveščanie otečeskoe [1719], 322 – 327, Zitat von 326. 30 Sil’vestr (Glovatskij) vollzog auf diese Weise den staatlichen Missionierungsauftrag, als er von 1742 bis 1749 Leiter des Kontors für Neugetaufte und von 1749 bis 1755 Metropolit von Sibirien und Tobol’sk war. G lazik , Die Islammission der russisch-­orthodoxen ­Kirche, 89 – 90.

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Kinder indigener Würdenträger, die als Geisel auf russländischen Festungen oder in sibirischen Holzhütten einsaßen, für die Ziele der Zivilisierung, Akkulturation oder Assimilation zu n­ utzen, kann in diese Denktradition gestellt werden. Aktive Assimilierungsabsichten von Peter I. selbst sind dagegen trotz der Einführung des ‚Vaterland‘-Konzeptes nicht belegt. Er wird mit dem Neologismus obruset’ sicher vertraut gewesen sein, doch fehlen Quellen, in denen er von dem Begriff Gebrauch machte. Im Vordergrund standen für ihn die Zivilisierungs­ absichten. Bei ihnen lässt sich während seiner Regierungszeit insofern ein Wandel beobachten, als er nach der Übernahme des ‚Vaterland‘-Konzeptes von 1708 deutlich stärker als zuvor den Aspekt der ‚Fremdzivilisierung‘ zu akzentuieren suchte, indem er die Zielgruppen seiner Zivilisierung ethnisch konnotierte: Ging es ihm 1700 noch allgemein darum, „in der Blindheit des Götzendienstes verstockte Menschen“ und „Seelen“ aus der „satanischen Finsternis“ zu holen 31, so wurden für dasselbe Anliegen ab 1709/1710 präzise benannte, einzelne ethnische Gruppen wie die Ostjaken, Tataren, Wogulen und Jakuten aufgeführt. Es ist zu vermuten, dass dieser Wandel der zarischen Anweisungen in einem Zusammenhang mit der Übernahme des homogenisierenden Konzepts vom ‚Vaterland‘ stand: Der Blick des Zaren für die bestehende imperiale Vielfalt und mithin für die Andersartigkeit und ‚Unzulänglichkeit‘ einzelner Gruppen mit nicht-­russischer (und vor allem nicht-­christlicher) Herkunft hatte sich ganz offensichtlich für ihn geschärft. Doch ob mit oder ohne artikulierte Assimilierungsabsicht – erst der von Peter I. eingeführte interventionistische und auf Langfristigkeit angelegte transformative Ansatz imperialer Politik veränderte das bislang Denk- und Sagbare. Erst die petrinische Herrschaftszeit brachte Peters Zeitgenossen sowie kommende Generationen darauf, Strategien der Zivilisierung mit Absichten der nicht minder interventionistisch und dauerhaft transformativ vorgestellten Assimilation oder zumindest Akkulturation zusammenzudenken und zu versuchen, diese in praktische Politik umzusetzen. Einer dieser Zeitgenossen Peters I. war Oberst Andrej Ivanovič Zmeev, der einige Jahre nach Peters Tod als Kommandant in der für getaufte Kalmücken gegründeten Stadt Stavropol’ Ende der 1730er Jahre dem Kolleg für auswärtige Angelegenheiten die Strategie vorlegte, wie die Kalmücken über die Christianisierung hinaus sowohl zivilisiert als auch assimiliert werden könnten. Eine Gruppe „russischer“ Bauern und raznočincy s­ eien mitten unter den Kalmücken anzusiedeln, um die Kalmücken zur Heumahd, zum Ackerbau und zur Errichtung eigener Häuser anzuregen. Und dann könne man erreichen, „dass die Kalmücken bei Russen einheirateten und Russen Kalmücken zur Frau nähmen und auf diese Weise sie [die

31 Kursivsetzung von R. V.

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Schlussbetrachtung

Kalmücken] sich mit der Russländischen Nation vermischten (i tem mešat’ ich s Rossijskoju nacieju)“.32 Im Gegensatz zur Reihenfolge bei Saltykov war hier die Taufe an die erste Stelle gerückt und stand damit vor der Akkulturation in Form des Haus- und Ackerbaus als zweitem Schritt sowie der „Vermischung“ als dritter Stufe der Assimilierung. Auffällig war an dieser Initiative zur Assimilierung, dass sie nicht von der Zentrale an die Peripherie adressiert, sondern umgekehrt von der Peripherie an die Zentrale herangetragen wurde.33 Zudem erschien das Vermischungsziel als solches nicht weiter erklärungsbedürftig. Daran wird deutlich, dass die erst drei Jahrzehnte zuvor erstmals formulierte Vision aktiver Assimilierungspolitik als so selbstverständliches Ziel angesehen wurde, dass es dazu weder einer Anweisung ‚von oben‘ noch eines ausgefeilten Strategievorschlages ‚von unten‘ bedurfte. Vielmehr wurde das Ziel von allen geteilt, so auch von Zarin Anna. Sie selbst wies 1740 den Senat an, bei der Taufe von Kindern, deren Eltern ‚Neugetaufte‘ waren, „alteingesessene Rus(s)en“ (starinnye Ruskie ljudi) als Paten und Patinnen (vospriemniki, vospriemnicy) einzusetzen, die nicht nur die Kinder in die christlichen Gebräuche eingewöhnen, sondern auch darauf achten sollten, dass sie Russen heirateten (čtob novokreščennye s Russkimi bračilis).34 Erst mit den Überlegungen des herausragenden Universalgelehrten und Staatsmannes Vasilij Tatiščev, der seinerseits Gedanken der europäischen Aufklärung aufgriff, öffnete sich mit Blick auf die Assimilationsstrategie eine zweite Option des Denk- und Sagbaren.35 Der Wissenschaftler, der zeitweise auch die ‚Orenburger Expedition‘ leitete, schuf mit seinen Schriften in den 1730er Jahren einen neuen gedanklichen Horizont und nahm vorweg, was Zarin Katharina II. rund dreißig Jahre ­später zur Grundmaxime erklären sollte: Wie Peter I. sahen Tatiščev und ­später Katharina  II . in der Zugehörigkeit zum Christentum zwar einen wichtigen Wert, der auch weiterhin zu Bildung und gesitteter Lebensweise verhalf. Für Tatiščev sowie s­ päter für die Zarin stand bereits jetzt aber die Bildung an sich im Zentrum des Interesses, herausgelöst aus ihrer früheren Verbindung mit dem Christentum. Sollten gemäß der Vorschläge von Ivan Posoškov noch ungetaufte Kinder aus den Haushalten ihrer nicht-­christlichen Eltern zum Zwecke der Christianisierung entfernt werden, so machte Tatiščev den Vorschlag, die Kinder der 32 Rezoljucija Kabineta na doklad Kollegii Inostrannych del. O poselenii žitel’stvujuščich v ­Simbirskom uezde raznočincov pri Stavropole meždu kreščenymi Kalmykami. In: PSZRI Bd. 11, Nr. 8393 (6. 6. 1741), 434 – 436, hier 435. 33 Wenig s­ päter billigte das Oberste Kabinett die Vorschläge Zmeevs und Tatiščevs. Ebd. 34 Imennyj, dannyj Senatu. Ob otpravlenii Archimandrita s nekotorym čislom Svjaščennoslužitelej v raznyja Gubernii dlja obučenija novokreščenych Christianskomu zakonu i o preimuščestvach novoobraščennym darovannych. In: PSRZI Bd. 11, Nr. 8236 (11. 9. 1740), 248 – 256, hier 250 – 251. 35 L andwehr , Geschichte des Sagbaren.

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besten turkstämmigen Aristokraten (Mirza) zum Zwecke der russischen Alphabetisierung aus ihren Elternhäusern herauszunehmen.36 Der interventionistische und transformative Ansatz war der Gleiche. Religiöse Vielfalt aber betrachtete Tatiščev nicht mehr als Problem an sich; von ihr sah er grundsätzlich keine Gefahr für das Land ausgehen.37 Zwar blieben auch für ihn die Annahme der russländischen Lebensrituale, des russisch-­orthodoxen Glaubens, der Kleidung und der ­Sitten durch die nicht-­russischen ethnischen Gruppen wünschenswert. Doch das Ziel der Assimilation war bei ihm nur noch langfristig angedacht. Vorerst galt es, eine Zivilisierung auf dem Wege der Sesshaftmachung, der Einführung „wohlgeordneten Lebens“ und der Schreib- und Lesefähigkeiten auf Russisch zu erreichen. Zivilisierung und Akkulturierung hatten klar den Vorrang vor einer Politik der Assimilierung erhalten.38 Mit dieser neuen Denkweise eröffnete Tatiščev die Option, das russländische Imperium zumindest kurz- und mittelfristig nicht länger ausschließlich mit der Zielvorstellung eines homogenen Einheitsstaates zu betrachten. Vielmehr entstand mit seinen Ideen die Möglichkeit, mit den (Groß-)Russen als größter und herrschender ethnischer Gruppe das Imperium als eine Ansammlung verschiedener, wenngleich in Bildung und Lebensweise zu akkulturierender ethnischer Gruppen und mithin als eine Einheit zu begreifen, die in erster Linie politisch definiert wurde und durch möglichst einheitliche Gesetze und eine starke Zentrale zusammenzuhalten war. Bekanntermaßen sollte Zarin Katharina II. aus eben dieser Haltung ihre Politik des religiösen Pragmatismus erwachsen lassen. Sie beendete mit dem neu eingeführten Prinzip der Duldung fremder Religionen nicht nur weitestgehend die staatliche Missionierungskampagne. Vor allem machte sie mit der Indienstnahme islamischer Geistlicher tatarischer Herkunft für die ‚Zivilisierung‘ der Kasachen deutlich, dass sie, wie schon Tatiščev, bereit war, ihrer Vorstellung von Zivilisierung die uneingeschränkte Priorität vor dem Ziel der Assimilation einzuräumen.39 Doch gerade mit Blick auf die katharinäische Ära ist z­ wischen Diskurs und politischer Praxis zu unterscheiden. Auch unter ihrer Herrschaft nämlich brach der Diskurs aus der petrinischen Ära, der mit der Zielvorstellung des homogenen Einheitsstaates verbunden war, nicht vollständig ab. Vielmehr existierte der frühere Diskurs fortan parallel zu jenem Konzept von Untertanenschaft, das primär 36 T oropicyn , V. N. Tatiščev, 250; S osenkov , Nacional’naja politika. 37 T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733]. In: Izbrannye proizvedenija, 87. 38 T atiščev , Razgovor dvuch pisatelej o pol’ze nauki i učiliščach [1733], in: Izbrannye proizvedenija, 87 – 92, 103 – 104. 39 Imennyj, dannyj pravjaščemu dolžnost’ General-­Gubernatora Simbirskago i Ufimskago Barnu Igel’stromu. O snabženii raznych rodov Kirgizskich Mullami. In: PSZRI Bd. 22, Nr. 16.292 (27. 11. 1785), 493 – 495, hier 494.

