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German Pages 113 [124] Year 1978
Germanistische Arbeitshefte
23
Herausgegeben von Otmar Werner und Franz Hundsnurscher
Karl-Heinz Göttert
Argumentation Grundzüge ihrer Theorie im Bereich theoretischen Wissens und praktischen Handelns
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Göttert, Karl-Heinz Argumentation : Grundzüge ihrer Theorie im Bereich theoret. Wissens u. prakt. Handelns. - 1. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1978. (Germanistische Arbeitshefte ; 23) ISBN 3-484-25027-5
ISBN 3-484-25027-5 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany
INHALTSVE RZ ΕICHNIS
Vorwort
VII
1 Grundlagen und Grundpositionen einer Argumentationstheorie 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.4. 1.5.
Schlußfolgerung und Erkenntnisneuheit Formal-logische Ansätze Modellsprachen Praktische Schlüsse Inhaltlich-rhetorische Ansätze Topische Argumentation Substantielle Argumentation Abgrenzungen und Ausblick Kommentierte Literaturangaben
2 Typen von Argumentationen und Typen von Argumenten 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3.
Typen von Argumentationen Erklärungen und Rechtfertigungen Argumentation und Kommunikation Typen von Argumenten Fakten, Grundsätze, Stützen Qualifikatoren und Einschränkungen Kommentierte Literaturangaben
3 Das Zusarrmenspiel der Argumente 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3.
Kontroverse und alternative Argumentationen Kontroverse Argumentationen Alternative Argumentationen Begründungssprachen Die begriffliche Festlegung von Gegenstandsbereichen Die Beschreibung neuer Phänomene Kommentierte Literaturangaben
4 Argumentation und Diskussion 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.3.
Technik des Diskutierens Sprachmittel des Folgerns Pro-und-contra-Argumente Grenzen des Diskutierens Das Auffinden von Thesen Diskussion als System oder ideale Sprechsituation? Kommentierte Literaturangaben
5 Karplexe Argumentation. Zwei Beispielanalysen 5.1. 5.2.
A. Elon und S. Hassan: "Dialog der Feinde" A. Mitscherlich: "Toleranz - Überprüfung eines Begriffs"
Lösungshinweise zu den Übungen Literaturverzeichnis Schlagwortverzeichnis
1 1 3 3 7 10 10 13 16 18 20 20 20 23 26 26 30 33 34 34 34 43 49 50 58 66 67 67 67 73 77 77 82 88 89 89 97 105 111 115
VORWORT
Die theoretische Beschäftigung mit der Argumentation ist alles andere als neu, sie fand jedoch früher unter anderer Themenstellung statt. Klassische Erörterungen entstanmen entweder der Rhetorik oder der Logik. Daß man neuerdings eher von Argumentation spricht, hängt w h l mit der Ausbreitung des Sprechaktkonzepts zusanmen, wonach die Formen "geistiger" Tätigkeit als kommunikative Akte begriffen werden. Danach tritt das, was früher als überzeugende Rede oder schlußfolgerndes Denken thanatisiert wurde, als "Argumentieren" ins Bewußtsein. Allerdings zeigt der Hinweis auf Rhetorik und Logik auch das Spannungsfeld an, in dem dieses Thsna angesiedelt ist. Während sich die Rhetorik mit ihran Interesse am Aufbau von Reden besonders um die Probleme der Überzeugung von Gesprächspartnern und um das Zustandekommen von Ubereijistiirrnung gekümmert hat, ist das Aufgabengebiet der Logik stets die Ausarbeitung von Schlußverfahren und Ableitunganöglichkeiten unter künstlichen Voraussetzungen (wie in der Mathematik) gewesen. Beide Traditionen haben zu unserm Verständnis der Argumentation Wesentliches beigetragen; sie haben aber auch seit der Antike einen Kampf um die Vormachtstellung geführt. Dies wirkt heute noch nach, wie man beispielsweise an der Diskussion um den Begriff der Wahrheit sehen kann: Von der Logik her kennen wir einen auf Allgemeingültigkeit und vom Inhalt unabhängigen, d.h. auf f o r m a l e
Anwendbarkeit angelegten Wahrheitsbegriff,
während sich die Rhetorik am Wahrscheinlichen als einzig realistischem Ziel im Bereich p r a k t i s c h e n
Handelns orientiert. Unter den Voraus-
setzungen des 20. Jahrhunderts hat dies u.a. dazu geführt, daß "Logiker" Kunstsprachen anbieten, mit denen man z.B. in den Naturwissenschaften präzise arbeiten kann, während "Rhetoriker" die Voraussetzungen für vernünftige Entscheidungen z.B. bei ethischen Fragen thematisieren. Aber "Logiker" haben sich auch an der Moral, "Rhetoriker" an bestimnten Zügen der Naturerkenntnis interessiert gezeigt. Entsprechend scheint eine einheitliche Argumentationstheorie kaum mehr gelingen zu können. Im folgenden Heft ist wenn schon kein Kompromiß, so doch eine Annäherung
der Standpunkte versucht vrorden, die in erster Linie den linguistischen Aspekten des Argvmentationsproblems gerecht zu werden versucht. Dazu gehört aber eine Aufarbeitung der Frage, wie Argumente unter den konkreten Voraussetzungen alltagsweltlicher Erörterungen oder Dialoge zu Schlüssen führen. Von der rhetorischen Tradition her kann man dabei Hinweise auf das Probien der Geltung von Argumenten, von der logischen eine Ausarbeitung von Argunentationsmustern übernehmen. Ein Einleitungskapitel wird über diese Alternativen sowie ihre Relevanz für die hier interessierenden Zusarrmenhänge noch näher Auskunft erteilen. Die folgenden Kapitel dienen dann der Entfaltung eines relativ einheitlichen Modells, das letztlich im Hinblick auf konkrete Analysefähigkeiten ausgearbeitet ist, wie sie bei der Untersuchung, aber auch beim Entwurf argumentativer Texte benötigt werden. Im übrigen gilt das Konzept der gesamten Reihe: Forschungsdiskussion ist eher im Hintergrund zu finden und wird in Einzelfällen paradigmatisch herangezogen. Die theoretischen Ausführungen sind anhand konkreter Argumentationsbeispiele aus den Raum von Wissenschaft und Publizistik ständig dokumentiert und können anhand von Übungen, denen Lösungsvorschläge beigegeben sind, Schritt für Schritt überprüft werden.
Köln, im Juli 1977
Karl-Heinz Göttert
Der große Rabbi Nachmann aus Bratzlav fuhr einmal im Winter auf einem Ochsenkarren durch die Berge. Auf einem steilen Stück stieg der Rabbi ab und ging selbst neben dem Wagen im Kot der Straße. Der Kutscher drängte ihn vorwurfsvoll, doch wieder aufzusteigen. "Wenn ich einmal ans Himmelstor komme", sagte der alte Mann, "will ich nicht, daß die zwei Ochsen davorstehen und sich beim himmlischen Vater beklagen, daß der fette, alte Jude auf dem Wagen sitzen geblieben ist, während sie sich den Berg hinauf plagen mußten." "Aber das können sie doch gar nicht behaupten", sagte der Kutscher, "sie sind doch Ochsen und daher dazu da, den Wagen den Berg hinaufzuziehen." "Ja", erwiderte der Rabbi, "das ist schon richtig. Aber wer kann Ochsen überzeugen?" (Chassidische Geschichte)
1
EINLEITUNG: GRUNDLAGEN UND GRUNDPOSITIONEN EINER ARGUMENTATIONSTHEORIE
1.1.
Schlußfolgerung und Erkenntnisneuheit
Es ist bekannt, daß die Frau des ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, die politisch ebenfalls sehr aktive Frau Elly Heuss-Knapp, eine Leidenschaft für die Erfindung von Werbesprüchen hatte. Zu ihren sicherlich besten Einfallen gehört der auch heute noch bekannte Slogan: "Persil bleibt Persil!" Man mag diesen prägnanten drei Wärtern vielleicht nicht ansehen, daß sie ihre Wirkung letztlich aus der raffiniert unterlegten Argumentation bezidien, die zweifellos von jedem mitverstanden wird. Sie läßt sich etwa so rekonstruieren: (1) (a) Alles, was bleibt, ist bewährt. (b) Persil bleibt Persil. (c) Deshalb ist Persil empfehlenswert.
Diese Rekonstruktion folgt einem seit der Antike bekannten Scharia, dem Syllogismus. Danach entspricht (a) einem allgemein gültigen Satz, (b) einer konkreten Feststellung - die beiden stellen zusammen die sog. Prämissen dar - und (c) der Schlußfolgerung oder Oonclusio. Das bekannte Demonstrationsbeispiel lautet: (2) (a) Alle Menschen sind sterblich (b) Sokrates ist ein Mensch. (c) Deshalb ist Sokrates sterblich.
Wie man sieht, beruht der Persil-Syllogismus bis auf einen gleich zu besprechenden Unterschied auf demselben Prinzip. Was hat der Syllogismus mit Argumentation zu tun? Die Antwort lautet: der Syllogismus gibt ein Muster dafür an, wie Thesen bewiesen werden können, deren Wahrheit sich aus umittelbarer Erfahrung oder Beobachtung n i c h t
ergibt.
Man kann an Sokrates nicht "sehen", daß er sterblich ist, an Persil niciit "ab-
2
lesen", daß es seinen Zweck zufriedenstellend erfüllt. Daß dies jeweils der Fall ist, f o l g t
(oder soll folgen) auf dem Wege einer Begründung. In
diesem "Folgen" liegt der entscheidende Unterschied gegenüber den anderen Arten unseres Zugangs zu Wissen über die Welt oder zur Planung von Handlungen. Informationen beispielsweise beruhen letztlich auf Augenschein; man kann jedenfalls prinzipiell darauf zurückgehen. Aufforderungen beruhen auf Ansprüchen, die einart durch natürliche oder institutionell begründete Autorität zugewachsen sind. Erst wenn der Zugang zu Informationen verschüttet, die Berechtigving einer Aufforderung zweifelhaft geworden ist, tritt die Notwendigkeit auf, Informationen als argumentativ ausgearbeitete Behauptungen, Aufforderungen als argumentativ ausgearbeitete Empfehlungen zu behandeln. Dann kamt es auf Schlußfolgerungen an. Unser Beispiel zeigt dabei schon soviel, daß dieses Folgern auf ein Zusammenspiel angelegt ist, bei dan es insbesondere im die Zuordnung von einem Allgemeinen und einem Besonderen geht. Die Persi1-Qnpfehlung beruhte genauso auf der allgemeinen Vorstellung über den Wert von Bleibendem wie die Sterblichkeit des Sokrates auf der Sterblichkeit des Menschen überhaupt. Auch dies zeigt den Unterschied zu Information und Aufforderung sehr gut: diese beruhen stets auf dem Besonderen einer Erfahrung oder eines Wunsches; wir informieren über Ereignisse oder fordern zu Taten auf, die prinzipiell für sich stehen. Die Verallgemeinerung, die hier allenfalls vorkamt, bezieht sich auf das Typische der Erfahrung oder des Wunsches selbst. In Argumentationen dagegen wird das Zusarrmenspiel von allgemeiner und spezieller Erfahrving als Grund einer neuen
Erkenntnis benutzt. Das ist allerdings beim Syllogismus von Sokra-
tes-Typus nur in einem eingeschränkten Sinne der Fall. Die Folgerung, die aus ihm gezogen wird, besagt schließlich nichts anderes als das, was von vornherein schon feststand. Daß Sokrates sterblich ist, f o l g t
eigentlich
nicht aus seinem Menschsein, sondern dies ist mit dem Menschsein schon
ge-
g e b e n . Deshalb kann sich eine Argumentationstheorie auch nicht auf Schlußfolgern allein beschränken. Wir werden sehen, daß alle Theorien vielmehr ihr Bemühen darauf richten, das Prinzip des F o l g e r n s Neues
mit dem Wunsch,
zu gewinnen, zu verbinden suchen. Dabei kann man sich mehr oder
weniger an den Syllegi anus halten. Allerdings können Argvmentationen rein äußerlich so verschieden aussehen, daß man es scheinbar mit anderen Dingen zu tun hat. Z.B. gehen die einen vcm Streit der Meinungen aus, wie er etwa politische Auseinandersetzungen prägt, während andere im ruhigen Gang wissenschaftlicher Erörterungen das Vorbild sehen. Doch so unterschiedlich feurige Reden gegenüber trockenen Abhandlungen
3
aussehen mögen, sie beruhen im entscheidenden Punkt auf demselben Prinzip: nämlich neue Erkenntnisse über die Welt oder gerade jetzt passende Qnpfehlungen zu Handlungen als Ergebnis von Gründen hinzustellen. Diese Orientierung an Gründen kennzeichnet Argumentationen vielleicht unmißverständlicher als die an Schlußfolgerungen. Denn Gründe sind immer bestürmte, d.h. lich
inhalt-
bestinmte Gründe, die man zur Bekräftigung einer These geltend macht.
Nur müssen diese Gründe, und darin liegt das Bedeutsame des SchlußfolgerungsGedankens, auch einer gewissen Form genügen, wenn sie durchschlagen sollen. Man kann verstehen, daß jede T h e o r i e
der Argumentation sich besonders
der Art des Schlußfolgerns widmet, weil hierin in gewissem Sinne das iimver wiederkehrende Grundprinzip des Argumentierens - gegenüber den schiedenen
ver-
Inhalten - sichtbar wird. Es ist geradezu d a s
Problan,
aufgrund welcher dieser inmer wiederkehrenden und deshalb formalen Eigenschaften wir fähig sind, uns angesichts stets variierender Inhalte argumentativ zu behaupten. Genau um die dabei ablaufenden Prozesse soll es denn auch im folgenden gehen, nicht etwa direkt un gewisse Erscheinungsformen des Argumentierens im konkreten Text oder Dialog. Um eine Unterscheidung aus der allgemeinen Sprachtheorie zu übernehmen: es geht um die Aufdeckung der zugrundeliegenden Strukturen des Argunentierens, nicht um die Oberflächenrealisierungen. Dahinter steht aber die These, daß gerade dieser Weg am besten geeignet ist, die Problematik von Argumentationen wirklich zu verstehen. Dazu soll zunächst ein Blick auf einige wichtige Positionen diesen, die historisch in den letzten Jahrzehnten eingencmnen und vertreten vrorden sind. Diese Positionen sind so ausgewählt, daß sie gewisse Grundmöglichkeiten einer Argumentationstheorie beleuchten, die aber nicht für jeden Zweck gleich gut brauchbar sind. Daraus wird die Entscheidung für ein MDdell fallen, das im folgenden im Vordergrund stehen soll. Übung (1) Analysieren Sie einige auf dem Argumentations-Prinzip beruhende Slogans, z.B. Mein Bauch gehört mir oder Männer nehmen Pitralon usf. - Was fällt an diesen Slogans hinsichtlich der "fehlenden" SyllogismusTeile auf?
1.2.
Formal-logische Ansätze
1.2.1. Modellsprachen Der in gewissem Sinne naheliegendste und ehrgeizigste Versuch, die Problems der Argumentation zu lösen, liegt im streng formal-logischen Zugang. Wenn es gelingen könnte, Argumente rein nach ihrer Form zu beurteilen, wäre Argumen-
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tieren praktisch problonlos geworden: was einer akzeptierten Form folgt, wäre - unbesehen des jeweiligen Inhalts - gültig. Jeder weiß, daß dieses Ziel auf gewissen Spezialgebieten, nämlich im Datenverarbeitungsbereich, tatsächlich gelöst ist. Wieweit kann man diese erstaunlichen Fortschritte auszudehnen hoffen? Woran liegt es, daß Argumentieren in der Praxis so schwer ist? Die Antwort beruht darauf, daß man zwar leicht argumentieren kann, wenn man Sätze hat, die in ein formales Schema passen, daß aber gerade dieses "Anpassen" das Hauptproblem darstellt. Wie man Folgerungen
zieht,
ist im
Prinzip gut bekannt. Das Problem liegt in einem noch zu präzisierenden Sinne bei der S p r a c h e
, die keineswegs für solche "Züge" vorbereitet ist.
Entsprechend laufen alle Bonühungen formal-logischer Art darauf hinaus, konstruierte Sprachen - sog. Modellsprachen - zu entwickeln, in die sich die natürliche Sprache bzw. in natürlicher Sprache formulierte Argumentationen zum Zweck des Folgerns gleichsam übersetzen lassen. Die Schlußverfahren selbst, obwohl hochkonpliziert, sind nicht das entscheidende Problem: was die Lösung so schwer macht, ist die Aufarbeitung unserer natürlichen Sprache f ü r
die
entsprechende Verarbeitung. Man kann sich dies klarmachen, wenn man eine Stufe einfacher ansetzt und sich noch nicht gleich mit den üblichen Schlußverfahren beschäftigt, sondern mit dem, was die Voraussetzung zu deren Anwendung darstellt: mit der Art und Weise, wie Aussagen mit andern Aussagen zusammenhängen. In diesen Punkt hat gerade die moderne Linguistik Entscheidendes dazu beigetragen, die Schwierigkeiten des Argumentierens zu verdeutlichen. Sie hat gezeigt, wie wenig sich an Sätzen Iitraer ablesen läßt, was mit ihnen gesagt ist. Nehmen wir das Beispiel^ : (1) Er verletzte die Hand des Mädchens.
In diesen Fall scheint folgender Satz impliziert: (2) Er verletzte das Mädchen.
Diese Implikations-Beziehung zwischen (1) und (2) beruht auf der Tatsache, daß wir bei der Genitivkonstruktion (die Hand des Mädahens) davon ausgehen, daß die Hand einen Teil darstellt, das Mädchen das darauf bezogene Ganze. Wäre dies immer der Fall, so könnte ein Syllogismus, bei dem (1) als Prämisse aufträte, reibungslos funktionieren. Das aber ist keineswegs so: Genitivkonstruktionen sind ausgesprochen vieldeutig. Man vgl.: (3) Peter verunstaltete das Haus der Statue. 1
Dieses sowie die meisten folgenden Beispiele nach Metzing
1975.
5 In diesen Fall - man könnte sich einen mittelalterlichen Bischof mit einer Kirche auf dem Arm abgebildet denken - ist die Statue das Ganze, das Haus der Teil. Aber selbst (1) als solches ist im Prinzip mehrdeutig: die Hand maß nicht die e i g e n e
Hand des Mädchens sein, es könnte sich un die ampu-
tierte Hand eines andern handeln. In weniger makabrer Ungebung: Evas Strümpfe können die Strümpfe sein, die Eva trägt, aber auch die, die Anne von Eva gerade ausgeborgt hat. Eine
der Schwierigkeiten, natürlichsprachliche Sätze als Grundlage für
formal gültige Schlußverfahren zu benutzen, liegt also in der Vieldeutigkeit, die die logischen Möglichkeiten von Ausdrücken betrifft. Die behandelten Beispiele betrafen dabei nur einen einzigen Fall: die logische Vieldeutigkeit der Genitivkonstruktion. Sie ist außerdem nur ein Beispiel für einen Typ von Schwierigkeiten: nämlich für die Schwierigkeit, die Innpli_kationsbeζiehung zwischen Sätzen klarzulegen. Die Inplikationen zwischen Sätzen, die auf die (unterschiedliche) Verwendung von bestürmten Ausdrücken beruhen, stellen aber keineswegs das einzige Problem für die formale Folgerurig dar. Sätze haben eine Eigenschaft, die für Folgerungen sehr wichtig ist: sie enthalten außer dem behaupteten Teil einen stillschweigend unterstellten. Wer beispielsweise behauptet, daß Anne Evas Strümpfe trägt, unterstellt, daß jemand da ist, der eben diese Strümpfe trägt. Aus diesem Grund wäre folgende "Ableitung" unsinnig: (3) Anne trägt Evas Strümpfe. (4) Anne hat es nie gegeben.
Vielmehr setzt (3) (5) voraus: (5) Es gibt eine Anne.
Beziehungen dieser Art zwischen Sätzen (also hier zwischen (3) und (5) heißen Präsuppositionsbeziehung. Präsuppositionszusanmenhänge sind aber genauso wenig "sichtbar" wie Implikationszusanmenhänge; z.B. präsupponiert (6) (7): (6) Er arbeitet gerade langsam. (7) Er arbeitet gerade.
Keineswegs aber präsupponiert (8) (9): (8) Er arbeitet immer langsam. (9) Er arbeitet immer.
Man sieht also: wer mit den Mitteln der natürlichen Sprache zu formalen Folgerungen kcrtmen will, stößt auf das Problem der mit der natürlichen Sprache gegebenen Vieldeutigkeit. Dieses Probien hat man durch die Einführung von Modellsprachen prinzipiell zu lösen versucht, wobei für alle natürlichen Aus-
6
drücke künstliche unterlegt werden, die eindeutig interpretierbar sind. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, daß dies in einem vrohldefinierten Bereich - z.B. für naturwissenschaftliche oder technische Zwecke - möglich und vorteilhaft ist. Eine Verlängerung gleichsam in die natürliche Argumentation erscheint dagegen aus einem Grund ausgeschlossen, der bisher noch gar nicht angeführt wurde. Implikationsbeziehungen sind nicht nur wegen der ven
konstrukti-
Eigenschaften der natürlichen Sprachen schwer faßbar, sie sind es letzt-
lich auch wegen des I n h a l t s
. Was wovon impliziert wird, ist nicht nur
eine logische Frage, sondern hängt von unserm Wissen über die Welt ab. Der Weg einer Annäherung formal-logischer Argumentation an die Bedingungen der natürlichen Sprache verlief deshalb auch über den Aufbau einer Art erfahrungsspezifischen Argumentations p o t e n t i a l s . So kann man eine " juris tisch2 alltags-theoretische Implikation zwischen folgenden Sätzen annehmen: (10) Die Aussage ρ ist die Aussage eines Polizisten. (11) Die Aussage ρ ist glaubwürdig.
Man spricht dann von einer " d e s k r i p t i v e n
Logik", um den inhalt-
lichen (Deskription!) Einschlag in eine grundsätzlich formal angelegte Argumentationstheorie zu kennzeichnen. Ihr Ziel liegt entsprechend im Aufbau einer Modellsprache, die - weniger ehrgeizig - neben der Berücksichtigung der Konstruktionsbedingungen für die formale Bearbeitung einen Bereich definierter Inhalte vorsieht. Man hat dann zwei Ubersetzungsapparate und die eigentlichen Ableitungsverfahren. Wieweit dies anwendbar ist, hängt von der Stabilität des Anwendungsbereichs ab. Unter den rasch wechselnden Voraussetzungen alltagsweltlicher Argumentationen sind die Grenzen absehbar. Die Entfaltung einer rtodellsprachlichen Argumentationstheorie hat aber im übrigen eine Alternative, die mit einer grundsätzlichen Begrenzung zusamnenhängt, die noch gar nicht angesprochen wurde. Sie liegt in der Tatsache, daß der bisher besprochene Theorietyp das Feld der Argumentation von vornherein um eines ihrer wichtigsten Anwendungsgebiete beschneidet: nämlich um jenen Bereich, wo statt von Behauptungen im Hinblick auf Dinge oder Ereignisse in der Welt von Bnpfehlungen im Hinblick auf Handlungen die Rede ist. Auch für diesen Bereich kann man formal-logische Möglichkeiten ausarbeiten. Dann müssen statt des Übersetzungsproblems zunächst einmal die Bedingungen des Schließens selbst neu aufgegriffen werden.
2
Vgl. Metzing 1975, S. 4bf.
7 Übung
(2)
Metzing gibt folgendes Doppel-Beispiel eines formalen Schlusses
(S. 16):
(1) Heute aß ich, was ich gestern kaufte. Gestern kaufte ich einen seltenen Fisch. Also aß ich heute einen seltenen Fisch. (2) Heute aß ich, was ich vor fünf Jahren kaufte. Vor fünf Jahren kaufte ich einen seltenen Fisch. Also aß ich heute einen seltenen Fisch.
- Worin liegt die Problematik von formalen Schlüssen in diesen Fällen?
1.2.2. Praktische Schlüsse Die entscheidende Schwierigkeit, auf die man im Raum des Handelns stößt, liegt darin, daß man es nun nicht allein mit Fakten zu tun hat, die richtig oder falsch sein können, sondern mit dem viel schwieriger zugänglichen Bereich von Wünschen, Vorstellungen, prägnant: von Intentionen. Schon Aristoteles hat diesen Bereich als Boden p r a k t i s c h e r
Wahrheit gegenüber theore-
tischer Einsicht abgegrenzt. Es ist dies das Gebiet von moralischen Urteilen, mit allen Problemen, woraus man denn solche Urteile ableiten kann. So hat man insbesondere darüber gestritten, ob es möglich sei, moralische Urteile allein auf Tatsachen zu stützen oder welche andere Form die Prämissen haben müssen, aus denen bindende Kraft erwachsen könne. Wie kann man da noch Schlußfolgern, wo die Prämissen nicht Feststellungen, sondern Wünsche enthalten? Gibt es im Bereich des Handelns überhaupt so etwas wie logische Notwendigkeit? Zu diesen 3 Fragen sollen einige Gedanken von D. Gauthier vorgestellt werden. Gauthier nahm die Verwirrung, die bei der Frage entsteht, wie man zu Hardlungsempfehlungen kcmnt, gerade zum Ausgangspunkt. Und zwar scheint es einmal so, daß die Prämissen von Urteilen im Bereich praktischen Handelns Wünsche in der Form von Imperativen darstellen, andererseits so, daß diese Prämissen lediglich Behauptungen ü b e r Wünsche sein können. Es ist klar, daß die zweite Version leichter zu lösen wäre, weil man sich mit Behauptungen ja sozusagen im normalen Bereich der Logik bewegt. Läßt sich die Alternative aber überhaupt so stellen? Zwei Beispiele zeigen zunächst die Problematik (S. 99f).). Für die erste Position scheint folgendes Beispiel zu sprechen: (1) James will eine halbe Million Dollar haben. Wenn James Onkel John nicht aus dem Boot stößt, kann er die halbe Million nicht bekommen. Deshalb sollte James Onkel John aus dem Boot stoßen.
3
Es handelt sich um Gauthier
1971
8 Für die zweite Position dient folgendes Beispiel als Basis: (2) Fischer will Botwinnik besiegen. Wenn Fischer nicht die Dame zieht, kann er Botwinnik nicht besiegen. Deshalb sollte Fischer die Dame ziehen.
Kann man hier mehr Klarheit gewinnen? Gauthier versucht dies auf dem Wege einer Unterscheidung (S. 100ff.) Er zeigte, daß man zwei ganz verschiedene Schlußfolgerungsweisen zu beachten hat (auf die sich die beiden Beispiele verteilen), deren Unterschied in der Art der logischen Notwendigkeit liegt, die sich jeweils aus ihnen ergibt. Das erste 4
Verfahren läßt sich auf folgende Form bringen : (3) Α möchte χ erreichen (z.B. sein Haus wohnlich gestalten). Wenn Α nicht y tut (z.B. heizt), kann er χ nicht erreichen. Deshalb muß A. y tun (also heizen).
In (3) ist die Schlußfolgerung keineswegs eine Vorschrift, sondern selbst eine Feststellung, und zwar eine Feststellung darüber, was der Handelnde tun muß, im ein bestimntes Ziel zu erreichen. Es geht in diesen Fall um eine praktische Notwendigkeit, nicht um eine Voraussage darüber, was der Handelnde tun sollte. Was geschlossen wird, ist lediglich, d a ß
er y tun muß, w e n n
er χ
erreichen will. Nun kann man aber auch die Wünsche des Handelnden selbst in die Prämissen aufnehmen, z.B. in folgender Weise: (4) Ich will χ erreichen (z.B. mein Haus wohnlich gestalten). Wenn ich nicht y tue (z.B. heize), kann ich χ nicht erreichen. Deshalb muß ich y tun (also heizen).
Dieser Fall liegt deutlich anders, da nun nicht nur die Prämissen Wünsche darstellen, sondern die Conclusio eine Handlungsanweisung. Aber die Fälle liegen trotzdem dicht beieinander: auch diese Handlung stellt keine Aufforderung im Sinne eines Imperativs dar. In beiden Fällen handelt es sich vielmehr um eine - wie Gauthier es nennt - o p t a t i v e
Notwendigkeit oder Schlußfolgerung,
also um etwas, wozu der Handelnde gezwungen i s t ,
wenn
er χ wünscht.
Akzeptiert der Handelnde die Prämissen, muß er wirklich entsprechend der Conclusio handeln - oder er verwickelt sich in einen Widerspruch zu seinen eigenen Wünschen. Aber dies ist eben nicht die einzige Möglichkeit, im Bereich des Handelns zu schließen. Der Gegentyp, der nun wirklich sollte-Urteile (statt muß-Urteile)
4
Gauthier folgt hier von Wright 1963, der diese Beispiele an dem von mir in Klammern beigefügten Heizungsfall durchspielte.
enthält, läßt sich folgendermaßen rekonstruieren: (5) Α hat Veranlassung, χ zu erreichen. Wenn er nicht γ tut, kann er χ nicht erreichen. Deshalb sollte Α γ tun.
Aber nun zeigt sich etwas sehr Wichtiges: eine - wie Gauthier diesen zweiten Typ nennt -
n o r m a t i v e
Notwendigkeit oder Schlußfolgerung hat gerade
nicht (wie die optative) den Charakter der Handlungsbestirrmung. Ein Handelnder kann durchaus die G r ü n d e
des Handelns einsehen, ohne wirklich der
Conclusio zu folgen. Z.B. kann jemand ein Ziel gerade deshalb aufgeben, weil die entsprechenden Mittel ihm unerwünschte Nebenwirkungen bringen und deshalb insgesamt inadäquat erscheinen. Ja, er kann einfach keine Lust haben, d i e s e s
Mittel anzuwenden. Anhand von Beispiel (1) wird deutlich, was
dieses sollte bedeutet: es kann unmöglich ein moralisches Müssen bedeuten, vielmehr kann selbst Onkel John die Notwendigkeit einsehen, ohne sie zu wünschen. Gerade die Urmöglichkeit für James, an die halbe Million zu kennen, wird dadurch demonstriert, daß die einzige zwingende Möglichkeit nicht infrage können kann. Umgekehrt gilt für Beispiel (2): Es hat keinen Zweck, darüber nachzudenken, ob Fischer den entscheidenden Zug tun ihn tun, wenn er
g e w i n n e n
sollte
oder nicht: er m u ß
will. Nur die Entscheidung über den Wunsch
zu siegen steht ihm frei, nicht die über den Zug. Man sieht: das Probien des praktischen Schließens deckt eine Dimension der Argumentation auf, die einen völlig neuen Aspekt in der Problematik natürlichsprachlichen Argumentierens aufweist. Argumentationen in der Alltagsweit unterliegen nicht nur Faktoren der logischen Mehrdeutigkeit und des Wandels unserer Erfahrungen, sondern weisen im Raum des Handelns einen völlig andern Begriff von Notwendigkeit auf. Man könnte dies in Anlehnung an Gauthier in einer Skizze etwa so verdeutlichen: theoretische
Logisches Schließer
generelle Notwendigkeit
optative Notwendigkeit praktische Schlüsse normative Notwendigkeit
10 Es ist klar, daß dieser Schritt durch eine noch so weitgehende Präzisierung des ersten Standpunktes nicht hätte erreicht werden können. Überall da, WD sich Argumentationen auf Handlungen beziehen, muß man vielmehr die Problematik von Intentionen beachten. Dennoch kann man eine Spezialisierung auch dieser Fragestellung aufzeigen. Sie wird deutlich, wenn man bedenkt, daß in diesen Schlüssen weder die I n h a l t e
der Argumentation noch die P e r s o n e n
der Argumentations-
partner eine Rolle spielen. Die Gründe, die janand für seine Schlußfolgerung haben kann, sind aber von beiden entscheidend abhängig. Die Frage ist nun, wie man die inhaltlichen Anforderungen von Argumentationen noch in der Weise in den Griff bekamen kann, daß der methodische Charakter des Argumentierens nicht völlig aus den Augen verloren wird. Eine Antwort darauf geben Argumentationstheorien, die an die rhetorische Tradition anknüpfen. Übung
(3)
Gauthier gibt folgende "richtige" Beispiele für praktische Schlüsse
(S.105):
(1) Du möchtest Zucker in deiner Suppe haben. Wenn du nicht den Kellner darum bittest, kannst du keinen Zucker für deine Suppe bekommen. Deshalb mußt du den Kellner darum bitten. (2) Smith möchte Western gewinnen sehen. Wenn Smith nicht den Paß schlägt, kann Western nicht gewinnen. Deshalb muß Smith den Paß schlagen. - Diskutieren Sie den Charakter der logischen Notwendigkeit.
1.3.
Inhaltlich-rhetorische Ansätze
1.3.1. Topische Argumentation Wenn im Zusammenhang einer Argumentationstheorie von Rhetorik die Rede ist, darf man nicht an jene Entwicklung denken, die der Eleganz oder Brillianz der Rede nachgeht. Statt des im weitesten Sinne stilistischen Zweigs der Rhetorik geht es vielmehr um den sog. topischen. Schon die Bezeichnung "Topik" weist dabei auf den entscheidenden Punkt: im Vordergrund stehen die "örter" (griechisch topoi), die man aufsuchen muß, um Argumente zu finden, die bestimmte Probleme lösen helfen. Darin drückt sich der Gedanke aus, daß Argumentieren vor allem Schlußfolgern eine Problem a u f a r b e i t u n g der Kunst des V e r a r b e i t e n s Kunst, Argumente zu f i n d e n
verlangt. Statt
von Argumenten geht es eil so um die
und damit Gesichtspunkte der "Erörterung"
eines Problons aufzudecken. Dies ist sowohl vcm Inhalt der Argumentation wie von der Partnerbezogenheit her gedacht: Argumente liegen nicht einfach vor
11
vind können entsprechend immer schon "methodisch" behandelt werden, sondern Argumente sind gerade das, was entdeckt und entsprechend dem schen
spezifi-
Problem als angemessen vertreten werden muß. Zur Argumentation ge-
hört in diesem Sinne ein gemeinsames Vorverständigtsein als Basis aller Uberzeugung wie ein Wissen um die Standpunkte des Gegenspielers: ohne ein Stück Gemeinsamkeit ist Argumentation ebenso unmöglich wie ohne Wissen über die Vorstellungen des Gegenübers, an die man anknüpfen kann. Dazu dienen eben die Topoi als für bestimmte Problembereiche entwickelte und bewährte Gesichtspunkte, die dem nach einer Lösung Suchenden behilflich sein sollen. Nach einer plastischen Definition von 1h. Viehweg stellen sie "vielseitig verwendbare, überall anwendbare Gesichtspunkte (dar), die im Für und Wider des Meinungsmäßigen gebraucht werden und zum Wahren hinführen kön5 nen" . Berühmte Kataloge solcher 1t>poi hat es im Rechtswesen gegeben; noch heute kennt jeder Topoi der Art wie "audiatur et altera pars" (es maß auch die andere Seite gehört werden) oder "in dubio pro reo" (im Zweifelsfall für den Angeklagten); sie entstammen fast inner der Tradition der römischen Rechtspflege, doch sind sie im Prinzip in allen Kulturen überliefert, z.B. die folgenden auch bei uns bekannten Beispiele aus dem Talmud: "Eine Sünde zieht die andere nach sich", "Ein überzeugender Mund muß auch ein offenes Ohr haben". Wie läßt sich an diese Tradition anknüpfen? Natürlich ist dies nicht in dem Sinne möglich, daß etwa neue Topoi-Kataloge ausgearbeitet würden, obwohl es im Prinzip etwas Derartiges gibt: z.B. die Erfindung des "Verursacherprinzips" bei der Abfallbeseitigung. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr der Wahrheitsbegriff, der sich im prämissensuchenden Verfahren der Ttopik ausdrückt. Während die Wahrheit der Logik auf die Richtigkeit des Schließens bezogen ist und z.B. die Relevanz einer Fragestellung als gegeben hinnehmen muß, ist die Wahrheit der Topik gerade umgekehrt auf das Aufdecken von relevanten Problemen bezogen, denen sie mit plausiblen Vorschlägen zu begegnen sucht. Dieses Verfahren ist nur als kritisches zu begreifen, bei dem es um das Verfechten von Wahrheits a n s p r ü c h e n
in einem niemals endgültig oder absolut "lös-
baren" Prozeß geht. Es ist deshalb kein Zufall, daß Ch. Perelman als einer der Wortführer der rhetorischen Argumentationstheorie in seinem zusanmen mit L. Olbrechts-Tyteca verfaßten Werk tatsächlich an den G e r i c h t s prozeß als lYbdell der Argumentation anknüpft, und zwar explizit gegen das von ihm immer wieder auf Descartes' "Oours de la Methode" zurückgeführte l o g i s c h e 5 6
Modell^. Der
Viehweg 1953 (1965), S.12. Im folgenden ist Bezug genommen auf Perelman/Olbrechts-Tyteca
1958
(1969).
12
Grund liegt darin, daß das logische Modell gerade den entscheidenden Bezugspunkt des Argumentierens ausklammert, auf den es für Perelman/Olbrechts-Tyteca ankcnmt: den Zuhörer. Die Bravour des Argumentierens im "logischen" Bereich resultiert danach einzig aus der Tatsache, daß man mit dem Zuhörer alle wirklich
wichtigen Probleme ausklammert; formale Gültigkeit ist
letztlich Gültigkeit, die für niemanden i n t e r e s s a n t
ist. Dies
bedeutet nicht nur, daß formale Gültigkeit keinen besonderen Wert z.B. für Handlungsmotivationen hat, sondern vor allem, daß bei den entscheidenden Fragen, die uns zur Argumentation bewegen, formale Gültigkeit schon aufgrund der spezifischen Sachbezogenheit überhaupt keinen Anhaltspunkt findet. Die Kriterien des Argumentierens sind nämlich genau das, was i η Argumentationen gefunden werden muß und nur f ü r
bestürmte Zusammenhänge geltend gemacht werden kann.
Es gibt keine absoluten Kriterien, sondern Kriterien wechseln mit den Feldern, auf denen argumentiert wird: sie sind feldabhängig (Teil II). Auf dieser Grundlage entsteht nun das entscheidende Problem, den Wahrheitsbegriff, ohne den m n eine sinnvolle Argumentationstheorie nicht aufbauen kann, nicht im Nebulösen versinken zu lassen, vielmehr Wahrheit nun als feldabhängig zu e r r e i c h e n d e
Wahrheit auszuweisen. Perelman/Olbrechts-Tyteca
haben dies dadurch zu leisten versucht, daß sie Techniken der Argumentation aufdeckten, die bei aller geschichtlichen und partnerbezogenen Einschränkung einen sinnvollen Weg zur Wahrheit aufzeigen helfen sollen. Dabei geht es ihnen in erster Linie um eine Durchleuchtung von bestimmten (bekannten) Techniken im Hinblick auf ihren Wahrheits w e r t
(Teil III). So unterscheiden sie zu-
nächst eirmal grob zwischen (1) quasi-logischen Argumenten, (2) Argumenten, die auf der Struktur der Realität basieren und (3) Relationen, die die Struktur der Realität etablieren. Zu (1) gehört etwa eine Erörterung der Rolle des Lächerlichen in der Argumentation, zu (2) Argumente, die aus unserer "normalen" Weltansicht stanmen wie z.B. unsere Anschauungen über Grund und Folge oder unser Denken über Personen und ihre Handlungen, zu (3) schließlich Argumentationsformen wie z.B. Berufung auf Beispiele, sowie auf Analogien und Metaphern beruhende Argumentationen. Allerdings geht es Perelman/Olbrechts-Tyteca, wie sie selbst betonen (S. 9), bei diesen Techniken nicht im eine Art Einführung in die Überredungskunst. Vielmehr sollen die antreffbaren Techniken das Schematische d e s
Argumen-
tierens freilegen helfen. Deshalb findet man auch iitmer wieder Überlegungen zur R e l e v a n z
von Argumenten. Perelman/Olbrechts-Tyteca sind sich der
Gefahr eines Abgleitens ins Unverbindliche einer rhetorisch ansetzenden Argumentationstheorie durchaus bewußt und erörtern deshalb inmer wieder die Frage
13
der Evidenz. So kernten sie zur These, daß Wahrheit letztlich an die Zustimmung einer universellen Zuhörerschaft gebunden ist, allerdings a l s
übergreifen-
de Wahrheit den historisch-konkreten Verhältnissen nicht gerecht werden kann (Teil I). Obwohl Wahrheit einen Zug ins Universelle h a t , kann sie nur als konkrete, und das heißt: von Sprechern für Sprecher formulierte, deutsam
be-
werden. "Objektive Fakten" oder "objektive Wahrheit" - Perel-
man/Olbrechts-Tyteca benutzen diese Ausdrücke selbst in Anführungszeichen (S. 33) - haben sich inmer wieder als wandelbar und wandlungsbedürftig erwiesen. Es kennt darauf an zu sehen, daß und wie Menschen bestinmte Dinge für real, wahr und objektiv gültig gehalten haben. Dabei haben durchaus inmer wieder Eliten eine entscheidende Rolle gespielt, die für einen bestürmten Zeitraum festlegten, welche Kriterien jeweils argumentationsrelevant wurden. Allerdings ist dies der Punkt, an dem die Autoren ihre Analysen abbrechen. Das Geltungsprobisn, obwohl als d a s
Problem erkannt, wird bei ihnen nicht
gelöst, in gewissem Sinne nicht für lösungsfähig gehalten. Es ist in einan andern Theorieentwurf insofern neu angegangen worden, als nun die Geltung von Argunentationen über den Anspruch der Argumentierenden zum eigentlichen Ausgangsproblem genacht wird. Übung
(4)
Zu den "technischen" Eigenschaften von Argumentationen zählt die Tatsache, daß alle Argumente im Prinzip zu sog. argumenta ad hominem werden, also zu auf bestimmte Zuhörer gemünzte Argumente. Nur in Ausnahmefällen können Argumente sozusagen von ewiger Geltung sein und dann argumenta ad humanitatem werden. Eine interessante Frage ist nun, wie solche argumenta ad hominem ins Spiel gebracht werden. Perelman/Olbrechts-Tyteca unterscheiden dabei eine seriöse Version, die an das Wissen des Zuhörers anknüpft, von einer listigen, die das Wissen trickreich ausnutzt: der Typ des argumentum a d personam. - Wie würden Sie auf diesem Hintergrund folgende Argumentation (S. 112):
beurteilen
Α Sie sind viel zu streng zu ihren Mitarbeitern. Β Sie sind keineswegs derjenige, der mir das zu sagen hat; Ihre eigene Firma würde Nachprüfungen viel weniger standhalten als meine.
