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German Pages [328] Year 2000
HYPOMNEMATA 128
V&R
HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN
Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones /Günther Patzig/ Christoph Riedweg/Gisela Striker
HEFT 128
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
JÖRG HARDY
Piatons Theorie des Wissens im „Theaitet"
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Verantwortliche Herausgeber: Dorothea Frede und Günther Patzig
Die Deutsche Bibliothek-
CIP-Einheitsaufnahme
Hardy, Jörg: Piatons Theorie des Wissens im „Theaitet" / Jörg Hardy. [Verantw. Hrsg.: Dorothea Frede und Günther Patzig]. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Hypomnemata ; H. 128) Zugl. Kurzfassung von: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1997 u.d.T.: Hardy, Jörg: Epistemologie und Sprachphilosophie in Piatons Dialog Theaitetos ISBN 3-525-25225-0 D 29 © 2001, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt Vorwort Einleitung I
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Gesprächseröffnung (143 d -151 d)
1. Methodologisches Präludium „Was ist Wissen ? " (143 d -147 c) 2. Theaitets geometrische Musterlösung und die Sokratische Mäeutik (147 d -151 d) 2.1. Die Geometrielektion 2.2. Die Mäeutik Π
9
19 28 28 39
Wissen ist Wahrnehmung (151 e - 187 a)
1. Der protagoreische Relativismus (151 e -160 e) 1.2. Die Mensuraformel (152 a -152 c) 1.3. Die Flußontologie (152 d -155 d) 1.4. Das Interaktionsmodell der Wahrnehmung (155 e -160 e) 2. Interludium - Eristik und Dialektik (161 a -169 e) 2.1. Das Praxis-Argument 2.2. Die fiktive Apologie des Protagoras (166 a -168 c) 2.3. Rückblick: Dialektik und Eristik im Rollentausch 3. Die Widerlegung des Relativismus (170 a -179 b) 3.1. Der theoretische Geltungsanspruch (170 a -171 c) 3.2. Exkurs: Relativismuskritik, Wahrheit und Dialog 3.3. Die Ethik der Wahrheitssuche (171 d -177 b) 3.4. Der praktische Geltungsanspruch (177 c -179 b) 4. Die Widerlegung der Flußontologie (179 c -183 c) 5. Fehlerdiagnose: Wahrnehmen heißt Urteilen (183 d -187 a)
43 51 56 60 73 73 76 79 83 89 97 104 117 125
6
Inhalt
ΙΠ Wissen ist richtige Meinung (187 b - 201 c) 1. Im Labyrinth des Irrtums Paradoxien der „richtigen Meinung" (187 b -190 e) 1.1. Die Irrtumsparadoxie (188 a - c) 1.2. Sein oder Nicht-Sein (188 d -189 b) 1.3. Irrtümer als Verwechslungen (189 c -191 a) 2. Das Wachstafelmodell (191 a -196 e) 3. Das Taubenschlagmodell (197 a - 200 d) 4. Fehlerdiagnose: Die Verwechlung von Wissen und Meinen 5. Der forensische Gegenbeweis (200 e - 201 c)
159 162 172 173 176 190 198 206
IV Wissen ist richtige Meinung mit Erklärung (201 d - 210 a) 1. Was bedeutet „Erklärung" ? 1.1. Sokrates' Traum (201 d - 203 b) 1.2. Sokrates' Traum: Der Text 1.3. Deutungsvarianten 1.4. Das Modell der Buchstaben 2. Die Kritik der Traumtheorie (203 c - 206 b) 2.1. Der Teil und das Ganze - eine dialektische Übung (203 c- 205 e) 2.2. Ist das Ganze die Summe seiner Teile ? 2.3. Das empirische Gegenargument (206 a - 206 b) 3. Ein Deutungsversuch: Die Komplexität der Dinge und ihrer Erklärungen 4. Noch einmal: Was bedeutet „Erklärung" ? (206 c - 210 d) 4.1. Erklärung als vollständige Analyse (206 d - 208 b) 4.2. Vermeidbare und unvermeidbare Fehler 4.3. Erklärung als individuierende Beschreibimg (208 c - 210 a)
217 217 222 225 237 243 243 249 255 262 267 267 272 279
Inhalt
V
Zusammenfassung
7
289
Epilog
303
Literaturverzeichnis
307
1. Zugrundegelegte Textausgaben 2. Weitere Quellentexte aus der Antike 3. Herangezogene Übersetzungen des Theaitet 4. Lexika 5. Forschungsliteratur
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Stellenverzeichnis
323
Namen- und Sachregister
325
„Daß man zu wissen glaubt, was man nicht weiß. Darauf beruhen wohl alle Irrtümer unseres Denkens." (Piaton, Sophistes) „Man muß nicht nur die Wahrheit erkennen [... ], sondern auch die Ursache des Irrtums - denn dies stärkt die Überzeugung; wenn man nämlich verstanden hat, aus welchem Grund etwas als wahr erscheinen kann, ohne [es wirklich] zu sein, so wird man sich umso mehr auf die Wahrheit selbst verlassen [... ]." (Aristoteles, Nikomachische Ethik)
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel „Epistemologie und Sprachphilosophie in Piatons Dialog Theaitetos" im Herbst 1997 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Peter Schmitter und Alexander Haardt habe ich für die Betreuung der Arbeit zu danken. Wertvolle Anregungen und Kritik verdanke ich Dorothea Frede und Hermann Weidemann. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und den Herausgebern der Reihe „Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben" danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Meinen Eltern und meiner Schwester Margret möchte ich für die herzliche Begleitung meines Studiums danken. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Ulla für ihre Unterstützung und Inspiration. Meiner Familie ist dieses Buch gewidmet. Berlin J u l i 2000
Einleitung Piatons Theaitet gehört zu den ersten uns überlieferten systematischen Auseinandersetzungen mit erkenntnistheoretischen Fragen. Der Dialog ist dem Versuch gewidmet, „zu begreifen, was eigentlich das Wissen selbst ist" (145 e 9). 1 Geht es in den Gesprächen in Piatons Dialogen stets um ein begründetes Wissen der Sachverhalte, die jeweils den Gegenstand der „Was ist X ?"-Frage darstellen, so wird in diesem Dialog, der den Auftakt einer Trilogie bildet, die mit dem Sophistes und dem Politikos fortgesetzt wird, 2 nun das Wissen selber zum Gegenstand der „Was ist X ?"Frage. Auf die Definitionsfrage nach dem Wissen (έπιστήμη) läßt Piaton die Gesprächspartner drei Vorschläge erörtern, die unter den Bezeichnungen „Wahrnehmung"
(αΐσθησις), „zutreffende Meinung"
(άληθής
δόξα) und „zutreffende Meinung mit Erklärung" (ή μετά λόγου άληθής δόξα) als mögliche Antworten zur Diskussion stehen. Dabei werden die Implikationen und Folgen entfaltet, die sich daraus ergeben, daß die drei Kandidaten jeweils mit dem Anspruch einer Definition von Wissen schlechthin auftreten. Der Dialog wird auf diese Weise zu einem Experimentierfeld des Wissens.
1 Wenn nichts anderes angegeben ist, handelt es sich bei den Übersetzungen um eigene Vorschläge, auf der Grundlage der Textausgabe von Burnet. Zum Vergleich herangezogen habe ich dabei die Übersetzungen von Apelt (1923), Rufener (1965), Schleiermacher (1970), Martens (1981) und Heitsch (1988: 160-186). 2 Einen Anhaltspunkt für die Datierung des Dialoges bietet die im Rahmengespräch (142 a 7 - 8) erwähnte Schlacht bei Korinth zwischen den Athenern und Thebanera, die im Jahre 369 v. Chr. stattfand, vgl. Sachs (1914), zur Kontroverse um die Datierung vgl. auch Zeller (1891). Der Theaitet wird auf der dramaturgischen Ebene mit den beiden Folgedialogen verknüpft (Sophistes 216 A, Politikos 258 A). Das grundlegende thematische Motiv bildet die Frage „Was ist Wissen?". Im Theaitet wird sie ausdrücklich in dieser Form erörtert. In den folgenden beiden Dialogen wird sie dadurch thematisiert, daß die Suche nach dem Sophisten und dem Politiker von der Frage ausgeht, ob sie sich jeweils durch ein spezifisches sachverständiges Wissen auszeichnen (Sophistes 221 D, Politikos 258 B), zur Trilogie vgl. Kranz (1986) und Dorter (1994: 228-243). Für die chronologische Position des Theaitet relevante inhaltliche Fragen diskutiert Bostock (1988: 1-31). Grundsätzlich zur Chronologie der platonischen Dialoge vgl. Brandwood (1990) sowie den neueren Überblick in Kahn (1996: 42-48), wo auch die einschlägige Literatur genannt wird.
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Einleitung
In den früheren Dialogen entzündet sich die Wissenssuche stets an der Kritik nur vermeintlichen Wissens von einer bestimmten Sache. Ob die Gesprächspartner des platonischen Sokrates über das begründete Wissen (έπιστήμη) verfügen, das mit der Beantwortung der „Was ist X ? "-Frage in Piatons Dialogen jeweils intendiert ist,3 bemißt sich an der Fähigkeit des Meinenden, Rechenschaft geben zu können.4 An diesem Maßstab haben sich die Wissensansprüche zu bewähren. Die Kriterien und Formen eines solchen begründeten Wissens werden im Theaitet nun dadurch thematisiert, daß sich die Gesprächspartner dieses Dialoges um eine hinreichende Erklärung dessen, „was das Wissen selbst ist", um einen λόγος für έπιστήμη bemühen. Wenn im Theaitet Meinungen über das Wissen zur Diskussion stehen, so unternehmen die Gesprächspartner den Versuch einer Selbstaufklärung über den Begriff des Wissens. Und auch die somatische Mäeutik wird hier - und nur in diesem Dialog - eigens thematisiert. Am Beginn der Untersuchung steht eine evidente, vortheoretische Bestimmung des Gesuchten: Auf die Frage, was Wissen ist, antwortet Theaitet mit dem Hinweis auf die verschiedenen wissenschaftlichen oder handwerklichen Disziplinen (τέχναι), in denen ein spezielles sachverständiges Wissen zur Anwendung kommt. Die „Künste" (τέχναι) repräsentieren die epistemische Praxis, und treten insofern als phänomenologisch Erstes in den Blick. Diese erste Auskunft ist zutreffend, aber sie beantwortet nicht die sokratische Definitionsfrage. In dem Hinweis auf das 'technisch' sachverständige Wissen ist nun auch ein Vorverständnis vom „Wissen selbst" impliziert. Und dieses vortheoretische Verständnis von Wissen, das in Theaitets erster, exemplarischer Auskunft zum Ausdruck kommt, gilt es nun zu explizieren und idealerweise in Form einer Definition zu erfassen. Sokrates' Frage zielt auf eine einheitliche Erklärung (λόγος), mit der diejenigen Merkmale erfaßt werden, die den τέχναι, den einzelnen wissenschaftlichen und handwerklichen Disziplinen gemeinsam sind, um auf diese Weise auch zu erklären, warum sie denn jeweils Instanzen von Wis3 Zur „Was ist X ?"-Frage in Piatons Philosophie vgl. Vlastos (1981) und Stemmer (1992: 31-41). 4 Laches 187 D f., Protagoras 336 C, Gorgias 501 A, Merton 81 A, Kratylos 390 C, Phaidon 76 B, Politela 510 C, 531 E, 533 C, Politikos 286 A.
Einleitung
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sen darstellen. Theaitet formuliert drei Thesen, die auf dem Wege der mäeutischen Hilfestellung, die Sokrates für das Verständnis dieser Thesen leistet, präzisiert und als Definitionsvorschläge geprüft werden. Theaitets Behauptungen treten mit dem Anspruch einer Definition von Wissen auf, den sie am Ende nicht erfüllen können. Daß dieses Ziel nicht erreicht wird, scheint indessen von Anbeginn unvermeidlich, doch sind wohl auch - in Anbetracht des anvisierten Ziels, das ja anspruchsvoller kaum sein könnte - nur teilweise, nämlich unter bestimmten Voraussetzungen zutreffende Antworten schon ein Erfolg, sofern man jedenfalls weiß, warum es sich lediglich um Teilantworten handelt. Und auch fehlerhafte Antworten bringen die Erörterung voran, denn dadurch, daß man genau weiß, aus welchen Gründen eine Antwort verfehlt ist, fällt auch Licht auf die richtige Lösimg. Sokrates macht zunächst die begrifflichen Implikationen deutlich und zieht dann die Folgerungen, die sich aus den Definitionsvorschlägen ergeben. Theaitets Definitionsvorschläge werden zwar widerlegt, doch die sokratische Fehleranalyse hat auch einen produktiven heuristischen Gehalt. Wenn man sich über die Irrtümer und ihre nachvollziehbaren Gründe Klarheit verschafft, so kann man das Ziel erneut anstreben, und sich um eine Erklärung bemühen, die den Fehlern Rechnung trägt. Dieser Aspekt kommt im Theaitet in der sokratischen Selbstdeutung der Mäeutik und ebenso im Sophistes zur Sprache.5 Wenn man im Ergebnis der dialektischen Prüfung einer Meinung, die man zunächst einmal aus guten Gründen für richtig hält, eingesehen hat, weshalb diese Meinung nicht zutrifft, wenn also die 'therapeutische Widerlegung' eine ^Reinigung der Seele von der unfreiwilligen Unwissenheit' bewirkt hat, so kann die Irrtumseinsicht auch die Problemlösung initiieren. Diesen Aspekt der sokratisch-mäeutischen Klärung von Meinungen kann man als Problemlösung durch Fehleranalyse bezeichnen. Und dieses Verfahren bietet meines Erachtens auch einen hermeneutischen Leitfaden für die Interpretation des Dialoges.6 5 Sophistes 230 Β - D. 6 Zu den hermeneutischen Aufgaben, die Piatons Dialoge dem Interpreten stellen, vgl. Ebert (1974: 23-35), Stokes (1986) und Heitsch (1992), für den Staat jetzt auch Blößner (1997: 242-288). Für den Zusammenhang zwischen Argumentationsstruktur und Dialogform in den späten Dialogen sei auf den Aufsatz von M. Frede (1992) sowie
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Einleitung
„Problemlösung durch Fehleranalyse" bedeutet, daß man sich aufgrund der Einsicht in die Irrtumsquellen um eine Beantwortung der Ausgangsfragen bemühen kann, mit der man den zuvor en detail aufgewiesenen Fehlern Rechnung trägt. Es handelt sich dabei um eine heuristische Verfahrensweise in dem Sinne, daß Sokrates in der Aufklärung der Definitionsvorschläge im Theaitet davon Gebrauch macht, und zugleich um ein hermeneutisches Prinzip in dem Sinne, daß es sich auch für die Interpretation des Dialoges anwenden läßt.7 Die Erörterung beginnt ja mit der plausiblen, von Theaitet und Sokrates geteilten Annahme, daß die „Künste" Instanzen des „Wissens selbst" sind. Und auch die richtige Methode zur Beantwortung der Definitionsfrage wird vor dem ersten Definitionsvorschlag gemeinsam geklärt. Die Dialogpartner haben im Theaitet somit stets das richtige Ziel im Blick und befinden sich auf dem richtigen Weg. Wenn sie das Ziel dennoch verfehlen, so liegt dies offenbar an solchen „Mißverhältnissen" (Sophistes 228 c 5), die nach Sokrates' Worten im Sophistes so Zustandekommen, daß die Seele, die sich ja niemals „wissentlich und willentlich irren" kann, „sich zwar zielstrebig auf die Wahrheit hinbewegt, deren Erkenntnis aber verfehlt" (228 c 10 - d 2). Nun irrt man sich freilich nicht schlechthin, sondern aus ganz bestimmten Gründen, die man auch kennt, wenn man den Irrtum eingesehen hat. Wenn man aber die Gründe für die vormaligen Irrtümer genau kennt, wenn man also weiß, aus welchen Gründen eine
auf die Beiträge in dem von Gill / McCabe (1996) herausgegebenen Sammelband hingewiesen. Zur Bedeutung der dialogischen Form der platonischen Philosophie vgl. auch Kahn (1996). 7 Den Gedanken, daß Piatons Leser in dem Sinne Adressaten der Mäeutik sind, daß es für das Verständnis der Dialoge erforderlich ist, „sich in in die sachlichen Erörterungen des schriftlich fixierten Dialogs hineinziehen" (1988: 9) zu lassen, haben Burnyeat (1990), D. Frede (1989) und Heitsch (1988, Zitat: 9) für den Theaitet fruchtbar gemacht. Heitsch rückt die Aufklärung von „Ungereimtheiten" in den Mittelpunkt und schenkt dabei insbesondere der Dialogkomposition Beachtung. Einer mäeutischen Lesart der späten Dialoge folgt auch Sayre (1992), insbesondere zum Theaitet vgl. Sayre (1995). Zum Nachvollzug der mäeutischen Klärung bemerkt Burnyeat (1990: 2): „There is as much or more to be learned from raising questions and then discovering in detail why a tempting but wrong answer is wrong." Die Anforderungen an den Leser scheinen mit dem Fortgang der Erörterungen stetig zu steigen. Daher rät Burnyeat den Lesern sehr zu Recht: „[...] your task in Part I is to find the meaning in the text and follow the argument to a satisfactory conclusion. In Part Π you are challenged to respond to the meaning in the text [... ] In Part ΙΠ the task is nothing less than to create from the text a meaning which will solve the problem of knowledge (ebd.: xii]."
Einleitung
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zunächst für richtig gehaltene Meinung nicht zutreffend ist, dann kann man die Irrtümer korrigieren und das Ziel noch einmal anstreben. Wenn man nun die Argumente, mit denen die Definitionsvorschläge widerlegt werden, zu rekonstruieren versucht und dabei auch Sokrates' Kommentierung berücksichtigt, so fällt auf, daß Sokrates sowohl die Probleme der Definitionsvorschläge deutlich macht als auch deutliche Hinweise darauf gibt, wie die Probleme sich lösen lassen. Teils bringt Sokrates selber die Lösungen zur Sprache, teils lassen sie sich aus den Hinweisen erschließen. Dies läßt sich meines Erachtens am besten mit der Annahme erklären, daß Piaton sich über die im Dialog erörterten Probleme im klaren war, und die Dialogpartner vom Prinzip der Problemlösung durch Fehleranalyse Gebrauch machen läßt. Wenn diese Annahme richtig ist, und wenn wir Leser aufgefordert sind, den mäeutischen Klärungsprozeß nachzuvollziehen, indem wir dieses Prinzip auf das im Dialog Gesagte auch dort anwenden, wo Piatons Sokrates die richtigen Antworten nicht selber ausdrücklich zur Sprache bringt, dann kann das Prinzip auch als Leitfaden der Interpretation dienen. Mit anderen Worten: Wenn Piaton die Dialogpartner von dieser Verfahrensweise Gebrauch machen läßt, dann läßt es sich auch, wie ich im folgenden zu zeigen versuche, als ein hermeneutisches Prinzip für das Verständnis des Dialoges fruchtbar machen.8 Im Sinne eines Schlusses auf die beste Erklärung versuche ich zu zeigen, (1) daß Piaton das Prinzip der Problemlösung durch Fehleranalyse im Theaitet anwendet - das heißt auch, daß er sich über die darin erörterten Schwierigkeiten im klaren war - , und (2) daß die Erörterung auf diesem Wege zu einer Explikation und Präzisierung des Wissensbegriffs führt. Mit den sokratischen Definitionsfragen wird stets auch die Bedeutung eines Begriffswortes thematisiert.9 Und „Was ist X ?"-Fragen zu beantworten, heißt auch, den Gebrauch der Begriffe transparent zu machen. So gibt auch Theaitet in seinem Hinweis auf die einzelnen Disziplinen, in deren einer er selber sachkundig ist, ganz selbstverständlich Beispiele für den richtigen Gebrauch von „Wissen". Sobald sich jedoch die Was-es-ist8 Nun läßt sich diese Annahme freilich nicht im strengen Sinne verifizieren oder widerlegen. Sie ist, als hermeneutische Hypothese, in dem Maße gerechtfertigt, in dem sie für die Interpretation erklärungskräftig ist. 9 Vgl. Kapp (1965: 45 f.), (1968: 61 ff.), Wieland (1982: 133-138).
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Einleitung
Frage auf dieses Vorverständnis richtet, versteht es sich nicht mehr von selbst, was eigentlich Wissen ist. Ob man über ein hinreichendes Verständnis der Sache verfügt, das in einer Definition, mit der man auf die Frage danach, „was etwas ist", antwortet, zum Ausdruck kommt, hängt auch davon ab, den vorreflexiven Sprachgebrauch von „Wissen" zu klären und so über das Gemeinte Rechenschaft geben zu können. Sokrates macht nun dasjenige Verständnis von Wissen deutlich, das sich hinter den Begriffen verbirgt, die Theaitet in die Variable der Formel „Wissen ist X " jeweils einsetzt. Die Dialogpartner verschaffen sich so darüber Klarheit, was eigentlich der Sache nach gemeint ist, wenn Theaitet von „Wahrnehmung", „Meinung" und „Erklärung" spricht. Als Definitionsvorschläge sind Theaitets Hypothesen auf diese Weise einem begriffskritischen Korrektiv ausgesetzt; insofern als in der dialektischen Erörterimg auch die in Theaitets Antworten zentralen Begriffe präzisiert, und sodann am Maßstab der Definitionsforderung geprüft werden, hat die Erörterung auch - auf einer methodologischdiagnostischen Ebene - einen sprachphilosophischen Aspekt.10 Die so verstandene Sprachreflexion ist freilich auf die Erkenntnis der Sache gerichtet, „denn nicht vom Wort soll man sprechen, sondern die Sache betrachten, von der die Rede ist" (177 e 1 - 2). Der Weg führt von den Bezeichnungen zur Erklärung, vom όνομα (147b2-3) zum λόγος (148d2).11 Das Ziel der „Was ist X ?"-Fragen charakterisiert Piaton bekanntlich auch als den Bezugspunkt der Ideenannahme. Im Parmenides, der dem Theaitet vorausgeht,12 steht die Ideenannahme selber zur Diskussion. Dort vertritt der junge und noch ungeübte Sokrates eine Auffassung, gegen die Parmenides Einwände vorbringt. Die Kritik - mit der Piaton
10 Daß bereits bei den Vorsokratikern, soweit die uns überlieferten Zeugnisse darüber Aufschluß geben, sprachtheoretische Überlegungen in epistemologische Fragen eingebettet sind, zeigt Schmitter (1996), der den Weg vom „frühgriechischen Epos bis Xenophanes" als einen Übergang von der „Wahrheitsgewißheit zur Wahrheitssuche" charakterisiert (vgl. jetzt auch 2000). 11 Vgl. Sophistes 218 Β - D, 7. Brief 342 B. Piaton kennt freilich auch den Weg vom Logos zum Mythos. Was sich nicht auf argumentative Weise hinreichend darstellen läßt, bringt Piatons Sokrates auf allegorische Weise oder in mythischen Erzählungen zur Sprache, vgl. Reinhardt (1927) und Hirsch (1970). 12 In einer Zwischenbemerkung in 183 E - 184 A scheint Sokrates auf das Gespräch im Parmenides zurückzublicken.
Einleitung
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auch auf innerakademische Diskussionen reagiert haben mag - 13 trifft ein Verständnis von Ideen, für das eine vergegenständlichende Auffassung der Ideen und der Teilhabe-Beziehung zwischen Ideen und sinnesfälligen Einzeldingen charakteristisch ist.14 Diese Auffassung läßt sich gegenüber den Einwänden des Parmenides nicht verteidigen. Dennoch sei, so Parmenides, die Annahme einer Idee dessen, worauf das Erkennen der Sache selbst zielt, nicht nur gerechtfertigt, sondern für die Wahrheitssuche unverzichtbar. Mit dem Verzicht auf diese Annahme würde nämlich auch die Möglichkeit des Gesprächs (ή του διαλέγεσθαι δύναμις, 135 b 6 - a 3) aufgegeben.15 U m die Schwierigkeiten zu lösen, empfiehlt Parmenides, sich in der Dialektik zu üben und jeweils in einem „Durchgang durch das Ganze" die Folgen zu erörtern, die sich aus einer bestimmten Hypothese ergeben. N u r auf diesem Wege sei es möglich, „auf die Wahrheit zu treffen und Einsicht zu erzielen" (136 e 1 - 3). Einen vergleichbaren „Durchgang durch das Ganze" unternehmen auch die Gesprächspartner im Theaitet, indem sie die Voraussetzungen und Folgen der Definitionsvorschläge prüfen. Mit dem Begriff des Wissens wird auch hier eine notwendige Voraussetzung der Wahrheitssuche eigens thematisiert. Die Dialogpartner finden zwar keine abschließende Definition von Wissen; sie wissen am Ende aber, wie es sich mit der Wahrnehmung und mit der wahrnehmbaren, phänomenalen Welt, mit wahren Meinungen, und mit Erklärungen und ihren Gegenständen verhält, und welche Annahmen man machen muß, wenn man bestimmte Auffassungen von Wissen für richtig hält. Und sie wissen, was es heißt, sich über die eigenen Wissensansprüche klar zu werden, und welche Schwierigkeiten dabei auftauchen können. Diesen Klärungsprozeß nachzuvollziehen, ist das Ziel der vorliegenden Interpretation. Aus der Komplexität des Dialoges und ebenso der Deutungen, die er bislang erfahren hat, ergibt sich für die Interpreten dabei die Schwierig13 Für diese Annahme hat mit ausgezeichneten Gründen jüngst Graeser (1996: 146166) argumentiert. 14 Vgl. hierzu Meinwald (1991) und von Kutschera (1995). 15 Es handelt sich ausdrücklich um ein Argument für die Ideen als Bedingung der Möglichkeit des Dialoges. Als Zielpunkt der Reflexion stehen die Ideen nicht zur Disposition; sie werden mit jeder Prädikation schon vorausgesetzt, vgl. Wieland (1982: 122-124). Zum Verhältnis von Dialektik und Dialog vgl. auch Mojsisch (1996) und (1998). Auf die Ideen komme ich im Schlußkapitel zu sprechen.
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Einleitung
keit, sich nicht zugleich im selben Maße um eine Deutung des Dialoges bemühen und die alternativen Interpretationsvorschläge der Forschungsliteratur ausführlich herausstellen zu können. Ich habe hier den Versuch einer kohärenten Interpretation in den Vordergrund gestellt.
I Gesprächseröffnung (143 d -151 d)
1. Methodologisches Präludium „Was ist Wissen ? " (143 d -147 c)
Die „Was ist X ?"-Frage nach dem Wissen nimmt ihren Ausgang von der epistemischen Praxis. Das Wissen tritt zunächst in Gestalt der „Künste" (τέχναι), das heißt, der handwerklichen und wissenschaftlichen Disziplinen in den Blick. Mit Sokrates und Theodor bestreiten zwei Sachverständige, die auch bereits über reichlich Erfahrung verfügen, das einleitende Gespräch. Sokrates rühmt Theodor als ausgewiesenen Experten für die geometrische Kunst. Und Sokrates selbst, der bekanntlich nur weniges wirklich zu wissen beansprucht, gibt seine mäeutische Verfahrensweise ausdrücklich als eine τέχνη zu erkennen (149 a 5). Wer in einer bestimmten τέχνη sachverständig ist, der verfügt über bestimmte Fähigkeiten, die darin zum Ausdruck kommen, daß er sich auf den Umgang mit den Gegenständen des jeweiligen Sachbereichs versteht. Dieses sachverständige Wissen - nennen wir es das technische Wissen - zeichnet sich dadurch aus, daß es durch Lernen und Erfahrung erworben wird, sich in der Ausübung einer bestimmten Fertigkeit bewährt, und somit zu begründeten Urteilen und zu einem angemessenen, erfolgreichen Handeln befähigt. Als dramatis personae repräsentieren Sokrates und Theodor zwei komplementäre Formen von Wissen. Während die mathematischen Wissensinhalte als propositionales Wissen vollständig in Sätzen objektivierbar sind, deren Gehalt sich völlig von der Person des Urteilenden sowie vom Erkenntnisprozeß ablösen läßt, kommt Sokrates' Wissen überhaupt nicht in bestimmten Behauptungen zum Ausdruck. Vielmehr besteht die sokratische Mäeutik - als dispositionales Wissen - ausschließlich darin, mit den Meinungen des Gesprächspartners sachkundig umgehen zu können.1 1 Die Bedeutung der Formen dispositionalen Wissens für Piatons Philosophie hat Wieland (1982: 225-244) herausgearbeitet.
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Gesprächseröffnung
Das sokratische Wissen, die dialektische Prüfung von Hypothesen, ist von dem Vollzugscharakter jenes Wissens nicht abzulösen. Mathematik und Dialektik bilden die beiden Eckpunkte eines Spektrums verschiedener Formen von Wissen, in dem die Unterredung sich bewegt, die ihrerseits eine Definition von Wissen intendiert, die dem gesamten Spektrum Rechnung tragen soll. Zu den beiden Sachverständigen Theodor und Sokrates gesellt sich mit Theaitet ein dritter, dem nun die Rolle zufallen wird, dieses Spektrum auszumessen.2 Sokrates erkundigt sich nach jungen Menschen aus dem Umkreis des Theodor, die sich mit Geometrie oder auf andere Weise mit der Wissenschaft (φιλοσοφία) beschäftigen. Theodor erwähnt seinen Schüler Theaitet, der diesem Dialog den Namen gibt.3 Der junge Theaitet ist ein bemerkenswerter Gesprächspartner. Er ist ein erfolgversprechender angehender Mathematiker und er beschäftigt sich selber mit den für Sokrates charakteristischen Definitionsfragen (148 E). Theaitet fühlt sich daher im Gespräch mit Sokrates auch keineswegs wie von einem Zitterrochen betäubt.4 Niemals zuvor habe Theodor jemanden kennengelernt, der über so „erstaunliche" geistige Eigenschaften verfüge. Er habe nicht nur eine hohe Auffassungsgabe, sondern sei zudem sehr ausdauernd, während scharfsinnige Menschen sonst oft „Schiffen ohne Baiast" glichen.
2 Mit dem Rahmengespräch knüpft Piaton auf der dramaturgischen Ebene eine Verbindung zwischen den Protagonisten Sokrates und Theaitet, und läßt den Dialog als gemeinsamen Nachruf auf Theaitet (ca. 415-369 v. Chr.), dem damit wohl ein literarisches Denkmal gesetzt wird, und Sokrates erscheinen. In Megara treffen Terpsion und Euklid zusammen. Beide läßt Piaton auch im Phaidon (59 c 2) mit Sokrates zusammen sein. Euklid berichtet von Theaitet, der soeben schwer verwundet nach Athen gebracht worden ist. Euklid hat ihn ein Stück Weges begleitet und sich daran erinnert, daß Sokrates einmal, kurz vor seinem Tod, mit dem jungen Theaitet ein Gespräch geführt und ihm eine große Zukunft vorhergesagt habe. Von diesem Gespräch habe Sokrates später in Athen berichtet, und Euklid habe es anschließend aus der Erinnerung aufgeschrieben. Terpsion möchte das Gespräch gerne hören und bittet Euklid, es vorlesen zu lassen. Euklid betont, daß er wiederholt bei Sokrates nachgefragt und auf diese Weise seine Notizen vervollständigt hat. Er besteht offenbar darauf, daß es sich aufgrund der gewissenhaften Befragung um die Wiedergabe des authentischen Gesprächs handelt. 3 Zu den historischen Personen vgl. die Artikel „Theaitetos" und „ Theodoras" von Kurt von Fritz, in: Pauly/Wissowa (Hrsg.): Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Stuttgart 1934 ND: 1980. 4 Menon 80 A.
Präludium - „Was ist Wissen ? " (143 d - 147 c)
Im Aussehen sei er im übrigen Sokrates täuschend ähnlich.5 Damit ist für Sokrates das Stichwort gefallen. So fragt er den hinzutretenden Theaitet, ob Theodor sein Urteil eigentlich als sachkundiger Kenner, nämlich als γραφικός (145 a 1) abgegeben habe. Falls nicht, so sei seine Meinung wohl nicht weiter maßgeblich. Wenn er allerdings, als Experte in verschiedenen Gebieten der Bildung (παιδεία), über sie beide im Hinblick auf Charakter (αρετή) oder Sachverstand (σοφία) urteile, dann müsse man seine Meinung auf jeden Fall prüfen (145 b 1 - 2). Genau das geschieht nun im Verlaufe des Gesprächs. Das Motiv des Schülers, bei Theodor in die Lehre zu gehen, ist dessen mathematischer Sachverstand. Theodor sei in vielen Bereichen, so etwa in Geometrie, Astronomie und Arithmetik sachkundig. Sokrates kommt nun auf den Zusammenhang zwischen Sachverstand (σοφία) und Lernen (μανθάνειν) zu sprechen. Das „Lernen" - auch im Sinne von Forschen zu verstehen - bezeichnet er als das Bemühen, im jeweiligen Gegenstandsbereich einer Disziplin „sachkundiger" zu werden (145 d 7 - 8). Der technische Sachverstand ist das in einem speziellen Bereich durch Lernen und Erfahrung ausgebildete Urteilsvermögen, das sich in praxi bewährt. Und sachverständig sei man doch darin, worüber man über Wissen verfüge. In diesem Sinne setzt Sokrates nun probeweise Sachverstand (σοφία) mit Wissen (επιστήμη) gleich (145 e 6).
5 An der Schilderung der literarischen Figur Theaitet ist ein Detail höchst aufschlußreich. Mit einigem Nachdruck erwähnt Theodor die einzigartige Verbindung dieser beiden Eigenschaften Von eben dieser Verbindimg spricht Sokrates auch in den Überlegungen zum Ausbildungsprogramm des Philosophenregenten {Politeia 503 Β D), dem es ja obliegt, geleitet vom Wissen um die Idee des Guten, in die 'Schattenwelt der Höhle' zurückzukehren (Zum Ideal des Philosophenkönigs vgl. jetzt Spaemann 1997). Die lernbegierigen Menschen mit schneller Auffassungsgabe seien leider oftmals auch sehr wechselhaft und würden von einem Thema zum anderen gerissen, ohne sich beharrlich einer Sache zu widmen, so daß sie in der politischen Praxis nicht handlungsfähig seien. Hingegen seien die beharrlichen Charaktere in der Regel weder willens noch fähig, sich mit wissenschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Die Einheit genau dieser Eigenschaften, die für den Philosophenregenten erforderlich ist, wird hier in der Figur des Theaitet verkörpert. Theaitet ist somit der ideale Kandidat für den Ausbildungsgang, den Sokrates im „Staat" beschreibt (zum Bildungsprogramm der Politeia vgl. Mittelstraß 1997). Die Verbindung der genannten Eigenschaften (und Interessen) betrachtet Sokrates dort auch als Voraussetzung für das von Einsicht geleitete politische Handeln. Diese Parallele ist kaum zufällig. Sie verweist auf das Thema der Episode (171 D - 177 C), in der auch das ethisch-praktische Motiv der Untersuchung zur Sprache kommt; die Frage nach dem „guten Leben".
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Das sachverständige Wissen bildet den roten Faden der gesamten Untersuchung. Ganz zufrieden kann Sokrates mit seiner Auskunft freilich nicht sein. Denn er hält zwar Wissen und Sachverstand für dasselbe und nimmt auch in Anspruch, sich selber in den Wissenschaften ein wenig auszukennen, doch weiß er seine Auffassung nicht hinreichend zu begründen. Was ihm dafür nämlich fehlt, ist ein hinreichender Begriff davon, „was eigentlich das Wissen selbst ist". Die Untersuchung der „Was ist X ?"-Frage nach dem Wissen ist damit eröffnet. Allerdings ist zu Beginn noch nicht klar, worauf Sokrates' Frage genau abzielt, welcher Art also das gesuchte Wissen ist, und welche Form der Antwort intendiert ist. Ihre Beantwortung hält Sokrates indessen zunächst für ein Kinderspiel. Er lädt seine offenbar verblüfften Gesprächspartner dazu ein, ihre Meinung über den Gegenstand seiner Frage zu äußern. Theodor glaubt allerdings, für solche Spiele schon etwas zu alt zu sein (146 b 3 - 4), zumal er sich schon früh von den „bloßen Argumenten" abgewandt und bei der Geometrie Zuflucht gefunden hat,6 und so nimmt der jüngere Theaitet den Ball auf. An ihn richtet sich nun Sokrates' Frage: „Was ist deiner Meinung nach Wissen?" (146 c 3: τί σοι δοκεΐ είναι έπιστήμη). Der Gefragte soll demnach nichts anderes tun, als ohne zu Zögern seine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Da man sich in dieser Frage an keine sachverständige Instanz wenden kann, bleibt nichts anderes, als, wie es an späterer Stelle heißt, nach eigenen Kräften „dasjenige vorzubringen, was man jeweils für richtig hält" (171 d 4 - 5). Mit seiner ersten Antwort knüpft nun auch Theaitet an das eingangs zur Sprache gebrachte sachverständige Wissen an. Er nennt exemplarisch verschiedene Disziplinen, wie die Geometrie, die Astronomie und ebenso die handwerklichen Kunstfertigkeiten wie etwa das Schuhmacherhandwerk. Diese Auskunft ist nicht nur evident, sondern auf der vortheoretischen Ebene auch hinreichend. Wer mit bestimmten Gegenständen, sei es als Tischler, Schuster oder Mathematiker umzugehen weiß, verfügt eben aufgrund dieser Fähigkeit über ein Wissen, dessen Kriterium darin besteht, angemessen und zielgerecht handeln zu können, indem man etwa in der Lage ist, Schuhe anzufertigen oder geometrische Probleme zu lösen. Theaitet weist auf die Vielheit von Beispielfällen hin, deren gemein6 Vgl. 162b 6 - 9 , 1 7 7 c 4 - 5 .