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politisch orientiert war und über administrative Vereinheitlichung und eine Politik der ‚Zivilisierung‘ in erster Linie auf eine Akkulturation der Nicht-­Russen im Süden und Osten setzte. Diese Kontinuität auf der diskursiven Ebene zeigte sich in abgeschwächter Form bei der Zarin selbst. Wie bereits von Robert Crews, Elena N. Marasinova, Paul Werth und anderen umfassend gezeigt wurde, ging es Katharina II. mit ihrer Religionspolitik nicht um das Prinzip von Gewissensfreiheit.40 Ein Abfall vom russisch-­orthodoxen Glauben in den Islam wurde weiterhin mit der Todesstrafe geahndet. Nur der Russisch-­Orthodoxen ­Kirche war die Missionierung erlaubt. Auch betrachtete die Zarin Nicht-­Christen als „verirrte Schafe“ (zabludiščie ovcy) und hegte den Wunsch, diese langfristig in den „wahren Glaubensstand“ zu führen.41 Nur sollte diese Überführung nicht mit Zwang und Gewalt, sondern durch Zureden, Vorbild und langfristige Strategien der Akkulturierung erfolgen. Dabei ging es der Zarin vor allem darum, die ihr primär wichtige Politik administrativer Vereinheitlichung und Zivilisierung nicht dadurch zu gefährden, dass sie in Glaubensfragen eine weitere Front aufmachte, mit der Unruhe und Widerstand erzeugt und mit der die „Vereinigung der Bürger“ (soedinenie graždan) behindert werden könnte.42 Keineswegs beschränkte sich die katharinäische Vision von der „Vereinigung der Bürger“ auf ein rein politisch-­administratives Verständnis. Auch die Zarin hielt zumindest perspektivisch an dem Ziel fest, dass sich die „neuen Untertanen“ „mit Herzen und Geist“ mit den „Russländischen Söhnen“ vereinen und mit ihnen gemeinsam „ein einheitliches Volk“ bilden sollten (edinyj s nimi narod).43 Und 40 C rews , Empire and Confessional State; ders ., For Prophet and Tsar; W erth , The Tsar’s Foreign Faiths. 41 Nakaz imperatricy Ekateriny II, Nr. 495, 134. – Muslimische Aristokraten (der Wolga- und Krimtataren) wurden im Falle ihrer Kooptation in den Reichsadel auch unter Katharina II. gegenüber ihren christlichen Standesgenossen insofern diskriminiert, als ihnen das im 17. Jh. noch zugestandene Recht, christliche Leibeigene zu haben, ihnen jetzt verwehrt blieb. K appeler , Die „vergessenen Muslime“, 32. 42 Nakaz imperatricy Ekateriny II, Nr. 496, 134. 43 Die genannten Formulierungen entstammen nicht einer Anordnung, die Völkern im Süden oder Osten des Reiches galt, sondern einem Manifest, das sich an die neu einverleibten polnischen Untertanen richtete. Auch wenn fraglich ist, ob die Zarin tatsächlich von einer Vermischung von Polen und Russländern in naher Zukunft ausging, so zeigt ihr Wortgebrauch vom anzustrebenden „einen Volk“ doch deutlich die Zielvorstellung. Manifest. O nevzyskivanii okladnych dochodov v kaznu s novopriobretennych ot Pol’ši Oblastej, do 795 goda. In: PSZRI Bd. 23, Nr. 17.114 (13. 4. 1793), 419 – 420, hier 420.– Mit Blick auf nordkaukasische Völker bedrängte sie ihren Generalgouverneur von Saratov und dem Kaukasus, Grigorij A. Potemkin, sich nicht nur darum zu bemühen, im Sinne der ‚Vorbereitung der Gemüter‘ auf die Wahrnehmung russländischer Herrschaft einzuwirken (ponjatija o veščach), sondern im Sinne von Akkulturierung sie auch „in die nächstmögliche Bekanntschaft und in die engstmögliche Verbindung mit den übrigen Unserern Untertanen zu führen“ (privodit’ v bližajšee znakomstvo i tesnejšuju svjaz’ s pročimi

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bezieht man umfassender ihre berühmte „Instruktion (Nakaz) für die Kommission zur Abfassung eines Projekts für ein neues Gesetzbuch“ von 1766 in die Analyse mit ein, so findet sich auch hier die gedankliche Grundlage für einen Assimilierungsdiskurs: Unter dem Eindruck der Schriften von Montesquieu und Pufendorf war auch die Zarin davon überzeugt, dass zur Herausbildung eines „Volkscharakters“ (narodnoe umstvovanie, ésprit de la Nation) selbst die besten, vereinheitlichenden Gesetze allein nicht reichten. Vielmehr bedürften diese Gesetze in dem Falle, dass die Denkweise von „Völkern“ (narody) zurückgeblieben war, der vorherigen aktiven Vorbereitung des menschlichen Geistes (prijmite na sebja trud’’ priugotovit’ onye [umy ljudskie]).44 Diese Vorbereitung der Untertanen konnte bedeuten, dass man „zum großen Guten“ (k velikomu onago dobru) auch die Gebräuche von Völkern zu verändern hatte. Auch diese Veränderungen sollten nicht durch Zwang und Gewalt, sondern am ehesten durch die Kraft des Vorbildes und das Angebot zur Nachahmung erreicht werden. Bevorzugt gelinge dies im engen Kontakt mit solchen Völkern, die eben jenes Vorbild böten.45 Genau in d­ iesem Geist des Verbunds einer primär anvisierten Zivilisierung mit einer langfristig anzustrebenden Assimilierung sind auch die Äußerungen von Gouverneuren Katharinas II. einzuordnen. Dazu zählt jene des Astrachaner Gouverneurs Petr Krečetnikov, der 1775 „diese [nordkaukasischen] barbarischen Völker zu bezähmen“, „ihre Sprache und Gebräuche zu überwinden“ und ihre „grobe Unkenntnis“ zu beseitigen suchte und der in explizitem Bezug auf das Experiment von Stavropol’ die Hoffnung äußerte, dass dann „ihre ­Sitten, Gebräuche und ihre Sprache verschwinden und sie auf nicht spürbare Weise leicht zu richtigen Untertanen (suščestvitel’nye poddannye) werden“ würden;46 oder die des Generalgouverneurs von Irkutsk, Ivan A. Pil’, der 1794 dazu aufrief, „die einheimischen Amerikaner von Wilden in zivilisierte Personen zu verwandeln Našimi poddannymi). Imennyj, dannyj Pravjaščemu dolžnost’ General-­Gubernatora Saratovskago i Kavkazskago Potemkinu. O ustrojstve Kavkazskoj Gubernii o oblasti Astrachanskoj. In: PSZRI Bd. 22, Nr. 16.194 (9. 5. 1785), 388 – 392, hier 391. 44 Im Nakaz 58 steht zwar nicht wörtlich, dass die Vorbereitung des menschlichen Geistes (umy ljudskie) nur bei ‚zurückgebliebenen‘ Völkern notwendig sei. Doch zeigte sich in der Wortwahl zahlreicher Anordnungen Katharinas  II ., dass sie in der Praxis dabei an die Veränderung der Gebräuche der noch ‚unzivilisierten‘ Völker (dikie oder chiščnye narody) dachte. Siehe z. B. Imennyj, dannyj pravjaščemu dolžnost’ General-­Gubernatora Simbirskago i Ufimskago Baronu Igel’stromu (…). In: PSRZI Bd. 22, Nr. 16.292 (27. 11. 1785), 494; Imennyj, dannyj pravjaščemu dolžnost’ General-­Gubernatora Saratovskago i Kavkazskago Potemkinu – O ustrojstve ­kavkazskoj Gubernii i oblasti Astrachanskoj. In: PSZRI Bd. 22, Nr. 16.194 (9. 5. 1785), 388 – 392, hier 389. Dazu auch S chierle , Učenie o duche, 125 – 126. 45 Nakaz Imperatricy Ekateriny II, Nr. 57 – 62, 12 – 13. 46 Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja. In: KabRO Bd. 2, Nr. 220 (24. 4. 1775), 312 – 317, hier 312, 315.

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(amerikancov prevratit’ iz dikich v obchoditel’nych)“, ihnen neben dem Lebensstil (obraz žizni), den Gebräuchen, Wissenschaften und Künsten der Russen zudem den Getreideanbau, die Viehwirtschaft und den christlichen Glauben beizubringen. Wenn dann noch kluge, junge Leute als Geisel ausgesucht, in das „russische Lebensgefühl“ eingeführt worden ­seien, würden sie „die Vorteile unseres Lebensstils“ ihrem eigenen „Volk“ beibringen und ihm helfen, diesen Lebensstil unter ihnen zu etablieren.47 Und von den Kasachen erwartete der Astrachaner Grenzinspektor Irinach Ivanovič Zavališin 1803 gegenüber Innenminister Viktor Pavlovič Kočubej, dass der Umgang mit „russischen Siedlern“ auf der „inneren“ Seite der Festungslinien „zu einer Abmilderung der wilden ­Sitten“, allmählich zur Sesshaftigkeit und schließlich dazu führe, dass sie „zu Russen werden“ (obrusejut).48 An der Fortexistenz zumindest des Diskurses einer im Verbund angedachten Zivilisierung und Assimilierung können daher auch für die katharinäische Ära wenig Zweifel bestehen. Unterschiede sind hingegen in der politischen Praxis auszumachen. Dies gilt noch nicht für die anvisierte ‚Zivilisierung‘. Wie die Ausführungen zu den verschiedenen Feldern imperialer Herrschaft zeigen, wurde der Zivilisierungsdiskurs auch unter Katharina II. von zahlreichen ‚Zivilisierungs‘praktiken begleitet. Zwar kann mit Blick auf die ethnischen Gruppen des Südens und Ostens weder von einem systematischen noch von einem flächendeckenden Vorgehen die Rede sein. Vielmehr muss sowohl zeitlich als auch geographisch unterschieden und je nach ethnischen Gruppen differenziert geurteilt werden. Doch waren Praktiken zur ‚Zivilisierung‘ bei den meisten der südlichen Steppenvölker mit Blick auf ihre Sesshaftmachung, die ‚Ordnung‘ ihres Siedlungsraums, die Veränderung ihrer Wirtschaftsweise, die Aushöhlung ihrer Herrschaftsstrukturen und die Transformation ihrer politischen Kultur über weite Strecken des 18. Jahrhunderts allgegenwärtig. Dieselbe Präsenz nahmen Zivilisierungsbemühungen in der Geiselhaltung im Süden wie im Fernen Osten und im Nordpazifikraum ein. Wie aber bereits der Wandel in der Missionierungspolitik zeigt, brach ­Katharina  II. trotz der Fortexistenz eines Diskurses der perspektivisch anvisierten Assimilation weitgehend mit entsprechenden Praktiken der Assimilierung ihrer Vorgänger. Dabei wird nicht nur die Priorität des Zivilisierungsideals und die Sorge, ­dieses nicht zu gefährden, eine Rolle gespielt haben. Das Kapitel zur politischen Kultur des Imperiums legt dar, wie die ethnische und kulturelle Vielfalt neben der territorialen Größe des Landes für die Zarin zu einem Wert an sich avancierte und 47 Order irkutskogo general-­gubernatora I. A. Pilja G. I. Šelichovu. In: Russkie otkrytija v tichom okeane, Nr. 43 (11. 5. 1794), 323 – 335, Zitat 331 – 332. 48 Iz doklada Senata imp. Aleksandru I o bros’be sultana Bukeja otvesti kazacham zemli v Astrachanskoj gu. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 86 (nicht ­später als 13. 4. 1803), 256 – 259, hier 257.