1.3.2. Substantielle Argumentation Einen solchen Versuch stellt die heute vielleicht bekannteste, jedenfalls überall aufgegriffene Argumentationstheorie von St. Toulmin dar^. Sie ist ungefähr gleichzeitig mit dem Werk von Perelman/Olbrechts-Tyteca entstanden und hat mit diesem vieles gemeinsam. Dazu gehört sewohl die Anknüpfung an die Rhetorik
7
Toulmin 1958
(1975)
14
wie die Berufung auf das Vorbild' des Gerichtsprozesses. Statt jedoch von den v e r s c h i e d e n e n
konkreten Argumentationstechniken auszugehen,
interessiert sich Toulmin von vornherein für das, was a l l e m
Argumentieren
zugrunde liegt: für das Schema (im englischen Original layout) des Argumentierens (Kap.III). Allerdings - und darin liegt wieder die Anknüpfung an die Rhetorik - ist dieses allen Argumentieren Gemeinsame bezogen auf die Tatsache, daß es so etwas wie die "richtige" Argumentation nicht geben kann. Richtigkeit im Sinne von formaler Ableitbarkeit ist das falsche Ideal; stattdessen gehe es um substantiell Ergiebiges. Substantielle, d.h. inhaltlich gefüllte Argumentationen - das ist die irrmer wiederkehrende These - sind nicht einfach logisch schwache Argumentationen, sondern sie zeichnen sich durch etwas aus, was die noch so "wahren" analytischen Argumentationen niemals erreichen: sie erzeugen n e u e s
Wissen (Kap. IV). Statt zu versuchen, substantielle Argu-
mente immer "sicherer" machen zu wollen, müsse eher das analytische Ideal aufgegeben werden, das mit dem Prinzip der Sicherheit zugleich das der Inhaltsleere impliziere (Kap.V). Der "Graben" zwischen sachhaltigen Argumenten und der These, die sie begründen sollen, kann niemals geschlossen, sondern nur überbrückt werden. Entscheidend ist aber nun, daß Toulmin diese Ideen an das alte Vorbild des Argumentierens anschließt: an den Syllogismus. Zwar ist der 'traditionelle Syllogismus d a s
Instrumentariim formalen Argumentierens, aber nur dadurch,
daß die in ilm dargestellten Schlußverfahren zu einfach angewendet werden. Toulmin setzt deshalb an die Stelle des alten Dreierschemas von 1. und 2. Prämisse scwie Conclusio ein erweitertes Scharia, in dem die Tatsache der Erfahrungsgebundenheit unserer Prämissen und der (normalerweise lediglich erreichbaren) Wahrscheinlichkeit unserer Ergebnisse berücksichtigt werden können. Dieses Schema wird im Prinzip in diesem Buch überncrmen, so daß es hier nicht näher erläutert zu werden braucht. Soviel sei jedoch vorweggenommen: der traditionelle Syllogismus leidet (aus der Sicht Toulmins) letztlich an der Verallgemeinerung, die mit der 1. Prämisse irritier behauptet werden muß. Verallgemeinerung aber ist der Tod für die Gewinnung von n e u e m
Wissen,
weil man dann irrmer in einem abgeschlossenen Universum des unveränderlich "Wahren" lebt. Deshalb muß gerade diese Verallgemeinerung gesprengt werden. Dies geschieht dadurch, daß die allgemeine Prämisse als in unserer konkreten Erfahrungswelt fundiert und mit ihr veränderbar ausgewiesen wird. Konkrete Argumentationen mögen dann durchaus im Dreiertakt des Syllogismus verlaufen man muß sich nur inner bewußt sein, daß dieser Dreiertakt nur unter der Voraussetzung einer für den Augenblick als allgemein Prämisse zustandekcnmt.
b e t r a c h t e t e n
15
Aus dieser Sicht ist es klar, daß Toulmin wie Ρerelman/Olbrechts-Tyteca die Feldabhängigkeit der Argumentation geradezu zu d e m
Ausgangspunkt überhaupt
macht. Dan dient bereits die Analyse des für formale Folgerung natürlich zentralen Begriffs der Unmöglichkeit (S.26ff.). Dabei zeigen schon wenige Beispiele, daß es völlig verschiedene Formen des Nicht-Könnens gibt: so bedeutet es etwas anderes, daß janand keine männliche Schwester haben kann bzw. daß einer ein bestürmtes übergroßes Gewicht nicht zu heben vermag usf. Es gibt m.a.W. terminologische neben physikalischen Unmöglichkeiten, so daß es in Argumentationen darauf ankorrmt, die a n g e m e s s e n e n
Kriterien zu
finden. Ähnlich geht es mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit: man kann nicht gleichsam sub specie aeternitatis feststellen, was wahrscheinlich ist und was nicht (S.58f.). Was zum Zeitpunkt einer Äußerung wahrscheinlich war, kann auf falschen Annahmen beruhen oder durch spätere Ereignisse unwahrscheinlich werden usf. Deshalb müssen Behauptungen iirmer nach dem Grad der zum betreffenden Zeitpunkt bestehenden Gewißheit spezifiziert werden. Notwendigkeit und Möglichkeit sind abhängig von den Feldern, auf denen wir argumentieren. Toulmin trifft hier spöttisch die Vertreter der formalen Argumentation, indan er ihnen vorhält, daß Begriffe wie Möglichkeit oder Widersprüchlichkeit im konkreten Alltagsleben überhaupt nicht relevant werden. So wäre es absurd, Henry Kissinger als ein "mögliches" Mitglied des amerikanischen Davis Cup Teams zu bezeichnen oder aus der Tatsache, daß jemand an einem Mittwoch heiratet zu folgern, daß dies möglicherweise ein Wbchentag war (S.151). Eine Konsequenz dieser Auffassung ist es, den Fortschritt der Wissenschaft in der Erarbeitung der Standards (der Kriterien) zu sehen, die unser Urteilen jeweils bestimnen. Wissenschaften schaffen Begründungs s p r a c h e n ,
in
denen man sich bei der Probienerörterung verständigt. Entsprechend vertritt Toulmin die Ansicht, daß Kepler oder Freud nicht nur unsern Glauben verändert haben, sondern auch unsere Art zu argumentieren; die Standards für Relevanz und Beweis sind durch Kepler bzw. Freud in gewissem Sinne neu festgelegt worden (S.223). Unsere Standards sind also durch und durch historisch, die "letzten Prämissen", die unser Urteilen jeweils anleiten. Das Wissen selbst ist deshalb generell vorläufiges Wissen. Allerdings sieht Toulmin eine Art notwendige Entwicklung: wir o r d n e n
unser Wissen inner besser, machen es - wie es, g Köpernikus zitierend, heißt - unserm Geiste irrmer angenehmer . In diesem Sinne stellt z.B. das Newtonsche Weltbild gegenüber dem Köpernikanischen einen Fortschritt dar: was sich früher mit sehr komplizierten Formeln berechnen ließ, wird nun durch die Gravitationstheorie sozusagen auf einen Streich durchschaubar. Trotzdem ist die Gravitationsformel nicht einfach "wahr". Sie ist z.B. durch Einsteins Entdeckungen prinzipiell überholt worden.
16
An dieser Stelle liegt ein sehr wichtiges Problem: zwar dehnt Itoulmin den Wahrheitsbegriff mit Recht auf den Bereich des praktischen Wissens aus, aber er engt ihn im Hinblick auf kritische Möglichkeiten drastisch ein. Wahrheit scheint zur Konvention zu werden, die b e l i e b i g
bestimmbar ist. Diese
Frage soll später aufgegriffen werden. Übung
(5)
Toulmin führt als ein illustratives Beispiel für die Rolle von Begründungssprachen, aus denen heraus Argumentationen nur sinnvoll verstanden werden können, die Betrachtung der Bewegung bei Aristoteles und Galilei an (S.56ff.). Aristoteles stellte sich Bewegung als Ü b e r w i n d u n g eines Widerstandes vor, wobei er z.B. einen von einem Pferd gezogenen Wagen vor Augen hatte: das Pferd bewegt den Wagen, indem es Kraft gegen Trägheit aufbringt. Anders Galilei: Er stellte sich Bewegung als einen Vorgang dar, der durch Widerstand b e g r e n z t wird, prinzipiell also gerade kein Ende findet - so wie ein auf dem Meer treibendes Schiff letztlich immer weitertreiben würde, wenn es nicht an ein Hindernis stieße. - Welche Folgerungen ergeben sich daraus für eine Erklärung von Bewegungen im jeweiligen "Weltbild"?
1.4.
Abgrenzungen und Ausblick
Die einleitenden Banerkungen sollten den Blick dafür schärfen, was man von einer Theorie der Argumentation erwarten kann und was nicht. Dabei mögen mehr oder weniger starke Sympathien angeklungen sein; eine historische Genealogie oder gar ein Richten über Ansätze sind nicht beabsichtigt. Was herauskamen sollte, ist vielmehr dies: wenn man der Frage nachgeht, worauf Argumentationen beruhen, stößt man auf Probleme, die sich sowohl aus einer formal-logischen Perspektive wie aus einer inhaltlich-rhetorischen bearbeiten lassen. Formallogische Ansätze sind auf ein Systandenken bezogen, das ein großes Maß an Subtilität einräumt, jedoch grundsätzlich auf einen Bereich geteilten oder definierten Wissens verwiesen ist. Die Ausbaufähigkeit dieser Ansätze mag mancher anders beurteilen, sie ist jedoch in diesem Punkt begrenzt. Dies sollte gerade auch der Blick auf die Problematik der praktischen Schlüsse verdeutlichen. Obwohl sie sogar den Bereich des Handelns einer formalen Behandlung zugänglich machen, fehlt ihnen gleichsam der Hebel des Inhaltsbezugs. Darin liegt der entscheidende Vorteil der rhetorisch orientierten Versuche. Im Gegensatz zum Systandenken der Logik kann man sie als problanbezogen charakterisieren. Ob sie eher an konkrete Argumentationstechniken anknüpfen oder das Gemeinsame allen Argumentierens zum Ausgangspunkt wählen, sie stellen jeweils die Geltung von Urteilen im Hinblick auf ihre konkret geschichtliche und partnerbezogene Situation in den Mittelpunkt. Das führt zu Schwierigkeiten bei der
17
Nachprüfbarkeit, aber auch zu einer ganz anderen Sensibilität im Hinblick auf die R e l e v a n z keine r e i n e n
von Fragen und Urteilen. Aber solche Unterschiede sind Alternativen, auch wenn eine Annäherung der Standpunkte
nicht ausgeschlossen ist. Rhetoriker tun gut daran, soviel Verfahrensnäßiges wie möglich von der Logik zu übernehmen; Toulmins Schema der Argumentation ist ein Zeugnis dafür. Verfahren müssen aber eben unter dem Aspekt scher
kriti-
Wertung behandelt werden, wobei "kritisch" auf die Problematik des
Abwägens bezogen ist, wie es unter den Voraussetzungen konkret-geschichtlicher Situationen gegeben ist. Schließlich müssen Verfahren auch auf die
Praxis
als Hintergrund allen Argumentierens bezogen werden: nicht nur Handlungen sind in diesen Sinne "praktisch", auch theoretische Erklärungen, wie sie in der Wissenschaft benötigt und erzeugt werden, sind letztlich aufgrund ihrer geschichtlich bestimmten Interessen in der Alltagswelt fundiert bzw. mit ihr verbunden. In diesem Sinne kann man in den rhetorischen Ansätzen die grundlegendere Position sehen, zu der die logischen inner spezielle Angebote darstellen. Wer - wie es im vorliegenden Versuch geschieht - an der Frage der Gültigkeit von Argumenten in konkreten Alltagsargumentationen interessiert ist, wird deshalb bei den rhetorischen Versuchen zumindestens einen guten
A u s g a n g s p u n k t
finden. Schließlich muß noch ein mögliches Mißverständnis ausgeräumt werden: wenn mit den vier behandelten Ansätzen charakteristische Positionen anhand von einzelnen Vertretern vorgeführt wurden, darf dies nicht Uber viele andere interessante und vielleicht nicht weniger wichtige Beiträge hinwegtäuschen. Einige werden noch näher zur Geltung kaiinen, z.B. Thesen von J. Habermas, der direkt an Ttoulmin anschließt; andere werden dagegen völlig übergangen. Dazu rechnen z.B. die vielfältigen Arbeiten der sog. Erlanger Schule, wo insbesondere P. Lorenzen die Argumentationsthanatik mehrfach bearbeitet hat. Seine Ideen schließen einerseits an die Logiktradition mit ihrem Madellsprachenkonzept an, versuchen aber andererseits kritische Positionen einzubeziehen. Dies geschieht allerdings anhand einer Bedeutungsanalyse von Ausdrücken, angefangen mit den logischen Operateuren wie und oder oder bis zu Begriffen der Umgangssprache. Dies läßt gerade den Verfahrensaspekt der Argumentation im Hintergrund und scheint entsprechend konkrete Argumentationen kaum zu erhellen. Eine ähnliche Konsequenz ergibt sich bei der Lektüre von Kopperschmidts umfangreichen Rhetorik-Buch, das explizit an Lorenzen anknüpft (S.18). Der Rückgriff auf Searles Sprechaktkonzept wird hier zu einer Analyse von Regeln für den sog. "persuasiven Sprechakt" genutzt, die ebenfalls eher die Problematik der Rationalität selbst als die spezifische Argumentationsform beleuch-
18 ten. Dem steht schon der Weg einer Analyse des argumentativen Handelns als ein
Sprechakt im Wege, eine Lösung, die gegenüber dan von Ibulmin nahege-
legten Konzept von verschiedenen
z u s a m m e n w i r k e n d e n
Akten
von vornherein ungünstig erscheint. All dies gibt der Position Toulmins ein gewisses Ubergewicht. Es ist aber zu betonen, daß dieses Übergewicht mehr durch den Ansatz und das spezifische Analyse I n s t r u m e n t a r i u m
zustandekomrit, das Toulmin entwickelt
hat. In anderer Hinsicht wird man Toulmin nicht ohne weiteres fruchtbar machen können. Dies gilt nicht nur für die Ausarbeitung von mehr Möglichkeiten kritischer Rechtfertigving, sondern auch im Hinblick auf eine größere Aufmerksamkeit für die linguistische Auswertung des Begründungssprachen-Konzepts. Schließlich gilt es einen Prcblanbereich der Argumentation aufzunehmen, den Toulmin nicht einmal berührt hat: die Frage der möglichen Beschränkungen der Wahrheitssuche in der konkreten Diskussion, wenn man so will: die Problematik des Argurven t i e r e η s .
1.5.
Kcumentierte Literaturangaben
Zu 1.2.1. Modellsprachen Die Darstellung zu den Mode11sprächeη stützte sich besonders auf Metzing 1975, der die linguistische Diskussion gut zusammenfaßt. Ausführlicher über die Begriffe der Presupposition und Implikation gerade im Hinblick auf den hier interessierenden Hintergrund informiert Keller 1974. Stärker auf Schlußverfahren selbst abzielende Versuche sind vorgelegt worden von Kummer 1972, Schnelle 1975 sowie - allerdings den Begriff der Argumentation in einem weiteren Sinne verwendend Deimer 1975 (jeweils mit mehr oder weniger ausführlicher Beispielanalyse). Eine zusammenfassende Einordnung und Würdigung enthält Wunderlich 1974, bes. Kap. 2. Eine eingehendere Behandlung der Schlußverfahren, in den Naturwissenschaften unter dem Begriff der Erklärungsproblematik behandelt, findet man erläutert bei Hempel 1966 (1974), Carnap 1966 (1969) sowie Stegmüller 1969. Zur Kritik daran vgl. aus der Sicht eines "Logikers": Bar-Hillel 1970, bes. die Kap. 16, 17 und 24; aus der Sicht eines "Rhetorikers": Apel 1973, bes. die Einleitung. Zu 1.2.2. Praktische Schlüsse Das Vorbild dieser Ausführungen war Gauthier 1971. Grundsätzlicher ausgearbeitet findet sich die Problematik in Gauthier 1963 (21966) sowie in von Wright 1974, Werken, die das Problem des Schließens im praktischen Bereich im Kontext der sog. Handlungstheorie diskutieren; weitere Werke in diesem Zusammenhang: Hamblin 197ο, von Wright 1963 und von Wright 1968. Thematisch verwandt ist der moralphilosophisch orientierte Zweig der sog. Analytischen Sprachphilosophie, z.B. Hare 1952 (1972) oder die Aufsätze in Grewendorf/Meggle (Hgg.) 1974. Eine neue Wendung des Grundgedankens findet sich im spieltheoretischen Zweig der Pragmatik, z.B. bei Heringer 1974 und Kummer 1975. Die neueste Ausarbeitung hat Wunderlich 1976 vorgelegt.
19 Zu 1.3.1. Rhetorische Argumentation Bahnbrechende Arbeiten zur rhetorischen Argumentationstheorie stammen von Perelman, vor allem Perelman/Olbrechts-Tyteca 1958 (1969) sowie - als Überblick - Perelman 1969 und Perelman 1971. Eine gute Würdigung dieses Ansatzes findet sich auch bei Johnstone 1968. In Deutschland hat das Buch von Viehweg 1953 (21965) eine besondere Wirkung ausgeübt. Eine direkt argumentationstheoretisch angelegte Rhetorikaufarbeitung findet sich aber - meist schon unter dem Einfluß der Sprechaktlehre - erst bei Maas 1973, Kopperschmidt 1973a, wo auch die (z.T. sehr überholte) Einzelliteratur zur Rhetorik zu entnehmen ist, oder Strecker 1976. Aus dem angelsächsischen Bereich ist Kenneavy 1971 zu nennen (bes. Kap. 4). Aus den zahlreicher werdenden neueren Aufsätzen zur philosophischen Standortbestimmung der Rhetorik vgl. etwa Pöggeler 1970, aber auch eine so interessante historisch ansetzende Studie wie die von Gadamer 1963. Zu 1.3.2. Substantielle Argumentation Die entscheidende und heute alle Arbeiten zur Argumentationstheorie beeinflussende Studie stammt von Toulmin 1958 (1976) . Eine interessante Ergänzung stellt Toulmin 1961 (1968) dar. Toulmins Ansatz ist vielfach aufgegriffen worden, insbes. von Habermas 1973. Eine eingehende Würdigung findet sich auch bei Wunderlich 1974. Zur Kritik an Toulmin vgl. etwa Grewendorf 1975, der im übrigen den Typus der zu speziellen Wissenschaftsbereichen ausgearbeiteten Argumentationstheorie repräsentiert. Zu 1.4.
Abgrenzungen und Ausblick
Als Werke der Erlanger Schule zu empfehlen sind Kamlah/Lorenzen 1967, Lorenzen 1974a und b, Lorenzen/Schwemmer 1973 und Schwemmer 1970 sowie - als Lehr- und Arbeitsbuch - Gerhardus u.a. 1975. Diese Ansätze wurden interessanterweise in den meisten Aufsätzen eines Sammelbandes zum Thema Argumentation unter didaktischen Aspekten ausgearbeitet: Ulshöfer (Hg.) 1975. Kopperschmidts Argumentationsauffassung, die sich an eine breite und sehr lesenswerte Darstellung der Rhetorik und ihrer Rezeption seit der Antike anschließt, findet sich in Kopperschmidt 1973a sowie in Kurzform in Kopperschmidt 1973b.
2
TYPEN VON ARGUMENTATIONEN UND TYPEN VON ARGUMENTEN
Als Einstieg in die Argumentationstheorie empfiehlt es sich, zunächst Anschluß an die allgemeinen Vorstellungen über sprachliche Verständigung und speziell Sprechhandlungen zu finden^, um von da aus die Besonderheiten des Argumentierens zu bestürmen. Dies ist allerdings kein ganz ungefährlicher Ausgangspunkt. Argumentationen sind keine Sprechhandlungen wie z.B. die bekannten Typen des Versprechens oder der Aufforderung. Dafür sind sie zu komplex: Schon das Beispiel des juristischen Prozesses zeigt, daß man mit so unterschiedlichen Teilhandlungen wie Feststellungen, Gutachten, Erklärungen (der Beteiligten), Aussagen (der Zeugen) usf. zu tun hat, die letztlich alle zusairtnen etwa die Argumentation des Rechtsanwalts bestimmen bzw. in seinem Plädoyer für das endgültige Urteil herangezogen werden. Darüberhinaus sind Argumentationen aber auch keineswegs einheitlich: Wir unterscheiden schon umgangssprachlich mindestens die Fälle der Erklärung und der Rechtfertigung. Gerade diese Zweiteilung, die nicht zuletzt für die G e g e n s ä t z l i c h k e i t
der
einleitend besprochenen Ansätze verantwortlich ist, muß so behandelt werden, daß sie ihre die Einheit der Argumentation sprengende Kraft verliert. Deshalb soll zunächst der zweite Punkt etwas näher verfolgt werden. 2.1.
Typen von Argumentationen
2.1.1. Erklärungen und Rechtfertigungen Ob man Argumentationen van Typ der Erklärung oder der Rechtfertigung vor sich hat: goneinsam ist ihnen die Zuordnung von These und Begründung. Nach dem Zeugnis der Umgangssprache unterscheiden wir diese Typen jedoch in einem wichtigen Punkt: von Erklärungen sprechen wir im Bereich von sen,
Ereignis-
von Rechtfertigungen im Bereich von H a n d l u n g e n
. Wir er-
klären Thesen etwa zun Problan der Eigenschaften von Licht oder zum Verhalten von Tieren und rechtfertigen Thesen etwa zun Bau von Atankraf twerken oder der Verurteilung eines Angeklagten. Zwar ist die Umgangssprache nicht ganz einheit1
Grundlagen der allgemeinen Sprechakttheorie werden in diesem Heft vorausgesetzt, ihre Kenntnis allerdings nur umrißhaft in Anspruch genommen; zur Einführung vgl. Göttert/Herrlitz 1977.
21
lieh, aber man würde es vermeiden, z.B. von der Rechtfertigung von Eigenschaften des Lichtes oder von einer Erklärung des Baus von Atankraftwerken zu sprechen; vor allem im letzten Fall wäre jedenfalls etwas ganz anderes geraeint. Der Grund liegt u.a. auch darin, daß Erklärungen irrmer einen theoretischen Charakter haben, Rechtfertigungen einen praktischen: über Lichteigenschaften kann man in diesen Sinne nur theoretisch etwas wissen, den Bau eines Atomkraftwerks als eine Handlung nur praktisch betreiben (oder verhindern). Diese Grundunterscheidung hat ihr Spiegelbild in einer verschiedenen Charakterisierung der Thesen. Im Bereich des theoretischen Wissens haben Thesen normalerweise die Form von B e h a u p t u n g e n
: man behauptet
etwas über Lichteigenschaften und begründet es im Zuge einer Erklärung. Im Bereich von praktischen Handlungen kann man zwar auch von Behauptungen sprechen, doch stellt sich sogleich eine Unterscheidung ein: Behauptungen im Handlungsbereich können sich auf vollzogene und nun zu vertretende Handlungen beziehen, aber auch auf erst auszuführende. Dieser Unterschied kcmrtt heraus, wenn man statt von Behauptungen einerseits von E m p f e h l u n g e n von B e w e r t u n g e n
, andererseits
spricht: wir rechtfertigen demnach vergangene
Handlungen in der Form einer Bewertung, zukünftige in der Form einer Empfehlung. Anders ausgedrückt: im ersten Fall rechtfertigen wir uns f ü r
etwas, indem
wir eine Handlung entsprechend bewerten, im zweiten rechtfertigen wir was,
et-
indem wir eine Handlung entsprechend erpfehlen. Auch diese Differen-
zierung, die man vielleicht nicht inner exakt durchhalten kann, hat eine weitere Stütze. Wer Behauptungen erklärt, verweist ebenso auf Gründe wie derjenige, der Empfehlungen oder Bewertungen rechtfertigt. Man spricht aber bei Behauptungen meist von einem bestürmten Typ von Gründen, nämlich von
Ursachen
Wer eine Handlung rechtfertigt, bezieht sich dagegen nicht auf Ursachen, sondern auf Gründe im engeren Sinne; man kann vielleicht sagen: auf lungsgründe
Hand-
. Dan entspricht noch eine weitere Unterscheidlang: Wer
Ursachen für Behauptungen geltend macht, benutzt als allganeinen Maßstab Gesetze,
die letztlich auf der Universalisierung von inner wieder-
kehrenden Beobachtungen beruhen; bei Handlungen entsprechen dan N o r m e n . Die "Gesetze unseres Handelns" sind ja nur metaphorisch "Gesetze"; sie haben inrner den Grundzug der (prinzipiell verletzbaren) Verpflichtung, wie er nur dan Bereich der Intentionen zukamt. Auf Anhieb sieht es nun so aus, daß man von Rechtfertigungen nur da spricht, wo es um Handlungen geht, von Erklärungen da, wo Ereignisse zur Debatte stehen. Deshalb könnte es irritieren, wenn man mit Recht geltend macht, daß man Handlungen auch erklären kann. Dies ist ja z.B. die Aufgabe des Psychoanalytikers,
22
aber ggf. auch die des Rechtsanwalts in einem Prozeß. Man sieht aber, daß dies kein grundsätzlicher Einwand sein kann: Handlungen, die werden, werden w i e
Ereignisse
erklärt
erklärt, d.h. in der (theoretischen)
Einstellung des Beobachters. Die Gründe des Handelnden werden dann wie Ursachen b e h a n d e l t , indem ein bestürmtes Ereignis (z.B. ein Totschlag) in Ursache-Folge-Ketten eingebettet wird. Dem entspricht es im übrigen, daß Ursachen dieses Typs terminologisch besonders charakterisiert sind, und zwar als M o t i v e . Motive eines Handelnden sind im Gegensatz zu Gründen eines Handelnden inner u n t e r s t e l l t e ruft sich ja auch kaum auf s e i n e
Motive. Wer sich verteidigt, be-
Motive, sondern eben auf seine Gründe.
Dagegen können nur die "Gründe" eines andern (als Motive) im Sinne von Gesetzen behandelt werden: so sucht die Soziologie ganz in Analogie zu den Naturwissenschaften nach Gesetzmäßigkeiten im Verhalten von Menschen, während der Angeklagte vor Gericht sich gerade auf seine normativen Einstellungen und Erwartungen berufen wird. Man kann sich diese verwickelten Unterscheidungen an folgendem Beispiel klarmachen: Vor Gericht, wo es also in jedem Fall um Handlungen geht, reicht eine Erklärung gerade nicht aus, sondern die Erklärung muß erst als Boden für eine Bewertung e i n g e s t u f t Erklärungen ( f ü r gen ( U r t e i l
werden.
Totschlag) können im Falle von Handlungsrechtfertigunüber Totschlag) nur Teilhandlungen darstellen; sie müssen
Bewertungen (des Staatsanwalts) oder Empfehlungen (des Verteidigers) letztlich zugeordnet sein. - In einen Schöna zusanmengefaßt: Argumentation TYP
TYP
Rechtfertigung
Erklärung
FORM DER THESE
FORM DER THESE
Behauptung
Empfehlung
FORM DER THESE Bewertung
GEGENSTAND DER THESE
GEGENSTAND DER THESE
GEGENSTAND DER THESE
Ereignis
Handlung
Handlung
TYP DES "GRUNDES"
TYP DES "GRUNDES"
TYP DES "GRUNDES"
Ursache
Motiv
Grund i.e.S.
MASSTAB Norm
23
Es ergibt sich also eine interessante Asyrrmetrie: während man scwohl Ereignisse wie Handlungen erklären kann, beziehen sich Rechtfertiglangen inrner auf Handlungen; dafür aber gibt es zwei Arten von Rechtfertigungen, während man Behauptungen stets erklärt. Übung
(6)
Die Zweiteilung von Erklärung und Behauptung auf der einen, von Rechtfertigung und Empfehlung bzw. Bewertung auf der andern Seite überschneidet sich mit einer andern Zweiteilung, die leicht Verwirrung stiften kann. So werden Argumentationen einmal als Behauptungs-, zum andern als Begründungshandlungen hingestellt. - Worauf beruht d i e s e Unterscheidung? - Worin liegt eine mögliche Doppeldeutigkeit im Begriff der Behauptungshandlung?
2.1.2. Argumentation und Konrnunikation Wenn im vorigen Abschnitt Erklärung und Rechtfertigving als Grundmöglichkeiten der Argumentation behandelt wurden, muß einer möglichen Verwirrung entgegengearbeitet werden, die sich hier leicht einstellt. Wir gebrauchen diese Termini durchaus auch da, vro keine Argumentation gemeint ist bzw. wo niemand eine Argumentation erwartet. Wenn ein Hörer in einem Gespräch beispielsweise nicht genau verstanden hat, von wem oder von was die Rede ist, verlangt er eine "Erklärung". Die Antwort hat nichts Argumentatives an sich, sie ist vielmehr eine Auskunft, eine Information. Ähnlich liegt der Fall, wenn ein Angegriffener auf einen Vorwurf reagiert: seine "Rechtfertigung" kann darin bestehen, daß er einen Patzer eingesteht. Dies läßt sich als Entschuldigung einordnen und entsprechend von den argumentativen Möglichkeiten in dieser Situation abheben. Entschuldigungen und Informationen stehen als gleichsam "normales" komnunikatives Handeln dem besonderen Fall der Argumentation gegenüber. Worauf beruht diese Besonderheit? Dazu seien zunächst etwas konkretere Fälle der Grenzziehung betrachtet. Sie lassen sich anhand der folgenden kleinen Dialog-Beispiele diskutieren, die sämtlich auf eine Situation bezogen sind, in der ein Partner einen andern einen Weg "erklärt": Dialog I A: Wissen Sie, wie man nach X kommt? Β: Ο ja, da war ich schon ein paarmal. Sie brauchen bloß von hier die Hauptstraße bis Y zu nehmen; dann biegen Sie an einer riesigen Eiche links ab und folgen dem Bach bis zum Forsthaus. Dort steht ein Schild, das sie nach X führt. A: Das ist ja einfach, hoffentlich finde ich nur die Eiche. B: Das ist wirklich kein Problem; außerdem sind lauter Buchstaben und Herzen in ihre Rinde geschnitten.
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Dialog II Α: Ach sagen Sie, wie würden Sie nach X laufen, über Y oder über Z? B: Das kommt darauf an. Heute bei diesem miserablen Wetter würde ich wahrscheinlich über Ζ gehen. Man braucht dann nicht diesen glitschigen Weg hinterm Forsthaus zu passieren. Außerdem hätte man ohnehin bei diesem Nebel kaum etwas von der schönen Aussicht bei Y. A: Richtig, an die Aussicht habe ich auch gedacht, aber den unangenehmen Weg hätte ich total vergessen. Aber meinen Sie nicht, das Stück vor Ζ wäre genauso schlammig? B: Kaum, ich war noch gestern dort.
Dialog III A: Herr Meyer geht immer über Y nach X, nicht über Z; wieso eigentlich? B: Ich nehme an, er verträgt die Sonne nicht so gut. Über Ζ muß man aber mehr als zwei Kilometer durchs offene Feld, und da kann man je nach Wetter ganz schön ins Schwitzen kommen. A: Aber er hat doch neulich einen Sonnenhut gekauft. B: Eben, da sehen Sie ja, wie wenig er die Sonne verträgt.
Der entscheidende Schnitt liegt hier zwischen Dialog I und den Dialogen II und III. Vergleicht man zunächst I mit III, so kann man zwar in beiden Fällen von "Erklärung" sprechen; aber nur III hat argumentative Züge. Während I als Auskunft einzustufen ist, die auf einer Beschreibung beruht, ist ja in III tatsächlich ein G r u n d
im Spiel. Genau dies ist auch in II der Fall.
Während aber in III der Grund im Sinne einer Ereignis-Erklärung angeführt wird, also als Motiv, und insofern dam Modell der theoretischen Erklärung folgt, spielt in II ein Handlungsgrund die entsprechende Rolle; dieser Grund trägt denn auch keine theoretische Erklärung, sondern eine praktische Empfehlung. Zwar stellen sowohl Dialog II wie III nicht gerade Musterbeispiele für komplizierte Argumentationen dar. Man könnte vielmehr bei II von einen Ratschlag, bei III von einer Annahme sprechen. Aber Ratschläge und Annahmen arbeiten zumindestens im Prinzip mit Gründen und sind insofern Vorformen von Argumentationen. Eine Beschreibung wie bei I ist dies gerade nicht. Nun ist interessant, daß die letzte Bemerkung äußerst mißverständlich ist. Zwar ist es richtig, daß die Beschreibung in diesem Fall Grundlage einer Auskunft ist und insofern nicht einmal Rudimente von Argumentationen erkennen läßt. Aber Beschreibungen m ü s s e n
nicht argumentations-fremd sein. Es
gibt vielmehr einen ganzen Wissenschaftsbereich, dessen Wissenschaftlichkeit auf nichts anderen beruht als auf Beschreibungen: die Historie und alle mit ihr verwandten Disziplinen. Beschreibungen dienen in diesem Fall als Grundlage dafür, bestimmte Zusammenhänge zu verstehen. Sie tragen letztlich genauso
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Thesen wie die Gründe, Ursachen und Motive, die wir bisher kennengelernt haben. Aber Beschreibungen sind nicht schon als solche argumentativ. Vielmehr hängt das Urteil, ob eine Beschreibung brauchbar ist oder nicht, von der Tatsache ab, ob sie etwas treffend wiedergibt oder verfehlt. Sie führt also iirmer auf Beobachtbarkeit zurück, etwas, was bei Argunentationen nicht ausreicht. Allerdings können Beschreibungen i η Argumentationen den Charakter von Gründen übernehmen. Davon wird gleich näher die Rede sein. Um auch dies in eine Übersicht zu bringen, die zugleich als terminologische Festlegung dienen kann, wäre folgender Vorschlag möglich: argumentativ
vor-argumentativ
kommunikativ
Rechtfertigung Empfehlung Erklärung Beschreibung
Ratschlag Annahme Beschreibung
Entschuldigung Aufforderung Auskunft Beschreibung
Man sieht: Es läßt sich relativ eindeutig zwischen argumentativen und kcrrrnunikativon Sprachgebrauch unterscheiden, wobei einige Sprechhandlungen beide Elemente miteinander verbinden. Interessanterweise sind diese Möglichkeiten aber nicht beliebig: während Rechtfertigungen und Entschuldigungen gleichsam die Pole besetzen und man allenfalls von einer ausführlichen bzw. weniger ausführlichen Rechtfertigung sprechen kann, bekennt man in den beiden anderen Fällen alle drei Möglichkeiten, während schließlich die Beschreibung völlig verschieden einsetzbar erscheint. Entscheidend für alle Unterschiede aber ist, ob etwas auf eine Begründung angelegt ist oder nicht. Mit Argunenten, das sollte deutlich geworden sein, verbinden wir einen Anspruch, der eingelöst wird oder jedenfalls an dessen mögliche Einlösung man denkt. Jede Argumentation enthält ein Moment des Prozesses, so daß man sich wirklich am besten am Gerichtsprozeß orientiert, wenn ρ man Argumentieren verstehen will . Auch dort ist es ja so, daß ein Anspruch verfolgt wird: der Gläubiger beispielsweise verfolgt seinen Rechtsanspruch auf Zurückerstattung eines geliehenen Kapitals und macht dafür Gründe geltend. All dies karmt beim bloßen Informationsaustausch nicht vor; er kann entsprechend überall abgebrochen werden. In der Argumentation steckt demgegenüber ein Element der Suche und damit verbunden die Ausrichtung auf ein Ziel. Es ist nicht unbedingt der Streit, der diese Eigenart hervorruft, sondern die Tatsache, daß man - u.U. unter Aufgabe seiner gewohnten Ansichten - darauf aus ist, 2
Gegen die Orientierung am Gerichtsprozeß spricht sich Kopperschmidt aus (vgl. 1973a, S.56).
26
eine Lösung zu finden. So jedenfalls ist es bei der Rechtfertigung von Handlungen und bei der Erklärung von Ereignissen: wir suchen nach der (besten) Lösung auf einen Felde, wo Unklarheit herrscht. Statt sich am Streit zu orientieren, könnte man besser von einer Problenatisierung sprechen, um das Argumentieren vorläufig zu kennzeichnen. Dieser P r o b l e m bezug ist es auch, der der normalen Karmunikation, ja im strengen Sinne sogar der formalen Schlußfolgerung abgeht. Niemand möchte nach Gründen befragt werden, wenn er feststellt, daß gerade die Sonne scheint oder daß zwei und zwei vier gibt; Informationen und Schlußfolgerungen können allenfalls k o m p l i z i e r t
sein. Dagegen
will jeder normalerweise Gründe hören, wenn es um Rechtfertigungen und Erklärungen geht. Diesen Gründen wollen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden. Übung
(7)
Unter den Dialogbeispielen für Erklärungen und Rechtfertigungen ist bei den Argumentationstypen der Fall der Bewertung nicht behandelt worden. - Worin liegt die Besonderheit der Bewertung? - Konstruieren Sie einen Dialog, der auch diesen Typ abdeckt.
2.2.
Typen von Argumenten
2.2.1. Fakten, Grundsätze, Stützen Wenn soeben Argumentationen von andern sprachlichen Handlungen unterschieden wurden und sich gewisse Argumentationstypen abzeichneten, soll uns nun die Frage beschäftigen, was es mit den Argumenten selbst auf sich hat, die die Argunentationen "tragen". Diese Frage ist in gewissen Sinne unnatürlicher als die nach den Argumentationstypen. Argumente scheinen allenfalls gut oder schlecht, falsch oder richtig sein zu können. Jedoch zeigt schon der Syllogismus, daß die Conclusio, auf die hin er angelegt ist, von zwei
verschiedenen
Prämissen getragen ist, genau gesagt: (1) von einem allgemeingültigen Satz sowie (2) von einem konkreten Faktum. Diese beiden Prämissen stellen aber nichts anderes dar als die Argumente, die wir für die Gonclusio geltend machen. Worauf beruht ihre Unterschiedlichkeit? Wie ist ihr Zusarrmenspiel zu verstehen? Dazu noch einnal ein Blick auf unser sehr einfaches Eingangsbeispiel, jetzt in der etwas allgemeineren Form einer Waschmittelempfehlung. Wenn es nicht um pure Reklame geht, könnte man etwa folgendes vorbringen, im jemanden von der Qualität eines entsprechenden Erzeugnisses zu überzeugen: X ist empfehlenswert, weil es neueste chemische Substanzen enthält, die wenig aggressiv sind, aber gründlich reinigen und wenig kosten.
Worauf beruht in diesem Fall die Überzeugungskraft?
27
Zunächst einmal liegt dies sicher an den Fakten, die ins Feld geführt werden: der Hinweis auf die chemischen Substanzen und ihre Wirkung. Es sind aber durchaus nicht
e i n f a c h
Fakten im Spiel: die Fakten werden erst auf
einem bestürmten Hintergrund angeführt. Die Eigenschaften schonend, gründlich und billig sind ja nicht irgendwelche Eigenschaften, stellen keine beliebig ausgewählten Fakten dar. Man muß vielmehr wissen, und jedes Mitglied unserer modernen Zivilisation weiß dies, daß von Waschpulver
e r w a r t e t
wird,
rtap es gerade diese Eigenschaften besitzt. Man könnte dies als eine Art Maßstab formulieren: Waschpulver ist gut, w e n n
es schonend, gründlich und
billig ist; kurz: wenn es optimal seinen Zweck erfüllt. Eben deshalb, weil Waschpulver so sein
soll,
ist der Hinweis auf
diese
Fakten so gut.