Präludium - „Was ist Wissen ? " (143 d -147 c)
sames Merkmal darin besteht, daß in den „Künsten" jeweils eine bestimmte Form von Sachverstand (σοφία) zum Ausdruck kommt. Mit seinem Hinweis auf die „Künste" sagt Theaitet der Sache nach dasselbe wie Sokrates zuvor, „σοφία" und „επιστήμη" sind für Theaitet und Sokrates offenbar extensionsgleich. Die einzelnen Disziplinen sind Fälle von Wissen. Der Begriff „σοφία" bezeichnet die praktische Seite des Wissens, der έπιστήμη, und in dieser Hinsicht stimmen Sachverstand und Wissen überein. Es handelt sich um einen fachspezifischen Sachverstand, um eine Fähigkeit, die durch Erfahrung erworben und durch Übungen gefestigt wird. Und ein solcher Sachverstand ist jeweils für eine bestimmte Disziplin charakteristisch. Von der Form des Wissens, welche die τέχναι darstellen, unterscheidet sich allerdings die mit έπιστήμη gemeinte Form von Wissen dadurch, daß es sich bei der έπιστήμη nicht selber um eine Kunstfertigkeit handelt. Die έπιστήμη stellt vielmehr ein Wissen dar, in dem dasjenige dispositionale Wissen, das, als Fähigkeit (σοφία), in einer τέχνη zur Anwendung gelangt, auch explizit gemacht wird. Wer in diesem Sinne über Wissen verfügt, der versteht sich auf eine bestimmte Kirnst, und kann deren Regeln und den Gehalt dieser Kunstfertigkeit, der in Meinungen zum Ausdruck kommt, in der Form von Erkenntnissen auch explizit formulieren. So kann der Mathematiker nicht nur bestimmte Beweisverfahren anwenden, sondern er kennt auch Definitonen, Axiome und diejenigen Beweise, die mit ihrer Hilfe bewiesen werden können. Wer über Wissen im Sinne von έπιστήμη verfügt, der verfügt auch über das propositionale Wissen, das in entsprechenden begründeten, erklärungskräftigen Meinungen zum Ausdruck kommt. Der Unterschied zur τέχνη liegt demnach darin, daß die έπιστήμη explizites, begründetes Wissen darstellt. Wer über dieses Wissen verfügt, der kann auch das in einer τέχνη zur Anwendung kommende Wissen explizit machen. Wer über έπιστήμη verfügt, kann über einzelne Meinungen auch Rechenschaft fordern und geben. Was nun die Beantwortung der Was ist X ?-Frage nach dem Wissen selbst betrifft, so kommt es offenbar darauf an, das in Theaitets und Sokrates' Vorverständnis dessen, was έπιστήμη ist, explizit zu machen. Theaitets Antwort ist zwar richtig, nur beantwortet sie nicht die Frage, die Sokrates gestellt hat. Denn diese Frage zielt auf das, was das „Wissen
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selbst" ist. Sokrates' Frage intendiert eine einheitliche Erklärung, in der deutlich wird, was die vielen „Künste" als Wissen auszeichnet. Entsprechend lautet seine Kritik: Gefragt aber, Theaitet, war nicht, worauf sich das Wissen bezieht und wie viele Arten es gibt. Denn wir wollen mit unserer Frage nicht Wissensarten aufzählen, sondern einsehen, was das Wissen selbst ist. (146 e7-10) Im Anschluß daran wird das Ziel der „Was ist X ?"-Frage anhand zweier methodologischer Einwände erläutert. Der erste ist zugleich ein sprachkritisches Argument: Man könne nicht verstehen, was es bedeutet, wenn man etwa vom „Wissen des Schusters" spricht, ohne zu wissen, was „Wissen" ist. Ohne dies aber zu wissen, könne man auch die Beispiele nicht verstehen, nämlich nicht als Beispielfälle für Wissen. Sokrates geht es darum, daß der Sprachgebrauch von „Wissen" auf die Sache hin durchsichtig sein muß, nämlich mit Blick auf dasjenige Allgemeine, das mit einer Definition erfaßt wird. Wenn Sokrates davon spricht, daß man die Bedeutung des Prädikats „Wissen" nicht dadurch verstehen könne, daß man auf die exemplarischen Fälle hinweist, die unter diesen Begrìff fallen, so scheint er auf den ersten Blick von der Annahme auszugehen, daß der richtige Gebrauch eines Prädikats voraussetzt, daß man über ein Wissen der entsprechenden Sache verfügt, aufgrund dessen man auch ein generelles Kriterium für die Zuschreibung des Prädikats angeben kann. Demnach scheint die sokratische Definitionsregel zu besagen, daß eine Definition von Wissen die notwendige Bedingung für den angemessenen Gebrauch von „Wissen" darstellt. Diese Forderung wäre freilich verfehlt.7 Sie liefe auf das eristische Argument hinaus, mit dem Menon in Piatons gleichnamigem Dialog die Möglichkeit der Wahrheitssuche bestreitet.8
7 So spricht Geach (1966) mit Blick auf den Eutkyphron von einem „Socratic fallacy", von dem allerdings genau betrachtet nicht die Rede sein kann, vgl. dazu die berechtigte Kritik von Burnyeat (1977a), Vlastos (1994: 67-86) und Kahn (1996: 157 ff.). Sokrates unterscheidet hier zwei Weisen des Wissens, nämlich das vorreflexive, vordefinitorische Verständnis, das dem Hinweis auf die einzelnen Disziplinen entspricht, und das Wissen um das „Was-es-ist" einer Sache, das in einer Definition zum Ausdruck kommt. 8 Menon 80 d 5 - 8.
Präludium - „Was ist Wissen ? " (143 d -147 c)
Ein solches fehlerhaftes Argument macht Sokrates nun keineswegs gegen Theaitets erste Antwort geltend. Tatsächlich ist die Definitionsregel vielmehr als eine methodische Regel zu verstehen, die das Ziel der »Was ist X ?"-Frage und ebenso die Vorgehensweise ihrer Beantwortung betrifft. Denn das Wissen davon, „was etwas ist", ist nicht die Voraussetzung, sondern das Ziel der Erörterung. Die Definitionsregel bildet den Maßstab, an dem die Antworten gemessen werden. Theaitet gibt Beispiele für den Gebrauch eines Prädikats, nämlich des Prädikats „Wissen", während Sokrates' Frage sich auf die Bedeutung des Begriffswortes selbst richtet. Er kritisiert die erste Antwort im Hinblick darauf, daß sie seine spezielle Frageintention nicht erfüllt. Auf die Frage danach, was das Wissen selbst ist, mit Beispielen zu antworten, ist in der Tat kategorial verfehlt, da die „Was-es-ist"-Frage gerade dasjenige Allgemeine intendiert, wofür Theaitet Beispiele nennt. Im vordefinitorischen Sprachgebrauch reicht es hingegen aus, etwa das Schusterhandwerk als eine auf einen speziellen Gegenstandsbereichs bezogene Tätigkeit (πράξις) zu charakterisieren. Antwortet man mit der Aufzählung von Einzeldisziplinen jedoch auf die Frage, was Wissen ist, die auf eine Definition (λόγος) zielt, so setzt man das Definiendum bereits voraus. Nun kann man sich über das Wissen im vordefinitorischen Sprechen verständigen, ohne über ein präzises Wissen um die Bedeutung der Ausdrücke verfügen zu müssen.9 So kennt man die Bedeutung von „Schusterhandwerk" in der Weise, daß man verstehen kann, was damit gemeint ist, nämlich das so bezeichnete Handwerk, und somit den Ausdruck entsprechend als „Wissen von der Schuhherstellung" umschreiben kann. Wenn man aber nicht über eine Definition von Wissen verfügt, kann man nicht entscheiden, ob es sich etwa beim Schusterhandwerk, das man als Wissen bezeichnet, tatsächlich um eine Instanz vom „Wissen selbst" handelt. Darauf kommt es Sokrates an, wenn er davon spricht, daß man die Bezeichnung (ονομα) einer Sache nicht verstehen kann, wenn man nicht weiß, was die Sache selbst ist (147 b 2 - 3). Er bestreitet nicht, daß es sich bei den von Theaitet genannten Beispielen um Wissen handelt. Vielmehr setzt sein Einwand gerade voraus, daß 9 Vgl. die humoristischen Zwischenbemerkungen in 196 D - 197 B.
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die Bezeichnung der Disziplinen als „Wissen" zutreffend ist. Aber erst eine Definition des Gemeinten ermöglicht es, das in der Definition intendierte Allgemeine zu erfassen, dessen einzelne Instanzen die „Künste" darstellen, auf die Theaitet hinweist. Mit der Forderung einer Definition des Wissensbegriffs, dessen Extension Theaitet genannt hat, setzt Sokrates nun voraus, daß es sich in der Tat um ein und dasselbe Wissen handelt, das sich jeweils auf bestimmte Weise in den einzelnen Disziplinen ausprägt. Anschließend gibt Sokrates noch ein einfaches, „handgreifliches" Beispiel. Würde man nach einer Erklärung von Lehm gefragt, so könne man sogleich mit der Definition „Lehm ist Erde mit Wasser vermischt" antworten.10 Zwar könne man auch verschiedene Anwendungsbereiche derselben Sache angeben, doch wäre dies als Antwort auf eine Definitionsfrage verfehlt. Denn die einzelnen Beispiele werden erst dann wirklich als Beispiele verständlich, wenn man die Sache selbst kennt, die sie exemplifizieren. Genauso erlaubt es erst eine (Real-)Definition von Wissen - mit der auch die Regel für den Gebrauch des Prädikats „Wissen" formuliert würde -, die genannten Beispiele wirklich als Einzelfälle von Wissen zu verstehen. Mit dem Lehm-Beispiel hat es allerdings eine besondere Bewandtnis. Einerseits dient es Sokrates zur Verdeutlichung der hier gesuchten Definition im Sinne einer Merkmalseinheit der vielen Einzelfälle, anstelle der bloßen Aufzählung. Andererseits ist das Beispiel allerdings nicht so ganz beim Wort zu nehmen. Die Definition von Wissen liegt offenkundig nicht ebenso auf der Hand wie die Definition von Lehm. Denn das Wissen gehört zu den Gegenständen, die einzig auf dem „Umweg" einer langwierigen Erklärung deutlich werden. So heißt es an einer zentralen Stelle des Politikos (285 d 10 - 286 a 7), daß einige Dinge leicht zu erkennende und in das Wahrnehmbare fallende Ähnlichkeiten aufweisen, die sich dann auch leicht aufzeigen lassen, wenn man jedenfalls jemandem, der keine Rechenschaft über eine Sache einfordert, nicht auf mühsame Weise, sondern ohne Erklärung etwas darüber leicht deutlich machen will, daß es hingegen von den größten und schwierigsten Dingen kein greifbares Bild für die Menschen gibt, mit dem sich, wenn man es vorzeigte, die 10 147 A - D
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Seele eines Forschenden hinreichend zufriedenstellen ließe. Deshalb kommt es darauf an, von jeder Sache eine Erklärung geben und verstehen zu können, denn das Unkörperliche, Schönste und Größte kann nur durch eine Erklärung [... ] deutlich dargestellt werden. Zu den Dingen, die einer umfänglichen Erklärung (λόγος) bedürfen - die erst durch die Definitionsforderung in Gang gesetzt wird - , gehört wohl auch die im Theaitet erörterte Natur des Wissens.11 Eine Abkürzung nach Art der Lehmdefinition verfehlte daher das Ziel. Dennoch erfüllt das Beispiel seinen Zweck. Die Sokratische Frage zielt auf eine Erklärung (λόγος), die Theaitet mit seiner Aufzählung verfehlt. Auf die sokratische Weise zu antworten, erfordert aber zunächst eine Umwendung der Einstellung, aus der heraus Theaitet zunächst geantwortet hat. Mit der Kritik verfolgt Sokrates, wie in den früheren Dialogen, das Ziel, diese veränderte Perspektive einzuüben.12 So ist Theaitet denn auch überzeugt, die sokratische Frage verstanden zu haben. Die Aufgabe scheint ihm nun problemlos zu sein. Er gibt seinerseits ein Beispiel für die von Sokrates intendierte Erklärung. Und dieses Beispiel ist nun in der Tat angemessen.13 Wie sich zeigt, haben Theaitet und sein Schulfreund, ein Namensvetter des Sokrates, der ihn am nächsten Tag als Gesprächspartner ablösen wird,14 mit der Sokratischen Art von Problemlösimg bereits Erfahrung. Theaitet berichtet nun von einer (fiktiven) geometrischen Übungsstunde, deren Ergebnis für die Suche nach einer Definition von Wissen als Musterlösung dient. 11 Gleichwohl braucht man auch in dialektischen Erklärungen einfache Beispiele, im Sinne von Modellen. Denn: „Schwierig ist es, wenn man nicht ein Beispiel (παράδειγμα) zur Hand nimmt, etwas Größeres richtig deutlich zu machen. Sonst mag jeder von uns, wie im Traume, zwar zuerst alles wissen, dann [aber], wieder erwacht, nichts mehr" (Politikos 277 D - E). In derselben Bedeutung ist von παράδειγμα auch in Sophistes 218 D ff. die Rede. Am Modell des Lesens wird dort verdeutlicht, daß es für das Wissen wesentlich auf die richtige, regelgeleitete Verknüpfung von „Grundbausteinen" ankommt. Diese Funktion übernimmt hier das Modell der Silben, an dem Sokrates' Traum ausbuchstabiert wird (202 D - 206 C). 12 „Die „Was ist X?"-Frage zwingt dazu, sich umzuwenden, den verdeckten Ausgangspunkt der bisherigen Urteilspraxis zum Zielpunkt der Untersuchung zu machen, ihn zu explizieren und über ihn Rechenschaft abzulegen" (Stemmer 1992: 206). 13 Piaton inszeniert hier einen kurzen Rollentausch, der zwar nicht eigens zur Sprache kommt, aber offensichtlich ist. Während Sokrates zwar Theaitets erste Antwort zu Recht kritisiert, dann jedoch ein unpassendes Beispiel nennt, gibt Theaitet nun ein passendes Beispiel für diejenige Verfahrensweise, um die es Sokrates geht. 14 Sophistes 218 b 3 - 6, Politikos 266 a 6 - 7.
2. Theaitets Musterlösung und die Sokratische Mäeutik (147 d-151 d)
2.1. Die Geometrielektion Theaitet stellt die Aufgabe, die er unter Theodors Anleitung gemeinsam mit dem jüngeren Sokrates gelöst habe, auf folgende Weise dar: Theodor hat uns anhand von Zeichnungen gezeigt, daß die Seitenlängen von Quadraten (δυνάμεις) mit dem Flächeninhalt drei und fünf Fuß [als gewählte Maßeinheit] nicht kommensurabel sind mit der Länge eines Quadrates der [Einheit] Eins. Ebenso ging er jeweils einzeln jedes Quadrat durch bis zur Zahl siebzehn, wo er irgendwie aufhörte. Dann kam uns die Idee, es einmal zu versuchen, da es ja offenkundig unendlich viele Quadrate gibt, diese unter eine Einheit zusammenzufassen, mit der wir sie alle bezeichnen könnten.1 (147 d 3 - e 1) Bis zu diesem Punkt wird die Aufgabenstellung erläutert, in der Theaitet die Gemeinsamkeit mit Sokrates' Fragestellung sieht. In beiden Fällen geht es darum, eine einheitliche Erklärung für verschiedene, doch strukturell gleiche Phänomene zu finden. An dieser Stelle fragt Sokrates nach, ob sie die gesuchte Erklärung denn gefunden hätten, ob es ihnen also gelungen sei, ihre Idee in die Tat umzusetzen, ihre Lösungsintention zu erfüllen (147 e 2). Theaitet glaubt diese Nachfrage bejahen zu können und lädt Sokrates dazu ein, es selber nachzuprüfen: Wir haben alle Zahlen in zwei Klassen eingeteilt. Die Zahlen, die ein Produkt aus zwei gleichen Zahlen darstellen, verglichen wir ihrer Figur nach [die daraus entsprechend gebildet wird] mit Quadraten, weshalb wir sie „gleichseitig und quadratisch" nannten. - Sehr treffend. - Die Zahlen dazwischen, etwa die Drei, die Fünf und eben je1 Übersetzung (mit geringfügigen Änderungen) nach Martens (1981: 21 ff.).
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de Zahl, die nicht als Produkt zweier gleicher Zahlen gebildet werden kann, sondern aus einer jeweils größeren und kleineren gebildet wird, die also, als Figur, jeweils von einer größeren und kleineren Seite umfaßt wird, verglichen wir mit dem Rechteck, und nannten sie „rechteckige Zahlen". - Ausgezeichnet. Aber wie ging es nun weiter? - Alle Strecken, die ein Viereck bilden, dessen Flächeninhalt einer „gleichseitigen" [Quadrat-]Zahl entspricht, nannten wir „Längen". Diejenigen Strecken, die jedoch ein Viereck von ungleicher Seitenlängen bilden (deren Flächeninhalt also einer „Rechteckzahl" entspricht), nannten wir nun [in der speziellen Bedeutung] „Quadrate", weil diese Strecken zwar mit den erstgenannten Strecken nicht gemeinsam meßbar (das heißt: nicht kommensurabel) sind, wohl aber mit denjenigen Flächen, die aus ihnen gebildet werden können. Und für die Raumzahlen gibt es eine entsprechende Einteilung.2 (147 e 5 -148 b 3) Die Irrationalität mathematischer Größen ist in der Antike in erster Linie nicht als genuin arithmetisches, sondern vielmehr als geometrisches Problem aufgefaßt worden.3 Zwei Strecken (als Längen) sind genau dann in Länge inkommensurabel, wenn sie nicht mit einem gemeinsamen Maß meßbar sind, also dann, wenn sich beide gegebenen Strecken nicht als Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen lassen. Die linear inkommensurablen Strecken können gleichwohl im Quadrat kommensurabel sein. Nach Theaitets Darstellung hat Theodor den Schülern an Quadraten mit den Flächeninhalten von 3 bis 17 Quadratfuß (als Maßeinheit) gezeigt, daß diese Quadrate in der Länge inkommensurabel sind, d. h. daß die Seitenlänge eines Quadrates mit dem Flächeninhalt Drei mit der Seitenlänge Eins des als Maßeinheit zugrundegelegten Einheitsquadrats nicht kommensurabel, also nicht ohne Rest gemeinsam (d. h. mit demselben Maß) meßbar ist. Arithmetisch formuliert: Die inkommensurable Seitenlänge ist kein ganzzahliges Vielfaches von 1. Also läßt sich das Verhältnis
2 Übersetzung (mit geringfügigen Änderungen) nach Martens (1981: 23). 3 Vgl. dazu Heath (1921) und ausführlich Knorr (1975), (1986). Die möglichen mathematischen Diskussionen in der Platonischen Akademie versucht Fowler (1987) zu rekonstruieren.
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der Seitenlänge zur Einheit 1 (dem Einheitsquadrat) nicht als ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen. Theodor hat die Irrationalität der Zahlen nicht als Eigenschaft dieser Zahlen, nicht als arithmetische Eigenschaft, sondern die Zahlen als geometrische Entitäten und somit die Irrationalität der Wurzeln als Inkommensurabilität der entsprechenden Seitenlängen dargestellt. Ebenso werden die Strecken (die Seitenlängen) nach den Quadraten bestimmt, die sich aus ihnen konstruieren lassen, d. h. nach deren Flächeninhalt. Die Quadratzahl bezeichnet den Flächeninhalt des Quadrates und die Quadratwurzel den numerischen Wert der Seitenlänge. Entsprechend stellt der Faktor die entweder kommensurable oder inkommensurable Seitenlänge einer Figur dar. In Länge inkommensurabel sind die Seitenlängen der Quadrate, deren Flächeninhalt einer nichtquadratischen Zahl gleich ist, also einer „Rechteckzahl", die sich nur in zwei ungleiche Faktoren zerlegen läßt. Theodor hat nun, modern ausgedrückt, die Irrationalität der Quadratwurzeln aus den (positiven, ganzen) Zahlen der Zahlenreihe 3 bis 17 (mit Ausnahme also der Quadratzahlen 4, 9 und 16) bewiesen, und zwar hat er, nach Theaitets Darstellung die Irrationalität der Quadratzahlen bzw. die lineare Inkommensurabilität der dem Wert der irrationalen Quadratwurzeln gleichen Seitenlängen, jeweils an den entsprechenden Quadraten, also an Einzelfällen demonstriert.4 Daß diese Fälle nun in der Tat insgesamt Beispielfälle einer allgemeinen Tatsache darstellen, ist den Schülern zu Beginn der Übungsstunde jedoch gerade noch nicht ausdrücklich klar. Im Anschluß an Theodors Demonstration haben die beiden Schüler nämlich versucht, eine generelle Bedingung für die Inkom4 Der Text läßt sich so verstehen, daß Theodor die Inkommensurabilität anhand von Zeichnungen jeweils einzeln bewiesen hat. Er hat offenbar einzelne Existenzbeweise geführt, indem er wahrscheinlich die evidente Inkommensurabilität der einzelnen Strecken, in Form der Quadratdiagonalen der Quadrate mit den Flächeninhalten 3-17, die zugleich die Hypothenusen gleichschenklig-rechtwinkliger Dreiecke) darstellen, anhand von Zeichnungen jeweils gezeigt, und deren lineare Inkommensurabilität zudem mit Hilfe des Satzes des Pythagoras bewiesen hat, vgl. die Diskussion der Vorschläge bei Knorr (1975: 69-83). Bei Burnet ist der Ausdruck „άποφαίνων" (147 d 5) getilgt, doch auch „γράφειν" kann „beweisen" bedeuten. Gegen die Tilgung spricht im übrigen, daß „άποφαίνων" auch in dem anonymen Kommentar zum Theaitet bezeugt ist, der uns aus der Spätantike überliefert ist. Dort wird die Verknüpfung der beiden Verbformen mit „έδείκνυεν", also ausdrücklich im Sinne von „beweisen" wiedergegeben ([Anonymus]: 25, 34-35, 42).
Die Musterlösung und die Mäeutik (147 d -151 d)
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mensurabilität zu formulieren, um so die Einzelfälle in eine Formel zu fassen. Dabei sind sie in folgenden Schritten vorgegangen: Zunächst werden die Zahlen in zwei Klassen eingeteilt, und zwar jeweils nach der Figur, die sich aus der entweder kommensurablen oder inkommensurablen Seitenlänge bilden läßt: Die eine Klasse umfaßt solche Zahlen, die sich, als Quadratzahlen, in zwei gleiche Faktoren (Seitenlängen) zerlegen lassen. In Analogie zum Quadrat - als derjenigen Figur, die dadurch definiert ist, daß sie gleiche Seitenlängen hat, die die Faktoren der dem Flächeninhalt gleichen Zahlen repräsentieren - haben sie die Zahlen als „quadratische Zahlen" bezeichnet. Die andere Klasse umfaßt die übrigen Zahlen, also diejenigen, die sich nur in zwei ungleiche Faktoren zerlegen lassen, deren Faktoren also eine jeweils kleinere bzw. größere Seitenlänge repräsentieren, so daß die Zahl, die sich aus der Multiplikation der Faktoren ergibt, sich nur als ein Rechteck geometrisch darstellen läßt. Deshalb haben die Schüler solche Zahlen als „rechteckige Zahlen" bezeichnet. Nach dieser Einteilung in die „Quadratzahlen" (τετράγωνοι αριθμοί) und „Rechteckzahlen" (προμήκεις αριθμοί) haben die beiden Schüler die Begriffe „Länge" (μήκος) und „Quadratseite" (δΰναμις) bestimmt. „Längen" sind die in Länge kommensurablen Strecken (also die Seitenlängen von Quadraten).5 „Quadratseiten" („δυνάμεις" im engeren Sinne) sind die 5 Bei den Ausdrücken „μήκος" und „δύναμις" handelt es sich offenbar um Kurzformen der T e r m i n i „μήκει σύμμετρος" und „δυνάμει σύμμετρος", die sich dann im zehnten Buch der Euklidschen „Elemente" finden. Zu den Belegstellen in Texten aus der Antike siehe die Übersicht von Mugler (1958: 150 ff.). Das Wort δύναμις bedeutet als mathematischer Begriff von Hause aus „Quadrat" (ebd.), kann aber auch im engeren Sinne „Quadratseite", also die inkommensurablen Seitenlängen bedeuten. Das Wort bringt offenbar zum Ausdruck, daß diese Strecken der Möglichkeit nach kommensurabel sind, und diese Möglichkeit dadurch verwirklicht wird, daß man über diesen Strekken ein Quadrat errichtet. Burnyeat (1978: 497) bemerkt hierzu: „Given [... ] that the word means „square", it is precisely in virtue of this meaning that it can be adapted to serve as a name for incommensurable lines: in its naming function it alludes to the fact that the lines in question are commensurable in square but not in length, just as the lines which are commensurable in length as well as in square are termed „lengths" or „length lines". Es hat den Anschein, δύναμις würde zu Beginn des Textstücks im weiteren Sinne „Quadrat", hingegen an den späteren Stellen im engeren Sinne „Quadratseite" bedeuten. Da jedoch das Ergebnis der Lektion die inkommensurablen Seitenlängen (bzw. irrationalen Quadratwurzeln) betrifft, die sie im engeren Sinne als Dynamis bezeichnen, kann man annehmen, daß auch am Anfang von Theaitets Darstellung in 147 d 8 - 9 mit der Rede von den „unendlich vielen Dynameis", nicht Quadrate im allgemeinen, sondern eben diejenigen Quadrate mit inkommensurablen Seitenlängen gemeint sind, für welche die Schüler eine gemeinsame Formel suchten. - Die Inkommensurabilität ist eine Relation zwischen Flächeninhalt (Radikand) und Seitenlänge (Qua-
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in Länge inkommensurablen Strecken (also die Seitenlängen von Rechtecken). Die Definitionen beruhen somit auf dem Gegensatz zwischen solchen Strecken, die in Länge kommensurabel sind und solchen Strecken, die nur in der Quadratfläche kommensurabel sind. Theaitet erläutert auch den Grund für die Begriffsprägimg: „Quadratseiten" - als Gegenbegriff zu „Länge" - haben sie die linear inkommensurablen Strecken deshalb genannt, weil diese Strecken zwar mit den als „Längen" definierten Strecken nicht kommensurabel, gleichwohl aber kommensurabel sind hinsichtlich der Quadrate, die man aus ihnen bilden kann. Damit ist auch das spezielle Lernziel der Übung erreicht: die Definition derjenigen Strecken, die nur im Quadrat kommensurabel, in Länge jedoch inkommensurabel sind. Mit dieser Definition hat es indessen eine besondere Bewandtnis. Denn die von Theaitet genannte Klassifikation der Zahlen, aus der sich dann die Definitionen kommensurabler und inkommensurabler Größen ergeben, beruht auf einer Regel, in der auf indirekte, vorläufige Weise ein Theorem zum Ausdruck kommt, das sich in den Euklidschen „Elementen" findet. Dieser Umstand bietet nun auch einen Anhaltspunkt für eine mathematikhistorische Interpretation des Textstücks, auf die ich hier kurz eingehen möchte. Theaitet gibt folgende Definition für linear inkommensurable Strecken: Eine Strecke ist genau dann inkommensurabel, wenn das über ihr errichtete Quadrat zwar gleich einer ganzen Zahl, aber nicht gleich einer Quadratzahl ist. Arithmetisch formuliert: Für jede (positive) ganze Zahl η gilt, daß die V η genau dann irrational ist, wenn sie sich nicht als das Produkt von zwei gleichen (positiven) ganzen Zahlen darstellen läßt. Damit haben die beiden Schüler die charakteristische, gemeinsame Eigenschaft der Beispielfälle erfaßt. Wie aus der anschließenden Erläuterung hervorgeht, beruht die Einteilung der Zahlen in „Quadratzahlen" und „Rechteckzahlen" und damit auch die genannte Definition auf folgender Regel: Ist ein gegebenes Qua-
dratwurzel). Ist der Flächeninhalt gleich einer „Rechteckzahl", so ist die Seitenlänge gleich einer irrationalen Wurzel. In bezug auf den mathematischen Sachverhalt der Lakommensurabilität macht es daher keinen Unterschied, ob man die Inkommensurabilität als eine Eigenschaft der Figuren bzw. ihres Flächeninhaltes in Relation zur Seitenlänge oder als eine Eigenschaft der Seitenlänge selber auffaßt. Es handelt sich um zwei verschiedene Hinsichten auf dasselbe Phänomen.
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drat gleich einer Quadratzahl, so ist die Seitenlänge in Länge kommensurabel. Ist ein gegebenes Quadrat gleich einer Rechteckzahl, so ist die Seite in Länge inkommensurabel. Die Regel erlaubt dann die Definition von in Länge inkommensurablen „Quadratseiten" (dynameis im engeren Sinne). Hinter dieser Regel, die der Einteilung und damit auch den Definitionen zugrundeliegt, verbirgt sich nun der Sache nach ein geometrisches Theorem, ein beweisbarer geometrischer Satz. Wir können nämlich den Sachverhalt, der in dieser Regel ausgedrückt wird, auch auf folgende Weise formulieren: Alle Strecken, über welche sich Quadrate - und zwar nur solche Quadrate - errichten lassen, deren Flächeninhalt zwar gleich einer ganzen Zahl, aber nicht gleich einer „Quadratzahl" ist, sind in Länge inkommensurabel. Das ist ein Theorem, das für jede gegebene Strecke gilt. Es besagt arithmetisch formuliert: Für jede positive ganze Zahl η gilt, daß die Vra irrational ist, wenn η sich nicht als das Produkt einer positiven ganzen Zahl m in der Form η = m χ m darstellen läßt, wobei m eine positive ganze Zahl ist. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, dann ist die Quadratwurzel irrational.6 Dieses indirekt formulierte Theorem, das die vollständige Verallgemeinerung der in der Einteilung implizierten Regel darstellt, hat nun eine Entsprechung im zehnten Buch der „Elemente" des Euklid, auf die bereits in einem Scholium zu den „Elementen" aufmerksam gemacht wird. Um diese Entsprechung deutlich zu machen, braucht man es nur ausdrücklich für kommensurable Strecken zu formulieren. Es lautet dann: Zwei Strecken sind genau dann in Länge kommensurabel, wenn die über ihnen errichteten Quadrate in einem Verhältnis zueinander stehen, das sich als Verhältnis einer Quadratzahl zu einer Quadratzahl darstellen läßt. Dies ist die spezielle Form des folgenden Kommensurabilitätstheorems aus den „Elementen": X , 9: „Die Quadrate über zwei in Länge kommensurablen Strecken haben zueinander ein Verhältnis wie eine Quadratzahl zu einer Quadratzahl; und die Seiten derjenigen Quadrate, die zueinander ein Verhältnis haben wie eine Quadratzahl zu einer Quadratzahl, müssen in Länge
6 Für die abschließend erwähnten „Raumzahlen" (148 b 2 - 3), d. h. für Kubikzahlen gilt entsprechend: Ist eine gegebene Zahl η eine Kubikzahl (n3), so ist die Kubikwurzel rational, ist sie keine Kubikzahl, so ist die Wurzel irrational.
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kommensurabel sein. [Die Quadrate über in Länge inkommensurablen Strecken hingegen haben kein Verhältnis zueinander wie eine Quadratzahl zu einer Quadratzahl;] und die Seiten derjenigen Quadrate, die zueinander kein Verhältnis wie ein Quadratzahl zu einer Quadratzahl haben, können nicht in Länge kommensurabel sein."7 Nach X, 9 sind zwei Strecken kommensurabel, wenn die Quadrate über ihnen in demselben Verhältnis zueinander stehen wie zwei Quadratzahlen, und umgekehrt. Bezeichnet man zwei gegebene Strecken mit den Symbolen A und B, zwei Zahlen mit den Symbolen m und n, so läßt sich die in dem Theorem genannte Verhältnisgleichheit folgendermaßen ausdrücken: Α : Β = m : η A2 : Β2 = m2 : η2. Der Unterschied zwischen dem im Theaitet indirekt erwähnten Theorem und dem Euklidschen Theorem X, 9 besteht darin, daß mit X, 9 die generelle Bedingung für lineare Kommensurabilität formuliert wird, derzufolge die Quadrate über zwei in Länge kommensurable Strecken sich zueinander verhalten wie zwei Zahlen η und m, während es in .Theaitets Theorem' um das spezielle Verhältnis η zu 1, also um das Verhältnis zwischen einer gegebenen Seitenlänge eines Quadrats zur Einheitsstrecke 1 geht. Mit Theaitets Theorem wird die Kommensurabilität (bzw. Inkommensurabilität) von Längen für die Kommensurabilität von Längen mit dem Einheitsmaß 1 spezifiziert.
7 Übersetzung (mit geringfügigen Änderungen) nach Thaer in: Euklid. Die Elemente. Buch Ι-ΧΙΠ. (1973: 219). Das Theorem X,9 wird in einem Scholium zu Euklids „Elementen" der historischen Person Theaitet ausdrücklich zugeschrieben, nur leider unter ausdrücklicher Berufung auf Piatons Dialog (Heath 1956: 30 f.). Auch Pappos spricht in seinem Kommentar zum zehnten Buch der „Elemente" davon, daß auf Theaitet die im Dialog genannte Unterscheidung zurückgeht, beruft sich indessen ebenfalls auf Piatons Dialog. Pappos berichtet zudem, daß Theaitet, wie Eudem von Rhodos bezeuge, auch höherstufige irrationale Größen, nämlich die Mediale, die Bionominale und die Apotome unterschieden und entsprechend dem geometrischen, dem arithmetischen und dem harmonischen Mittel zugeordnet hat, vgl. Heath (1956: 3 ff.). Proklos (1970: 54 f.) charakterisiert in der Einleitung seines Kommentars zum ersten Buch der „Elemente" Theaitet als denjenigen, der die zeitgenössischen, geometrischen Theoreme vermehrt und methodisch geordnet hat (I 66, 16-18). Euklid habe dann mit seinen „Elementen" die von Eudoxos und Theaitet entwickelten Theoreme systematisch zusammengestellt (I 68, 6-10). Die bei Pappos referierte Bemerkung und Proklos' kurze mathematikhistorische Würdigung sind offenbar die einzigen beiden von Piatons Dialog wirklich unabhängigen Zeugnisse, die uns über die mathematischen Leistungen des historischen Theaitet überliefert sind.
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Aufgrund dieser Verwandtschaft hat man das Textstück auch als ein Zeugnis über die Einsichten gelesen, welche die historische Person Theaitet zu der Theorie beigetragen hat, die uns im zehnten Buch der „Elemente" vorliegt.8 Nun gilt es freilich zu beachten, daß dieses Theorem hier nur indirekt in den Worten zur Sprache kommt, mit denen Theaitet die Klassifikation der Zahlen und die Definition linearer Inkommensurabilität, also das Lernziel der kleinen Geometrielektion erläutert. Deshalb ist auch nicht davon die Rede, daß und auf welche Weise Theaitet dieses Theorem auch bewiesen hat.9 Es kommt in Piatons Dramaturgie ja auf den Vorbildcharakter der Problemlösung und daher auf die Definitionen an. Gleichwohl ist die Verwandtschaft zwischen der Darstellung, die Piaton Theaitet hier in den Mund legt, und dem zehnten Buch der „Elemente" aufschlußreich, und zwar nicht so sehr im Hinblick auf das besagte Theorem, sondern im Hinblick auf eine methodische Ubereinstimmung. Theaitet erläutert ja ausführlich den Weg, der ihn und seinen Kompagnion zu dem speziellen Lernziel geführt hat. Wenn nun der Mathematiker Theaitet in der Tat zu solchen mathematischen Ehren gelangt ist, wie es das Rahmengespräch und Theodors Charakterisierung vermuten lassen, dann stellt sich doch die Frage, weshalb Piatons Theaitet soviel Wert auf die Einteilung legt, die aus mathematischer Hinsicht nicht nur trivial, sondern irrelevant ist. Vielleicht aus folgendem Grund: Nach Theaitets 8 Die Entsprechung hat viele Interpreten zu dem Schluß geführt, daß das bei Euklid formulierte Theorem X, 9 auf den historischen Theaitet zurückgeht. Knorr (1975: 225244, 301) kommt in seiner Rekonstruktion der Vorgeschichte der Euklidschen „Elemente" sogar zu dem Ergebnis, daß Theaitet die arithmetischen Grundlagen für die bei Euklid überlieferte Theorie irrationaler Größen geschaffen hat, und schreibt ihm neben dem zehnten auch das siebente und neunte Buch der „Elemente" zu. Solche weitreichenden Schlußfolgerungen erfordern freilich starke zusätzliche Annahmen, die sich durch Piatons Text und die spärlichen mathematikhistorischen Zeugnisse kaum rechtfertigen lassen, vgl. hierzu auch Burnyeat (1978). Vor allem darf nicht übersehen werden, daß Theaitets Überlegungen im Horizont der „Elemente" zwar auf das Theorem X,9 hinauslaufen, Piatons Theaitet hier jedoch nicht das Theorem, sondern nur eine, in den genannten Definitionen implizierte Regel zur Sprache bringt, mit der er Theodors Einzelfälle zusammengefaßt hat. Ihn sogleich das Theorem formulieren und auch beweisen zu lassen, entspräche auch nicht der Rollenverteilung der Dialogfiguren. Theodor fungiert hier als der erfahrene Lehrer, der seinen Beitrag auch beweisen kann, während Theaitet hier erste, kleinere Schritte auf dem Wege zum mathematischen Experten macht. 9 Für verschiedene, alternative Vorschläge zur Rekonstruktion der Beweisverfahren siehe Knorr (1975: 228-232 f.).