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in ihren Augen die Macht und Größe ihres Reiches und damit auch die ihrer Herrschaft demonstrierte. Hinzu kamen pragmatische Gründe, die eine Rolle spielten. So mahnte die Erfahrung des Pugačev-­Aufstandes, an der Vertreter zahlreicher ethnischer Gruppen der südlichen Steppen teilgenommen hatten, genauso zur Vorsicht wie die Annexion von Teilen Polen-­Litauens, die auf großen Widerstand stieß. Eine aktive Assimilierungspolitik war daher nicht mehr in ihrem Sinne, wohl aber eine, die Zivilisierung mit Akkulturierung an die russisch geprägte Bevölkerung verband. Das Verbindende ­zwischen der katharinäischen Ära und den Herrschaftszeiten ihrer Vorgänger seit Peter I. lag jedoch in dem auf Nachhaltigkeit konzipierten interventionistischen und transformativen Anspruch russländischer Politik, wie er sich in der ‚Zivilisierungs‘politik gegenüber nicht-­russischen ethnischen Gruppen im Süden und Osten äußerte. In ­diesem Sinne kann für das ganze 18. Jahrhundert von einem hohen Grad an Kontinuität gesprochen werden, unabhängig davon, ob Russifizierung und Zivilisierung als gleichberechtigte Ziele oder phasenweise die Zivilisierung als prioritär, das Assimilationsziel als untergeordnet verfolgt wurden oder Letzteres durch das Ziel der Akkulturation ersetzt wurde. Mit der grundsätzlichen Konvergenz und Kontinuität beider Ziele auf der diskursiven Ebene, wie sie sich vom Anfang bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nachzeichnen ließ, ist im Vergleich zu den anderen europäischen Kolonialmächten, bei denen es erst im fortgeschrittenen Jahrhundert zum Beginn oder zum Wiederaufleben von Assimilierungsabsichten kam, ein russländisches Spezifikum benannt. Dieses Spezifikum erklärt sich mit Blick auf die Konvergenz beider Absichten aus den bereits beschriebenen fortwirkenden Traditionen des früheren De-­facto-­Imperiums. Die Konstanz des einmal etablierten Zivilisierungs- wie Akkulturationsideals über das ganze Jahrhundert hinweg erklärt sich darüber hinaus dadurch, dass die Diskurse, die sich im Zuge der Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit entwickelten, unauflöslich mit dem imperialen Bewusstsein der russländischen Elite verbunden waren, das sich erst im 18. Jahrhundert umfassend ausbildete.49 Fortan, mindestens bis in die 1820er Jahre, wenn nicht sogar bis zur Entstehung national motivierter Aufstände wie jener der Polen von 1830/1831, war daher das Bewusstsein für die imperiale Vielfalt des Reiches untrennbar mit der Vorstellung des Zivilisierungsideals und dem Ziel der Assimilation bzw. im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert teilweise mit jenem der Akkulturation sämtlicher ethnischer Gruppen des Reiches verknüpft.50 49 Auch Willard Sunderland kommt zu dem Ergebnis, dass im Verständnis der russländischen Elite im Laufe des 18. Jahrhunderts der vorgestellte Raum der russischen Nation dem Raum des russländischen Staates entspricht, mithin Nation, Imperium und Territorium des Staates zu einer Einheit verschmelzen. S underland , Imperial Space, 42. 50 Zur Abwendung von der Idee einer Einheit vom Territorium des Russländischen Reiches mit jenem der vorgestellten russischen Nation ab dem ersten polnischen Aufstand M iller , The Romanov Empire, 320 f.

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Die Konstanz vorherrschender Zivilisierungs- sowie Assimilierungs- oder Akkulturierungsabsichten darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch Teile der russländischen Elite gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erheblicher Frustration und Desillusionierung ausgesetzt sahen. Wie jeder Zivilisierungsmission im Rahmen kolonialer Herrschaft war auch der russländischen die Krise inhärent: der Moment der Ablehnung des vermeintlichen ‚Barbaren‘, zivilisiert zu werden.51 Statt Dankbarkeit für die zur Verfügung gestellten sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen wie kulturellen Fertigkeiten sahen sich russländische ‚Zivilisierer‘ mit Resistenz oder schlicht dem Ausbleiben von ‚Fortschritt‘ konfrontiert. Diese built-­in crisis, die Kluft z­ wischen dem Anspruch und der Wirklichkeit, führte in aller Regel nicht nur dazu, die Anwendung von mehr Gewalt zu fordern. Darüber hinaus war es eine Folge der Desillusionierung, dass Indigenen aufgrund ihrer vermeintlich mangelhaften Lernfähigkeit zunehmend genetisch bedingte Eigenschaften negativer Konnotation zugeschrieben wurden. Damit bestätigt sich der Befund von Saliha Belmessous, die am Beispiel ‚Neufrankreichs‘ im 17. Jahrhundert herausgearbeitet hat, dass die Ansätze rassischen Denkens nicht erst im Zuge der modernen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, sondern bereits im kolonialen Kontext enttäuschter Zivilisierungs- und Assimilierungspolitik früherer Jahrhunderte zu finden sind.52 Zwar wurde das frühneuzeitliche, in Ansätzen rassische Denken russländischer imperialer Akteure noch nicht am physischen Erscheinungsbild der Menschen festgemacht. Doch bildete die Annahme von naturgegebenen, unveränderbaren Eigenschaften ethnischer Gruppen bereits eine Verbindung zu Rassediskursen des 19. Jahrhunderts. Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als rassische Diskurse dem Grundgedanken eines Zivilisierungsdiskurses, der gerade auf Erziehung, Einsicht und Veränderbarkeit der ‚zu Zivilisierenden‘ basiert, eigentlich diametral entgegenstehen.53 Im Falle von Generalmajor Ivan Fëdorovič Vejmarn, der 1761 die russländischen Truppen entlang der sibirischen Linie befehligte, führte das Erlebnis wiederholter Frustration zum Verlust ‚seines Vertrauens‘ in die ‚vollständige Erziehbarkeit‘ der Nomaden: Angesichts ihrer „heillosen Neigungen“ sei „für eine vollkommene Verbesserung der S ­ itten und Gebräuche unter ihnen [den Nomaden] wenige oder fast gar keine Hoffnung vorhanden“. Aus dieser Einsicht

51 O sterhammel , Europe, the „West“ and the Civilizing Mission, 30 – 31. 52 B elmessous , Assimilation and Racialism; dies ., Assimiliation and Empire. 53 Zum Aufkommen der Rassekategorie im 19. Jh. als Begriff sowie entsprechender Diskurse T olz , Diskursy o race; H all : „Rasovye priznaki (…)“; M ogil ’ner , Homo imperii; dies ., Beyond, against, and with Ethnography. – Zu den Verbindungen rassischer Diskurse ­zwischen dem 18. und 19. Jh. H udson , From „Nation“ to „Race“; W heeler , The Complexion of Race.

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leitete er die Taktik der „Entkräftung“ der Nomaden ab, die Strategie, mit einer Verringerung ihres Vieh- und Pferdebestandes „ihre innere Schwächung“ hervorzubringen. Dann erst könne man sich wohl ihrer bemächtigen und sie an „ein besseres und ruhigeres Leben gewöhnen“.54 Dem Orenburger Gouverneur Avram Artem’evič Putjatin platzte angesichts der in seinen Augen unbelehrbaren und gefährlichen Baschkiren der Kragen. Er wandte sich 1766 an den Senat mit dem Vorschlag, ab sofort keine ‚Fremdgläubigen‘ (und auch keine ‚Neugetauften‘) mehr zur Besiedlung ins Orenburger Gouvernement zu lassen, da sie „ungeeignet und unzuverlässig“ (neudobny i beznadežny) ­seien, im Falle der Neugetauften heimlich ihren Unglauben erneuerten und vor allem Land sinnlos besetzten, das nur im Falle der Ansiedlung von Großrussen ­(velikorossijskimi ljud’mi) dem „menschlichen Geschlecht“ (čelovečeskomu rodu) den gewünschten Nutzen bringen könne.55 Verbitterung breitete sich auch 1788 aus, als die erhoffte Wirkung einer beschleunigten ‚Zivilisierung‘ bei den Kasachen ausblieb, denen man ‚die Ehre‘ gewährt hatte, sich in kleinen Exekutivorganen an der russländischen Verwaltung zu beteiligen: Statt der erhofften tiefgreifenden ‚Einnahme ihrer Herzen‘ für das russländische Imperium existierten die Exekutivorgane nur auf dem Papier, die Kasachen forderten ihr Gehalt und kehrten nach Erhalt wieder in die Tiefe der Steppe zurück.56 Oberst Dmitrij A. Grankin kam zu dem Schluss, dass die Kasachen nur zur Entgegennahme zarischer Gaben und damit „aus einer einzigen Genusssucht heraus“ (iz edinogo lakomstva) in russländischer Untertanenschaft stünden. Einzig eine härtere Gangart sei im Umgang mit derartig widerspenstigen „wilden Völkern“ angebracht. „Je rauer man mit ­diesem Volk umgeht, desto bessere Schuldigkeit kann man von ihm erwarten.“ 57 Nicht weniger ernüchtert zeigten sich manche Vertreter der russländischen Elite von den Ergebnissen der Geiselhaltung. Stabskapitän Fomakov beklagte sich sogar noch Mitte des 19. Jahrhunderts darüber, dass es vorkomme, dass ein Kasache, dem man auf staatliche Kosten zu erziehen und auszubilden versucht habe,

54 Predstavlenie sekretnoj komissii pri sibirskom gubernatore Kollegii in. del o proekte general-­ majora fon Vejmarna o merach po usileniju vlijanija carizma v Kazachstane. In: KRO Bd. 1, Nr. 246 (2. 11. 1761), 630 – 632, hier 632. 55 Donošenie orenburgskogo gubernatora kn. A. A. Putjatina v Senat s proektom ob uporjadočenii zemlevladenija n zemljach zapadnee Novoj Moskovskkoj dorogi. In: MpiB ASSR Bd. 4, Teil 2, Nr. 496 (21. 3. 1766), 470. 56 Ob’’jasnenie polk. D. A. Grankina ob usilenii dviženija kazachov, bespoleznosti Pograničnogo suda i rasprav, bezdejstvii bar. O. A. Igel’stroma i celosoobraznosti razdela Maloj Ordy. In: MpiK SSR Bd. 4, Nr. 32 (13. 12. 1788), 104 – 109. 57 Zapiska D. Grankina, predstavlennaja knjazju G. Potemkinu, po povodu administrativnogo ­ustrojstva v Mladšem žuze. In: KRO Bd. 2, Nr. 70 (16. 12. 1788), 125.