übrigens könnte jeder sofort eine Antwort geben, wenn jemand fragte, wieso denn dieser Maßstab wirklich angelegt werden muß. Man würde dann etwa sagen, daß man die Wäsche nicht nur waschen, sondern auch schonen will, daß sie auf jeden Fall sauber werden soll und daß das schließlich nicht ins Geld schlagen darf. In diesem Sinne sind also audi die Maßstäbe selbst begründet. Dieses Zusaimienspiel von Fakten, Maßstaben und Gründen für die Maßstäbe ist letztlich das Zusantnenspiel der Argumente, die Argumentationen tragen. Es läßt sich im Hinblick auf unser Beispiel folgendermaßen anschaulich zusammenfassen:
Waschmittel X wäscht
empfehlenswert
Waschmittel haben reine Zweckfunktion Unsere allgemeinen Anschauungen über die Erfüllung von Zwecken
Es sind also letztlich drei Argumenttypen, die Argumentationen tragen. Es lohnt sich, diesen verschiedenen Typen terminologisch etwas schärfere Konturen zu geben. Nebenbei bannerkt, unterscheiden wir in der thigangssprache durchaus Behauptung und Begründung, aber wir unterscheiden nicht zwischen den Typen von Argumenten. So karmt es, daß man in Diskussionen oft unterschiedliche Argumente, die aber lediglich verschiedenen Typen angehören und durchaus einem
Argumentationsstrang zugeordnet werden können, für verschieden
im Sinne von mehrfach (oder gar kontrovers) hält. Das kann äußerst verwirrend sein. Man muß also zwischen einem Argumenttyp und einer kompletten Argumentation unterscheiden, die alle genannten Bestandteile enthält (und allenfalls verschiedene Beispiele für einen Argumenttyp vorlegen kann). Im folgenden ist unter "Argument" also immer ein bestimmtes zu verstehen und im Auge behalten,
28 daß es nisnals ausreichen kann, um eine Argumentation abzudecken. "Argument" ist also dreideutig. Wir haben in einer Argumentation eine Τ h e s e ^ (die Behauptung, Bewertung oder Empfehlung) und drei Typen von "Argumenten". 4
Für den ersten Typ, für die F a k t e n
also, soll kein neuer Name ge-
wählt werden. Fakten stellen das dar, vorauf wir uns im Sinne von beobachtbaren Ursachen und angebbaren Motiven oder angenommenen Gründen berufen. Da diese Fakten schließlich unsere Behauptung begründen sollen, müssen sie gut gewählt sein. Aber so schön sie auch sind, sie allein können nicht überzeugen. Es muß vielmehr wiederum einen "Grund" geben, weshalb gerade 5 sie so "gut" sind. Das sind unsere Maßstäbe, die wir nun G r u n d s ä t z e
nennen. Sie
haben innrer allgemeinen Charakter; im Bereich der Naturwissenschaften sind dies die Gesetze, im Bereich der Handlungswissenschaften die Normen. Wenn wir Fakten haben, die solchen Grundsätzen entsprechen, sind die Fakten gut begründet. Es ist oft wichtiger, über solch gute Grundsätze zu verfügen als über Fakten. Fakten kann man iitmer nennen, aber die Grundsätze, auf Grund derer sie eine Behauptung rechtfertigen, fallen einem vielleicht nicht ein. Es kann passieren, daß wir ganz gute Grundsätze haben und die wirkungslosesten Fakten anführen. Häufiger scheint allerdings der andere Fall vorzukeimen; wir haben die durchaus adäquaten Fakten und bedienen uns der simpelsten Grundsätze (wir "machen" dann nichts aus den Fakten) . In solchen Fällen wird eine Argumentation kaum wirklich überzeugen. Der dritte Typ von Argumenten schließlich sollen die S t ü t z e n ^
sein. Sie enthalten die Erfahrungen, aus denen
die allganeinen Grundsätze gewonnen, aus denen sie als "Gesetze" gleichsam herausdestilliert sind. Fragt janand nach der Gültigkeit der Grundsätze, verweisen wir ihn entsprechend auf diese Stützen. Die Wissenschaft beispielsweise ist mit ihren Ergebnissen ein ständiger Lieferant von Stützen; die Erfahrungen, die sie aufarbeitet, dienen als Grundlagen für unsere je anfallenden Beurteilungen.
3
4 5 6
Die folgende Terminologie lehnt sich eng an Habermas 1973 an. Zur Orientierung gebe ich jeweils Toulmins Terminologie sowie einige deutsche Übersetzungen (Wunderlich 1974; Huth 1975). So steht für These im Toulminschen Original claim, in der deutschen Übersetzung Behauptung oder Konklusion; bei Wunderlich Konklusion, bei Huth Anspruch. Bei Toulmin datum, in der Übersetzung Daten; ebenso bei Wunderlich und Huth. Bei Toulmin warrant, in der Übersetzung Schlußregeln; bei Wunderlich Rechtfertigung, bei Huth Berechtigung. Bei Toulmin backing, in der Übersetzung Stützung; bei Wunderlich Stützung, bei Huth Absicherung.
29
In einer Übersicht: FAKTEN
>
THESE
bei theoretischem Wissen: Ursachen, Motive;
bei theoretischem Wissen: Behauptungen
bei praktischem Handeln: Gründe
bei praktischem Handeln: Empfehlungen, Bewertungen
GRUNDSATZ bei theoretischem Wissen: Gesetze bei praktischem Handeln: Handlungs-, Bewertungsnormen
STÜTZEN bei theoretischem Wissen: Beobachtungen u.ä. bei praktischem Handeln: Bedürfnisse, anerkannte Bestimmungen u.ä.
Wenn man das erarbeitete Argumentationsmodell mit konkreten Argurtentationen vergleicht, fällt auf, daß wohl selten alle "Stationen" wirklich vorkamen und ebenscwenig jede "Station" nur eirinal besetzt ist. Wir können - was den ersten Punkt anlangt - meist einiges voraussetzen und verlassen uns - was den zweiten anlangt - kann auf allzu einseitige Argumentationen. Daraus resultiert die Schwierigkeit, daß die verschiedenen Argumente, die in konkreten Argumentationen vorkommen, einerseits darauf zurückzuführen sind, daß verschiedene Argument-Typen ins Spiel gebracht werden (also Fakten, Grundsätze, Stützen) andererseits aber auch darauf, daß meist für einen Argument-Typ mehrere Beispiele einstehen. Man kann damit rechnen, daß oft Verwirrung dadurch entsteht, daß nicht ganz klar ist, welche Funktion ein bestimmtes Element haben soll. Die größte Schwierigkeit in dieser Hinsicht macht vielleicht die Unterscheidung zwischen Fakten und Stützen, also zwischen dem, was als Grund für die These bzw. dem, was als Begründung für den Grundsatz genannt wird. Dem wird später ein Hauptaugenmerk gelten. Übung
(8)
Obwohl die Argument-Typen noch genauer behandelt werden, ist es jetzt schon möglich, einige Argumentations-Erfahrungen besser zu verstehen. So kann man oft schlagwortartige Einwände hören, deren strategische Bedeutung klar wird, wenn man sie auf dem Hintergrund unseres Modells sieht: (1) Das ist doch Kirchturmspolitik! (2) Das ist doch provinziell!
30 (3) (4) (5) (6)
Kannst du nicht mal an was anderes denken? Das ist doch Wunschdenken! Du leidest wohl unter Phantasielosigkeit! Das ist aber weit hergeholt!
Gelegentlich kommt der Argument-Typ in Begriffen wie den folgenden zum Ausdruck: (7) grundsätzliche Einigung (8) leitender Gesichtspunkt (9) Orientierungsmaßstab - Erläutern Sie diese Schlagworte und Begriffe im Sinne des Modells. - Auf was verweisen die Sprecher mit ihnen?
2.2.2. Qualifikatoren und Einschränkungen Das Argumentationsnodel1 könnte nun den Eindruck machen, als sei mit seiner Hilfe das möglich, was der Syllogismus offenbar nicht schafft: nämlich auf inhaltlichem Boden zwingende Folgerungen zustande zu bringen. Aber gerade dies wäre ein völlig falscher Gebrauch des Modells. Zwingende Folgerungen ergeben sich allein dann, wenn (1) die Stützen erfahrungsfrei gelten und außerdem (2) das Faktum in den Stützen schon implizit enthalten ist. Ein Beispiel Toulmins (1958(1975), S. 137): FAKTUM
P-
Anne ist Schwester von Jack
THESE
Deshalb hat Anne rote Haare STÜTZE
Jede einzelne Schwester von Jack hat rote Haare
Die Frage ist also, wie der C h a r a k t e r
der Schlußfolger ungen zum
Ausdruck gebracht werden kann. Dabei spielen zunächst die Stützen eine entscheidende Rolle. Das Beispiel von Annes roten Haaren zeigt, daß Argumentationen im konkreten Alltagsbereich gegenüber formal-logischen Schlußfοlgerungen gerade durch die Grundsätze bestürmt sind, die wir aus konkreten Erfahrungen b i l d e n . Die Grundsätze "wachsen" gleichsam aus den Stützen und werden deshalb umgekehrt auch mit den Stützen begründet bzw. abgesichert. Dabei ist klar, daß alle Schlußfolgerung letztlich an dan Problem hängt, daß dieser Austausch von Stütze und Grundsatz bzw. umgekehrt von Grundsatz und Stütze wirklich gerechtfertigt ist. Wie kann man das aber feststellen? An unserm einfachen Waschmittel-Beispiel ist dies schon angedeutet worden. Man konnte fragen, wieso eigentlich Waschmittel reine Zweckfunktion haben, so daß man also - un nur einen Aspekt herauszugreifen - nicht mehr Geld ausgeben will als nötig. Ofcwohl man eine solche Frage vielleicht als absurd enpfindet, muß man zugeben, daß es Fälle gibt, wo
31
man eher viel Geld ausgeben will, z.B. bei Prestigeobjekten. Unser Maßstab für Waschmittel, die reine Zweckfunktion, ist also durchaus selbst wieder begründbar: und zwar in unsern allgemeinen Anschauungen über die Welt, speziell in unserm Fall: in unsern Anschauungen über das, was wir als prestigebeladen betrachten und was als rein zweckbestirrmt. Aber diese Art der Begründung - gewissermaßen eine aller Argumentation intern zugrundeliegende Begründung zweiter Stufe - bringt die ganze Unsicherheit mit sich. Es ist interessant, die Lösung dieser Problematik einmal bei einen Vertreter formal-logischen Schließens zu verfolgen; Carnap hat seine Vorstellung in einem kleinen Beispiel zum Ausdruck gebracht^: "Wir fragen den kleinen Toni, warum er weint. Und er antwortet auch mit einer Tatsache: "Der Jakob hat mich auf die Nase gehauen". Warum betrachten wir dies als eine hinreichende Erklärung? Weil wir wissen, daß ein Schlag auf die Nase schmerzt und daß Kinder, denen etwas wehtut, weinen. Das sind allgemeine psychologische Gesetze. Sie sind so gut bekannt, daß sogar Toni sie voraussetzt, wenn er uns sagt, warum er weint. Wenn wir zum Beispiel mit einem Menschkind zu tun hätten und sehr wenig über die Psychologie der Leute vom Mars wüßten, dann würde man die einfache Erwähnung einer Tatsache wohl nicht als eine adäquate Erklärung des Benehmens des Kindes betrachten. Nur wenn man Tatsache mit anderen Tatsachen mit Hilfe von wenigstens einem Gesetz verbinden kann, das explizit angegeben oder stillschweigend verstanden wird, kann man Erklärungen geben." (S. 15)
Carnap erkennt genau das Problem; er begegnet ihm letztlich mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß wir in den entscheidenden Punkten schon übereinstimmen, daß genug grundlegendes Wissen zur Verfügung steht, um unsere Grundsätze (Gesetze) für abgesichert zu halten. Allerdings hat Carnap einen sehr schönen Fall ausgewählt und ist im übrigen mit naturwissenschaftlichen Problemen befaßt, wo der Kreis der Beteiligten klein und die Reichweite der übereinstirrmung immerhin gut überschaubar ist. Für die Praxis alltagssprachlichen Argunentierens ist diese Grundlage viel weniger sicher. Toulmin hat deshalb bei seiner Ausarbeitung des Argumentationsschemas den Vorschlag gemacht, den Charakter der Schlußfolgerung durch die Einfügung von Qualifikatoren und Einschränkungen zu verdeutlichen (S.92ff.) Ein Qualifikator ist beispielsweise die Charakterisierung der Conclusio als "wahrscheinlich"; eine Einschränkung stellen Sätze dar, die mögliche Ausnahmen verdeutlichen sollen. In der Terminologie Itoulmins sieht das Gesamtschema dann folgendermaßen aus (S.95):
7
Carnap 1966
(1969)
32 D-
•Deshalb,
I
Ο,
Κ
I Wenn nicht
Wegen SR I Aufgrund von
AB
S (D = Datum; Κ = Konklusion; SR = Schlußregel; 0 = Modale Operatoren; AB = Ausnahmebedingung; Β = Stützung) 1t>ulmins Paradebeispiel für dieses Schema«ist die Abwicklung der These, daß Harry ein britischer Staatsbürger ist (S. 96): Harry J wurde auf den , Bermudas geboren
|
_ , ,. *.·,·,_ k- Deshalb, vermutlich, |
Wegen
Harry ist briti, scher Staatsburger
Wenn nicht
Wer auf den Bermudas geboren wurde, ist im allgemeinen britischer Staatsangehöriger
Beide Elternteile waren Ausländer / Er wurde in Amerika eingebürgert / ...
I
Aufgrund von Folgende Gesetze oder rechtliche Vorkehrungen Man mag diese letzte Barriere gegen den Syllogismus für hilfreich halten oder nicht: feststeht, daß Argumentationen im Alltagsbereich stets der Einschränkung unterliegen, sich historisch konkret und partnerbezogen Geltung verschaffen zu müssen. Dabei kennt es auf die Art an, wie wir Fakten, Grundsätze und Stützen z u s a m m e n b r i n g e n
, wie wir dieses Zusammenbringen plausibel
machen können. Unsere nächste Aufgabe wird es entsprechend sein, dieses Zusammenspiel genauer zu betrachten, wobei nun die Beispiele nicht länger mehr oder weniger konstruiert sind, sondern authentischen Beiträgen entstanmen. Übung (9) Wenn man das nun im Ganzen entwickelte Argumentationsmodell Toulmins betrachtet, entsteht die Frage, wieweit andere Probleme und Vorschläge damit harmonieren. Dazu gehört z.B. die Unterscheidung einer Alltagsargumentation und eines sog. Normdiskurses, die häufig in der Literatur gemacht wird. - Wieweit ist diese Unterscheidung durch Toulmins Argumentationsmodell abgestützt? - Geben Sie eine Übersicht, die die Unterscheidung von Erklärung, Empfehlung, Bewertung auf der einen Seite und der von Alltagsargumentation und Normdiskurs auf der andern miteinander in Verbindung bringt.
33 2.3.
Kccmentierte Literaturangaben
Zu 2.1.1. Erklärungen und Rechtfertigungen Die Ausführungen stützen sich auf die Erläuterungen bei Habermas 1973c, S.24Iff. Zum Begriff des Praktischen vgl. Lübbe 1971, Riedel (Hg.) 1974. Eine anders aufgebaute Unterscheidung, und zwar nach kausaler und teleologischer Erklärung, bietet von Wright 1974. Danach wird jedoch für den Bereich theoretischen Wissens gegenüber dem praktischen Handeln gerade ein p r i n z i p i e l l unterschiedlicher Argumentationstyp behauptet (vgl. bes. S.36f.) Zu 2.1.2. Argumentation und Kommunikation Die Unterscheidung von Argumentation und Kommunikation hat Habermas (in Habermas 1971) als Unterschied von kommunikativem Handeln und Diskurs formuliert. Diskurse im Habermasschen Sinne würden allerdings Ratschläge ausschließen. Zum Problem der Beschreibung ist in der sog. Analytischen Sprachphilosophie viel gearbeitet worden; vgl. z.B. Toulmin und Baier 1969, wo allerdings die Möglichkeit der argumentativen "Einordnung" von Beschreibungen nicht erörtert wird. Beschreibung als Grundlage von Argumentation diskutiert dagegen der umfangreiche Sammelband von Kosellek/Stempel (Hgg.) 1973, worin besonders auf die Beiträge von Stempel (S.325ff.) und Lübbe (S.542ff.) hinzuweisen wäre. Zu 2.2.1. Fakten, Grundsätze, Stützen Die Darstellung folgt eng Toulmin 1958 (1975). Instruktive Anwendungen des von Toulmin ausgearbeiteten Modells finden sich bei Wunderlich 1974, S.70ff. (mit ausführlichem Beispiel) oder Huth 1975, S.86ff. Die breiteste Anwendung hat das Modell bei Botha 1970 gefunden, der das Prinzip der generativen Semantik (Lakoffs) in Toulminschen Schritten nachzukonstruieren bemüht ist. Zu 2.2.2. Qualifikatoren und Einschränkungen Vgl. Toulmin 1958 (1975), S.92ff.
3
DAS ZUSAMMENSPIEL DER ARGUMENTE
3.1.
Kontroverse und alternative Argumentationen
Konkrete Argumentationen, seien sie als Kontroversen angelegt oder als Erörterungen, "drehen" sich um die Grundsätze, die sie tragen. Im Fall der Kontroverse werden stets
v e r s c h i e d e n e
Grundsätze im Spiel sein,
aber dies ist auch bei Erörterungen möglich. Bei Erörterungen ist allerdings die Verschiedenheit auf Ergänzung angelegt, während in Kontroversen die Verschiedenheit der Grundsätze die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse wiederspiegelt. Für beide Möglichkeiten soll nun im folgenden jeweils ein Beispiel etwas ausführlicher besprochen werden.
3.1.1. Kontroverse Argumentationen Das Beispiel einer Kontroverse ist so gewählt, daß zugleich alle Argvmentationst y p e n
berücksichtigt werden können, also die Rechtfertigung (mit Empfehlung
und Bewertung) sowie eine Erklärung. Der Fall ist einem Zeitungs-Artikel entnommen, der zunächst vollständig wiedergegeben wird^: Streit
tun ein
Behindertenheini
ALBERNE ARGUMENTE In Lüneburg wehren sich Bewohner gegen fünfzehn Kinder / Von Joachim Holtz Wie die Sache auch ausgehen mag: es bleibt ein schlechter Nachgeschmack." Winfried Harendza sagt es eher bitter als ärgerlich. Der Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) in Lüneburg hat die Schwierigkeiten nicht erwartet, die "die Sache" ihm jetzt bereitet, ihm und fünfzehn behinderten Kindern. Für die Kinder hatte der Verband nach langer Suche endlich ein Heim gefunden. Die erste halboffene Einrichtung für schwer bewegungsgestörte Kinder sollte entstehen. Nachdem sich seit 1971 ein mobiler krankengymnastischer Dienst der behinderten Kleinkinder in Lüneburg angenommen hatte, schien das Haus Magdeburger Straße 16 jetzt eine Gruppenbetreuung und eine sinnvolle therapeutische Arbeit zu ermöglichen. Besonders im Alter von drei bis sieben Jahren müssen die Behinderten das Leben in der Gruppe lernen. Eine Beschäftigungstherapeutin, eine Krankengymnastin und, für die sprachliche Förderung, eine Logopädin sollten ihnen im Lüneburger Heim dabei helfen. Vom 1. September an hat der Wohlfahrtsverband daher das Haus neben der 1
DIE ZEIT, 13.12.1974
35 Eigenheimsiedlung am Kreideberg gemietet. Auch ein Garten gehört dazu, wie sich das in jenem Stadtteil schickt. Für den neuen Verwendungszweck mußten an dem Haus einige bauliche Veränderungen vorgenommen werden: Für Behinderte ist oft schon die erste Türschwelle ein schwieriges Hindernis. Eine Rampe wurde aufgegossen, zwei neue Türen entstanden, um das Gebäude wurden ein paar Quadratmeter gepflastert. Damit jedoch begann jene Auseinandersetzung, die Winfried Harendza zurückhaltend als "die Sache" umschreibt, die Lüneburgs Bürger unter dem Stichwort "Magdeburger Straße 16" zu leidenschaftlichen Diskussionen aufruft und die im übrigen kein Einzelfall ist. Als der Bautrupp seine Arbeit begann, wurde den Nachbarn klar, was mit dem Haus nebenan geschehen sollte: Gleich jenseits des eigenen Jägerzauns, direkt neben dem stolz gehegten Garten, mit Blick auf die schmucken Bungalows der Situierten und Gesunden, wollte sich hier das Elend der Behinderten in aller Öffentlichkeit ausbreiten. Ein beauftragter Rechtsanwalt erhob Einwände gegen den Sonderkindergarten. Formaler Grund: Es fehlte die Genehmigung für den Umbau. Das Bauaufsichtsamt wies den Wohlfahrtsverband auf diese Unkorrektheit hin. Das Grundstück Magdeburger Straße 16 liege nach dem Bebauungsplan in einem reinen Wohngebiet, hieß es, und die Benutzungsverordnung lasse hier die Einrichtung eines Kindergartens nicht zu. Mit diesem Argument hatte auch der Nachbar Stellung gegen das Behindertenheim bezogen. Der An- und Abtransport der Kinder bringe zudem eine erhebliche Ruhestörung. Der Wohlfahrtsverband stellte daraufhin einen Antrag auf Änderung der Nutzungsverordnung. In einem Schreiben an den Nachbarn umriß Harendza Sinn und Ablauf der therapeutischen Arbeit im zukünftigen Heim, und die Stadt Lüneburg bat den Nachbarn, seine Bedenken zurückzustellen. Er tat es nicht. Die Mehrheit des Stadtrats jedoch entschied sich für das Projekt des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans wurde, mit Zustimmung des Regierungspräsidenten, erteilt. Der Nachbar indes will keine Behinderten nebenan. Er legte beim Verwaltungsgericht Widerspruch gegen Lüneburgs Beschluß ein. Das Gericht entschied, alle Bauarbeiten müßten eingestellt werden, bis über den Einspruch des Nachbarn entschieden sei. Außerdem bezweifelten die Richter, ob sich der DPWV wirklich genügend um ein geeignetes Grundstück bemüht habe. Es müsse ja nicht die Magdeburger Straße sein. Nun ist das Verfahren zwischen dem Wohlfahrtsverband und seinem derzeitigen Heim-Nachbarn beim Oberverwaltungsgericht anhängig. Die Kinder müssen warten. Rein juristisch sind das formale Abläufe. Das Streitobjekt aber ist für einige Lüneburger von lebenswichtiger Bedeutung. Winfried Harendza sieht hier vor allem eine bekannte Verhaltensweise gegenüber Behinderten, eine Abwehrreaktion der "Schönen" gegenüber den "Häßlichen", eine erschreckende Einstellung vieler Bürger gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern. "Wir kennen das doch. Gespendet wird gern. Es wird alles prima gefunden, wenn es nicht gerade vor der eigenen Haustür geschieht." Das Elend soll aus dem Blickfeld verschwinden; Krüppel gehören nicht auf die Sonnenseite der Straße. Ungewöhnlich am Lüneburger Behindertenstreit ist die Anteilnahme der Bevölkerung. Es gibt hier eine Bürgerinitiative für die betroffenen Kinder. Mit Leserbriefen, Zeitungsanzeigen, einem Tag der offenen Tür und Straßendiskussionen streiten ihre Mitglieder für die Einrichtung der Tagesstätte in der Magdeburger Straße 16. Ihr Slogan: Behinderte Kinder gehören zu uns ... in unsere Wohngebiete." Allerdings wohnt keiner der Beteiligten direkt neben dem Heim. Die Lehrerin Jutta Mühlenbeck ist eine der Sprecherinnen der Initiative. Die Argumente des Klägers und der drei Nachbarn, die ebenfalls gegen den Kindergarten hinter dem Zaun sind, erscheinen ihr nur als Vorwand. In der
36 Magdeburger Straße geht es vor allem um das Renommee des Wohngebietes. Die Anwohner machten das deutlich. Für sie drückt sich die Nachbarschaft der fünfzehn behinderten Kinder vor allem im Grundstückswert aus. Der Wert sinke um 30 ooo Mark, wenn der DPWV in das Heim ziehe. Mittlerweile hat die öffentliche Diskussion bewirkt, daß dem Wohlfahrtsverband ein neues Grundstück angeboten wurde, rund 300 Meter von der Magdeburger Straße entfernt. Winfried Harendza konnte dies der Lüneburger Landeszeitung entnehmen. Er selbst ist nicht angesprochen worden: "Es ist alles noch vage." Unbestreitbar ist: Die Betreuungsstätte wird dringend gebraucht. Rechtsstandpunkte und private Interessen lassen sich nicht über Jahre hinweg auf dem kranken Rücken von fünfzehn behinderten Kindern ausfechten. Eine Lösung ist jetzt in Sicht. Ein schlechter Nachgeschmack jedoch bleibt.
Diesen Fall kann man vier verschiedene Argumentationen entnehmen: zwei auf Durchsetzung von Absichten bezogene Argumentationen, eine Widerlegung einer Argumentation und eine Erklärung für das Zustandekommen von bestimmten Positionen: (1) die Argumentation des beauftragten Rechtsanwalts (2) die Argumentation der Bürgerinitiative (3) die Widerlegung der Rechtsanwaltsargumentation durch die Bürgerinitiative (4) die Erklärung des Argumentationsverhaltens durch den Geschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes
(1) ist eine Begründung, weshalb nicht gebaut werden darf, (2) eine Begründung, weshalb gebaut werden soll; insofern handelt es sich jeweils um (einander entgegengesetzte) Empfehlungen. (3) deckt eine eigentliche Begründung hinter der wirklich gegebenen auf - mit den Ziel, letztere als unberechtigt hinzustellen; insofern ist es eine Bewertung. Schließlich stellt (4) keine Begründung im Zusammenhang einer Rechtfertigung dar, vielmehr handelt es sich um die Erklärung eines Verhaltens, also den zweiten Typ von Argumentation. Statt Durchsetzung von Ansprüchen ist hier die Darlegung von Motiven der leitende Gesichtspunkt. Zunächst sollen alle vier Argumentationen kcrrmentiert und anschließend schematisch dargestellt werden. An einigen Stellen war das Schema mehr oder weniger aufzufüllen, weil die entsprechenden Argunente nicht explizit genannt wurden. Es wird dann jeweils besprochen, warum sie selbstverständlich waren. (1) Die Argunentation des beauftragten Rechtsanwalts Die Argumentation des Rechtsanwalts ist ganz auf den Fakten aufgebaut, daß eine Utibaugenehmigung fehlt, daß weiterhin das Grundstück in einem reinen Wohngebiet liegt und schließlich Ruhestörung zu erwarten ist. Die Fakten werden geltend gemacht, weil sie am Maßstab von bestürmten Gesetzen und Verordnungen ganessen die "Unkorrektheit" der Planung beweisen. Im Lichte der Benutzungsverordnung sind sie gute oder zwingende Gründe dafür, daß nicht gebaut werden darf. Denn Benutzungsverordnungen sind natürlich ernst zu nehmen; sie gehören als Gesetze
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zu jener Sicherheit, die der Staat dan Bürger gewährleistet und zu gewahrleisten verpflichtet ist. Wenn Gesetze nicht eingehalten würden, käme es zu ernstesten Polgen. Auf diese Erfahrungen und Bedürfnisse könnte sich also der Rechtsanwalt berufen (sich stützen), vrenn er die Benutzungsverordnving und ihren Inhalt als jenen Maßstab angibt, an dem gemessen die Fakten keinen Bau zulassen. Da dies jeder weiß, kann er diesen Punkt voraussetzen. Man sieht, die Argumentation ist durchaus in sich geschlossen. Allerdings hat sie einen entscheidenden Nachteil, der von der ersten Gerichtsentscheidung offenbar spontan anerkannt wurde: die angeführten "Gründe" haben überhaupt keinen Bezug zu den Fall, um den es eigentlich geht. Sie berücksichtigen m.a.W. nicht die Tatsache, daß es um dieses spezielle Projekt geht. Sie werden deshalb von dem Konmentator mit Recht "formal" genannt. Deshalb erteilt auch das Gericht im ersten Anlauf offenbar die Ausnalmegenehmigung. Gesetze sind da, um berechtigte Bedürfnisse zu schützen, sie können im Einzelfall jederzeit überprüft werden. Genau dies ist das Thema im folgenden Rechtsstreit. Der Kläger vertritt die Ansicht, daß seine Begründung ausreicht. Dies anerkennt schließlich das Gericht. Wir können sagen: es läßt sich auf den Grundsatz des Klägers ein, hält ihn für berechtigt. Noch eirmal anders ausgedrückt: indem das Gericht den Grundsatz anerkennt, anerkennt es auch die Begründung. Gerade auf diesen Grundsatz war ja die Begründung abgestellt. Der Kläger mußte wissen, daß sachlich keine Chance bestand und wählte eben diesen Weg. Folgerichtig taucht die Frage der Kinder an keiner Stelle auf. FAKTEN
-*· THESE
Es fehlt die Umbaugenehmigung Das Grundstück liegt in Wohngebiet Ruhestörung
Der Sonderkindergarten darf nicht gebaut werden
GRUNDSATZ
Gesetze und Verordnungen über den Bau von öffentlichen Einrichtungen (Benutzungsverordnung)
STÜTZEN Rechtssicherheit des Bürgers aufgrund von Gesetzen und Verordnungen (Hinweis auf Folgen der Mißachtung von Gesetzen für die öffentliche Ordnung)
(2) Die Argumentation der Bürgerinitiative Die Argumentation der Bürgerinitiative steht nicht n u r im Gegensatz zu der des Klägers; sie beruft sich sogar auf ein gleiches Faktum: auf die Tatsache, daß das Heim in einem reinen Wohngebiet liegen würde. Die Kläger stützten
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sich dabei aber auf einen völlig andern Grundsatz als die Bürgerinitiative. Für die Kläger "zählte" das Faktum deshalb, weil ein solcher Bau gegen die Benutzungsverordnung verstieß, für die Initiative deshalb, weil sie Behindertenheime nicht in Gettos, sondern nur in einer "natürlichen" Umgebung für sinnvoll hält. Für sie gilt also der Grundsatz, daß behinderte Kinder in Wohngebiete einbezogen werden s o l l e n .
Gerade diesen Bewertungsmaßstab drückt
ja ihr Slogan aus. Insofern ist ihre Argumentation inhaltlich und eben nicht formal angelegt. Sie fußt auf den Bedürfnissen der Kinder. Diese Bedürfnisse sind entsprechend dasjenige, worauf sich die Initiative mit ihrem Grundsatz stützt. Man kennt die Diskussionen im die Folgen einer Gettoisierung. Diese Erfahrungen sind also der Hintergrund, auf dem diesmal der Grundsatz der Aufnahme in Wohngebiete beruht, der wiederun den Schluß von der Dringlichkeit des Baus auf die wirkliche Ausführung letztlich rechtfertigt. Auch diese Argumentation ist also in sich geschlossen. Ihre Geschlossenheit verdankt auch sie der Durchhaltung eines einheitlichen Grundsatzes. Die Bürgerinitiative hält aber diese Begründung nicht nur für in sich schlüssig, sondern auch für adäquat. Gerade dies hebt sie dadurch hervor, daß sie den gegnerischen Argumentationsgang an diesem Punkt "packt". FAKTEN
• THESE
- Das Grundstück liegt in Wohngebiet - Die Kindertagesstätte wird dringend gebraucht
Der Sonderkindergarten muß gebaut werden
GRUNDSATZ Behinderte Kinder gehören in ein Wohngebiet
STÜTZEN Bedürfnisse von Behinderten; Folgen von Gettoisierung
(3) Die Widerlegung der Klägerargumentation Zunächst ist festzuhalten, daß nicht etwa die vorgebrachten Fakten für falsch erklärt werden. Sie sollen eher in ihrem Charakter als Scheingründe ("Vorwand") enttarnt werden. Der wahre Grund ist nämlich nach Meinung der Bürgerinitiative nicht die Wahrung der Rechtsordnung, sondern die des Rencrrmees und Besitzes. Im Lichte dieses Grundsatzes zählt aber ein ganz anderes Faktvm: der gefallene Grundstückswert, während die Frage der Genehmigung usf. sich eigentlich gar nicht stellt. Genauer gesagt: sie dürfte nicht geltend gemacht werden, weil es
39
keinen w i r k l i c h e n
Grund für sie gibt. Entsprechend fällt die Beur-
teilung der Stütze aus: natürlich muß sich derjenige, der Paragraphen in Anspruch nimmt, auch auf ein Gesetz stützen (bzw. auf die Rolle, die Gesetze in unserm Rechtsleben spielen). Das aber ist wiederum nur eine Schein-Stütze: in Wirklichkeit geht es um das Verhalten von Wohlstandsbürgern, die ihren Besitz und ihr Rencmee zu wahren pflegen und sich im übrigen im den andern nicht kürtmern. Um es noch eirmal zu betonen: die Argumentation wird zurückgewiesen, aber nicht etwa, weil sie sachlich unstinmig wäre, sondern weil sie nicht adäquat ist. Zur Frage des Baus gehört eine Begründung, die der sozialpolitischen Dimension gerecht wird, nicht eine formale. FAKTUM
fr. THESE
Sinken des Grundstückspreises um ca. 30000 DM
Der Sonderkindergarten soll (in Wahrheit aus folgendem Grund) nicht gebaut werden GRUNDSATZ
Gefährdung des Renommees und Besitzes
STÜTZEN
Verhalten von Wohlstandsbürgern
Der Geschäftsführer des Wbhlfahrtsverbandes führt nun Grundsätze an, die ein (4) Die Erklärung des Geschäftsführers bestimntes Verhalten erklären sollen. Dieanal geht es aber nicht um die Vertretung von Grundsätzen im Sinne des Geltendmachens für eine Empfehlung, sondern die Grundsätze werden aus der Perspektive des Beobachters formuliert. Dies ist die normale Einstellung z.B. auch des Wissenschaftlers, der irgendetwas erklärt. Die Grundsätze sind entsprechend die Erkenntnis, daß bestimnte Motive in solchen Fällen das Handeln von Betroffenen anleiten. In diesem Licht zählen die Motive gleichzeitig als die Fakten, die in diesem konkreten Fall vorliegen. Schließlich wird auch hier wieder deutlich, daß Motive nicht als solche in die Welt können; sie sind aus jenen Erfahrungen gewonnen, die man mit entsprechenden Problemen macht. Insofern stellen sie "Gesetze" dar, die man aus irrmer wieder beobachteten Verhalten gleichsam "herausgezogen" hat. Aufgrund dieses in der Erfahrung fundierten und dort auch irrmer überprüfbaren Gesetzescharakters beruht ihre Erklärungsfunktion. Der Geschäftsführer besitzt diese Erfahrungen und kennt entsprechende Motive. Er braucht sie bloß auf den konkreten Fall anzuwenden, un eine Erklärung für dessen Verlauf geben zu können.
40 FAKTEN
>• THESE Niemand will Nachbar eines Sonderkindergartens sein
Der konkrete "Fall" mit den sichtbar gewordenen Motiven: - "bekannte Verhaltensweise gegenüber Behinderten" - "erschreckende Einstellung gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern" usf GRUNDSATZ
Motive der Abwehrreaktion (wie bei den Fakten genannt) sind in Fällen dieser Art typisch
STÜTZEN Erfahrungen von entsprechenden Verhaltensweisen anderswo
Was kann man aus diesen verschiedenen Argumentationen lernen? Folgende Punkte sollen hervorgehoben werden: (1) Es hat sich gezeigt, daß Argunentation nichts mit "Schlüssigkeit" in dem Sinne zu tun hat, daß bloß innere Widersprüche vermieden werden müßten. Beide konträren Argumentationen waren durchaus schlüssig. Entscheidend wurde vielmehr die A d ä q u a t h e i t
der verwendeten Grundsätze. Die Zuordnung zu
sozialpolitischen gegenüber rein juristischen Maßstäben erschien als das eigentlich Entscheidende. Zugleich war damit eine ganz andere Stütze verbunden. Man kann geradezu davon sprechen, daß diese Stützen letztlich entscheiden: lassen wir juristische oder sozialpolitische Erfahrungen zu? Zu beiden Möglichkeiten gibt es vertretbare Bedürfnisse und überblickbare Folgen, aber welche Erfahrungen werden als ausschlaggebend bewertet? Nur nebenbei sei bemerkt, daß der Hinweis auf die "formale" Natur des Klägerarguments nicht falsch verstanden werden darf. Auch formale Argumentationen können ihr Recht haben. Ein normales Zusammenleben wäre ohne solche Möglichkeiten überhaupt nicht durchzuführen. Was allerdings geprüft werden ntuß, ist die Angemessenheit solcher Gründe im jeweiligen Fall. (2) Fakten entscheiden nicht über Thesen, vielmehr "sprechen" Fakten erst im Licht von Grundsätzen. Das zeigt sich an der Tatsache, wie die gegnerischen Positionen jeweils ein Faktum gemeinsam, aber mit verschiedener Funktion ins Feld führen. (3) Argumentationen bewegen sich zwar fast irrmer irgendwie im Strittigen, aber der Charakter des Strittigen kann sehr verschieden sein. Der Kaimentator hatte zwar offenbar besonders die Argumentation des Klägers im Blick, als er von
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"Albernheit" sprach, aber ein wenig Schatten fällt auch auf die Bürgerinitiative. Niemand war ja eigentlich betroffen - und schön argumentieren ist immer leichter als richtig handeln. Fast jeder würde das moralische Recht der Initiativen-Argumentation anerkennen, aber nicht ebenso bereitwillig auf die Handlung des Klägers verzichten. Insofern hatten beide Argumentationen etwas Mißliches an sich. Es war nichts
m o r a l i s c h
strittig. Jedenfalls haben
die Kläger sich offenbar Mühe gegeben, den moralischen Hintergrund gerade herauszuhalten. Nur in den beiden letzten Argunentationen, in der Bewertung der Klägerargumentation durch die Bürgerinitiative und der Erklärung des ganzen Falles durch den Geschäftsführer, kenrat der moralische Hintergrund ins Spiel, aber auch jetzt ohne eigentlich strittig zu sein. Dies führt vielmehr zu einem andern Typ von Argumentation, der darin liegt, die Klärung von vernünftigen Einstellungen allererst zu betreiben. Dann werden verschiedene Möglichkeiten ernsthaft erwogen. Dann ist allerdings auch der Blick auf die Grundsätze ganz anders: sie selbst stehen im Zentrum der Auseinandersetzung. Diese Fragen sollen aber erst im nächsten Kapitel aufgegriffen werden. Übung (10) Beim folgenden Beispiel einer Pro- und Contra-Diskussion handelt es sich um das Thema der Studienfinanzierung, zu dem zwei Journalisten Stellung genommen haben (beide Artikel von mir gekürzt)2. Zunächst D. Beckerhoff: "Kein Studium auf Pump" [...] Die Hochschulen stehen allen Studenten kostenfrei zur Verfügung - nur nützte die beste Hochschule dem nichts, der sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht besuchen kann: Aus seiner Sicht bedingen sich Hochschulangebot und Stipendium gegenseitig. Außerdem variieren die öffentlichen Hochschulausgaben je nach Studienfach ganz erheblich. Beispielsweise kostet den Steuerzahler ein Medizinstudent ohne Stipendium etwa doppelt so viel wie ein maximal geförderter Theologiestudent und sogar viermal soviel wie ein voll geförderter Jurastudent. Folglich ist gegenüber dem Vorschlag, Stipendien nur noch als Darlehen zu geben, Vorsicht angebracht - zielt er doch von vornherein nur auf eine individuelle Förderung und damit ausschließlich auf die Gruppe der sozial schwächeren Studenten. Wer auf volle Darlehensförderung übergeht, muß wissen, daß er das Ziel eben dieser Form finanzieller Hilfe gefährdet. Niemand wird bestreiten, daß die Aussicht, am Ende des Studiums mit 20000 oder gar 30000 Mark verschuldet zu sein, gerade auf einen Angehörigen der unteren Einkommensklassen nicht besonders stimulierend wirkt. Dazu kommt das wachsende Risiko, nach Abschluß des Studiums tatsächlich auch eine der gut dotierten "Akademikerpositionen" zu bekommen. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, daß mit dem Darlehen die gerade als überwunden angesehene Koppelung zwischen Studium und wirtschaftlicher Situation des Einzelnen restauriert würde. Diese Gefahr besteht auch, weil die eher emotional als rational begründete Abneigung gegen persönliche Schulden weit verbreitet ist. Sie kann durch noch so gut gemeinte Rückzahlungskonditionen nicht beseitigt werden. [...] Das Hauptargument der Befürworter rückzahlbarer Darlehen sind die guten 2
DIE ZEIT, 4.7.1975
42 Einkommens- und Berufschancen der Akademiker auf der einen und die vielen Steuermilliarden für Hochschulen und Studenten auf der anderen Seite: "Die vielen Dummen werden besteuert, damit die wenigen Schlauen ihr Wissen und Einkommen vergrößern können." Schnell wird das Beispiel hervorragend verdienender Chefärzte oder Anwälte zitiert und daran die Frage geknüpft, ob es etwa ungerecht sei, wenn man von den derart Begünstigten die Rückzahlung einer früheren Studentenförderung verlange. Natürlich führt der Weg zum Arzt, Anwalt oder Professor über das Hochschulstudium, und niemand wird bestreiten, daß dieser aus allgemeinen Steuermitteln finanzierte Weg "einen Vorsprung an Sozialchancen" (Osswald) - sprich: überdurchschnittliches Einkommen und Prestige - ermöglicht. Allerdings sind Chancen und deren Realisierung bei weitem nicht so einheitlich und gleichmäßig, wie es in der Diskussion über "das Akademikereinkommen" vielfach angenommen wird. An ihren Einkommen gemessen sind die Akademiker ebensowenig eine einheitliche Gruppe wie "die Metzger" oder "die Schornsteinfeger". Damit soll nicht abgestritten werden, daß es mit Hochschulabschluß in der Regel leichter fällt, ein überdurchschnittliches Einkommen zu erzielen als ohne. Aber gerade deshalb erscheinen Korrekturvorschlage, die ausgerechnet an der Studentenförderung ansetzen, als unkonsequenter Rückzug vor der eigenen Courage. Denn für etwa achtzig Prozent aller Akademiker ist es der Staat, der als Arbeitgeber oder etwa über Gebührenordnungen das Einkommen festlegt. Soll nun derselbe Staat, der die Akademikereinkünfte in ihrem Niveau ebenso wie in ihrer Differenzierung überhaupt erst ermöglicht, diese Einkommen den sozial schwächeren Studenten als Grund dafür entgegenhalten, daß sie in Zukunft nur noch Darlehen bekommen? Dies hieße, um mindestens drei Ecken argumentieren. Offensichtlich muß man sich entscheiden: Entweder hält man bestimmte Akademikereinkommen für zu hoch. Dann muß man sagen, welche man meint und wie man - durchaus auch mit dem Hinweis auf die von der Gesellschaft aufgebrachten Hochschulausgaben - eine Senkung für realisierbar hält. Oder man sieht sie nicht als zu hoch an, dann sind sie auch kein Argument für rückzahlbare Stipendien. R.W. Leonhardt: "Darlehen für alle" [...] Zwei kleine Ungerechtigkeiten müßten auch bei der Unterstützung aller Studenten durch Darlehen in Kauf genommen werden: einige mögen dann an der Universität nur ihren Wissensdurst stillen wollen, sich jedoch mit Bedacht hüten, überdurchschnittlichem Broterwerb zuzustreben, der sie rückzahlungspflichtig machte. Diese Darlehen gingen dem Staat verloren. Es werden vielleicht fünf statt wie heute fünfzig Prozent sein. Im übrigen könnte das Geld des Steuerzahlers schlechter angelegt werden als in solchen im Grunde ja eher liebenswerten Typen, die zum Leben der Gesellschaft womöglich allerlei beitragen, was so wenig quantifizierbar ist wie Religion und Poesie. Manchen gilt es als ein wichtiger Einwand, daß auch Kinder von Millionären Darlehen in Anspruch nehmen können oder daß sie dann vielleicht die einzigen sind, die sich nicht zu verschulden brauchen. Was soll's? Eine Gesellschaft, in der es Millionäre gibt, dürfte sich inzwischen daran gewöhnt haben, daß es Millionärskindern manchmal besser geht - so wie anderswo den Kindern hoher Funktionäre. Viele sind das ja nicht. Und das Studiumsdarlehen ändert daran weder in der einen noch in der anderen Richtung etwas. Es ermöglicht allenfalls auch der Millionärstochter, sich ihren Wunsch nach Unabhängigkeit vom Elternhaus zu erfüllen. Womit wir auch schon beim ersten der drei Faktoren wären, die das gegenwärtige BAföG-System so ungerecht machen, daß eine Ablösung zu wünschen wäre. Nämlich:
43 1. Studiendarlehen könnten diejenigen der Heranwachsenden, die das wollen, befreien aus unguter Abhängigkeit vom Elternhaus oder von anderen Geldgebern (etwa der Bundeswehr). 2. Die derzeitige Einkommensgrenze der Eltern für die BA-Förderung eines Studenten ist ein schlechter Witz. Je nach den Umständen liegt sie zwischen reichlich tausend und reichlich zweitausend Mark Nettoverdienst. Ob die Verdiener teuer in der Großstadt oder billig auf dem Lande, ob im eigenen Haus oder zu kostspieliger Miete, ob mit oder ohne nicht als Einkommen zählbares Vermögen, ob selber sozial gefördert oder für alles aus eigener Tasche aufkommend leben, alles das bleibt dabei ebenso unberücksichtigt wie die verschiedenartigen Möglichkeiten, das Nettoeinkommen den Notwendigkeiten entsprechend hinzubiegen, unberücksichtigt bleiben müssen. Die BAföG-Bürokratie verfährt dabei, wie allenthalben, großzügig - sonst kämen wir kaum auf jene fünfzig Prozent Geförderte. Aber die löbliche Großzügigkeit birgt doch auch eine Ungerechtigkeit gegen die anderen fünfzig Prozent. Nicht zu reden von den neun Zehnteln der Kinder aus ärmeren Familien, die die nach ziemlich allgemeiner Übereinkunft recht zufälligen Hürden der Schulprüfungen und des Numerus clausus nicht übersprungen haben und die sich daraufhin besonderer pädagogischer und dazu großzügiger finanzieller Förderung nicht erfreuen. 3. Wo die Einkommensgrenze wirklich etwa so verläuft, wie ihre Erfinder sich das vorgestellt haben, bedeutet der Ausschluß ihrer Kinder von der Studienförderung einen Aderlaß für genau die Schicht der Gesellschaft, die Uberdurchschnittliches zu erarbeiten hilft: die Aufsteiger, die tüchtigen Facharbeiter, die beförderten Beamten, die rührigen Gewerbetreibenden und kleineren Unternehmer, die freien Berufe; Familien, in denen beide Partner berufstätig sind; die Schicht also, die - so scheint es - planmäßig von allen Vergünstigungen (sozialer Wohnungsbau, gesetzliche Krankenkasse und Altersversorgung, billige Einkaufsmöglichkeiten, Rabatte der Steuerreform) ausgeschlossen worden ist und der alle Lasten aufgebürdet werden. Eine Familie dieser Schicht, die, sagen wir, auf einen monatlichen Nettoverdienst von 2500 Mark kommt - kann sie wirklich ohne Schwierigkeiten lOOO Mark monatlich aufbringen, um zwei studierende Kinder auf BAföGNiveau zu halten? Solche Familien müssen sich heute oft wirklich verschulden. Eine Darlehensförderung für jeden Studenten wäre weitaus gerechter als die durch eine (nicht zuverlässig festlegbare) Einkommensgrenze der Eltern beschränkte Stipendienförderung für jeden zweiten Studenten. Sie wäre, auch bei großzügiger Handhabung, zunächst ein wenig und auf die Dauer erheblich billiger. Sie für eine Ausgeburt konservativer Reaktionäre zu halten, verbietet sich, denn es gibt sie ja in Schweden, dem Land also, das vielen Sozialisten als ein MusterStaat erscheint. Wenn sie den Studenten mit der größeren Selbständigkeit und Unabhängigkeit, mit der freieren Bestimmung ihrer Verweildauer an den Universitäten auch ein Gefühl dafür vermittelte, daß sie der Gesellschaft einiges schuldig sind, so könnte ich darin nur eine erfreuliche Begleiterscheinung der neuen, der anzustrebenden Regelung des Studiendarlehens für alle sehen.