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Bericht haben er und der jüngere Sokrates die Zahlen danach unterschieden, ob der Flächeninhalt der entsprechenden Quadrate einer quadratischen (positiven) ganzen Zahl oder aber einer nichtquadratischen ganzen Zahl (die sich nur in zwei ungleiche Faktoren zerlegen läßt) gleich ist. Sie haben somit die Strecken, deren Eigenschaften sie untersuchen wollten, nach den Eigenschaften der über ihnen errichteten Quadrate bestimmt. Deshalb hebt Theaitet hervor, daß die linear inkommensurablen Strecken im Quadrat kommensurabel sind. Genau diese einfache Methode liegt nun durchgängig der komplexen Theorie irrationaler Größen im zehnten Buch der „Elemente" zugrunde. Sämtliche Inkommensurabilitätsbeweise beruhen darauf, daß man eine bestimmte Strecke als „kommensurabel" festlegt und dann alle Strecken dadurch bestimmt, daß man über ihnen Quadrate errichtet und anhand deren Eigenschaften auch die Eigenschaften der entsprechenden Strecken beweist. So betrachtet unternehmen die beiden Schüler in Piatons fiktiver Geometrieübung einen ersten Schritt auf einem Wege, der schließlich zu der systematischen Theorie führt, die im zehnten Buch der „Elemente" vorliegt, in der sich im übrigen das hier indirekt angesprochene spezielle Theorem dann auch erübrigt. Theaitet kommt hier zu einer generellen Erklärung für einzelne Phänomene und formuliert damit, im Hinblick auf eine Theorie, in der die einzelnen Bausteine systematisch zusammengefügt sind, gleichsam ein Theorem auf Probe}0 Worin liegt nun der Modellcharakter der Geometriestunde? Piaton läßt Theaitet das Ergebnis seiner Bemühungen, wie gesagt, lediglich als eine Regel präsentieren, mit der es den Schülern gelungen ist, die von ihrem Lehrer demonstrierten Einzelfälle zusammenzufassen. Die Problem10 Was die beiden Schüler herausgefunden haben, ist ja nicht viel mehr als die Erkenntnis, daß sich das Verhältnis zwischen Seitenlänge und Quadrat im einen Falle, bei den „Quadratzahlen", als ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen läßt, und dies bei den „Rechteckzahlen" nicht der Fall ist. Mit der vollständigen Verallgemeinerung der Regel für linear inkommensurable Größen würde man als nächstes zeigen, daß es sich nicht bloß in den Beispielfällen, sondern grundsätzlich mit solchen Größen auch nicht anders verhalten kann, indem man das Theorem also beweist. Die nächsten Schritte gälten dann den Größen, die in Länge und im Quadrat inkommensurabel sind. Der Weg dahin ist in der kleinen Lektion im Theaitet jedenfalls beschritten, und so läßt die methodische Verwandtschaft vermuten, daß Piaton uns keine speziellen Leistungen des historischen Theaitet - die sich, wie gesagt, aus dem Text nicht erschließen lassen sondern die ersten Schritte eines jungen Mathematikers vor Augen führt, dem nach Sokrates' Weitsicht eine große Zukunft beschieden war.
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Stellung erkannt und eine eigene Lösung gefunden zu haben, ist denn auch die eigenständige Leistung der Schüler, für die sie Sokrates' Lob ernten (148 b 4 - 5). Da es in den methodologischen Vorüberlegungen ja um das Verhältnis von Einzelfällen (als Beispielen) und Definitionen geht, kommt es hier darauf an, daß die beiden Schüler mit der Formulierung der Regel für in Länge inkommensurable Strecken das Leraziel der Übung erreicht, nämlich die exemplarischen Einzelfälle auf eine Formel gebracht haben. Dies zeigt sich auch an der Art und Weise, in der Piaton Theaitets Referat der mathematischen Lektion dramaturgisch in Szene setzt. Nachdem Theaitet die Einteilung der Zahlen erwähnt hat, fragt Sokrates nach den weiteren Schritten, nämlich mit Blick auf die ursprüngliche Idee der Schüler. Der Nachdruck liegt denn auch auf der dann folgenden Definition. Theodor hat einen allgemeinen Sachverhalt gezeigt, der im einzelnen bekannt und augenfällig ist, und seine Schüler haben diesen Sachverhalt auf den Begriff gebracht. Während Theodor an den Quadraten mit den Flächeninhalten 3 bis 17 jeweils einzeln gezeigt hat, daß deren Seitenlängen mit dem Einheitsmaß nicht kommensurabel sind, haben seine beiden Schüler sich dazu anregen lassen, für die Einzelfälle eine gemeinsame Erklärung zu finden. Das spezielle Lernziel der Übungsstunde scheint somit darin zu liegen, herauszufinden, welche Strecken die spezifische Eigenschaft haben, nur im Quadrat kommensurabel zu sein. Die beiden aufmerksamen Schüler haben gesehen, daß es offenkundig „unzählig" viele solcher Seitenlängen gibt, denen gemeinsam ist, nur im Quadrat kommensurabel zu sein. Wer nun bei Theodor in die Lehre geht (145 c 6 - d 1), sich also bemüht, in mathematischen Dingen sachkundiger zu werden, dem wird sich angesichts des exemplarisch dargelegten Sachverhalts sogleich die Frage aufdrängen, worin die gemeinsamen, charakteristischen Merkmale der vielen Einzelfälle liegen. In allen Fällen handelt es sich um dieselbe Eigenschaft, die auch die spezifische Differenz zweier Gruppen von Zahlen darstellt. Die Schüler haben erkannt, daß sich die vielen Einzelfälle zusammenfassen lassen, wenn man die charakteristische Eigenschaft der Relation von Fläche und Seite herausstellt. Diese Eigenschaft ist auch das Kriterium für die Klassifikation der entsprechenden Zahlen.
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Die Problemstellung erkannt und eine eigenständige Problemlösung entwickelt zu haben, ist die eigenständige Leistung der Schüler.11 Das Gemeinsame der vielen Einzelphänomene vor Augen, gelingt es Theaitet in der mathematischen Übungsstunde eine einheitliche Erklärung zu finden. Auf dieses Ergebnis zielt auch die hier unternommene Untersuchung, in der es die vielen Wissensarten, die verschiedenen exemplarisch genannten Disziplinen, unter den einen Begriff des Wissens zusammenzufassen gilt (148 d 6 - 7). Freilich liegt die Antwort auf diese Frage nicht ohne weiteres vor Augen. Theaitets Definitionsvorschläge sind Ausgangspunkte für die dialektische Prüfung. Mit seiner ersten Auskunft antwortet Theaitet genau genommen nicht auf die Frage „Was ist Wissen?", sondern auf die Frage „Was bezeichnest Du als Wissen?".12 Seine Antwort ist richtig, doch Sokrates will wissen, warum sie es ist. Nach Sokrates' Definitionsregel kann man die Bezeichnungen etwa des „Schusterhandwerks" als „Wissen" aber nur dann verstehen, wenn man im somatischen Sinne weiß, was „Wissen" bedeutet, wenn man also weiß, was Wissen ist - falls sich jedenfalls die Frage darauf richtet. Das begründete Wissen, das mit der Beantwortung der Sokratische Fragen intendiert ist, besteht wesentlich darin, auf die Frage danach, was etwas ist, antworten zu können. Das heißt, die gesuchte Sache erklären zu können, und über seine Meinung in Fragen und Antworten Rechenschaft geben zu können. Dieses Wissen zeichnet sich nun auch dadurch aus, die Begriffswörter hinreichend explizieren zu können, das heißt, mit Hilfe
11 Ihre Lösung ist im übrigen auch ein Beispiel für eine mögliche Interpretation der Ideenerkenntnis: Man erfaßt den unveränderlichen (theoretischen) Gegenstand lineare Inkommensurabilität dadurch, daß man ihn in den einzelnen, wahrnehmbaren Gebilden erkennt, in denen er auf jeweils besondere Weise instantiiert ist. 12 Theaitet zeigt gleichsam auf das Wissen, indem er auf die einzelnen „Künste" hinweist. Deshalb kann es nicht verwundern, daß Wittgenstein (1984: 120 f.) Sokrates' Kritik nicht teilen mag: „Sokrates weist den Schüler zurecht, der, nach dem Wesen der Erkenntnis gefragt, Erkenntnisse aufzählt. Und Sokrates sieht darin auch nicht einen vorläufigen Schritt zur Beantwortung der Frage. Während unsere Antwort in einer solchen Aufzählung und in der Angabe einiger Analogien besteht. (Wir machen es uns in der Philosophie in gewissem Sinne immer leichter und leichter)". Nach Wittgenstein ließe sich die Frage nach der Bedeutung des Prädikats „Wissen" einzig dadurch auf sinnvolle Weise beantworten, daß man die tatsächlichen, alltagssprachlichen Gebrauchsweisen des Wortes betrachtet. Wittgensteins Kritik an Sokrates' Einwänden trifft allerdings nicht ganz zu, denn als erste Auskunft hält Sokrates Theaitets exemplarische Bestimmung durchaus für richtig.
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von Definitionen den Gegenstand der „Was-es-ist-Frage" erklären und jemand anderem auch verständlich machen zu können. 13 Wer auf die Frage „Was ist Lehm?" mit dem Hinweis auf verschiedene Verwendungsweisen von Lehm antwortet, der setzt das Definiendum bereits als bekannt voraus. Die Frage „Was ist Lehm?" bleibt damit unbeantwortet. Als Auskunft über den richtigen Gebrauch von „Lehm" ist die Antwort richtig. Als Auskunft über das, was Lehm wesentlich ist, wäre sie hingegen unangemessen, „weil wir glaubten, der Fragende könne es an unserer Antwort schon verstehen, wenn wir jedesmal Lehm sagten" (147 a 7 - 8). An diesen Einwand schließt Sokrates die Frage: „Oder glaubst Du, man kann die Bezeichnung von etwas verstehen, wovon man nicht weiß, was es ist?" (147b2-3). Fragte man Theaitet, was „Länge" und „Dynamis" bedeuten, so kann er dem Fragenden den Sachverhalt mit seiner mustergültigen (Real-)Definition linearer Inkommensurabilität verständlich machen. Da er die Sache zu erklären vermag, ist ihm auch der Gebrauch der Begriffe transparent. Und dies gilt es auch in der Explikation seines Vorverständnis vom „Wissen selbst" zu erreichen., das in seinem Hinweis auf die einzelnen wissenschaftlichen und handwerklichen Disziplinen zum Ausdruck kommt.
2.2. Die Mäeutik
Anschließend klärt Sokrates seine eigene Rolle in der Untersuchung. Sein Handwerk beschreibt Sokrates mit folgenden Worten: Das Wichtigste ist bei meiner Kunst die Fähigkeit, mit allen Mitteln zu prüfen, ob das Nachdenken des jungen Mannes ein bloßes Trugbild und etwas Falsches hervorgebracht hat, oder etwas Lebenskräftiges und Wahres. [... ] Ich [selber] bringe keine klugen Gedanken hervor. Was mir schon viele zum Vorwurf gemacht haben, daß ich 13 Dieser Aspekt darf nicht übersehen werden. Sokrates geht ja in der Kritik an Theaitets exemplarischer Antwort von einer konkreten Gesprächssituation aus. Er betrachtet das Verständnis der Sache aus der Perspektive eines Adressaten der Äußerung.
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immer nur die anderen frage, jedoch selber gar nichts, worüber auch immer, hervorbrächte, so ist der Vorwurf berechtigt. (150 b 9 - c 7)14 Sokrates versteht sich darauf, zu erkennen, wer mit einem guten Gedanken schwanger geht, diesen Gedanken ans Tageslicht zu bringen, also zu prüfen, ob er wahr und erklärungskräftig ist, und dabei auch die Geburtswehen zu lindern, die dieser Prozeß mit sich bringt. Doch auch denen, die nicht der sokratischen Geburtshilfe bedürfen, kann geholfen werden. Sokrates versteht sich auch darauf, passende Freundschaften zu stiften. Offenbar kommt beides im Rahmen der Erörterung zur Geltung. Denn zu den passenden Freundschaften scheint auch die Verbindung zu gehören, die Sokrates zwischen der protagoreischen Auffassung, den herakliteischen Flußontologen und einer bestimmten Lesart von Theaitets erster These knüpft. Anschließend wird Theaitet dann mit mäeutischer Hilfestellung ein wirklich tragfähiges Ergebnis hervorbringen. Am Leitfaden der sokratischen Fragen erlangt er Klarheit darüber, wie es sich mit seinem Gedanken „Wahrnehmung ist Wissen" tatsächlich verhält; in welcher Hinsicht er verfehlt ist, warum dies der Fall ist, und in welcher Hinsicht dieser Gedanke richtig ist. Der Sokratische Sachverstand besteht darin, die Meinungen seiner Gesprächspartner zu prüfen, um Trugbilder, also nur vermeintliche von wirklichen Einsichten zuverlässig unterscheiden zu können. Er selber bringe keine eigenen Einsichten hervor, sondern sieht seine Aufgabe darin, „auf gar keinen Fall etwas Falsches durchgehen zu lassen und etwas Wahres zu verwerfen" (151 dl-3). Für diese Kunstfertigkeit beruft Sokrates sich auf seinen göttlichen Auftrag.15 Sokrates spricht sich selbst keine eigenen Erkenntnisse zu, die er vorzeigen könne. Dies ist wohl in erster Linie so zu verstehen, daß die richtigen Meinungen der Schüler nur dann als Wissen gelten können, wenn 14 Übersetzimg mit geringfügigen Änderungen nach Martens (1981:31). 15 Gemeint ist offenbar Apollon, auf dessen Auftrag Sokrates sich auch in der Apologie (20 C, 30 D) beruft. Dort spricht Sokrates von seiner inneren göttlichen Stimme (31 D), seinem daimonion, das ihm von bestimmten Handlungen abrate. Im Zusammenhang mit dem historischen Sokratesprozeß, den Piaton dramaturgisch zwischen das hier geführte Gespräch und dessen Fortsetzung im Sophistes situiert, hat Sokrates wohl nicht zuletzt wegen der Berufung auf sein daimonion als Sophist gegolten, vgl. Burkert (1977: 282). Vgl. zur Selbstdeutung der Mäeutik auch Bumyeat (1977b) und Heitsch (1988: 33-36).
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sie ihre Einsichten selber gewonnen haben. Daß in der mäeutische Prüfung auch nichts „Wahres verworfen" werden dürfe, scheint zu bedeuten, daß Sokrates neben der Irrtumskorrektur auch die Aufgabe hat, auch die richtigen Auffassungen, die seine Gesprächspartner durch Antworten auf seine Fragen vorbringen, auch deutlich zu machen. Dies geschieht ja auch ausdrücklich in der Erörterung des ersten Definitionsvorschlags (185 E). Einige Aspekte der sokratischen Kunst sind Theaitet bekannt, andere nicht. So hat er von dem besonderen Fragetypus der „Was ist X ?-Frage", für den Sokrates berüchtigt ist, schon gehört. Er versteht auch, worum es dabei geht und befaßt sich selber mit solchen Fragen. Das hat er ja soeben unter Beweis gestellt. Es ist Theaitet auch bekannt, daß Sokrates Sohn einer Hebamme ist, und daß er in dem Ruf steht, die Menschen in Verwirrimg zu stürzen. Was er jedoch nicht weiß, ist der Umstand, daß beides zusammengehört, daß nämlich Sokrates selber eine Art Hebammenkunst ausübt, und die Verwirrung seiner Gesprächspartner eine mögliche Folge der sokratischen Fragen ist. Dies beides kann er auch nicht wissen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens hat Sokrates seine Mitmenschen darüber nicht eigens aufgeklärt. Und zweitens haben es auch seine bisherigen Gesprächspartner nicht erkannt, die sich oft allzu früh im Zorn von ihm abgewandt, und den helfenden Charakter des Sokratischen Hebammendienstes und ebenso deren göttlichen Ursprung nicht verstanden haben.16 Offenbar kann man auch den Charakter der Mäeutik erst dann erkennen, wenn man sich von ihr nicht zornig beirren, sondern helfen läßt, wenn man also den Weg der Klärung der Was-es-ist-Fragen und damit auch den Prozeß der Irrtumseinsicht einmal bis zum Ende durchschritten hat.17 16 „Ich selber bin keineswegs klug [... ]. Diejenigen aber, die mit mir zusammen sind, erscheinen zwar zunächst zum Teil als ganz und gar nicht klug, doch machen im Laufe unseres Zusammenseins später alle, denen es der Gott vergönnt, aus ihrer wie auch aus der Sicht der anderen erstaunlich schnelle Fortschritte, und dies offenbar ohne irgend etwas von mir gelernt zu haben, sondern sie finden viele schöne Dinge in sich [... ]. Urheber dieser Entbindung sind indessen der Gott und ich. Das wird durch Folgendes deutlich: Viele schon haben dies verkannt, sich alles selbst zugeschrieben, mich hingegen geringschätzig behandelt und sich deshalb, aus eigenem Antrieb oder von anderen überredet, allzu früh von mir getrennt. Nach dieser Trennung hatten sie dann [... ] nur [gedankliche] Fehlgeburten oder auch [die Gedanken], von denen sie durch mich entbunden wurden, durch mangelnde Pflege wieder verloren" (150 c 8 - e 6). 17 Die gesamte erste Hälfte des Dialoges ist eine Demonstration des mäeutischen Verfahrens, das Sokrates zudem kommentiert. Im Theaitet steht die Maieutik ganz im Dienst der Klarheit, wie es ja auch dem Thema und dem Gesprächspartner entspricht
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Die Gesprächspartner haben bislang gleichsam die Geschäftsordnung der Unterredung festgelegt. Beide sind sich (erst) jetzt über Ziel und Verfahrensweise der Untersuchung im klaren. Dieser Umstand verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn in den früheren Dialogen gibt es zu Beginn gerade keinen gemeinsamen Verstehenshorizont. Vielmehr stellt sich erst im Verlaufe der Diskussion heraus, was überhaupt das Ziel der „Was ist X ?"-Frage ist, und wie sie zu beantworten wäre.18 Das ist hier etwas anders. Die Dialogpartner verfügen zu Beginn über ein gemeinsames Verständnis über Untersuchungsziel und Vorgehensweise. Im Unterschied zu den früheren Dialogen steht hier auch kein Dissens über die richtige Verwendung eines Prädikats am Anfang. Die Dialektik geht hier einen umgekehrten Weg. Sie dient hier nicht in erster Linie der Einsicht in ein nur vermeintliches Wissen, sondern der genaueren Prüfung der zutreffenden Meinung, die in Theaitets erster Antwort zum Ausdruck kommt. Während es in den früheren Dialogen darum geht, die „Was ist X ?"-Frage beantworten zu können, um mit Wissen über einzelne Behauptungen entscheiden zu können, in denen es umstritten ist, ob man das Prädikat, dessen Bedeutung mit der Definitionsfrage thematisiert wird, der jeweiligen Sache oder Handlung zu Recht zuspricht, kommt es hier darauf an, das nicht umstrittene Vorverständnis dessen, was Wissen ist, explizit zu machen und am Maßstab einer Definitionsforderung zu prüfen. Theaitet bringt die Hypothesen über die Natur des Wissens ins Spiel, und Sokrates fällt die Aufgabe zu, diese Vorschläge auszubuchstabieren. Gemeinsam repräsentieren die Gesprächspartner das Verfahren des λόγον διδόναι, dessen Voraussetzungen auf die Rollen verteilt sind, die beide einnehmen. (Phaidros 277 C), der sich nie fälschlich im Besitz von Wissen wähnt und seine Fehler zu korrigieren versucht. Sokrates deutet den ersten Definitionsvorschlag zwar auf eine Weise, die Theaitet ins Staunen versetzt, aber er läßt ihn nicht im Unklaren über das Ziel seiner Fragen. Er offenbart Theaitet die Geheimnisse seiner Kunst und demonstriert en detail den Unterschied zwischen dialektischer und eristisch-agonaler Argumentationsweise (162 D -164 E). 18 Zur Methodik und Zielsetzung des Elenchos vgl. Brickhouse/Smith (1991), Robinson (1953: 7-23), die detaillierte Darstellung von Stemmer (1992) und die ausführliche und überarbeitete Form der klassischen Darstellung von Vlastos (1994: 1-37). Zum Unterschied zwischen der mäeutischen Vorgehensweise des Sokrates im Theaitet und dem „peirastischen" Aspekt des Elenchos der früheren Dialoge vgl. Vlastos (1991: 266).
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Der erste Vorschlag: Wissen ist Wahrnehmung (151 e - 187 a)
1. Der protagoreische Relativismus (151 e - 1 6 0 e) Nachdem Sokrates der Untersuchung den richtigen Weg gewiesen hat, formuliert Theaitet nun im zweiten Anlauf den ersten Definitionsvorschlag: Wer etwas weiß, nimmt nun, wie ich meine, dasjenige wahr, was er weiß. Und wie mir jedenfalls jetzt scheint, ist Wissen nichts anderes als Wahrnehmung. (151 e 1 - 3) Ist dies nun eine Definition? Und was genau heißt hier „Wahrnehmung"? Die Antwort hat jedenfalls die Form einer Definition.1 Sokrates hebt denn auch hervor, daß es sich um eine Definition handelt, um einen kategorial richtigen Vorschlag zur Beantwortung der „Was ist X ?"-Frage.2 Theaitet äußert eine, in ihrer Vorläufigkeit als solche ausdrücklich gekennzeichnete Meinung, in der zum Ausdruck kommt, was ihm zunächst einmal richtig zu sein scheint. Es ist eine Definition auf Probe. Von „Wahrnehmung" ist hier zunächst in einem weiten Sinn die Rede. „Wahrnehmung" umfaßt hier die Gesamtheit eines sowohl perzeptive als auch begriffliche Leistungen enthaltenden Erkenntnisvorgangs. „Wahrnehmung" bedeutet hier soviel wie „Auffassung" oder „Eindruck". Daß man dasjenige weiß, was man wahrnimmt, kann auch im Sinne eines 1 Genau betrachtet formuliert Sokrates die Definition. Als derjenige, der die „Was ist X?"-Frage stellt, gibt Sokrates mit seiner Frage Theaitets Meinung die Form einer Definition. Mit seiner Rückfrage „Wahrnehmung, so behauptest du, ist Wissen?" (151 e 6) formuliert Sokrates Theaitets Äußerung ausdrücklich als Definition und Theaitet bejaht die Frage. Dies ist charakteristisch für das elenktische Streitgespräch, „denn im Elenchos werden die Prämissen zwar von dem Antwortenden behauptet, aber von dem Fragenden formuliert. Der Fragende streckt dem Antwortenden die Prämissen in Frageform hin, und dieser bejaht oder verneint" (Stemmer 1992: 135).
2 Vgl. Charmides 159 b 7 f., 162 e 4 f., Euthyphron 7 a 2 ff., Menon 78 c 3 f., Politela
339 a 5.
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Wissen ist Wahrnehmung (151 e -187 a)
mentalen Zustands verstanden werden, den man so kommentiert, daß man eine bestimmte Vorstellung von einer Sache hat. Mit anderen Worten: Die Rede von der Wahrnehmung dessen, was man weiß, bedeutet in einem weiten Sinne: Wissen ist das, was einem „vor Augen steht".3 Um der Definitionsforderung Rechnung zu tragen, gibt Theaitet seiner gegenwärtigen Auffassung die Form: „Wissen ist (dasselbe wie) Wahrnehmung". „Wahrnehmung" bildet somit das (vorläufige) Definiens von Wissen. Nun ist diese These offenkundig in verschiedener Hinsicht unterbestimmt und somit auslegungsbedürftig. In der Konsequenz der Kritik an der ersten Bestimmung vom Wissen als Inbegriff der Künste, müßte Sokrates als nächstes fragen, was Theaitet denn genau unter „Wahrnehmung" versteht. Diese Frage stellt er aber gerade nicht, jedenfalls noch nicht.4 Vielmehr überspringt Sokrates diesen Schritt, und gibt die Antwort gleich selbst, indem er nämlich Theaitets These mit Protagoras' Homo-Mensura-Formel erläutert. Damit ist klar, daß im folgenden nicht etwa eine These erörtert wird, über die sich Theaitet bereits hinreichend im klaren ist. Im Gegenteil, Theaitet wird im Verlaufe der Überlegungen, die seinem Definitionsvorschlag gewidmet sind, sehr darüber ins Staunen geraten, welche Folgen sich schließlich ergeben werden, wenn man seine Äußerung beim Wort nimmt, wenn man sie in der Tat als eine Definition und damit als Identifikation von Wissen und Wahrnehmung versteht. Zur Diskussion steht nun diejenige Deutung, die Sokrates dieser These gibt.5
3 Vgl. Charmides 159 a 1 - 7. 4 Ein präzises Verständnis von „Wahrnehmung" wird, am Leitfaden der Frage nach dem Agens (dem „Womit") des Wahrnehmens, erst in 184 Β - 187 A entwickelt, nachdem die Deutung von „Wissen" und „Wahrnehmung", die Sokrates Theaitets These zunächst geben wird, bereits widerlegt ist. In dem späteren Abschnitt wird „Wahrnehmung" dann in einem ganz anderen Sinne verstanden. 5 Die von Sokrates später widerlegte Auffassung der „simple thesis which is put into Theaetetus' mouth and treated as the formal refutand" ist nach Vlastos' Worten (1991: 266) „a doctrine which by no stretch of imagination could have been fished out of Theaetetus' own belief system. The naive identification of knowledge with perception allowed him at the start is changed past recognition into a minimal-metaphysical system which is only too patently Socrates' own invention: what he refutes in the course of the long-winded argument that follows is his own imaginative construct, with he chooses to saddle his docile interlocutor." Und Ahnliches gilt nach Vlastos' Beobachtung auch für die Erläuterung und Widerlegung der anderen beiden Definitionsvorschläge.
Der protagoreische Relativismus (151 e -160 e)
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Die Auffassung, mit der Sokrates Theaitets These „Wissen ist Wahrnehmung" zunächst erläutert, sei im folgenden der Einfachheit halber protagoreischer Relativismus oder einfach Relativismus genannt. Die ontologische Begründung dieser Auffassung liefert die Flußlehre, die Sokrates im nächsten Schritt entwirft. In welcher Hinsicht der protagoreische Relativismus eine Erklärung auch der Form des sachkundigen Wissens bietet, von der ja die Erörterung ihren Ausgang nimmt, wird dann in der fiktiven Apologie des Protagoras deutlich. Zu Protagoras sei vorweg angemerkt, daß es bei der Auseinandersetzung mit der literarischen Figur Protagoras im Theaitet nicht so sehr um das politisch-praktische Phänomen der sophistischen Rhetorik geht, sondern Protagoras hier in erster Linie als Personifikation einer epistemologisch-ontologischen Problemstellung fungiert.6 Nun bringt die protagoreische Mensuraformel sicherlich keine komplexe Erkenntnistheorie zum Ausdruck, doch wenn man ihre epistemologischen Konsequenzen entfaltet, dann führt dies zu der Auffassung, die hier - und ähnlich später bei Aristoteles - zur Diskussion steht. 6 Nun ist Piatons Auseinandersetzung mit der rhetorisch-politischen Praxis der Sophisten nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie eine erkenntnistheoretische Angelegenheit gewesen, im Gegenteil; schließlich geht es bei den Angelegenheiten in den Volks- und Gerichtsverhandlungen, in denen die zeitgenössischen Rhetoren agieren, denen Piatons Kritik gilt, wie es in der Episode dieses Dialoges pointiert heißt, oftmals um nichts weniger als um einen „Wettlauf um Leben oder Tod" (172 e 7). Daß es letztlich um diese ethische Dimension geht, wird nicht zuletzt durch den dramaturgischen Hinweis auf den historischen Sokrates-Prozeß deutlich, mit dem der Dialog schließt. Dieser Aspekt tritt aber in den späten Dialogen insofern zurück, als hier die genuin epistemologische Relevanz der Sophistikkritik im Vordergrund steht. Die Hintergründe der Platonischen Auseinandersetzung mit Protagoras beleuchtet Meyer (1994: 70-85). In der fiktiven Apologie, die Sokrates im Namen des Protagoras vorträgt, wird dann wohl auch der authentische Gehalt der protagoreischen Auffassung deutlich. Eine detaillierte Interpretation der Mensuraformel auf ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund gibt Buchheim (1986: 43-65). 7 Aristoteles setzt sich mit Protagoras in Metaphysik IV, 1009 a - 1011 b im Rahmen der Rechtfertigung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch auseinander. Die Mensuraformel in ihrer prägnanten Kurzform erwähnt er auch in Metaphysik 1053 a 37, wo er den Begriff des Maßes präzise als Maßstab oder Maßeinheit bestimmt, und an dem metaphorischen Gebrauch von metron vor allem deshalb Anstoß nimmt, weil Protagoras Wissenschaft und Wahrnehmung, die Aristoteles seinerseits metaphorisch als "Maß der Dinge' kennzeichnet, mit dem je einzelnen Menschen identifiziert: „Protagoras aber sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, als verstünde er darunter den wissenden Menschen [...] und als ob er diesen darum so bezeichnete, weil er [...] über Wissen verfügt, was wir als Maß des Zugrundeliegenden ansehen. Der Ausspruch besagt also nichts, obgleich er etwas ganz Besonderes auszusagen scheint." Diese harsche
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Wissen ist Wahrnehmung (151 e -187 a)
Daß Theaitets erster Definitionsvorschlag, der Relativismus und die Flußontologie zusammen stehen und fallen, kommt im Zwischenresümee in 160 d 6 - e 2 zur Sprache: Und es läuft ganz auf dasselbe hinaus, wenn nach Homer, Heraklit und all' ihrem Gefolge alles sich wie Flüsse bewegt, nach Protagoras der Mensch Maßstab aller Dinge ist, und wenn nach Theaitet nun auf der Grundlage dieser Auffassungen Wahrnehmung Wissen wird. Die Erörterung und auch die Widerlegung des ersten Definitionsvorschlags stehen ganz im Zeichen des protagoreischen Relativismus.8 Diesen Zusammenhang gibt Sokrates an dieser Stelle ausdrücklich auch als Resultat seiner mäeutischen Explikation zu erkennen. An diesem Ergebnis, „mag es auch beschaffen sein, wie es will" (160 e 6 - 7), das Theaitet sich auch zu eigen macht, setzt dann die Prüfung an. Der protagoreische Relativismus erfüllt in Piatons Dialogregie folgende Funktion: Er ist diejenige Theorie, innerhalb derer Theaitets erster Vorschlag in der Tat als eine Definition von Wissen gelten kann. Als Definition besagt seine Hypothese, daß „Wissen" und „Wahrnehmen" gleichbedeutend und somit austauschbar sind, daß es sich also mit dem, was mit „Wissen" und „Wahrnehmung" gemeint ist, auf dieselbe Weise verhält. In der Form, in der Theaitets Annahme vom Wissen als Wahrnehmung zunächst bis 168 C erläutert und anschließend widerlegt wird,
Kritik, die Formel gebe sich den unverdienten Anschein des Außergewöhnlichen, zeugt wohl auch von der großen Wirkung, die Protagoras u. a. mit diesem programmatischen Leitspruch tatsächlich erzielt haben dürfte. Die rhetorische Prägnanz der Mensura-Formel scheint Aristoteles im übrigen selber beeindruckt zu haben, wenn er sich mit der Rede von der Wissenschaft als Maß der Dinge' an die Formulierung anlehnt. Auch die strukturell gleiche Formulierung des bei Diogenes für Protagoras bezeugten Götterfragments (Diogenes Laertius IX, 51) spricht dafür, daß es sich bei dieser Wendung um eine (ein-)gängige rhetorische Formel gehandelt hat. 8 Was die Frage der Authentizität der Protagoras zugeschriebenen Auffassung, wie auch insgesamt diejenigen Ansichten betrifft, die hier als Referate der Ansichten anderer Denker (201 C - D, 208 C) oder auch als 'herrschende Meinung' (z. B. 197 A) ins Spiel kommen, so ist an das Diktum aus dem Charmides (161 C) zu erinnern, wonach es nicht darauf ankommt, wer etwas gesagt hat, sondern ob damit etwas Richtiges gesagt ist oder nicht (Vgl. Protagoras 333 c 5 - 9.). Dies herauszufinden, ist das Ziel der sokratischen Mäeutik. Es kommt deshalb darauf an, wie sich die protagoreische Mensuraformel als Antwort auf die Frage „Was ist Wissen?" verstehen läßt, was dabei unter „Wahrnehmung" (αϊσΟησις) verstanden wird, und welche Ontologie der wahrnehmbaren Welt der Formel unter dieser Fragestellung zugrundeliegt.
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ist sie äquivalent mit dem protagoreischen Relativismus. Und nur diese Behauptung wird von Sokrates widerlegt. Das ist deshalb zu beachten, weil aus der Widerlegung dieser Behauptung, genauer gesagt: aus der Widerlegung der entsprechenden Theorie, deren Bestandteil sie ist, keineswegs folgt, daß es von den wahrnehmbaren Phänomenen kein Wissen geben kann. Nachdem die protagoreischherakliteische Auffassung von Wissen und Wahrnehmung widerlegt ist, bringt Sokrates ein alternatives Verständnis von „Wahrnehmung" zur Sprache, das dann zum zweiten Definitionsvorschlag, zu den richtigen Urteilen (Meinungen) überleitet. Da die Erörterung des ersten Definitionsvorschlags verschiedene Interpretationen ermöglicht, und auf recht verschlungene Pfade führt, scheint es geboten, zunächst den Kern des protagoreischen Relativismus deutlich zu machen und anschließend die einzelnen Stadien seiner Darstellung nachzuzeichnen.' Protagoras identifiziert Wissen, Wahrnehmung und 9 Burnyeat (1990: 7-10) unterscheidet zwei alternative Lesarten, die er an zentralen Stellen des Dialoges einander gegenüberstellt. Nach seiner Lesart A hält Piaton selbst die protagoreisch-herakliteische Auffassung für die richtige Theorie der Wahrnehmung und der empirischen Welt, die er deshalb widerlegt, weil es Wissen nicht vom Empirischen, sondern einzig von den unveränderlichen, intelligiblen Ideen geben kann. Nach der von Burnyeat favorisierten und ihm zufolge auf Bernard Williams zurückgehenden Lesart Β handelt es sich beim - hier so genannten - protagoreischen Relativismus hingegen nicht um Piatons eigene Auffassung, sondern um diejenige Auffassung, die in der Definition vom Wissen als Wahrnehmung impliziert ist, und deren unmögliche Folgen Sokrates anschließend zeigt. „It takes Socrates until 160e to work out with Theaetetus these consequences [... ]. [T]he structure of the argument is that of a reductio ad absurdum·. Theaetetus —• Protagoras —• Heraclitus —> the impossibiliy of language. Hence Theatetus definition is impossible" (1990: 9). Mit Burnyeats Lesart Β stimme ich im Ergebnis darin überein, daß der protagoreische Relativismus für Piaton die Begründung des ersten Definitionsvorschlags darstellt und Piatons Sokrates diese Auffassung ad absurdum führt. Allerdings läßt sich meines Erachtens zeigen, daß gerade die in der fiktiven Apologie des Protagoras (166 A - 168 C) gegebene Erklärung der These „Wissen ist Wahrnehmung" ein wesentliches Element des protagoreischen Relativismus bildet und daher ebenfalls zu der von Sokrates zunächst unternommenen Explikation des ersten Definitionsvorschlags gehört. Was die Widerlegung betrifft, so sucht Piatons Sokrates nach meiner Auffassung zu zeigen, daß der protagoreische Relativismus sowohl ein verfehltes Verständnis von Wissen als auch ein unzureichendes Verständnis von Wahrnehmung darstellt. Diejenige Form der These „Wissen ist Wahrnehmung", die mit dem protagoreischen Relativismus äquivalent ist, wird widerlegt. Und das zu Beginn noch unspezifische Verständnis von „Wahrnehmung" in Theaitets erster These wird dabei zugleich präzisiert. Das Wahrnehmen erweist sich der Sache nach als eine Form des Urteilens, und insofern, als das zutreffende Urteilen die erste Voraussetzimg für Wissen - und damit ein Definitionsmerkmal von Wissen - ist, trägt dies auch zur Explikation des Wissensbegriffs bei.