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Schlussbetrachtung

nach der Rückkehr in die Horde nach nur wenigen Wochen „alle Zivilisierung“ (vsja polirovka), „alles, was man ihm angewöhnt hatte“ (vse, čto bylo k nemu privito), wieder ablege: „Er war wieder derselbe Kasache wie vorher.“ 58 Noch gravierender war die Frustration über zwei „gelehrte und verlässliche“ Baschkiren, die Mitte der 1730er Jahre auf russländischer Seite als Geisel einsaßen. Sie waren eigens dafür ausgesucht worden, ihre aufständischen Stammesgenossen zum Gehorsam zurückzuführen. Stattdessen aber liefen sie selbst zu den Aufständischen über und gaben ihre erworbenen Kenntnisse über die russländische Seite zum Besten.59 Selbst von den Geiseln, die auf der Alaska vorgelagerten Insel Kad’jak in den späten 1780er und 1790er Jahren zum Objekt der wohl umfassendsten Maßnahmen aller russländischen ‚Zivilisierungs‘bemühungen wurden, in einer für Geisel gegründeten Schule die russische Sprache, den Getreideanbau und die Viehwirtschaft erlernen mussten, Kenntnisse über den russisch-­orthodoxen Glauben vermittelt bekamen und beim Spiel von Musikinstrumenten angeleitet wurden, kämpften einige nach ihrer Freilassung wieder auf der Seite ihrer ethnischen Gruppe gegen die russländischen Eindringlinge.60 Vor ­diesem Hintergrund kann wie im Falle der Zivilisierungsmissionen anderer Kolonialreiche auch für das Zarenreich von einer Überschätzung sowohl der eigenen Ressourcen als auch der Attraktivität der eigenen Lebensart sowie von utopischen Diskursen gesprochen werden.61 Die Verkennung der örtlichen Lage basierte dabei vor allem auf der für koloniale Zivilisierungsmissionen so typischen ‚Nihilisierungsstrategie‘: Wirklichkeitskonstruktionen und symbolische Sinnwelten der indigenen ‚Anderen‘ wurden zunächst mit einem negativen ontologischen Status versehen und anschließend beschwiegen oder „theoretisch liquidiert“. Anstelle sich in die Denkweise ‚des Anderen‘ hineinzuversetzen, einer Alterität zu konstru­ieren, trat die uneingeschränkte Zivilisierungs- und Akkulturations- oder Assimilationserwartung.62 Als russländische Konsequenz aus der fortgesetzten Ernüchterung einerseits und dem Willen andererseits, den Zivilisierungs- und Assimilations- oder 58 Iz opisanija Kazachskoj stepi Orenburgskogo vedomstva, sostavlennogo štabs-­kapitanom Fomakovym. In: KRO Bd. 2, Nr. 188 (1844), 296 – 304, hier 300. 59 Skazka perevodčika I. G. Durakova v kanceljariju Glavnogo pravlenija kazanskich i sibirskich kazennych zavodov o poezdke ego v predely Sibirskoj dogori s ob’’javleniem o vzjatii amanatov s baškir, ne prinimavšich učastija v vosstanii. In: MpiB Bd. 6, Nr. 89 (29. 4. 1736), 163 – 164. 60 Report, I. Kuskov (in charge of hunting party) to A. A. Baranov on Kad’iak regarding an armed encounter with the local tribes and the devastation of Novo-­Arkhangel’sk. In: Pierce, Documents on the History, Nr. 9 (1. 7. 1802), 128 – 150, hier 131. 61 Z atorska , Discours colonial; T ricoire , Enlightened Colonialism? 62 B erger /L uckmann , Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 123 – 124.

Schlussbetrachtung

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Akkulturationsanspruch nicht aufzugeben, kann das Speranskij-­Statut von 1822 angesehen werden. Auf der einen Seite trugen die im Statut zum Ausdruck gebrachten Versuche, die sibirischen ethnischen Gruppen und die Kasachen nominell, administrativ und in der Lebensweise auf lange Sicht mit den übrigen Teilen des Reiches zusammenzuführen, akkulturierende bis assimilierende Züge. Auf der anderen Seite drückte sich in der Einführung der neuen rechtlichen Kategorie der inorodcy (‚Fremdstämmige‘) die Erkenntnis aus, dass die Akkulturation noch auf sich warten ließ und es daher nun doch einer rechtlich definierten ‚Übergangskategorie‘ bedürfe. Diese Kategorie fasste nicht-­russische und nicht-­christliche Menschen zusammen, die von ihrer Herkunft und ihrer sozialen Stellung her nichts gemein hatten, sondern allein durch die Wahrnehmung der russländischen Elite zusammengehalten wurden. Diese seit mehr als einem Jahrhundert gewachsene Sichtweise bestand darin, von der Überlegenheit der mehrheitlich russländisch geprägten Bevölkerung auszugehen und die ethnischen Gruppen im Süden und Osten des Reiches „im Grad ihrer Zivilisiertheit und in ihrer aktuellen Lebensweise“ (po različnomu stepeni Graždanskago ich obrazovanija i po nastojaščemu obrazu žizni) als zurückgeblieben anzusehen.63 Welche Rolle spielte nun für die Herausbildung und Entwicklung der dargelegten russländischen Diskurse und der Politik der Zivilisierung, Akkulturierung und Assimilierung die Rezeption aufklärerischen Gedankenguts? Inwieweit dienten Narrative der Aufklärung als Begründung für die Entfaltung kolonialer Politik im Zarenreich? Der Blick auf andere große europäische Imperien zeigt bereits, dass sowohl Zivilisierungs- als auch Assimilierungsdiskurse und Praktiken ihren Durchbruch nicht erst in der Epoche der Aufklärung hatten. Franzosen verfolgten das Assimilationsideal in unterschiedlicher Intensität bereits den größten Teil des 17. Jahrhunderts über. Zivilisierende Absichten hegte schon das Römische Reich. Zudem haben die Verteidiger der Schriften der Aufklärung zu Recht immer wieder auf die Vielzahl von ‚Aufklärungen‘, deren jeweiligen Kontexte sowie auf die damit verbundene Vielzahl an Aspekten verwiesen, die mit der Aufklärung in Verbindung gebracht werden können.64 Insofern spielt bei jeder Analyse der Rezeption aufklärerischer Gedanken immer die Frage eine Rolle, warum überhaupt w ­ elche ­Themen herausgegriffen, andere hingegen außer Acht gelassen wurden. 63 Vysočajše utverždennyj Ustav. Ob upravlenii inorodcev. In: PSZRI Bd. 38, Nr. 29.126 (22. 7. 1822), 394 – 411, hier: 394, §1. 64 Zur Vielfalt der Kontexte von Aufklärung(en) gehörten nicht nur unterschiedliche nationale und regionale Prägungen (darunter die englische, holländische, französische und deutsche), sondern auch katholische und protestantische, radikale und moderate Lager. Zu den unterschiedlichen nationalen Ausprägungen P orter /T eich (Hg.), Enlightenment in National Context; O utram , The Enlightenment.

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Schlussbetrachtung

Für Peter I., der das Moskauer Reich hinter sich lassen und das ‚neue‘ Zarenreich weitaus stärker als zuvor an das ‚westliche Europa‘ heranführen wollte, bot es sich an, mit der Rezeption der Idee des Völkerrechts und der universal verstandenen (in Wirklichkeit: europäischen) Weltordnung im Sinne eines Hugo Grotius das Zarenreich erstmals in einen vorgestellten, die gesamte Menschheit umfassenden Rahmen zu stellen. Damit und befördert durch die Rezeption Samuel Pufendorfs ging unmittelbar auch die Rezeption des Gedankens der Dichotomie von Zivilisiertheit und Barbarei einher, die sich Jahrzehnte s­ päter durch das Konzept einer fortschreitenden Zeitordnung mit dem Begriff der Zivilisation und der stadialen ­Theorie weiter ausdifferenzieren sollte. Diese selektive Rezeption aufklärerischer Gedanken, angefangen von der universalen Weltordnung über den Fortschritt bis zum Zivilisationsbegriff sowie die Nichtberücksichtigung explizit anti-­imperialer Denkweisen mit Geboten, sich nicht einzumischen, ermöglichte es russländischen imperialen Akteuren, ihre Wahrnehmung kultureller Differenz in den verschiedenen Peripherien des Reiches in die Sprache von Fortschritt zu übersetzen, von dem ihrer Meinung nach manche bereits mehr, andere hingegen weniger hatten.65 In ­diesem Sinne boten sich aufklärerische Diskurse als Begründung und Rechtfertigung dafür an, um Menschen mittels Missionierung, Erziehung und Ausbildung nach den eigenen Vorstellungen zu transformieren. Wie Marc Raeff herausgearbeitet hat, speiste sich diese neue, interventionistische Politik im Zarenreich des 18. Jahrhunderts allerdings mindestens so sehr aus dem Einfluss kameralistischen und policey­ staatlichen Denkens.66 Die Rezeption aufklärerischer Diskurse aber erlaubte es den Akteuren, mit dem expliziten Ziel der Zivilisierung sowohl Anliegen des Staatsausbaus und der Rationalisierung als auch ­solche der Fremdsteuerung und der Umpolung auf russländische Bedürfnisse von nicht-­russischen ethnischen Gruppen zusammenzuführen und damit koloniale Politik im Sinne der Definition Jürgen ­Osterhammels zu begründen. Die russländische Rezeption aufklärerischer Diskurse macht zugleich deutlich, wie sehr die Epoche der Aufklärung als ein Prozess globaler Verflechtung und globaler Denkanstöße zu begreifen ist.67 Keineswegs nämlich handelte es sich um einen eindimensionalen Transfer (west-)europäischer Narrative der Früh- und 65 Zu anti-­imperialen Denkweisen bei Autoren wie Diderot, Kant und Herder M uthu , Enlightenment against Empire. 66 R aeff , The Well-­Ordered Police State (1975); ders ., Seventeenth-­Century Europe in Eighteenth-­ Century Russia?; ders ., The Well-­Ordered Police State (1983). 67 Nicht überzeugen kann hingegen die These, wonach sich Großreiche vor 1800 kaum oder nur geringfügig wechselseitig beeinflusst hätten und deshalb vergleichende und beziehungsgeschichtliche Zugänge erst für die Zeit ab etwa 1800 sinnvoll s­ eien. v . H irschhausen , A New Imperial History?, 741. – Zum 18. Jh. als einem Zeitalter globaler Verflechtung von Imperien M iddell

Schlussbetrachtung

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Spätaufklärung sowie um den Versuch von deren Umsetzung in praktische Politik des Zarenreiches. Vielmehr sah sich die russländische Elite von Beginn des 18. Jahrhunderts an eingebunden in eine imaginär vorgestellte universale Gemeinschaft ‚der Zivilisierten‘, die in der Pflicht stand, sich für die Verbreitung von Zivilisiertheit bzw. ­später von Zivilisation einzusetzen. Die spezifische Ausprägung russländischer Zivilisierungspolitik, ihr von Beginn an enger Verbund mit einer Assimilierungs- sowie s­ päter einer Akkulturierungspolitik, zeugt darüber hinaus von einer gänzlich eigenen Form der Aneignung und Instrumentalisierung entlang der frühneuzeitlichen Traditionen des Zarenreiches. Mit der Geburt des russländischen Imperiums trug daher die Zivilisierungspolitik des 18. Jahrhunderts, wie universal auch immer das dahinter stehende Menschheitsbild gedacht war, die Züge einer Heranführung der ‚Unzivilisierten‘ an die mehrheitlich russländisch geprägte Bevölkerung.

(Hg.), Cultural Transfers, Encounters and Connections; G randner /K omlosy , Das 18. Jahrhundert – eine globalhistorische Epoche?; C onrad , Enlightenment in Global History.

6. QU ELLE N - U N D LI T E R AT U RV E R Z EIC H N IS

Jahreszahlen in eckigen Klammern geben das Jahr der Originalausgabe an.