3.1.2. Alternative Argumentationen Argumentationen müssen nicht nur von einem einzigen Grundsatz leben; häufig werden mehrere herangezogen, die dann auf charakteristische Weise "ihre" entsprechenden Fakten und Stützen nachziehen. Auch dies soll in einem Beispiel etwas ausführlicher dargestellt werden. Als Grundlage dient der Streit um die
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Einführung der Mengenlehre in der Schule, der 1974 einen Mediziner-Korvgreß beschäftigte. Im folgenden der Bericht, der wiederum einer Zeitung entncrmen ist : Ärzte-Kongreß in Düsseldorf: Attacken gegen die Mengenlehre MISSHANDLUNG NACH LEHRPLAN? Die Diagnose: Schulversagen und Neurosen Von unserem Redakteur Jürgen Schmitz-Feuck Tatort Schule: Tag für Tag machen sich die Lehrer, Bildungsplaner und Politiker der fahrlässigen Kindesmißhandlung schuldig. Ihre Tatwerkzeuge: Ganzheitsmethode und Mengenlehre. Die Folgen: Immer mehr Fälle von Legasthenie (Leseschwäche}, immer mehr Kinder, die mit normalen Zahlen nicht rechnen können. Und immer mehr Kinder, die deshalb hochgradig verhaltensgestört sind. Dies alles behaupten Ärzte. Den massiven Vorwurf der fahrlässig herbeigeführten Mengenlehren-Neurose erhob der Münchner Erziehungswissenschaftier Professor Anton Neuhäusler gestern auf dem Düsseldorfer Ärztekongreß "Medica '74". Unterstützt wurde er von Medizinern und Biochemikern. Zumutung Vor allem der Pädagoge Neuhäusler warf seinen Fachkollegen in Schulen, Schulämtern und Kultusministerien immer härtere Brocken an den Kopf. Bei der Charakterisierung der Mengenlehre steigerte er sich von "voreiliges Experiment" über "Irrweg" bis zu "gefühlsmäßiger und intellektueller Vergewaltigung der Kinder". Den Schülern werde ein kompliziertes Kombinationssystem und ein Begriffsapparat zugemutet, für den sie noch nicht reif seien. Medizin und Biochemie steuerten dem energischen Kritiker weitere Argumente bei. Nach den Erkenntnissen der Neurobiologie, die sich mit der Funktionsweise der Hirnzellen beschäftigt, sind die einzelnen Gehirnzentren nämlich für höchst unterschiedliche Programmierungsarten eingerichtet. So ist das Sprachzentrum darauf angelegt, Wörter und Wortgruppen als Ganzes zu erfassen und zu registrieren. Beim Sprechenlernen ist die Ganzheitsmethode die natürliche. Anders das Schreib- und Lesezentrum: Es wäre mit der Erfassung aller in einer Sprache vorkommenden Wörter und Wortkombinationen als optische Zeichen weitaus überfordert. Hier ist es praktischer, nur eine eng begrenzte Zahl von Zeichen einzugeben, aus denen dann die Wörter zusammengesetzt werden. Buchstaben sind also keine willkürlichen Erfindungen früherer Jahrtausende; sie entsprechen den spezifischen Fähigkeiten der für die Schrift zuständigen Gehirnpartie. Mit der Ganzheitsmethode wird dieses Zentrum falsch programmiert. Auch das Rechenzentrum des Gehirns verlangt zunächst konkrete Zahlen, aus denen dann später auch abstrakte mathematische Begriffe abgeleitet werden können. Der jetzt in den Schulen praktizierte Weg, mit einer groben Vereinfachung der Mengenlehre, die ja in Wirklichkeit ein hochkompliziertes Teilgebiet der höheren Mathematik ist, zu beginnen und erst später mit richtigen Zahlen zu rechnen, stellt demnach alles auf den Kopf. Zur Verbannung aufgerufen Professor Neuhäusler rief deshalb auf, die Mengenlehre schleunigst zumindest aus dem Grundschulunterricht zu verbannen und zum klassischen Rechnen zurückkehren. Wenn den Kindern dann auch noch lebensnahe Aufgaben statt "Terminologiemonstren" vorgesetzt würden, dann - so Neuhäusler - könnte 3
Kölner Stadt-Anzeiger, 14.11.1974
45 "die Menge der guten Rechner wieder mächtiger als die Menge der schlechten Rechner" werden. Weniger um schlechte Rechenfertigkeiten bei den Mengenlehre-Opfern als um die sich daraus ergebenden psychischen Folgen ging es dem Stuttgarter Mediziner F. Held. Er wandte sich gegen die bei linken Soziologen so beliebte Theorie, das familiäre Milieu sei die Hauptursache schulischen Versagens. Das sei zwar häufig der Fall, aber in genauso vielen Fällen sei eben das schulische Versagen die Ursache familiärer Klimaverschlechterungen. Unter anderem übrigens, weil die lieben Kleinen etwas lernen, was die Eltern nicht können. Väter und Mütter haben schließlich auch ihren Stolz. Jedenfalls füllen sich - so Held - die ärztlichen Sprechstunden immer mehr mit Kindern, die trotz normaler Intelligenz und Reife in der Schule versagen und schließlich psychische Störungen haben. Neben der biologisch falschen Programmierung des Gehirns durch neue Unterrichtsmethoden sei dafür vor allem der von Lehrern und Eltern ausgeübte Leistungsdruck verantwortlich. Neuhäusler präzisierte das noch: Persönliche Erfolgsbestätigung werde zugunsten pauschalen Notenterrors vernachlässigt. Er ging in diesem Zusammenhang scharf sowohl mit traditionell autoritärem wie mit extrem antiautoritärem Erziehungsstil ins Gericht: bei beiden sei hemmungslose Aggressivität die Folge. Kinder überfüttert Schließlich blieben auch die Lehrpläne der Fächer, die weder mit Ganzheitsmethode noch mit Mengenlehre zu tun haben, nicht ungeschoren. Das Generalübel der Schule sei die Behandlung der Kinder als "intellektuelle Stopfgänse", die mit unnötigen Details überfüttert würden, Ausdruck der "Facharroganz" vieler Lehrer. Und auch die Sexualaufklärung wurde heftig kritisiert. Weder lächerliche Verniedlichungen mit Hilfe von Bienen und Schmetterlingen noch brutales Shocking hätten bisher verhindert, daß die Kinder als "medizinische Halboder Vollidioten" und als "psychologische und pädagogische Analphabeten" ins Leben entlassen würden. Der Münchner Pädagoge sieht sogar psychische Gefährdungen in der "Schulsituation überhaupt". Freilich leitete er daraus nicht gleich die Forderung ab, die Schule ganz abzuschaffen. Man k a m diesen Fall drei verschiedene, wenn auch im Ergebnis gleiche Argumentationen entnehmen: (1) die Argumentation des Pädagogen (2) die Argumentation des Biochemikers (3) die Argumentation des Mediziners Alle drei Argumentationen haben den Charakter von Bewertungen, die sich letztlich auf das Handeln der Schulbehörden beziehen. Dazu dienen allerdings Erklärungen zum Phänomen des Lernens in dem speziell interessierenden Bereich, wobei diese Erklärungen wieder letztlich in die Empfehlung münden, die Mengenlehre in der Schule abzuschaffen. Man sieht an diesem Beispiel also nebenbei, daß die erwähnten Argumentationstypen auch in Mischungen bzw. Stufungen vorkcrimen können. Im einzelnen läßt sich folgendes sagen:
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(1) Die Argumentation des Pädagogen Der entscheidende Grundsatz des Pädagogen bezieht sich auf das Wissen, daß man bei einem bestimmten Lernsystem auch eine bestimmte Reife voraussetzen müsse. Dieses Wissen ergibt sich aus den allgemeinen Erfahrungen von Pädagogen über den Zusammenhang von Reife und der Bewältigung von bestimnten Kcmbinationssystemen und Begriffsapparaten. Man kann voraussetzen, daß der Pädagoge als Wissenschaftler dieses Wissen gleichsam abrufbereit in seinem Bücherschrank hat: auf Nachfrage könnte er es präsentieren und auf die speziellen Verhältnisse der Mengenlehre arwenden. Direkt nennbar sind dagegen die Fakten, daß Kinder nach der Einführung der Mengenlehre Zeichen gefühlsmäßiger und intellektueller Vergewaltigung gezeigt haben und daß darüber hinaus das Ganze voreilig, d.h. ohne Berücksichtigung der Zusammenhänge zum Lernen und Reife, durchgeführt worden ist. Besonders das erste Faktum mögen andere anders zu erklären versuchen? den Pädagogen wird es im Lichte seines Grundsatzes "klar" zun Ergebnis der Mengenlehre. FAKTEN -
-*• THESE Mengenlehre ist für die Schule falsch (ihre Einführung deshalb zu verurteilen und ihre Abschaffung deshalb zu empfehlen
"Voreiligkeit" "gefühlsmäßige und intellektuelle Vergewaltigung der Kinder" GRUNDSATZ
Ein Lernsystem setzt eine bestimmte Reife voraus
STÜTZEN Erfahrungen über den Zusammenhang von Reife und kognitiven Fähigkeiten
(2) Die Argunentation des Biochemikers Der Biochemiker geht entsprechend seinem Wissen von der Funktionsweise des Gehirns aus. Es ist interessant, ja spannend zu sehen, daß gerade dieses (dem Augenschein nach hochabstrakte) Wissen einen Grundsatz für die Beurteilung der Mengenlehre als Schulstoff hergibt. Dieser Grundsatz ergibt sich daraus, daß die Mengenlehre offenbar eine bestinrmte Prograrrmierungsweise des Gehirns voraussetzt, die für junge Schüler genau im Widerspruch zu deren "natürlichen" Anlagen steht: Mengenlehre ist schlecht, weil sie dem Grundsatz widerspricht, daß der Lernweg beim Rechnen vctn Konkreten zum Abstrakten geht und nicht umgekehrt. Das Wissen des Biochemikers ist entsprechend für die zur Beurteilung stehende Frage relevant. Da der Vortrag nur sehr gekürzt wiedergegeben ist, läßt sich nichts über konkrete Fakten sagen. Der Biochemiker mag sich dem Pä-
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dagegen angeschlossen haben, jedenfalls ähnliche Fakten zum Mißerfolg angeführt haben. S e i n e
Aufgabe bestand darin, diesen Mißerfolg van Stand-
punkt der B i o c h e m i e
zu erklären und entsprechend die Einführving zu
bewerten bzw. die Abschaffung der Mengenlehre zu empfehlen. FAKTEN -
>THESE
(keine genannt)
Mengenlehre ist für die Schule falsch (ihre Einführung deshalb zu verurteilen, ihre Abschaffung deshalb zu empfehlen GRUNDSATZ
Die Programmierweise des Gehirns fordert den Weg vom Konkreten zum Abstrakten
STÜTZEN Erfahrungen über die unterschiedliche Funktionsweise von Gehirnzellen
(3) Die Argumentation des Mediziners Die Argumentation des Mediziners ist auf psychologisches und soziologisches Wissen aufgetaut, muß also im Hinblick auf die Medizin als ein Spezialwissen aufgefaßt werden. Als zentral scheint danach der Grundsatz, daß ein durch Leistungsdruck und Unkenntnis der Eltern bestürmtes Lernmilieu psychologische Störungen hervorrufen muß. Dies ist durch
Wissen der Psychologie und
Soziologie im allgemeinen gestützt und erklärt damit die zunehmende Zahl von entsprechenden Sprechstundenfällen. Insgesamt ist die Argumentation des Mediziners (soweit man sehen kann) also relativ weitläufig mit der Kernfrage nach der Mengenlehre befaßt; die direkte Berührung ergibt sich über die Unkenntnis der Eltern, die aus verletztem Stolz ihre eigenen Kinder irritieren. FAKTEN
> THESE Mengenlehre ist für die Schule falsch, (ihre Einführung deshalb zu verurteilen, ihre Abschaffung deshalb zu empfehlen)
- psychologisch gestörte Schüler in Sprechstunden
GRUNDSATZ Schlechtes Lernmilieu fördert Versagen
(Leistungsdruck)
STÜTZEN Erfahrungen über den Zusammenhang von Lernen und Milieu
Die Zusammenfassung kann diesmal etwas knapper ausfallen und dafür einige allgemeine Folgerungen einbeziehen:
48
(1) Was besonders auffällt, ist die Tatsache, daß die Grundsätze in einem Maße zum Steuerurtgsapparat von Argumentationen werden, daß alles andere gleichsam nebenbei einfließt. Indem der Pädagoge sein Wissen über Lernen heranzieht, der Biochemiker sein Wissen über die Funktionsweise des Gehirns, der Mediziner schließlich Zusammenhänge von Lernen und Milieu, werden bestimmte Fakten mit einem Schlage "klar". Es ist deshalb zweifellos am besten, bei konkreten Argumentationen vor aller Frage nach den Fakten nach den Grundsätzen Ausschau zu halten. (2) Fakten sind im übrigen nicht inner so reichhaltig, wie man annehmen mag, ja es werden nicht nur die gleichen Fakten für alternative Grundsätze herangezogen, sondern es kommt - wie beim Behindertenheim-Beispiel gesehen - der Fall vor, daß einmal ein gleiches Faktum für verschiedene Schlußfolgerungen (und damit auf jeden Fall verschiedenen Grundsätzen) geltend gemacht wird. Dies ist der Hauptgrund dafür, daß Fakten eben niemals Thesen wirklich begründen können, sondern ganz auf das Licht eines Grundsatzes angewiesen sind, in dem sie diese begründende Kraft b e k o m m e n .
In konkreten Argumen-
tationen müßte man entsprechend mit den folgenden Fällen rechnen: (1) Argumentation mit 1 Grundsatz für 1 These: Fakten
> These
(A, B, C) Grundsatz
Stützen
(2) Argumentationen mit 2 Grundsätzen für 1 These: Fakt (A, These
Stützen II
(3) Argumentation mit 2 Grundsätzen für 2 Thesen: >
Fakten I (A,
These I
These II
Grundsatz II Stützen II
Stützen I
49 Übung
(11)
Ein Beispiel, an dem die Wahl verschiedener Grundsätze gut deutlich wird, stellt die Begründung eines bestimmten Vorgehens beim Schreibenlernen für Schulanfänger dar^. Der Verfasser plädiert für eine Synthese des ganzheitlichen und des einzelheitlichen Schreiblehrverfahrens. Im einzelnen nennt er 4 Gesichtspunkte, die auf diesem Hintergrund von (unterschiedlicher) Bedeutung sind: (1) Die Tatsache der Buchstabenschrift, die auf dem Prinzip des Zusammensetzens (von Buchstaben, aber auch Buchstabenelementen zu Buchstaben) beruht, zeigt das Nebeneinander von Analyse u n d Synthese. (2) Kinder hatten schon vorher "geschrieben" und wollen nun "ernsthaft das Schreiben lernen" und nicht "bedeutungsleere Spuren" hinterlassen. (3) Wenn man sonst kommunikationsorrentierten Sprachunterricht betreibt, darf beim Schreibenlernen keine Ausnahme gemacht werden ("Erkenntnis ..., daß die Verfahren zur Erreichung der Ziele einzelner Lehrgänge sich nicht zuwiderlaufen sollten"). (4) "Kalligraphische Fertigkeiten (Schönschreibfertigkeiten)" sollen n i c h t angestrebt werden. - Charakterisieren Sie diese Gesichtspunkte im Sinne ihrer Herkunft aus bestimmten Stützen. - Erläutern Sie die Abwegigkeit des letzten Gesichtspunkts aufgrund des Ausgeführten etwas näher.
3.2.
Begründungssprachen
Die Diskussion der bisherigen Beispiele hat gezeigt, daß Argumentationen bei aller Verästelung der Argument-Typen und vielleicht auch Weitläufigkeit der Ausführung dieser Typen letztlich einer zentralen Steuerung folgen. Dafür sind die Grundsätze verantwortlich gerächt vrorden. Allerdings ist damit noch nicht zu verstehen, wie das Zusaitmenspiel z u s t a n d e k o m m t :
wie
hän-
gen beispielsweise Grundsätze und Fakten zusammen? Eine Antwort auf diese Frage gibt der Aspekt der Begründungs spräche. Damit soll zum Ausdruck können, daß wir in der Praxis des Argumentierens nicht etwa in einem ersten Schritt die Grundsätze suchen und dann in weiteren Schritten die passenden Stücke dazu auswählen, sondern daß Grundsätze das Geflecht der Begründung selbst in einem speziellen Sinne schon mitbringen. So reicht gelegentlich ein einziges Vfort aus, um uns wissen zu lassen: aha, da gehts lang. Wer beispielsweise von Bnanzipation redet, bewegt sich normalerweise in pädagogischen Denkbahnen. Fiele der Begriff etwa in einer politischen Debatte, wüßte man gleich: der betreffende Redner will seine Sache von pädagogischen Gesichtspunkten her plausibel machen. Dieser Charakter der "Färbung" ganzer Zusammenhänge, der Querverbindung usf. macht den metaphorischen Sinn des Ausdrucks "Sprache" aus. Wie ist dieses Verhältnis von Gründen und ihren H i n t e r grund näher zu verstehen? 4
W. Menzel, Schreiben heute. Ein neuer Schreiblehrgang, Hannover 1973, S.l.
50 3.2.1. Die begriffliche Festlegung von Gegenstandsbereichen Phäncmenbeschreibung und Erfahrungsauswahl Dazu können wir an die bisher erläuterten Beispiele anknüpfen. Im Fall der Auseinandersetzung wi den Bau des Behindertenheims war deutlich geworden, daß alle Argunentationen von den "grundsätzlichen" Standpunkten her ihre Schlüssigkeit bekamen. Von denselben Standpunkten her bekennten sie aber auch ihre "sprachliche" Einheit. Zunächst fällt auf, daß die jeweilige Ausarbeitung der Fakten das zu erörternde Phänomen im Sinne der Grundsätze "beschreibt". Aus der Sicht z.B. eines sozialpolitischen Grundsatzes wird das zur Erörterung stehende Phäncmen a l s
sozialpolitisches eingeordnet und charakterisiert. Die
Wahl der dabei benutzten Begriffe e n t s t a m m t Grundsätze und b e s t i m m t
der Perspektive der
nun, was als Phänomen in diesem Sinne vor-
liegt. So konnte man im Fall der Kläger-Argumentation von einem Rechts-Phänonen, im Fall der Bürgerinitiativen-Argumentation von einen Sozial-Phäncmen sprechen. Alle entscheidenden Begriffe haben Merkmale genau in dieser Richtung, wie man rücklickend nachprüfen kann: Argumentatiori
begriffliche Charakterisierung des Phänomens
Grundsatz-Merkmal
(1)
Umbaugenehmigung Wohngebiet Ruhestörung
Rechtsordnung
(2)
Wohngebiet Bedarf
Sozialpolitik
(3)
Grundstückspreis
Privatwirtschaftliches Interesse
(4)
Verhaltensweisen gesellschaftliche Außenseiter
Sozialpsychologie
Sieht man den Text bis in die genauen Formulierungen hinein durch, so wird dies noch deutlicher. Wo der Verfasser die einzelnen Argumentationen wiedergibt, erscheinen beispielsweise die eigentlichen Betroffenen, die behinderten Kinder, terminologisch jeweils anders: beim Rechtsanwalt tauchen sie als Kinder, und zwar lediglich im Zusammenhang des ruhestörenden An- und Abtransports auf, während für die Bürgerinitiative von sehuer bewegungsgestörten Kindern sowie behinderten Kleinkindern die Rede ist und schließlich der Geschäftsführer mit der Apostrophierung der "Häßliohen" (gegenüber den "Schönen") und Krüppel die Perspektive der sich wehrenden Bürger erläutert. Ähnliches läßt sich für die Charakterisierung des Bauvorhabens und seines Zweckes feststellen: während bei der Argumentation der Bürgerinitiative der krankengyrrmastisohe
51
Dienst mit den Einzelheiten der Gruppenbetreuung, Lernen in der Gruppe und der dazu eingestellten Beschäftigungstherapeutin, der Krankengymnastin und Logopädin hervorgehoben werden, faßt sich für die Kläger alles in das Elend der Behinderten zusanmen, denen die schmucken Bungalows der Situierten und Gesunden mit Jägerzaun und stolz gehegten Gärten gegenüberstehen. Man sieht: die begriffliche Charakterisierung des "Falles" ist ganz an die jeweilige Perspektive des Argumentierenden gebunden. Jeder sieht im "Fall" seinen
Fall, legt ihn a l s
sozialpolitisches oder privatwirtschaft-
liches Phänomen fest. Die Wahl der Begründungssprache steckt mit der aus ihr fließenden Phänomen was als Faktum
b e s c h r e i b u n g
r e l e v a n t
zugleich die Grenzen dafür ab,
ist. Wer in seinem Fall z.B. einen sozial-
politischen sieht, ist nun auf sozialpolitische Motive verwiesen und wird sich gegen privatwirtschaftlich orientierte wehren. Die Begriffe, die dann auftauchen, kann man sich mit entsprechenden Argumentations-Merkmalen versehen denken, die zu den "normalen" semantischen Merkmalen hinzukamen. Krüppel beispielsweise ist dann nicht nur ein pejorativer Ausdruck, sondern hat eine Funktion als charakteristischer Begriff für das "Verständnis" von Behinderten in der Sicht derer, die privatwirtschaftliche Interessen über sozialpolitische stellen; Krüppel ist in diesem Sinne Bestandteil der Begründungssprache, die zur Erklärung von bestürmten Verhaltensweisen dient: (1) Krüppel
(sozialpsychologische Deutung einer privatwirtschaftlich orientierten Motivationslage)
Aus diesen Gründen kann man sagen, daß die Beschreibung eines Phänomens seine Erklärung
ist,
wenn man davon absieht, daß klar ist, im Licht
welchen Grundsatzes sie "sprechen". Entsprechend ist es mindestens ebenso wichtig, die Herkunft der begrifflichen Festlegung eines Gegenstandsbereichs für die jeweilige Erklärung aus den stützenden Erfahrungen zu verfolgen. Dafür soll das Mengenlehre-Beispiel noch eirnial herangezogen werden. Die verschiedenen Gründe, die dort ins Spiel gebracht wurden, lassen sich sehr einfach - und umgangssprachlich üblich - nach ihrer "Herkunft" charakterisieren: eben als pädagogischer, biochemischer und medizinischer Grund. In diesen Fällen stellt die jeweilige Spezifizierung genau den Erfahrungsbereich dar, der Maßstabe der Beurteilung an die Hand gibt. In einer Übersicht kannt dies zum Vorschein:
52 Argumentation
Maßstäbe für die Charakterisierung des Phänomens
(1)
Lernsystem Reife
(2)
Programmierweise Gehirns) Funktionsweise Gehirnzellen)
(3)
Grundsatz-Merkmal Pädagogik
(des
Biochemie
(von
(Lern)milieu Versagen Leistungsdruck
Psychologie/Soziologie
Während die Beschreibung des "Falls" die eigentliche Erklärung gibt, zeigt der Rückgriff auf die stützenden Erfahrungen, daß Beschreibungen wiederum nur unter der Voraussetzung bereits vorhandener Erfahrungen m ö g l i c h
sind.
Ein "Fall" wie der umstrittene Bau des Behindertenheims kann nur erklärt werden, wenn er als ein Phänomen (er)faßbar ist; aber die Erfassung als ein Phänemen setzt wiederum vorgängige Erfahrungen voraus, unter deren Eindruck man bestinmte Ereigniszusarrmenhänge a l s
Phänomen erfassen kann. Ohne solche
Erfahrungen wären wir hilflos, Argumentationen überhaupt anzusetzen. Und andererseits gilt: Argumentieren richtet sich nach schon g e m a c h t e n
Er-
fahrungen - mit der Konsequenz, daß nun alles davon abhängt, w e l c h e
Er-
fahrungen wir im speziellen Fall als relevant gelten lassen. Wie man im Fall der Beschreibung des Phänemens davon sprechen konnte, daß die verwendeten Begriffe den Bereich eingrenzen, in den die Erklärung
stattfinden
soll, ist jetzt der Bereich festgelegt, aus den die Evidenz gewährleistenden Erfahrungen z u g e l a s s e n
sind.
Sozialisation und Institutionalisierung Der "Ort" dieser Erfahrungsgewinnung und damit der Begriffsbildung ist die Sozialisation, die von jedem Teilnehmer an der Gesellschaft seit der Kindheit durchlaufen wird. Am Anfang wird dieser Prozeß insbesondere von der Familie bestinmt, später von den Sozialisationsträgern - man spricht auch von den Sozialisationsagenturen - Schule, Universität, aber natürlich nicht zuletzt den Medien, also Rundfunk, Fernsehen, Zeitung. Jede Nachricht, Erziehungsanweisung oder Erlebnis baut ein Stück Erfahrung auf, sei es daß sie Bekanntes verstärkt oder Neues hinzufügt. Diesen Vorgang erfaßt man als Prozeß der Institutionalisierung; er stellt in gewissem Sinne das Verfahren der Sozialisation dar. Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß Erfahrungen nicht als "Objektivitäten" in unser Leben eintreten, sondern als die Interpretationen, die wir Ereignissen oder Sachverhalten geben. Die Welt, die Spre-
53 eher aufbauen und aus deren Aufbau heraus sie u.a. argumentieren, ist eine Welt der
i n t e r p r e t i e r t e n
Beschreibungen.
Dies zeigt sich - wie Untersuchungen des sog. Alltagswissens gezeigt ha5 ben - bis in die feinsten Verästelungen unserer Vorstellungen. Wir benutzen "Interpretationsschemata" und "Bezugsraster" (Begriffe von Garfinkel), mit deren Hilfe wir Ereignisse allererst "sehen" und in deren Rahmen wir uns folglich auch bei unserem Argumentieren bewegen. Jeder Begriff mit den eben besprochenen argumentativen Anschlußmerkmalen stellt in diesem Sinne ein Schema dar, das auf den speziellen Verlauf unserer Sozialisation zurückgeht. Der Begriff der Reife etwa wird nicht abstrakt ausgebildet, um dann in seinen konkreten Anwendungen eingeübt zu werden, sondern er kamt von Anfang an nur in solchen kompletten Zusarnnenhängen vor. Darüberhinaus lernen wir in der Sozialisation ganze Arten des Folgerns. Es gibt in diesem Sinne gesellschaftlich gebilligte Möglichkeiten ebenso der Auswahl unserer Gesichtspunkte wie der Art der Erfahrungen, die in einem bestimmten Bereich zugelassen sind oder nicht. Wer etwas zur Schulsituation sagen will, wird sich um pädagogische, psychologische und allenfalls medizinische Gründe bemühen; wir würden Verdacht schöpfen, wenn hier etwa nur ein technischer oder gar ökonomischer Gesichtspunkt auftauchte. Insofern verlangen wir von Argumentationen zunächst einmal "normale" Gründe. Gerade mit solchen "normalen" Gründen werden wir im Laufe der Sozialisation vertraut gemacht. Allerdings kann nicht jeder alles wissen, und entsprechend ergibt sich eine Spezialisierung; Pädagogik, Biochemie und Medizin stellen z.B. Bereiche dar, die normalerweise niemand gleichzeitig überblickt. Deshalb finden ja Kongresse statt, un Wissen auszutauschen, gleichsam Argumentationshilfen zu bieten. Neben der im Prinzip von allen gleich durchlaufenen Sozialisation steht deshalb in hochkcmplexen Gesellschaften unserer Art das Phänomen des Expertenwissens. Das beste Beispiel dafür ist das Rechtswesen: man könnte nicht bei jeden Fall imner von vorn anfangen, sondern verfügt über eine gewisse "Sprache des Rechts", mit deren Hilfe die einzelnen Fälle gleichsam zur Prüfung präpariert werden können. Wer einen Mord verübt hat, ketrmt sogleich mit dem ganzen Wüssen über Vorsatz, Zurechnungsfähigkeit usf. in Berührung. Es gibt vielleicht keinen Lebensbereich, der so ausgearbeitet ist wie die Wahrving der Ordnung in der Gesellschaft. Hier fallen uns die Argumente förmlich zu, wir wissen inner schon, was in einem bestürmten Fall vorgebracht werden kann. Fast inner steht deshalb die Frage zur Debatte, wieweit der konkrete Fall unter bestürmte Grund5
Vgl. Garfinkel, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen
(Hg.) 1973, S.189ff.
54
sätze "fällt". Ist diese Frage geklärt, so ergibt sich alles andere von selbst. In besonders wichtigen Bereichen unseres Lebens ist solches Wissen deshalb in einer Form verfügbar, die eine gewisse Stabilität der Lebensführung letztlich erst ermöglicht: es ist kodifiziert. Sehr deutlich wird dies außer im Rechtswesen auf dem Gebiet der politischen Verfassung, vro unsere möglichen "Gründe" gleichsam zum ständigen Rückgriff in Gesetzesform niedergelegt sind. Die Verfassung unseres und der meisten andern Staaten versteht sich als Grund
Ordnung und formuliert unverbrüchliche G r u n d rechte, auf die
man jederzeit zurückgehen kann bzw. auf deren Wirkung sich jedermann verlassen können soll. Es gibt im übrigen gewisse Stufungen bei solchen Grundsätzen, die jeder kennt. Parteiprogramme enthalten ebenfalls Aussagen über Vorstellungen, die bindende Kraft für die zu erwartenden Entscheidungen haben sollen. Solche Programme sind schon viel flexibler als etwa das Grundgesetz. Da sie weniger allgemeine Dinge betreffen, können sie rascher überholt werden. Dem dienen etwa Parteitags-Erklärungen und Wahlplattformen, die stärker gegenwartsbezogene Grundsätze enthalten. In all diesen Fällen aber geht es um Grundsatzpositionen, die die Funktion haben, konkrete Argumentationen anzuleiten. Definitionen und Begriffssysteme Aus dieser Perspektive lassen sich nun eine Reihe speziellerer ArgumentationsProbleme erläutern. Einen interessanten Fall bietet der folgende Kennentar, in dem die Realität von Begründungssprachen durch die Umgangssprache selbst einen Beleg erfährt. Es handelt sich um einen Beitrag zur Entwicklung der portugiesischen Revolution des Jahres 1975^: Aus der "Sicherung des Friedens" ergeben sich auch die Konflikte zwischen MFA und Parteien. Die Offiziere fürchten, daß ein Rechtsrutsch solange möglich sei, wie das politisch unmündige, desinteressierte Volk nicht die Grundregeln der Demokratie kennengelernt habe. Das in dieser Hinsicht zu belehren, gehört nach Meinung des MFA zu den vorrangigen Aufgaben der Parteien, nicht das Werben um Wählerstimmen und Regierungsmacht. Den Parteien wird damit eine Hilfsfunktion zugemessen, der sie sich mit Ausnahme der Kommunisten - verweigern. MFA und Politiker reden zwei verschiedene Sprachen. Wenn Mario Soares, Führer der portugiesischen Sozialisten, von Sozialismus spricht, meint er eine bestimmte Wirtschaftsform und die Regierung seiner Partei; für den MFA ist der Sozialismus das Vehikel einer Mentalitätsänderung nach fast fünfzig Jahren autoritäten Kapitalismus'. Die Politiker überlegen die wirtschaftlichen Auswirkungen, die Offiziere denken an den Versuchscharakter.
Der Begriff Sozialismus, der hier gleich zweimal als Bestandteil einer "Sprache"
6
DIE ZEIT, 27.6.1975
55 in Anspruch geronnen wird, steht jeweils für einen bestürmten Phäncxnenbereich. Beruft sich ein Anhänger Soares' auf sozialistische Fakten, sind damit genauso bestimmte Charakterisierungen vollzogen wie im Falle einer Berufung aus dem Munde eines Anhängers des MFA. Die Komplikation, die sich hier zeigt, liegt in der möglichen Verschiedenheit scheinbar gleicher Begriffe. In einer Abkürzung könnte man dies als (2) (a) Sozialismus , . . (wirtschaftlich) (b) Sozialismus , ,. . (politisch) einander gegenüberstellen. Genau dies war schon bei der Behindertenheim-Argumentation der Fall, wo der Begriff Wohngebiet als (3) (a) Wohngebiet
(rechtsordnungsbezogen)
(b) Wohngebiet , . , , , (sozialpolitisch) auftrat. Die Verschiedenheit der begrifflichen Verwendung läßt sich in all diesen Fällen als Verschiedenheit von Definitionen erläutern. Ähnliche Probiere können auf bewußte oder unbewußte Ubersetzungsschwierigkeiten zurückgehen, wie es der folgende Text zeigt. Er steht im Zusammenhang mit dem Streit um das Berlin-Abkonmen des Jahres 1974, bei dem ein einziger Be7 griff beinahe alle Mühe verdorben hätte, wie aus einem Kcumentar hervorgeht : Was aber die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Beziehungen Westberlins zum Bund anbelangt, so sind Bonn und Moskau weiterhin konträren Sinnes. Bonn behauptet im Einvernehmen mit seinen westlichen Verbündeten, bei Beachtung des prinzipiellen Sonderstatus von Westberlin dürften die "Bindungen" Berlins an den Bund weiterentwickelt, mithin auch neue Institutionen geschaffen werden. Die Sowjets beharren demgegenüber darauf, daß nur die "Verbindungen" ausgewertet werden dürfen. Sie hätten schließlich nicht auf ihre Forderung nach Abbau der Bundespräsenz in Berlin verzichtet, um nun deren Ausbau hinzunehmen. Der Kompromiß stecke in der Festlegung auf den bestehenden Zustand; zulässig sei nur die Erweiterung der Beziehungen im Sinne einer weiteren Übertragung von Bonner Gesetzen auf Westberlin nach dem vorgeschriebenen Verfahren. Welche Auslegung richtig ist, vermag niemand zu beurteilen, der die Verhandlungsprotokolle nicht kennt. Legt man den Text des Berlin-Abkommens nach den klassischen Völkerrechtsregeln aus, so stützt nichts die sowjetische Auslegung. Nimmt man hinzu, daß in der Verhandlungsphase das englische'links (Verbindungen) bewußt zugunsten des Begriffs ties (Bindungen) aufgegeben wurde, so erscheinen die Sowjets noch mehr im Unrecht. Man sieht, wie die Schaffung einer Institution - ganeint ist der Bau des Bundesamtes für Orweltschutz - nach bundesrepublikanischan Standpunkt genauso aus einen spezifischen Begriff 7
f o l g t
DIE ZEIT, 25.10.1974 (Th. Sommer)
wie die Nichtberechtigung aus der
56 Sicht der Sowjets und der Begriffsdefinition, auf die sie sich stützen. Dies ist dadurch möglich, daß der entscheidende Begriff eirmal zu Volkerrechtsregeln paßt, das andere Mal nicht: (4) (a) ties
Bindungen (im Sinne der , „_,, , , , Volkerrechtsregeln)
(b) ties -»- Verbindungen
„. , „..,, . ^ n . (nicht im Sinne der Volkerrechtsregeln)
Besonders interessant aus dieser Perspektive ist das Problem der s c h a f t l i c h e n
w i s s e n -
Definition, deren Bedeutung mit einem Hinweis auf
Präzisierung allein kann zu verstehen ist. Definitionen dienen inner auch der Aufbereitung eines Begriffs im Sinne der hier verfolgten Verwendung innerhalb von Begründungssprachen. Dies zeigt schon das folgende Beispiel, bei dan es um Q den scheinbar simplen Fall einer Definition des Begriffs Großstadt geht , Großstadt, im Sinne der Statistik eine Stadt mit über lOOOOO Ε(inwohnern); die Größe der Siedlung ist jedoch nur ein Faktor, der zusammen mit den städtebildenden Funktionen berücksichtigt werden muß. Merkmalsbestimmend ist u.a. die Herausbildung eines Geschäfts- und Verwaltungszentrums (City), allgemein die Viertelbildung. Der Funktionsbereich ist national, aber überregional. Häufig wird zu einer Klassifikation der Anteil der Beschäftigten in den einzelnen Wirtschaftsbereichen herangezogen. In einer G(roßstadt) müssen danach in mindestens zwei Bereichen von Industrie/Handwerk/Bergbau/ Handel/Verkehr/Verwaltung/Finanzwesen oder Kultur/Volksbildung mehr als 25 Beschäftigte je lOO E(inwohner) tätig sein. Im Sinne der Beschreibung eines Phänomens bringt der Begriff Großstadt sogleich Merkmale aus einer Reihe von Bereichen ins Spiel, die Relevanz bekamen können. Im Sinne einer Auswahl von Erfahrungsbereichen können vcm Großstadt-Begriff her bestirnnte Aspekte eines Phänomens aufgerollt werden. Aus diesen Grund können Definitionen auch kaum ad hoc gegeben werden, sondern gehen fast immer mit der Ausprägung ganzer Begriffssysteme einher. Dies zeigt der folgende Text α zum Problem von Erlernheit bzw. Angeborenheit im Zusammenhang der Biologie : Der Organismus besitzt zwei Informationsspeicher, die für sein Verhalten von Bedeutung sind: das Genom und das Gedächtnis. Alle Informationen, welche die Form oder den situationsgerechten Ablauf von Verhaltensweisen bestimmen, entstammen einem von beiden. Die Evolution gründet auf zwei Vorgängen. Der Mutationsprozeß schuf dauernd ein Angebot an erblichen Konstitutionen, von denen sich im Daseinskampf nur einige wenige bewährten, während die übrigen mit der Zeit ausstarben {Selektion). Das Ergebnis war, daß die Information, welche die Erbsubstanz normalerweise enthält, eine gute Umweltanpassung des Organismus gewährleistet.