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Meinung. Ihm zufolge sind alle individuellen Meinungen (Überzeugungen) für den Meinenden immer wahr. In jeder Uberzeugung kommt danach ein tatsächlich bestehender Sachverhalt zum Ausdruck, jede Meinung bezieht sich auf etwas, das der Fall ist, und zwar für die individuelle Person in der Weise der Fall ist, daß die Sache genau so beschaffen ist, wie sie dem Urteilenden augenblicklich „erscheint".10 Das heißt: Mit derjenigen Sache, auf die man sich in einem bestimmten Augenblick bezieht, verhält es sich tatsächlich genau so, wie es sich mit dieser Sache für den Urteilenden zu verhalten scheint. Daß der Einzelne Maß der Dinge ist, heißt, daß jede Meinung für denjenigen bereits - und ausschließlich - dadurch 'wahr' ist, daß er sie für wahr hält. Und zwar deshalb, weil die Phänomene nur durch die Interaktion mit dem Wahrnehmenden überhaupt Gegenstand der Wahrnehmung sein können. Und ebenso verhält es sich ihm zufolge auch bei allen Meinungen.11 Im Sinne des Protagoras argumentiert Sokrates auf folgende Weise: 1. Wahrnehmung besteht in der Interaktion zweier, voneinander kausal abhängiger Komponenten, nämlich des jeweils beteiligten Sinnesorgans (genauer gesagt: des augenblicklichen Zustands eines Sinnesorgans) und der augenblicklich wahrgenommenen phänomenalen Qualität. 2. Das Wahrnehmungserlebnis kommt nur dann zustande, wenn beide Komponenten zusammenwirken. Das heißt: Durch diese Interaktion erhalten die wahrnehmbaren Dinge erst diejenige Beschaffenheit, die man in der Wahrnehmung auffaßt. 3. Also kann das Wahrnehmbare, das heißt: dasjenige, was jeweils in Erscheinung tritt, nur so beschaffen sein, wie es wahrgenommen wird. 4. Beim Erkennen verhält es sich ebenso wie beim Wahrnehmen; auch die Meinungen kommen auf diese Weise zustande. 10 Das scheint mir der Grund dafür zu sein, daß Sokrates in der Darstellung der protagoreischen Auffassung, worauf Sprute (1962: 40 f.) zu Recht hinweist, zwischen „πάθος", „αΐσθησις" und „δόξα" nicht strikt unterscheidet. Eine Unterscheidung zwischen „αϊσθησις" und „δόξα" erfolgt dann in 179 C, und eine Präzisierung der Rede von der „αΐσθησις" in 184 D - 187 A. 11 Diesen Zusammenhang scheint auch Sextus Empiricus so gesehen zu haben, der allerdings Protagoras in einem strikt subjektivistischen Sinne deutet (Grundriß der Pyrronischen Skepsis - Diels / Kranz 74 A 14).
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5. Daß eine Meinung wahr ist, bedeutet, daß sie das Ergebnis eines Interaktionsprozesses zum Ausdruck bringt. 6. Also sind alle Meinungen wahr. Auf diesem Analogieschluß (4) beruht die protagoreische Auffassung, und damit auch Theaitets These „Wissen ist (dasselbe wie) Wahrnehmung". Die Überlegungen (5) und (6) sind nurmehr Explikationen der Bedeutung von „wahr" in der Konsequenz der protagoreischen Auffassung. So erklärt sich auch, daß es für Protagoras keine falschen Meinungen geben kann, denn ohne ein Zusammenwirken zwischen dem Wahrnehmendem und dem Wahrgenommenen, das eben infolge dieses Zusammenwirkens genau so beschaffen ist, wie es wahrgenommen wird, kommen gar keine Meinungen zustande. Die erste, für das Argument entscheidende ontologische Prämisse (1) wird mit der Flußlehre begründet. 12 Wahrheit und Für-wahr-Halten fallen für Protagoras zusammen. Von wahren Meinungen zu sprechen, ist für Protagoras daher streng genommen eine tautologische, von falschen Meinungen zu sprechen eine entsprechend absurde Redeweise. Protagoras' Position ist vielmehr im präzisen Sinne wahrheitsindifferent. Darin liegt ihre epistemologische Pointe. Protagoras suspendiert einen objektiven Wahrheitsbegriff und mithin die Wahrheitsdifferenz als Kriterium von Urteilen. Und der ontologische Grund besteht darin, daß Uberzeugungen nicht in der Weise auf eine objektive Wirklichkeit bezogen sind, daß sie auf diese entweder zutreffen oder sie verfehlen können. Die Suspension des Wahrheitsbegriffs hängt auf engste mit dem protagoreischen Verständnis von „σοφία" und mit der rhetorischen Praxis zusammen. An die Stelle der Wahrheitsdifferenz setzt Protagoras nämlich eine Unterscheidung von „besseren", das heißt vorteilhaften und unvorteilhaften Uberzeugungen. Im Erzeugen von Meinungen über das Vorteilhafte besteht nun derjenige spezielle Sachverstand, den er für sich in Anspruch nimmt. Die Fähigkeit, für den Meinenden vorteilhafte Uberzeugungen bewirken zu können, ist für ihn das wesentliche Merkmal des technischen Wissens (σοφία). Die von den Gesprächspartnern angestrengte Suche nach einer Erklärung des „Wissens selbst", die von Sokrates' Überlegungen 12 152 D - 1 6 0 E.
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zum Sachverstand gerade ihren Ausgang genommen hat, muß aus Protagoras' Sichtweise als ein müßiges Unternehmen erscheinen.13 Die Mensuraformel ist eine generelle Behauptung über Meinungen. Sie ist keineswegs auf die sinnliche Wahrnehmung im engeren Sinne beschränkt, sondern umfaßt vielmehr alle Erkenntnisleistungen. Protagoras unterscheidet nicht zwischen Urteil (δόξα), Wahrnehmung (αϊσθησις) und Vorstellung (φαντασία). „Wissen" geht nach Protagoras vollständig in der subjektiven Gewißheit auf. Wahr zu sein, bedeutet demnach soviel wie evident zu sein, wobei dasjenige, was jemandem jeweils evident scheint, tatsächlich auch der Fall ist. In genau diesem Sinne sind für Protagoras alle Meinungen wahr. Ebenso wie beim Wahrnehmen, so verhält es sich ihm zufolge mit den Meinungen insgesamt. Hatte Theaitet im ersten Definitionsversuch gesagt, ihm scheine Wissen „nichts anderes als Wahrnehmung" zu sein, so wird unter Sokrates' Regie daraus nun: »Wissen ist nichts anderes als Meinen", und zwar auf der Grundlage einer Auffassung, die einen Unterschied zwischen einer Uberzeugung, in der etwas auf bestimmte Weise beschaffen zu sein scheint, und einem Urteil darüber, wie etwas tatsächlich beschaffen ist, gar nicht kennt. Diese Auffassung wird Sokrates nun bis 168 C innerhalb ihrer Voraussetzungen so plausibel wie möglich machen. Die Prüfung des ersten Definitionsversuchs ist zugleich - der Struktur nach - eine geradezu mustergültige Demonstration des sokratischen Elen· chos. Als Bindeglied zwischen Theaitets erster These und Protagoras' Mensuraformel fungiert der Begriff des „Erscheinens". Zuerst erläutert Sokrates Theaitets These mit der Rede davon, daß jemandem etwas „so zu sein scheint" (151 e 8 - 9). Im zweiten Schritt wird diese Rede von „Erscheinen" ausdrücklich mit dem Begriff „Wahrnehmung" der ersten These, der ja als Definiens von Wissen geprüft werden soll, identifiziert (152 b 11): „Das „erscheint" bedeutet doch Wahrnehmen?" (το δέ γε „φαίνεται" αίσθάνεσθαί έστιν). Und der Gefragte kann nach den Spielregeln des Elenchos die Frage nur verneinen oder bejahen.14 Damit macht sich Theaitet nun die protagoreische Auffassung zu eigen. 13 161 e 3 - 6 . 14 Der argumentative Teil des Elenchos ist auf folgende Weise gegliedert: Nach der ersten Antwort auf die „Was ist X?"-Frage bringt der Fragende einen dritten Begriff ins Spiel. „Mit diesem Begriff wird gespielt. Er wird [... ] im ersten Argumentationsschritt
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1.2. Die Mensuraformel (152 a - 1 5 2 c) Im ersten Schritt bringt Sokrates Theaitets Antwort auf folgende Weise mit Protagoras' Mensuraformel in Verbindung: Deine Bestimmung des Wissens scheint gar nicht schlecht zu sein, ist es doch diejenige, die auch Protagoras gegeben hat. In einer anderen Weise hat er nämlich dasselbe gesagt. Er behauptet nämlich, der Maßstab aller Dinge sei der Mensch, der Seienden, daß sie sind, der Nichtseienden, daß sie nicht sind. (151 e 8 -152 a 4) Sokrates zufolge besagt die wohl recht wirkungsmächtige Formel, mit der Protagoras, wie Diogenes Laertius (IX, 51) berichtet, eine Schrift mit dem Titel ^Aletheia" begonnen haben soll, der Sache nach dasselbe wie Theaitets erster Definitionsvorschlag. Die Identifikation beider Thesen ist nun zunächst recht erstaunlich, ist doch in der Mensuraformel weder von Wissen noch von Wahrnehmung die Rede. Wie ist es nun zu verstehen, daß in Theaitets These und Protagoras' Formel derselbe Gehalt zum Ausdruck kommt? Sokrates identifiziert beide Thesen über das Bindeglied „Erscheinung". Darin liegt, wie gesagt, der Schlüssel zum Verständnis der These „Wissen ist (dasselbe wie) Wahrnehmen". Mit der Formel vom „Maß der Dinge" habe Protagoras gemeint: „Für mich ist alles so, wie es mir erscheint, für dich wiederum so, wie es dir erscheint" (152 a 7 - 9).15 mit dem ersten Begriff, dem Begriff der „Was ist X?"-Frage, und im zweiten Argumentationschritt mit dem zweiten Begriff, dem Begriff der These, in Beziehung gesetzt" (Stemmer 1992: 113). Hier spielt nun die Rede vom „Erscheinen" („φαίνεται") diese Mittlerrolle. 15 Aufgrund der Quellenlage - die Schriften des Protagoras sind verlorengegangen und seine Äußerungen fast ausschließlich in den Texten seines Kritikers Piaton überliefert - läßt sich nicht entscheiden, in welchem Sinne Protagoras selbst die Formel verstanden wissen wollte. Zu den verschiedenen Interpretationsschwierigkeiten vgl. den Überblick von Guthrie (1969: ΙΠ, 183-191). Wie der Hauptsatz der Formel zu deuten sei, war insbesondere im 19. Jahrhundert recht umstritten (vgl. Natorp 1965: 1-38). Der Wortlaut erlaubt auch eine anthropologische Deutung, der zufolge nicht das Individuum, sondern die Gattung Mensch, d. h. die menschliche Vernunft maßgeblich für die Ordnung der Dinge sei. Zugunsten dieser Lesart wurden sozialgeschichtliche Gründe wie z.B. die sophistische Depotenzierung der Religion, der Aufschwung des Handels genannt. Dagegen hat allerdings Natorp geltend gemacht, daß von dieser Lesart „das
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So lautet nun Sokrates' Version der Formel. Nach seinen Worten bedeutet die Wendung „der Mensch ist Maßstab der seienden Dinge, daß sie sind" dasselbe wie die Redeweise, daß jemandem etwas so und so zu sein scheint (φαίνεται). Die Pointe der Formel besteht nun darin, daß Protagoras zufolge für jeden die Dinge wirklich so beschaffen sind, wie sie ihm zu sein scheinen.16 Diese Ansicht erläutert Sokrates mit einem Beispiel aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung (152 b 2 - 4): „Kommt es nicht manchmal vor, daß beim Wehen desselben Windes der eine von uns friert, der andere aber nicht [...]?"
ganze Altertum freilich nichts weiss" (ebd.: 5). Der Hauptsatz wird bei Piaton jedenfalls so verstanden, daß der Einzelne in dem Sinne „Maß aller Dinge" ist, daß alle verschiedenen Meinungen gleichermaßen wahr sind. Der Nebensatz wird üblicherweise mit „daß sie sind" übersetzt. In dieser Formulierung erscheint der Mensch als Maßstab für die Existenz der Dinge, während die Formulierung „wie sie sind" den Einzelnen als maßgeblich für die ihm jeweils erscheinende Beschaffenheit der Dinge erklärt (vgl. hierzu Graeser 1978). Da sich von nicht-existenten Dingen schwerlich ihre Beschaffenheit angeben läßt, scheidet eine Ubersetzung der Konjunktion mit „wie" aus. Dennoch ist der Aspekt der Beschaffenheit der „Dinge" für das Verständnis der Mensura-Formel bedeutsam. Zwischen Existenzaussage und Prädikation wird bei Protagoras nicht unterschieden. Da sich nämlich Protagoras zufolge, in Piatons Deutung, über objektive Eigenschaften nichts sagen läßt, sofern sie nur für den Einzelnen jeweils so-beschaffen sind, die „Dinge" daher erst durch ihr Aufgefaßt-werden als-etwas-für-jemanden in Erscheinung treten, sind die Dinge danach für den Einzelnen auch nur insofern existent, als ihnen im je augenblicklichen Auffassungsakt bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden. Die Pointe der Mensuraformel scheint gerade darin zu bestehen, daß Existenz und Beschaffenheit („daß" und „wie") der Dinge in dieser Hinsicht zusammenfallen. 16 Auf dieselbe Weise wird die protagoreische Formel auch im Kratylos (385 E - 386 A) verstanden, in dem Sokrates bereits deutlich macht, daß diese Auffassung darauf hinausläuft, daß man den Dingen ihre eigene Natur abspricht. Dort kommt es Piaton darauf an, daß die Möglichkeit, richtig zu handeln - wozu eben auch das Reden und als dessen Teilhandlung das Benennen der Dinge gehört - , voraussetzt, sich auf eine objektive, auf bestimmte Weise beschaffene Wirklichkeit beziehen zu können. Die Tatsache, daß es sich so verhält, spricht gegen die relativistische Auffassung. Sie ist unvereinbar mit der Praxis. Richtig zu handeln, heißt der Natur der Sache gemäß zu handeln, und darin besteht auch das sachverständige Gebrauchswissen (386 E - 387 A). Im Kratylos und ebenso im Euthyäem (286 D - E) - macht Sokrates auch bereits geltend, daß die Tatsache, daß nicht alle Meinungen gleichermaßen zutreffen können, gegen die protagoreische Auffassung spricht. Das Argument beruht darauf, daß nicht jeder gleichermaßen sachverständig ist, weshalb auch nicht alle Meinungen gleichermaßen wahr sein können (386 C - D). Dieses Argument wird auch hier zur Geltung kommen. Denn die Widerlegung der protagoreischen Position beruht, wie zu zeigen sein wird, darauf, daß Protagoras für sich in Anspruch nehmen muß, auf spezifische Weise, nämlich als Vertreter der rhetorischen Kunst, sachkundig zu sein, und er seine Behauptung von der Richtigkeit aller Meinungen gegenüber Sokrates' Einwänden mit seiner Auffassung vom sachverständigen Können (σοφία) verteidigt (167 c 3 - d 5).
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Derselbe Wind wird verschiedenartig empfunden, so daß dem Gegenstand der Wahrnehmung jeweils verschiedene Eigenschaften zugesprochen werden. Für A ist der Wind kalt, für Β ist er warm. Auf den ersten Blick ist die exemplarische Situation nicht weiter problematisch. Hält A den Wind für arktisch kalt, Β dagegen für tropisch warm, so mag dies an der augenblicklichen Beschaffenheit der jeweils wahrnehmenden Person oder an sonstigen Umständen der Wahrnehmungssituation liegen. In Sokrates' Beispiel ist nun vom „Wehen desselben Windes" die Rede. Aber beziehen sich die verschiedenen Auffassungen überhaupt auf denselben Gegenstand? Sokrates eröffnet im Anschluß an das Beispiel folgende Alternative: Sollen wir nun in einem solchen Fall den Wind selbst kalt oder nicht kalt nennen? Oder sollen wir mit Protagoras sagen, daß er für den Frierenden kalt sei, für den anderen aber nicht? (152 b 5 - 7) Demnach läßt sich der Umstand, daß dem Wind unterschiedliche oder gar gegensätzliche Eigenschaften zugesprochen werden, auf zwei Weisen beschreiben. Entweder: Der Wind ist tatsächlich (oder „für sich genommen") entweder kalt oder nicht kalt. In diesem Falle geht man von einem objektiv so-beschaffenen Sachverhalt aus. Man bringt in den jeweiligen Aussagen darüber, wie einem der Wind erscheint, den Inhalt eines Wahrnehmungsurteils zum Ausdruck und spricht dem Phänomen, worauf der Wahrnehmungsakt sich bezieht, eine bestimmte Eigenschaft zu. Oder: Der Wind ist für die Person A kalt, für Β ist er nicht kalt. Danach ist der Wind für eine bestimmte Person so beschaffen, wie er ihr erscheint. Das entspricht nun der protagoreischen Position. Es kommt Sokrates offenbar darauf an, daß Protagoras zufolge von objektiven Eigenschaften nicht die Rede ist, und - wie sich schließlich zeigt - auch nicht die Rede sein kann. Wie dasjenige, was für A kalt, für Β hingegen nicht kalt ist, „für sich genommen" beschaffen ist, welche Eigenschaft der Wind wirklich hat, welches Urteil also zutrifft, läßt sich demnach nicht entscheiden. Für jede Person ist der Wind so beschaffen, wie er „in Erscheinung tritt" (φαίνεται). Bislang hat Sokrates nur an einem Beispiel erläutert, was damit gemeint ist, wenn jemand sagt, daß ihm etwas als so-beschaffen scheint. Es handelt sich um die gängige Redeweise, mit der man auch eine Uberzeu-
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gung, eine Meinung zum Ausdruck bringt. Nun folgt ein entscheidender Schritt. Sokrates zufolge bedeutet die Formulierung, daß etwas „so zu sein scheint" dasselbe wie „wahrnehmen". So verstanden bedeutet „wahrnehmen" soviel wie „X-ist-(erscheint als)-E-für-A".17 Daß die Dinge nach Protagoras für jeden jeweils so beschaffen sind, wie sie ihm erscheinen, ist nun so zu verstehen, daß für jeden Einzelnen die Phänomene in der Tat so beschaffen sind, wie er sie wahrnimmt. Wie aus der obigen Alternative hervorgeht, schließt Protagoras die Beziehung auf objektive Eigenschaften aus. In den verschiedenen Aussagen über den Wind wird mit der protagoreischen Auffassung ausdrücklich nicht beansprucht, etwas darüber zu behaupten, wie „der Wind für sich genommen" beschaffen ist. Vielmehr bringt man in den jeweiligen Vorstellungen, die aus einem Wahrnehmungsvorgang resultieren - bei denen es sich also der Sache nach um Wahrnehmungsurteile handelt - , lediglich zum Ausdruck, wie etwas für jemanden beschaffen ist. Zwischen der Beschaffenheit der Sache selbst und der unterschiedlichen Art und Weise, in der die Sache für verschiedene Personen in Erscheinung tritt, macht Protagoras aber keinen Unterschied. Das bedeutet, daß Protagoras falsche Wahrnehmungsurteile grundsätzlich ausschließt. Und da es sich ihm zufolge beim Erkennen insgesamt ebenso wie beim Wahrnehmen verhält, sind nach dieser Auffassung Irrtümer unmöglich. Im ersten Glied der Alternative setzt Sokrates voraus, daß nur eines der beiden konträren Wahrnehmungsurteile auf den Wind wirklich zutrifft. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Frage danach, ob man den Wind „für sich genommen" als „kalt" oder „nicht kalt" bezeichnen solle, überhaupt sinnvoll. Setzt man eine objektive Beschaffenheit derselben Sache voraus, die für die Personen A und Β auf unterschiedliche Weise erscheinen mag, tatsächlich aber nur auf eine bestimmte Weise beschaffen sein kann, so besteht zwischen den beiden Aussagen ein Dissens. Hingegen wird mit Protagoras ein Dissens dadurch vermieden, daß der Geltungsanspruch der Aussagen auf den Inhalt einer jeweils individuellen und 'privaten' Uberzeugung einschränkt ist, und entsprechend die Behauptung „X ist E" jeweils mit der Ergänzung „für A" versehen werden muß. 17 152 b 11.
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Sind die Dinge stets so beschaffen, wie sie jeweils zu sein scheinen, dann gibt es auch keinen Dissens, der durch den Rekurs auf einen objektiven Sachverhalt zu lösen wäre. Wie auch immer man etwas in einer bestimmten Situation wahrnimmt, so ist es nach Protagoras auch wirklich beschaffen. Dieses Verständnis kommt in der Gleichung von „Wahrnehmung" und „Wissen" zum Ausdruck: Vorstellung (φαντασία) und Wahrnehmung ist also beim Warmen und bei allem derartigen dasselbe. Denn wie dies ein jeder wahrnimmt, so ist es wohl auch für ihn. (152 c 1 - 3) Anschließend nennt Sokrates die beiden, bislang stillschweigend vorausgesetzten, wesentlichen Merkmale von Wissen: „Wahrnehmung bezieht sich somit immer auf etwas, das [wirklich] ist, und sie ist untrüglich, insofern als es sich [dabei] ja um Wissen handelt" (152 c 5 - 6). Für das Wissen gilt demnach, daß es sich auf Tatsachen bezieht und untrüglich (oder fehlerfrei) ist. Für Protagoras sind beide Kriterien beim Wahrnehmen und in derselben Weise im Erkennen insgesamt in jedem einzelnen Fall immer schon erfüllt, sobald nur für jemanden etwas in Erscheinung tritt. Wir können nun den epistemologischen Kern des protagoreischen Relativismus formulieren. Die These „Wissen ist Wahrnehmung" enthält zwei Behauptungen. Sie besagt erstens, daß es sich beim Wahrnehmen um (eine Form von) Wissen handelt, und zweitens, als Definition aufgefaßt, daß Wissen und Wahrnehmung dasselbe sind. Unter „Wahrnehmung" versteht Protagoras das irrtumsfreie Auffassung dessen, was für den Wahrnehmenden jeweils der Fall ist. Wie jede Person die Phänomene auffaßt, wie ihm die Wirklichkeit beschaffen zu sein scheint, so ist sie auch für ihn, d. h. in bezug auf die individuelle Person tatsächlich beschaffen. Danach kennt man die Dinge auch nur so, wie sie für den Wahrnehmenden augenblicklich in Erscheinung treten. Mit dieser These wird das Kriterium des Wirklichkeitsbezugs erfüllt. Wahrnehmen ist für Protagoras ein täuschungsfreies Erfassen von Phänomenen, die nur unter ganz bestimmten Umständen überhaupt als Gegenstand der Wahrnehmung gegeben sind, und zwar unter solchen Umständen, die insgesamt eine für den Wahrnehmenden im Augenblick des Wahmehmens jeweils einzigartige Erkenntnissituation darstellen. Und dies gilt universell, nicht nur für den Spezialfall der sinnlichen Wahrnehmung. Eine sinnesfällige Enti-
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tät erscheint als kalt oder heiß, als weiß oder schwarz (153 E), eine Handlung erscheint als gerecht oder ungerecht (177 C), genau dann, wenn für den Meinenden die entsprechenden Umstände vorliegen, in denen er zu einer entsprechenden Uberzeugung über die Beschaffenheit der Sache gelangt. Und wie die Sache zu sein scheint, mit anderen Worten: wofür man sie jeweils hält, so ist sie auch für die individuelle Person in dem jeweiligen Augenblick. Täuschungen oder Irrtümer sind ausgeschlossen, da man die Beschaffenheit der Sache niemals verfehlen kann. Wird „Wahrnehmung" so verstanden, so ist das in 152 c 5 - 6 genannte Wissenskriterium im Wahrnehmen immer schon erfüllt. Wahrnehmung ist dann eine Form von Wissen. Das ist aber nur die eine Hälfte der Gleichung „Wissen ist Wahrnehmung". Denn die These, daß jeder Wahrnehmungsakt ein irrtumsfreies Erfassen der Phänomene darstellt, gilt nach Protagoras für das Erkennen insgesamt. Dem zufolge verhält es sich beim Erkennen so wie mit der - protagoreisch verstandenen - Wahrnehmung. Das Erkennen ist danach von den einzigartigen Umständen der Erkenntnissituation abhängig. Die Protagoras zugeschriebene relativistische Auffassung von „Wissen" ist für die Gleichung von Wissen und Wahrnehmung deshalb notwendig, weil sie nur auf diese Weise auch die begrifflichen Leistungen des Erkennens einschließt. Die ontologische Begründung liefert die Flußlehre, mit der Sokrates das Bild einer Welt entwirft, die so beschaffen ist, daß in ihr niemals Täuschungen und Irrtümer auftreten können.
1.3. Die Flußontologie (152 d -155 d) Im Namen einer „geheimen Lehre" entwickelt Sokrates eine recht befremdliche Theorie - nennen wir sie Flußlehre oder Flußontologie - , die Sokrates beiläufig als 'common sense' der nicht-eleatischen Naturphilosophen ausgibt, und dabei wohl vor allem auf Heraklit anspielt.18 Nun ist
18 Zu Heraklit vgl. Barnes (1979: 57-81) und Pleger (1991: 87-97). Patzig (1996c: 297) bemerkt mit Blick auf Piatons Heraklitdeutung zu Recht, daß Piaton „überhaupt
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kaum anzunehmen, daß der historische Protagoras jene „geheime Lehre" jemals wirklich vertreten hat. 1 9 U n d sicherlich wird sie auch genuin herakliteischen Gedanken nicht gerecht. W e n n Sokrates hier von einer „geheimen" Lehre spricht, so ist dies allem Anschein nach so zu verstehen, daß die Flußlehre von Protagoras nicht ausdrücklich vertreten worden ist. Die Flußlehre muß aus der These von der Unfehlbarkeit der W a h r n e h m u n g heraus verstanden werden, deren ontologische Begründung sie leisten soll. (Schon deshalb wäre es verfehlt, aus der Darstellung der Flußlehre ohne weiteres platonische Auffassungen herauszulesen.) Die flußontologische Auffassung von der Wahrnehmung und den wahrnehmbaren Phänomenen entspricht einer Welt, in der Protagoras' Behauptung wahr ist, in der es also niemals Irrtümer geben kann. W i e Sokrates sie darstellt, so ist eine Welt beschaffen, in der es weder Irrtümer gibt, noch auch begründete Einsichten. W i e ist es mit Protagoras nun genau zu verstehen, daß die Gegenstände genau so beschaffen sind, wie sie in Erscheinung treten? Gegen Protagoras könnte man schließlich einwenden, daß es im Wahrnehmen stets auch zu Täuschungen, also zu falschen Wahrnehmungsurteilen k o m m e n kann. U n d kann nicht dieselbe Sache für verschiedene Personen auch als diesel-
frei mit der Überlieferung schaltet" und „ja auch nie die Absicht hatte, seine Leser über griechische Philosophiegeschichte zu unterrichten." 19 So McDowell (1973: 121): „The suggestion that Protagoras secretly taught the doctrine which follows is almost certainly not meant to be taken seriously. The simplest account [...] is that Plato takes the secret doctrine to be an implication of Protagoras' explicit doctrine, so that Protagoras ought [...] to have taught the secret dottrine." Neben dem Hinweis darauf, daß nicht etwa Protagoras selbst diese Tlußlehre' ausdrücklich vertreten hat, spielt die Bemerkung der „geheimen Lehre" vielleicht auch auf die sophistische Lehrpraxis an. Piatons Schilderungen und Diogenes' Berichten über den sophistischen Unterricht zufolge hat der Protosophist seinen Schülern die Redekunst, freilich gegen Honorar, im privaten Kreise vermittelt. Mit der Formulierung „die Wahrheit" nimmt Piaton hier offenbar auf den Titel jener Schrift „Λletheia" Bezug, die mit der Homo-Mensura-Formel begonnen haben mag. Wenn es nun heißt, Protagoras habe diese „Wahrheit" zwar seinen Schülern mitgeteilt, für „die große Menge" aber „in Rätseln gesprochen" (vgl. 161 E - 162 A), so kann man dies durchaus so verstehen, daß Protagoras in dieser Schrift seine rhetorische Konzeption öffentlich angepriesen hat, während den Hörern, erst einmal als souveränes "Maß aller Dinge' ermutigt, die konkrete Ausgestaltung dieser „Wahrheit" in Form der Rhetorik erst im privaten Unterricht zuteil wurde. Womöglich ist der Hinweis auf die „Wahrheit" also auch als Anspielung auf Protagoras' 'Marketingstrategie' zu verstehen. Soviel Ironie darf man Piaton wohl unterstellen, man vergleiche etwa die Eingangsbemerkimg in Kratylos 384 Β - C über die zur Problemlösung fehlenden 49 Drachmen.
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be in Erscheinung treten? Diese Einwände sucht Sokrates mit Hilfe der Flußontologie zugunsten der protagoreischen Position zu entkräften. Der irrtumsfreie Bezug auf Tatsachen ist nach Protagoras' Verständnis in jedem Auffassungsakt gewährleistet. Aus dieser Voraussetzung ergibt sich ein eigentümlicher 'Zwischenstatus' der Phänomene. Protagoras bestreitet nicht etwa den Wirklichkeitsbezug der Wahrnehmung. Verstände man die protagoreische Auffassung in dem phänomenalistischen Sinne, daß sich ihm zufolge das Erkennen auf Vorstellungen bezieht,20 so verfehlte man gerade deren Pointe. Denn diese Pointe lautet: Was erscheint, ist wirklich der Fall. Und dennoch ist das, was für jemanden in Erscheinung tritt, für jede Person und in jedem Augenblick auf jeweils besondere, immer andere Weise der Fall. Denn anders als sie sind, können die Dinge Protagoras zufolge nicht erscheinen. Wenn man nun die Phänomene immer so wahrnimmt, wie sie sind, und zwar deshalb, weil man sie nur so überhaupt auffassen kann, und man die Tatsachen demnach niemals verfehlen kann, so kann sich das Auffassen nicht auf eine Wirklichkeit beziehen, die auf objektive Weise, d. h. interpersonal und intertemporal als so beschaffen erkennbar ist. Wenn konträre Wahrnehmungsurteile gleichermaßen wahr sind, nämlich für die Person A, das bedeutet: relativ zu A wahr sind, so müssen die Sachverhalte, auf die man sich jeweils bezieht, insofern privater Natur sein, als ihre Beschaffenheit vom Wahrnehmungsvorgang abhängig ist. Die Phänomene, die stets wirklich so sind, wie sie erscheinen, haben daher einen 'Interimsstatus'. Was Protagoras bestreitet, ist ja zunächst einmal der Bezug auf objektive Eigenschaften. Weder kommt den Phänomenen selber, „für sich genommen" die jeweils wahrgenommene Eigenschaft zu, noch liegt ein einheitlicher Bezugspunkt im Wahrnehmenden. Der Geltungsanspruch dieser Auffassung erfordert daher die Elimination jeder Bezugnahme auf Entitäten, die in dem Sinne objektiv sind, daß sie sich intersubjektiv und intertemporal als dieselben Entitäten erkennen ließen. Bei der Relativität aller wahrgenommenen Eigenschaften, die für jemanden
20 So etwa Taylor (1926: 326 ff.). Schon Berkeley hat in 160 A ff. seine eigene Auffassung wiederfinden wollen. Burnyeat (1982) zeigt, inwiefern bestimmte Passagen bei Piaton ebenso wie bei Aristoteles, eine phänomenalistische oder idealistische Deutung zwar nahelegen, die aber dennoch verfehlt ist.
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genau das sind, wofür er sie jeweils hält, handelt es sich um eine gegenseitige kausale Abhängigkeit. Der Erläuterung des Interimsstatus der Phänomene ist Sokrates' Darstellung bis 160 D gewidmet. Zunächst präsentiert er die Flußlehre als eine Art genereller Sprachskepsis: Nichts sei für sich genommen „eines" [nämlich: etwas Bestimmtes]; auch könne man nichts zu Recht als „etwas" bezeichnen noch als „etwas von einer bestimmten Art". Wenn man etwas „groß" nennt, erscheint es vielmehr auch als klein, wenn „schwer", auch als leicht, und ebenso alles andere. Denn nichts ist „eines", „etwas Bestimmtes" oder „etwas von einer bestimmten Art". Durch Schwung, Bewegung und wechselseitige Mischung „wird" nämlich alles das, von dem wir fälschlicherweise sagen, es „sei". (152 d 2 - e 1) Diese Auffassung läuft auf eine generelle Kritik an der impliziten Ontologie unserer sprachlichen Bezugnahme auf die Wirklichkeit hinaus. In der Rede bezieht man sich auf individuierbare Entitäten, denen man in prädikativen Sätzen bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Die Referenz auf Einzeldinge, Personen, Ereignisse oder Sachverhalte, in denen man etwas als etwas identifiziert, ist eine Voraussetzung jedes sinnvollen Sprechakts. Man setzt voraus, daß man sich mit singulären Termini auf Einzeldinge als „etwas" beziehen, und von ihnen mit generellen Termini „etwas Bestimmtes" aussagen kann. Damit setzt man ebenfalls voraus, daß die Referenten der sprachlichen Zeichen auch zu verschiedenen Zeitpunkten und von verschiedenen Personen als dieselben bezeichnet werden können. Nach der Flußontologie sind nun diese Voraussetzungen insofern unzulässig, als sie kein fundamentum in re haben. Vielmehr handelt es sich ihr zufolge bei der impliziten Ontologie der Redepraxis lediglich um eine Unterstellung, der keine ontologische Entsprechung zukommt. Die protagoreische Position braucht eine eigene Sprachregelung. Sie fordert für jede Aussage die Einschränkung „für Person A". Bei den Gegenständen der Wahrnehmung handelt es sich in dem Sinne um private Phänomene, als sie nur „für A" jeweils als so-beschaffen in Erscheinung treten. Diese Auffassung folgt nach Sokrates' Worten nun aus einem ontologischen Grundsatz, dem zufolge alles, von dem man fälschlicherweise sage, es sei so beschaffen, sich in fortwährender Verän-
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derung befindet, so daß niemals etwas Bestimmtes als dasselbe wahrgenommen werden kann. Wie dies zu verstehen ist, wird anhand der flußontologischen Wahrnehmungstheorie erläutert.21
1.4. Das Interaktionsmodell der Wahrnehmung (155 e -160 e) Der eigentümlichen Sprachregelung trägt Sokrates sogleich selber dadurch Rechnung, daß er nicht davon spricht, man nehme etwa die Farbe „weiß" wahr, sondern vielmehr von demjenigen spricht, das man jeweils so nennt. Was man nun etwa „weiß" nenne, das sei nämlich „weder etwas Verschiedenes außerhalb" der Augen, noch sei es „in ihnen", und auch in anderer Hinsicht dürfe man der Farbe keinen „festen Ort" zuweisen.22 Das Seiende entstehe vielmehr „im Werden" (153 e 2). Bei der visuellen Qualität „weiß" kann es sich danach weder um eine Eigenschaft des Gesehenen selbst handeln, noch läßt sie sich als Vorstellungsinhalt des Wahrnehmenden begreifen. Denn das hieße, die Farbe als Wahrnehmungsinhalt in der einen oder anderen Weise zu lokalisieren. Wer beispielsweise sagt „dieser Stein ist weiß", oder „ich sehe einen weißen Stein", der behauptet der Flußlehre zufolge, daß etwas „ist", während man von diesem „etwas", sei es der weiße Stein oder einfach die Farbe „weiß", richtigerweise sagen müsse, daß es „wird". Die Farbe „weiß" ist nämlich eine Eigenschaft, die „im Werden" entsteht: „Denn sonst wäre sie ja bereits an einem festen Ort und würde dort bleiben, an-
21 Zuvor gibt Sokrates noch einige Beispiele: Wärme und Feuer entstünden demnach nur durch „Schwung und Reibung", ebenso die Lebewesen. Bewegung und Veränderung in F o r m von Lernen und Übung seien für die Seele und den Leib förderlich, während Ruhezustände, wie etwa Windstille und ruhige See Verderben bewirkten. Offensichtlich dienen die Beispiele nicht gerade einer ernsthaften Begründung der Flußlehre, wie sie im übrigen Gegenbeispiele geradezu herausfordern: Starker Wind läßt ein Feuer erlöschen und eine sturmbewegte See ist für Seeleute nicht weniger verderblich als völlige Windstille. McDowell (1973: 130) bemerkt treffend: „I suspect that in fact the whole of 152 e 2-153 d 5 is not intended very seriously; the basic case for the secret doctrine having already been made at 152 d 2 - e 1." 22 153 D - E .