6.1  Quellen Akty istoričeskie, sobrannye i izdannye Archeografičeskoju Komissieju. Bd. 1 – 4, St. Petersburg 1841 – 43. Akty sobrannye v bibliotekach i archivach Rossijskoj Imperii Archeografičeskoju Ėkspedicieju imp. Akademii Nauk. St. Petersburg 1836. Akty sobrannye Kavkazskoj Archėografičeskoj Komissieju. Bd. 1 – 12. Hg. von A. Berže, Tiflis 1866 – 1904. Archiv Gosudarstvennogo Soveta. Bd. 1, Teil 2, St. Petersburg 1869. Archiv Grafa Igel’stroma. In: Russkij archiv 24 (1886), Bd. 3, 341 – 345. Archiv Knjazja Voroncova. Bd. 1 – 40. Moskau 1870 – 1895. Archiv F. A. Kurakina. Hg. von M. I. Semevskij. Bd. 1, St. Petersburg 1890. Atlas Rossijskoj, sostojaščej iz devjatnadcati special’nych kart predstavljajuščich Vserossiskuju Imperiju s pograničnymi zemljami, sočinennoj po pravilam geografičeskim i novejšim observacijam. St. Petersburg 1745. A vril , P hilippe : Voyage en divers états d’Europe et d’Asie. Paris 1693. [A vvakum ] Sočinenija protopopa Avvakuma. In: Chrestomatija po drevnej russkoj literature. Hg. von N. K. Gudzii, Moskau 1973. B., A.: Iz istorii Kazachstana XVIII v. In: Krasnyj Archiv 87 (1938), Nr. 2, 129 – 133 (Einleitung), 133 – 173 (Dokument: O kirgis kasackach. Kniga Aziatskogo departamenta Nr. 21). B elokurov , S. L. (Hg.): Snošenija Rossii s Kavkazom. Materialy izvlečennye iz Moskovskogo Ministerstva Inostrannych del, 1578 – 1613. Moskau 1889. B ergmann , B enjamin F. B. von : Nomadische Streifereien unter den Kalmüken in den Jahren 1802 und 1803. Bd. 1 – 4, Riga 1804 – 1805 [Nachdruck 1969]. B ielfeld , J acob F riedrich von : Institutions politiques. Leiden 1772. – Nastavlenija političeskija barona Bil’felda. Bd. 1 – 2, Moskau 1768 – 1775. B ulyčev , I van D.: Putešestvie po Vostočnoj Sibiri. Bd. 1: Jakutskaja oblast‘, Ochotskij kraj. St. Petersburg 1856. B yčkov , A. F. (Hg.): V Pamjat’ grafa M. M. Speranskogo. St. Petersburg 1872. B yčkov , I. A .: Novye materialy dlja biografii pervago russkago doktora P. V. Postnikova (Pis’ma ego k Petru Velikomu za 1695 – 1696 gg). In: Čtenija v Imperatorskom Obščestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete. Moskau 1911, Buch 4, T. III: Smes’, 5, 41 – 51.

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Abbildungsnachweise

Abb. 17: Rachimov, Na službe u „Belogo carja“, unpaginiert, Abb. 11: Kazak 1-j sotni 2-go Teptjarskogo konnogo kazac’ego polka. 1819g. S. S. Petrov. 2007 g. Bumaga, guaš’. Abb. 18: Khodarkovksy, Russia’s Steppe Frontier, 150, Karte 7: Central Asia in the nineteenth century. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Indiana University Press. Abb. 19: LeDonne, The Grand Strategy, 169, Karte: The Caucasian Sector. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von John LeDonne. Abb. 20: Orlova, Istorija Christianizacii kalmykov, Umschlagsbild. Abb. 21: N. N. Gončarova: E. M. Korneev. Iz istorii russkoj grafiki načala 19 veka. Moskau 1987, Abb. 24. Abb. 22: Peter Simon Pallas: Sammlungen historischer Nachrichten über die mongolischen Völkerschaften. II . Teil, Graz 1980 [Nachdruck des Originals von 1779], Kupferplatte 11. Abb. 23: Peter Simon Pallas: Sammlungen historischer Nachrichten über die mongolischen Völkerschaften. I. Teil, Graz 1980 [Nachdruck des Originals von 1779], Kupferplatte 1. Abb. 24: G. P. Matvievskaja: Žizn i dejatel’nost’ P. I. Ryčkova. Orenburg 2008, unpaginiert. Abb. 25: Vasil’ev, Rossija i Kazachskaja step’, unpaginiert: Pamjatnik Abylaj chany v Almaty (fragment). Abb. 26: Živopisnaja Rossija: otečestva naše v ego zemel’nom, istoričeskom, plemennom, ėkonomičeskom i bytovom značenii. Hg. von P. P. ­Semenov. Bd. 7, Teil 2, St. Petersburg, Moskau 1899, 178. Abb. 27: Materialien zu der russ. Geschichte seit dem Tode Kaisers Peters des Grossen, 2. Teil, 1730 – 1741. Chr. Schmidt. Riga 1784, Abb. 12. Abb. 28: N. M. Štukaturova: Kostjum narodov Rossii v grafike 18 – 20 vekov iz fondov Gosudarstvennoj central’noj teatral’noj biblioteki. Moskau 1990, 54. Abb. 29: Živopisnaja Rossija: otečestva naše v ego zemel’nom, istoričeskom, plemennom, ėkonomičeskom i bytovom značenii. Hg. von P. P. ­Semenov. Bd. 7, Teil 2, St. Petersburg, Moskau 1899, 137. Abb. 30: Živopisnaja Rossija: otečestva naše v ego zemel’nom, istoričeskom, plemennom, ėkonomičeskom i bytovom značenii. Hg. von P. P. ­Semenov. Bd. 7, Teil 2, St. Petersburg, Moskau 1899, 139. Abb. 31: Materialien zu der russ. Geschichte seit dem Tode Kaisers Peter des Grossen. Zweiter Teil, 1730 – 1741. Von Christoph Schmidt, Riga 1784, Kupfertafel III. Abb. 32: N. N. Gončarova: E. M. Korneev. Iz istorii russkoj grafiki načala 19 veka. Moskau 1987, Abb. 47.

Abbildungsnachweise

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Abb. 33: Aleksej Levšin: Opisanie Kirgiz-­Kazach’ich illi Kirgiz-­Kajsaksich ord i stepej. St. Petersburg 1832, pt. 3, 42. Abb. 34: Aziatskaja Rossija, Bd. 1. Hg. von T-vo R. Golike u. A. Vil’borg. St. Petersburg 1914, 157. Abb. 35: N. M. Štukaturova: Kostjum narodov Rossii v grafike 18 – 20 vekov iz fondov Gosudarstvennoj central’noj teatral’noj biblioteki. Moskau 1990, 52. Abb. 36: D. G. Levickij: 1735 – 1822. Katalog vremennoj vystavki. ­Gosudarstvennyj muzej. Leningrad 1987, Abb. 68. Abb. 37: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 1, 96, Abb. 13: Crowning Ceremony, Empress Elizabeth Petrovna. Engraving by Grigorii Kalachev. Abb. 38: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 1, 117, Abb. 20: Catherine at the Tsar’s Place. Engraving after a drawing by Louis de Veilly. Abb. 39: Forsyth, A History of the Peoples of Siberia, 265. Abb. 40: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 1, 112, Abb. 18: Medal issued on accession of Catherine II.

8. R E GIST E R

8.1  Personenregister Ablaj/Abylaj, Sultan, später Chan, Mittlere Horde der Kasachen  ​161, 163, 341 f., 348 f., 471, 491 Ablaj, Sultan, Kl. Horde der Kasachen  ​ 161 f. Abulchair, Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​ 95, 139, 146 – 151, 153, 236 f., 251, 379, 406, 408 – 415, 424, 427, 453, 465 Abulmambet, Chan, Mittlere Horde der Kasachen  ​148 f., 411, 465, 467 Ajčuvak, Sultan, später Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​153, 419, 444, 450, 491 f. Ajuki, Tajši, später Chan der Kalmücken  ​ 316 f., 324, 386 – 391, 393, 396 f., 406, 453 Aksakov, Vizegouverneur von Ufa  ​257 Aleksej Michajlovič, russl. Zar  ​92, 291 f., 295, 300, 313 Alexander I., russl. Zar  ​167, 186, 273 – 275, 368, 372, 447, 451, 491 f. Alkas, kabardinischer Fürst  ​129 Anna, russl. Zarin  ​16, 98, 137 – 140, 142 – 144, 146, 149, 155 – 157, 159, 235, 245, 248, 254 f., 262, 275, 283, 296, 306, 318, 321, 325 – 327, 332, 373, 379, 396, 414, 429, 445, 453, 463 f., 480, 485, 494, 506 Anna Tajšina, Kalmückin, Witwe von Petr Tajšin  ​325 f., 328, 333, 445 Antipin, Ivan M., russl. Expeditionsleiter  ​ 180 Apuchtin, Generalgouverneur von Ufa u. Simbirsk  ​427 f., 432

Aryngazy-Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​ 450 Asfandijarov, Anvar Z., Historiker  ​108 Bachmet’ev, Dmitrij E., Dienstmann Peters I.  ​318, 388 f. Bachrušin, Sergej V., Historiker  ​107 Bamatov, Misost, kabardinischer Fürst  ​ 171 Barak, Sultan der Mittleren Horde der Kasachen  ​413 f., 465 Baranov, Aleksandr A., russl. Händler u. Kaufmann  ​371 Barrett, Thomas, Historiker  ​276 f. Beketov, Nikita A., Astrachaner Gouverneur  ​218, 334, 402 Bekgali, Sultan, Kl. Horde der Kasachen  ​ 160 f. Beklemišev, Vasilij P., Kommandant von Saratov  ​318 Belmessous, Saliha, Historikerin  ​365, 512 Bem, Matvej K.von, Oberkommandeur Kamčatkas  ​180 Bering, Vitus, Seefahrer, Entdecker  ​65, 176, 480 Bezborodko, Graf Il’ja A., russl. General  ​ 445 Billings, Joseph, engl. Seefahrer  ​177, 182, 428, 481 f. Bouver, Jakov V., russl. Generalmajor  ​364 Bukeev, Žangir, Sultan, später (letzter) Chan der Inneren Horde  ​420, 450 Bukej, Sultan, später Chan, Innere Horde  ​ 271 f., 372, 420, 444 f., 450

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Register

Buturlin, Vasilij V., russl. Diplomat  ​68, 384 Bužinskij, Gavril, russl. Übersetzer  ​209 Campenhausen, Balthasar von, Oberst unter Peter I.  ​299 Carpini, Johannes de Plano, Franziskaner  ​ 108 f. Cebek-Dorži, Tajši, Kalmücke  ​400 f. Čeren-Donduk, Tajši, später Chan der Kalmücken  ​391 – 396, 408, 427 Čerkasskij, Fürst Kaspulat M., Kabardiner ​ 89, 119 f. Chmel’nyc’kyj, Bohdan, kosakischer Hetman  ​384, 390 Chož-Achmet/Chodžej Achmet, Sultan, Kl. Horde der Kasachen  ​147, 150 – 152, 413 Čirikov, Aleksej I., russl. Kapitän  ​154, 481 Cook, James, engl. Seefahrer  ​180 Crews, Robert, Historiker  ​508 Dajčin, Chuda Šukur, Tajši, Kalmücke  ​ 386, 390, 393 Dajčin, Puncuk, Tajši, Kalmücke  ​386, 390, 393 Danilov, Ivan, russl. Beamter  ​172 Daškova, Ekaterina R., Fürstin, russl. Gelehrte  ​219 Davydov, Afanasij R., Orenburger Gouverneur  ​158 f., 339, 422, 473, 487, 489 Demidov, Grigorij A., Kollegienrat  ​274 f., 369, 451 Dewey, Horace W., Historiker  ​136 f. Dolgorukov, Michail V., Kazaner Gouverneur  ​247 Donduk-Daši, kalmückischer Chan  ​334, 397 f., 469