8 9
Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 11, S.72 J. Lamprecht, Verhalten. Grundlagen - Erkenntnisse - Entwicklung der Ethologie, Freiburg 1975, S.31f.
57 Das "Wissen" über die Beschaffenheit des Lebensraums, das das Gedächtnis enthält, wird vom Individuum im Laufe des Lebens angesammelt und kommt ohne Tradition keinem seiner Nachkommen zugute; aber auch es führt zu einer Anpassung des Verhaltens an die Umweltgegebenheiten. Wir nennen eine Anpassung, die sich im Laufe der Stammesgeschichte entwickelt hat und über welche die Information in der Erbsubstanz liegt, angeboren. Kam sie erst im Laufe der Ontogenese durch Speicherung von Erfahrungen im Zentralnervensystem zustande, ist sie erlernt oder erworben. Was hier ins Auge springt, ist die ausgesprochene Massierung von Termini wie Evolution3 Mutation usf., die spezifische biologische Vorgänge bezeichnen. Dies hängt zunächst einmal damit zusairmen, daß bei der speziellen biologischen Fragestellung eben so verschiedene biologische Themen
b e r ü h r t
sind.
Man sieht aber, daß diese Begriffe darüber hinaus eine Entfaltung des speziellen Themas in dan Sinne erlauben, daß sie Imp1ikationen entfalten helfen, wie sie in diesem Fall mit der Frage nach Angeborenheit und Lernen gegeben sind. Wenn Evolution auf Mutation
b e r u h t
, muß man nach Mutation
f r a g e n
,
wenn sich zeigt, daß das Probien des Lernens mit Evolution zu tun hat. Die spezifisch biologische Begrifflichkeit sichert in diesem Sinne auf doppelte Weise den Zusammenhang eines Denkens: sie gibt durch Verbundenheit der Definition Einheit und durch Entfaltung der Implikation Vielheit der Gesichtspunkte. Im übrigen zeigt sich, daß auch weniger "fremde" Begriffe wie Angeborenheit oder Erlerntheit selbst im speziellen Kontext etwas Spezielles abrufen können (bzw. sollen). Der Biologe braucht in diesem Fall für seine Fragestellungen eine speziellere Begriffsschärfe sowie Begriffsdichte und entwickelt sie anhand von Unterscheidungen. Jeder, der im biologischen Zusarrmenhang argumentiert, kann sich aufgrund dieses Gebrauchs auf ein übersehbares Maß an Assoziationen verlassen. Die Erklärung eines speziellen biologischen Problems ist durch die Wahl der Begründungssprache in diesem Sinne vorentschieden. Übung (12) Die Zusammenhänge der zuletzt besprochenen Art werden immer dann besonders deutlich, wenn die begriffliche Festlegung eines Gegenstandsbereichs umstritten ist. Ein solcher Fall war der Angriff auf Heinrich Boll, der zur Zeit der Baader-Meinhof-Verfolgung gegen die Hysterie insbesondere der Springerpresse den Vorschlag des freien Geleits für Ulrike Meinhof machte. Nach dem anschließenden Skandal nahm Boll folgendermaßen in einem Interview Stellung*0: Heinrich Boll: "Ich glaube, das ist das Hauptproblem der Auseinandersetzung; ich nenne es noch nicht Kampagne, vielleicht wird es dazu kommen. Ein Autor, ein Schriftsteller hat natürlich zu jedem Wort eine ganz andere Beziehung, und er sieht in jedem Wort andere Dimensionen als ein Jurist, als ein Beamter, als ein Polizeibeamter, als ein Pfarrer, und die Worte 'kriminell', 'Gnade', 'verfolgt' haben für ihn eine andere Dimension. Für 10
In: F. Grützbach (Hg.), Heinrich Boll: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen, Köln 1972 (pocket 36)
58 einen Juristen ist das Wort 'verfolgt' das Wort 'gesucht'. Das ist ungeheuer kompliziert. Was ich nicht begreife bei der ganzen Auseinandersetzung ist, daß wirklich intellektuelle Menschen wie etwa Krämer-Badoni - und ich zähle auch Herrn Habe dazu und andere, die selbst Autoren sind und Phantasie genug hätten - diesen Unterschied nicht einmal feststellen und von der gleichen Ebene des Autors mit dem Autor argumentieren, sondern sich auf einen Beamten-, einen Juristen-, einen Legalitätsstandpunkt stellen, den ein Autor nie einnehmen kann. Ich fühle mich nicht als Teil der Exekutive. Ich bin Schriftsteller, und verschiedene Wortbereiche oder verschiedene Wörtlichkeiten, die der Rechtsprechung, der Gesetzgebung, der Exekutive, der Theologie reiben sich natürlich dauernd mit der des Autors. Diese Reibung ist normal, dabei klärt sich einiges, aber die Klärung muß hergestellt werden. Es kann nicht immer nur von der Ebene der verschiedenen Wörtlichkeit her polemisiert werden. Ein Begriff wie 'freiheitlich-demokratische Grundordnung1, den ich gar nicht verhöhnen möchte, ist für mich ein Begriff, den ich messe etwa an der Behandlung des Falles Georg von Rauch. Da entsteht für mich eine ungeheure Differenz und auch an anderen Fällen. Es ist das Recht eines Juristen, eines Verfassungsträgers und Vollziehers, diesen Begriff starr dogmatisch zu gebrauchen. Für mich ist er kein Dogma, auch aufgrund meiner streng demokratischen Erziehung nicht." (S.124) - Erläutern Sie den Zusammenhang von Argumentation und Begrifflichkeit, speziell auf dem Hintergrund der Sozialisation. - Worin besteht die Problematik der "Wörtlichkeit" von Begriffen?
3.2.2. Die Beschreibung neuer Phäncmene Wenn man die Wahl der Begründungssprache als argunentationsentscheidend ansieht, taucht allerdings die Frage auf, worauf das Recht der Begründungssprache
s e l b s t
b e s t i m m t e r
beruht. Wö liegt die Rechtfertigung für die Heranziehung Begriffe? Soll dies selbst wieder begründet werden, ent-
steht zwangsläufig ein Paradox: die Argumente für die Wahl der Begründungssprache müßten ja ihrerseits wieder begründet werden, wobei diese Begründung eine neue Begründung verlangt - bis ins Uferlose. Wie ist dieser drohende Zirkel irrmer neuer Begründungen zu durchbrechen? Es liegen zwei Möglichkeiten auf der Hand, die beide historisch irrmer wieder aufgegriffen worden sind: (1) Die eine Möglichkeit liegt darin, diese Entscheidung für eine Begründungssprache als einen selber
n i c h t
begründbaren Akt hinzustellen bzw. hinzu-
nehmen. Damit ist das Paradox vermieden, allerdings die nicht weniger beunruhigende Problematik eines letztlich in Willkür und damit Irrationalität verankerten Argumentierens aufgeworfen. (2) Die andere Möglichkeit liegt darin, Begründungen für Begründungssprachen als eine eigene Ebene des Argumentierens vorzusehen, dam drohenden Zirkel also durch eine Art Auslagerung zu begegnen. Diese Antwort sucht das Paradox zu lösen,
o h n e
den Anspruch auf einen
rationalen Untergrund des Argumentierens aufzugeben, riskiert aber dafür den Vorwurf der Irrationalität nun gerade bei der Begründung zweiter Stufe. Dies
59
ergibt starre Fronten. Praktisch aber wird im Begründungs sprachen gerungen. Einmal gibt es Gelegenheiten, wo die alten Gesetze bzw. Normen nicht mehr ausreichen und deshalb neue gefunden werden müssen; zun andern haben wir es mit dem Fall zu tun, wo Normen strittig sind. Beidemale müssen sie entsprechend begründet werden, wie auch immer man den Charakter dieser Begründung selbst bewertet. In diesen Fällen wird jedenfalls das "Material" der faktenbezogenen Argumentationen vorbereitet, und zwar sowohl hinsichtlich der Begriffsausbildung, die für die Phäixmenbeschreibung entscheidend ist, wie für die Stützen, die als der Evidenz gewährleistende Erfahrungsbereich Bewährungsproben bestehen. Diese Vorgänge sollen im folgenden etwas näher betrachtet werden. Störende Explikationen Ein Beispiel für das Probien der Begriffsausbildung stellt ein Brief dar, den 11 der Physiker Niels Bohr an seinen Kollegen Albert Einstein geschrieben hat : Seit langem ist es ja erkannt, wie innig die Schwierigkeiten der Quantentheorie mit den Begriffen, oder vielmehr mit den Worten verknüpft sind, die bei der gewöhnlichen Naturbeschreibung benutzt werden, und die alle in den klassischen Theorien ihren Ursprung haben. Diese Begriffe geben uns ja nur die Wahl zwischen Charybdis und Scylla, je nachdem wir unsere Aufmerksamkeit auf die kontinuierliche oder diskontinuierliche Seite der Beschreibung richten. Gleichzeitig fühlen wir jedoch, daß (lediglich) "die durch unsere eigenen Gewohnheiten bedingten Hoffnungen uns hier in Versuchung führen," (eine Entscheidung zwischen Scylla und Charybdis zu treffen,) "da es ja bis jetzt immer möglich gewesen ist, uns zwischen den Realitäten schwimmend zu halten" (Bohr an Einstein, 13.IV.1927).
Anders als bei unserer früheren Beschäftigung mit den Begriffen zeigt sich hier, daß Implikationen störend, ja bedrohlich werden können. Dies ist eine Situation, in der neue Begriffe gefunden, neue Begründungssprachen ausgebildet werden müssen. Die "Phänomene", die in der Quantentheorie zu beschreiben sind, haben nicht mehr die Eigenschaften von "Dingen", müssen also in einer Sprache beschrieben werden, die solche "Dinglichkeit" nicht dauernd assoziiert. Das können nur neue Begriffe oder ümdefinitionen lösen. Dabei geht es nicht etwa um Wörter als solche; vielmehr muß mit einer U m b e n e n n u n g denken
ein
Um-
erfolgen, die neue Begrifflichkeit muß mit neuen Denkwegen Hand
in Hand gehen. Dazu gehört es z.B., die besondere Form der Unanschaulichkeit der neuen naturwissenschaftlichen Theorien nicht etwa als "Fehler" zu betrachten - dieser Eindruck korrmt ja nur durch die Perspektive der Dinglichkeit z u s t a n d e - , sondern als Charakteristikum dieses Denkens. 11
Der Brief ist abgedruckt in: K.-H. Meyer-Abich, die Sprache in der Philosophie Niels Bohrs, in: H.G.Gadamer (Hg.), Das Problem der Sprache, München 1967, S.9f.
60
Dasselbe Prinzip kennzeichnet aber auch wissenschaftliche Bemühungen im Bereich der historisch-philosophischen Wissenschaften. Ein plastisches Beispiel bietet L. Althusser, der bei seiner Marx-Analyse das Verständnis von der Ent12 Wicklung zentraler Begriffe bei Marx selbst abhängig sieht : "Man bricht nicht mit einem Mal mit einer theoretischen Vergangenheit: man braucht auf jeden Fall Worte und Begriffe, um mit Worten und Begriffen zu brechen, und es sind oft die alten Worte, die mit dem Protokoll des Bruchs beauftragt werden, solange die Erforschung der neuen andauert. Die "Deutsche Ideologie" gibt uns so das Beispiel eines verpfändeten begrifflichen Ausverkaufs, der den Platz neuer, noch in der Unterweisung befindlicher Begriffe einnimmt... und da es normal ist, diese alten Begriffe nach ihrem Aussehen zu beurteilen, sie beim Wort zu nehmen, kann man sich leicht verirren in einer sei es positivistischen Auffassung (Ende jeder Philosophie), sei es individualistisch-humanistischen Auffassung des Marxismus (die Subjekte der Geschichte sind die "konkreten wirklichen Menschen")..." (S.37). Und etwas weiter programmatisch: "Wenn sich eine Wissenschaft konstituiert, z.B. die Physik mit Galilei oder die Wissenschaft von der Entwicklung der Gesellschaftsformationen (historischer Materialismus) mit Marx, arbeitet sie immer an existierenden Begriffen, "Vorstellungen", also an einer Allgemeinheit I, die vorgängiger ideologischer Natur ist. Sie "arbeitet" nicht an einem reinen, objektiven "Gegebenen", das das der reinen und absoluten "Tatsachen" wäre. Ihre eigentliche Arbeit besteht im Gegenteil darin, ihre eigenen wissenschaftlichen Tatsachen auszuarbeiten durch eine Kritik der ideologischen "Tatsachen", die durch die vorhergehende ideologische theoretische Praxis ausgearbeitet worden sind. Seine eigenen spezifischen "Tatsachen" ausarbeiten heißt gleichzeitig, seine eigene "Theorie" ausarbeiten, da die wissenschaftliche Tatsache - und nicht das sogenannte reine Phänomen - nur im Feld einer theoretischen Praxis identifiziert wird" (S.125f.)
Begriffliche Erfassung von neuartigen Ereignissen Nicht weniger interessant und wichtig ist es, diese Vorgänge im Bereich der allgemeinen Meinungsbildung etwa im politisch-gesellschaftlichen Bereich zu beobachten. Hier sind es weniger theoretische Schwierigkeiten als vielmehr das sehr konkrete Probien, mit neuartigen Ereignissen fertig zu werden, die in den alten Denkbahnen nicht mehr zu bewältigen sind. Dabei werden die Medien zum Träger der Entwicklung, indam sie den Umdenkungsprozeß in Kcrrmentaren und Berichten vorwegnehmen. Ein Beispiel, das die auftretenden Schwierigkeiten selbst mit im Auge hat, gibt der folgende Katrtventar zum "Phänomen Baader/ 13 Meinhof" :
12 13
L.Althusser, Für Marx, Frankfurt 1968 In: F. Grützbach (Hg.), Heinrich Boll, a.a.O., S.110
61 Vorlage zur Diskussion in der Christi. Friedenskonferenz (CFK), Klaus Erler Strukturelle Kriminalität - ein Thema der Friedensforschung ... Das Phänomen Baader/Meinhof wollte in diesem Sinne nicht länger als Appell zur Vorbereitung und Durchführung bewaffneter Auseinandersetzungen von oben oder und von unten aufgefaßt werden, sondern als ein drastisches Signal zu ständig erneuerter und angemessener Realitätserfassung und zu der ihr entsprechenden fortlaufenden Begriffsbildung. Die Entwicklung unserer problematischen und kriminalitätsschwangeren Sozialstrukturen ist so schöpferisch und zugleich mörderisch dynamisch, daß mit der alleinigen oder vorwiegenden Benutzung traditioneller Erkenntniskategorien und Wertmaßstäbe nicht länger auszukommen ist. Eine Vernachlässigung dieser neuen Orientierungsimpulse wäre selber bereits ein weiteres Element struktureller oder system- bzw. organisationsimmanenter Kriminalität, da sie auf frühes Erkennen und vorbeugendes Verändern verzichtete. Die Anregung Heinrich Bolls, Ulrike Meinhof den Sonderstatus freien Geleites zu gewähren, entspringt und entspricht dieser für die gesamte Gesellschaft existenziellen Notwendigkeit. Auch eine ganz dem Vergeltungsund Abschreckungs"recht" aufsitzende Gesellschaft kann zum scheiternden Michael Kohlhaas werden, wenn sie ihren Sinn nicht für Weisheit und Gnade, aber auch für Wahrheit und Hoffnung offenhält. Unsere Gesellschaft sollte nicht der Mehrheit der "Bild"-Leser zuliebe auf die Mitwirkung produktiver sensibler Sozialanalytiker verzichten, sowohl im Nützlichkeitsinteresse des Sozialganzen als auch im Blick auf Menschlichkeit und Menschenwürde. Helft die Baader/Meinhof-Hysterie stoppen, wo immer sie auftritt und von wo immer sie kommen mag. Werdet nicht durch eigenes Mitversagen jetzt oder auch viel später einmal (oder oftmals) Opfer unerkannter oder verschleierter, unbehandelter oder kurzsichtig manipulierter krimineller Strukturen. Stellt die Frage nach den Bedingungen und Auswirkungen dieses Molochs, solange die Antwort noch Chancen menschenfreundlicher Sozialtherapien offenhält, (gekürzt) Wenn hier die Aufforderung zun Verständnis eines neuen "Phänomens" mit der Aufforderung nach neuer Begrifflichkeit einhergeht, ist dies letztlich ein Appell, Begründungsrnöglichkeiten aufzudecken, die sich der traditionellen Begrifflichkeit verschließen. Wie sehr die Verquickung von Begriffen und Argumentationen schon umgangssprachlich anpfunden wird, zeigt ein Beitrag zu einem ähnlichen Thema, nämlich dem Überfall von Ambonesen auf einen Zug bei Beilen am 2.12.1975 ganz explizit^ Für die holländischen Medien, für Zeitung, Rundfunk und Fernsehen, ergibt sich schon in der sprachlichen Bewältigung des Vorgangs ein eigenartiges Dilemma. Allen Regeln juristischer Nomenklatur gemäß sind die Täter "Verbrecher", "Terroristen". Aber man nennt sie in Holland weiterhin nur bei ihrem Minderheiten-Namen, also "Ambonesen" oder "Süd-Molukker". So empfindlich ist man in seinem Selbstverständnis gestört, so ungern entläßt man eine aus Überzeugung tolerierte Minderheit in die harte Welt der Tatsachen, die einige Angehörige dieser Minderheit durch ihr kriminelles Vorgehen geschaffen haben. Aber die momentane Paralysierung kann die Verantwortlichen nicht aus der quälenden Aufgabe entlassen, zu handeln - und mit Erfolg zu handeln. Die Doppelstrategie der Geiselnehmer bürdet dabei dem Problem der Bekämpfung neue Dimensionen auf, wie wir sie bei bisherigen Terrorakten noch nicht kannten. 14
DIE WELT, 6.12.1975
62 Die ganze Schwierigkeit, solcher "neuer" Ereignisse Herr zu werden, zeigt sich aber anhand einer Karmentierung des Uberfalls auf die israelische Olympiamannschaft in München am 5.9.1972. Dazu braucht man nur die Vielfalt der Begrifflichkeit im Hinblick auf Tat und Täter zu betrachten, wie sie in den 15 ersten Berichten und Kcrmentaren greifbar ist : (1) BBC/WS (Gent, Beirut, engl.): "Außer Jordanien, dessen König Hussein die barbarischen Aktionen in einem Telegramm an Bundeskanzler Brandt scharf verurteilt hat, hat kein anderer arabischer Regierungschef bislang zu den Ereignissen Stellung genommen. Aber auch keiner ließ den Eindruck entstehen, als sei er Anhänger des schwarzen Systems der Guerilla-Kommandos, das für die Münchner Schießereien verantwortlich ist..." (2) STIMME AMERIKAS (William Wayte, London, engl.): "Der hinterlistige Angriff hat eine einzige Reaktion ausgelöst. Führende Politiker und Kommentatoren stimmen darin überein, daß bei internationalen Zusammenkünften aller Art die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt werden müssen. Vor allem geht jetzt der Appell an alle Regierungen, Gesetze und Maßnahmen zu entwerfen, die den Terroristen ein für alle mal das Handwerk legen." (3) BAYER.RF (Behrens, Kairo): "Der ägyptischen Regierung fällt es offensichtlich schwer, sich offiziell von der Münchner Gangsteraktion palästinensischer Extremisten zu distanzieren. Aber die verantwortlichen Männer in Kairo müssen sich natürlich darüber im klaren sein, daß das Attentat im Olympischen Dorf nur eine Fußnote zu größeren Ereignissen ist, die über den Nahen Osten hereinbrechen können, wenn die Vernunft nicht siegt..." (4) BBC RADIO 4 (McDermott, Nahostexperte des GUARDIAN, engl.,): "Im Augenblick sind die arabischen Terroristen ziemlich isoliert... Die Gruppe des 'Schwarzen September', die sich von der 'Fatah' abgespalten hat, ist wahrscheinlich nicht so ideologisch ausgerichtet wie diese; es handelt sich mehr um palästinensische Nationalisten..." (5) AFN (Jerusalemer CBS-Korrespondent, engl.): "Die Israelis sind unglaublich schockiert über das Attentat der Guerillas auf ihre OlympiaDelegation in München, und zwar nicht nur wegen der Art und Weise, wie es durchgeführt wurde, sondern besonders deshalb, weil die Unterkünfte der Israelis im Olympischen Dorf so ungeschützt waren. Da es in den letzten Monaten immer wieder zu Versuchen der arabischen Guerillas gekommen war, die Israelis in der Luft und auf dem Boden zu treffen, nahm man hier ganz selbstverständlich an, daß die Sicherheitsmaßnahmen auf den Olympischen Spielen narrensicher seien. Und das ganz besonders deshalb, da 'Interpol' letzten Monat berichtete, daß eine ganze Reihe von arabischen Terroristen, aus dem Libanon kommend, Europa infiltrierten und insbesondere Westdeutschland..." (6) BAYER.RF. (Gerner, Paris): "...Die Münchner Tragödie hat in Frankreich, wie in aller Welt, Entsetzen, Bestürzung und Trauer ausgelöst... Der Chef der französischen Diplomatie (Schumann) verwies ... darauf, daß kein arabisches Land versucht habe, eine Entschuldigung für die 'Kriminellen', wie er wörtlich sagte, zu suchen und daß selbst die palästinensischen Organisationen sich von den fanatisierten Tätern distanziert haben..." (7) DFS - DER KOMMENTAR - (Thilo Koch): "... Die arabischen Terroristen haben die zivilisierte Welt in einen Belagerungszustand versetzt, und daraus folgern nach meiner Auffassung einige sehr harte Konsequenzen... 15
Die Zitate nach dem Material des Spiegel-Archivs.
63
Es rauß eine internationale Jagd auf die Banditen gemacht werden. Und es ist den Israelis nicht zu verdenken, wenn sie jetzt Vergeltungsschläge planen und demnächst ausführen. Eine schärfere Kontrolle ist nun wirklich dringend geboten auf den Flugplätzen, vor allem aber auch auf sonstigen gefährdeten Objekten. Und man muß Mittel für alle diese Dinge bereitstellen in der Bundesrepublik, ja, ich glaube, in der ganzen zivilisierten Welt. Wir kommen doch nicht an der Erkenntnis vorbei, daß man hier über der Heiterkeit die Sicherheit vernachlässigt hat... Wichtiger als das deutsche Ansehen ist es, daß die Zivilisation, die von diesen Banditen bedroht wird, verteidigt wird..." (8) NDR (Kellermeier): "... Auf der Suche nach Ursachen und möglichen Fehlern ist schon jetzt vor nationaler Selbstzerfleischung zu warnen und auch davor, daß - mit den Worten Herbert Wehners - in der Bundesrepublik auch noch die Selbstachtung unseres Volkes zerrissen wird. Einen absoluten Schutz gegen Desperados, denen auch ihr eigenes Leben gleichgültig ist, kann es schwerlich geben. Und die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß irgendwo in der Welt Methoden gefunden werden, um solche Anschläge für die Zukunft auszuschließen..." (9) DLF (Küstermeier, Tel Aviv): "Tiefe Bestürzung, aber auch Erregung, Empörung und Zorn kennzeichnen die israelische Reaktion auf die ersten Rundfunknachrichten über den heimtückischen Überfall arabischer Terroristen die erneut unschuldige Menschen, diesmal Olympiade-Teilnehmer, zu wehrlosen Opfern ihrer verbrecherischen Kampfesweise machen... Weit verbreitet ist die Überzeugung, daß die deutsche Polizei in einem wichtigen Punkt versagt hat: Es ist seit langem bekannt, in welchem Umfange nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa mit arabischen Terroristen verseucht ist... Ohne Zweifel mußte mit Übergriffen arabischer Terroristen gerechnet werden, weil Israelis an der Olympiade teilnehmen, und weil die Araber die weltweite Bedeutung der Spiele als einen besonders geeigneten Hintergrund für einen eklatanten Propagandaerfolg betrachten konnten..." (10) DFS - TAGESSCHAU - (Bölling, Washington): "Die amerikanische Regierung hat sich uneingeschränkt mit dem Appell des Bundeskanzlers an die arabischen Regierungen solidarisiert und klargemacht, daß die Völkergemeinschaft darauf drängen muß, daß allen Terroristen jegliche Unterstützung entzogen wird, womit jene verantwortlichen arabischen Politiker gemeint sind, die bisher solche Terrorakte entweder bagatellisiert oder gar entschuldigt haben. Über die selbstverständliche moralische Verurteilung einer nur und ausschließlich verbrecherischen Handlung hinaus hat man in Washington die Entscheidung begrüßt, die Olympischen Spiele zu unterbrechen, weil eine Fortsetzung der Wettkämpfe einem Akt monströser Heuchelei gleichgekommen wäre, wie Beobachter hier sagen..." Die jeweils 10 Bezeichnungen, die sich bei der Durchsicht von 10 kurzen Reportagestücken ergeben, barbarische Aktion (1) hinterlistiger Angriff (2) Gangsteraktion (3) Attentat (3), (5) Tragödie (6) Belagerungszustand gegenüber der zivilisierten Welt (7) heimtückischer Überfall (8) Terrorakt (10) verbrecherische Handlung (10)
Guerilla-Kommando (1) Terroristen (2), (4), (9), (10) palästinensische Extremisten (3) Gruppe des 'Schwarzen September' (4) palästinensische Nationalisten (4) arabische Guerillas (5) 'Kriminelle' (Zitat) (6) fanatisierte Täter (6) Banditen (7) Desperados (8)
64 lassen die Spannweite zwischen relativ neutraler und entsprechend unspezifischer Bezeichnung (Attentat/Terrorist) über stark emotionalisierte Ausdrücke (Gangsteraktion/Banditen) bis zu ausführlicheren Umschreibungen (für die Tat (7); für die Täter (4)) erkennen. Alle diese Bezeichnungen sind mit ihrem argumentativen Hintergrund sichtbar verbunden: der Begriff Terrorist ordnet Has Phänomen in die allgemeinen Zusammenhänge des internationalen Terrorismus mit den verschiedenen Spielarten (z.B. Flugzeugentführung), aber auch typischen Motiven (z.B. politische Erpressung) ein, während der Begriff Guerilla-Kommando an den Hintergrund des Palästinenserproblems anknüpft: (1) Terrorist,. . (internationaler Terrorismus) (2) G u e r i l l a - K o m m a n d o . .. ^. , (Palastinenserproblem)
Entsprechend scheinen Begriffe wie Kriminelle oder Banditen den Ernst der Lage weniger zu treffen als Extremisten oder Desperados, die Merkmale der politischen Dimension ins Spiel bringen: (3) Krimineller, (4) Extremist»
Bandit, (unpolitisch)
Desperado,
,.,.
(politisch)
Schließlich zeigt sich der Gegensatz zwischen emotionalen und analytischen Absichten am schärfsten bei den Beschreibungen: der Hinweis auf die Herkunft der Täter aus dem Lager palästinensischer Nationalisten läßt sogleich etwas über Motive erkennen, während die Metapher van Belagerungszustand gegenüber der zivilisierten Welt weder über Hintergründe noch Zukunftsaussichten konkrete Schlußfolgerungen zuläßt. Das Phänomen des Terrorianus belegt zum Schluß aber auch den zweiten hier angesprochenen Punkt im Rahmen der Herkunft unserer Begründungssprachen: der Staat selbst muß aufgrund seiner Gesetzgebungstätigkeit das neue Phänomen in gewissen Sinne a l s
Phänomen anerkennen. Dies geschieht auf dan Wege
der Einfügung von Paragraphen in diesen Fall ins Strafgesetzbuch. Dies ist beim Terrorismus dadurch geschehen, daß der Strafgesetz-Paragraph 129 zur "Bildung krimineller Vereinigungen" um den Tatbestand der "Bildung terroristischer Ver1g einigungen" (§129a StGB) ergänzt wurde . Mit diesen Paragraphen wird der Terrorismus zugleich P h ä n o m e n
und im Sinne der Argumentation "grund-
sätzlich" handhabbar. Dieser Vorgang, mit dem das Recht in gewissem Sinne die "normale" Institutionalisierung durch Ködifizierung übergreift, wird noch etwas plastischer, wenn man den neuen Paragraphen in seinem Umfeld, den StGB-Paragraphen zu den "Straftaten gegen die öffentliche Ordnung" sieht; die direkten Nachbarn seien kurz genannt: 16
Strafgesetzbuch,
17.Aufl., München 1976
65
§ § § § § § § §
123 125 126 127 129 130 131 132
Hausfriedensbruch Landf r ieden sbr uch Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten Bildung bewaffneter Haufen Bildung krimineller Vereinigungen Volksverhetzung Verherrlichung von Gewalt Amtsanmaßung usf.
Was vorher nur als "kriminell" und in verschiedene Tatbestände aufgesplittert faßbar war, wird mit dem neuen Begriff der "terroristischen Vereinigving" ein "normaler Fall". Der Gesetzgeber hebt den Terroristen aus dem Bereich des lediglich Beschreibbaren heraus und bringt ihn gewissermaßen direkt mit Grundsätzen in Verbindung. Übung (13) Ein interessantes Beispiel für die Problematik der Beschreibung neuer Phänomene bietet sich im Raum der Sprachwissenschaft an, und zwar N.Chomskys Skinner-Rezension (deutsche Ubersetzung von Friedrich Griese in: H.Holzer und K.Steinbacher, Sprache und Gesellschaft, Hamburg 1972, S.60-85). - Weisen Sie anhand des folgenden Ausschnitts nach, wie Chomsky in der Begrifflichkeit seines Gegners den Keim des wissenschaftlichen Mißerfolgs sieht. - In welchem Sinne kann man dabei von der Neuheit eines Phänomens sprechen? Es hat den Anschein, als sei Skinners Behauptung, das gesamte Sprachverhalten werde durch Bekräftigung erworben und mit "Stärke" aufrechterhalten, gänzlich inhaltsleer, weil sein Begriff der Bekräftigung keinen klaren Inhalt hat und nur als Deckmantel für einen beliebigen, erkennbaren oder auch nicht erkennbaren Faktor dient, der mit dem Erwerb oder der Aufrechterhaltung des Sprachverhaltens verbunden ist. An einer ähnlichen Schwierigkeit leidet Skinners Verwendung des Begriffes "Konditionierung". Die Pawlowsche und die operante Konditionierung sind Prozesse, für welche die Psychologen tatsächliches Verständnis entwickelt haben. Gleiches gilt nicht für das Lernen der Menschen. Die Behauptung, Unterweisung und Informationsvermittlung seien bloß eine Sache der Konditionierung (357-366), ist witzlos. Die Behauptung ist richtig, wenn wir den Ausdruck "Konditionierung" so erweitern, daß diese Prozesse erfaßt werden, aber wir wissen nicht mehr über sie, nachdem wir diesen Ausdruck so verändert haben, daß er seinen relativ eindeutigen und objektiven Charakter verliert. Soweit wir wissen, ist es gänzlich falsch, wenn wir "Konditionierung" im buchstäblichen Sinne verwenden. Entsprechend haben wir, wenn wir sagen, daß "es die Funktion der Aussage ist, den Transfer der Reaktion von einem Term auf einen anderen oder von einem Objekt auf ein anderes zu gestatten" (361), nichts irgendwie Signifikantes mitgeteilt. Inwiefern ist das wahr für die Aussage Wale sind Säugetiere? Oder worin besteht der Sinn, wenn man, um ein Beispiel von Skinner zu nehmen, sagt, die Wirkung auf den Hörer von Das Telefon ist defekt, sei es, ein Verhalten, das vorher von dem Stimulus defekt abhängig war, durch einen Prozeß einfacher Konditionierung vom Stimulus Telefon (oder von dem Telefon selbst) abhängig zu machen (362)? Was für Gesetze der Konditionierung gelten in diesem Falle? Weiter, was für ein Verhalten ist abstrakt von dem Stimulus defekt "abhängig"? Je nach
66 dem Gegenstand, über welchen dies ausgesagt wird, dem gegenwärtigen Motivationsstand des Hörers usw. kann das Verhalten variieren zwischen Wut und Freude, von Reparieren des Gegenstandes bis Wegwerfen, von einfachem Nichtbenutzen bis zu dem Versuch, es auf normale Weise zu benutzen (um beispielsweise zu sehen, ob es wirklich defekt ist) usw. Wenn man in einem solchen Falle von Konditionierung oder davon spricht, "früher verfügbares Verhalten unter die Kontrolle eines neuen Stimulus zu bringen", dann treibt man geradezu ein Spiel mit der Wissenschaft. Die Behauptung, daß behutsame Verteilung der Fälle von Bekräftigungen durch die Sprachgemeinschaft eine notwendige Bedingung für die Spracherlernung sei, ist in der einen oder der anderen Form an vielen Stellen aufgetreten. (S.73f.)
3.3. Kommentierte Literaturangaben Zu 3.2.1. Die begriffliche Festlegung von Gegenstandsbereichen Die Bedeutung der Begriffe im Zusammenhang von Begründungssprachen hat Habermas hervorgehoben (vgl. 1973a, S.244ff.). Für den naturwissenschaftlichen Bereich ist wiederum auf Carnap 1966 (1969), Hempel 1966(1974) und Stegmüller 1969 zu verweisen. Die zu Beginn des Kapitels 3.2.2. erwähnte Alternative zwischen konventionalistischer und rationalistischer Position im Hinblick auf die Bewertung von Begründungssprachen kann man am besten in der Diskussion um das Werk von Kuhn 1962(1967) verfolgen. Dieses Buch hat sehr deutliche Parallelen zu dem etwa gleichzeitig entstandenen Buch von Toulmin 1961 (1968), das in Kapitel 1.3.2. erwähnt worden ist. Eine breitere Einführung in diese Diskussion enthält Ströker 1973 (bes. Kapitel III 2), wo der "konventionalistische" Standpunkt allerdings besonders durch die Position des kritischen Rationalismus Poppers vertreten ist. Zu 3.2.2. Die Beschreibung neuer Phänomene Die Problematik von Sozialisation und Institutionalisierung ist ein Grundthema sowohl der Pädagogik wie der Soziologie. Grundlegende pädagogische Arbeiten zur Sozialisation stammen von J. Piaget; vgl. die sehr gute (von Piaget autorisierte) Zusammenfassung von Furth 1972. Grundlegende soziologische Arbeiten zur Institutionalisierung stammen von T. Parsons; vgl. etwa Parsons/Bales 1955; Luhmann 1972 (bes. Kapitel 2.4. mit einer Parsons-Kritik). Zur Sozialisationsproblematik im Sinne des Aufbaus der Lebenswelt vgl. Schütz/Luckmann 1975 sowie Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973 (darin besonders der Beitrag von Garfinkel: Bd. 1, S.189ff.). Aus linguistischer Sicht interessant ist auch Lorenzer 1972. Zum Problem der sprachlichen Sozialisation im Sinne der Code-Theorie vgl. Bernstein 1971(1972), bes. S.256ff., sowie Oevermann 1972. Eine gute Zusammenfassung bieten Hager u.a. 1973, bes. Kap. 5.
4
ARGUMENTATION UND DISKUSSION
In den vorausgehenden Kapiteln sind irrmer wieder konkrete Argunentationsbeispiele herangezogen worden, aber es ging dabei nicht im das Konkrete des Diskutierens, sondern um die zugrundeliegenden Strukturen von Argumentationen. Dabei bezog sich Kapitel 2 verkürzt gesagt auf das S c h e m a
der Argumen-
tation, wie es im erweiterten Modell des Syllogismus zum Ausdruck kcnmt, Kapitel 3 auf ihren S t e u e r u n g s a p p a r a t
, wie er in den Be-
gründungssprachen greifbar wird. Deshalb könnte es MißVerständnisse hervorrufen, wenn schließlich ein Kapitel zur Diskussion folgt. Es sieht so aus, als solle nach der Behandlung der logischen Struktur von Argumentationen nun von Taktik oder jedenfalls rhetorischen Strategien die Rede sein. Es ist aber etwas anderes gemeint: Argumentationen haben einmal eine "technische" Seite in dem Sinne, daß sie als karmunikatives Geschehen der sprachlichen Realisierung bedürfen. Dazu gehört sowohl die Tatsache, daß bestimmte Sprachmittel des Folgerns die Statik der logischen Struktur allererst in die Dynamik des karmunikativen Prozesses übersetzen, wie das Erfordernis, Argumente für den eigentlichen Erklärungsgang durch Abwägen und Gegeneinanderstellen vorzubereiten. Zum andern haben Argumentationen ihre Grenzen: Weder ist das Auffinden von Thesen eine Selbstverständlichkeit, noch läßt sich Konsens beliebig beschaffen. Alle diese Punkte führen entsprechend auf ihre Weise zu der Frage, die bislang mit Absicht irrmer wieder zurückgestellt worden ist: wie wir uns die Erreichung von Wahrheit in der Praxis vorzustellen haben. 4.1.
Technik des Diskutierens
4.1.1. Sprachmittel des Folgerns Dialogische Struktur Konkrete Argumentationen haben stets eine dialogische Struktur. Im Gespräch wird sie am klarsten sichtbar: hier übernintnt der Protagonist die Verteidigung einer These, während der Antagonist Einwände vorbringt. Dies gilt im Prinzip aber auch für den "monologischen" Beitrag. Protagonist ist hier stets der
68 Schreiber (oder Redner), als statiner Antagonist jedoch immer der Leser (oder Hörer) berücksichtigt. An Wendungen wie (1) Man könnte hier einwenden, daß ... (2) Dabei ist durchaus nicht unberücksichtigt gelassen, daß ... (3) Der Punkt X kann hier schon deshalb nicht ziehen, weil ...
wird die Anwesenheit dieses Antagonisten direkt sichtbar. Es liegt deshalb nahe, das bisher erarbeitete Modell eiimal als Dialog auseinanderzufalten. Als Beispiel soll ein angenommener Alltagsdialog zwischen einer Mutter (A) und ihrer Tochter (B) dienen :
1
Das Schema geht auf einen Vorschlag von F. Hundsnurscher nurscher 1976, S.256) zurück.
(vgl. Hunds-
69
linken Knoten des Dialogs wieder, wobei die ausgezogenen Linien die Äußerung, die gestrichelten die Interpretation der Äußerung auf seiten des Partners wiedergeben:
Problematisierung
(B^)
Problematisierung
(B2)
• Problematisierung
(B3)
•-•Einschränkung
(B4)
(a) Beharren auf der These (As)AjlIl (b) Rücknahme der These (A5)
Im Idealfall "zieht" der Antagonist die immer subtilere Begründung aus der These "heraus"; zwingt den Protagonisten zur stufenweisen Entfaltung. Dabei kann man zunächst unterstellen, daß je nach vorliegendem Fall verschiedene "Zacken" ausgespart werden können. Z.B. darf man annehmen, daß eine konkrete Diskussion zum vorliegenden Beispiel kaum den Weg über die Stützen gencrmen hätte. Nach der Nennung des Grundsatzes (also nach A3) könnte Β sogleich mit der Einschränkung fortfahren (also mit B^). Ist ein Grundsatz dieser Art erst einmal genannt, kann man über die Stützen kaum noch ein Aufbrechen des gesamten Musters erwarten. In diesem Fall eröffnet die Einschränkung die realistischeren Umstimnungschancen. In andern Fällen kann der Weg über die Fakten als selbstverständlich übersprungen werden, weil das ganze Gewicht auf dan Grundsatz und seiner entsprechenden Abstützung liegt. Diese Möglichkeiten entsprechen der früheren Unterscheidung zwischen Alltagsargumentation (faktenbezogener Argumentation) und Normdiskurs (grundsatzbezogener Argumentation). Bei der dialogischen Entfaltung wird aber ein neuer Punkt sichtbar: man sieht deutlich, daß ein Partner nicht unbeschränkt reagieren kann. Es trifft nicht nur zu, daß gewisse Grundsätze für den Antagonisten eher den Weg über die Einschränkung nahelegen; es sind überhaupt in einer "fairen" Diskussion bestirrnite Züge ausgeschlossen. Wer beispielsweise einen Grundsatz anerkennt, kann nicht ohne weiteres n a c h h e r
auf die Fakten zu sprechen
kennen: B2: Seit wann gelten Fransen als schlampig? A3: Fransen stellen schließlich eine Beschädigung dar. (7)83: Aber die Hose i s t doch gar nicht ausgefranst.