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statt im Werden zu entstehen" (153 d 5 - e 2). Die Wahrnehmung wird in der Flußontologie selber als eine Art raum-zeitliches Ereignis, und zwar als Interaktion zweier unselbständiger kausaler Faktoren aufgefaßt. Danach entstehen die Wahrnehmungsqualitäten, die man den wahrgenommenen Dingen zuspricht, allererst im Augenblick der Wahrnehmung, und zwar geradezu als kausal abhängige Folge des Wahrnehmungsaktes. Nun scheint dies auf den ersten Blick durchaus mit der Annahme subjektsunabhängiger Entitäten vereinbar zu sein, denn die Aussage „ein Stein ist für mich erst dadurch weiß, daß ich ihn als weiß sehe" impliziert offenkundig nicht die Annahme, daß es sich bei der wahrgenommenen Qualität weiß nicht um eine objektive Eigenschaft des Gesehenen handeln könne. Auch würde man damit nicht schon bestreiten, daß nicht eine andere Person denselben Stein ebenfalls als „weiß" sehen kann. Doch genau das muß die Flußlehre bestreiten, denn ihr zufolge bezieht sich die Wahrnehmung ja stets auf 'private' Phänomene, die dadurch zustande kommen, daß zwei Faktoren 'augenblicklich' zusammenwirken. In einer Kurzversion erläutert Sokrates diese These auf folgende Weise: Folgen wir also unserer vorherigen Behauptung, daß nichts für sich genommen etwas Bestimmtes ist, so wird sich uns zeigen, daß Schwarz, Weiß oder irgendeine andere Farbe aus dem Zusammentreffen der Augen mit einer passenden Bewegung entsteht. Was wir aber jeweils diese [bestimmte] Farbe nennen, ist danach weder das Anstoßende noch auch das Angestoßene [selbst], sondern vielmehr etwas dazwischen, [nämlich etwas,] das für jeden auf jeweils besondere Weise zustande kommt. (153 e 4 -154 a 2) Der Zwischenstatus dessen, was man gemeinhin als „etwas Bestimmtes" bezeichnet, dient offenbar zur metaphorischen Kennzeichnimg des Umstands, daß die wahrgenommenen Phänomene, das heißt die jeweils in Erscheinung tretenden Eigenschaften nicht als objektive Eigenschaften, sondern einzig als Relata aufgefaßt werden, die das Resultat eines „Zusammentreffens" sind. Dieses Zusammentreffen geht von zwei kausalen Faktoren aus, nämlich vom Sinnesorgan und vom jeweils wahrgenommenen Gegenstand, die allerdings ebenfalls als instantané Bewegungszustände verstanden werden. So entsteht die Farbe „weiß", die jeweils für Person A als diese Eigenschaft in Erscheinung tritt, aus dem Zusammen-
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treffen der 'Eigenbewegung' des Auges mit einer „passenden" Bewegung des Gegenstands. In diesem Zwischenraum, der durch den subjektiven Pol: das wahrnehmende Subjekt, auf der einen, und durch den objektiven Pol: das wahrgenommene Objekt, auf der anderen Seite gebildet wird, findet das Wahrnehmen statt. Für die Begründung der protagoreischen Gleichung von „wissen" und „wahrnehmen" kommt es entscheidend auf diesen Interimsstatus der Sinnesqualitäten an. Weder als Vorstellung im Bewußtsein des Sehenden noch als objektive Eigenschaft des Gesehenen kann das Wahrgenommene demnach bestimmt werden. Die Sinnesqualitäten entstehen im Augenblick des Zusammenwirkens von Auge und Gegenstand, und sind in jedem Wahrnehmungsakt von einmaliger, jeweils anderer Beschaffenheit. Dadurch, daß die beiden beteiligten Faktoren kausal miteinander verknüpft sind, ist der Wirklichkeitsbezug der Wahrnehmung gewährleistet.23 Die aus der Interaktion entspringende Qualität stellt nun eine Eigenschaft dar, die dem Wahrgenommenen zwar tatsächlich zukommt, doch dergestalt an die Person des Wahrnehmenden geknüpft ist, daß sie zwischen beiden Faktoren auf jeweils besondere Weise entstanden ist. Darin besteht die Privatheit der wahrgenommenen Qualitäten, womit die Infallibilität gewährleistet wird. Das „Dazwischen-Sein" (μεταξύ τι) der Qualitäten ist demnach so zu verstehen, daß diese erst aus dem perzeptiven Ereignis hervorgehen, und sie jedem Subjekt verschiedenartig erscheinen. Unselbständig sind die Qualitäten insofern, als sie nicht als von der Interaktion unabhängige objektive Eigenschaften bestimmbar sind. Mit dem Interimsstatus der Phänomene läßt sich erklären, daß die Dinge zwar verschiedenartig erscheinen, aber gleichwohl stets tatsächlich so beschaffen sind, wie sie erscheinen. Mit anderen Worten: Da das Wahrgenommene niemals anders erscheinen kann, als es tatsächlich beschaffen ist, kann man sich in der Zuschreibung von Eigenschaften niemals irren, sich also niemals täuschen. Wenn aber die wahrgenommene Qualität keine unabhängige, konstante Eigenschaft des Wahrgenommenen darstellt, jedoch dem für die Wahrnehmung kausalen Gegenstand dennoch insofern partiell angehört, als für das Entstehen der jeweiligen 23 Vgl. das Kriterium für Wissen in 152 c 5.
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Qualität die Interaktion beider Faktoren erforderlich ist, dann muß dieser Gegenstand selber ebenfalls in ständiger Veränderung begriffen sein. Ist nämlich der Gegenstand dergestalt von konstanter Beschaffenheit, daß er von derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten oder zum selben Zeitpunkt von verschiedenen Personen als so-beschaffen, beispielsweise als „weiß" wahrgenommen wird, so stellt diese Eigenschaft der Sache einen festen Bezugspunkt der Wahrnehmungsurteile dar. Der Flußontologie zufolge ist dies jedoch eine Voraussetzung ohne fundamentum in re. Erscheint ein wahrgenommener Stein in der Interaktion mit Sokrates „weiß", während er für Theodor „schwarz" erscheint, so kann es sich, nach der Flußontologie, nicht um denselben Stein handeln. Ist „weiß" oder „schwarz" eine objektive Eigenschaft der Sache, so befindet sich einer von beiden im Irrtum, insofern er dem Stein eine Eigenschaft zuschreibt, die ihm tatsächlich nicht zukommt. Da aber beide wahrnehmenden Personen im Recht sind, muß sich sich die wahrgenommene Sache selber verändert haben.24 Die Rede davon, daß dasjenige, was man jeweils wahrnimmt, „für jeden besonders entsteht", ist mit der Flußlehre demnach so zu verstehen, daß eine Sache im Augenblick der Wahrnehmung, aufgrund der jeweils besonderen Umstände, in denen die Wahrnehmung erfolgt, in jedem Falle so erscheint, wie sie für A - oder: in Relation zu A - beschaffen ist. Und da der Träger der wahrgenommenen Eigenschaft nur infolge der Interaktion mit A so beschaffen ist, wie er für A erscheint, ist er auch tatsächlich so beschaffen. Denn anders, als etwas ist, kann es - nach Protagoras - nicht in Erscheinung treten.
24 Die Rede vom „gegenseitigen Abmessen" (154 b 1 - 6) läßt sich auf folgende Weise verstehen: In der Wahrnehmung tritt man in eine Wechselwirkung mit dem Gegenstand, wodurch das Wahrgenommene für den Wahrnehmenden auf eine bestimmte Weise beschaffen zu sein scheint und es auch tatsächlich ist. Wenn nun dem wahrgenommenen Gegenstand selbst, unabhängig davon, von welcher Person und zu welchem Zeitpunkt er wahrgenommen wird, also unabhängig von den Umständen der Wahrnehmung, eine bestimmte Eigenschaft, etwa die Farbeigenschaft „weiß" tatsächlich zukäme, wenn er also objektiv so beschaffen wäre, so könnte er nicht von einer anderen Person in anderer Weise, etwa als „schwarz" aufgefaßt werden. Denn nach Protagoras sind ja Irrtümer und Täuschungen unmöglich, weil eine Sache wirklich so beschaffen ist, wie sie jeweils erscheint. Erscheint sie nun A weiß und Β schwarz, so muß sie sich aufgrund der Interaktion mit Β jeweils entsprechend verändert haben.
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Da es der Flußontologie zufolge unmöglich ist, daß ein Gegenstand innerhalb eines bestimmten Zeitraums als individuelle Entität, also als ein- und dieselbe Sache in der Zeit fortbesteht, muß sie auch die Persistenz der wahrnehmbaren Dinge bestreiten. Die Minimalbedingung für Persistenz läßt sich so definieren, daß ein raum-zeitlich individuiertes Einzelding über einen bestimmten Zeitraum hinweg diejenigen Eigenschaften beibehält, deren Zuschreibung es erlaubt, daß man sie zu verschiedenen Zeiten als dieselbe identifiziert, nämlich als diese individuelle Entität wiedererkennt. Das bedeutet, daß die Sache - unbeschadet möglicher qualitativer Veränderungen - intersubjektiv als eben dieselbe Sache bestimmbar ist. In dieser Hinsicht handelt es sich bei der Persistenz einer Sache um genau diejenige Weise, in der „etwas für sich genommen eine bestimmte Sache" (153 e 4 - 5) oder „etwas mit sich selbst identisch ist" (154 a 8, 155 a 5, 157 a 9). Um die Identifikation von „Wissen" und „Wahrnehmung" unter der Voraussetzung, daß die „Wahrnehmung" ein untrügliches Erfassen der Wirklichkeit darstellt, aufrechtzuerhalten, kann Protagoras weder den Rekurs auf objektive Eigenschaften noch die Annahme persistierender Träger solcher Eigenschaften zulassen.25 Da die Flußlehre nur Bewegungen kennt, die jeweils „im Werden entstehen", bestreitet sie nicht allein die Identität und Persistenz der Gegenstände der Wahrnehmung, sondern konsequenterweise auch die diachrone Identität der wahrnehmenden Person. In 154 a 8 ist davon die Rede, daß etwas nicht nur verschiedenen Personen auf jeweils besondere Weise erscheine, sondern nicht einmal eine einzige Person etwas als dasselbe sehen könne, weil diese niemals sich selbst gleich bliebe. An dieser Stelle wird (vielleicht erstmals in der abendländischen Geistesgeschichte auf diskursive Weise) implizit das Problem der Identität der Person zur Sprache gebracht. Auch das Subjekt der Wahrnehmung ist nach der protagoreischen Auffassung keine einheitliche Entität, sondern zerfällt in eine Serie disparater Zustände, die sich fortwährend verändern. 25 Eigenschaften und deren Träger werden hier nicht unterschieden. Die Frage, ob etwa Wärme eine unselbständige Eigenschaft an einer Sache oder selber eine eigenständige ουσία darstellt, wird im Rahmen des Substanz/Akzidens-Modells dann für Aristoteles relevant, der u.a. Protagoras vorwirft, diesen Unterschied zu verkennen, und so „alle Dinge zu etwas Relativem" {Metaphysik 1011 a 20) zu machen.
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Auf der Grundlage des flußontologischen Wahrnehmungsmodells läßt sich Sokrates' in 152 b 8 formulierte Alternative nun so verstehen, daß jede Wahrnehmungsqualität aus der Interaktion des Wahrnehmenden beispielsweise mit dem Wind „entsteht" und in jedem perzeptiven Ereignis anders erscheint, so daß die Zuschreibung etwa der Eigenschaft „kalt" sich nicht auf eine objektive Eigenschaft bezieht, die dem Wind selber zukäme. Denn wahrgenommen werden danach ausschließlich Eigenschaften, die die Phänomene erst infolge der Wahrnehmung haben. Wie die Gegenstände an sich beschaffen sind, bleibt ausgeklammert. Nachdem Sokrates zunächst das protagoreische Verständnis von Relativität an einigen Paradoxien durchspielt, die sich an Relativbegriffe und in derselben Weise an arithmetische Verhältnissen anschließen lassen,26 und ausgerechnet den angehenden Mathematiker Theaitet ins Staunen versetzen, erläutert er in 155 E - 157 C die kosmologische Grundlage der bisherigen Überlegungen. Er beginnt zunächst mit einem Seitenblick auf solche Leute, die Handeln, Werden und alles Unsichtbare (155 e 5) nicht als Seiendes gelten ließen. Hingegen werde die nun dargelegte Lehre von „viel gewitzteren" Leuten vertreten. Diese einleitenden Bemerkungen zeigen, daß die Flußlehre in der Tat als eine Theorie der empirischen Welt entwickelt wird, und in dieser Welt spielt sich eben nicht bloß das Wahrnehmen sondern auch das menschliche Handeln ab. Dieser Zusammenhang wird sich in der Widerlegung des protagoreische Relativismus als recht bedeutsam erweisen. Die Flußlehre beruht nach Sokrates' Darstellung auf dem kosmologischen Prinzip des fortwährenden Wandels. Entstehungsgrund aller Dinge (156 a 4) seien demnach Bewegungen, die in aktive und passive Bewegungen (oder Vermögen) unterschieden werden. Auf dieser Grundlage erklärt Sokrates die Wahrnehmung nun auf folgende Weise: Aus dem Zusammenwirken einer aktiven mit einer passiven Bewegung entstehen „unendlich viele", stets einzigartige „Zwillingspaare", die aus zwei Kom26 Vgl. dazu grundsätzlich Scheibe (1967) und zur genannten Textstelle die originelle Interpretation von Brown (1969). Die Pointe dieser Paradoxie liegt meines Erachtens darin, daß man relationale Eigenschaften mit Protagoras ebenfalls als relative Eigenschaften aufzufassen hat, und die Funktion dieses Beispiels scheint vor allem darin zu bestehen, daß es sich um eine geradezu mustergültige Demonstration der „antilogischen" Strategie handelt, an der sich der Unterschied zur philosophischen Argumentation zeigt.
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ponenten bestehen. Bei diesen beiden Komponenten handelt es sich einerseits um das Wahrgenommene (αίσθητόν), d. h. um die Wahrnehmungsqualität (etwa die Farbeigenschaft „weiß"), die vom Wahrnehmenden als ein „weiß-Erscheinendes" gesehen wird, und andererseits um die Wahrnehmungsleistung (αίσθησις), das heißt um den je augenblicklichen Wahrnehmungsakt, in dem die jeweilige Qualität für den Wahrnehmenden - und nur für ihn in der ihm jeweils erscheinenden Weise - phänomenal gegeben ist. Wahrnehmung und Wahrnehmungsqualität entstehen gleichzeitig. Beide Faktoren sind - als Komponenten der jeweiligen „Zwillingspaare" - nicht bloß korrelativ aufeinander bezogen, sondern voneinander kausal abhängig und insofern auch unselbständig. Beide sind unselbständige Bestandteile der immer anderen perzeptiven Ereignisse, die jeweils durch das Zusammentreffen beider Komponenten zustande kommen. Das zuvor entworfene Wahrnehmungsmodell wird hier hinsichtlich des Resultats der Interaktion noch spezifiziert. Uber die wahrgenommene Qualität hieß es zuvor, daß etwa die Farbe „weiß", also dasjenige, was man „weiße Farbe" nenne, insofern „zwischen" Auge und Gegenstand liegt, als die entsprechende Qualität im Augenblick der Wahrnehmung allererst als solche erzeugt wird.27 Hier spricht Sokrates nun davon, daß aus dem Zusammenwirken von Sinnesorgan und Gegenstand jeweils „Zwillingspaare" (δίδυμα) hervorgehen, die aus dem αίσθητόν einerseits und der entsprechenden αίσθησις andererseits bestehen. Der protagoreische Gedanke der Relativität der Vorstellungen, wird damit erklärt, daß der Wahrnehmungsakt, der zu einer 'privaten' Vorstellung führt, stets auf eine Qualität, auf ein entsprechendes αίσθητόν bezogen ist, das gleichzeitig mit, und kausal abhängig von der Wahrnehmung entsteht. Das bedeutet, daß eine Sinnesqualität, die für jemanden in Erscheinung tritt, ausschließlich in bezug auf jene korrelative αίσθησις eben diese Qualität annimmt, als welche sie jeweils erscheint. Der private Charakter der Wahrnehmungserlebnisse ist somit darin begründet, daß die von einer bestimmten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrgenommene Eigenschaft der Sache nur als Teil eines solchen Paares überhaupt auftreten kann. 27 153 E -154 A.
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Mit der Annahme des Zwillingspaares von αίσθητόν und αίσθησις kann daher die Behauptung begründet werden, daß die Wahrnehmung im protagoreischen Sinne unfehlbar ist.28 Das flußontologische Wahrnehmungsmodell unterscheidet vier an der Wahrnehmung beteiligte Komponenten, die insgesamt als Bewegungszustände aufgefaßt werden: Das Sinnesorgan und das wahrgenommene Objekt sind, als „langsame", aktive Bewegungen, die kausalen Faktoren der Wahrnehmung. Aus dem „Zusammentreffen" beider resultieren, als „schnelle Bewegungen", die beiden voneinander abhängigen Teile des Paares: die Wahrnehmung, etwa das Sehen, und die wahrgenommene Qualität, etwa die Farbe weiß. Wahrnehmung und entsprechende Sinnesqualität stellen gleichsam Interimszustände' dar, die „zwischen" den Bewegungen als Ergebnis ihres Zusammenwirkens in Form immer anderer Zwillingspaare 'erzeugt' werden.29 Wenn Augen und Dinge, als „langsame" Bewegungen zusammenwirken, so entsteht daraus die Wahrnehmung von etwas als so-beschaffen, die wiederum aus der sinnlichen Wahrnehmungsleistung, so etwa dem 28 Was die Frage betrifft, ob Piaton selber die von Sokrates entworfene Flußontologie vertreten hat, so entspricht das Interaktionsmodell meines Erachtens zwar Piatons Auffassung vom physikalisch-physiologischen Zustandekommen der Wahrnehmung (so auch Heitsch 1988: 82 ff.), doch ist dies für ihn offenbar nur ein Aspekt der Wahrnehmung, und zwar der Aspekt, der die phänomenale Komponente, das heißt die Rolle der Sinnesorgane erfaßt, den die Flußlehre für das Ganze der Wahrnehmung nimmt und dadurch eine unangemessene Erklärung der Wahrnehmung gibt. Denn beim Wahrnehmen als Urteilshandlung kommt eine begriffliche Komponente hinzu, die Sokrates dann in 184 A - 186 E erläutert. Und auf diese Komponente scheint es Piaton im Theaitet anzukommen. 29 Die metaphorische Unterscheidung zwischen einer schnellen und einer langsamen Form der Bewegung (156 C - D) läßt sich auf folgende Weise verstehen: Die langsamen Bewegungszustände, die am selben Ort verbleiben, also qualitative Veränderungen darstellen, wirken mit den Entitäten, die sich ihnen nähern, zusammen. Daraus gehen Erzeugnisse hervor, die sich auf schnelle Art bewegen. Es liegt deshalb nahe, die langsamen Veränderungszustände als die kausalen Faktoren Sinnesorgan und Gegenstand aufzufassen, aus deren Interaktion ein aus Wahrnehmung und Wahrgenommenem gebildetes „Paar" (die schnellen Bewegungszustände) entsteht. Zu den verschiedenen Interpretationen dieser Unterscheidung vgl. Bostock (1988: 62-70), Burnyeat (1990: 16-19), Cornford (1935: 49 f.), Crombie (1963: 18), McDowell (1973: 137 ff.), Nakhnikian (1955: 136 ff.), Runciman (1962: 78 f.) und Sayre (1969: 212 ff.). Für eine ausführliche Diskussion der im ersten Hauptteil entworfenen Wahrnehmungstheorie vgl. die neuere Arbeit von Day (1997). Es liegt nahe, eine Parallele zu den kosmologischen Überlegungen im Timaios (45 Β - 46 C, 67 C - 68 D) zu ziehen. Nach Sayre handelt es sich bei den „Bewegungen" um diejenigen „Partikelströme", von denen im Timaios die Rede ist. Gegen diese Deutung spricht jedoch der Umstand, daß im Timaios als Auslöser der „Partikelströme" solche persistenten Entitäten angenommen werden, deren Wirklichkeit die Flußlehre gerade bestreitet (vgl. auch Bostock 1988: 64).
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Sehen einerseits und der wahrgenommenen Eigenschaft andererseits besteht. Zusammen bilden beide ein Paar, was bedeutet, daß sich ihre relative Beschaffenheit der gegenseitigen Abhängigkeit verdankt. Das Wahrgenommene ist nicht selber weiß, sondern dasjenige, was die Eigenschaft weiß „miterzeugt", während umgekehrt die Augen zu „weiß-Sehenden" werden. Dasselbe gilt nach dieser Auffassung für alle Qualitäten, wie etwa Härte oder Wärme. Sokrates beschließt seine Erzählung (156 c 4: μΰθος) mit folgenden Worten: Auch für alles übrige, Härte, Wärme und was es sonst noch alles gibt, scheint nun zu gelten, daß keine Sache für sich selbst genommen [etwas Bestimmtes] ist, wie wir ja vorher gesagt haben, sondern daß alles insgesamt und in seiner Verschiedenheit aus der gegenseitigen Berührung und infolge der Bewegung entsteht. [...] Denn weder ist ein [jeweils] Hervorbringendes etwas [Bestimmtes], bevor es auf ein Erleidendes trifft, noch ein [jeweils] Erleidendes, bevor es auf ein Hervorbringendes trifft. Und auch dasjenige, das mit irgend etwas zusammentrifft und insofern ein Hervorbringendes ist, erweist sich beim Zusammenstoß mit etwas anderem selber als ein Erleidendes. Aus dem Gesagten folgt daher, wie schon anfangs gesagt, daß nichts für sich selbst genommen etwas Bestimmtes ist, sondern immer nur in bezug auf irgend etwas [anderem zu etwas] wird. (156 e7 -157 b 1) Weder von objektiven Eigenschaften, die in verschiedenen Wahrnehmungssituationen als dieselben wahrgenommen werden können, noch von persistierenden Entitäten kann danach die Rede sein. Und auch die diachrone Identität der wahrnehmenden Person zerfällt demnach in eine disparate Serie von Wahrnehmungserlebnissen. Für Täuschungen läßt die so begründete protagoreische Position in der Tat keinen Raum. Anders als die Dinge wirklich beschaffen sind, können sie niemals erscheinen, wenn ihre Beschaffenheit davon abhängig ist, wie man sie jeweils auffaßt. Sind die Dinge in dieser Weise stets im „Werden" begriffen,30 so sind in der Tat alle Wahrnehmungsurteile relativ für den Wahrnehmenden wahr. 30 Die flußontologische Rede vom „Werden" ist von zweifacher Bedeutung: Eine wahrgenommene Eigenschaft, etwa eine Farbe, „wird" insofern, als sie in eben jenem Augenblick entsteht, in dem Auge und Gegenstandsbewegung zusammentreffen. Zum
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Anschließend wird Protagoras gegen mögliche Einwände verteidigt. Auch Träume, Halluzinationen und verwandte Phänomene sind keine Einwände gegen die Identifikation von „Wissen" und „Wahrnehmung", denn auch in diesen Fällen sind etwa für den Träumenden die ihm erscheinenden Dinge so beschaffen, wie sie ihm erscheinen (158 Β - D). 31 Ahnlich verhält es sich bei konträren Wahrnehmungsurteilen. Der Kranke mag süßen Wein als bitter wahrnehmen und sich aus realistischer Sicht der Dinge so über die Beschaffenheit des Weins im Irrtum befinden. Anders stellt sich die Sache aus protagoreisch-herakliteischer Sicht dar. Auf die Frage, wie der Wein dem gesunden Sokrates süß, dem kranken aber bitter schmecken kann, antwortet die Flußlehre mit einer weiteren Annahme, die sich als These der diachronen Nicht-Identität bezeichnen läßt, die Sokrates in 158 e 5 ff. ins Spiel bringt: Wenn X (ein beliebiger Gegenstand oder Sachverhalt) völlig verschieden ist von Y, dann verhält er sich nicht gleich, d. h.: es gibt keine gemeinsamen Eigenschaften zwischen X und Y. Mit anderen Worten: Wenn X „völlig verschieden" ist von Y, so trifft dies in jeder Hinsicht zu. Die Verschiedenheit von X und Y gilt in jedem beliebigen Fall. Daraus werden kombinatorisch vier Thesen abgeleitet, deren Kernthese lautet: Wenn etwas „wird wie es selbst", dann ist es dasselbe. Wenn etwas (X) hingegen „sich selbst ungleich" wird, dann wird es etwas anderes (Y).32 Was dies zu bedeuten hat, wird klar, wenn man diese These mit der Annahme der Abhängigkeit zwischen dem subjektiven und dem objektiven Moment der Wahrnehmung verbindet.
anderen befinden sich die Träger der Eigenschaften insofern unaufhörlich im „Werden", als sie nicht als dieselben Entitäten fortbestehen, und deshalb nicht zu zwei verschiedenen Zeitpunkten als dieselbe Sache wahrgenommen werden können. Diese doppelte Bedeutung kommt prägnant in der Rede davon zum Ausdruck, daß die Dinge „im Werden entstehen" (153 d 2). 31 Der Traumeinwand läßt sich mit Protagoras auch dadurch entkräften, daß man nicht über sichere Kriterien verfüge, Träumen und Wachen zu unterscheiden. Diese Frage scheint übrigens in der Antike nicht als ernsthaftes Problem aufgefaßt worden zu sein, da sich die Suche nach solchen Kriterien deshalb erübrigt, weil dies in praxi nicht zweifelhaft ist. Aristoteles sieht in dem Traumargument buchstäblich kein wirkliches, allenfalls ein für eristische Zwecke dienliches Problem. So heißt es in Metaphysik ΙΠ, 1011a 9 - 1 1 über diejenigen, die solche Zweifel hegten, wie etwa an der Möglichkeit, zu wissen, ob man wacht oder schläft: „Sie suchen überall nach einem Anfang und suchen ihn durch Beweis zu erlangen. Daß sie davon nicht wirklich überzeugt sind, zeigt sich in ihren Handlungen." Was in der Praxis evident ist, erfordert keinen Beweis. 32 Vgl. das Schema bei McDowell (1973: 148).
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Im Rückgriff auf den zuvor beschriebenen Interaktionsprozeß, aus dem jeweils eine individuelle 'Auffassung-von-etwas-als-Erscheinung-fürjemanden' resultiert, kann man entweder den Wahrnehmenden oder das Wahrgenommene in die Variable einsetzen. Ein Stein, der dann, wenn er von Sokrates wahrgenommen wird und insofern mit ihm zusammenwirkt, als „weiß" erscheint, kann infolge der perzeptiven Wechselwirkung etwa mit Theodor als „rot" erscheinen. Im Hinblick auf seine Eigenschaft, für jemanden als E zu erscheinen, ist der Stein somit „mit sich selbst ungleich", also zu etwas anderem geworden. Unter der Voraussetzung, daß man das „Stein-sein" und das „weißsein" als zusammengehörig im Sinne der besagten These versteht, handelt es sich im ersten Fall um einen weiß-erscheinenden Gegenstand, im zweiten Fall um einen rot-erscheinenden. Daß eine Sache sich in jeder Hinsicht gleich verhält, solange sie „mit sich identisch" ist, heißt demnach, daß nicht dieselbe Sache für A weiß und für Β rot erscheinen kann. Ist der von A gesehene Stein X weiß, der von Β gesehene Stein Y rot, so ist danach X nicht derselbe Stein wie Y, da X und Y als Wahrgenommenes zwar in bezug auf das Stein-sein gleich sein mögen, aber in bezug auf ihre Farbeigenschaft verschieden sind. Sie sind also nicht „in jeder Hinsicht" gleich. Denn die Flußlehre behauptet: Was verschiedenartig erscheint, kann nicht dieselbe Entität sein. Die These läßt sich folgendermaßen auf die Beispiele in 159 Β - 160 A anwenden: Sokrates fragt, ob er als Gesunder und als Kranker gleich oder ungleich zu nennen sei, ob er also dieselbe Person sei. Theaitets Nachfrage, ob damit die Person Sokrates jeweils als Ganze gemeint sei, trifft genau den Kern der Sache. Die Antwort kann nach der obigen These nur lauten, daß es sich nicht um dieselbe Person handelt, nämlich deshalb, weil der kranke Sokrates nicht in jeder Hinsicht identisch ist mit dem gesunden Sokrates. Daß dies ein Sophisma par excellence ist, liegt auf der Hand, auf der Grundlage der Flußlehre ist der Schluß aber korrekt. Am Weinbeispiel wird der Zusammenhang zur Flußlehre klar: Der gesunde Sokrates nimmt infolge einer entsprechenden Wechselwirkung süßen Wein wahr. Nach der Flußlehre ist sowohl die Rede von der Gesundheit - als eigenständige Eigenschaft des wahrnehmenden Sokrates wie auch die Rede von der Süße (als Eigenschaft) des Weines unangemes-
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sen, sofern damit Eigenschaften gemeint sind, die Sokrates und dem Wein unabhängig von der perzeptiven Interaktion zukommen. Denn der Flußlehre zufolge erscheint dem gesunden Sokrates der Wein nur aufgrund der Interaktion von Sokrates und Wein zu t, als süß, und auch Sokrates ist nur in Relation zum jetzt süß schmeckenden Wein überhaupt gesund, sofern der augenblickliche Zustand des Wahrnehmenden eine Komponente des „Zwillingspaares" darstellt. Nur als Teil dieser Interaktion 'ist' - oder: 'wird' - der Wein süß und 'ist' Sokrates gesund. Das Süß-sein des Weines entsteht erst für den - oder: in Relation zum - wahrnehmenden gesunden Sokrates, ebenso wie eben jener Sokrates nur in Relation zum augenblicklich als süß wahrgenommenen Wein der „gesunde Sokrates" ist. Wirkt Sokrates mit einem anderen Bewegungszustand des Weines zusammen, so entsteht daraus sowohl eine andere Wahrnehmungsqualität, als sich auch, wenn der Umstand, daß man etwas als so-beschaffen wahrnimmt, eine Eigenschaft der wahrnehmenden Person ist, eben diese Person selber verändert. Nimmt er den Wein als bitter wahr, so ist er dann eine vom süßen Wein verkostenden Sokrates verschiedene Person. Der Grund für die unterschiedlichen Empfindungen kann bekanntlich darin liegen, daß derselbe Wein aufgrund seiner Reife und anderer aromatischer Eigenschaften unter normalen Umständen süß, und für Sokrates nur deshalb bitter schmeckt, weil dessen Geschmackssinn aufgrund einer Erkrankung getrübt ist. Nach der Flußlehre handelt es sich indessen weder um denselben Sokrates noch um denselben Wein. Ist es der kranke Sokrates, der bitteren Wein wahrnimmt, so ist sowohl der Wein als auch Sokrates selber „zu einem anderen geworden". Betrachtet man im Sinne der Flußlehre das süß-empfinden und das bitter-empfinden als verschiedene relative Tïigenschaften' von Sokrates, so ist dieser „sich selbst ungleich geworden". Mit der Flußontologie, der zufolge die wahrgenommenen Phänomene nur so überhaupt Zustandekommen, wie sie für den Urteilenden in Erscheinung treten, hat Sokrates jeden objektiven Bezugspunkt des Wahrnehmens und damit jede Irrtumsmöglichkeit ausgeräumt. Und wenn es sich bei den Meinungen ebenso verhält, dann können alle Meinungen im protagoreischen Sinne als wahr gelten.
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Und diese protagoreisch-herakliteische Auffassung ist dann - und nur dann - in Theaitets These „Wissen ist Wahrnehmung" impliziert, wenn diese These eben als Definition soll gelten können. Die anschließende Kritik ist nun auf beide Elemente abgestimmt. Im Hinblick auf Protagoras argumentiert Sokrates gegen dessen Begriff vom Wissen als Bewirkenkönnen („σοφία"), im Hinblick auf die Flußontologie gegen deren Auffassung von Wahrnehmung.
2. Interludium - Eristik und Dialektik (161 a-169 e)
2.1. Das Praxis-Argument Der Auseinandersetzung mit Protagoras schickt Piaton einige methodenkritische Überlegungen voraus. Sokrates beginnt offenkundig „mit grobem Geschütz",1 wenn er fragt, warum Protagoras seine Schrift nicht damit begonnen habe, das Schwein oder der Pavian sei Maß aller Dinge (161 c 4 - 6). Diesen Einwand wird er wenig später im Namen des Protagoras zu Recht als unfairen, eristischen Angriff zurückweisen. Im auffälligen Kontrast zur unsachlichen Form der Präsentation, steht indessen das sachliche Gewicht des Arguments, das mit dieser Bemerkimg vorbereitet wird. Vom Sachverstand (σοφία) der Künste, für die das Lernen (im Sinne von Wissenserwerb) charakteristisch ist, das heißt von der epistemischen Praxis hat die Frage „Was ist Wissen?" ihren Ausgang genommen. Nun spricht auch Protagoras von Sachverstand, allerdings versteht er darunter die Fähigkeit, „bessere", nämlich vorteilhaftere „Zustände" im Meinenden bewirken zu können. Sokrates macht nun auf folgende Unstimmigkeit aufmerksam: Wenn für jeden das wahr ist, was er aufgrund seiner Wahrnehmung meint, und niemand anderer den Zustand eines anderen besser beurteilen, noch auch jemand die Meinimg eines anderen daraufhin prüfen kann, ob sie wahr oder falsch ist, sondern - um es nochmals zu wiederholen - jeder nur über die eigenen Vorstellungen verfügen kann, und zwar über ausnahmslos zutreffende und wahre, wieso soll Hann eigentlich Protagoras so klug sein, daß er von anderen als Lehrer angesehen wird? (161 d 2 - e 1) 1 Bröcker (1967: 354).
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Wenn alle Vorstellungen unterschiedslos wahr, und alle Menschen in allen Dingen gleichermaßen sachverständig sind, dann stellt sich offenkundig die Frage, aus welchem Grunde man sich denn an Protagoras als einen Experten und Lehrer wendet. Wenn es wahr ist, daß es keinen Unterschied zwischen wahren und falschen Meinungen, mithin auch keine Unterschiede in der Fähigkeit zum sachkundigen Urteilen gibt, dann hat weder die Lehrpraxis des Protosophisten noch Sokrates' Mäeutik ein fundamentum in re. Die Meinungen im Gespräch gegenseitig zu prüfen muß als bloßes Spiel erscheinen, wenn doch jeder mit seiner jeweiligen Auffassung stets im Recht ist (161 e 3 - 6).2 Deshalb konfrontiert Sokrates Protagoras mit der Frage, wie man mit Protagoras, d. h. unter der Voraussetzung, daß alle unterschiedlichen, individuellen Meinungen jeweils gleichberechtigt wahr sind, dennoch die unterschiedliche Sachkompetenz von Experten gegenüber Nichtexperten erklären kann. Daß die Menschen solche Unterschiede anerkennen, ergibt sich erstens bereits aus der Tatsache, daß sich einige an andere als Lehrer oder Fachleute wenden, zweitens aber auch daraus, daß gerade Protagoras ein Expertenwissen für sich in Anspruch nimmt. Die Behauptung, daß jeder Maß der ihm erscheinenden Dinge ist, kann für Protagoras nicht bedeuten, daß alle Menschen auch gleichermaßen sachverständig sind. Wie beides in protagoreischer Sicht miteinander vereinbar ist, wird in der Entgegnung deutlich, die Sokrates im Namen des Protagoras vorträgt. Bevor jedoch Protagoras seine Position verteidigen wird, macht Sokrates die Notwendigkeit einer ernsthaften Auseinandersetzung auf umgekehrte Weise deutlich, indem er nämlich zunächst weitere Einwände anhand exemplarischer Fälle vorbringt, in denen offenkundig „wissen" und „wahrnehmen" sich nicht ohne weiteres substituieren lassen. Diese Einwände treffen allerdings nicht den Kern der protagoreischen Position. So führt es zwar zu „unmöglichen Folgen, wenn man Wissen und Wahrnehmung gleichsetzt" (164 b 8 - 9), doch ist das entsprechende Argument, wie Sokrates einräumt, ein Einwand, mit dem er wie ein „άντιλογικός" argumentiert habe (164 c 8 - d 2).3 2 Vgl. Euthydem 286 E ff. und Kratylos 385 E ff. 3 Vgl. 197 a 1, sowie auch Euthydem 272 a 1 - 4, Phaidon 90 C - D, 101 E, Politeia 538 C - 539 D, Sophistes 232 Β - E. Im zweiten Teil wird Sokrates einen imaginären „Widerlegungskünstler" (έλεγκτικός) agieren lassen (200 A). Im Unterschied zur Anti-
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In der Tat scheint es fast so, als wolle Sokrates, so etwa mit dem Sophisma v o m „Sehen mit einem Auge" (164 A - Β), mit jener eristischen Technik wetteifern, wie sie eindrucksvoll im Eutbydem
vorgeführt wird. 4
Die „Antilogik" ist eine Argumentationsform, Standpunkte und Argumente einander gegenüber zu stellen, mit der man, im Gegensatz z u r Dialektik, gerade nicht das Ziel der gemeinsamen, dialogischen Wahrheitssuche verfolgt. Vielmehr geht es u m eine Kontrastierung v o n Argumenten, über deren A k z e p t a n z letztlich die Instanz eines Schiedsrichters (wie im Falle v o n Volks- oder Gerichtsversammlungen) zu entscheiden hat, während es den philosophischen Dialog gerade auszeichnet, nicht der Instanz eines Richters zu unterliegen, wie Sokrates in der Episode betont. 5 Diese „antilogische" Gesprächspraxis ist gemeint, wenn Sokrates zu Beginn der Auseinandersetzung mit der protagoreischen Auffassung v o n der „sophistischen" Diskussionsweise spricht, „nur z u m Zeitvertreib", die Reden „aufeinanderprallen" zu lassen, u n b e k ü m m e r t darum, wie die Sache selbst beschaffen ist und ob die Behauptungen miteinander vereinbar logik verfährt die Eristik auf eine Weise, in der die Regeln des Elenchos imitiert werden, dazu Stemmer (1992: 126 f.). Eristik und antilogischer Diskussionsstrategie ist zwar gemeinsam, daß es um die Kunst des Widersprechens geht, doch braucht die letztere Verfahrensweise nicht in jedem Falle im Dienst der Täuschung zu stehen, vgl. Kerferd (1981: 61-67) und Nehamas (1990). Die Eristik verfolgt hingegen das Ziel, dem Gesprächspartner Fragen vorzulegen, mit dem Ziel, den Antwortenden in Widersprüche zu verwickeln. Die Eristik ist deshalb im engeren Sinne eine Täuschungskunst. Ein Kardinalargument agonaler Streitgespräche erwähnt Sokrates in 165 b 3-4, wenn er die wohl „verfänglichste" aller Fragen stellt, ob es denn möglich sei, dasselbe zu wissen und zugleich nicht zu wissen. Während es hier zur Demonstration eines 'eristischen Kabinettstücks' dient, wird das eristische Potential dieses Einwands dann im zweiten Hauptteil zur Geltung kommen, in dem es darum gehen wird, Paradoxien zu überwinden und Einwände zu entkräften, die auf genau dieser Frage beruhen. 4 Eine Bemerkung ist jedoch von besonderem Gewicht: der Hinweis auf das Wissen als Verstehen (162 Β - 163 C). Wer eine ihm unbekannte Sprache hört, der nimmt zwar akustische Phänomene wahr, versteht aber nicht den Inhalt der Rede. Ging es bislang lediglich um singuläre Wahrnehmungen, so hier hingegen um das Verstehen der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Phonetische oder graphematische Zeichen mittels der sinnlichen Wahrnehmung zu erfassen, ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des Verstehens. In der Verstehensleistung besteht gerade das Wissen. Hieran sei, wie Sokrates betont, kein Zweifel angebracht, vielmehr möge Theaitet an dieser Einsicht Selbstvertrauen gewinnen. Dies ist auch der einzige Einwand, auf den Piaton Protagoras nicht antworten läßt. Das Wissen als Verstehen wird dann im dritten Teil des Dialoges ausdrücklich thematisiert. 5 173 c 1 - 5, vgl. Protagoras 338 e 1 - 3. Diesen Unterschied zu einem antilogischen, kontrastiv argumentierenden Verfahren betont Sokrates vor allem in Politela 348 Α - Β, wenn er davon spricht, daß die Gesprächspartner in der dialektischen Untersuchung selber zugleich Richter und Anwälte sind.