Donduk-Ombo, kalmückischer Chan  ​325, 396, 400, 469 Dondukov, Fürst Aleksej D., russl. Oberst  ​ 404 Dracula, Vlad, walachischer Politiker  ​105 Ediger, Fürst, Herrscher von Sibir’  ​117 Ėkzempljarskij, A.V., Historiker  ​109 Elisabeth, russl. Zarin  ​16, 98, 137, 145, 148 f., 159, 283, 296 f., 318, 320 f., 338, 350, 413 f., 416, 432, 453, 465 – 467, 469 f., 472, 474, 487, 489, 494 Ėrali, Sultan, Sohn von Abulchair-Chan  ​ 146 f., 150, 411, 429, 442, 444 Ėrdeni, Badma/Ombo, Chan vom AltynChanat  ​84 f., 100 Esim, Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​442 Ėssen, Pëtr K., Orenburger Generalgouverneur  ​273, 446 f., 449, 454 Fedor Alekseevič, russl. Zar  ​284, 292 – 295, 300, 305 – 307, 313, 315 Fick, Heinrich, dt. Kameralist  ​299 Filjuškin, Aleksandr, Historiker  ​15 Fomakov, russl. Stabskapitän  ​513 Francke, August Hermann, dt. Pietist  ​299 Gagarin, Matvej P., sibirischer Gouverneur ​ 461 Gedeon, russ.-orth. Mönchpriester  ​184 f. Gessen, Vladimir, Historiker  ​51 f. Girei, Mengli, Chan des Krim-Chanats  ​70 Golicyn, Aleksandr, russl. Staatsrat, Vizekanzler  ​161, 263, 341, 393, 426, 475 Golovkin, Graf Gabriel I., russl. Kanzler  ​ 200 f., 209, 263 Gorskij, Anton, Historiker  ​83

Personenregister

Grankin, Dmitrij A., russl. Oberst  ​363 f., 440, 490 f., 513 Grigor’ev, Vasilij V., russl. Orientalist  ​477 Grotius, Hugo, niederländischer polit. Philosoph  ​103, 205, 207, 516 Gurij, russ.-orth. Erzbischof von Kazan  ​ 284, 286 f. Halbach, Uwe, Historiker  ​457 f. Heim, Bernhard Andreas v./Ivan A., dt.russ. Gelehrter  ​219 Hofmeister, Ulrich, Historiker  ​8, 43 Igel’strom, Osip A./Otto H. Igel’ström, Orenburger Gouverneur  ​98, 165 f., 258, 347, 404, 426 – 428, 432 – 444, 446, 453 f., 456, 490 Ioakim, Moskauer russ.-orth. Patriarch  ​ 310 Išim, Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​ 252 f., 444 Išterek, Fürst der Nogaier  ​69, 79 Ivan III., russ. Zar  ​56, 58 – 60, 82 f., 116, 225, 479 Ivan IV., russ. Zar (‚Ivan der Schreckliche‘)  ​39, 53, 63, 66, 82, 117 – 120, 224, 237, 244, 282, 284 – 287, 296, 299, 305 f., 314, 392, 458 Izmajlov, Ivan P., Astrachaner Gouverneur ​ 394 f. Izmajlov, Lev V., russl. Generaloberst  ​318 Jakobi, Ivan V., u.a. Orenburger Gouverneur  ​165, 184 f., 218, 430 Janovskij, Semën I., Hauptregent von Russ.-Amerika  ​188 Jaroslav Jaroslavič, Fürst von Tver  ​108 f. Jusopov, Fürst Nikolaj B., russl. Staatsmann  ​445

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Kaip, de-facto Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​436, 441 Kalpak, Fürst vom Jugra-Land  ​59, 116 Kambulat Idarov, kabardinischer Fürst  ​ 119, 125 Kappeler, Andreas, Historiker  ​7, 28, 42, 54, 106, 199, 234, 287, 290, 378 Kara-Kobek, Bij, kasachischer Ältester  ​ 443 Karamzin, Nikolaj M., russ. Historiker  ​29, 219, 428 Karl XII., schwedischer König  ​386 Kasymov, Kenisary, kasachischer Rebell  ​ 452 Katharina II., russl. Zarin  ​15 – 17, 33 f., 37, 91, 95 – 98, 158 f., 162 f., 165, 169, 173 f., 177 f., 200, 218, 226 f., 231 f., 248, 260, 276, 283, 297, 317, 320 f., 336, 347, 349 f., 355 f., 362, 364 f., 368, 370 f., 399, 402 – 404, 406, 419, 422, 427 – 430, 432 f., 435 – 437, 442, 444, 463, 465 f., 470, 472 – 476, 481, 483, 486, 494, 506 – 510 Katharina I., russl. Zarin  ​464 Keep, John, Historiker  ​497 Khodarkovsky, Michael, Historiker  ​7, 21, 29, 42, 171, 194, 234, 302, 332 Kirilov, Ivan K., russ. Geograph u. Karthograph  ​39, 140, 144, 146, 156, 204, 235 f., 248 – 251, 261, 275, 326 f., 337, 339, 347, 360, 379, 413, 485 f. Kleimola, Ann M., Historikerin  ​136 f., 459 Ključevskij, Vasilij, russ. Historiker  ​29 Kočubej, Viktor P., russl. Innenminister  ​ 271, 510 Kokiev, Georgij A., Historiker  ​119, 121 Kokovcov, Matvej G., russ. Flottenoffizier ​ 228 Kollmann, Nancy, Historikerin  ​13, 106

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Register

Koselleck, Reinhart, Historiker  ​13, 45, 198 f., 217 Krečetnikov, Petr N., Astrachaner Gouverneur  ​168, 170 f., 185, 218, 227, 230, 337, 509 Križanić, Juraj, jesuitisch-kroatischer Priester  ​224 Kundakbaeva, Žanat, Historikerin  ​76 Kurbskij, Andrej M., russ. Fürst u. Exilant ​ 224 Kuris, Ivan O., Orenburger Gouverneur  ​ 364 f. Las Casas, Bartolomé, Historiker  ​319 LeDonne, John, Historiker  ​7, 236 Leibniz, Gottfried Wilhelm von, dt. Gelehrter  ​197, 299, 311 f. Lešins’kyj/Leščinskij, Filofej, ukr. Geistlicher  ​301, 306 Locke, John, engl. Philosoph  ​359 Lohr, Eric, Historiker  ​51, 53, 67, 76 Lopuchin, Ivan V., russ. Senator  ​364 f. Malikov, Yurij, Historiker  ​260, 277 Marasinova, Elena N., Historikerin  ​508 Mazepa, Ivan, Kosakenhetman  ​69 f., 255, 310, 385 f., 502 Medem, Ivan F. de, russl. Generalmajor  ​ 400 Miller, Aleksej, Historiker  ​8, 19, 37, 42, 498 Misail, russ.-orth. Erzbischof  ​291 Montesquieu, Charles de S., frz. Philosoph ​ 509 Münnich, Burkhard Christoph Graf von, Generalingenieur  ​245 Naumov, Fedor V., russl. Geheimrat  ​246 f. Nefed’ev, Nikolaj A., russ. Staatsanwalt  ​ 334

Nemcov, Fedor G., Irkutsker Generalgouverneur  ​180 Nepljuev, Ivan I., Orenburger Gouverneur  ​ 77, 95, 147 – 153, 155 f., 158, 214 f., 251, 257, 259, 264, 266 – 268, 318, 324 – 327, 330, 333, 339 f., 344, 347, 357, 379, 410, 412 – 419, 422 – 424, 468, 486 f., 504 Nevodčikov, Michail V., russl. Kaufmann  ​ 181 Nikolaus I., russl. Zar  ​382, 471 Nikon, russ.-orth. Patriarch  ​291 Nol’de, Boris E., Historiker  ​53 Nurali, Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​65, 153, 160 – 162, 164, 267, 340 f., 351, 357, 414 – 416, 418, 422, 424, 426, 429, 435 f., 442, 444, 471, 473 f., 487, 492 Osterhammel, Jürgen, Historiker  ​22 – 26, 43, 208, 281, 321, 374, 379, 516 Ozova, Fatima A., Historikerin  ​119, 121 Pal’mov, Nikolaj N., russl. Gelehrter  ​393 Paul l., russl. Zar  ​17, 185, 443, 445 Perovskij, Vasilij A., Orenburger Gouverneur  ​353, 477 Peter III., russl. Zar  ​159, 350 Peter I./Peter der Große, russl. Zar  ​13, 15 – 18, 33, 49 f., 58, 69, 81, 90 – 94, 96 f., 137, 154, 160, 198 – 205, 209 f., 212 – 214, 219 – 222, 225 f., 228 f., 231 – 233, 235 f., 240 – 242, 245, 248, 253 – 255, 260 f., 263, 273, 282 – 284, 286, 289, 293 f., 296 – 308, 310 f., 313 – 321, 323 – 326, 328, 330, 339, 360, 373, 382, 385 f., 389, 396, 412, 418, 437, 456, 458, 464, 484, 488, 497, 500, 502 – 506, 511, 516 Petr Tajšin/Baksaday-Dorji, Kalmücke, Enkel von Ajuki  ​324 f.

Personenregister

Peutling, Aleksandr A., Generalgouverneur von Ufa u. Simbirsk  ​442 f. Piirimäe, Pärtel, Historiker  ​207, 209 Pil’, Ivan A., Irkutsker Generalgouverneur ​ 185, 370, 509 Pisarev, Grigorij G., russl. Hafenleiter von Ochotsk  ​137 Platonov, Sergej, Historiker  ​29 Plokhy, Serhii, Historiker  ​502 Poe, Marshall, Historiker  ​83 Posoškov, Ivan T., russ. polit. Denker, Kaufmann  ​307, 312 f., 330, 360, 364, 504, 506 Postnikov, Peter V., russ. Arzt  ​210, 225 Potapov, Nikolaj A., russl. Festungskommandant  ​169 Potemkin, Grigorij A., Fürst, russ. Feldmarschall  ​276, 278, 297, 361, 363 – 365, 432 f., 440, 508 Potemkin, Pavel S., kaukasischer Generalgouverneur  ​171, 278, 490 Pott von Luberas, Ananias Christian, dt. Kameralist  ​299 Pufendorf, Samuel, dt. Philosoph  ​205 f., 208 f., 299, 311, 509, 516 Pugačev, Emeljan I., rebellischer DonKosak  ​34, 163, 167, 263, 336, 381, 427, 455, 511 Putjatin, Avram A., Orenburger Gouverneur  ​161, 333, 357 – 359, 361, 513 Raeff, Marc, Historiker  ​7, 42, 308 f., 516 Rejnsdorp, Ivan A./Reinsdorf, Johann Friedrich, Orenburger Gouverneur  ​163, 227, 359, 361 f., 418, 427 Rosenberg, Andrej G., Militärgouverneur von Cherson u. Taurien  ​366 – 368 Rumjancev, Alexander I., Gouverneur von Astrachan  ​59