70 Der Protagonist nrüßte sich in diesem Fall als nicht ernst genommen vorkennten. Eine Karikatur veranschaulicht die Farce, zu der die Nichtbefolgung dieser Regel führen kann: A^: Bj : A2: B2: A,: B3: A^: B4:
Du mußt mir die kaputte Uhr erstatten. Ich habe überhaupt keine Uhr von dir geliehen. Natürlich hast du sie geliehen. Aber die Uhr gehört doch mir. Das ist Unsinn. Jedenfalls habe ich dir die Uhr längst zurückgegeben. Ich sage dir, du hast sie kaputt gemacht. Aber die war schon kaputt, bevor ich sie geliehen habe.
Formulierungen für Argument-Funktionen Für die dialogische Entfaltung im Einwand-Antwort-Schema stehen nun verschiedene Formulierungen zur Verfügung, die mehr oder weniger eindeutig die jeweilige Funktion markieren. Am eindeutigsten ist die Formulierung der These, sofern sie n a c h
einer Begründung - sei es auf der Stufe der Fakten,
Grundsätze oder Stützen - vorgetragen wird: (4) (5) (6) (7)
Deshalb ist dein Eindruck eben doch gammelig. Also bist du doch vergammelt. Folglich siehst du vergammelt aus. Mithin bleibt es dabei: du siehst vergammelt aus.
Am wenigsten eindeutig ist d i e
Begründungskonjunktion schlechthin: das
weil bzw. Unschreibungen mit aufgrund von oder wegen. Man kann zwar den Vorschlag machen (wie es Toulmin in seinem Modell tut), Grundsätze mit wegen, Stützen mit aufgrund von einzuführen, doch entspricht dies kaum dan normalen Sprachgebrauch. Selbst im Falle der Faktennennung kann man wegen benutzen: Bj: Wieso (ist das denn gammelig)? A2: Wegen der ausgefransten Hosen.
Entsprechendes gilt für die Beiträge des Antagonisten. Den universell verwendbaren weilj wegen, aufgrund von entsprechen hier das warum bzw. wieso. Dies zielt ja jeweils auf die Begründung bzw. auf einen Grund, und Gründe sind Fakten ebenso wie Grundsätze und Stützen. Man kann also ebenso fragen: Bj: Wieso
(warum) ist das denn gammelig?
wie: B2: Wieso
(warum) gelten Fransen als gammelig?
Inmerhin wird an diesen Beispielen ein kleiner Unterschied deutlich: bei der Fakten-Problematisierung wird die warum-Frage mit einem ist weitergeführt, bei der Grundsatzproblematisierung mit dan Verb gelten. Das ist deshalb verstand-
71
lieh, weil man sich mit dem Grundsatz in einen G e l t u n g s findet; anders als bei den Fakten, deren E x i s t e n z
bereich be-
zur Debatte steht
- sie können ja lediglich zutreffen oder nicht - wird für den Grundsatz Allgemeingültigkeit reklamiert. Dieser Unterschied spiegelt sich denn auch in einer weiteren Differenzierung: das wieso (warum) nach der Grundsatz-Nennung kann leicht durch ein seit wann? ersetzt werden, weil die Frage nach der Zeit letztlich auf die Geltung zielt (seit wann besteht die N o r m ,
daß
); nach der Fakten-Nennung klingt
dies eher unnatürlich, es sei denn, mit der Nennung der Fakten liegt der Grundsatz schon direkt auf der Hand: Aj: Du siehst völlig vergammelt aus. (?)B^: Seit wann das denn? A2: Sieh dir nur die ausgefransten Hosen an. B2: Seit wann gelten Fransen als gammelig?
Eine Differenzierung zwischen Grundsatz- und Stützen-Problematisierung schließlich dürfte in der Floskel na und? liegen, die am ehesten auf den Geltungsgrund eines Grundsatzes gemünzt ist, während die Geltungsproblematisierung von Stützen eher mit einer Ausnahmereklamierung vollzogen wird (wie in unserm Beispiel) oder mit konstatierenden Bemerkungen der folgenden Art: A4: Beschädigte Sachen erwecken den Eindruck, daß man im Ganzen unordentlich ist. B4: Da habe ich aber ganz andere Vorstellungen.
Schließlich gibt es noch einen Bereich völlig eindeutiger Charakterisierung: nämlich die Qualifikatoren, die der Protagonist bei der endgültigen Thesenfonnulierung verwenden kann: entweder die typischen ModaJausdrücke wirklich, möglicherweise, wahrscheinlich, notwendigerweise oder entsprechende expressive Formulierungen wie hundertprozentig, auf jeden Fall, nach Menschenermessen usf. In einem Scharia lassen sich diese Einzelbeobachtungen kurz zusammenfassen:
FAKTUM weil wegen aufgrund von GRUNDSATZ
~ - - -fr. PROBLEMATISIERUNG
^
weil wegen aufgrund von STÜTZE
warum (ist)? wieso (ist)?
"
PROBLEMATISIERUNG warum (gelten)? wieso (gelten)? seit wann (gelten)? na und?
weil wegen
EINSCHRÄNKUNG
aufgrund von
... aber ...
THESE (mit Quälifikator) deshalb wahrscheinlich also vermutlich folglich notwendigerweise mithin usf. Übung (14) Ähnlich unbestimmt ist das Bild, das die vielen umfänglicheren Floskeln bieten, mit denen man Argumente einleitet bzw. ihre Funktion charakterisiert. Es gibt kaum Beispiele, die lediglich für e i n e n "Zug" infrage kommen, - Versuchen Sie dennoch eine Aufteilung der folgenden Liste, indem Sie mindestens typische protagonistische und antagonistische Züge unterscheiden - Fügen Sie weitere Formulierungen hinzu und diskutieren Sie deren Prägnanz (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21) (22) (23)
Das ist nicht das Ergebnis einer Vermutung, sondern ... Sie sagen ja selbst, daß ... Eingegangen sind die bekannten Zusammenhänge zwischen ... Ich kenne die Schwierigkeit, kann aber sagen, daß ... Außerdem ist X ja Y ... Das ist gerade der Punkt ... Gut, aber Sie sehen immer nur ... Zum einen - zum andern Das bedeutet praktisch, daß ... Man kann nicht einerseits behaupten, daß ..., und andererseits fordern, daß ... Es wäre sicher falsch zu meinen, daß ..., aber ... Ich habe jedenfalls die Verpflichtung, daß ... Bisher gilt wohl immer noch, daß ... Woher stammt eigentlich die Erkenntnis, daß ... Das ist nicht zu unterschätzen, jedoch ... Das kann man auch anders sehen. Ich selbst habe ursprünglich die Auffassung gehabt, daß ..., aber ... Niemand behauptet, daß ...; worum es geht, ist lediglich ... Nun sind andere zum Schluß gelangt, daß ... Die These X, die ja nicht bedeutet, daß Es ist natürlich klar, daß ... Wir haben jetzt nicht festzustellen, ob X gilt, sondern daß ... Ich halte diese Frage für zentral.
73 Ich gehe aufgrund von ... davon aus, daß ... Ich möchte eine Gegenfrage stellen: ... Ich bitte Sie, den Sachverstand von X nicht zu überschätzen ... Verstehe ich Sie richtig, daß ... Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß ... Wenn man nun hinzunimmt, daß ... Sollte sich herausstellen, daß ..., dann kann man immer noch ... Das kommt auf die Maßstäbe an. Ich bleibe ja mit dieser Erkenntnis nicht stehen. Ich sage ja nicht, daß ..., sondern im Gegenteil: ... Ich möchte Ihnen widersprechen. Wir sind durchaus in der Lage .. Wie alle Vergleiche trifft auch dieser das Problem nicht ganz. Diese Meinung enthebt Sie nicht der Verpflichtung zu sagen, daß Wir stehen doch nicht vor der Frage, ob ... Ich habe überhaupt keinen Streit mit denen, die sagen ...; nur . Selbst wenn Sie recht haben, muß man dem entgegenhalten, daß ... Sprechen nicht die Zahlen eine andere Sprache? Aber die Kritiker sprachen schon immer von ... Ich bin kein X-Fanatiker, aber ... Sollte sich herausstellen, daß ... Anders herum wird auch ein Schuh daraus. Nun scheint ja überhaupt der Traum von X ausgeträumt; deshalb .. Ich könnte mir vorstellen, daß ... All dies kann sich nur dahingehend auswirken, daß ... Selbst bei den Befürwortern hat sich Skepsis breitgemacht, ob .. Sie müssen aber doch zugeben, daß ... Warum nicht? Um dem zu begegnen, ist ja schon ... Hinzu kommt freilich noch das Problem, daß ... Auch hierüber gehen die Meinungen auseinander. Aber gerade das ist doch umstritten. Greift man damit nicht zu kurz? Man kann durchaus Leute finden, die sagen: ... Nach dem Urteil von X jedenfalls ... Die meisten Experten gehen davon aus, daß ...
4.1.2. Pro-und-contra-Argumente Wie die Fertigstellung eines Kleides einen Zuschnitt voraussetzt, der das Zusammennähen ermöglicht, so die Formulierung einer Argumentation den Prozeß des Suchens und Abwägens. Man hat deshalb mit Recht inner wieder darauf aufmerksam gemacht, daß eine Diskussion am besten mit der Prüfung von Alterna2 tiven beginnt . Diese Prüfung ist keine Spielerei, die einem falsch verstandenen Liberalismus Rechnung trägt oder gar die Kraft des Redners an der Vielzahl seiner "Gegner" beweist. Sie soll vielmehr die einem Thema innewohnenden Möglichkeiten bewußt machen, den Bereich der relevanten Kriterien aufschließen. Einige interessante Bemerkungen in dieser Richtung startmen von A. Naess 3 , der
2 3
Z.B. Toulmin 1958 (1975), S.21ff. Naess 1966 (1975), Kap.VI
74
ausdrücklich hervorhebt, daß diese Vorschläge nichts mit bloßer Geschicklichkeitsförderung 2X1 tun haben (S.128) . Naess unterscheidet zunächst zwei Formen der Übersicht über Argumente, die Pro-et-contra-Ubers icht sowie die Pro-aut-oontra-übersicht: Pro-et-contra(jbersichten zählen die Argumente auf, die in einer Diskussion
zu
G u
s t e η einer Behauptung aufgezählt werden sowie die, die g e g e n
η eine
Behauptung angeführt werden können. Das entscheidende Merkmal dieser Liste ist die Tatsache, daß sie (noch) keine Schlußfolgerung enthält. Pro-aut-contra-Ubersichten gruppieren demgegenüber die für bzw. gegen eine Behauptung sprechenden Argumente im Hinblick auf eine Schlußfolgerung. Die in ihr aufgeführten Argunente sind also bereits gewogen, vor allem nach Widersprüchen innerhalb
der pro- bzw. oontra-Gruppe abgetastet (S.134ff.).
Worin liegt der Nutzen solcher Listen, besonders der Pro-et-contra-Ubersicht? Naess' Antwort lautet, daß Einsicht bzw. Einsichtnahme in die Kanplexität eines Problems die einzige Möglichkeit darstellt, über kurzfristige oder engstirnige Lösungen hinaus zukamen (S.132ff.). Denn das Ordnen selbst führt notwendig zum Abwägen von Relevanzen; die wirkliche Relevanz eines Aspekts beiaßt sich nicht an sich selbst, sondern letztlich an den Alternativen, die sich bieten. Darüberhinaus können Listen dieser Art die Meinungsunterschiede ans Licht bringen, die äußerlich betrachtet oft totaler wirken, 'als sie es wirklich sind. Vor allem aber machen diese Listen "den Zusanmenhang jedes einzelnen Arguments mit jedau anderen" deutlich (S.143). Gerade auf den letzten Punkt bezogen hat Naess einen Vorschlag der Darstellung von solchen Listen gegeben, der darauf aufbaut, daß jedes Argument selbst wieder Pro- oder auch Gontra-Argunente haben kann, die entsprechend berücksichtigt werden müssen. Schenatisch kann dies folgendermaßen aussehen:
P
Ci;
1
p c :
P
2 p3
P
l l 2C1:
P
1P3 * P2P3:
P
1P2C1 P2P2Cl
ClP3:
ClP2C1
P
4"
( S . 143)
"Fq" stellt die sog. "Spitzenformulierung", die These also, dar. "P^" ist ProArgument Nr. 1, "C^" Contra-Argument Nr. 1. "P.|P3" läßt sich auflösen als Pro-Argument Nr. 1 für Pro-Argument Nr. 3; entsprechend "C^P^" als Oontra-Argument Nr. 1 gegen Pro-Argument Nr. 3. Im dargestellten Fall wären also für
75 Pro-Argument Nr. 2 zwei stützende (Unter-) Argumente sowie ein Gegenargument angeführt. Schließlich bedeutet " P - ^ c y entsprechend Pro-Argument Nr. 1 für Pro-Argument Nr. 2
für
Kontra-Argument Nr. 1
(gegen
F Q ).
Ein von Naess gewähltes konkretes Beispiel lautet: FQ: Wir müßten den Bevölkerungszuwachs in Norwegen reduzieren. P^: Das würde den Verbrauch von ausländischen Rohstoffen reduzieren. P^: Das würde die Lebensqualität in den Stressgebieten erhöhen. P^: Das würde die Zerstörung der norwegischen Natur vermindern. Dieses sind die Pro-Argumente erster Ordnung. (Wenn beabsichtigt wäre, eine vollständige Pac-Übersicht aufzustellen, würde es gut sein, die Alternative zu FQ ZU nennen, zum Beispiel: "Wir sollten keine Politik zur Unterstützung eines verminderten Bevölkerungszuwachses in Norwegen treiben".) Wir wählen nun 3 Kontra-Argumente erster Ordnung aus: Cj: Das würde viele der Freude an einer großen Kinderschar berauben. Cj: Das würde die norwegische Wirtschaft schwächen. C^: Das würde die Lebensqualität in den schwach bevölkerten Gebieten herabsetzen. (Die mit diesen Argumenten verbundenen impliziten Wertungen können formuliert werden durch Hinzufügung "und das ist gut" zu jedem Pro-Argument und "und das ist schlecht" zu jedem Kontra-Argument.) Ein paar Kontra-Argumente: CjP^: Der Verbrauch ausländischer Rohstoffe läßt sich leicht reduzieren durch verminderten Verbrauch pro Individuum in Norwegen. (Dies ist ein Relevanz-Argument: Der vorausgesetzte Wert kann auch auf andere Weise realisiert werden.) Die Reduktion der Bevölkerungszahl wird zu einem vermehrten Zustrom aus den schwach bevölkerten Gebieten in die Stressgebiete führen und so den Druck in den Stressgebieten aufrecht erhalten. (Dies ist ein Haltbarkeits-Argument: Der Wert läßt sich auf die angegebene Weise nicht verwirklichen.) Ein paar Kontra-kontra-pro-Argumente, also Argumente dritter Ordnung: C^C^Pj: Der Verbrauch an ausländischen Rohstoffen kann nicht stark reduziert werden, wenn wir nicht sowohl eine Verminderung des Verbrauches pro Individuum als auch eine reduzierte Bevölkerungszahl· erreichen. (Relevanzargument) CjC^Pj: D e r starke Bevölkerungszustrom aus schwachbevölkerten Regionen in die Stressgebiete wird aufhören, wenn die ökonomische und kulturelle Aktivität in wenig und mäßig dicht besiedelten Gebieten belebt wird. (Ein Haltbarkeitsargument) (S.152f.) Man sieht hier deutlich, wie die Frage nach Relevanz und Haltbarkeit letztlich als Suche nach der entscheidenden Begründungssprache begriffen werden kann, die sich in den Zusarmienballungen von Naess natürlich verbergen. Die entsprechende Entscheidung würde die Argumentation festlegen. Aber konkrete Argumentationen
s u c h e n
eben Begründungssprachen und sie können sie nur
76 finden, indem die "Zugkraft" bestimmter Argumente geprüft wird. Darin liegt die Notwendigkeit, ein kritisch sondierendes Vorfeld des Argumentierens zu berücksichtigen. Übung (15) Naess hat zur Illustration der Relevanzfrage ein historisches Beispiel ausgearbeitet. Und zwar gibt er die Diskussion norwegischer Studenten wieder, die sich während der deutschen Besatzungszeit überlegten, ob man an der Universität streiken sollte. - Stellen Sie für die Liste ein Schema (entsprechend S.74) her. - Versuchen Sie eine Relevanzabschätzung auf der Grundlage der Liste. PRO Pj: PlP^: P2: P3: PjP^:
Ρ 4: PjP^: P5:
P^Pg: Pg: P^Pg: P7: Pg: PjPg:
Der Streik wäre eine klare und starke Reaktion von Seiten der Studenten gegen den Übergriff der Besatzer. Der Streik wird im In- und Ausland bekannt und verstanden werden. Ein Streik wird die Heimatfront stärken. Eine Schließung der Universität wird das Ansehen der Studenten und indirekt auch das anderer geistiger Berufe stärken. Andere Gruppen, zum Beispiel die Schauspieler, haben in einer "nach außen sichtbaren" Weise reagiert. Man vermißt an der Heimatfront eine Solidaritätsmanifestation an der Universität. Ein Streik wird den Kampfgeist stärken und damit selbst ein (wenn auch bescheidener) Kriegseinsatz sein. Der militärische Kampfgeist hängt in einem bestimmten Grad von dem Kampfgeist an der Heimatfront ab. Der Streik bedeutet einen ernsthaften Schlag für Versuche des NSRegimes, sein Prestige aufrecht zu halten und zu erhöhen (unter Nazis, Sympathisanten, Deutschen) in Norwegen und anderenorts, zum Beispiel in Schweden und Dänemark. Die Nazis können nicht darauf verweisen, daß die Universität unter dem neuen Regime ausgezeichnet funktioniert. Der Streik ist ein ernsthafter Schlag für die deutsche Propaganda, insofern sie den Krieg als Kulturkrieg darstellt. Der Streik zeigt, daß sich in einem besetzten Land die kulturellen Institutionen nicht aufrechthalten lassen. Das Bewußtsein des eigenen Einsatzes stärkt den Kampfeswillen unter den Studenten, und dieser sollte erhöht werden. Der Streik wird der zunehmenden defätistischen Stimmung unter den Studenten entgegenwirken. Der Streik löscht die schlechten und passivierenden Eindrücke aus, die bestimmte mißglückte Widerstandsversuche bei den Studenten hinterlassen haben.
CONTRA: Cj: Für die Besatzer ist unser Streik ein Vorteil. PjC^: Es ist ein Vorteil, die Studenten zu zerstreuen, die ja doch nur einen Unruheherd bilden. P2cl = Wenn die Studentenschaft einmal zerstreut ist, können die schwächeren Gemüter, die jetzt noch den Parolen der Heimatfront folgen, ihre Einstellung nicht mehr aufrechthalten. P P C : Es s c 1 2 1 i h gezeigt, daß gerade in den Semesterferien, in denen die Studenten ja an verschiedenen Orten leben, sich Gleichgültigkeit in der Einstellung ausbreitet.
77 P^Cj: In Oslo verfügen die Studenten über bessere Bedingungen, um über die Aktionen der Heimatfront unterrichtet zu werden, weil sie dort an einem Ort konzentriert sind. Deshalb können sie dort mehr antifaschistische Arbeit treiben. C2: Es ist ein Nachteil für die Behandlung von wankenden und schwachen Studenten, wenn man sie nicht in Reichweite hat. C3: Der Streik trifft die Studenten ungleich hart. P1C3: Studenten mit obligatorischen Kursen in Laboratorien und Kliniken werden sehr hart betroffen. C4: Die wirtschaftliche Lage der Studenten wird schwierig. P^C^: Das führt vielleicht zu einem zwei- bis dreijährigen Einkommensverlust. p p c : Der l l 4 Studienabschluß wird sich vielleicht um 2 bis 3 Jahre verschieben. C5: Die Besatzer werden den Streik mit Terror beantworten. Cg: Der Streik wird eine kurzfristige Mobilisierung von waffenführenden Kompanien der Heimatfront erschweren. C7: Der Streik wird zu Arbeitslosigkeit führen. P1C7: Das wird die Kampfmoral schwächen. Cg: Das Land wird geschädigt, weil am Kriegsende nicht genügend examinierte Kandidaten zur Verfügung stehen. Cg: Ein Streikversuch wird mit einer Niederlage enden. P^Cg: Wankende und Schwache werden den Streikaufruf brechen und bewirken, daß die Universität offengehalten wird, Examen durchgeführt werden usw P2Cg: Die Tatsache, daß ein Teil der Studenten (und Lehrenden) den Betrieb fortsetzen, wird den Eindruck der inneren Spaltung vermitteln und somit den Besatzern nützen. PjCg: Es wird ein Streit zwischen den Fakultäten ausbrechen (da die Mediziner vielleicht beschließen, nicht zu streiken). (S.156ff.)
4.2.
Grenzen des Diskutierens
4.2.1. Das Auffinden von Thesen Die Logik -von Frage und Antwort Wenn früher stets von Thesen die Rede war, die in Argunentationen begründet werden, gilt es nun, diesen Thesencharakter selbst etwas näher zu betrachten. Das erste, was man dabei anhand von konkreten Argumentationen feststellen kann, ist die Tatsache, daß die Thesenformulierung normalerweise keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Thesen enthalten schon viel von der Antwort; wären sie selbstverständlich, brauchte man vermutlich viel weniger zu diskutieren. Insofern enthalten Argumentationen schon in der Thesenfonnulierung eine Leistung, die letztlich den Prozeß des Argumentierens
in
Gang
bringen muß. Thesenauswahl ist stets interessenabhängig, aber auch an Antworten interessiert. Schon die Fixierung der These muß dem Rechnung tragen, indan sie Fragen eröffnet, Relevanzabwägung herausfordert. Argumentationen müssen nicht nur überzeugend sein, sie müssen sich letztlich auch lohnen. Dieser Aspekt kann van Begriff einer hermeneutischen Problemverarbeitung her erläutert werden
78
Der in diesen Sinne jeder Argumentation vorausgehende, aber sie in allen Phasen mitbestinniende Prozeß ist sehr plastisch von dan Publizisten H. Pross beschrie4
ben worden . Nach Pross ist es geradezu die A u f g a b e
des Publizisten,
Argumentationsthanen zu finden, sie im Alltagsleben aufzudecken. Der Publizist muß die Fragen entdecken, die hinter gängigen Antworten stehen; dies setzt Begründung in Gang: "Kein Satz ist an sich erkenntlich, es sei denn, man sucht, worauf er eine Antwort gibt" (S.37). Texte "sind Antworten aus vorausgegangenen Fragen— Der Inhalt ist die erkannte Logik von Antwort und Frage eines Textes" (S.44). Pross macht dies am Beispiel jenes päpstlichen Dekrets deutlich, das einige Heilige fortan aus dan Bereich sakraler Verehrung verbannte: [1] Die AP-Meldung, die am 10.5.69 in den Zeitungen war, daß der Vatikan in einem neuen liturgischen Kalender ca. 30 Heilige, so Niklas, Georg, Barbara und Christopherus, nicht mehr aufzählt, stellt vom publizistischen Denken her die Frage, ob und wie diese Auslassung jahrhundertealte Publizität aus der Welt schaffen kann. Die Begründung im päpstlichen Dekret, "Paschalia Mysterii", Heilige seien gestrichen, weil es zweifelhaft erscheine, daß sie jemals gelebt hätten, stellt die augenblickliche historische Kenntnis gegen das publizierte Mysterium und die Zeugnisse dieser Publizität, die, wie Rubens' Christophorus, in die Kunst- und Kulturgeschichte eingegangen sind und damit außertheologisches Bewußtsein erreicht haben. Für dieses ist es unerheblich, ob Christophorus gelebt hat oder nicht, denn die tradierte Heiligenlegende erneut sich als publizistische Aktion, sooft ein Betrachter an ein Christophorusbild die Frage stellt: "Was ist das?" - Konsequente Negation müßte den Heiligen durch Beseitigung aller seiner Denkmäler zu entheiligen suchen (Denkmalsturz, Bildersturm etc.). ^^
Begründungen sind in diesem Sinne stets abhängig von unserer Lebensanschauung im ganzen. Als konkrete Diskussion unterliegt alles Argumentieren außer der gleichsam die Argumentation leitenden Logik des Begründungs g a n g e s
der
sie a η leitenden Logik von Frage und Antwort im jeweiligen (geschichtlichen) Augenblick. Das Beispiel der Nachricht Man kann sich dies an einen sehr einfachen Beispiel klar machen, das noch auf der Ebene der Information liegt, aber das hier interessierende Problem gut beleuchtet. Und zwar dient dazu die folgende Nachricht einer Sturmkatastrophe5:
4 5
Pross 1970 Kölner-Stadt-Anzeiger, 5.1.1976
79 Die Hamburger Deiche hielten Mindestens 40 Opfer des Sturms in Nordeuropa Hamburg (stä, dpa) - Der Orkan, der zur schwersten Flutkatastrophe seit 1962 an der Nordseeküste führte, hat am Wochenende in Nordeuropa rund 40 Todesopfer gefordert. Der Schaden geht in die Milliarden. In Hamburg, wo vor 14 Jahren 315 Menschenleben zu beklagen waren, hielten diesmal die Deiche. In den vergangenen Jahren hatte der Stadtstaat mit Hilfe des Bundes rund 600 Millionen Mark in den Ausbau des Küstenschutzes gesteckt. Die größte deutsche Hafenstadt kam daher glimpflich davon.
Der Aufbau dieser Nachricht, von der nur Schlagzeile, Unterschlagzeile und fettgedruckte Übersicht wiedergegeben sind, ist typisch. Zunächst die Schlagzeile: sie versteht sich nur auf dem Hintergrund des tagelangen Sturm"ereignisses". Daß Deiche halten, ist ja fast inmer das Selbstverständlichste von der Welt; erst unter Katastrophenbedingung kann es zun Ereignis w e r d e n . In diesem Sinne verstehen wir aber auch erst die Unterschlagzeile: Menschenopfer in dieser Größenordnung sind zwar inmer schrecklich, aber wirklich beängstigend und deshalb ungewöhnlich informativ wird diese Zahl wiederum erst auf den Hintergrund des S t u r m s
als Ursache - man müßte sogar
sagen: des Sturms an der Nordseeküste, da man von andern Teilen der Erde viel Schliitrveres gewöhnt ist. Bei Flugzeugkatastrophen sind 40 Menschenleben nichts Ungewöhnliches, bei Berichten über Kriegsereignisse wäre die Zahl geradezu "normal". Der Journalist hat aber auch beim Uberblick den Nachrichtencharakter klar zu erkennen gegeben, und zwar indem er die Maßstäbe für diesen Charakter regelrecht angibt. Dies wird besonders deutlich im ersten Satz, der das Ausmaß der Katastrophe an einem a n d e r n
Ereignis mißt. Der Bericht über
den Sturm des Jahres 1962 setzt gleichsam die Koordinaten, in denen wir den von 1976 "verstehen" können. Und der Vergleich von 1962 mit 1976 bildet diese Koordinaten entsprechend weiter aus: wir wissen jetzt, in welchem Zeitraun solche Katastrophen vorkamen. Wir wären bei einer Wiederholung im Jahre 1977 überraschter als etwa 1987. Das System, nach dan sich Informationen aufbauen, ist also nur der Spiegel dessen, was wir in uns verarbeiten. Der Journalist erinnert uns an die vielleicht fehlenden oder nicht mehr präsenten Stücke. Er hilft uns, die Bewertungsmaßstäbe (wieder) zu finden, die wir zur Beurteilung eines Ereignisses brauchen. Der dritte Satz zeigt schließlich, was das Halten der Deiche wirklich bedeutet: man kann es am Vergleich der Todesopfer geradezu ausrechnen. Und auch die Zahl der Baumillionen ist abgedeckt durch die Angabe der Größenordnung, in der sich Katastrophenschäden bewegen. Dies alles aber macht zusartmen die Schlußbenerkung verständlich, die mit ihrem daher ein Element der Folgerimg
80 einfügt und damit die gegebene Beschreibung als argumentationsbezogen ausweist: man kann den Ereignisverlauf nur dann glimpflich nennen, wenn man die Maßstabe anlegt, die implizit vorgetragen worden sind. Die Antvrort, die die Nachricht gibt, ist in diesem Sinne von der Frage abhängig, die das Zusammentreffen von entsprechenden Maßstab und den beschriebenen Einzelheiten auslöst. Diese Zusammenhänge könnte man in einer auf das Argumentationsschena bezogenen Ubersicht so zusammenfassen: BESCHREIBUNG
-> BEHAUPTUNG
glimpflich
Deiche hielten (a) 40 Opfer (b) Orkanausmaß (c) Opfer und Schaden (d) Baumillionen (e) MASSTÄBE
Sturm (a), (b) Vergleich mit 1962 (c), (d) Katastrophenschäden (e)
Natürlich ist dieses Beispiel sehr einfach. Die Logik von Frage und Antwort erzwingt bei einer Sturmkatastrophe noch keine weiteren argumentativen Anforderungen. Dies wird aber sofort anders, wenn es etwa liche
11
Katastrophen zu "beschreiben
g e s e l l s c h a f t -
gilt. Hier sind die Thesen schwieriger,
die Maßstäbe u.U. strittig. Dann kann es wirklich auf die Fragen ankamen, die ein Journalist
findet.
Schon das folgende (noch sehr harmlose)
Beispiel der Diskussion um die Einrichtung des Kabelfernsehens läßt dies erkennen® : Die Fragen, die uns angesichts vollendeter Tatsachen beschäftigen werden, sind: Wie steht es überhaupt mit dem Bedarf? Wer hat Zugang zu dem neuen Medium Kabel-Kommunikation? Nur die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten? Wer übt die Kontrolle aus? Wie kann die private Sphäre des einzelnen, der dabei in ein umfassendes Netz elektronischer Datenverarbeitung hineinverkabelt wird, geschützt werden? Die Anreize für den privaten Konsum zu Hause - 30 Fernsehprogramme, schier unbegrenztes Hörfunkangebot, Videotelefon, Faksimilezeitung und die Möglichkeit, mit den Nachbarn über die Mattscheibe zu diskutieren - diese Büchse der Pandora, genannt Breitband-Kommunikation, sollte nur mit größtem Bedacht geöffnet werden.
Von da aus kann man sich aber die grundsätzliche Schwierigkeit klarmachen, im ständigen Fluß des Geschehenden Relevantes zu entdecken und ggf. argumentativ zu vertreten. Dies hält eine Bemerkung von Pross folgendermaßen fest: Die Zwanghaftigkeit, das gleichzeitig nebeneinander Geschehende in eine zeitliche Rangordnung bringen zu müssen, erfordert willkürliche Ent6
Kölner Stadt-Anzeiger,
29.6.1975
81 Scheidungen, was zuerst gebracht und damit hervorgehoben wird, und was aus der Fülle überhaupt nicht oder später mitgeteilt wird. Auch der Historiker trifft solche Auswahl; aber er trifft sie aus dem, was gemacht ist, was abgeschlossen ist, aus Fakten. Der Publizist wählt nicht und rangiert nicht Fakten, sondern Akutes, unabgeschlossene Aktionen, noch nicht (zu Ende) Gemachtes. Aktualität und Faktizität schließen sich im strengsten Wortsinn aus. Eine nur auf Aktualität zielende Publizistik verfehlt die Gegenwart, weil sie das Gemachte, das Faktum, vernachlässigt. Aus diesem Grund kann aktuelle Publizistik, die der historischen Dimension entbehrt, zwar den 'dernier cri' vermitteln und Moden heraufführen, aber keine Auskunft über den jeweiligen Zustand des menschlichen Zusammenlebens geben. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum anzunehmen, der Konsum von großen Mengen Aktualitäten gebe Gewißheit der Gegenwart. Er verunsichert die Auswahl, und damit die Chance, sie zu erkennen, weil nicht alles, was aktuell ist, faktisch wird in dem Sinne, daß es als tragfähige Stufe des Weiterdenkens taugt. Die Zwanghaftigkeit von Aktualität äußert sich auch darin, was aktuell wird: Die scheinbar rationale Auswahl fällt überwiegend zu Gunsten derjenigen Informationen, die reaktive Gefühle auslösen, deren Begleitumstände und Nebenvorstellungen assoziativ sind zum Zustand gänzlicher Privation, Schweigen, Leere, Finsternis, Einsamkeit, Tod, so daß Massenkommunikation die humanen Verfassungen ständig erneut, aus denen sie nach ihrer Definition herausführen soll. ^ ^^ ^ Übung (16) Als Beispiel der Entdeckung einer Frage können die Ausführungen des französischen Politologen A. Grosser dienen, der anläßlich seiner Annahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels eine damals ausgesprochen überraschende und (deshalb) vielbeachtete These vortrug . - Erläutern Sie daran die Problematik der Logik von Frage und Antwort im Sinne von H. Pross. - Worauf beruht die "Verborgenheit" der Frage? Unsere Rechtsordnung im Westen beruht auf dem Prinzip, daß der Schuldige lieber zuviel Rechtsschutz erhalten soll als der Unschuldige zuwenig. Es scheint mir besser, einige Unordnung, einige Störungen - zum Beispiel des friedlichen Ablaufs eines Prozesses - mit in Kauf zu nehmen, als von diesem Prinzip abzuweichen. Was mich etwas beunruhigt, ist, daß in der letzten Zeit in der Bundesrepublik so viel vom Rechtsstaat und von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesprochen wird. Vielleicht höre ich schlecht. Aber mir scheint, die Betonung liegt etwas zu sehr und immer mehr auf "Staat" und auf "Ordnung" und nicht mehr genug auf der Idee der freien politischen Tätigkeit des einzelnen, den gerade die Begriffe Staat und Ordnung nicht zum politischen autonomen Denken und Handeln auffordern... Der innere Friede soll gesichert werden. Wer bestreitet das? Es gibt Raub, Entführung, Mord? Die Polizei soll die Räuber, die Entführer, die Mörder finden und festnehmen. Die Richter sollen dann angemessene Strafen verhängen. Aber deswegen braucht doch noch nicht die gesamte Staatsordnung bedroht zu sein! Deswegen braucht man noch nicht zum Schutz des Rechts Rechte anzutasten, zum Schutz der Freiheit Freiheiten zu beschränken... In Sorge- und Krisenzeit: Was heißt es, dem inneren Frieden dienen? Zunächst, keine falschen Hoffnungen erwecken. Eine Demokratie ist erst dann mündig, wenn die Männer, denen die Macht anvertraut wurde, und diejenigen, die legitim ihren Platz einnehmen wollen, fähig sind, bittere 7
Kölner Stadt-Anzeiger, 14.10.1975
82 Wahrheiten zu sagen, und wenn die Regierten bereit sind, diese Wahrheiten zu hören. Was eine mündige Demokratie ist, das hat Großbritannien 1940-41 gezeigt. Sodann: Nicht versuchen, die allgemeine Sorge durch Ablenkung aus dem Weg zu räumen. Ablenkung auf Sündenböcke, die am Rande des politischen Spiels stehen. Ablenkung durch Verteufelung des Gegners im normalen Kampf um die Macht. Nicht, daß es in der Gesellschaft nur Konflikte gäbe, wie es auf der extremen Linken gesagt und sogar manchmal in Richtlinien für Erzieher niedergeschrieben wird. Aber es ist ebensowenig angebracht, so zu tun, als gäbe es nur Sozialpartner, die ungefähr so zusammenhalten sollten wie Partner, die gemeinsam und ebenbürtig ein Unternehmen besitzen. Gerade in Krisenzeiten ist es für die Schwachen besonders gefährlich, daß Interessenkonflikte vertuscht werden. Konflikte, die nicht selten im dunkeln bleiben, wenn sie "die da unten" und "die da oben" gegenüberstellen, wobei "die da oben" nicht nur die Mächtigen des Geldes und der Privatwirtschaft, sondern auch die Träger der Staats- oder der Gewerkschaftsmacht sein können. Denn besonders von den Schwachen wird in Krisenzeiten verlangt, daß sie sich friedlich verhalten, daß sie sich zufriedengeben. Den inneren gerechten Frieden anstreben, heißt, gerade in schwieriger Wirtschaftslage die Schwäche der Schwachen nicht ausnutzen, sei es nur, indem man das sogenannte freie Spiel der Kräfte walten läßt...
4.2.2. Diskussion als System oder ideale Sprechsituation? Die Überlegungen im letzten Kapitel lassen sich unter die Stichworte der Eröffnung und Entfaltung von Argumentationen bringen. Argumente stellen sich nicht von selbst ein, Thesen müssen allererst gewonnen werden. Diskussionen tasten ein Feld von Möglichkeiten ab, ehe sie gleichsam den Pfad des Argumentationsschemas finden. Wohin aber führt dieser Pfad? Können wir wirklich Konsens erreichen oder allenfalls Kompromisse, die unser Fragen mehr beendigen als befriedigen? Zur Skepsis stinmen Beobachtungen, die gewissermaßen die Strapaziergrenzen von Diskussionen ausloten. Diese Grenzen zeigen sich schon darin, daß wir in bestürmten Situationen Diskussionen eher vermeiden als suchen: uferlose Begründungswünsche wären genauso unerträglich wie das ständige Abweisen von Begründungsangeboten. Wir alle leben teilweise mit gegenseitig als falsch eingeschätzten Begründungen; die sog. "normalen Beziehungen" zwischen nicht gerade befreundeten Staaten beruhen letztlich darauf, daß gewisse Begründungen n i c h t
gefordert werden. Und auch b e g o n n e n e
Dis-
kussionen sind nicht unbegrenzt strapazierfähig: allein die Dimension der Zeit steht den entgegen. All dies läßt sich van soziologischen Systembegriff her erläutern: Argumentationen stellen ähnlich wie lebendige oder technische Systeme - also beispielsweise ein biologischer Lebenskreis oder ein Verkehrssystem - Einheiten mit Grenzen dar. Es kcrmt darauf an zu beachten, was inner-
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halb, ja durch diese Grenzen möglich, aber auch was ausgeschlossen ist. N. Luhmann, einer der Väter der modernen Systemtheorie, hat aus dieser Sicht g
für das Problem der Diskussion selbst einige Linien ausgeführt . Diskussion als System Dabei gilt der Blick weniger gewissen Auflagen, die Diskutierende sinnvollerweise erfüllen müssen, als den prinzipiellen Zwängen, die sie m i t erzeugen, wenn der "zwanglose Zwang" des besseren Arguments zum Zuge kamen soll (S.328ff.) Diskussionen stellen aufgrund der außerordentlich vielfältigen Reaktionanöglichkeiten aller Beteiligten Systeme dar, deren Erhaltung allein schon ein Problem ist. So muß wenigstens über eine gewisse Dauer ein Thema gehalten
durch-
werden. Teilnehmer, die jedem plötzlich auftretenden Gefühl
nachgeben würden, müßten eine Diskussion sprengen. Deshalb haben Diskussionen bei größerem Teilnehmerkreis meist Leiter: sie überwachen nicht nur die geregelte Stiirmenfolge, sondern eben auch die thematische Entwicklung, indem Ausuferungen unterbrochen, Abschweifungen angemahnt werden. Allerdings kann die Konzentration auf ein Thara erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringen: irrmer Neues zu sagen, ist nur gegrenzt möglich. Zwänge gehen darüber hinaus von den Teilnehmern selbst aus. Auch bei liberalster Gesinnung erzeugen Diskussionen "Herrschaft". Jeder, der einen guten Beitrag leistet - und Diskussionen sind auf gute Beiträge angewiesen - gewinnt in gewissem Umfang Autorität und damit Macht. Man kann als Fremder in Diskussionsgemeinschaften fast iirmer in kürzester Zeit Strukturen feststellen, die in dieser Weise auf Rangordnung beruhen, auch wenn keine Hierarchien im Spiel sind. DOT kann man mit Rollenvorschriften zu begegnen suchen, die die Beitragsverteilung sozusagen über die natürliche Kompetenz hinweg regelt, wie es z.B. bei Podiumsdiskussionen normalerweise durchgeführt wird. Dies kann aber durchaus auch autoritätsverstärkend wirken, weil nun die rhetorisch Ungewandteren unter dem entstehenden Druck vollends zu versagen drohen. Alle diese Zwänge hängen mit der Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf ein Thema zusairmen: das T h e m a
muß erhalten werden, die
Teilnehmer
müssen sich darauf konzentrieren (S.334ff.). Dies wird greifbar in der Moralisierung, mit der Teilnehmer das System zu schützen versuchen: wer abirrt oder Beiträge ironisch unterläuft, gilt nicht als dumn, sondern als böswillig. Das Gegenstück dazu stellt der Versuch dar, die eigenen Beiträge so perfekt wie möglich hinzustellen. Dazu dienen die berühmten "Einschüchterungsvokabeln", aber auch der Zug, in Grundsatzdebatten auszuweichen. Beides ist ein berüch8
In: Habermas/Luhmann
(1971), S.316ff.