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sind (154 d 8 - e 5). Mit der Eristik stimmt die Antilogik vor allem im Motiv überein; beides sind Widerlegungsstrategien, die nicht auf die Wahrheitssuche zielen. Dies verdeutlicht Sokrates dadurch, daß er in 163 Β - 164 C eine Reihe von Einwänden vorbringt, mit denen man zwar, teils unter Ausnutzung von Mehrdeutigkeiten und mit Fangfragen gegen die These „Wissen ist Wahrnehmung" argumentieren könne, die jedoch nicht wirklich zur Klärung der Sache beitrügen. Und er erklärt Theaitet im Detail,6 auf welche Art und Weise man den Gesprächspartner in Widersprüche verwickeln kann. Obgleich sie doch, da sie ja über hinreichend Muße verfügten,7 von der später noch die Rede sein wird, auf philosophische Weise den ersten Definitionsvorschlag prüfen wollten, argumentierten sie nun ebenso wie die „berühmten Männer", nämlich in der antagonistischen Weise, wie sie die „antilogische" Widerlegungsstrategie kennzeichnet. Damit wird im übrigen rückblickend nochmals bestätigt, daß es sich bei den zuvor erörterten Folgen in der Tat um Ernst zu nehmende Konsequenzen der These „Wissen ist (dasselbe wie) Wahrnehmung" handelt.
2.2. Die fiktive Apologie des Protagoras (166 a - 1 6 8 c) Sokrates übernimmt nun die Aufgabe, Protagoras in einer fiktiven Apologie - zunächst erfolgreich - zu verteidigen, und trägt als Advokat des Protagoras folgende Entgegnung vor: Ich behaupte zwar, daß es sich mit der Wahrheit so verhält, wie ich geschrieben habe, daß nämlich Maßstab ein jeder von uns sei, für das Seiende und für das Nichtseiende. [...] Doch bestreite ich keineswegs, daß es Sachverstand gibt und sachverständige Menschen. Vielmehr nenne ich denjenigen sachkundig, der für einen von uns, dem etwas Unvorteilhaftes [so zu sein] scheint und [es dann auch] ist, eine Verwandlung bewirken und damit erreichen kann, daß ihm 6 164 D - 1 6 6 E. 7 154 E - 1 5 5 A.
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etwas Gutes erscheint und ist. [...] Der Arzt bewirkt dies durch Arznei, der Sophist hingegen durch Reden. Aber auf keinen Fall kann man jemanden, der etwas Falsches meint, dazu bringen, später etwas Richtiges zu meinen. Man kann nämlich weder Nichtseiendes meinen noch irgend etwas anderes als eben das, was einem widerfährt, und dieses ist immer wahr.8 Nun glaube ich allerdings, daß man bei jemandem, der aufgrund einer schlechten [das heißt: für ihn unvorteilhaften] seelischen Verfassung auch eine entsprechende Vorstellung hat, durch eine gute seelische Verfassung eine entsprechend andere [vorteilhaftere] Vorstellung bewirkt. Diese Vorstellungen bezeichnen einige nun fälschlicherweise als wahr. Ich nenne hingegen die einen vorteilhafter als die anderen, aber keinesfalls wahrer. Die Sachverständigen nenne ich nun [...] bezüglich des Körpers Arzte, bezüglich der Pflanzen Bauern. [...] Die sachverständigen und guten Redner bewirken, daß in den Städten das Gute anstelle des Unvorteilhaftem gerecht zu sein scheint. [...] So sind die einen sachkundiger als die anderen und doch meint niemand etwas Falsches. (166 d 1 -167 d 2) Nach Protagoras ist es überhaupt nicht möglich, etwas Falsches zu meinen. Da alle Meinungen, die für jemanden immer wahr und auf wirkliche, aber stets andere Sachverhalte bezogen sind, und das, was ihm nicht erscheint, also nicht Gegenstand der Wahrnehmung ist, zu keiner Meinung führen kann, sind falsche Vorstellungen unmöglich. Zwar schließt Protagoras Irrtümer aus, aber er bestreitet nicht, daß es Unterschiede hinsichtlich des Sachverstands gibt: Sachkundig ist, wer für (und in) jemandem, „dem etwas Unvorteilhaftes [so zu sein] scheint und [es dann auch] ist, eine Verwandlung bewirken und damit erreichen kann, daß ihm etwas Gutes erscheint und ist" (166 d 6 - 9). Unter Sachverstand („σοφία") versteht Protagoras ein Wissen, das in der Fähigkeit besteht, einen Zustand (πάθος) ins Vorteilhafte zu verändern, und auch Meinungen sind solche Zustände. Diese Fähigkeit zur Zustandsveränderung spezifiziert
8 Hier wird deutlich, daß Protagoras sich auch auf die eleatische Ontologie berufen könnte. Die parmenideische Ontologie und diejenige der 'Herakliteer' stimmen in der Hinsicht überein, daß sich mit beiden Auffassungen die Problemtik des Irrtums (der „falschen Rede") nicht aufklären läßt.
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sich je nach Sachgebiet. Für das Wachstum der Pflanzen bewirkt der Bauer die besseren Zustände, für die Gesundheit der Menschen der Arzt, und die Sophisten leisten dies für politischen Auffassungen der Bürger, indem sie bei den Adressaten jeweils vorteilhaftere Vorstellungen bewirken. Ihr Pharmakon ist die Rede, die rhetorische Kunst. Die Unterscheidung von vorteilhaften und weniger vorteilhaften Vorstellungen tritt so an die Stelle der Wahrheitsdifferenz. Dieses Verständnis entspricht genau dem Programm der sophistischen Rhetorik: Die sachverständigen und guten Redner bewirken, daß in den Städten das Gute anstelle des Unvorteilhaften gerecht zu sein scheint. Denn was einer jeden Stadt gerecht und gut zu sein scheint, das ist es auch für sie, solange sie es glaubt. (167 c 4 - 7) Die Auffassung, daß für jeden das wahr ist, was ihm jeweils der Fall zu sein scheint, wird hier als rhetorischer Grundsatz deutlich: In einer Polis gilt dasjenige als gerecht und gut, was ihr als solches erscheint, was sie also für augenblicklich politisch geboten hält. Die Überzeugungen darüber, was gerecht und nützlich zu sein scheint, mittels der Rede zu bewirken, ist denn auch das Ziel der protagoreischen Kunst. Die Selbstdarstellung der sophistischen Rhetorik, die Piaton Protagoras geben läßt, dürfte auch den authentischen Intentionen des Abderiten entsprechen. In der Verteidigungsrede wird deutlich, daß die Behauptung von der unterschiedslosen 'Wahrheit' aller Überzeugungen in der Tat nicht lediglich die sinnliche Wahrnehmung im engeren Sinne betrifft, wie das Windbeispiel zunächst vermuten läßt. An die Stelle von „ich nehme X als E wahr" tritt nun die allgemeine Form „ich behaupte, X ist E für mich". In die Prädikatsvariable können neben bloß phänomenalen Qualitäten wie „warm" auch Prädikate wie „gerecht" eingesetzt werden. Beides wird umfaßt vom protagoreischen Verständnis von „Aisthesis". Somit zeigt sich, daß die protagoreische Auffassung vom Expertenwissen durchaus mit seiner wahrheitsindifferenten Auffassung vereinbar ist. Die durch sachverständige Lehrer erzeugten Meinungen sind ihm zufolge eben nicht etwa „wahrer", sondern „vorteilhafter" als andere.9 9 So in 167 A - B . Diese Auffassung glaubte Schiller im Sinne seines eigenen Pragmatismus verstehen zu können, vgl. hierzu die rezeptionsgeschichtlich aufschlußreiche Kontroverse zwischen Schiller (1908a), (1908b) und Burnet (1908).
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Protagoras begründet mit dem alternativen Kriterium der Vorteilhaftigkeit (oder Nützlichkeit) seine Behauptung von der universellen Wahrheit aller Uberzeugungen. Also ist jene Vorteilhaftigkeit wohl so zu verstehen, daß die „besseren" Uberzeugungen gleichwohl an die subjektive Evidenz des Meinenden gebunden bleiben. Das heißt, daß mit Protagoras eine Meinung nur dann vorteilhafter ist als eine andere, wenn sie demjenigen, der sich zu einer anderen Meinung überzeugen läßt, auch selber vorteilhafter zu sein scheint. Auch die sachkundigen Fachleute sind dies eben nur für diejenigen, die sie dafür halten.
2.3. Rückblick: Dialektik und Eristik im Rollentausch
Die methodologischen Vorüberlegungen scheinen dem Zweck zu dienen, die Relevanz der folgenden Auseinandersetzung mit Protagoras herauszustellen und diese Kritik auch in methodischer Hinsicht vorzubereiten. Dies wird vor allem durch den Rollentausch von Sokrates und Protagoras deutlich. Die Kohärenz des protagoreische Relativismus verdankt sich der Auffassung vom Wissen als Bewirken-Können, bei dem jeder Rekurs auf objektive Kriterien ausgeblendet ist. An dieser Grundlage muß daher die Kritik ansetzen, denn in diesem Sinne ist auch die Gleichung von Wissen und Wahrnehmung zu verstehen (168 b 6 - 7). Das Stichwort „σοφία" markiert nun auch den Berührungspunkt von Sokrates und Protagoras. Beide meinen damit die pragmatische Dimension des Wissens; das Lernen als das Bemühen, „sachkundiger zu werden" (145 d 7 - 8). Sokrates und Protagoras verstehen unter „Sachverstand" das sachverständige Können, das die „Künste" auszeichnet. Nur hält Protagoras dies nicht etwa für ein Wissen, das sich an objektiven Kriterien orientiert. Im Gegenteil; für Protagoras handeln die Sachverständigen nach Maßstäben, die sie selber setzen, nämlich dadurch, daß sie vorteilhafte Vorstellungen bewirken. Nun behauptet Protagoras auch, daß jeder „Maßstab" der eigenen Einsicht ist. Wer sich also von den Rednern 'belehren' läßt, der läßt sich in dem Sinne überzeugen, daß er die Auffassung des anderen akzeptiert und sich zu eigen macht.
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Die so gewonnene Überzeugung kann daher nicht darauf beruhen, eine zuvor falsche Uberzeugung eingesehen und korrigiert zu haben. Protagoras bestreitet mit Nachdruck, daß dies möglich ist. Ihm zufolge kann es sich beim Erfolg der Redner, und ebenso beim Erfolg in anderen Künsten, nur um einen Zustandswechsel handeln. Die Sachverständigen sind nun diejenigen, die in dem Bewirken von Zustandsveränderungen besonders erfolgreich sind. Protagoras kann deshalb behaupten, daß seine Auffassung von der relativen Wahrheit aller Meinungen und der Unmöglichkeit von Irrtümern mit seiner Auffassung von Wissen als „σοφία" vereinbar ist. Darin besteht gerade die Geschäftsgrundlage der sophistischen Rhetorik. Es ist dieses Verständnis von „σοφία", das sich hinter der Gleichung von Wissen und Wahrnehmung verbirgt (168 b 4 - 7). Sokrates hat zu ihren Gunsten jeden objektiven Bezugspunkt von Meinungen, jeden Prüfstein der Wahrheit und mithin jede Irrtumsquelle theoretisch ausgeräumt. Betrachtet man den Relativismus im Licht des protagoreischen Selbstverständnis', so muß folgende Parallele ins Auge fallen: Die Kohärenz des Relativismus beruht auf der Voraussetzung, daß sie objektive Gründe gerade ausschließt. Das betrifft auch diese Auffassung selbst. Als eine Theorie, in der jede Möglichkeit der Begründung in Abrede gestellt wird, kann sie weder bewiesen noch widerlegt werden, solange man ihre strikt relativistische Voraussetzung akzeptiert. Im Verlaufe von Sokrates' Darstellung hat Theaitet wiederholt seine Ratlosigkeit und sein Erstaunen geäußert. So ist er in 158 c 3 - 5 im Hinblick auf den Stellenwert von Beweis und Gegenbeweis völlig ratlos, „denn alles entspricht sich jeweils genau als Gegenstück". Was Sokrates für und wider die Mensuraformel vorbringt, kann sie weder wirklich für noch gegen sie sprechen. Was eben noch plausibel schien, hat sich im nächsten Augenblick ins Gegenteil verkehrt.10 Dies entspricht genau dem Umstand, daß Protagoras' Position das kritische Geschäft von Argumentation und Begründung (διαλέγεσθαι πραγματεία, 161 e 5) preisgibt. Protagoras verbindet eine Auffassung, die aufgrund ihres wahrheitsindifferenten und in diesem Sinne relativistischen Prinzips kohärent ist, mit einer Theorie des praktischen Wissens. So scheint ihm die Quadratur des Kreises zu gelingen: Er vertritt eine Auf10 Vgl. 154 E - D, 155 C - D, 157 C - D, 161 A - C, 162 C - D , 165 D.
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fassung, der zufolge alle Meinungen wahr sind, und kann dennoch das technische Wissen erklären, nämlich als die Fähigkeit, Meinungszustände zu verändern. Entsprechend ersetzt er die Wahrheitsdifferenz durch die Unterscheidung von vorteilhaften und unvorteilhaften Meinungen. Sokrates hat zu Beginn den Zusammenhang zwischen dem je spezifischen Sachverstand und dem hier gesuchten „Wissen selbst" ausdrücklich hergestellt. Wenn man weiß, warum es sich bei den Disziplinen um Formen von Wissen handelt, dann weiß man auch, was Wissen ist. Protagoras gibt nun dem Anspruch nach darauf eine Antwort, die freilich das Rechenschaft-Geben in Frage stellt. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, wie Protagoras zu behaupten scheint, wenn also jeder mit jeder beliebigen Meinung im Recht ist, dann machte die gemeinsame Wahrheitssuche keinen Sinn, und die sokratische Mäeutik wäre von der Eristik nicht zu unterscheiden. Mit der Widerlegung unbegründeter Wissensansprüche dem Ziel der dialektischen Prüfung von Meinungen, die Sokrates in Piatons Dialogen unternimmt - geht eine Selbstaufklärung des Meinenden einher. Demgegenüber bietet Protagoras eine Erklärung des Wissens, die das Lernen und das 'kritische Geschäft' der gegenseitigen Prüfung von Wissenansprüchen insgesamt in Frage stellt. Mit Protagoras braucht zwischen wirklichem und nur vermeintlichem Wissen nicht zu unterschieden werden, weil ihm zufolge jedes Meinen schon Wissen ist. Die protagoreische Auffassung ist die strikte Gegenposition und zugleich ein Alternativmodell zur sokratischen Wahrheitssuche. Die Sophistik kann, wie sich in Protagoras' Verteidigung zeigt, nicht leichtfertig als eristische Spielerei abgetan werden. An ihr wird vielmehr die Möglichkeit deutlich, daß man sich der argumentativen Mittel, mit denen Piatons Sokrates Wissensansprüche prüft, bedienen, und dabei zugleich die philosophische Dialektik insgesamt in Frage stellen kann. Das zeigt Sokrates auch dadurch, daß er in die Rolle des Streitkünstlers schlüpft und die protagoreische These vom Wissen als Wahrnehmung - und zwar zu Recht - gegen eigene, eristische Einwände verteidigt. Protagoras überläßt Sokrates die Form der Erwiderung, denn seine Auffassung könne auch Rede und Antwort stehen.11
11 Vgl. die Diskussion der alternativen Formen der Rede in Protagoras 329 Β und 335 D - 338 E, sowie auch Sophistes 225 Β - D, Politikos 286 Β - 287 Β.
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Protagoras fordert eine dialektische Erörterung seiner Auffassung ein.12 Die Kritik muß daher von der Behauptung ausgehen, daß zwar alle Uberzeugungen für den Meinenden immer wahr sind, sich aber die Experten und Laien hinsichtlich der Unterscheidung der vorteilhafteren bzw. unvorteilhafteren Zustände unterscheiden. Sokrates läßt sich seine Darstellung mehrmals von Theodor bestätigen, „denn es macht keinen geringen Unterschied, ob es sich so oder anders verhält" (169 e 5 - 6). Sokrates argumentiert aus der Position der immanenten Kritik, macht sich Protagoras' Meinung zu eigen, und läßt Protagoras - vertreten durch den Gewährsmann Theodor - in einem Kurzdialog Rede und Antwort stehen. Theodor ist solange Sokrates' Gesprächspartner, bis die Frage, ob die Behauptung von der relativen Wahrheit aller Meinungen mit den Voraussetzungen des technischen Sachverstands vereinbar ist, beantwortet ist.
12 Vgl. dazu auch Lee (1973).
3. Die Widerlegung des Relativismus (170 a -179 b)
Die Sokratische Kritik gliedert sich in zwei Schritte. Im ersten Schritt geht es um den theoretischen Geltungsanspruch der Mensuraformel, im zweiten dann um den praktischen. In beiden Fällen geht es dabei um die Bedingungen des erfolgreichen Handelns. Und in beiden Fällen operiert Sokrates mit der Argumentationsfigur der „Umwendung", das heißt, der Selbstanwendung der protagoreischen Behauptung.1
3.1. Der theoretische Geltungsanspruch (170 a -171 c)
Sokrates knüpft an die Protagoras zur Hilfe gestellte Behauptung an, daß zwar jeder Meinende über durchweg richtige Meinungen verfüge und daher jeder für sich 'maßgeblich' sei, sich einige jedoch durch besondere Klugheit (σοφία) auszeichnen, nämlich die „sachverständigen und guten Redner" (167 c 3). Denn diese seien darin sachverständig, bei den Menschen nach Art eines Arztes „Zustandsveränderungen" bewirken zu können, die jeweils die Uberzeugungen darüber betreffen, was „gerecht" zu sein scheint. Wie Sokrates ganz im Sinne seines Plädoyers für Protagoras betont, gedenkt er Protagoras' Zustimmung zu den folgenden Überlegungen aus dessen eigenen Worten, das heißt aus den Voraussetzungen seiner eigenen Lehre heraus zu gewinnen. Und diese „Zustimmung" besteht zunächst einmal lediglich darin, daß man die landläufige Auffassung zur Kenntnis nimmt, der zufolge es unter den Meinungen grundsätzlich eben auch Irrtümer gibt. Damit ist zunächst nur gemeint, daß die Menschen glauben, daß nicht jeder in gleicher Weise für alle Dinge sachkundig ist.
1 Das erste Argument ist, wohl über Demokrit und Epikur, deren Darstellung sich allerdings von Piatons Argument unterscheidet, auch unter dem Titel „Umwendung" (περιτροπή) in die Philosophiegeschichte eingegangen. Zur „Nachwirkung des HomoMensura-Satzes bei Demokrit und Epikur" vgl. Kullmannn (1969).
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Dieser Einsicht folgen sie jedenfalls dann, wenn sie sich in Zweifelsfällen, so etwa bei Krankheit, vor Gericht oder auf hoher See an Experten wenden. Daß man dies meint, und einige Meinungen daher womöglich für falsch hält, kann Protagoras ohne weiteres einräumen, da er ja nur bestreitet, daß es wirklich falsche Meinungen geben kann. Zunächst nimmt Sokrates abermals eine ausdrückliche Positionsbestimmung vor. Für Protagoras sind alle, auch einander widerstreitende Meinungen jeweils für den Meinenden wahr. Wahrheit und Für-wahr-Halten fallen so zusammen. Als nächstes hält Sokrates den offenkundigen und auch aus protagoreischer Sicht unbestrittenen Tatbestand fest, daß die Menschen der Meinung sind, daß es wahre wie auch falsche Meinungen gibt. Diesen 'common sense' faßt Sokrates nun zu einer einzigen Meinung zusammen, nämlich zu der Behauptung: „Nicht alle Meinungen sind wahr". Sokrates kommt es darauf an, daß die landläufige Auffassung, auf einen Nenner gebracht, ebenfalls eine Meinung darstellt, und zwar eine Protagoras' These widersprechende Behauptimg, der man mit Protagoras gleichwohl denselben Geltungsanspruch zuerkennen muß. Dies ist nun nicht so zu verstehen, daß die Behauptung „Einige Urteile sind falsch" auch für Protagoras zutrifft, und es ist ebenfalls nicht so zu verstehen, daß diese Behauptung objektiv wahr ist. Ein solches Verständnis von Wahrheit schließt die protagoreische Formel gerade aus. Die Gegenmeinung ist dadurch wahr, daß man sie dafür hält - nicht mehr und nicht weniger, und aus diesem Grunde fällt sie unter die protagoreische Formel. Auf dieser Grundlage fingiert Sokrates nun einen Dissens über die Geltung des Mensurasatzes. Die Pointe - und vor allem die Schlüssigkeit der Widerlegung besteht nämlich, wie ich meine, darin, daß Piaton die protagoreische Formel zum Gegenstand eines möglichen Streitgesprächs macht. Sokrates richtet an seinen Gesprächspartner folgende Frage: Wenn du dir über irgend etwas ein Urteil gebildet hast und mir dann dein Urteil mitteilst, dann soll dies gemäß der Ansicht des Protagoras für dich einmal richtig sein. Steht es aber uns anderen nicht frei, uns über dein Urteil [wiederum] ein [eigenes von uns für richtig gehaltenes] Urteil zu bilden, oder urteilen wir etwa immer, daß deine Meinung wahr ist. Werden nicht jedesmal unzählig Viele mit ei-
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ner Gegenmeinung gegen dich streiten, in der Überzeugung, daß du eine falsche Meinung vertrittst? [...] Sollen wir nun deiner Meinung nach sagen, daß in diesem Fall deine Meinung für dich wahr ist, für die anderen aber falsch? - Das ist jedenfalls nach der vorigen Annahme notwendig. (170 d 4 - e 6). Soweit bewegen sich die Überlegungen auch innerhalb der protagoreischen Sprachregelung. Es fällt auf, daß Sokrates jeweils die nach der Mensuraformel obligatorische Ergänzung „für jemanden" berücksichtigt. Das Argument beruht darauf, daß über jede Meinung ein Meinungsstreit, nämlich über ein bestimmtes Urteil als Gegenstand von Meinungen, möglich ist, in dem ein und dieselbe Behauptung, von demjenigen, der sie äußert, für wahr, von den Opponenten hingegen für falsch gehalten wird. Einen Meinungsstreit fingiert Sokrates nun, indem er von der Tatsache ausgeht, daß nicht jeder alle Meinungen für wahr hält, also nicht jede Meinung von jedem geteilt wird. Die Meinung „Nicht alle Urteile sind wahr" läßt sich offenkundig innerhalb des protagoreischen Idioms formulieren, nämlich als eine Meinung, die für die so Urteilenden wahr ist. Und wie müßte man nun aus protagoreischer Sicht darüber urteilen? Was folgt nun für Protagoras selbst? Falls nämlich nicht einmal Protagoras glaubte, der Mensch sei Maßstab und auch die Leute nicht, die es ja in der Tat nicht tun, ergibt sich daraus etwa nicht, daß diese von ihm geschriebene „Wahrheit" für niemanden [wahr] ist? Falls er sie aber selber für wahr hält, die große Menge aber nicht, dann folgt zunächst einmal, daß sie es umso mehr ist oder nicht ist, je mehr Leute dies meinen oder eben nicht meinen. Weiter ergibt sich aber noch diese höchst witzige Folge: Protagoras gesteht doch zu, daß die Ansicht derjenigen, die über seine Meinung eine andere Meinung haben, da sie glauben, daß er sich irrt, ebenfalls wahr ist, denn er gibt ja zu, daß alle [jeweils für sich] etwas meinen, das [für sie wahr und wirklich] ist. - Sicher. - Demnach würde er auch die Falschheit seiner Behauptung zulassen, insofern er nämlich einräumt, daß die Meinung auch derjenigen wahr ist, die glauben, daß er sich irrt? Notwendigerweise. - Die anderen räumen aber nicht ihrerseits ein, sich zu irren? - Keinesfalls. (170 e 7 -171 b 4)
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Nach (2) sind nicht alle Meinungen wahr. Was müßte nun Protagoras darauf erwidern? Vielleicht hielte auch Protagoras seine Behauptung (1) nicht für wahr. Diese Möglichkeit - als eine reale Möglichkeit - zu erwägen, scheint recht abwegig, denn Protagoras vertritt mit Nachdruck seine These. Dennoch hat die Überlegung einen guten Sinn. Damit betont Sokrates nämlich nochmals, daß eine Meinung der Mensuraformel zufolge eben genau dann im protagoreischen Sinne 'wahr' ist, wenn man sie für wahr hält. Genau darin besteht ja ihre Pointe. Ein Sachverhalt ist danach genau dann der Fall, wenn (und solange) man dies glaubt. Hielte selbst Protagoras seine Formel nicht für wahr, glaubte im wörtlichen Sinne niemand, daß (1) wahr ist. Wenn aber zumindest Protagoras selber (1) für wahr hält, dann folgt daraus zweierlei: Da die Gegner die Behauptung (1) für falsch halten, ist der Satz umso mehr falsch, je mehr ihn dafür halten (171 a 1 - 3). Das klingt merkwürdig, ist aber richtig. Denn nach der Mensuraformel gilt: Je mehr Leute eine Meinung für richtig halten, desto 'richtiger' ist sie auch. Auch damit wird nochmals die Abhängigkeit der Geltung einer Meinung vom Meinenden betont. Darüber hinaus erweist sich die Mensuraformel als widersprüchlich; sie hat nämlich auch eine „besonders witzige" Konsequenz, die sich im folgenden Argument darstellen läßt: 1. Alle Meinungen sind wahr. Das ist die Behauptimg der Mensuraformel. 2. Nun meinen aber viele Menschen, daß einige Meinungen falsch sind, das heißt: Es gibt eine Meinung, der zufolge nicht alle Meinungen wahr sind. 3. Die Behauptung (2) „Nicht alle Meinungen sind wahr" ist also ebenfalls wahr. 4. Für alle Meinungen gilt: Wenn eine Behauptung, daß non ρ, wahr ist, dann ist die Behauptung, daß p, falsch. 5. Also ist - nach dem modus ponens - die Behauptung (1) „Alle Meinungen sind wahr" falsch. 6. Also ist die protagoreische Behauptung (1) „Alle Meinungen sind wahr" zugleich wahr und falsch. 7. Die Mensuraformel (1), der zufolge alle Meinungen wahr sind, ist daher selbstwidersprüchlich - also falsch.
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Sokrates geht davon aus, daß die protagoreische Behauptung wahr ist. Aus der Verbindung dieser Annahme (1) mit der Annahme (2) folgt jedoch, daß genau das nicht der Fall ist, das heißt, daß die protagoreische Meinung falsch ist (5). Wenn Protagoras Recht hat, widerspricht er sich selbst (7). Die Selbstanwendung der protagoreischen Formel besteht darin, daß Sokrates die ex hypothesi wahre Meinung von der Wahrheit aller Meinungen auf die auch von Protagoras zugestandene Meinung (2) „Nicht alle Meinungen sind wahr"anwendet. Das schlüssige Argument ist nun deshalb überzeugend, weil es sich bei den beiden Prämissen um Behauptungen handelt, die Protagoras selber vertritt. Nach der protagoeischen Voraussetzung, der zufolge ein Satz nur dann wahr ist, wenn er wahr für A ist, besagt die Schlußfolgerung, der zufolge Satz (1) falsch ist, wie gesagt, nicht, daß auch Protagoras selber dies für objektiv wahr, (1) für falsch halten muß. Die Widerlegung beruht nicht darauf, daß Protagoras selber, wie in der Piatonliteratur oft zu Unrecht moniert wird, im Widerspruch zu seiner Formel ausdrücklich der Meinung (2) „Nicht alle Meinungen sind wahr", zustimmen müsse.2 Das läßt Piaton Sokrates aber auch nicht behaupten. Denn der „Irrtum", den einzuräumen Protagoras gezwungen sei, besteht eben darin, daß die Gegenmeinung (2) von ihren Vertretern für wahr gehalten wird, und der Satz (5) aus den ersten beiden Annahmen folgt. Protagoras kann es buchstäblich gleichgültig sein, ob man seine Formel für wahr hält oder nicht. Aber die Gegner können sich, wenn sie seine Formel ihrerseits für falsch halten, mit Recht auf eben diese Formel berufen. 3 2 Stellvertretend dafür sei Schiappa (1991: 192) genannt: „The concept of a frame of reference frees Protagoras' human-measure statement from the arguments of selfrefutation and contradiction. [···] Plato sought to put Protagoras' doctrine into the form „the human-measure statement is true absolutely". He dropped the essential qualifying phrase „for X". When this omission was disregarded, it was easy for Plato to make it appear that Protagoras' formulation led to absurdity. The omission introduced a frame of reference to which Protagoras would not have agreed." Piaton unterschlägt die Einschränkimg „wahr für A" jedoch keineswegs, sondern setzt sie gerade voraus. Für andere Interpretationen, denen zufolge Piatons Widerlegung erfolgreich ist, vgl. Burnyeat (1976a), (1990: 39 ff.), Fine (1998), Lee (1973), McDowell (1973: 170 ff.), Passmore (1961: 67 ff.), Polansky (1992: 129-132), Waterlow (1977). Emilsson (1994), Ketchum (1992), Matthen (1985) und Schiappa (1991: 192 ff.) vertreten die Auffassung, daß sich die strikt relativistische Position nicht schlüssig widerlegen läßt. 3 Das „Seiende zu meinen" (τα όντα δοξάζει ν, 171 a 9) heißt mit Protagoras, daß dasjenige, was man behauptet, was einem so zu sein scheint, tatsächlich der Fall ist, daß also eine Meinung immer wahr ist. Protagoras besteht ja darauf, daß es unmöglich ist,
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Daß nun der in der Gegenmeinung geäußerte Sachverhalt, daß der Bereich der Meinungen, als Urteile verstanden, der Wahrheitsdifferenz unterliegt, tatsächlich besteht, dies muß Protagoras, wie gesagt, nicht behaupten. Daß es sich so verhält, bestreitet er gerade. Und selbst Sokrates behauptet dies nicht ausdrücklich. Da Protagoras die grundsätzliche Bedingung des Urteilens, den Anspruch auf objektive Wahrheit, also den Anspruch, einen tatsächlichen bestehenden Sachverhalt auszudrücken, außer Kraft setzt, braucht er ein Argument nicht anzuerkennen, das gerade darauf beruht. Es kommt Piaton nun offenbar in erster Linie auf die argumentationsund dialogtheoretischen Einsichten an, die mit der „höchst witzigen" Konsequenz der relativistischen Auffassung einher gehen. Die Gegenmeinung ist nämlich eben nicht nur im relativen Sinne wahr. Diese Behauptung kann man offenkundig auch widerspruchsfrei für objektiv wahr, d. h. für wirklich zutreffend halten. Genau darin unterscheidet sie sich von der Mensuraformel. Diesen Unterschied hebt Sokrates offenbar eigens hervor, wenn er dem Argument noch hinzufügt, daß die Gegner, im Unterschied zu Protagoras, nicht ebenfalls zugeben, sich zu irren (171 b 4). Für die Widerlegung ist damit kein zusätzliches Argument gewonnen, doch tritt so der grundsätzliche Unterschied im logischen Status der beiden Meinungen hervor. Das aus Protagoras' Formel folgende „Zugeständnis" eines Irrtums besteht ja darin, daß man in der Konsequenz des Mensurasatzes die Gegenmeinung zumindest als eine für wahr gehaltene Behauptung anerkennen muß. Diese Folgerung verbleibt demnach innerhalb des relativistischen Geltungsanspruchs der Formel, den auch die Gegenmeinung, als eine etwas zu meinen, was nicht der Fall ist. Auf der mehrdeutigen Rede davon, das Seiende zu meinen und in diesem Sinne immer etwas Wahres auszusagen, beruht ja die sophistische Paradoxie von der Unmöglichkeit, sich zu irren (vgl. Eutbydem 284 A ff.), mit der Piaton sich im Sophistes auseinandersetzt, wo er die Paradoxie dadurch auflöst, daß er zwischen verschiedenen Hinsichten unterscheidet, in denen etwas „nicht ist". Sind die Meinungen nach Protagoras dadurch wahr, daß man sie vertritt, da man ihm zufolge ja nur das meinen kann, was der Fall ist, so betrifft dies auch die Meinung über seine Formel. Die Meinung, diese Formel sei falsch, ist in der Weise wahr, daß „alle etwas meinen, das ist" (171 A). Die Gegenmeinung ist danach insofern wahr, als es sich nach Maßgabe der Mensura-Formel eben um eine Meinung handelt, die sich nur auf etwas beziehen kann, das wirklich der Fall ist, „denn man kann weder Nichtseiendes meinen noch überhaupt etwas anderes, als das, was einem widerfährt, und dies ist immer wahr".
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Meinung überhaupt, für sich in Anspruch nehmen kann. Hingegen weist die Gegenbehauptung, als ein Urteil, das mit dem Anspruch verknüpft ist, Tatsachen zu behaupten, über die bloß relative Wahrheit im Sinne der Mensuraformel hinaus. Die Gegner können, aber sie brauchen sich nicht auf die Formel zu berufen. Wer nämlich mit seiner Meinung einen objektiven Wahrheitsanspruch erhebt, wer also behauptet, daß ein bestimmter Sachverhalt nicht bloß für ihn besteht, sondern das entsprechende Urteil in dem Sinne objektiv wahr ist, daß der darin ausgedrückte Sachverhalt unabhängig vom individuellen Dafürhalten - als eine Tatsache besteht, der beruft sich dabei eben nicht mehr auf die relativistische Formel. Vielmehr erklärt man sie impliziter schon damit für falsch, daß man eine bestimmte Meinung, und nicht unterschiedslos jede, für richtig hält. Die Gegner der protagoreischen Position, die Sokrates in einem minimalen Dialog über die Mensuraformel streiten läßt, brauchen sich mit ihrer Behauptung nicht ihrerseits auf die Mensuraformel zu berufen. Würden die Gegner dies tun, so behaupteten sie nicht viel mehr, als daß es für sie so zu sein scheint, als könne es auch Irrtümer geben.4 Nun könnte Protagoras entgegnen, daß die Meinung, der zufolge nicht alle Meinungen wahr sind, für diejenigen wahr sein mag, die sie vertreten, nicht jedoch zwangsläufig auch für ihn wahr zu sein braucht. Dies einzuräumen setzte einen Begriff objektiver Wahrheit voraus, den er gerade bestreitet. Darin liegt gleichsam eine Widerlegungsimmunität seiner Auffassung. Gerade diese Immunität läßt nun auch die Voraussetzungen jener wissenschaftlichen Praxis deutlich werden, für die Piaton Sokrates streiten läßt.
3.2. Exkurs: Relativismuskritik, Wahrheit und Dialog Auf der Grundlage eines objektiven Wahrheitsbegriffs können wir Wahrheit als die Eigenschaft eines Satzes verstehen, das Bestehen eines Sachverhalts auszudrücken. Danach ist ein Satz genau dann wahr, wenn 4 Wenn Sokrates abschließend behauptet, daß nicht alle Urteile wahr sind, kann er die für Protagoras obligatorische relativistische Formel „für-A" deshalb mit Recht auch auslassen, die er zuvor ja auffällig deutlich berücksichtigt hat.