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Rumjancev, Nikolaj P., russl. Handelsminister  ​274 Ruthner, Clemens, Historiker  ​26 Ryčkov, Petr I., russ. Historiker, Ökonom, Geograph  ​39, 141, 156 – 158, 160, 173, 214 – 217, 254, 263, 339 – 341, 343 f., 347, 350, 354, 358 f., 402, 424, 426, 428 f., 486 f. Sabanskij, Petr, Bojarensohn  ​65 Šablej, Pavel, Historiker  ​73, 77, 98 Šafirov, Petr P., russl. Diplomat  ​94, 105, 200, 202 – 206, 208 f., 214, 225, 313 Said, Edward, Literaturkritiker  ​39, 41 Šakur-Lama, geistl. Oberhaupt der Kalmücken  ​394 Saltykov, Fedor S., russl. Gesandter  ​203, 210 f., 330, 503 f., 506 Saryčev, Gavriil A., russl. Seefahrer  ​182, 428, 482 Ščerbatov, Michail M., russ. Philosoph u. Staatsmann  ​173, 213 Schierle, Ingrid, Historikerin  ​8, 45, 209, 472 Schultz, Hans-Dietrich, Geograph  ​233 Seed, Patricia, Historikerin  ​54 f. Šelichova, Natalja, Ehefrau von G.I. Šelichov  ​463 Šelichov, Grigorij I., Kaufmann, Entdecker, Seefahrer  ​32, 177, 181 – 185, 187, 370 f., 383, 463 Semek, Chan, Mittlere Horde der Kasachen  ​467 Sepúlveda, Juan Ginés de, span. Humanist ​ 319 Šeremet’ev, Michail B., russ. Feldmarschall  ​105, 246 Šeremetev, Vladimir P., russ. Generalleutnant  ​246

604

Register

Šerstova, Ljudmila I., Historikerin  ​107, 111 Sil’vestr (Glovatskij), russ.-orth. Metropolit  ​504 Širgaz Ajčuvak, Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​444, 450 Slezkine, Yuri, Historiker  ​42, 44 Sof’ja, russl. Regentin  ​294 f., 300 Sojmonov, Fëdor I., sibir. Generalgouverneur  ​347 Sojmonov, Leontej Ja., russl. Generalleutnant  ​328 f., 465 Solov’ev, Sergej, Historiker  ​29 Spafarij, Nikolaj G., moldauischer Adliger ​ 224 Speranskij, Michail M., russl. Staatsmann  ​ 371, 373, 446 f., 449 f., 454, 515 Spiridov, Matvej G., russl. Senator  ​364 f. Špringer, Ivan I., russl. Generaloberst  ​348 Starr, Frederick, Historiker  ​42, 497 Stefanovič, Petr, Historiker  ​57 f. Sunderland, Willard, Historiker  ​7, 19 f., 29, 42, 234, 511 Syranov, Sofron, jakutischer Delegierter  ​ 473 Syrym (Srym), Batyr, kasachischer Ältester  ​427, 429, 435, 441, 443 f. Taimasov, Leonid, Historiker  ​249 Tajmanov, Isataj, Kasache der Inneren Horde  ​445, 452 Tatiščev, Vasilij N., russl. Staatsmann u. Gelehrter  ​19, 39, 59, 143 f., 146, 148, 166, 244 f., 248 – 251, 261, 327 – 331, 337, 339, 347, 365, 405, 411, 413, 429, 469, 506 f. Temnak/Pavel, aleutischer Geisel  ​181 Temrjuk Idarov, kabardinischer Fürst  ​ 118 – 120, 123, 125

Tevkelev, Aleksej/Kutlu-Mu(c)hammed, russl. Staatsmann  ​94 f., 139 – 142, 146, 148 f., 156 – 158, 160, 173, 214 – 217, 229, 236 f., 254, 263, 339 – 341, 343 f., 347, 350, 354, 357 f., 409 f., 413, 415, 421, 424, 426, 428 f., 438, 467 f., 477, 486 – 488 Thaden, Edward, Historiker  ​497 f. Tolstoj, Pëtr Andreevič, russl. Diplomat  ​ 202, 225 Trepavlov, Vadim, Historiker  ​51, 54, 72 – 75, 84, 88, 95, 98, 107, 118 Tuptalo, Dmitrij, ukr. Geistlicher  ​301 Turobojskij, Iosif, Präfekt der Slav. Gr.Lat.-Akademie  ​225 Ubaši, Chan der Kalmücken  ​85, 397 – 401 Urusov, Fürst Vasilij Alekseevič, russl. Generalleutnant  ​145, 150, 229, 411 – 413, 416, 463 Utemisov, Machambet, Kasache der Inneren Horde  ​445, 452 Vasilij III., Moskauer Großfürst  ​57 Vattel, Emer(ich) de, Schweizer Rechtsphilosoph  ​359 f. Vauban, Sébastien le Prestre de, frz. Festungsbaumeister  ​241 f., 245 Vejmarn, Ivan F./Weymarn, G.J.F. von, russl. Generalmajor  ​341, 343 – 350, 352, 357, 365, 512 Vjazmitinov, Sergej K., russl. Minister d. Landstreitkräfte  ​366 f. Vladimir, Kiever Fürst  ​108 f., 112, 238 Volkonskij, Grigorij S., Orenburger Militärgouverneur  ​273, 492 Volkov, Dmitrij V., Orenburger Gouverneur  ​98, 159 – 161, 163 f., 166, 168, 170, 173, 260, 267, 350 – 358, 454, 488

Geographische und ethnische Bezeichnungen

Volynskij, Artemij P., Gouverneur von Astrachan  ​138, 229, 244 f., 317, 330, 388 f., 391 – 394, 406, 412, 504 Von-Mengden, Ivan A., russl. Generalmajor  ​318 Voroncov, Aleksandr R. Graf, russl. Innenminister u. Kanzler  ​366 f., 491 Walter, Dierk, Historiker  ​270 Weber, Max, dt. Soziologe  ​456 Werth, Paul, Historiker  ​308 f., 508 White, Richard, Historiker  ​40, 260, 277 Wicquefort, Abraham de, niederländischer Diplomat  ​205

605

Wortman, Richard, Historiker  ​384, 466, 471, 477, 494 Yaroshevskij, Dov, Historiker  ​97 f. Zam’jan, Tajši, kalmückischer Fürst  ​334 f. Žan-Tore, Chan, Kl. Horde der Kasachen  ​ 444 Zavališin, Irinarch I., russl. Grenzinspekteur von Astrachan  ​271, 510 Zmeev, Andrej I., russl. Oberst  ​326, 328 – 331, 365, 505 f. Zuev, Andrej S., Historiker  ​78, 133

8.2  Geographische und ethnische Bezeichnungen Alaska/Russisch-Alaska  ​30, 32, 50, 106, 127, 134 – 136, 171, 174, 176 – 178, 182, 184 f., 187, 189 – 191, 234, 297, 370 – 372, 382 f., 428, 463, 514 Aleuten  ​31 f., 134 f., 176 f., 179, 181, 185, 187, 381 – 383, 481, 483 Altaj-Gebirge  ​78, 84, 248, 252 Amur-Darija  ​235 Aralsee  ​235, 428, 452 Astrachan  ​69, 117, 121, 128, 130, 144 f., 154, 170, 199 f., 230, 255, 287, 317, 322, 324, 330, 335, 386, 389, 394, 404 f., 412, 445, 450, 461, 504 Astrachan, Chanat  ​13, 15, 53, 64, 117 Azov  ​241, 276, 315, 366, 383, 400 Azovsches Meer  ​276 Badachšan  ​235 Bajkal-See  ​252 Baltikum, baltische Provinzen  ​30, 51, 58, 102, 189, 209, 310, 343, 403, 465, 471, 484

Barabiner-Tataren  ​78 Baschkiren  ​9, 33, 35, 59, 70, 72, 76 f., 89, 116, 127, 131 f., 135, 138 f., 141, 143 f., 155, 157, 163, 168, 215 f., 229, 235, 237 f., 240, 244 – 247, 249 f., 252 f., 256 – 258, 260, 262 f., 266, 268, 274 – 276, 279 f., 294, 297, 318, 322 f., 339, 354 – 358, 363 f., 377, 380 f., 387, 389, 410, 424, 432, 443, 447, 464 f., 467 f., 477, 485 f., 488, 491, 513 f. Belgorod  ​239, 255 Belgrad  ​129, 275 Belyj Jar  ​239 Böhmen  ​298 Brabanter Linie  ​242 Brasilien  ​270 Briten  ​35, 39, 54, 359, 489 Buchara  ​147, 235, 408 Buchara, Chanat  ​237, 380, 427, 473 Bühl-Stollhofener Linien  ​242 Burjaten  ​31, 127, 133, 176, 368, 370, 381, 404

606

Register

Caricyn-Linie  ​241, 243, 246, 254 f., 262 f., 324 Čeremissen  ​14, 54, 210, 288, 293, 302, 312, 355, 503 Chanty  ​65, 303, 328 Charkov, Gouvernement  ​315 China  ​14, 33, 74, 78, 102, 104, 113, 125, 158, 163, 224, 235, 275, 281, 300, 312, 336, 364, 375, 408, 464, 473, 489 Chiva  ​237 Chopër  ​241 Čuguev  ​315 f., 325 f. Čukčen  ​31 f., 78, 127, 133 f., 176, 190, 381 f., 419, 482 Čuvašen  ​35, 54, 63, 163, 292, 308, 312, 355, 357, 503 Dagestan  ​78 f., 126 Don  ​40, 240 f., 254 – 256, 315, 366, 387, 390, 401 Dsungaren  ​35, 125, 148 f., 169, 236, 336, 380, 467 Dsungarien, Dsungarisches Reich  ​401 Ekaterinburg  ​143 Esten  ​398 Estland  ​30, 58, 91, 390 Ferner Osten, Fernost  ​26, 30 f., 38, 46, 50 f., 66, 74, 78 f., 84, 91, 106, 113, 123, 127, 131 – 136, 171 – 175, 177 f., 184, 187 – 191, 290, 296, 312, 319, 369, 371, 373, 381, 428, 460 f., 470, 480, 483, 510 Finnen  ​398 Frankreich  ​92 f., 99, 103, 195, 216, 224, 242, 298, 374, 495, 497 Franzosen  ​39, 54 f., 93, 104, 242, 331, 359, 481, 497, 515

Habsburger Reich  ​26, 298 Hetmanats-Ukraine  ​53, 67, 69, 88, 102, 201, 211, 256, 294, 298, 384 f., 403 f., 406, 408, 452 Holländer  ​54, 104, 270 Indien  ​33, 74, 92, 102, 235, 237, 331, 352, 364, 373, 408, 496 Irkutsk  ​180, 184 – 186, 252, 369 f., 382, 483, 509 Irtyš  ​252, 428, 461 Išimsker Linie/Bittere Süßwasser-Linie  ​ 259 Itel’menen  ​31 f., 50, 127, 381 f. Jaik  ​34, 43, 140, 149, 153, 163, 240, 248 f., 251 f., 255 f., 335 f., 347, 356, 388, 400, 402, 410, 414, 422, 431 Jaiker Linie  ​251, 263 Jakutat  ​185, 188 Jakuten  ​31, 50, 65, 127, 176, 305, 368, 381 f., 404, 473, 505 Jaroslavl’  ​293 Jenissej-Kirgisen  ​65, 78 Jugorsker Gebiet/Jugra-Land  ​59 f., 116 Jukagiren  ​31 f., 127, 382, 460 Kabardiner  ​34 f., 70, 72, 89, 118, 121, 125 f., 129, 132, 155, 169, 226, 276, 280, 297, 337, 362 f., 376, 383 f., 387, 465, 471, 489 Kad’jak  ​135, 176, 178, 181 f., 184 f., 187 f., 282, 514 Kad’jaken  ​188 Kalmücken  ​30, 33, 38, 50, 67, 69 f., 72, 89, 127, 130, 135, 138, 145, 155, 163, 168, 216, 218, 235, 240 f., 243, 247, 250, 252, 255 f., 262 f., 266, 271, 275, 279 f., 314 – 318, 322 – 337, 340, 355, 372 f., 376, 379 f., 383 f., 386 f.,