("Diskussion als System")
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tigtes Rezept politischer Auseinandersetzung. Eine weitere Möglichkeit, Perfektion zu erschleichen, kann man in der Anrufung möglichst unangreifbarer Zeugen oder Prinzipien sehen, wie es beispielsweise die Bibel oder die Demokratie, Gott oder die Freiheit sind. Darin liegt zudem eine Möglichkeit der indirekten Kritik: wer sich auf die Freiheit beruft, unterstellt den Partner zugleich ein Interesse oder auch nur Akzeptieren von Unfreiheit. Wer die Bibel zum Zeugen anruft, macht den Gegner zum Heiden. Schließlich läßt sich, wenn man von diesen wenigstens teilweise psychologisch motivierten und entsprechend möglicherweise eingrenzbaren Zwängen absieht, eine noch erheblichere Schranke für Konsenserreichung darin sehen, daß jede Thematisierung als solche lediglich begrenzte Entfaltung erlaubt (S. 336f.). Man kann nicht bei jeder Frage bis aufs Grundgesetz oder die Bibel oder gar beides gleichzeitig zurückgehen. Hinzu karmt die sequenzielle Ordnung: Zeit ist nicht nur knapp, sie zwingt auch alles in eine bestimmte Reihenfolge. Wenn Fakten vorgelegt worden sind, kann der weitere Weg nur in Berücksichtigving dieser Fakten verfolgt werden, ob man sie für interessant hält oder nicht. Themen, die aufgeworfen werden, können weder von Augenblick zu Augenblick verändert werden, noch dürfen Teilnehmer sich beliebig einschalten bzw. austeigen. Die Zuwendung der Aufmerksamkeit wird auch den Schweigenden abverlangt, sein Schweigen als Zustirrmung oder jedenfalls Abwarten zugerechnet. Dabeisein ist gerade in frei geführten Diskussionen stets verpflichtend. Weiterhin dürfen Beiträge einen gewissen Bereich der Komplexität nicht überschreiten: wer in einer Diskussion über Lernprobleme auf antike Vorbilder zurückgeht, kann u.U. mit Einspruch rechnen; wer zufälligerweise etwas über Lernprobleme bei südamerikanischen Indianerstämnen weiß, kann nur unter sehr günstigen Voraussetzungen damit zum Zuge kommen. Andererseits kann man in Diskussionen nicht alles zugleich anzweifeln; man muß u.U. ein gut gewähltes Indianer-Beispiel gelten lassen, um den Fluß der Argumentation nicht völlig zu unterbrechen. Damit ist zuletzt die Frage gestellt, wie Diskussionen zu Konsens führen. Luhmann hat aus seinen systemtheoretischen Erwägungen heraus die Möglichkeit einer Wahrheitsfindung im Sinne einer Klärbarkeit von Problemen abgelehnt. Er hat dies in einer Diskussion mit J. Habermas getan. Deshalb sollen zum Schluß 9
die Thesen von Habermas denen von Luhmann gegenübergestellt werden. Vorweggenommen sieht der Gegensatz so aus: vro Luhmann prinzipielle Grenzen sieht, sieht Habermas lediglich historisch-zufällige. Sein Absprungpunkt ist dabei eine Präzisierung der Leistung von Begründungssprachen. 9
Habermas 197 3
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Diskurs und ideale Sprechsituation Habermas unterscheidet zunächst das, was mithilfe von Begründungssprachen beschrieben und was mit ihnen erklärt wird (S.244ff.). Soweit Begründungssprachen Phänomene zum Zwecke der Argumentation beschreiben, können sich diese Sprachen bewähren oder nicht bewähren. Z.B. kann es sein, daß man mit Hilfe von Begriffen wie Bewußtes, Unbewußtes, Vorbeuußtes Wirklichkeitsausschnitte, in diesen Fall also die Psyche des Menschen, effektiv oder nur verzerrt erfassen kann. Bewährung allein ist jedoch kein W a h r h e i t s
kriterium.
Wahrheit muß sich in den Aussagen selbst zeigen, die mithilfe der Sprachen gemacht werden. So kann man die Frage stellen, ob man mit den genannten Begriffen Züge menschlichen Verhaltens wiedergibt, die etwas liches
W e s e n t -
klären oder etwa Erkenntnisse erzeugen, die man allenfalls für
Manipulationszwecke nutzen kann. M.a.W. Wahrheit katmt dann ins Spiel, wenn die Angemessenheit einer Sprache selbst überprüft, kritisch hinterfragt wird. Natürlich kann dies die Wissenschaft nicht in jedem Augenblick tun; es muß aber unter den Forschenden möglich sein, solche Klärungen herbeizuführen; sie müssen sozusagen ihre normale Tätigkeit unterbrechen und auf einer höheren Ebene diese normale Tätigkeit selbst der Prüfung unterziehen können. In einen solchen Augenblick würden sie nach Habermas Diskurse führen, die auf Wahrheit zielen. Wie sehen solche Diskurse aus? Habermas hat dies sowohl für den Fall des theoretischen Wissens (den sog. theoretischen Diskurs) wie des praktischen Handelns (den sog. praktischen Diskurs) zu zeigen gesucht (S. 250ff.). Beim praktischen Diskurs ist die Problemlage besonders günstig: hier geht es um die Normen, die bei der Bedürfnisbefriedigung geltend gemacht und über deren "Richtigkeit", d.h. Angemessenheit für ein bestirntes Handeln Übereinstinriung zu erzielen ist. In diesen Fall hat man nicht wie beim theoretischen Diskurs das Problem, über den Charakter der "Realität" etwas sagen zu müssen; der moralische Bereich stellt ja keine äußere Natur dar, die stets gleichsam die Zwischenfrage stellt, ob unsere Interpretation auch mit ihr
ü b e r e i n s t i m m t
. Praktisches Handeln
ist
inmer normbestinmtes Handeln, und das Einverständnis über diese Normen muß entsprechend Thema von Diskursen sein. Von diesem Unterschied abgesehen, verlaufen beide Diskurstypen jedoch nach dem gleichen Prinzip (S.252ff.): Im Falle des theoretischen Diskurses beginnt die Radikalisierung der Wahrheitsfrage mit der Problematisierung einer Behauptung: dies führt zum Eintritt in den Diskurs. Damit wird z.B. der normale Gang der wissenschaftlichen Erörterung i η
einem Sprachsystem unterbrochen und das Sprachsystem selbst zum Thana ge-
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macht. In einen zweiten Schritt muß die problematisierte Behauptung erklärt werden, vrozu ein neues Sprachsystan herangezogen wird. Damit ist man auf der Ebene der Alternativen angelangt. Da Alternativen als solche gleichberechtigt sind, muß in einen dritten Schritt die jeweilige Angemessenheit abgewogen werden; das neue Sprachsystan muß eben als überlegen ausgewiesen werden. Damit ist der Diskurs im Grunde abgeschlossen. Es kann aber als vierte Stufe noch eine Reflexion auf die Veränderung der Begründungssprache selbst erfolgen, wobei die neue Erkenntnis letztlich auf die hinter ihr stehenden Interessen durchleuchtet wird. Dies kann man die Stufe der Erkenntniskritik nennen. All dies hat seine Parallele im praktischen Diskurs: hier führt der erste Schritt zur Problanatisierung eines Gebots oder Verbots, das im zweiten Schritt entsprechend gerechtfertigt, im dritten hinsichtlich der Alternativen geprüft und schließlich im letzten Schritt erkenntnispolitisch hinterfragt wird. Habermas hat dazu folgendes Scharia gegeben: Stufen der Radikalisierung
theoretischer Diskurs
praktischer Diskurs
Handlungen
Behauptungen
Gebote/Verbote
Begründungen
theoretische Erklärungen
theoretische Rechtfertigungen
substantielle Sprachkritik
metatheoretische metaethische/metapolitische Veränderung des Sprach- und Begriffssystems
Selbstreflexion
Erkenntniskritik
erkenntnispolitische Willensbildung (S.254)
Man sieht: während wir in einem ersten Schritt Behauptungen, die im normalen kcnmunikativen Ungang schlicht akzeptiert werden, problanatisieren, können wir in weiteren Schritten die zur Begründung herangezogene Sprache selbst problanatisieren. Uta sich nun nicht in einem unendlichen Regreß von iirmer neuen Begründungen der jeweils gewählten Begründungen zu verlieren, muß man sich darüber klar werden, wo denn der Prozeß der Problematisierung seine letzte Stufe erreicht. Habermas' Antwort lautet: diese Stufe erreichen wir, wenn wir unsere Bedürfnisse überprüfen, zu deren Befriedigung wir uns letztlich auf die Wahrheitssuche begeben haben. Auf dieser Stufe überprüfen wir die V e r allgemeinerungsfähigkeit dieser Bedürfnisse bzw. können uns kritisch g e g e n Erkenntnisse richten, wenn sie eine solche Verallgemeinerungsfähigkeit nicht beanspruchen können; wir einigen uns darauf, was - im theoretischen Diskurs - "als Erkenntnis gelten soll" bzw. welche Erkenntnisse wir - im praktischen Diskurs - "wollen können" (S.396). Natürlich stellt sich nun die Frage, wie ein solch geradezu abenteuerlicher
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Elrkenntnisgang praktisch durchgehalten werden kann. Habermas' Antwort ist, daß dies durch die ideale Sprechsicuation gewährleistet ist, die wir, wenn auch nicht wirklich einhalben, so doch letztlich unterstellen (S.255ff.). Diese Idealität liegt darin, daß (1) alle Diskursteilnehmer die Chance erhalten, Diskurse in Gang zu bringen und in deren Verlauf entsprechende Begründungen vorzutragen. Dazu ist (2) gleiches Rederecht, vor allen aber auch (3) das Recht nötig, seine Einstellungen ohne Handlungszwang u.dgl. zum Ausdruck zu bringen. Schließlich darf (4) keine Einseitigkeit in Forderungen oder Weigerungen herrschen, vielmehr muß grundsätzlich jeder alle Arten von Sprechhandlungen, z.B. auch Vorwürfe usf., gleichberechtigt ausführen können. All dies, das kann nicht eindringlich genug betont werden, wird in der Realität kaum anzutreffen sein, ist also in gewissem Sinne Fiktion. Worauf es aber ankönnt, ist dies: es ist genau die Fiktion, die uns gleichsam den Mut gibt, haupt
über-
mit anderen in Diskurse einzutreten. Wenn wir uns vorstellen,
was jeder am besten dazu beitragen könne, um zu einer Verständigung zu kämmen, dann würden wir genau diese ideale Sprechsituation f o r d e r n . Insofern ist diese These auch nicht mit einen pädagogischen Prograitm zu verwechseln, ja es wäre geradezu gefährlich, Menschen daraufhin zu erziehen, sich auf eine in diesem Sinne konkret verstandene Situation einzustellen. Was die These leisten soll, liegt einzig und allein in einen Beitrag zur Erklärung der Frage, woraus wir die Wahrheit von Erkenntnissen letztlich - und zwar in kritischer Einstellung - m e s s e n
können.
Nun mag diese ideale Sprechsituation manchem trotz der gemachten Einschränkungen als eine hybride Konstruktion vorkamen. Deshalb ist es lehrreich, konkrete Spuren für die Behauptung einer legitimierbaren Tragfähigkeit im Gang der Wissenschaft zu finden. Müssen wir diesen Gang als Folge von letztlich wüllkürlich gewählten Vorstellungen über die Welt ansehen oder gibt es ein Ziel, auf das hin man allererst von einer nicht-willkürlichen Entwicklung sprechen kann? Die positive Antwort lautet: Wissenschaft dient der Bnanzipation; Einanzipation ist das Interesse, das die wissenschaftliche Entwicklung letztlich steuert. Es ist zwar kein Ende dieses Prozesses abzusehen, es gehört aber zur menschlichen Natur, sich an diesem Ziel zu orientieren. An diesem sozusagen "letzten" Bedürfnis entscheidet sich t a t s ä c h l i c h
, was
in einer bestinmten Situation und unter bestinmten Bedingungen als Wahrheit gelten kann. Entsprechend ist das Gegenstück zu wahren Erkenntnissen auch nicht unbedingt das falsche Ergebnis, sondern die I d e o l o g i e . Kritik bedeutet hier deshalb stets Ideologiekritik, Forschungsinpuls ist ein ständiger Ideologieverdacht.
88 Übung (17) Als eine völlig andersartige Grenze des Diskutierens könnte man das in letzter Zeit vielbeachtete Phänomen des sog. "top.ischen Argumentierens" betrachten. Dieser Begriff meint etwas anderes als das ganz zu Anfang behandelte topische Argumentationsmodell· von Perelman/Olbrechts-Tyteca. Topisches Argumentieren verweist auf e i n g e s c h r ä n k t e Argumentationsmöglichkeiten, wie sie bei weniger gebildeten Sprechern vermutet worden sind, und zwar Einschränkungen, die durch eine besonders enge Anlehnung an f e s t e Topoi Zustandekommen. Die Frage ist dabei, wieweit die äußere Differenz ein inneres Defizit spiegelt oder etwa durchaus gleiches Recht beanspruchen kann. Der folgende Passus von 0. NegtlO entstammt einer Diskussion dieser Probleme. - Erläutern Sie zunächst den Bezug zur Argumentation näher, indem Sie die Rolle der Begründungsspräche überprüfen. - Welche didaktischen Folgerungen dürften sich für Negt ergeben? Die auf das Niveau vorwissenschaftlicher sozialer Stereotypen, geläufiger Denkschemata und Standardversionen herabgesunkenen sozialistischen und marxistischen Vorstellungen, in deren Medium die Arbeiter ihr Schicksal deuten und ihre Konflikte subjektiv verständlich machen, haben in der Arbeiterbildung jedoch eine zwiespältige Funktion: 1. Ihre Bedeutung als mögliche Verstärker in Bildungsprozessen ist in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit bisher überhaupt noch nicht gesehen worden. Der Mangel an individueller sprachlicher Differenzierung und die Bindung von Gefühlen, Hoffnungen und Erwartungen an soziale Symbole, die Ausdruck des geschichtlichen Kampfes der Arbeiterbewegung sind, haben eine Art sprachbedingten Konservatismus der Arbeiter zu Folge, der Schutz gegen die Integration in eine Ideologie egalitärer Konsumenten bietet.
[...] 2. Der sprachbedingte Konservatismus der Arbeiter, der ihnen einen gewissen Schutz gegen die Integration in das bestehende Herrschaftssystem gewährt, solange er auf den kollektiven Erfahrungen der Arbeiterbewegung und auf der ihr entsprechenden sozialen Topik beruht, enthält gleichzeitig jedoch ein Element, das der Verdinglichung des Denkens entgegenkommt und das Bewußtsein der eigenen Interessenlage blockiert. Gerade weil das Denken der Arbeiter so sehr an Topoi gebunden ist, besteht die Möglichkeit, daß "Idole", Warenfetische der spätkapitalistischen Klassengesellschaft ihre Funktion übernehmen - es sei denn, soziologische Interpretationen vermittelten jene über ihre unmittelbare Erfahrungswelt hinausgehenden Zusammenhänge, die in der traditionellen Arbeiterbewegung von der Marxschen Theorie oder von ihren weltanschaulich vereinfachten Gestalten im Interesse des einzelnen gedeutet wurden. (S.65ff.) 4.3.
Kcmmentierte Literaturangaben
Zu 4.1.2. Pro-und-contra-Argumente Die Analyse stützte sich auf Naess 1966(1975). Zu 4.2.1. Das Auffinden von Thesen Die Analyse stützte sich auf Pross 1970. Zu 4.2.2. Diskussion als System oder ideale Sprechsituation? Die Analyse stützte sich auf Luhmann (in: Habermas/Luhmann 1971, S.316ff.) sowie auf Habermas 1971 sowie Habermas 1973 und 1973a (bes. Kapitel III 2: Die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen). Kritik findet sich im Sammelbd. von Maciejewski (Hg.) 1975. Zum topischen Argumentieren vgl. Negt 1971 sowie allgemein die Arbeiten zur Sprachbarrierenproblematik (etwa Badura 1973). 10
Negt 1971
5
KOMPLEXE ARGUMENTATION. ZWEI BEISPIELANALYSEN
Es besteht der Heiz, das Zusanmenspiel der Argumente eirmal in größeren Zusammenhängen zu verfolgen, wie es Gespräche oder Erörterungen darstellen. Nach den bislang eher an knappen Texten und Textausschnitten erarbeiteten Ergebnissen stellt sich die Frage, wieweit die besprochenen Strukturen und Probleme wiederzufinden sind. Mit wievielen Grundsätzen hat man es zu tun, wenn wir eine Stunde reden oder einen längeren Beitrag verfassen? Was baut man als Sprecher oder Autor am meisten aus? Dazu korrmen Fragen der zuletzt besprochenen Art: Wo stößt man auf unwandelbare, wo auf ausbaufähige Überzeugungen? Wie machen sich die strukturell bedingten Beschränkungen banerkbar? Un diese Fragen zu beantworten, sollen im folgenden zwei Beispielanalysen durchgeführt werden, von denen die erste einem Gespräch, die zweite einer Erörterung entnaimen ist. In beiden Fällen mußten allerdings erhebliche Kürzungen vorgenannten werden, doch lag das Bestreben darin, die weiträumige Dimerisionierung im Prinzip zu erhalten. Deshalb sind jeweils zusanmenhängende Passagen ausgewählt worden, zu denen die Zwischenstücke bei den Erläuterungen kurz angedeutet sind. Um möglichst textnah zu bleiben, ist die Form der Kaimentierung gewählt warden, wcmit die schrittweise Entfaltung von Argumentationen am besten nachgezeichnet werden kann. 5.1.
A. Elon und S. Hassan: "Dialog der Feinde"
Das erste Beispiel1 ist ein Streitgespräch mit politischen Hintergrund; sein Thotia die Lage im Nahen Osten um 1974, WD sich Araber und Israelis seit Jahren unversöhnt gegenüberstehen. Die Gesprächspartner sind die arabische Politologin S. Hassan und der israelische Schriftsteller A. Elon. Ziel des Gesprächs ist eine Durchleuchtung der Gründe für den jetzigen Zustand, wobei beide Partner ihre Thesen bei aller Gegensätzlichkeit mit Verständnis füreinander formulieren. Ja es ergibt sich ein durchaus gemeinsamer Ausgangspunkt: man stimmt darin überein, daß beide Völker viel zu wenig aufeinander zugegangen sind. Bei der Betrachtung der Lage scwie bei den Vorschlägen zur Veränderung stellen sich 1
A. Elon und S. Hassan, Dialog der Feinde. Ein leidenschaftliches spräch um die Zukunft der Araber und Israels, Wien 1974
Streitge-
90 jedoch sehr erheblich Unterschiede ein. Die ausgewählten Passagen stannen aus der Anfangsphase des 150 Seiten-Gesprächs. Vorausgegangen ist lediglich eine Begrüßung und Einstirrmung, bei der beide das Thema festlegen. Η 1 Hassan: Sie sind zwar nicht der erste Israeli, dem ich begegne, aber doch der erste, mit dem ich menschlichen Kontakt aufnehmen kann. Durch Sie kann ich unseren Konflikt auf einmal persönlich sehen, er ist nicht mehr nur Politik oder Armeen gegen Armeen. Ich habe immer gewußt, daß es auch auf Ihrer Seite Gefallene gibt, aber jetzt sind diese Toten für mich zum ersten Mal mehr als Zahlen in einer Statistik. Ε 2 Elon: Für mich sind Sie die erste Ägypterin, mit der ich je gesprochen habe. Natürlich habe ich schon Ägypter getroffen, aber in der Armee, in Uniform, und das ist nicht dasselbe. Ich habe in den sechziger Jahren einige Zeit in Washington gelebt und vergebliche Versuche gemacht, mit Ägyptern Kontakt aufzunehmen. Einmal wurde ich in Gesellschaft dem ägyptischen Presseattache vorgestellt, aber als er erfuhr, wer ich sei, weigerte er sich, mir die Hand zu geben und kehrte mir den Rücken. Η 3 Hassan: Das ist ja eben das Problem. Wir Araber haben niemals versucht, euch außerhalb unserer Klischeevorstellungen und Vorurteile zu suchen. Mein Vater war in den vierziger Jahren ägyptischer Botschafter in den Vereinigten Staaten und gleichzeitig unser Delegierter bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen, die am 29. November 1947 die Errichtung des Staates Israel beschloß. Natürlich kämpfte mein Vater leidenschaftlich gegen diesen Beschluß. Sein Gegenüber auf der israelischen Seite war Ihr ehemaliger Außenminister Abba Eban. Mein Vater hat mir erzählt, daß Eban ihn damals nach einer der Sitzungen schriftlich um ein privates Treffen gebeten habe. Mein Vater lehnte ab, aber eine Generation später kann ich, seine Tochter, mit Ihnen reden, und das nur wenige Blocks entfernt vom Hauptquartier der Vereinten Nationen am East River, wo Araber und Israelis einander in aller Öffentlichkeit schimpfen, aber sich privat nicht kennen. Ich habe das Gefühl, daß mein Vater vor 27 Jahren nur sehr ungern und aus politischen Rücksichten das Gespräch mit Eban ablehnte. Heute ist er pensioniert, und ich glaube, daß er sich freut, daß wir miteinander reden. Ε 4 Elon: Leider ist es unmöglich, daß alle Ägypter alle Israelis kennenlernen. Wie können wir also aus unseren Klischeevorstellungen ausbrechen, Sana? Ich habe das Gefühl, daß beide Seiten, Sie und ich, irgendwie noch immer gegen die Geister der Vergangenheit ankämpfen. Die Araber können das Gespenst des englischen und französischen Kolonialismus nicht loswerden, und auch wir stehen noch immer unter dem Eindruck unserer schrecklichen Vergangenheit. Hinter jedem arabischen Soldaten sehen wir einen SS-Mann. Η 5 Hassan: Zum Glück wissen schon ziemlich viele Ägypter, daß sie hier auf festgefahrene Vorstellungen reagieren. Als ich im letzten Jahr zu Haus war, erzählte man sich folgenden Witz: Ein ägyptischer Bauer kehrt nach dem Krieg in sein Dorf zurück. Er brüstet sich damit, eine französische Invasion zurückgeschlagen zu haben. Seine Landsleute lachen ihn aus: "Was für eine französische Invasion, du Trottel? Das war doch nicht der Sechsundfünfziger-Krieg! Diesmal waren es nur Israelis!" Aber der Bauer bleibt fest bei seiner Meinung. "Ich weiß, daß es Franzosen waren. Sie waren groß, blond und anständig. Die Israelis sind klein, bucklig, mit krummen Nasen und ekelhaft."
91 Ε 6 Elon: Bei uns gibt es natürlich ähnliche Vorstellungen. Wir fallen oft von einem Extrem ins andere. Wenn wir euch nicht für teuflische Nazi-Ungeheuer halten, dann denken wir gleich, ihr seid Untermenschen oder überhaupt keiner Beachtung wert. In der hebräischen Umgangssprache nennt man eine schlechte, schlampige Arbeit "avoda aravit", also "Araber-Arbeit". Wenn man jemandem sagen will, daß er keinen Unsinn machen soll, sagt man "al tehiye aravit", "sei kein Araber". Η 7 Hassan: Kommt das nicht daher, daß ihr immer noch von demselben, überalterten europäischen Establishment regiert werdet, von Leuten, die alle europäischen Vorurteile aus der Kolonialzeit mitschleppen, von damals, als sie noch die Herren in Afrika und Asien waren? Ε 8 Elon: Nein, in der Bevölkerung ist die Gegnerschaft gegen die Araber nicht primär unter den europäischen Juden verbreitet, sondern hauptsächlich bei jenen Juden zu finden, die aus arabischen Ländern geflohen sind. Unter diesen Juden wird die Ablehnung der Araber manchmal zum Haß. Außerdem war das europäische Establishment, von dem Sie sprechen, ganz eigener Art. Die europäischen Juden standen nicht unter dem Einfluß der sozialen Vorurteile des neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Im Gegenteil, sie lehnten sich gegen sie auf. Sie waren Kinder des europäischen Humanismus, nicht des Kolonialismus. Dieses Judentum lebte vom Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit, nicht von sozialen oder ethnischen Vorurteilen. Für die Zionisten gab es zwei Beweggründe: einmal die Erinnerung an die verlorene Heimat, die dem verstreuten, verfolgten und getretenen Volk endlich ein eigenes Land geben sollte; und dann ganz bestimmt der Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft für die Juden selbst und für alle Araber, die mit ihnen in diesem Staat leben wollten. Es ist wichtig, sich das ins Gedächtnis zu rufen, denn der zionistische Traum verlor sich so bald in unaufhörlichen Kriegen, daß er nie seine wirkliche Erfüllung finden konnte. Die frühen Zionisten wollten nicht einfach einen neuen, irgendeinen Nationalstaat gründen. Im Gegenteil. Damals war man der Ansicht, daß die Juden, wenn sie schon diesen unerhörten Schritt wagten, wenn sie tatsächlich ihr Volk gegen den Lauf der Zeit, ja gegen den gesunden Menschenverstand aus der Diaspora heimholten (Weizmann sagte: "Man muß nicht unbedingt verrückt sein, um Zionist zu sein, aber es hilft schon"), dann müßte das Resultat etwas Größeres sein als ein bloßer Nationalstaat. Theodor Herzl, der Vater des modernen Zionismus, träumte von einer offenen Gesellschaft, einer Genossenschaft, einem freiheitlichen Bundesstaat. Weizmann wiederholte immer wieder: "Laßt uns doch kein neues Litauen gründen oder ein Rumänien oder Polen. Davon gibt's schon genug." David Ben Gurion ging noch weiter, als er forderte, Israel müsse "er Lagoyim" werden, "ein Licht den Völkern der Erde, ein Modell für die Erlösung der Menschheit." Das war die Ideologie dieses osteuropäischen Establishments, von dem Sie sprechen.
[..·] Η 9 Hassan: Ich verstehe schon, was die Israelis empfinden müssen, Arnos, und ich fühle mit ihnen. Wäre ich an ihrer Stelle, hätte ich sicher dieselbe Angst, dieselben Sorgen. Aber versuchen Sie doch auch, die Araber zu verstehen. Wir sind keine Nazis, und in Kairo erwarten euch keine Gaskammern, sollten wir gewinnen. Uns erscheint eure Manie, immer von vergangenen Erfahrungen auf die Gegenwart zu schließen, wie Verfolgungswahn. Ich weiß schon, daß ihr nicht alle verrückt seid, aber ich wollte doch - obwohl das vielleicht zu viel verlangt ist -, daß ihr trotz aller erlittenen Traumata euch von eurer Vergangenheits-Fixierung befreit. Ε 10 Elon: Aber Sana, man kann natürlich ein Paranoiker und ganz vergangenheitsbezogen sein und trotzdem eine Reihe von ganz wirklichen und ganz
92 gefährlichen Feinden haben. Wenn so mancher Israeli eure Feindschaft mit den antisemitischen Pogromen gleichsetzt, ist das eine Klischeevorstellung, die nur zu oft durch arabische Propaganda bestärkt wird. Einige arabische Publizisten haben Adolf Eichmann als einen "Helden" gefeiert, "der im Heiligen Krieg gefallen ist".
[...] Η 11 Hassan: Versuchen Sie zu verstehen, daß der Antisemitismus - anders als in Europa - weder in unserer Geschichte noch in unserer Religion noch in unseren Volkssagen verankert ist, wie das in Europa der Fall ist. Bis zum zwanzigsten Jahrhundert war die arabische Geschichte eigentlich frei von Judenverfolgungen. Unser Verhältnis zu den Juden war durch Toleranz und Schutzherrschaft gekennzeichnet. Anders als das Christentum, das die jüdische Religion für eine Irrlehre hält, bestätigt der Islam der Araber das Judentum. Mohammed sah sich als letzten einer langen Reihe jüdischer Propheten. In unseren Gebeten sagen wir "Gott segne unseren Propheten Abraham und unseren Propheten Moses". Zwischen unseren beiden Religionen besteht kein grundlegender Konflikt wie gegenüber der christlichen Lehre, die erklärt, der Messias sei in Gestalt Jesu Christi gekommen, und der jüdischen Religion, die das verneint. Natürlich sagte Mohammed ein paar unfreundliche Dinge über die Juden, als sie ihn verspotteten, aber auch da ging die Auseinandersetzung um ihr Benehmen, nicht um ihre Religion. Mohammeds Botschaften an uns enthalten viele positive Stellungnahmen zum Judentum. Heute ist der Antisemitismus nur eine Art Kriegs-Rassenhaß für die arabische Welt. Er ist eigentlich dasselbe wie die antideutsche Propaganda der Alliierten im Zweiten Weltkrieg oder die der Amerikaner gegen die Japaner, einfach, um in der Heimat Kriegsstimmung zu machen. Natürlich ist diese Propaganda intensiv und bösartig, das gebe ich schon zu, aber die Ideen sind nicht endemisch und werden verschwinden, sobald der Konflikt ein Ende hat. Die arabischen Regierungen haben nicht eine antisemitische Grundstimmung in der Bevölkerung ausgenützt, sie haben diese Stimmung erst durch die Einfuhr antisemitischer Literatur aus dem Ausland anheizen müssen Ε 12 Elon: Selbst wenn diese Ideen nicht endemisch sind, werden sie nicht ihre Spuren hinterlassen? Wenn ihr weiterhin den Schulkindern Rassenhaß predigt, muß das irgendwelche Folgen haben. Solange man den Menschen Haß predigt, solange sind sie auch imstande, Grausamkeiten zu verüben. Selbst der europäische Rassenhaß ist verhältnismäßig jungen Ursprungs. Die religiöse Verfolgung begann schon im Mittelalter, aber der Rassenhaß, den der Nationalsozialismus übernahm, datiert erst aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert. Η 13 Hassan: Es stimmt schon, daß dieser Rassenhaß endemisch werden könnte, wenn der Konflikt noch länger anhält. Umsomehr müssen wir jetzt versuchen, ein Ende zu finden. Aber vorläufig dürfen Sie von der Existenz der antisemitischen Literatur nicht auf das Vorhandensein antisemitischer Gefühle schließen. Natürlich gibt es solche Gefühle, hauptsächlich unter den religiösen Randgruppen, aber Sie dürfen nicht glauben, daß auch die Mehrzahl der Araber so denkt. Die Jahre einer wahren Propagandaflut in der von der Regierung kontrollierten Presse, im Radio und im Fernsehen haben die Araber relativ immun gegen alle Propaganda gemacht, ob sie jetzt vom Sozialismus handelt, von den Fünfjähresplänen, von Israel oder ob sie antisemitisch ist. Die Araber glauben einfach nichts mehr von alledem. Ε 14 Elon: Ich hoffe sehr, daß Sie recht haben. Aber selbst wenn das alles nur "Kriegs-Rassenhaß" ist, wie Sie es nennen, und selbst wenn es nicht endemisch ist, geht diese Hetze doch immer weiter, und wir in Israel müssen es immer wieder hören. Versuchen Sie doch, sich in unsere Lage zu ver-
93 setzen, sich vorzustellen, welche Wirkung diese Propaganda auf uns haben muß, die wir noch immer unter unserem historischen Trauma und einer gewissen Melancholie, einem Hang zur Traurigkeit, leiden, die den Juden eigen ist. Sehr viele Israelis können sich nicht von einem Gefühl der Einsamkeit befreien, von dem Gefühl, allein in einer Welt zu sein, die nichts gegen die große Katastrophe unternommen hat und vielleicht noch einmal tatenlos zuschauen wird. Das erklärt auch unser Mißtrauen und unser Festhalten an allem, das wir haben. Der durchschnittliche Israeli ist noch immer bestürzt über die Tatsache, daß die Juden für das große Massaker ausgewählt wurden, weil sie allein ohne physische Mittel waren, um sich zur Wehr zu setzen. Daher auch unsere ständige Sorge um unsere Verteidigung, unser übersteigertes Bedürfnis nach Selbständigkeit und Sicherheit - Sicherheit jeder Art: der Grenzen, psychologische Sicherheit und greifbare, nicht nur angedeutete militärische Arrangements. Deshalb sind Worte und indirekte Versprechen nicht genug für uns, deshalb wollen wir auch Grenzen haben, die sicherer sind als die, die schon bisher Angriffe herausgefordert haben. Und eben deshalb haben wir auch eine so utopische Vorstellung vom Frieden, von einem totalen Frieden mit einer fast melodramatischen Versöhnung - also etwa Sadat und Golda, die einander in die Arme fallen. Ein anderer als ein idealer Friede erscheint uns schon zu riskant, zu gefährlich. Unser Friede muß verläßlich und daher perfekt sein. Η 15 Hassan: Ich verstehe euer Bedürfnis nach Sicherheit, es ist ja auch berechtigt, aber ich glaube auch, daß ihr aus dieser Sicherheit keinen Fetisch machen dürft und die Bedingungen für diese Sicherheit nicht über alle realistischen Möglichkeiten hinaus erhöhen könnt. Das lähmt euch und läßt euch Friedensinitiativen übersehen und damit alle Gelegenheiten für einen Frieden versäumen. Die Tatsache, daß euch seit 1967 nichts anderes eingefallen ist, als euch am Suezkanal und auf den Golanhöhen einzugraben und zu warten, daß wir ohne alle Vorbedingungen der Aufnahme von Friedensverhandlungen zustimmen, erscheint mir ein echter Mangel an Phantasie. Selbst wenn ihr Sadats Friedensouvertüren unglaubwürdig fandet, kann ich mich nur wundern, daß ihr ihn nie auf die Probe gestellt habt. Ich finde es noch erstaunlicher, daß Sie, Arnos, noch immer von sicheren Grenzen reden. [ · · ·]
Η 1, Ε 2
Man bestätigt sich die Genugtuung über die Kontaktaufnahme, deren Fehlen bei der Einstirrmung als entscheidender Grund der verhängnisvollen arabischisraelischen Entwicklung reklamiert worden war. Es hieß dort: "Ich glaube, es war unser großer und tragischer Fehler, daß wir nicht schon längst mit euch gesprochen haben" (Hassan). "Die außergewöhnliche, ja vielleicht einmalige Tragik unseres Konflikts, die einen manchmal an einer Lösung verzweifeln läßt, ist, daß dieser völlige Mangel an Kommunikation nicht nur zwischen den Menschen unserer Länder herrscht, sondern auch zwischen unseren Regierungen. Unsere führenden Politiker haben einander nie getroffen, unsere Diplomaten nie miteinander verhandelt, sie haben nie die Gelegenheit gehabt, einander kennenzulernen, sich mit den Ängsten, den Hoffnungen und Leidenschaften vertraut zu machen, die uns als Politiker und als Menschen leiten. So etwas hat
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es noch nie und nirgends gegeben. Es scheint, als könnten wir inner nur als Mörder oder Opfer zusatmentreffen" (Elon). Damit ist eine gemeinsame These gefunden, die einen gemeinsamen Grundsatz enthält: FAKTEN
->THESE
(noch nicht genannt)
Der Konflikt beruht auf Kommunikationslosigkeit
GRUNDSATZ Kommunikationslosigkeit kann nur Unheil bringen STÜTZE Beispiel anderer Völker
Entsprechend sind auch ganeinsame Fakten zu vermuten. Genau dies aber ist nicht der Fall. Da nicht anzunehmen ist, daß die Partner dies nicht wissen bzw. vorhersehen, kann man in den ersten Beiträgen den Versuch sehen, das Thema zunächst einmal ohne viel Unruhe gemeinsam festzulegen. Die zu erwartende Auseinandersetzung soll klare Konturen haben. Unterschiedliche Auffassungen sollen nicht gleich bis auf die geteilten Überzeugungen durchschlagen, sondern klar lokalisierbar werden. Η 3 Hassan formuliert die Ausgangsthese unter Berufung auf das Verhängnis der Klischeevorstellungen und Vorurteile allgemein weiter: "Das ist ja eben das P r o b l e m .
Wir Araber haben niemals versucht, euch außerhalb unserer
Klischeevorstellungen und Vorurteile zu suchen..." Damit ist das Thema näher umschrieben, mit den auf psychologische Motivation bezogenen Begriffen Klischee und Vorurteil Vorschläge für die Begründungssprache angeboten. Sie gibt darüber hinaus eine Falldarstellung, bei der es auf die Pointe ankamt, daß man schon damals Gespräche "ungern" ablehnte. Darin steckt eine Bekräftigung des implizierten Grundsatzes in Form eines Hinweises auf die Folgen (also eine Stütze). Insgesamt kann man entsprechend eine Vervollständiglang des Argumentationsschemcis feststellen. Was die Breite der Auseinandersetzung ausnacht, kann nur im Detail gesucht werden. Ε 4 / Η 5 Elon bietet eine erste Präzisierung an, indem er ein konkretes Faktum, genauer gesagt ein Motiv als Ursache des Konflikts formuliert: eigentlicher Grund der Kcrrmunikationslosigkeit ist die Tatsache, daß beide Seiten gegen die "Geister der Vergangenheit" ankämpfen (Kolonialismus und Nazizeit), was von Hassan als "festgefahrene Vorstellungen" ausdrücklich bestätigt wird. Damit ist das Scharia komplett:
95 FAKTEN -
THESE Der Konflikt beruht auf Kommunikationslosigkeit
Klischeevorstellung und Vorurteile aus der Vergangenheit verhindern Kommun ikation GRUNDSATZ
Kommunikationslosigkeit kann nur Unheil bringen
STÜTZE Beispiel anderer Völker
Dieses Faktum ist deshalb wichtig, weil es die These von der Kaimunikationslosigkeit mit dem konkreten Fall verbindet: "Leider ist es unmöglich, daß alle Ägypter alle Israelis kennenlernen, Sana" (Elon). Interessanterweise führt aber genau diese Präzisierung zur eigentlichen Auseinandersetzung. Η 5, Ε 6, Η 7 Zunächst geben beide Partner Beispiele der Klischeevorstellungen (Israeliwitz , "Araber-Arbeit"), die noch im Sinne geneinsam akzeptierter Fakten geltend gemacht werden. Dies ist sicher auch noch mit Hassans Deutung der "Vorurteile" als Relikten des europäischen Establishments aus der Kolonialzeit gemeint. Aber der Hinweis ist in gewissem Sinne schon viel zu konkret, als daß er noch zu dem allgemeinen Grundsatz von der Kamrunikationslosigkeit passen würde. Es zeigt sich vielmehr, daß die Frage der Herkunft der Klischeevorstellungen, vor allem aber ihre Deutung im Hinblick auf die gegenwärtige Situation selbst
ein zentraler Punkt wird, der entsprechend einen eigenen Grundsatz
mit entsprechender Stütze erfordert. Damit hat sich die Diskussion zentriert: das gemeinsam geteilte Faktum der Klischeevorstellungen wird Zielpunkt einer neuen, man muß sagen: der eigentlich k o n t r o v e r s e n
Argumentation.
Ε 8 Elon eröffnet diese Diskussion, indem er sich g e g e n
die Deutung der
Vorurteile durch Hassan wendet. Dabei entwickelt er drei Fakten: (1) Die Vorurteile sind nicht im europäischen Judentum begründet, sondern kommen besonders bei den aus arabischen Ländern geflohenen Juden vor. (2) Der Zionismus hatte lediglich den Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft für Juden und Araber. (Die europäischen Juden waren "Kinder des Humanismus, nicht des Kolonialismus".) (3) Der Traum zerrann unter den Anfeindungen der Araber. Diese Fakten sind zwar auf die relativ harmlosen Unterstelllangen Hassans bezogen, eröffnen aber nun die weitreichendsten Implikationen, wie die folgenden Passagen zeigen.
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Η 9 / Ε 10 Für Elon sollen die Fakten letztlich die These bekräftigen, daß die Israelis zu dauernder Wachsamkeit aufgerufen waren, daß die Klischeevorstellungen in gewissem Sinne nicht unberechtigt waren. Genau gegen diesen Schluß wendet sich Hassan, indan sie die Anfeindungs-These relativiert: sie sieht darin eine Verzerrung der Geschichte, ja "Verfolgungswahn". Entsprechend geht (in den ausgelassenen Passagen) der Streit um die Relevanz der Fakten: beide Seiten werfen sich untypische Beispiele vor ("Zufallsbegegnung", "gedankenloses Geschwätz" usf.). Es findet also ein Ringen um die angemessene Beschreibung der Motivationslage statt. Der Grundsatz und seine Stützen sind dabei klar: w i r k l i c h e
Anfeindungen müssen Verteidigung auslösen; überzogene
Interpretation
von Anfeindungen müssen in Verfolgungswahn enden.
Beides läßt sich durch allgemeine historische Erfahrungen abstützen: Elon: FAKTEN
-• THESE
Reale Anfeindungen
Notwendigkeit der Verteidigung (und deshalb berechtigte Angst) GRUNDSATZ Anfeindung muß Verteidigung auslösen
I STÜTZE
Allgemeine historische Erfahrungen Hassan: FAKTEN "Anfeindungen der Araber" sind Wahnvorstellung
Keine Notwendigkeit überzogener • THESE Verteidigung (und deshalb keine berechtigte Angst) GRUNDSATZ Nur wahre Anfeindung muß Verteidigung auslösen STÜTZE Allgemeine historische Erfahrungen
Der großen Parallelität der Argumentationen entsprechend geht es nun um Details. Eines davon stellt die Antisemitismus-Frage dar. Η 11 / Ε 12 / Η 13 Hassan reagiert wie Elon vorher: sie bezeichnet seine Beispiele als letztlich nicht typischen "antisemitischen Dreck", den Elon "vernünftig" betrachten solle - also nicht als Faktum zulassen dürfe: "Aber um des Friedens willen,
97
Amos, versuchen Sie diese Haltung zu verstehen." Wenn es also um den Frieden gehen soll, der an Vorurteilen hängenblieb, dürfen solche Dinge nicht als bestürmende Erfahrungen g e 1 t e η d gemacht werden. All dies soll Elons Beispiele entkräften: sie belegen nicht wirklich seine These von digen
notwen-
Trauma. Zugleich präzisiert dies den Grundsatz Elons: Antisemitis-
mus müßte "endemisch" sein, wenn er ein Grund sein sollte, die Lage für aussichtslos zu halten. Stattdessen schließt Elon einfach von antisanitischer Literatur auf Antisemitismus. Ε 14 Elon gibt zu, daß einiges an seiner Sorge übersteigert ist, verlangt aber zu sehen, daß in der besonderen Situation Israels auch besonderes Entgegenkamen notwendig ist. Die Sorge kann nur durch einen wirklich "idealen Frieden" abgebaut werden. Insofern verteidigt er sein Geltendmachen der Erfahrungen und weist Hassans Einschränkungen zurück. Η 15 Hassan ist jetzt ganz dicht bei der Argumentation Elons: besonderes "Sicherheitsbedürfnis" ja, aber kein "Fetisch" jenseits realistischer Möglichkeiten. Damit sind die Stützen des Grundsatzes näher umschrieben. Sicherheit gehört zu den berechtigten Bedürfnissen, kann aber auch überzogen werden und lähmt dann alle Initiativen. Man sieht, wie sich damit die Diskussion einem Normdiskurs nähert. In den Augenblick, wo die Fakten kaum noch weiter abzuklären sind, kcmmen notwendigerweise die Grundsätze selbst ins Spiel. Dem gilt tatsächlich die weitere Diskussion. 5.2.