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er einen tatsächlich bestehenden Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Mit jeder Behauptung geht nun ein Wahrheitsanspruch einher.5 Der Begriff objektiver Wahrheit - als ein Merkmal des Wissensbegriffs - beruht auf der Beziehung von (wahrheitsdefiniten) Sätzen und Gedanken auf eine objektive, erkennbare Wirklichkeit. In dieser Bezugnahme liegt der Wahrheitsanspruch als Voraussetzung der Urteilspraxis. Eine Behauptung zu verifizieren, heißt den jeder Behauptung immanenten Wahrheitsanspruch einzulösen. Die Verifikationskriterien sind von dem jeweils behaupteten Sachverhalt abhängig. Der Wahrheitsanspruch einer Behauptung ist jedenfalls an objektive Wahrheitskriterien gebunden. Nun ist natürlich die protagoreische Auffassung, mag Protagoras' Schrift auch „Aletheia" geheißen haben, keine Theorie der Wahrheit. Ebensowenig handelt es sich um eine skeptische Position. Die Wahrheit eines Urteils und das Fiir-wahr-Halten fallen für Protagoras zusammen. Da hiernach jede Uberzeugung nach dem Vorbild der Wahrnehmung, von etwas handelt, das der Fall ist, und somit jede Uberzeugung immer schon wahr ist, braucht man auch keine Kriterien dafür, zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden zu können. Objektive Verifikationskriterien sind ihm zufolge daher entbehrlich. Unter dem Gesichtspunkt eines objektiven Wahrheitsbegriffs betrachtet, stellt die wahrheitsindifferente Behauptung somit einen konsequenten Wahrheitsrelativismus dar. Die Wahrheit einer Uberzeugung - für Protagoras eine tautologische Redeweise - ist danach an kontingente, für jeden Erkenntnisakt andere Bedingungen der Erkenntnis gebunden. Nach dem protagoreischen Relativismus sind Sätze nur für Personen, in bezug auf 'private Phänomene', zu einem bestimmten Zeitpunkt wahr. Die Wahrheitsdifferenz ersetzt Protagoras, pointiert gesagt, durch eine 'Wahrh.eitsindifferenz. Als Unterscheidungsmerkmal von Meinungen fungiert statt dessen die Distinktion von vorteilhaften (nützlichen) und nicht-vorteilhaften Meinungen. Daß hingegen von Wahrheit, als Kriterium von Wissen gegenüber dem Für-wahr-Halten ausschließlich im Sinne eines objektiven Wahrheitsbegriffs überhaupt sinnvoll die Rede sein kann, sucht Piaton in der Wider-
5 Die Bedeutung von „wahr" als Eigenschaft von Urteilen ist bei Piaton freilich in der Ideenannahme fundiert. Zum epistemisch-ontologischen Doppelcharakter von Piatons Wahrheitsbegriff vgl. Szaif (1998: 510-531).
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legung des protagoreischen Relativismus zu zeigen. Aus der Mensuraformel folgt, daß die Behauptung, der zufolge alle Meinungen wahr sind, mit sich selbst in Widerspruch gerät. Darüber hinaus wäre der Wahrheitsrelativismus auch dann widersprüchlich, wenn die relativistische Behauptung ihrerseits beanspruchte, (objektiv) wahr zu sein. Da es sich beim Wahrheitsanspruch um eine notwendige Voraussetzung eines jeden Satzes handelt, sofern jeder Satz behauptet, daß etwas der Fall ist, hebt eine Behauptung, die diese Tatsache bestreitet, und zugleich mit Wahrheitsanspruch auftritt, die Bedingung ihrer eigenen Geltung auf. Der bloßen Form nach, beansprucht die relativistische Behauptung wahr zu sein, während sie zugleich einen objektiven Wahrheitsbegriff verneint. Wenn die generelle Negation der Wahrheitsdifferenz ihrerseits wahr zu sein beansprucht, so ist sie widersprüchlich. Der generelle Wahrheitsrelativismus unterminiert den eigenen Geltungsanspruch. Dieser Widerspruch mag nun aber für Protagoras buchstäblich gleichgültig sein, zumal der entsprechende Einwand andererseits, nämlich aus seiner Perspektive, paradoxerweise bestätigt, daß er auf einen objektiven Wahrheitsanspruch eben Verzicht leisten kann. Objektive Sachverhalte, die wiederum das Kriterium dafür darstellen, daß eine Uberzeugung (objektiv) wahr ist - und nur diese, nicht schon das Für-wahr-Halten können ja als Erkenntnisgründe für die Wahrheit anderer Sachverhalte dienen gibt es ihm zufolge nicht. Das hat nun aber zur Folge, daß die relativistische Position weder theorie- noch diskussionsfähig ist. Mit der Preisgabe des objektiven Wahrheitsbegriffs geht der Verzicht auf Begründungsfähigkeit einher. Sokrates' muß gegen Protagoras logische Beweismittel verwenden, die der Gegner schlechterdings nicht akzeptiert. Läßt man sich einmal auf die protagoreische Prozeßordnung ein, so kann er im Recht bleiben. Das bedeutet jedoch, daß der protagoreische Relativismus, was seinen theoretischen Geltungsanspruch anbetrifft, eine begründungsunfähige wie auch dialogunfähige Position ist. Das zeigt sich auch an der dialogischen Form der Widerlegung, die in der Literatur bislang zu wenig berücksichtigt worden ist. Sokrates geht nicht ohne Grund in der Widerlegung davon aus, daß über die Mensuraformel ein Dissens besteht. Es ist lohnenswert, einmal die Bedingungen für einen Meinungsstreit aufzuschlüsseln.
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Nach Protagoras können alle Meinungen als gleichermaßen wahr gelten, während die Gegenmeinung besagt, daß nicht alle Meinungen wahr sein können. Da Urteile, so auch die Behauptung des Protagoras, grundsätzlich der Wahrheitsdifferenz unterliegen, können sie auch Gegenstand eines Meinungsstreits sein. Betrachtet man konträre Meinungen allein auf der Ebene der subjektiv-privaten Geltung, so ist die Lage unproblematisch. Hält A den Wind für kalt, Β dagegen für warm, so liegt damit noch kein Meinungsstreit vor. Ein Dissens erfordert zusätzliche Bedingungen: Zunächst einmal müssen die Personen A und Β unterschiedliche Meinungen - im Falle des Mensurasatzes kontradiktorische Meinungen - über denselben Gegenstand behaupten. Und die Kontrahenten müssen sich darüber auch im klaren sein. Sie müssen wissen, daß von demselben Sachverhalt in kontradiktorischen Aussagen die Rede ist, so daß nur eine wahr sein kann. Unter diesen Voraussetzungen kann A die Meinung des Β bestreiten. Eine Gegenmeinung zu vertreten, heißt dann auch zu behaupten, daß die andere Aussage über die Sache falsch ist. Diese Voraussetzungen mögen zunächst trivial scheinen, doch ist eine Verständigung über die Bedingungen für einen Dissens deshalb keineswegs trivial, weil ein konsequenter Relativist diese Bedingungen nicht akzeptiert. Mit Protagoras braucht, wie Sokrates eingangs sagt, gar nicht entschieden zu werden, ob der fragliche Wind nun kalt ist oder nicht, und dasselbe gilt nach Protagoras für Meinungen insgesamt. Ihm zufolge können solche Fragen gar nicht entschieden werden (152 b 6 - 8), denn nach seiner Position können sich verschiedene Meinungen niemals auf denselben Sachverhalt beziehen.6 Sich überhaupt darüber zu verständigen, daß ein Dissens vorliegt, impliziert auch die Akzeptanz der Wahrheitsdifferenz und ebenso der Möglichkeit, sich auf eine intersubjektiv identische Wirklichkeit beziehen zu können.7 6 Diese Konsequenz der eristischen Gesprächspraxis zeigt sich deutlich im Euthydem (285 E - 286 Β), in dem Dionysodor das Argument vorbringt, es sei unmöglich, daß zwei Meinungen einander wirklich widersprechen, da sich zueinander kontradiktorische Behauptungen eben nicht auf dieselben, sondern auf verschiedene Dinge bezögen. Das Argument beruht auf der Unmöglichkeit, „Nichtseiendes zu behaupten", das, wie Sokrates betont, zur „Schule des Protagoras" und zum eingeschliffenen Repertoire der Eristik gehört (Euthydem 286 C). 7 Mit der Wahrheitsdifferenz bestreitet Protagoras einschlußweise auch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Dies bringt Aristoteles {Metaphysik 3, 1005 Β ff.) zur Geltung, der dafür argumentiert, daß der Satz sich nicht sinnvoll bestreiten - und
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Soll ein Dissens entschieden werden, so muß man den Wahrheilsanspruch einer Behauptung einlösen, indem man sie zu beweisen oder jedenfalls überzeugend zu begründen sucht. Zutreffende Meinungen von Irrtümern zu unterscheiden, erfordert den Prozeß der Argumentation und Begründung. Das gilt nun auch für den Dissens über die Behauptung der Mensuraformel, obgleich sie inhaltlich die Möglichkeit von Irrtümern und damit auch die Möglichkeit einer Verifikation von Meinungen gerade bestreitet. Der bloßen Form nach behauptet auch die Mensuraformel einen Sachverhalt, indem sie nämlich besagt, daß die Wahrheit einer Aussage von den immer anderen Bedingungen abhängig ist, unter denen sie geäußert wird. Wird nun behauptet, daß dies wirklich der Fall ist, so ist die Behauptung in dem Sinne widersprüchlich, daß sie dann notwendigerweise - als eine Behauptung, „daß ρ" - diejenige objektive Geltung beansprucht, deren Möglichkeit sie verneint. Nun kann sich die relativistische Position zwar darauf zurückziehen, daß sie eben keine solche Geltung beansprucht. Diese 'Immunität' hat jedoch zur Folge, daß die relativistische Auffassung die Möglichkeit aufgibt, daß sie, falls sie bestritten wird, falls also ein Dissens über ihre Behauptung besteht, nicht verteidigt werden kann. So schließt sie auch die Möglichkeit der eigenen Verifikation aus. Denn die Negation eines objektiven Wahrheitsbegriffs beraubt sich der Möglichkeit, begründbar zu sein.8 Die Begründungsunfähigkeit der Mensuraformel ist nun in erkenntnistheoretischer Hinsicht deshalb bedeutsam, weil sich mit dem Verzicht auf den Wahrheitsanspruch der methodische Solipsismus der protagoreischen Auffassung zeigt. Wenn man sich nicht auf eine objektive und in nicht widerlegen - läßt. Wollten die Gegner diesen Satz im Ernst bestreiten, so sei dies in dem Sinne widersprüchlich, daß sie den bestrittenen Satz in praxi mit buchstäblich jedem Wort voraussetzten, da dessen Geltung mit der Äußerung bedeutsamer sprachlicher Ausdrücke schon in Anspruch genommen wird. In der Verteidigung des aromatischen Status des Satzes stellt Aristoteles einen Zusammenhang heraus, der im Kern auch für Piaton maßgeblich ist. Piatons und Aristoteles' Argumenten gegen den Relativismus ist gemeinsam, daß sie in der Form von îWkcîîo-Argumenten zeigen, daß der Relativismus die epistemischen Bedingungen des Zugangs zur unabhängigen Wirklichkeit und die Bedingung der sprachlichen Bezugnahme auf die Wirklichkeit verletzen. 8 Vgl. zu diesem systematischen Punkt auch Wolff (1986). - Was die sophistische Praxis in Politik und vor Gericht betrifft, so gäbe es im Falle der erwiesenen Falschheit seiner sophistischen Lehr- und Uberzeugungsbasis für seine Klientel auch keinen Grund, bei ihm in die 'Lehre' zu gehen. Die Logik entzieht ihm die Geschäftsgrundlage (vgl. Sophistes 233 Β).
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diesem Sinne 'öffentliche' Wirklichkeit bezieht - mit der Folge, daß die Aussagen über diese Wirklichkeit objektiven Wahrheitskriterien unterliegen - , dann befindet sich eine solche Position aufgrund ihrer nur 'privaten' Geltung jenseits von Argumentation und Dialog. Der konsequente Wahrheitsrelativismus erweist sich als nicht dialogfähig. Das ist, wie mir scheint, der Kern der Argumentation gegen den protagoreischen Relativismus. Daß einer Beweisführung gegen den Relativismus, aufgrund seiner 'Widerlegungsimmunität', ein zwar zwiespältiger, doch im Ergebnis vielleicht umso überzeugenderer Erfolg beschieden ist, stellt in einem durchaus vergleichbaren Zusammenhang auch ein neuzeitlicher, nicht weniger entschiedener Gegner relativistischer Auffassungen fest. In den Logischen Untersuchungen bemerkt Husserl (1980: 115 f.): „Daß es zur Definition der skeptischen Theorie gehört, widersinnig zu sein, ist aus der Definition ohne weiteres klar." Mit Blick auf die Mensuraformel fährt Husserl fort: Der individuelle Relativismus ist ein so offenkundiger und fast möchte man sagen, frecher Skeptizismus, daß, wenn er überhaupt je, so gewiß nicht in neueren Zeiten ernstlich vertreten worden ist. Die Lehre ist, so wie aufgestellt, schon widerlegt, aber freilich nur für den, welcher die Objektivität alles Logischen einsieht. Den Subjektivsten, wie den ausdrücklichen Skeptiker überhaupt, kann man nicht überzeugen, wenn ihm nun einmal die Disposition mangelt, daß Sätze, wie der vom Widerspruch im bloßen Sinn der Wahrheit gründen [...] Man wird ihn auch nicht durch den gewöhnlichen Einwand überzeugen [...], daß er die Objektivität der Wahrheit voraussetze, die er in thesi leugne. Er wird natürlich antworten: Mit meiner Theorie spreche ich meinen Standpunkt aus, der für mich wahr ist und für niemand sonst wahr zu sein braucht.9
9 Husserl erwähnt die Mensuraformel lediglich beiläufig im Rahmen der Kritik der psychologistischen Begründungsversuche der Logik, um deren Wahrheitsrelativismus zu verdeutlichen. Der Gedanke, den Husserl in seiner Relativismuskritik entwickelt, ist allerdings Piatons Argumentation in der Sache verwandt, wie es ja auch hier nicht so sehr um den historischen Protagoras geht, sondern um die Problemstellung, die an der Mensuraformel festgemacht wird. Und diese Problemstellung ist in gewisser Weise vergleichbar mit derjenigen, um die es Husserl geht. Da Husserl die Kritik am Psycho-
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Geht es in Husserls moderner Psychologismuskritik um die konstitutiven Bedingungen von Theorie, so geht es Piaton mit der Widerlegung des Relativismus offenbar darum, die Bedingungen der rationalen Argumentation, mithin auch jene des Dialoges hervortreten zu lassen. Soll ein Dissens mit Blick auf die Sache entschieden werden, so muß man Rechenschaft geben, das heißt, in einen Dialog eintreten. Hingegen begibt man sich in der Konsequenz des protagoreischen Relativismus des Anspruchs der Begründung und der Rechtfertigung von Wissensansprüchen. Bereits in den methodischen Überlegungen, die der Widerlegung vorausgehen, wird die philosophische Erörterung ausdrücklich vom bloßen Wortgefecht unterschieden. Den Unterschied zwischen beiden Formen der Rede macht Sokrates dadurch klar, daß er selber auf eristische, genauer gesagt: „antilogische" Weise agiert (164 c 8 - d 2). Piaton läßt dort beide in vertauschten Rollen agieren. Sokrates verteidigt als Sprachrohr des Protagoras dessen Behauptung, daß falsche Meinungen unmöglich sind, und plädiert für eine ernsthafte Prüfung. Auch Sokrates muß es sich nach Protagoras gefallen lassen, selber als „Maßstab der Dinge" zu gelten (167 d 3 - 4 ) . Sollte Sokrates dem aber nicht zustimmen wollen, so dürfe er jedenfalls nicht „unfair" vorgehen, sondern dem Gegner nur solche Fehler vorwerfen, die wirklich aus dessen Behauptungen folgen. Das ist auch geschehen. Sokrates hat gemeinsam mit Theodor, der Protagoras' Rolle als Dialogpartner vertritt, der Aufforderung Rechnung getragen, „sich in gegenseitigen Fragen und Antworten um seine Lehre ernsthaft zu bemülogismus ebenfalls aus dessen eigenen theoretischen Grundlagen heraus entwickelt, ist vor allem auch diese Vorgehensweise mit der Struktur des platonischen Arguments - als einer Form der immanenten Kritik - eng verwandt. Mit dem Aufweis der relativistischen Konsequenz des Psychologismus will Husserl zeigen, daß dieser die konstitutiven Voraussetzungen, überhaupt als Theorie auftreten zu können, aufgibt: „Der schwerste Vorwurf, den man [...] zumal gegen eine Theorie der Logik, erheben kann, besteht darin, daß sie gegen die evidenten Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt verstoße" (1980: 110). Entsprechend ist der relativistische Vorwurf mit dem des Skeptizismus eng verwandt; beide konvergieren in der fehlenden Theoriefähigkeit. Zum sogenannten noetischen Skeptizimus rechnet Husserl auch „die antiken Formen des Skeptizismus mit Thesen der Art wie: Es gibt keine Wahrheit, es gibt keine Erkenntnis [...] u. dgl." (1980: 112). Daher überrascht es nicht, daß Husserl auch Protagoras summarisch dem „Skeptizismus" zurechnet, was insofern nicht zutrifft, als der Protagoras des Theaitet nicht, wie etwa die spätere Skepsis i.e.S., die Möglichkeit von Wissen bestreitet, sondern am Wissen (als σοφία) sehr wohl festhält, nur eben einen objektiven Wahrheitsbegriff ausschließt. Die protagoreische Position ist daher zwar gerade keine Skepsis, doch treffen Husserls Bemerkungen dennoch den Kern der Sache.
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hen" (168 d 9 - e 1). Sokrates fingiert einen Dissens über die Mensuraformel. Eine These zu rechtfertigen setzt einen objektiven Wahrheitsbegriff voraus, der auch zu den konstitutiven Spielregeln des Dialoges gehört. Sobald man jedoch in die dialogische Erörterung eintritt, ist die relativistische These von der unterschiedslosen Wahrheit aller Meinungen in praxi schon widerlegt. U m überhaupt in einen Dialog eintreten zu können, muß die Behauptung, daß alle Meinungen gleichermaßen wahr sind, ihrerseits mit Wahrheitsanspruch auftreten.10 Zieht man sich hingegen auf die nur 'private' Geltung des Menurasatzes zurück, so gibt man die Möglichkeit der Argumentation, und streng genommen auch die Möglichkeit der Verständigung auf.11 Dadurch, daß die protagoreische Position die Bedingung der Möglichkeit des Dialoges in Frage stellt, werden auch die Voraussetzungen deutlich, die mit der F o r m des Dialoges anerkannt sind. Piaton thematisiert, mit anderen Worten, die konstitutiven Regeln der wissenschaftlichen Praxis als die Spielregeln des Dialoges.
10 Deutlich werden die Grundbedingungen des Dialoges auch zu Beginn des Kratylos. Zwar behauptet Kratylos - der ja die protagoreische Position vertritt, man könne keine falschen Sätze äußern, da dies bedeute, „Nichtseiendes auszusagen" (429 D) - , es gebe eine „natürliche Richtigkeit der Namen", doch ist er, wie Hermogenes eingangs betont, nicht dazu bereit, auf Nachfrage seine These zu erläutern. Er erklärt nämlich nicht, „was er damit eigentlich meint". Der Grund ist nicht bloß eine mangelnde Bereitschaft zum Dialog, auf den sich Kratylos später doch einläßt. Das Klärungsbedürfnis entzündet sich gerade an Kratylos' Behauptung, der Name des Hermogenes sei jedenfalls für diesen nicht 'richtig', die er aber nicht weiter erläutert. Kratylos' These von der naturhaften Richtigkeit ist nun deshalb nicht dialogfähig, weil sie die Voraussetzungen bestreitet, die Sokrates sodann aufzeigt, nämlich die Tatsache, daß man die sprachlichen Mittel gleichsam als Werkzeuge einsetzt, um die Dinge, von denen die Rede ist, zu unterscheiden und sich gegenseitig das jeweils Gemeinte mitzuteilen. Auch dort steht der Gedanke im Vordergrund, daß das Handeln, so auch die Redepraxis, nicht nur „für jemanden" gelten kann, sondern an der Natur der Sache ausgerichtet sein muß (Kratylos 387 A - D). 11 Hierauf weist McDowell (1973: 171) hin: Zwar könne Piaton nicht zeigen „that (Ρ) [der Mensurasatz, J.H.] is false for Protagoras [...] But it still leaves Protagoras in a vulnerable position", und zwar aus zwei Gründen. Erstens ginge die Pointe der Mensura-Lehre gerade verloren, wenn sie nur für Protagoras selber wahr wäre. Zweitens „could be argued [...] that our apparent ability to understand clames of the form "that p', in sentences of 'Protagorean' forms like It is true for me that p, but false for you that p, depends on our covertly importing the notion of the conditions under which it would be true, simpliciter, that p. [...] Without the concept of truth simpliciter, Protagoras would find it difficult to justify his assumption that he and his opponents speak the same language, or at any rate understand each other."
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3.3. Die Ethik der Wahrheitssuche (171 d - 1 7 7 b)
Die Prüfung von V^issensansprüchen ist das Lebenselexier der somatischen Mäeutik, die hingegen aus protagoreischer Sicht als nutzloses Unternehmen erscheinen muß (161 e 3 - 6). Dies nimmt Sokrates zum Anlaß, einen längeren Exkurs in die politische Lebenswelt zu unternehmen, in dem auch das ethische Motiv der Wissensfrage zur Sprache kommt. In dem Exkurs geht es auch darum, welche Dinge aus welchen Gründen eigentlich wissenswert sind. Im Mittelpunkt steht die ethische Kernfrage der frühen Dialoge: die Frage nach dem guten Leben. 12 Sokrates stellt zwei Formen des Wirklichkeitsverständnisses einander gegenüber: die Lebensweise (und die Handlungsmotive) des Rhetoren einerseits und die des Philosophen andererseits. Dabei nimmt er zum einen den zuvor in praxi demonstrierten Gedanken der dialogischen Auseinandersetzung, zum anderen den pragmatischen Aspekt des Relativismus auf. Gegen Protagoras hat Sokrates darauf hingewiesen, daß niemand die protagoreische Behauptung, wonach sich die Meinungen hinsichtlich ihrer Wahrheit nicht unterscheiden ließen, für richtig halte. Denn die Menschen hielten nicht-sachkundige Uberzeugungen eben für Irrtümer, die es Protagoras zufolge nicht geben könne. Im privaten Handeln folgt offenbar niemand ernstlich dieser Auffassung. Nun deckt Sokrates die Kehrseite der Medaille auf: Was nämlich das politische Handeln betrifft, so folgen die Menschen gerade hier in der Tat der protagoreischen Position, nämlich insofern, als sie glauben, daß es hier, im Unterschied zu Wissenschaft und Handwerk, nicht auf objektive Kriterien für gerechte Handlungen ankommt. In der politischen Praxis geht es um das gerechte, und das heißt immer auch vorteilhafte Handeln. Uber die gerechten und ungerechten Handlungen wird in den gesetzgebenden Beratungen der Polis oder vor Gericht entschieden. Dabei orientiert man sich an den Uberzeugungen darüber, was jeweils von Vorteil zu sein scheint. Diese Praxis prägt das Handeln der Rhetoren. Sie fragen 12 Grundsätzlich zur Frage nach dem guten Leben als Kernfrage der platonischen Philosophie vgl. Stemmer (1988) und Wolf (1996).
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nicht nach der Gerechtigkeit selbst, sondern handeln nach partikularen Interessen. Wo über das Gerechte entschieden wird, dort agieren sie als Redner, indem sie einen bestimmten Standpunkt durchzusetzen suchen. Ihr Handlungsmotiv, in politischen und juridischen Debatten erfolgreich zu sein, prägt auch die Form ihrer Rede. Da es in der Polis und vor Gericht einzig darauf ankommt, die Hörer zu überzeugen und auf diese Weise die gewünschte Meinung über das Gerechte zu 'bewirken', ist ihre Rede dem Ziel verpflichtet, um jeden Preis siegreich zu sein. Dabei handeln sie, wie Sokrates betont, jedoch nicht freiwillig, sondern willfahren sowohl in ihrer Handlungs- wie auch in der Redeweise äußeren Zwängen. Der Gegenstand der Rede ist ihnen vorgegeben, und die Darstellung unterliegt äußeren prozeduralen Restriktionen. So steht die Rede vor Gericht unter Bedingungen, verkörpert durch das zeitliche Diktat der Wasseruhr, die es unmöglich machen, sich um die Wahrheit zu bemühen.13 Dieser Zwang zur Überzeugung betrifft jede Rede, die der äußeren Instanz eines Richters unterliegt. Mögen die Rhetoren in der politischen Praxis auch klug und erfolgreich agieren, so richtet sich ihr Denken und Handeln doch stets nach äußeren, partikularen Zwängen. Sie führen ein Leben in geistiger Knechtschaft, in der auch die politisch Mächtigen befangen sind.14 Die so beschriebenen Rhetoren gleichen jenen in der Höhle Gefesselten, von denen in dem Gleichnis von der Höhle im „Staat" die Rede ist. Die Ähnlichkeit zeigt sich vor allem in der 'Blindheit', in der die unfreien Rhetoren zwangsläufig befangen sind. Sie sind sich über ihre unfreie Lage nicht im klaren. Sie handeln daher auch nicht wirklich freiwillig, sondern in einem Zustand einfältiger Selbsttäuschung, den sie freilich, solange sie darin gefangen sind, nicht erkennen können. Die Uberwindung ihrer Selbsttäuschung erfordert die Umwendimg des Blicks, weg von den Schatten hin zur Wirklichkeit. So aber halten sie sich selber durchaus für klug. Sollen sie jedoch im philosophischen Gespräch 13 172 D - E 14 Gorgias 465 D f. Das gegensätzliche Wirklichkeitsverständnis von Rhetorik und Dialektik hat sowohl einen erkenntnistheoretischen als auch einen ethischen Aspekt. Denn in den unterschiedlichen Redeweisen von Rhetor und Philosoph zeigen sich auch die unterschiedlichen Lebensweisen. Diesen Zusammenhang bringt Piaton auf thematische und dramaturgische Weise vor allem auch im Gorgias zur Sprache, vgl. Kobusch (1996: 47 ff.).
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Rede und Antwort stehen, „so schwindet ihre Kunst so dahin, daß sie sich in nichts von Kindern unterscheiden lassen" (177 b6-7). Die Haltung der klugen und zugleich einfältigen Rhetoren verkörpern in Piatons Dialogen etwa die Figur des Gorgias und ebenso die des Thrasymachos, mit dem Sokrates das Gespräch über die Gerechtigkeit im „Staat" eröffnet, das schließlich auf die Frage nach der Idee des Guten als des höchsten Wissens führt. 15 Dieses Wissen muß die Handlungsweise des nicht auf den eigenen Vorteil bedachten Philosophenregenten leiten, dem Sokrates die Pflicht zur, allegorisch gesprochen, Rückkehr in die Höhle auferlegt. Die Umwendung des Blicks ist allerdings jedem Έewohner der Höhle' möglich, da die Seele eines jeden dazu fähig ist. Im „Staat" steht die allegorische Darstellung des Aufstiegs aus der Höhle ans Tageslicht für den Bildungsgang des Philosophen. Hier charakterisiert Sokrates die Einfalt des Rhetoren als einen Mangel an Bildung, womit offenbar vor allem auch die mangelnde Fähigkeit zur Selbstreflexion gemeint ist. Im Sophistes wird derjenige „ungebildet" genannt, 16 dem es auf die Unterscheidung von vermeintlichem und wirklichem Wissen nicht ankommt und daher in einer Selbsttäuschung über die eigenen Meinungen befangen ist. Diese Selbsttäuschung prägt auch die Lebensweise der hier geschilderten Rhetoren. Ihr Wirklichkeitsverständnis ist ihnen ebenso undurchsichtig, wie die Gefesselten der Höhle die Schatten bereits für die ganze Wirklichkeit halten. Der Lebensweise der unfreien Rhetoren stellt Sokrates die Haltung der Philosophen gegenüber. Im Gegensatz zu den Rhetoren, ist das geistige Handeln der Philosophen auf die Frage nach der Gerechtigkeit oder des Glücks selbst gerichtet. Dies ist der Weg, „in einsichtiger Weise gerecht" und damit gottähnlicher zu werden (176 b2-3). 17 Ihr Interesse ist von der politischen Wirklichkeit abgewandt. Ihnen geht es vielmehr um Fragen nach der Natur der Dinge (174 a 1), deren Kernfrage lautet: „Was ist der Mensch?" (174 b 3). Das philosophische Interesse gilt nicht den partikularen Dingen der politischen Praxis, so etwa den konkreten gerechten oder 15 Politeia 505 A ff. 16 230 C - E 17 Der Gedanke der Verähnlichung mit Gott (όμοίαχπς θεφ) ist dann auch für den Piatonismus von großer Bedeutung, vgl. hierzu Krämer (1964) und zur Wirkungsgeschichte auch Schmitz-Perrin (1993).
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ungerechten Handlungen oder den einzelnen Gütern wie Glück, Reichtum und Macht, nach denen die Menschen streben. Alles dies gilt den Philosophen nicht als erstrebenswert, ja sie kennen es nicht einmal. Für politische Amter, Herkunft, Einfluß und dergleichen Dinge interessieren sie sich nicht. Allerdings ist zu beachten, daß diese Beschreibung auf diejenigen zutrifft, die nach Sokrates' Worten ganz in der Philosophie aufgehen. Sokrates spricht von denjenigen, denen das politische Leben nicht bloß gleichgültig, sondern geradezu unbekannt ist. Die Philosophen wissen buchstäblich nicht, worum es etwa vor Gericht sowie in der 'schattenhaften' Welt des partikularen Nutzens insgesamt, in dem sich die Rhetoren ausschließlich bewegen, überhaupt geht. Wer sich ausschließlich mit der Philosophie befasse, der kenne noch nicht einmal den Weg zum Marktplatz. Im Grunde halte nur sein Körper sich im irdischen Leben auf. Allerdings könnten die Philosophen vor Gericht und in ähnlichen Angelegenheiten nicht erfolgreich handeln. Sie sind im politischen Leben handlungsunfähig. Als Paradebeispiel nennt Sokrates Thaies, den, wie die Anekdote zu berichten wisse, eine thrakische Magd verspottet habe, er möge zwar wissen, was am Himmel vor sich gehe, doch bleibe ihm offenbar verborgen, was sich vor seinen Füßen abspielt. „Dieser Spott betrifft alle, die ganz in der Philosophie aufgehen" (174 a 8 - 9). Mit der Bemerkimg, wer sich mit der Philosophie beschäftige, mache „vor Gericht als Redner einen lächerlichen Eindruck" (172 c 2 - 5) beginnt Sokrates die Digression in die politische Lebenswelt. Er zögert zunächst noch, der Sache weiter nachzugehen, doch Theodor ermutigt ihn fortzufahren, und zwar mit dem Hinweis auf die Dialogpraxis, in der sich ihre Form der Rede von jener der Rhetoren gerade unterscheidet. Darin liegt zum einen auch die Gemeinsamkeit mit der von Sokrates beschriebenen philosophischen Einstellung. Der auf die Sache selbst gerichteten philosophischen Betrachtungsweise entspricht nun auch die Form der Rede. Folgt die Rhetorik den Zwängen des politischen Alltagsgeschäfts, so zeichnet sich hingegen die philosophische Redeform durch Muße aus. Die philosophische Rede unterliegt nicht der Instanz eines Richters.18 Denn in den an der Sache ausgerichteten Diskussionen, verhält es sich 18 Vgl. Pohteia 348 A - Β.
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nach Theodors zustimmenden Worten so, „daß wir hier in unserem Kreise nicht Knechte der Reden, sondern die Reden gleichsam unsere Diener sind. [...] Denn bei uns führt weder ein Richter noch wie bei den Dichtern ein Zuschauer den Vorsitz" (173 c 1 - 5). Hier kommt ausdrücklich zur Sprache, was die Dialogpartner soeben praktizieren, denn so wie sie „jetzt gerade" schon die dritte Überlegung anstrengten, so machten es auch die Philosophen, die sich eben darin von den unfreien Rhetoren unterscheiden. In dem Gegensatz der Betrachtungsweisen spiegelt sich der Gegensatz der Formen der Rede. 19 Die verschiedenen Formen der Rede entsprechen dem Wirklichkeitsverständnis und ebenso dem gegensätzlichen Selbstverständnis von Philosophen und unfreien Rhetoren. Uber die Philosophen sagt Sokrates, sie interessierten sich nicht für partikulare Handlungen, sondern fragten nach der Gerechtigkeit selber. Auch Sokrates fragt ausdrücklich nach dem „Wissen selbst". Allerdings sind auch die Philosophen in gewisser Hinsicht unwissend und blind, nämlich gegenüber der 'Schattenwelt'. Sie wissen nicht um ihre Unkenntnis von der politischen Lebenswelt. Auch ihnen ist ihre Situation nicht durchsichtig. Ihnen fehlt der Rekurs auf die Praxis, von der die einfältigen Rhetoren ausschließlich geprägt sind. Die Naivetät und Unbedarftheit des Philosophen bildet das umgekehrte Pendant zur verblendeten Einfalt und Befangenheit des Rhetoren. Beiden ist gemeinsam, daß sie nur in ihrer Welt leben und jeweils von der Welt des anderen nichts wissen. Die Einsicht der 'reinen Philosophen' kann daher auch im Handeln nicht wirksam werden. 19 Zwar grenzt Piaton die philosophische Rede von der sophistischen Rhetorik ab, doch ist die Rhetorik, als die Reflexion auf die Bedingungen und Wirkungen der Rede, andererseits auch ein Bestandteil der Philosophie. Zum ambivalenten Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik vgl. die Darstellung von Niehues-Pröbsting (1987: 43649). Zwischen der sophistischen Rhetorik, wie sie etwa im Gorpas behandelt wird, einerseits, und der Rhetorik als 'Kunst der Darstellung' andererseits, ist zu unterscheiden. Sokrates' Kritik gilt der sophistischen Rhetorik. Im übrigen ist wohl auch nicht Protagoras selber mit der Schilderung der unfreien Rhetoren gemeint, sondern eher seine Klientel. Der Protosophist fungiert hier vielmehr als Theoretiker der Rhetorik. Für ihn gilt die Selbsttäuschung der einfältigen Höhlenbewohner nicht im selben Maße. Denn ein geschickter Produzent von Trugbildern, der sich die Ähnlichkeit zwischen den Bildern und der Wirklichkeit zunutze macht (vgl. Sophistes 234 C), muß auch die Wahrheit kennen. „Wer den anderen täuschen, sich selbst aber nicht täuschen lassen will, der muß die Gleichheit und Verschiedenheit der Dinge gründlich kennen" (Phaidros 261 E). Hierin liegt im übrigen auch die Gefährdung für die Philosophie, denn auch die Dialektik kann mißbräuchlich verwendet werden (Politeia 539 Β - C).