Geographische und ethnische Bezeichnungen

389 – 408, 410, 412, 414 f., 423 f., 427, 429, 436, 443, 445, 447, 452 – 455, 461 f., 465, 469 – 473, 491, 504 – 506 Kaluga  ​450 Kama  ​163, 239, 244, 312, 397 Kamčatka  ​32, 49, 65, 134, 174, 177, 181, 305, 312, 481, 483 Karakalpaken  ​238, 240, 247, 253, 361, 379 Karelien  ​30, 189 Karelier  ​284 Kasachen  ​9, 33, 50, 70, 77, 79, 97 f., 127, 132, 135, 139 f., 142, 144, 146 – 148, 150, 153 – 157, 160 – 169, 188, 214 – 218, 229, 235 – 238, 240, 248, 250 f., 253, 259, 262 – 264, 266 – 271, 273 – 276, 280, 323, 335, 339 – 359, 363 f., 372 f., 375, 377, 379 f., 383 f., 387, 396, 407 f., 410, 412 – 415, 417, 419, 421 f., 424 – 436, 438, 440 – 443, 445 – 452, 454 – 456, 463, 473 f., 486, 488 – 490, 492, 507, 510, 513, 515 – Große Horde  3​ 3, 168, 252, 372, 377, 450, 452, 474 f. – Innere Horde  ​271, 273, 372, 420, 445 f., 450, 452 – Kleine Horde  ​33 f., 65, 69, 75, 79, 95, 97, 139 f., 145 f., 148 f., 151 – 153, 156, 158, 162, 167 – 169, 215, 227, 236 f., 247, 260, 262 f., 266 – 268, 271 f., 274, 279, 305, 317, 339 – 341, 346 f., 349, 351, 363, 379, 384, 404, 406 – 412, 416 f., 419, 422, 424, 427, 429 f., 435, 439, 442, 444 – 455, 465, 471, 473, 486 – 491 – Mittlere Horde  ​33, 72, 77, 79, 125, 148 f., 158, 161 – 163, 167 f., 229, 260, 274, 340, 346, 348 f., 357, 364, 372, 377, 410 f., 413, 419, 422, 429,

607

446, 448 – 452, 455, 463, 465, 467, 471, 487, 489, 491 f. Kaspisches Meer  ​33, 124, 171, 225, 248, 251 f., 255, 275 f., 428 Kaukasische Linie  ​273, 276, 278 Kazan  ​53, 60, 69, 116 f., 138, 143, 150, 200, 229, 237, 244, 246 f., 284 – 287, 291, 294, 299, 302, 305, 461 Kazan, Chanat  ​13 f., 53 f., 60, 63 f., 99, 117, 199, 224, 284, 286, 322, 484, 501 Kiev  ​302, 502 Kiever Reich/Kiever Rus’  ​14, 49, 56, 60, 67, 99, 114 – 116, 120, 122, 136, 228, 238, 279, 284, 322 f., 331, 458, 501 Kirgisen  ​65 f., 78, 127, 141, 216 f., 274, 351, 372 f., 448, 450 f., 475 Kizljar  ​154, 168, 171, 227, 275 f., 337, 383 Kleinrussen  ​388, 398, 404, 499, 502 Kleinrussland  ​69 f., 435, 465 Kodjaken  ​32, 187, 382 f. Kokand, Chanat von Kokand  ​380, 473 Kolyma  ​133 Korjaken  ​31 f., 127, 133 f., 381 f. Kosaken  ​34, 53, 58, 68 – 70, 88, 119, 123, 129, 138, 140, 163, 178, 181, 253 – 256, 259 f., 266, 269 f., 276 f., 289, 315, 326, 335 f., 347, 356, 363, 379, 381, 383, 385, 387 f., 390, 396, 402 f., 410 f., 422, 432 f., 460, 471 f., 481, 488 Kosaken-Hetmanat  ​53, 58 Krasnojarsk  ​397 Krim  ​51, 105, 129, 131, 279, 336, 361, 433, 437, 471 Krim, Chanat  ​30, 34, 70, 116, 118 – 120, 125, 169, 237, 241, 263, 479 f. Krimtataren  ​30, 79, 96, 117, 120 f., 238, 240, 315, 391, 396, 433, 508 Kuban  ​276, 279, 327, 336, 365 f., 387, 400

608

Register

Kuma  ​401 Kumyken  ​35, 118, 121, 124, 126, 337 Kurilen  ​31, 174, 180, 185, 371, 381 Kuzneck  ​252 Lappen  ​284 Litauen  ​56, 83, 224 Livland  ​30, 58, 91, 165, 208, 287, 390, 435 Livländer  ​398 Man’si  ​303, 328 Menzelinsk  ​239, 246 Meščerjaken  ​256, 258 Mišaren/Možjary  ​54 Mittelfranken  ​242 Mongolen  ​49, 63, 65, 67, 107 – 110, 115, 126, 228, 322, 462, 477 Mordwinen  ​54, 288, 291, 298, 308, 312, 503 Moskau  ​8, 39, 54 – 60, 63 f., 72, 78, 82, 84, 99, 107, 110 – 112, 114 – 123, 126, 128, 136, 140, 145, 226, 230 f., 257 f., 286, 294, 298, 301, 392, 464 – 466, 468, 471, 479 f., 501 Moskauer Großfürstentum  ​13 f., 39, 49, 56, 58 f., 66, 99, 115, 123, 142 Moskauer Reich  ​15, 20, 28, 35, 49, 53 – 55, 63, 67, 69, 84, 112 f., 115 – 117, 119 – 121, 123, 125 f., 128, 130, 136 f., 200 f., 204 f., 224 f., 238, 283, 297 – 301, 322, 352, 462, 479, 516 Moskauer Rus’  ​13 Mozdok  ​131, 169, 226, 276, 278 f., 337, 362, 383 Nagaibak  ​318 Nerčinsk  ​252 Neu-England  ​92 Neue Transkama-Linie  ​247 – 249

Neu-Frankreich (Kanada)  ​92, 99, 495 Neurussland  ​248, 361 Nogaier/Nogai-Horde/Nogai-Tataren  ​30, 33 f., 70, 72, 78 f., 121, 127 f., 240 f., 243, 276, 280, 322, 365 – 368, 376, 387, 443, 465, 475, 479 Nordamerika  ​104, 331, 360, 370 Nordkaukasus  ​30, 34 f., 38, 40, 43, 47, 49 f., 59, 70 – 72, 74, 84, 106, 113, 117 – 121, 123 – 127, 131 f., 135 f., 141, 154, 168 f., 171, 182, 185, 189 – 191, 226, 273 – 280, 297, 337 f., 362, 383 f., 460, 489 Nordpazifik/Nordpazifikraum  ​26, 30 f., 35, 38, 46, 50, 66, 79, 106, 132, 135 f., 171, 175 – 177, 180, 184 f., 188 – 191, 234, 369 – 371, 480 f., 510 Novgorod  ​56, 58, 68, 112, 114, 287 Omsk  ​252, 259 Orenburg  ​19, 38, 144, 146, 150 f., 156, 160, 163, 168, 173, 185, 229, 235 f., 248 – 250, 256, 259, 267 f., 273, 275, 305, 327, 332, 340, 351, 357, 411 f., 416 f., 426, 432 f., 435, 437, 439, 445, 450, 463, 465, 485 – 487, 492 Orenburger Linie  ​250 f., 256 f., 259, 262 f., 273, 278, 439 Orsk  ​248, 410 f. Osmanen  ​35, 128, 170, 207 f., 242, 396 Osmanisches Reich  ​30, 35, 79, 105, 120 f., 125 f., 128 f., 131, 169, 207, 239, 243, 275, 280, 295, 336, 366, 395, 480, 489 Ostjaken  ​14, 59, 66, 127, 298, 303 – 307, 505 Ostsibirien  ​30 f., 106, 127, 132, 135, 154, 187, 296, 369 Perejaslav  ​53, 58, 68 – 70, 109, 385 f., 459

Geographische und ethnische Bezeichnungen

Persien  ​125 f., 131, 245 Petropavlovsk  ​259 Polen  ​30, 37, 51, 102, 120, 208, 212, 259, 310, 508, 511 Polen-Litauen, polnisch-litauisches Reich  ​ 88, 189, 201, 239, 298, 511 Portugiesen  ​55, 270 Pruth  ​105 Rjazan’  ​291 Romanov  ​293 Samara  ​244, 249 f., 318, 328 Saraj  ​63, 109 – 112, 114 f., 123 Saratov  ​171, 315, 318, 389, 508 Schwarzes Meer  ​124, 276, 471 Schwarzmeer-Kordonlinie  ​279 Schwarzwaldlinien  ​242 Schweden  ​13, 58, 69, 197, 202 – 204, 206, 208, 214, 224, 275, 287, 310, 315, 343, 387, 442 Selenginsk  ​252 Sergievsk  ​246 Sibirien  ​13 f., 19, 26, 31, 38, 46, 50, 66, 71, 74, 79, 84, 106, 108, 113, 115, 127, 131 f., 136, 171 – 175, 185, 188 f., 191, 259, 290, 295 f., 300, 302, 308, 319, 348, 369, 371 – 373, 381, 448, 460 – 462, 470, 472, 480 f., 504 Simbirsker Linie  ​239, 241 Smolensk  ​30, 189, 390, 465, 484 Soročinsk  ​150 Sowjetunion  ​42, 46, 106, 234 Spanier  ​35, 54, 270, 319, 352, 481 f., 489 f. Stavropol’  ​318, 325 – 328, 332 – 334, 336, 338, 340 f., 373, 397, 407, 454, 470, 472, 505, 509 St. Petersburg  ​37 f., 46 f., 57, 60, 63 f., 82, 87, 97, 105, 119, 146 f., 152, 172 f.,

609

183, 187, 202 f., 209, 234, 245, 260, 264, 284 – 286, 293, 308, 324, 333, 337, 339, 343, 350, 366, 370, 392, 399 f., 402, 405, 410, 418, 422, 431, 438, 442, 450, 459, 463 – 465, 467 f., 473 – 475, 493 f. Südamerika  ​44, 104, 319, 331 Sunži  ​123 Svijažsk  ​53 Syr-Darija  ​235 Syzraner Linie  ​239 Tambov  ​239, 291 Tatar-Mongolen/Goldene Horde  ​13, 53, 56, 59 f., 70, 107 f., 110 – 116, 126, 477, 479 Terek  ​35, 123 f., 129, 255 f., 275 f., 337, 401 Tereška  ​315 Tersk  ​116, 121 – 126 Tlinkity-Indianer  ​127, 130, 185, 187 f. Tobol  ​251 Tobol’sk  ​201, 224, 299 f., 302, 306 f., 504 Transkama-Linie  ​239 f., 244, 246, 249, 256, 279, 383 Troick  ​160 Ufa  ​138 f., 164, 237, 244, 257, 318, 325, 426, 428, 430, 432, 434 f., 437, 443 f., 485 Ujsker Linie  ​251 Unalaška  ​180 Vjatka-Region  ​31, 244, 285 f., 381 Voronež  ​239 Votjaken  ​163, 503 Walachei  ​105 Weißenburger Linie  ​242 Westsibirien  ​59, 163, 252

610

Register

Wogulen  ​59, 289, 303, 305 f., 505 Wolga  ​50, 53, 110, 127, 135, 191, 239 – 241, 244 f., 250, 255 f., 276, 279, 286, 290 – 292, 294, 296, 305, 307 f., 312, 316, 319, 328, 334 – 336, 338, 365, 372, 399, 401, 403, 445, 508

Zyrjänen/Komi  ​284