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Darin liegt auch der Unterschied zur sokratischen Form des Philosophierens. Sokrates unterscheidet sich nämlich von denen, „die ganz in der Philosophie aufgehen", in der wesentlichen Hinsicht, daß er auch die politische Praxis kennt. Zwar sprechen Theodor und Sokrates von „unserem Kreis", doch gehören beide gerade nicht in jeder Hinsicht zu den Philosophen vom Schlage des Thaies. Schon der Hinweis auf den Marktplatz läßt aufmerken. Gleich zu Beginn der Beschreibung der Philosophen heißt es, daß sie nicht einmal den Weg zum Marktplatz kennen, so sehr sei ihnen das weltliche Treiben gleichgültig. Daß sie ausgerechnet diesen Weg nicht kennen, steht im auffälligen Gegensatz zu Sokrates, ist doch der Marktplatz seine ureigene Wirkungsstätte. Wer ganz in der Philosophie aufgeht, der ist im Bereich des praktischen Handeln nicht nur unerfahren. Er kennt die für die Bürger der Polis so wichtigen Dinge nicht und, wie Sokrates ausdrücklich sagt: „Von all diesen Dingen weiß er nicht einmal, daß er es nicht weiß" (173 e 1 - 2). Daß diese Unkenntnis auf Sokrates gerade nicht zutrifft, beweist die einfache Tatsache, daß er eben diese beiden gegensätzlichen Lebensweisen so genau zu beschreiben vermag, wie er es hier tut. Für Sokrates kann der Spott der thrakischen Magd nicht gelten, da er nur zu gut weiß, was sich auf dem Boden der Tatsachen abspielt. Anders als der Philosoph vom Schlage des Thaies, ist Sokrates mit beiden Welten vertraut.20 Er kennt die Schauplätze, auf denen die Rhetoren agieren, nur zu gut. Und Sokrates, der sich selber für keineswegs weise hält, erklärt hier Theodor gegenüber mit einigem Nachdruck (176 b 1), daß er in dieser Sache sehr genau weiß, wovon er spricht. Sokrates steht für die Verbindung der Einsicht in die Ideen des Guten und der Gerechtigkeit mit dem wirklichen Handeln.21 20 Vgl. auch die Eingangsszenerie des „Staates": Sogleich im ersten Satz spricht Sokrates davon, daß er am Vortage auch deshalb in Piräus gewesen sei, um sich die dortigen Festlichkeiten anzuschauen. Das Interesse an diesen Dingen gehört nicht weniger zur Person des Sokrates wie das dann folgende Gespräch. Wäre Sokrates nicht mit beiden Welten vertraut - da es ihm um das Handeln mit Einsicht geht, um des richtigen Lebens willen - , sondern jemand, „der ganz in der Philosophie aufgeht", so könnte er überhaupt nicht verstehen, wovon Thrasymachos, der Verfechter des Handelns um des eigenen Vorteils willen, eigentlich spricht. 21 Entsprechend kommt die Dialektik, in Sophistes 253 C als „Wissenschaft freier Menschen" bezeichnet, im „Staat" als zentraler Bestandteil der Erziehung des Philosophenregenten zur Sprache. In dieser Figur kristallisiert sich die Verbindung von Erkenntnissuche und Ethik, und ebenso zwischen Theorie und Praxis, die hier auch in 171 D -177 Β aufscheint. Im Höhlengleichnis des „Staates" kommt dieses Motiv allego-
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Ihm kommt es darauf an, die Einsicht in die genuin philosophischen Fragen mit dem lebensweltlichen Handeln zu verbinden. Dies getan zu haben, hat Sokrates die Anklage des Athenischen Stadtstaates eingebracht, die er - auf der dramaturgischen Ebene - am Ende des im Theaitet geführten Gesprächs entgegennehmen wird. Auf diese Weise setzt Piaton hier auch den Einbruch der empirischen Realität in die Kontinuität der philosophischen Argumentation in Szene. Die Episode ist wohl nicht zuletzt auf dem Hintergrund des Sokrates-Prozesses zu lesen, auf den die Schlußbemerkung des Dialoges anspielt. Im Höhlengleichnis des „Staates" spricht Sokrates davon, daß diejenigen, die in der Höhle leben und die Schatten für die Wirklichkeit halten, auch die von außerhalb der Höhle gesprochenen Worte für Bezeichnungen eben der Schattenbilder halten, die sie vor sich sehen.22 Da sie die Dinge niemals im klaren Licht des Tages gesehen haben, können sie auch die Wörter nur auf die Schattenbilder der wirklichen Dinge beziehen. Ihr Sprachgebrauch spiegelt ihr eingeschränktes Verständnis der Wirklichkeit. Ist nun in der politischen Praxis vom Gerechten und Ungerechten die Rede, so werden die in ihrer Selbsttäuschung Gefangenen der Höhle daher unter Gerechtigkeit nichts anderes verstehen, als die „Schatten der Gerechtigkeit", um die etwa vor Gericht gestritten wird. In dieser Befangenheit besteht auch die geistige Knechtschaft der Rhetoren. Für sie stellt sich weder die Frage nach der „Gerechtigkeit selbst" noch die Notwendigkeit, zwischen bloßen Meinungen und Wissen unterscheiden zu können. So ist auch ihre Redepraxis ihnen nicht durchsichtig. Diese Selbsttäuschung aufzuklären, ist das Ziel der dialektischen Verfahrensweise. Zu Beginn des Dialoges heißt es, man könne nicht vom Wissen reden, ohne die Sache zu kennen. Dieses Motiv wird nochmals betont, wenn Sokrates im Anschluß an den Exkurs die Kritik an Protagoras fortsetzt, und mit Blick auf das gerechte Handeln betont, man solle nicht die Wörter betrachten, sondern die Sache, von der die Rede ist (177 e 1 - 2). risch in der Rückkehr des von den Fesseln Befreiten in die Schattenwelt der Höhle zum Ausdruck {Politela 517 C). Mit dem allegorischen Element der Rückkehr in die Höhle wird „die praktische Ausrichtung auch noch des höchsten Wissens verdeutlicht. Wer die Idee des Guten erfaßt hat, kennt nicht nur das Prinzip alles Seins und Erkennens. Die Einsicht in sie ist zugleich das Prinzip alles vernünftigen privaten und politischen Handelns" (Wieland 1982: 222 f.). 22 Politeia 514 Β - D.
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Diese Sache ist hier nun das politische Handeln. Richtig zu handeln, heißt mit Wissen zu handeln. Da man im politischen Handeln auf seine eigene Urteilskraft verwiesen ist, scheint hier Protagoras' These vom Einzelnen als Maß der Dinge im Recht zu bleiben. Und dieser Geltungsanspruch, über den bislang noch nicht entschieden ist, steht nun zur Diskussion. Wenn die Meinungen darüber, was in der Polis gerecht und nützlich zu sein scheint, nicht das letzte Wort behalten sollen, so muß man auch im politischen Handeln, wo keine 'Meßkunst' zur Verfügung steht, nach objektiven Kriterien urteilen können. 23
3.4. Der praktische Geltungsanspruch (177 c -179 b) Die wahrheitsindifferente Position des Protagoras hat sich zwar als begründungs- wie dialogunfähig erwiesen, doch läßt Piaton Sokrates abschließend dennoch erwägen, „ob wir nicht am Richtigen vorbeirennen" (171 c 9 -10). Dieser Zweifel bezieht sich wohl nicht zuletzt darauf, daß es bislang lediglich um die theoretische Dimension gegangen ist. Das „richtige" Gebiet der Relativismuskritik ist offenbar eben das angestammte Metier des Protagoras: die rhetorisch-politische Praxis. Noch einmal knüpft Sokrates an das Kriterium der unterschiedlichen Sachkunde an: Das meiste nämlich ist genau so für jeden, wie es ihm erscheint, Warmes, Trockenes, Süßes und alles von dieser Art. Wenn er (Protagoras) aber in einigen Punkten Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen zugibt, dann wird er doch wohl beim Gesunden und Kranken sagen wollen, daß hier nicht [jeder] [...] in der Lage ist, sich selbst zu heilen, indem [er zu wissen glaubte], was [für ihn] gesund ist. (171 e 1-7) Mag auch niemand ausdrücklich der protagoreischen Behauptung von der Unmöglichkeit von Irrtümern zustimmen, so folgt man der protagoreischen Auffassung in gewisser Hinsicht gerade in praxi umso mehr. Was nämlich gerecht zu sein scheint, was man also für gerecht hält, und in ent23 Vgl. Protagoras 357 A - C.
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sprechenden Meinungen zum Ausdruck bringt, das ist es auch faktisch, nämlich insofern, als es in einer Polis als - modern formuliert - positives Recht anerkannt ist. Hier fallen Für-gerecht-halten und Gerecht-sein in Gestalt der tatsächlichen Geltung des Rechts in der Tat zusammen. Das hängt mit dem eigentümlichen deskriptiv-normativen Doppelcharakter der Meinungen über das „Gerechte", also der ethisch-politischen Uberzeugungen zusammen. Was die Polis für gerecht hält, das gilt dann auch als Recht, sofern die Uberzeugungen zu entsprechenden legislativen Entscheidungen führen. Hier -werden die Tatsachen durch die Meinungen selber hervorgebracht, ganz so, wie im protagoreisch-herakliteischen Interaktionsmodell der phänomenalen Wahrnehmung, die wahrgenommenen Eigenschaften dadurch allererst 'entstehen', daß jeweils eine bestimmte Person (genau genommen: der wahrnehmende Teil des „Zwillingspaares") in einem bestimmten Augenblick mit dem Wahrgenommenen „zusammenwirkt". Ebenso wie dem Wahrnehmbaren keine ihm eigene Natur, keine objektive Beschaffenheit zukommt, so verhält es sich danach auch mit den Vorstellungen über das Gerechte. Wenn die Mitglieder einer Polis nun an einem so verstandenen ethischen Relativismus festhalten, so scheinen sie darin der protagoreischen Position zu folgen, die ja, als Kunst der Überzeugungskraft, auf die politischen Meinungen gerade zugeschnitten ist. Der gemeinsame Bezugspunkt zum ersten Gegenargument liegt darin, daß die Teleologie des Handelns notwendig die Objektivität des Gegenstandsbereichs voraussetzt, und zwar der bloßen Möglichkeit des Handelns wegen. Ungeachtet der zuvor thematisierten Frage nach der Gerechtigkeit selber, teilt alles Handeln mit dem im engeren Sinne technisch sachverständigen Handeln die Eigenschaft, daß man jeweils einen bestimmten Nutzen intendiert, auf einen Handlungserfolg zielt. Der mögliche Erfolg liegt freilich in der Zukunft. Der gesamte Bereich der auf die Zukunft gerichteten Meinungen scheint die protagoreische Formel zu widerlegen. Doch ganz so einfach macht Sokrates sich die Sache nicht.24 Daß sich zukunftsbezogene Meinungen als irrtümlich erweisen können, weil der intendierte Handlungserfolg oft verfehlt wird - wie Sokrates 24 Für eine sehr interessante, alternative Interpretation sei auf den Aufsatz von Puster (1994) verwiesen.
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schon gegen Thrasymachos geltend gemacht hat25 - , ist für die Auseinandersetzung mit Protagoras nicht der entscheidende Punkt. Mit der Rede davon, daß nicht alle Meinungen über die Zukunft in gleicher Weise „maßgeblich" sind, kann nicht bloß gemeint sein, daß zukunftsbezogene Urteile nicht schon gegenwärtig wahr sein können. Wäre nur dies gemeint, hätte Sokrates die Erörterung an dieser Stelle abschließen können. Hier setzen allerdings die Folgerungen erst ein. Da jede Handlung auf die Zukunft verweist, kann niemand entscheiden, ob eine als nützlich intendierte Handlung tatsächlich Nutzen erbringen wird. Diese Tatsache ist jedoch unabhängig von der unterschiedlichen Sachkompetenz von Experten und Laien. Der Kern des Arguments scheint vielmehr im teleologischen Aspekt der handlungsleitenden Meinungen zu liegen. Hier ist daran zu erinnern, daß Sokrates auch deshalb die Unterredung mit Theodor als Treuhänder der protagoreischen Auffassung führt, weil sich am Ende herausstellen soll, ob diese Auffassung mit dem wissenschaftlichen Sachverstand vereinbar ist, ob sich also jeder Mensch gleichermaßen etwa auf Astronomie und Geometrie versteht. Auch diese Überlegung mißt Protagoras nun am eigenen Maßstab. Denn Protagoras nimmt ja für seine Kunst, die der Sophisten, ebenfalls eine besondere Form technischen Sachverstands in Anspruch, nämlich jene Kunstfertigkeit, vorteilhaftere Meinungen bewirken zu können. Diese Meinungen sind nach dem protagoreischen Verständnis zwar nicht „wahrer", aber „vorteilhafter" als andere Meinungen (167 b 1 - 4). Genau dies sind die Uberzeugungen über „das Gerechte", die auf eben jenen „zukünftigen Nutzen" zielen, um den es im politischen Handeln geht. Erfolgreich handeln zu können, setzt ein entsprechendes Urteilsvermögen voraus, zu dem die Fähigkeit gehört, die Umstände der Handlungen so einzuschätzen, daß sich der intendierte Erfolg einstellt. Erfolg und Nichterfolg der Handlung sind somit Prüfsteine der Wahrheit oder Falschheit jener Urteile, denen der Handelnde folgt. Dies gilt freilich nicht allein für die Ausübung handwerklicher und wissenschaftlicher Disziplinen, doch wird es am Unterschied zwischen Experten und Laien besonders augenfällig.
25 Politeia 338 C ff.
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H i e r k o m m t , wie ich meine, der für Piatons Philosophie bedeutsame G e d a n k e der Teleologie des Handelns in seiner epistemischen D i m e n s i o n zur Geltung. 2 6 „Maßgeblich" zu sein, bedeutet hier, sachverständig zu urteilen. G e h t es etwa u m die Heilung eines K r a n k e n , so ist hier offenk u n d i g nicht jedermann in gleicher Weise sachverständig, vielmehr erfordert die H e i l u n g ein medizinisches Wissen, über das nur derjenige verfügen kann, der weiß, welche Behandlungsmethode angemessen ist. A u f diesen P u n k t hat Sokrates Protagoras festgelegt: „ W e n n überhaupt irg e n d w o " , dann unterscheiden sich die Einzelnen in diesem sachverständigen Wissen, auf das ja Theaitet eingangs hingewiesen hat. D a s Gemeinsame des Schusters, des Z i m m e r m a n n s und des Arztes liegt nun unter 26 Wer über wirkliches Wissen verfügt, der kann für Piaton im Grunde stets nur auf richtige Weise handeln und auch nur das objektiv Richtige wollen. Die Bedeutung dieses Zusammenhangs hat Wieland für den epistemischen Typus des „GebrauchsWissens" herausgearbeitet. Der Sachverständige wird aus seinem 'technischen' Gebrauchswissen heraus immer schon das objektiv Richtige, der Natur der Sache Angemessene intendieren, das er sich im richtigen Handeln als das subjektiv richtige Ziel zu eigen gemacht hat. Insofern kann man nicht nur in subjektiver Hinsicht ein falsches Ziel nicht als solches intendieren, sondern man kann auch in objektiver Hinsicht nur das der Sache nach Richtige anstreben. Der teleologische Gedanke ist nun vor allem für Piatons Ethik relevant, deren Kern in dem sokratisch-platonischen Diktum zum Ausdruck kommt, daß niemand freiwillig Unrecht tut. „Sokrates deutet fehlgeleitetes Handeln mit Hilfe der Denkfigur des irrenden Willens" (Wieland 1982: 276). Er orientiert sich dabei an einem „Modell des Handelns, das sein jeweiliges Ziel höchstens unbeabsichtigt verfehlt", und dieses Modell beruht auf der „Vorstellung einer durchgängigen teleologischen Ausrichtung alles Handelns" (ebd.: 268). Er geht dabei von der Überlegung aus, daß man zwar niemals gegen die eigenen Intention handeln, sich aber über die eigentlichen Ziele seines Handelns irren kann, und sucht seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, daß man oftmals mit einem nur vermeintlichen Wissen über die normativ richtigen Ziele handelt. Wie Sokrates in der Episode betont, scheint sich ja bei der Frage nach den gerechten oder ungerechten Handlungen jedermann für sachverständig zu halten (172 B). Doch im Unterschied zum technischen Wissen, über dessen Ziele man sich nicht wirklich irren kann, verfügt man gerade nicht über ein vergleichbares ethisch-praktisches Wissen, weshalb man in diesem Bereich immer wieder „unwissentlich und unwillentlich" daneben greift. Der Einsicht darin, daß man oftmals über ein nur vermeintliches praktisches Wissen verfügt, dient in letzter Instanz auch Sokrates' Prüfung von Wissensansprüchen. Ein praktisches Wissen ist indessen für das richtige Handeln unabdingbar, im Sinne der Maxime, sich stets über die Bedingungen und Ziele des eigenen Handelns Klarheit zu verschaffen, und im Konfliktfalle eher Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Gegenüber den Vertretern der gegenteiligen Auffassung macht Sokrates deutlich, daß man sich gerade dann, wenn man nur zum eigenen Vorteil handelt, darüber irrt, was für einen selbst gut und nützlich ist. „Der Satz von der Unfreiwilligkeit alles Unrechttuns und der Satz, gemäß dem Unrechttun [... ] auch schlimmer ist als Unrechtleiden, gehören der Sache nach zusammen. Wer nämlich im Konfliktfall dem Unrechttun den Vorzug gibt vor dem Unrechtleiden, weiß in Wirklichkeit gar nicht, was er tut." (ebd.: 278).
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anderem darin, daß in allen Fällen die Handlung auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist: die Herstellung von Schuhen, eines Hauses oder die Heilung des Patienten. Um dieses Handlungsziel zu verwirklichen, muß man nach bestimmten, erlernten Regeln der Kunst verfahren. In politischen Angelegenheiten scheint nun aber jeder gleichermaßen sachkundig zu sein. Bei den Fragen nach den gerechten und ungerechten Handlungen verhält es sich offenbar tatsächlich so, wie es den Mitgliedern einer Polis, den stimmberechtigten Vollbürgern, mehrheitlich richtig zu sein scheint, so daß es auch normativ entsprechend als richtig, also als rechtlich geboten gilt (172 a 1 - 5). In der Beurteilung gerechter Verhältnisse und Handlungen ist weder der einzelne Bürger sachkundiger als ein anderer, noch handeln die Bürger eines bestimmten Stadtstaates insgesamt sachkundiger als die eines anderen.27 Was in einer Gemeinschaft mehrheitlich für gerecht gehalten wird, das wird als geltendes Recht festgelegt. Rechtliche und ethische Normen gelten demnach nur für eine bestimmte Polis als Rechtsgemeinschaft. Solange etwas für gerecht gehalten wird, gilt es auch als positives Recht. Diese politische Situation bildet den Wirkungsraum der sophistischen Lehrund Redepraxis, deren programmatischen Kern Protagoras in seiner fiktiven Verteidigung prägnant formuliert: Sachkundig ist, „wer für einen von uns, dem etwas Unvorteilhaftes [so zu sein] scheint und [es dann auch] ist, eine Verwandlung bewirken und damit erreichen kann, daß ihm etwas Gutes erscheint und ist [...] Die sachverständigen und guten
27 Daß es in politischen Entscheidungen keine Fachleute gibt, sondern jeder einzelne Bürger gleichermaßen berechtigt und befähigt ist, an der Diskussion politischer Entscheidungen teilzunehmen, wird von Protagoras schon im gleichnamigen Dialog im Zusammenhang mit der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend behauptet und aus dem Prozeß der Kulturentstehung hergeleitet (Protagoras 319 C f., vgl. Euthydem 303 D - E). Die arete umfaßt neben der Fähigkeit der Wohlberatenheit in privaten Angelegenheiten auch die für die öffentlichen Angelegenheiten erforderliche „politische Kunstfertigkeit", deren Notwendigkeit Protagoras mit der überlebenswichtigen Bildimg und Festigung der menschlichen Gemeinschaft in Städten begründet. Eben diese Fertigkeit zu lehren, boten die Sophisten sich an. Daß der sophistische Unterricht voraussetze, daß es falsche und wahre Ansichten unter denjenigen geben müsse, die sich die Sophisten zum Lehrmeister wählen, kommt im Protagoras nicht eigens zur Sprache, da dort allein die Verbindung von Rechtschaffenheit und Wissen, nicht bereits die Frage nach dem Wissen selbst thematisiert wird (vgl. Bröcker 1967: 38 ff.). Die Erörterung der Frage, was das Wissen selbst sei, wird dort interessanterweise an einer entscheidenden Stelle (ιProtagoras 357 Β - C) auf einen späteren Zeitpunkt vertagt.
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Redner bewirken, daß in den Städten das Gute anstelle des Unvorteilhaftem gerecht zu sein scheint." Diese Überlegung nimmt Sokrates auf: Was aber das für [eine Stadt] jeweils Vorteilhafte oder Schlechte angeht, da wird er (Protagoras) jedenfalls - wenn überhaupt irgendwo - zugestehen, daß sich ein Ratgeber vom anderen unterscheidet und auch die [gemeinsame] Meinung eines Staates jeweils von der anderen in bezug auf ihre Wahrheit, und er wird wohl nicht behaupten, daß das, was eine Stadt für sich jeweils als vorteilhaft ansieht und entsprechend festlegt, dann auch tatsächlich vorteilhaft sein wird. (172 a 5 - b 2) Es liegt auf der Hand: Nicht alle Meinungen, auf denen die Gesetzgebungen und Entscheidungen der Polis als Rechts- und Interessengemeinschaft beruhen, sind den politischen Verhältnissen und Entwicklungen angemessen. „Wenn überhaupt irgendwo", so unterscheiden sich die Ratgeber in dieser Hinsicht. An dieser Stelle setzt zunächst der Rhetorik-Exkurs ein. Anschließend ruft Sokrates nochmals den Zusammenhang zwischen Flußontologie und ethischem Relativismus in Erinnerung: Diejenigen, die von der ständigen Bewegung des Seins ausgehen und behaupten, was einem jeden erscheint, das ist auch für denjenigen, dem es erscheint, halten in erster Linie beim Gerechten entschlossen daran fest,28 daß auf jeden Fall das, was eine Stadt als für sich gerecht erscheinend festlegt, für sie dann auch gerecht ist. (177 c 6 - d 5)29 Eine Uberzeugung ist im Hinblick auf eine aus ihr folgende Handlung richtig, wenn sich - was sich freilich erst im nachhinein entscheiden läßt
28 Daß man an der nur subjektiv-privaten Geltung von Meinungen „vor allem beim Gerechten" festhalte, weist deutlich auf den politisch-juridischen Bereich als die primäre Wirkungsstätte der protagoreischen Lehre hin. 29 Wie die Pluralformen zeigen, ist das Gerechte hier als Inbegriff jeweils gerechter Handlungen gemeint. An dieser Stelle wird der deskriptiv-normative Doppelcharakter der politischen Dimension des protagoreischen Relativismus deutlich, der sich in der zweifachen Bedeutung des Ausdrucks „gerecht" zeigt. Aus einem deskriptiven Sachverhalt, der Auffassung von etwas als gerecht, folgt unmittelbar der normative Gehalt der in bezug auf das Gerechte getroffenen Aussage. Denn was übereinstimmend für gerecht gehalten wird, das wird auch in der Polis als verbindliches Recht festgelegt. Die Formulierung „das gerecht Erscheinende ist auch gerecht" bedeutet demnach, daß das als gerecht Erscheinende durch die Fixierung als geltendes Recht institutionalisiert wird.
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- das intendierte Ergebnis tatsächlich einstellt, wenn sie also dem Handlungsziel angemessen war. Ob eine Meinung in diesem Sinne richtig ist, hängt davon ab, ob man den Lauf der Dinge richtig beurteilt hat. Daß die handlungsleitenden Meinungen diesem Unterschied zwischen richtigen, das heißt im Hinblick auf den intendierten Handlungserfolg angemessenen und entsprechenden falschen, unangemessenen Meinungen unterliegen, muß auch Protagoras einräumen. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens macht Protagoras diesen Unterschied ausdrücklich geltend, und zweitens bilden die Überzeugungen „über das Gerechte" den ausgezeichneten Gegenstandsbereich seiner rhetorischen Kunst. Jede Uberzeugung enthält nun, sofern sie stets auf einen zukünftigen Erfolg zielt, auch ein antizipatorisches Moment. Das betrifft die politische Praxis in besonderer Weise, da es hier, im Unterschied zu den handwerklichen Künsten, keine in der Natur der Sache fundierten Kriterien gibt, aus denen sich etwa Regeln für den Gebrauch von Materialien und Werkzeugen ableiten ließen. Die Zukunft selbst ist, als Planungsraum des Möglichen, der Gegenstandsbereich der 'politischen Kunst'.30 Wenn es einen politischen Sachverstand gibt, den Protagoras ja lehren zu können beansprucht, dann gehört hierzu in erster Linie das hier angesprochene antizipatorische Urteilsvermögen. Denn in dieser Kunst kommt es darauf an, zum einen vorteilhafte Meinungen hervorzubringen, indem man die Adressaten der Rede von einem unvorteilhaften in einen vorteilhaften Zustand versetzt, und zum anderen, die zukünftige Wirksamkeit von Entscheidungen beurteilen zu können.31 Diesen Anspruch läßt Sokrates zunächst einmal gelten. 30 Dem Politiker hat Piaton bekanntlich einen eigenen Dialog gewidmet, der den Abschluß der mit dem Theaitet eröffneten und dem Sophistes fortgesetzten Trilogie bildet. Dort kann deshalb an die hier und im Sophistes geführten epistemologischen Erörterungen angeknüpft werden. Darauf weist Sokrates schon in den einleitenden Bemerkungen (Politikos 257 Β - 258 B) und auch an der späteren Stelle (284 B) hin, in der es um die Voraussetzungen geht, unter denen die Frage zu beantworten ist, in welcher Hinsicht der Politiker über ein Wissen verfügen muß. Als ein wesentliches Merkmal der politischen Vernunft erscheint im Verlaufe des Gesprächs die „Besonnenheit", und mit der besonnenen Herrschaft über die menschlichen Angelegenheiten hängt die planende Sorge um die Zukunft aufs engste zusammen. 31 Dem möglichen Einwand, daß die zukünftigen Dinge nicht in den Geltungsbereich der Mensuraformel fallen, da sie eben nicht gegenwärtig (im weiteren Sinne) wahrnehmbar sind, müßte man mit Protagoras entgegen, daß gerade sie in diesen Geltungsbereich fallen, da es ihm zufolge - unabhängig davon, daß der Handlungserfolg
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Wir sollten Protagoras [... ] also folgende Frage stellen: O e r Mensch ist das Maß aller Dinge', des Weißen, Schweren, Leichten und aller Dinge dieser Art, ohne Ausnahme. Was diese Dinge angeht, so trägt nämlich jeweils der Einzelne das Kriterium in sich: Er hält sie für gerade so beschaffen, wie er sie empfindet, und so hat er für sich eine zutreffende Meinung und hält jene Dinge für wirklich. [... ] Sollen wir nun sagen, daß er auch in bezug auf zukünftige Dinge das Kriterium in sich trägt, daß also das, wovon jemand annimmt, es werde sich ereignen, für diesen Menschen auch wirklich eintritt? (178 b 2 - c 2) In diesen Worten wird nochmals der universale Geltungsbereich der protagoreischen Position deutlich. Worauf Sokrates mit seiner Frage hinaus möchte, wird an fünf Beispielen erläutert, in denen es erneut um die unterschiedliche Kompetenz von Fachleuten und Laien geht. Ein Laie mag etwa der Ansicht sein, in naher Zukunft am Fieber zu erkranken (wenn man das Fieber einmal nicht als Symptom, sondern als Erkrankung betrachtet), während ein Arzt die gegenteilige Auffassung vertritt. Offenkundig werden nicht beide Ereignisse eintreten. Da jede Prognose auf einer entsprechenden Diagnose beruht, sind die Urteile über den weiteren Verlauf der Ereignisse allerdings nicht völlig zufällig. Im Regelfall werden sich die prognostischen Aussagen des Experten als angemessen erweisen. Wer als Arzt das Eintreten oder Ausbleiben von Erkrankungen prognostiziert, der beurteilt den Gesamtverlauf der Ereignisse auf der Grundlage von Erfahrungsurteilen. So wird er dann annehmen, eine Person werde zu einem zukünftigen Zeitpunkt erkrankt sein, wenn er bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen medizinischen Sachverhalt erkennt, der auf eine zukünftige Erkrankung schließen läßt. Im Falle der Wärme wird er eine Erhöhung der Körperthemperatur unter bestimmten Umständen als Hinweis auf eine Erkrankimg, etwa auf eine Infektion deuten.32 Oder er mag die Erwärmung eines Rat suchenden Patienten als erst in der Zukunft eintritt oder ausbleibt - darauf ankommt, daß genau das nützlich ist, was man gegenwärtig für nützlich hält. 32 In dem Beispiel ist zwar nicht ausdrücklich von einer Wänneempfindung als Anzeichen für eine Erkrankung die Rede, doch scheint diese Variation des Beispiels dadurch erlaubt, daß sich auf diese Weise erklären läßt, wie prognostische und präsentische Meinungen zusammenhängen.
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harmlose Begleiterscheinung werten, die sich beispielsweise infolge starker körperlicher Bewegung (etwa in einer Ringschule) oder infolge einer üppigen Mahlzeit eingestellt hat, während sich aus der Sicht des Laien in selbiger Wärmeempfindung ein schweres Leidens ankündigt. Das Ereignis, auf das sich die Prognose bezieht, mag kontingent sein, aber die Prognose ist begründet. Der Arzt fällt sie auf der Grundlage von Anzeichen, die zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt vorliegen.33 Sokrates nennt vier weitere Beispiele (178 c 2 - e 3) dafür, daß zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt unterschiedliche Behauptungen über den Eintritt eines Ereignisses zu einem zukünftigen Zeitpunkt vorliegen. A behauptet zu t0, daß zu tj ein bestimmtes Ereignis eintritt, während Β entweder behaupten kann, zum Zeitpunkt tj werde ein anderes Ereignis eintreten oder, ohne eine positive Alternative, ausdrücklich die Ansicht vertritt, das von A behauptete Ereignis werde nicht eintreten. Es handelt sich um Aussagen, in denen der Eintritt eines Ereignisses als Folge des weiteren Verlaufs von gegenwärtig bereits vorliegenden Ereignissen behauptet wird. Sind für Protagoras objektive Kriterien entbehrlich, so kommt es Sokrates nun darauf an, daß man sich in gegenwärtigen Meinungen über zukünftige Ereignisse, also immer dann, wenn es um Handlungen geht, an objektiven Kriterien orientiert. Betrachten wir das Beispiel des Musikers. Der Handlungserfolg einer Komposition besteht (jedenfalls auch) darin, daß sie auf die Hörer in bestimmter Weise wirkt. Auch einem Laien, etwa einem Sportlehrer, der seinerseits ein Fachmann und sachverständiger Lehrer ist, wird eine bestimmte Melodie harmonisch erscheinen (was bedeuten kann, daß sie in seinen Ohren wohlklingend ist, oder auch, daß er die harmonischen Intervalle und andere musikalische Strukturen angemessen beurteilt), aber nur der Musiker weiß, warum dies so ist, weil er weiß, wie man es macht. 33 Aus neuzeitlicher Sicht könnte man den Einwand geltend machen, daß für Prognosen andere Wahrheitsbedingungen gelten, zumal es überhaupt fraglich ist, ob es Wissen von der Zukunft geben kann. So fragt Bostock (1988: 96): „did not Hume demonstrate conclusively that there was no rational basis for any belief about the future?" Gewiß kann niemand von zukünftigen Ereignissen ein Wissen haben, wie dies bei gegenwärtigen oder vergangenen Ereignissen, oder überzeitlichen Sachverhalten möglich ist. Andererseits ist ebenso evident, daß jedes Handeln auf einem gewissen Maß an Antizipation beruht, das schon darin besteht, die Folgen von Handlungen abzuschätzen. Ebenso wird man bei regelmäßigen Abläufen Vorannahmen über zukünftige Geschehnisse machen.
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Das ist der Unterschied, um den es in der Beispielserie geht. In gewisser Hinsicht ist jeder beispielsweise für den Wohlklang insofern 'maßgeblich', als schließlich jeder für sich darüber entscheidet, ob ihm das Erzeugnis des Musikers gefällt oder nicht. Und ebenso können sowohl Musiker als auch die Hörer die strukturellen Verhältnisse der Komposition erkennen. Die Meinungen mögen also übereinstimmen. Die Aussagen von Musiker und Turnmeister können auch in der Weise in bezug auf die Zukunft übereinstimmend zutreffen, als beide die Wirkung einer bestimmten Kompositionstechnik mit Rücksicht auf die Rezeptionsgewohnheiten der Hörer richtig beurteilen. Uber das entsprechende Wissen verfügt aber nur der Musiker. Wer eine Wirkung, einen Handlungserfolg, erzielen möchte, der muß sich darauf verstehen, die Mittel in der gewünschten Weise einsetzen zu können. Er muß also die Dinge, mit denen er es zu tun hat, so beurteilen können, daß er regelhafte Ereignisverläufe kennt. Der Sachverständige zeichnet sich mit anderen Worten dadurch aus, daß er die „Elemente" seines Sachbereichs regelgerecht miteinander zu verknüpfen weiß. Zu diesen Elementen gehören in den Beispielen nun ausgerechnet auch die Meinungen selbst, jedenfalls insofern, als etwa der Musiker aus Erfahrung weiß, welche Melodien und Harmonien bestimmte Wirkungen zeitigen werden, welche Meinungen sein Werk also hervorrufen wird. Dies wird am letzten Beispiel sehr deutlich. Zweifelsohne wird jeder für sich entscheiden, ob ihm eine Speise schmeckt oder nicht. Aber ebenso unbestreitbar ist wohl Sokrates' Feststellung, daß ein sachverständiger Koch zuverlässiger beurteilen kann, ob eine bestimmte kulinarische Komposition den Gästen munden wird oder nicht.34 Der Nachdruck liegt darauf, daß die prognostischen Urteile des Sachverständigen auf seiner Fähigkeit beruhen, die Wirkungsweise von Handlungen einschätzen zu können. Dieser Nutzen (Vorteil) liegt nun zwar in der Zukunft. Da der vorteilhafte Zustand aber gegenwärtig intendiert ist, gilt das Kriterium der unterschiedlichen Kompetenz für die gegenwärtig getroffenen Urteile.
34 Daß gerade das Koch-Beispiel zu der hier unterstellten spezifischen, politischrhetorischen Sachkompetenz des Protagoras überleitet, ist vielleicht auch als Variation des Vergleichs von Rhetorik und Kochkunst zu verstehen (vgl. Gorgias 463 A - 465 E).
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Wissen ist Wahrnehmung (151 e -187 a)
Wenn Protagoras über die Fähigkeit verfügt, „im voraus beurteilen zu können, was jedem von uns bei den Gerichtsreden glaubwürdig sein wird" (178 e 3 - 6), so gilt die Differenz zwischen vorteilhaften und unvorteilhaften prognostischen Urteilen auch und gerade für seine Kunst. Sachverständig ist für Protagoras, wer unvorteilhafte in vorteilhafte Zustände verwandeln kann. Darauf beruht die Gleichung von Wissen und Wahrnehmung (168 b 6 - 7). Mit dieser Unterscheidung verteidigt sich Protagoras gegen den Praxis-Einwand. Wenn nun der Erfolg oder Mißerfolg der Handlungen auch als Maßstab für die Bewertung der jeweils gegenwärtigen Meinungen dienen soll, so erfüllt das Prädikat „vorteilhaft" indessen dieselbe Funktion wie das dadurch ersetzte Prädikat „wahr". Man hält aufgrund einer vorteilhaften Meinung etwas Bestimmtes für vorteilhaft. Aufgrund einer vorteilhaften Meinung, handelt man auch vorteilhaft, das heißt erfolgreich. Zwar sind alle Meinungen wahr, aber nicht alle erfolgreich. Die vorteilhaften Meinungen führen zum Handlungserfolg, die unvorteilhaften verfehlen ihn. Ist eine Meinung, daß ρ der Fall ist, vorteilhaft, so ist die Meinung, daß ρ nicht der Fall ist, unvorteilhaft. Diese Annahme macht Protagoras notwendigerweise, denn das Wertepaar vorteilhaft / unvorteilhaft tritt ja an die Stelle der Wahrheitsdifferenz. Die Unterscheidung vorteilhaft/unvorteilhaft ist aber der Unterscheidung wahr/falsch begrifflich äquivalent. Wäre das nicht der Fall, könnte sie nicht als Kriterium für erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Meinungen fungieren. Sokrates macht folgendes Argument geltend: 1. Wenn eine Meinung vorteilhaft ist, dann - und nur dann - führt sie zum Handlungserfolg. 2. Der Handlungserfolg tritt aber in einigen Fällen nicht ein. 3. Meinungen sind also in einigen Fällen unvorteilhaft. 4. Für alle (im protagoreischen Sinne ausnahmslos wahren) Meinungen ν und uv gilt: Wenn ν vorteilhaft ist und uv die Negation von ν ist, dann ist uv unvorteilhaft. 5. Die Unterscheidung vorteilhaft/unvorteilhaft ist äquivalent zur Unterscheidung wahr/falsch. 6. Also sind einige Meinungen falsch.
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Auch hier ist Sokrates davon ausgegangen, daß Protagoras Recht hat. Wenn Protagoras ein Fachmann für die Zukunft ist, so muß er zugestehen, daß es grundsätzlich auch insofern falsche Meinungen gibt, als man eben den Vorteil auch verfehlen kann. Der Grund dafür, daß die protagoreische Unterscheidung von vorteilhaften und unvorteilhaften Meinungen der Wahrheitsdifferenz äquivalent ist, besteht nun darin, daß es objektive Kriterien für die Angemessenheit von Handlungen gibt. Angemessenerweise werden wir also deinem Lehrer entgegnen, daß er einräumen muß, der eine sei sachverständiger als der andere und sei insofern ein Maßstab. Was aber mich, als Unwissenden, betrifft, so brauche ich mich keineswegs zwangsläufig für einen solchen Maßstab zu halten, während ich vorhin nach seinen Worten gezwungen war, ob ich nun wollte oder nicht, Maß [aller Dinge] zu sein. (179 a 10 - b 5) Im Ergebnis kehrt sich nochmals der Geltungsanspruch gegen die protagoreische Formel. Die Pointe besteht auch darin, daß die sokratische Tugend des Wissens um das eigene Nicht-Wissen sich daraus ergibt, daß Sokrates sich den Grundsatz der 'allwissenden' protagoreischen Auffassung zunächst zu eigen macht.35 Wie Theodor abschließend zustimmt, ist Protagoras' Auffassung durch beide Argumente offenkundig widerlegt (179 b 6 - 9). In seinem Schlußwort wird nochmals der ausdrückliche Zusammenhang beider Passagen deutlich, in denen die Argumentationsfigur der „Selbstanwendung" zum einen in bezug auf den theoretischen und zum anderen in bezug auf den praktischen Geltungsanspruch durchgespielt wird. Bei den beiden re