A. Mitscherlich: "Toleranz - Überprüfung eines Begriffs" 2
Das zweite Beispiel entstammt einer wissenschaftlichen Studie. Der Psychologe A. Mitscherlich befaßt sich darin mit der Toleranz als einan der zentralen Begriffe im Bereich menschlichen Zusanmenlebens und versucht zu zeigen, daß man den Sinn von Toleranz in verschiedener Weise mißverstehen kann und auch mißverstanden hat, daß sie aber im rechten Licht betrachtet eine lebensnotwendige Tugend darstellt. Mitscherlich legt dazu Schritt für Schritt die Bedeutung der Toleranz für unser Zusammenleben dar, und zwar inner im Hinblick einerseits auf unsere gängigen und unvollkommenen Vorstellungen von tolerantem Verhalten, andererseits im Hinblick auf die Auswirkungen von Toleranz und Intoleranz in der Geschichte. Das Charakteristische, ja Spannende der Erörterimg liegt darin, daß Mitscherlich konsequent sein psychologisches Wissen an die Toleranz-Frage "heranträgt" und in deren Licht die Notwendigkeit tole2
A. Mitscherlich, Toleranz - Überprüfung eines Begriffs. In: Mitscherlich, Toleranz - Überprüfung eines Begriffs, Frankfurt 1974, S.7-29
98 ranten Verhaltens ebenso wie das Grauen, das aus seiner Nichtbeachtung erwächst, e r k l ä r t .
Es kennt damit alles darauf an, wie "gut" Mitscherlich seine
Stütze geltend machen kann, wie schlagend er dem Leser die Erfahrungen der Psychologie als wirklich
a n g e m e s s e n
darlegen kann.
Es handelt sich im folgenden um einen Auszug aus Mitscherlichs 30-SeitenAufsatz: 1 Die letzten Ermittlungen von "Amnesty International" besagen, daß in 100 von 148 unabhängigen Staaten der Welt Menschen wegen Meinungsdelikten eingekerkert sind; 35 Staaten bedienen sich der Folter in verschiedenem Maße. Unter diesen Umständen Toleranz zu predigen, nimmt sich wie ein seliger Höhenflug über den Niedrigkeiten menschlichen Lebens aus. Wenn wir uns dagegen der wenigen Augenblicke erinnern, in denen es uns wirklich gelungen ist, tolerant zu sein und wir dies nicht nur geheuchelt haben, dann meldet sich ein Gefühl der Dankbarkeit, daß uns diese Erfahrung zu machen gelungen ist. Wird Toleranz moralisch gefordert und ist sie keine Haltung, die wir selbst zustande gebracht haben, macht sich gleich wieder ein innerer Widerstand geltend. Moral hin, Moral her, manchen Menschen gegenüber sind wir ihrer überhaupt nicht fähig. Wer das nicht zugesteht, täuscht sich über sich selbst. Die Überwindung, die in jedem toleranten Akt steckt, wirft als Belohnung ein Freiheitserlebnis ab; es ist eine beglückende Erfahrung, frei vom Zwang der Unduldsamkeit, der Unerträglichkeit, Feindseligkeit zu sein. Aber wie selten sind Selbsterfahrungen dieser Qualität. Es ist kaum zu bezweifeln, daß das Scheitern toleranter Programme auf einer falschen Vorstellung über unsere innere Freiheit beruht. Als willentlich angestrebtes Programm ist sie offenbar nicht zu verwirklichen. Es entsteht dann leicht, was Hegel "Tugendterror" genannt hat. Vorbildlich wird sie erst, wenn wir über lange Strecken das Verhalten eines Menschen beobachten und dabei verfolgen können, wie er sich um tolerante Lösungen auf den verschiedenen Konfliktebenen bemüht. Der Begriff der Toleranz ist schwammig. Das Wort wird mit sehr verschiedenen Bedeutungen befrachtet. So erscheint eine kurze Funktionsdiagnose von Toleranz erwünscht. Wir sprechen einerseits von der Belastungstoleranz einer Brücke oder Maschine, andererseits von Toleranz im Sinne besonderer Geduld angesichts einer konfliktträchtigen Situation. Toleranz hat etwas mit Gleichmut zu tun: Ertragen, Erdulden heißt, psychologisch ein Gleichgewicht gegen störende Einflüsse von außen aufrecht erhalten zu können. Außerdem gibt es noch Toleranz sich selbst gegenüber - als lasche Toleranz, z.B. sich einen Ladendiebstahl zu gestatten oder eine sexuelle Beziehung ohne jede tiefere Bindung an den Partner. Um hier nicht unsere Identität zu gefährden, müssen wir uns Versagungen aufzuerlegen fähig sein. Bei Überlastung und Überforderung bricht eine Brücke oder eine Verhaltensweise zusammen. Dann ist die Toleranzgrenze offensichtlich überschritten. Im Gegensatz zur mechanischen Überlastung, bei der die Brücke zusammenstürzt, eine Maschinenleistung zum Stillstand kommt, tritt bei seelischer Überbeanspruchung ein neues Verhalten an die Stelle des alten: statt Geduld z.B. ein aggressiver Ausbruch gegen den, der uns so unerträglich stört und ärgert. Endlose Vorwürfe etwa von Ehepartnern gegeneinander können die Toleranzbereitschaft unterminieren. Der eine Partner ist dann nicht mehr bereit, auch auf berechtigte Vorhaltungen des anderen einzugehen. Man wird immer tiefer in eine Atmosphäre giftiger Intoleranz abgetrieben.
[.·.]
99 2 Da dies keine gewohnte, vielmehr eine außergewöhnliche Art der Konfliktschlichtung zwischen Individuen und Gruppen darstellt, und weil die meisten großen Machtprobleme zum Egoismus der Intoleranz einladen, werden viele denken, wozu dieses überflüssige Gerede von Toleranz, dieses "taubenhafte" Gebaren, das sich dann in der Wirklichkeit doch nicht durchhalten läßt? Ohne Zweifel haftet Toleranz, so wie sie sich uns in ihrer kurzen Geschichte präsentiert, viel vom Glaubensbekenntnis des klassischen Liberalismus an. Dieser hat nun freilich gleichlaufend, was keineswegs vergessen werden soll, extreme Rücksichtslosigkeit nicht nur gestattet, sondern sie zum Mittel, das den angebeteten Erfolg heiligt, erklärt. Da die Zeiten dieses Liberalismus vorbei sind, stellt sich die Frage, ob das Laisser-faire, Laisser-aller zu einer moralischen Haltung emporgehoben, wirklich Toleranz war. Die Klärung dieser Frage ist überaus wichtig, weil wir unterscheiden müssen zwischen Toleranz als einem frommen Alibi und, wie wir eingangs sagten, praktizierter Selbstüberwindung als Voraussetzung der Anerkennung der Interessen des Gegenspielers. Nur diese letztgenannte Toleranz ist ein beachtenswertes Thema. Es ist also noch keineswegs, wie dies nicht selten behauptet wird, entschieden, ob wegen des Absterbens des bürgerlichen Liberalismus das Konzept der Toleranz - auch und gerade im politischen Bereich - aufgegeben werden muß. Im 12. und 13. Jahrhundert hersehte in Spanien, dem Lande der christlichen Könige, Toleranz. Dann wiederholte sich dies in der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In langen Zeiträumen wird sie vielleicht von Fall zu Fall praktiziert, aber nicht als ein philosophisches oder moralisches Thema aufgegriffen. Das bringt uns zu der These, Toleranz sei eine immer wieder in Vergessenheit geratende Entdeckung der Menschheit über sich selbst - über einen Spielraum ihrer Entscheidungsfähigkeit, über den sie keineswegs sicher und zu allen Zeiten verfügt.
[.·.] 3 Darauf beruht das wichtigste Argument gegen die Behauptung des utopischen Charakters von Toleranz. Es geht nicht um unveränderbare Triebqualitäten der menschlichen Natur, sondern um durchaus formbare Ausdrucksgestalten von Affekten. Aber es ist eben nicht so, daß man triebhaftes Verhalten einfach unterlassen könnte. Wo toleranter Umgang sich ausbreiten soll, muß deshalb die Triebnatur, die an unserer Charakterbildung wichtig teilhat, eine ihr zuträgliche Anerkennung erfahren. Wirklichkeitsfern ist Toleranz nur dort, wo die Intensität aggressiver Bedürfnisse geleugnet und der Aufwand bei weitem unterschätzt wird, der nötig ist, um Triebbefriedigungen die Konzessionen des Umwegs (der Sublimierung) oder des Aufschubs (der dem Ich die Möglichkeit zur kritischen Einmischung bietet) abzuringen. Vor unseren Augen verwandeln sich Millionenstädte in Aufmarschgebiete für Rassenschlachten oder in Fanggründe kommerzbesessener und bedenkenloser Asozialer. Wie ist unter solchen Auspizien gute Nachbarschaft zu halten? Wie auch, wenn der politische Nachbar keinerlei Anzeichen dafür gibt, daß er seinerseits auf der Suche nach toleranten Lösungen sich befindet? Eine ergreifende jüdische Maxime fordert: "Wenn einer dir sagt: töte! oder du wirst getötet - laß dich töten." Wem darf man diesen Heroismus zumuten? Er ist ein Ausdruck wirklicher Furchtlosigkeit, aber wird sie nicht gleichsam vergeudet, solange der zur Tötung Bereite sich nichts daraus macht, einen Mord mehr zu begehen? Machte es auf die SS einen für die Menschheit ins Gewicht fallenden Eindruck, wenn die von ihr zum Tode Verurteilten gefaßt in diesen Tod schritten? Es gibt gleichsam ein l'art pour l'art der Toleranz. Mit Recht richtet sich der Zorn, besonders der Zorn der jungen Menschen, gegen diese Form von Duldung und Dulden. Hier von Toleranz zu sprechen, wäre erneut ein Irrtum. Laute Empörung entspricht häufig nicht dem Anlaß. Wo man vom Partner sagt, er
100 sei so unverfroren, benehme sich so scheußlich, opfere so greulichen Göttern, daß er keine Nachsicht verdient, pflegt, wenn man vom Einzelnen auf die Gruppe, auf die Vielheit schließen darf, eine große innere Zerrissenheit am Werk zu sein; eine Ratlosigkeit ob der Unfähigkeit, sich selbst im Zaum zu halten. Es kommt also nicht auf einen Richtspruch an: Der Ehemann oder die Ehefrau oder die Juden oder sonstwer seien an allem schuld, sondern auf die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts im Erleben wechselseitiger Fremdheit, welches aber, wie erwähnt, von wechselseitigem Interesse aneinander begleitet wird. Gelingt es, die oberflächlichen Argumente hinter sich zu lassen, dann stößt man nicht selten auf enttäuschte, übertriebene Liebesansprüche, enttäuschte Ansprüche der Anerkennung des eigenen Wertes, die eine mächtige Welle von Haß und Unversöhnlichkeit ausgelöst haben. Am Verhältnis der Bundesrepublik zur "sogenannten" DDR wurde uns das von der Regierung Adenauer vor Augen geführt. Adenauers Arroganz (alleiniger Vertreter der deutschen Sache zu sein) wurde mit Arroganz und unleidlicher Schikane beantwortet. Schikane hat aber immer das Motiv des verletzten (zuweilen wahnhaft verletzt geglaubten) Selbstgefühls. Nun aber zur Voraussetzung der Voraussetzungen: Welches Gleichgewicht seelischer Kräfte ermöglicht tolerantes Verhalten? Die Entscheidung zur Toleranz oder Intoleranz wird dann zum Problem, wenn eine starke Motivation zur Intoleranz fühlbar wird, die allemal damit lockt, daß baldige aggressive Triebbefriedigung versprochen wird. Dies kann geschehen, weil Intoleranz über mächtige Stützen verfügt: nicht anzweifelbare Vorurteile, dogmatische Glaubenssicherheit, materiell und psychologisch raffiniert gesicherte Herrschaftssysteme. Sie erlauben und erleichtern ein Ausagieren der destruktiven Tendenzen. Nur Träumer können sich darüber im unklaren sein, daß solche Destruktion in unser aller seelischer Ökonomie eine viel bedeutendere Rolle spielt, als es uns angenehm zu wissen ist. Die zahllosen Schlachten, die wir in der Schule zu memorieren hatten, stellten eine Summierung von einzelnen Tötungs- und Zerstörungsakten dar. Im Bewußtsein der jeweilig Handelnden durften sie nur den Aspekt von Mut, Tapferkeit, Vaterlandsliebe gewinnen. Wir wurden kaum ernstlich angehalten, uns damit vertraut zu machen, daß doch mit all diesen Tugenden - wenn überhaupt Toleranz einen Sinn hat - die sträflichste aller Taten: Mordabsicht und Mord verknüpft war und blieb. Um uns in diesen für jedes Individuum verzweiflungsvollen Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und Tötung von Artgenossen einfühlen zu können, dafür fehlte unseren Lehrern allermeist das kritische Bewußtsein. Zudem konnte man sich bei der bestehenden Bewußtseinslage leicht den Haß als "Nestbeschmutzer" zuziehen. Toleranz als Ich-Leistung ist also, wie auch Triebgeschehen auf der anderen Seite, an Lernprozesse gebunden. Es gibt ebensowenig ein naturhaftes, "konstitutionelles" tolerantes Verhalten, wie es eine naturhafte Aggressivität gibt. Beide entwickeln sich vielmehr nach dem Maß individueller Belastbarkeit und unter permanenten sozialen Anforderungen.
[...] 4 Unsere bisherigen Überlegungen machen deutlich, daß sich die innerseelischen Voraussetzungen von Toleranz mit dem Begriffsinstrumentarium der Psychoanalyse ziemlich genau bestimmen lassen. Der Bereich unbewußt wirksamer Triebe, das "Es", kennt nichts, was sich mit Toleranz bezeichnen ließe. Unsere libidinösen wie aggressiven Triebenergien drängen am Beginn unseres Lebens ganz selbstbezogen und gegen andere Individuen rücksichtslos auf Befriedigung. Die Triebversagungen, die ihnen auferlegt werden müssen, damit besonnenes, soziales Verhalten zustande kommt, wirken zunächst von außen auf sie ein. Wir nennen das Erziehung oder mit einem neuen Fachausdruck "primäre Sozialisation". Das Individuum lernt, auf andere Rücksicht zu nehmen, und das bedeutet eine Einschränkung eines bisher uneingeschränkten Freiheitserlebnisses.
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Schließlich wird schrittweise diese steuernde Kontrollinstanz verinnerlicht/ wird zum Gewissen, mit Freuds anschaulichem und umfassenderen Begriff: zum Über-Ich. Umfassender, weil im Über-Ich z.B. auch die unbewußten Schuldgefühle in ihrer Wirkung auf das Verhalten mit berücksichtigt werden. Wenn wir uns das Über-Ich als ein Bündel von verinnerlichten Handlungsanweisungen vorstellen, die das Individuum unter Androhung von Sanktionen in Konformität mit den Sitten, den Normen seiner Gesellschaft, Klasse, Arbeitsgruppe, Familie steuern, dann wird man im sozialen Verhalten dieses Individuums soviel Toleranz und insbesondere dort Toleranz vorfinden, wie und wo sie sich in dieser Gesellschaft entwickelt hat.
[...] 5 Unsere Gesellschaft erzeugt in steigendem Maße schwere Charakterdeformationen, d.h. Menschen, die in ihrer Gemeinschaftsfähigkeit ernstlich behindert sind. Das massenhafte Auftreten abgegrenzter Wahnvorstellungen, die sich um politische oder religiöse Lösungsideen bilden, verweist darauf, daß solche Wahnbildungen nicht auf seelischen Verwundungen im individuellen Lebensumkreis des einzelnen allein beruhen, sondern auf Erfahrungen, welche die Gesellschaft als ganze macht. Man denke z.B. an die von einer Wirtschaftsdepression mit langdauernder Arbeitslosigkeit erweckten Erlösungshoffnungen; oder an die Hoffnungslosigkeit in den großen Negergettos der Vereinigten Staaten und Südafrikas oder an die Sinnlosigkeit einer auf stetiges Wachstum versessenen Leistungsideologie und ähnliches. Kriminalität und sektiererischer Erweckungsrausch sind hier gleichermaßen Fluchtwege aus einer unerträglichen sozialen Lage. Weil man zu ohnmächtig ist, um diese Lage substantiell verbessern zu können, wird der Fluchtweg in geschlossene Wahnvorstellungen eingeschlagen. Es ist keine bloße Redensart, hier von kollektivem Wahn und nicht nur von Massenneurosen zu sprechen. Ist einmal die Einstimmung in diesen Zustand psychotischer Realitätsverkennung erreicht, dann erweist sich das Ich der Mitglieder großer Gruppen machtlos, ihre Erfahrungen auf den in ihnen enthaltenen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Wahngewißheiten gegenüber hat das Ich sein Einspruchsrecht verspielt. In weniger drastischer Form gilt das auch für Gewißheiten, die im Rahmen einer neurotischen Lebensbewältigung erzeugt werden. Hätte nicht die bürgerliche deutsche Erziehung z.B. mit ihrer Idealisierung kindlichen Gehorsams zu verschrobenen Idealbildungen und komplementär dazu zum Glauben an bösartig verfolgende, blutverderbende Untermenschen geführt, so hätte der Nationalsozialismus kein zwangsneurotisches und paranoides Potential ausbeuten können; er wäre, wie mancher aufgeklärte Kopf glaubte hoffen zu dürfen, spukhaft verschwunden. Statt dessen sprang er aber von der sektiererischen Außenseiterstellung in die Position der Volksreligion, weil er diese bereitliegenden wahnhaften Abwehrmechanismen zu mobilisieren verstand. Insofern war es nach deren Totalbankrott nicht falsch, von "Mitläufern" zu sprechen. Wahninhalte dieser Art bilden eine undurchdringliche Mauer, an der jede Forderung nach Rationalität und Toleranz zerbricht. Wo sich die Überzeugung von der unanzweifelbaren Richtigkeit und Überlegenheit der eigenen Position gebildet und ausgebreitet hau, endet die Neugier für andere, für fremde Lebensformen. 1 Abschnitt 1 gibt den Beginn von Mitscherlichs Erörterung wieder. Er ist ganz darauf angelegt, unsere "Erfahrungen" und "Vorstellungen" (beides konmt wörtlich vor) abzutasten, um von da aus den Versuch der wissenschaftlichen Durchdringung vorzubereiten. Dies gelingt umso rrchr, als diese Abtastung zeigt, in welcher Zwiespältigkeit uns der Begriff der Toleranz normalerweise gegeben ist.
102
Mitscherlich scheint dabei die Bandbreite des Verständnisses so weit wie möglich erfassen zu vrollen: von Ermittlungen von Amnesty International bis zu Ladendiebstählen. Man soll sehen, wie sehr der Begriff in unserm Leben verankert ist, wie unklar aber unsere Vorstellungen wirklich aussehen. Dabei fließen schon erste psychologische Hinweise ein: z.B. hat Toleranz etwas mit "Versagung", mit unserer "Identität" zu tun; vor allem aber - sofern unsere Planungen fehlgehen - mit der "falschen Vorstellung über unsere inneren Freiheiten". Dieser Punkt wird im Grunde zum eigentlichen Absprung: wenn feststeht, daß dies zutrifft, muß diese Vorstellung überprüft werden, müssen wir das Wissen um die innere Freiheit heranziehen. Damit hat die Argumentation ihren Anfang und ihr Ziel: wir müssen alle Fakten im Licht psychologischen Wissens, und d.h. im Licht psychologischer Grundsätze und ihrer Stützen in der psychologischen Erfahrung zum Thema machen. Dies macht die Argumentation - anders, zumindest schärfer als im Fall des Gesprächs zwischen Elon und Hassan - zum Normdiskurs: zur Debatte steht, im Lichte welcher Grundsätze ein angemessenes Verständnis der Toleranz wirklich möglich ist. 2
Deshalb tut Mitscherlich viel dafür, die Belastetheit unserer Vorstellungen durch bestürmte problematische Erfahrungen aufzuzeigen. Eine der wichtigsten Quellen in diesem Sinne stellt die Einbettung in den Zusammenhang liberalen Denkens aus dem 19. Jahrhundert dar. Mitscherlich erläutert hier im Grunde eine einflußreiche a n d e r e ist bzw. war. In d i e s e r
Begründungssprache, in der Toleranz verankert Umgebung galten Grundsätze wie das Laissez-faire,
was nur für den Stärksten am besten ist und Toleranz nur noch als Deckmantel für Rücksichtslosigkeit gelten läßt. Es ist interessant, daß der Toleranzbegriff im liberalistischen Denken auch nicht begründet wurde, sondern daß er nur noch zur D e u t u n g
bestinmter Probleme infrage kam. Mitscherlich
hat damit - wie er selbst sagt - sein "Thema" umrissen: Toleranz stellt ein sinnvolles Problem dar als die Toleranz der Selbstüberwindung. Als "frommes Alibi" stellt sie keine relevanten Fragen, die eine Antwort
fordern
würden. Der Beweis dieser Notwendigkeit ist entsprechend das erste Ergebnis der wissenschaftlichen Erörterung. 3 Mit den Absagen sind nun die eigentlichen Thesen Mitscherlichs vorbereitet. Auf der Grundlage der angedeuteten und nun auszuformulierenden relevanten Erfahrung soll Toleranz als notwendige Tugend nachgewiesen werden. Der erste Schlag gilt dabei dem Vorwurf der Utopie, und zwar auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen der Triebnatur des Menschen und seiner Affektbeherrschung.
103
Diese
p s y c h o l o g i s c h e
Unterscheidung widerlegt die Utopiethese
dadurch, daß sie die völlige Einseitigkeit eines Maßstabes nachweist und an deren Stelle einen adäquaten Grundsatz rückt: das len
Z u s a m m e n s p i e -
von Trieb und Gestaltung. Diese Ersetzung ist das eigentliche Charakte-
ristikum des Normdiskurses: es geht nicht um die Adäquatheit einer Begründungssprache im bezug auf einen bestürmten "Fall" allein, sondern eben um die Adäquatheit dieser Begründungsspräche selbst. Entsprechend liegt nun alles Gewicht auf den Stützen, die diesen Grundsatz tragen. Dazu machen Beispiele aus den verschiedensten Lebensbereichen, bis hin zun historischen Fall der politischen Ost-West-Beziehung, jeweils die Probe aufs Exatpel. Sie alle sollen mit ihrer Deutung und dem Aufzeigen der Folgen belegen, daß der angeführte Grundsatz wirklich gerechtfertigt ist. Wenn wir dies akzeptieren, steht der These von r e a l i s t i s c h e n
(nicht-utopi-
schen) Charakter der Toleranz nichts mehr im Wege. Und im gleichen Atamzug ist natürlich mehr geschehen als nur diese Abwehr: die Klärung des Grundsatzes hat ein inmer konkreteres Bild der Toleranz entstehen lassen. Das Wissen um Triebgeschehen und Gestaltungsqualitäten hat uns Zusammenhänge eröffnet, in denen wir Toleranz run nicht nur mit
a n d e r n
Augen erblicken, sondern
überhaupt erst eine breitere Vorstellung bekennten. Diese Konsequenz einer Argumentation ist deshalb besonders erwähnenswert, weil sie zeigt, daß es nicht immer auf das Ergebnis ankamt. Auch derjenige, der Mitscherlichs Ausführungen
nicht
akzeptiert und Toleranz
doch
für utopisch hält
- vielleicht aus Gründen, an die Mitscherlieh nicht gedacht und die er deshalb auch nicht widerlegt hat
dürfte etwas gelernt haben.
4 Daß Mitscherlich sich des Normdiskurses im angedeuteten Sinne selbst wohl bewußt ist, zeigt sehr schön der vierte Abschnitt. Innehaltend vermerkt er ausdrücklich, daß sich die bisherigen Beschreibungen ganz den Erfahrungen der Psychologie verdanken und deshalb auch von deren Geltungsgrad abhängen. Entsprechend verweist Mitscherlich noch eirmal auf die zentralen BeschreibungsStücke: Wir hören von Charakterbildung, aggressiven Bedürfnissen} Triebbefreiungen; von Sublimierung und Aufschub, von Motivation und destruktiven Tendenzen3 schließlich massiert von "Es" und Uber-Ich, von libidinösen und aggressiven Triebenergien, von Triebversagungen, Freiheitserlebnissen, Schuldgefühlen und "primärer Sozialisation" - um nur das Wichtigste zu nennen. Alle diese Begriffe lassen die Grundhypothese von Relevanzcharakter der Toleranz gleichsam aus sich hervorgehen. Im Lichte der psychologischen Beschreibung e r w e i s t
sich Toleranz als für das Zusamnenleben notwendige Tugend.
104
5
Schließlich noch ein letzter Abschnitt, der einige von überaus zahlreichen Beispielen ausführt. Bei der Aufgabe, die Grundsätze zu klären, werden bestürmte Fakten, die mit tolerantem bzw. intolerantem Verhalten zu tun haben, inner besser deutbar. Sie dienen also jetzt w i r k l i c h
als Belege für
die entscheidende These. Nachdan die Grundsätze klar sind, und zwar eben durch die Klärung psychologischer Erfahrungen, können i n
ihrem
Licht
die Fakten als Beleg für die Forderung nach Toleranz eintreten. Mitscherlieh tut dies besonders ausführlich, weil er offenbar solchen konkreten Ereignissen die entscheidende Überzeugungskraft beimißt. Während bei der Diskussion um Grundsatz und Stützen ja in erster Linie a l l g e m e i n e zur Debatte standen, treten jetzt die s p e z i e l l e n
Erfahrungen
in den Vordergrund.
Wer sich von einer "Gesetzmäßigkeit" überzeugt hat, muß den Beispielen, die dazu passen, auch folgen. Abschließend sieht man die ganze Kcmpliziertheit, die eine Argumentation annehmen kann, aber auch die Einfachheit des Systems. Man könnte ein riesiges Diagramn zeichnen, in dan der entscheidende Grundsatz, die breit ausgearbeiteten Stützen und die beinahe zahllosen Beispiele im Rahmen der Faktenabklärung eingetragen wären. Das Grundschema lautet etwa folgendermaßen: FAKTEN
• THESE
Motivation bei WahnvorStellungen usf.
Toleranz ist eine für unser Zusammenleben notwendige Tugend GRUNDSATZ Toleranz gehört zum Kräftespiel· zwischen Triebnatur und Gestaltung STÜTZE Wissen über das menschliche Ich
Als entscheidend erweist sich damit die Wahl der Begründungssprache. Sie hat den Beitrag überhaupt erst möglich gemacht, sofern sich der Psychologe Mitscherlich herausgefordert sah, seine "Sprache" auf das Probien anzuwenden und damit die Kurzsichtigkeit mancher populären Thesen zu dokumentieren. Man könnte darin zuletzt den Zweck der Wissenschaft überhaupt sehen: sie ist aufgefordert, uns Erfahrungen und daraus ableitbare Grundsätze plausibel zu machen, damit wir selber konkrete Fälle beurteilen können.
LÖSUNGSHINWEISE ZU DEN ÜBUNGEN
Übung (1) Man könnte die genannten Slogans etwa so rekonstruieren: (1) (a) Über alles, was mir gehört, kann ich frei verfügen. (b) Mein Bauch gehört mir. (c) Deshalb kann ich über einen Schwangerschaftsabbruch frei verfügen. (2) (a) Was alle Männer für gut halten, muß gut sein. (b) Männer nehmen Pitralon. (c) Deshalb ist Pitralon empfehlenswert. Es ist auffällig, daß die Slogans stets die (b) - Prämisse wählen, also die konkrete Feststellung. Die Schlußfolgerung sowie der allgemeingültige Satz sind das, was als selbstverständlich vorausgesetzt (suggeriert) wird. Übung (2) Der Unterschied zwischen (1) und (2) liegt - wie Metzing selbst hervorhebt darin, daß die Kennzeichnung selten ihren Sinn nur im Hinblick auf ein spezifisches Wissen über die Welt hat und sich entsprechend dauernd verändern kann. In diesem Fall ist durchaus anzunehmen, daß nach 5 Jahren "Seltenheit von Fischen" etwas anderes bedeutet als vorher. Metzing kommentiert dies folgendermaßen: "Die Bedingungen unserer Welt sind derart, daß der Schluß in (2) viel weniger plausibel ist als der Schluß in (1)" (S.16). Übung (3) Es handelt sich in beiden Fällen um Beispiele für optative Inferenz, einmal in der ersten, dann in der zweiten Person. - In beiden Fällen wird der Charakter der Optativen Inferenz gut deutlich: weder folgt aus den Prämissen etwas über die Verwendung von Zucker in Kaffee noch über Gewinnmöglichkeiten für Western. Die geschlossenen Handlungen sind jeweils notwendig, w e n n der Handelnde zu den Prämissen steht. Übung (4) Perelman/Olbrechts-Tyteca halten dieses Argument für eine Mischung aus argumentum ad hominem und argumentum ad personam. Diese Mischung beruht darauf, daß der Vertreter die Schlußregeln des Gegenspielers sozusagen auf diese selbst anwendet. Übung (5) Während für Aristoteles die erlahmende Bewegung "natürlich" und die Vorstellung einer kontinuierlichen Bewegung "unnatürlich" war, wurde dies bei Galilei genau verkehrt. Entsprechend war für Aristoteles prinzipiell die kontinuierliche Bewegung ein überraschendes und deshalb erklärungs b e d ü r f t i g e s
106 Phänomen; für Galilei mußte umgekehrt die erlahmende Bewegung das sein, was zu erklären ist. Übung (6) Die Unterscheidung von Behauptungs- und Begründungshandlung beruht zunächst einmal auf den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen man eine Argumentation betrachten kann. Man kann von den Behauptungen (besser: den Thesen) auf die Begründungen sehen und fragen: wie ist eine bestimmte Behauptung begründet; man kann aber auch von der Begründung auf die Behauptung sehen und fragen: welche Behauptung folgt aus einer bestimmten Begründung. So wäre der Satz: "Wasser kocht bei 100°" ein Beispiel für eine Behauptung; der Satz: "Er hat ihn erstochen" eine Begründung z.B. für eine Verurteilung. Man sieht hier die mögliche Doppeldeutigkeit von Behauptungshandlung: im letzten Beispiel ist ja auch eine Behauptung ausgesprochen, aber diesmal eine Behauptung, die die Funktion einer Begründung trägt. Übung (7) Bei der Bewertung muß gegenüber der Empfehlung das allgemeine Interesse gegenüber der direkten Handlungsaufforderung berücksichtigt werden. Dies läßt sich etwa so dokumentieren: A: Wie wird man wohl am schnellsten nach X kommen? B: Da gibt es gar keine Alternative; sehen Sie nur hier in die Karte, über Y mögen es zwar 1 oder 2 km kürzer sein als über Z, aber sehen Sie sich einmal die Steigungen an, die Sie beim Weg über Y bewältigen müssen. Es geht dort genau über den Höhenrücken, wo Ihnen ganz ordentlich die Puste ausgeht. A: Wenn man, wie ich, kein durchtrainierter Sportler ist, bestimmt. B: Selbst ein Sportler wird bei einer solchen Steigung langsamer vorankommen; es sind immerhin teilweise 15 Prozent. Übung (8) Die Schlagwörter (l)-(6) dienen sämtlich der Abklassifizierung von Grundsätzen in dem Sinne, daß sie angesichts der jeweiligen Behauptungen oder Rechtfertigungen nicht adäquat sind. Indem der Gegenspieler dem Argumentierenden etwa vorwirft, Kirchturmspolitik zu betreiben, weist er darauf hin, daß der vorgebrachte Grundsatz andern Fällen wohl gerecht werden mag, den Dimensionen des jetzt vorliegenden dagegen nicht genügen kann. Die auf einem solchen Grundsatz aufbauende Argumentation kann dann von Anfang bis Ende nicht zum Zuge kommen, weil sie nicht "paßt". Ähnlich bringen die Termini (7)-(9) zum Ausdruck, daß Argumentationen gerade an den Grundsätzen hängen und eine entsprechende Einigung im Grundsatz nicht mehr weit von einer endgültigen Einigung entfernt sein kann. Übung (9) Das Zusammenspiel der Argumente zerfällt auch bei Toulmin deutlich in zwei Teile. (1) Einmal geht es um die Rechtfertigung der Fakten durch die Grundsätze, (2) zum andern um die Rechtfertigung der Grundsätze durch die Stützen. In konkreten Argumentationen sieht dies so aus, daß man entweder (2) voraussetzt bzw. voraussetzen kann und entsprechend zu zeigen hat, daß der Grundsatz der Fakten w i r k l i c h begründet, oder daß man eine Argumentation im Sinne von (1) gerade verläßt, um sich der Voraussetzung des Grundsatzes s e l b s t zu vergewissern. Man bekommt also außer Ty ρ e η von Argumentationen noch F o r m e n des Argumentierens auf dieser Ebene. Für (1) könnte man - allerdings mit beträchtlichen Gefahren von Mißverständnissen - den
107 Terminus "faktenbezogene" Argumentation prägen, für (2) entsprechend den der "grundsatzbezogenen". Tatsächlich ist in der Literatur für (2) der Terminus "Normdiskurs" üblich, womit letztlich der für praktisches Handeln bestimmende Grundsatztyp der Normen den Namen gab. In einer Übersicht: faktenbezogene Argumentation
I
Erklärung ) Empfehlung > Bewertung Ι
Übung (lo)
grundsatzbezogene Argumentation (Normdiskurs)
(1) Beckerhoff: FAKTEN
— • THESE
Bremswirkung des Hochschulzugangs durch Darlehen Problematik der Rückzahlungskonditionen
Keine volle Darlehensförderung !
GRUNDSATZ Abkopplung von wirtschaftlicher Situation ist notwendig STÜTZE Hinweis auf Schwierigkeiten beim Zusammenhang von Ausbildung und Beruf (Verhältnis des Staates zu seinen Akademikern) (2) Leonhardt: FAKTEN ·
• THESE
- Befreiung von Abhängigkeit für alle - Problematik der Einkommensgrenze - Beseitigung der Benachteiligung für Aufsteiger
Umstellung förderung!
GRUNDSATZ Gerechtigkeit für alle ist notwendig STÜTZE Hinweis auf Schwierigkeiten bei einer "Verteilung" von Gerechtigkeit (Beispiel Schweden) Was die beiden Argumentationen so interessant macht, ist die Tatsache, daß beide Grundsätze in den Mittelpunkt stellen, die wechselseitig n i c h t infrage gestellt sind: Beckerhoffs Grundsatz, das Studium von der wirtschaftlichen Situation abzukoppeln, wird durch Leonhardt entgegengehalten, daß eine solche Abkopplung letztlich nicht erreicht werden kann. Leonhardts Prinzip der Gerechtigkeit für alle wird bei Beckerhoff mit der These pariert, daß diese Gerechtigkeit zur Ungerechtigkeit führen müsse. Insofern besteht der Dissens in der Beurteilung der F o l g e n von beiderseits anerkannten Prinzipien.
108 Übung (11) Die Charakterisierung, die der Verfasser z.T. selbst vornimmt, könnte folgendermaßen aussehen: (1) (2) (3) (4)
lernpsychologischer Grundsatz motivationspsychologischer Grundsatz didaktischer Grundsatz ästhetischer Grundsatz
Zu (4) schreibt der Verfasser: "Kalligraphische Fähigkeiten (Schönschreibfähigkeiten) brauchen die Schüler nicht zu erwerben, ja es besteht die Gefahr, daß Kinder die Schreibmotivation verlieren, wenn ästhetische und moralische Kriterien auf einen Vorgang angewandt werden, der in erster Linie kommunikative Funktionen erfüllt. Kinder zu zwingen, viel und schön und ordentlich zu schreiben, anstatt sie anzuhalten und ihnen zu ermöglichen genau und ökonomisch und originell zu schreiben, fördert nicht nur ihre Lernlust nicht, es kann sie ernsthaft verhindern" (S. 1). Übung (12) Bolls Darlegung ist gerade deshalb interessant, weil er nicht nur ausdrücklich den Zusammenhang von Begriffen und Begründung hervorhebt, sondern weil er darüberhinaus die entscheidenden Voraussetzungen dieses Zusammenhangs berücksichtigt, nämlich die sozialisationsbedingte Prägung unserer Erfahrungen; Begriffe können nicht in irgendeinem Sinn einfach "wörtlich" in Anspruch genommen werden, sie sind vielmehr immer in komplette Vorstellungszusammenhänge eingebettet. D e s h a l b ist ihre Wahl entscheidend. Umgekehrt gilt dann auch: Tatsachen oder Ereignisse existieren nicht einfach, um dann "wörtlich" bezeichnet zu werden, sondern der sprachliche Zugriff bestimmt einen Sachverhalt sogleich in einem umfassenden Sinne. Die Beschreibung nimmt die Erklärung zwangsläufig schon vorweg. Übung (13) Chomskys Angriff ist deutlich auf den Zusammenhang von Argumentation ("Behauptung" ist "gänzlich inhaltsleer") und Begriffen ("Begriff der Bekräftigung" hat "keinen klaren Gehalt") aufgebaut. Skinner hatte seine Ergebnisse aus Rattenexperimenten gewonnen, auf die Chomsky kurz anspielt ("Gleiches gilt nicht für den Menschen"). Der zentrale Begriff der "Konditionierung" paßt aber eben nur für das Lernverhalten von Tieren, die aufgrund von Belohnung und Bestrafung ein bestimmtes gewünschtes Verhalten entwickeln. Demgegenüber baut menschliche "Unterweisung und Informationsvermittlung" auf völlig andern, und zwar wesentlich indirekteren Mitteln auf. Gerade dies hatte Chomsky mit den Begriffen der Transformationsgrammatik nachgewiesen und insofern die menschliche Kommunikation völlig neu gedeutet. Entsprechend muß eine direkte Übertragung der Tierergebnisse auf den menschlichen Bereich zur Karikatur führen, wie es Chomsky vorzuführen versucht. Übung (14) Protagonistische Züge: (1), (3), (4), (8), (9), (11), (12), (15), (17), (18), (20), (21), (23), (24), (25), (28), (29), (30), (32), (33), (34), (35), (38), (42), (43), (45), (46), (47), (5o), (51), (53). Antagonistische Züge: (2), (5), (6), (7), (10), (13), (14), (16), (19), (22), (26), (27), (31), (36), (37), (40), (41), (44), (48), (49), (52), (54), (55).
109 Übung (15) F : °
Ρ Pj-· P
P
1 1
CΓl :·
:
P
P
2 P 3 Ρ 1Ρ3: P
4:
P
:
p
5
P
P^: 2C1: P
1 P 2 C 1=
ρ
1 ρ ΐ^ 4 :
C
4 1
C
Ρ 1ρ4 =
2 C 3
Ρ 1Ρ5:
c4
P l
6;
C3:
PlC4:
Ρ 1Ρ6 : P
7' p : 8
C
5 6 c 7
C
Ρ
1Ρ8:
P
1C7:
Cg: P C : 1 9 P2C9: Ρ c · 3 9' Naess gibt folgende Wertung wieder: "Die Schlußfolgerung war under den Aktivisten lange Zeit positiv, aber dem Kontraargument 9 wurde steigendes Gewicht beigemessen, was schließlich zu einer negativen Schlußfolgerung führte" (S. 159)
Übung (16) Grosser deckt mit seinen Ausführungen offensichtlich die Frage auf, wieweit bestimmte an sich vernünftige Prinzipien ihre wahre Funktion verloren haben könnten. Gerade weil die Wahrung der Rechtsordnung eine v e r n ü n f t i g e Aufgabe, weil die Erhaltung des Friedens ein erstrebenswertes Ziel ist, können sich unter dem Deckmantel dieser Wahrung bzw. Erhaltung Entwicklungen vollziehen, die das Gegenteil des Gewollten erreichen. Aus diesem Zusammenhang gewinnt Grosser seine These, die entsprechend seine Argumentation in Gang setzt. Übung (17) Negt sieht beide Seiten: Die in den Topoi verfestigten Erfahrungen sind zunächst einmal aus der konkreten Umwelt stammende Erfahrungen und damit relevant. Neue Erfahrungen k ö n n e n nur im Medium eigener alter Erfahrungen gemacht werden; das Neue kann nur aus den objektiven Lebensbedingungen des einzelnen heraus verarbeitet werden. Dies betont die grundlegende Rolle der Stützen und der mit ihnen verbundenen Begründungssprachen. Andererseits ist der Gesichtskreis überall da beschränkt, wo keine eigenen Erfahrungen ausgebildet sind, also keine Begründungssprachen zur Verfügung stehen bzw. rasch genug ausgebildet werden können, wohl aber Entscheidungen abverlangt werden. Negt selbst folgert daraus eine "Anhebung" der Arbeiterbildung, also nicht etwa eine Verherrlichung der "Unschuld" einer beschränkten Sprache. Dies könne dadurch geschehen, daß die emanzipativen, in "solidarischen Kommunikationen gebundenen Erfahrungen" der Arbeiter im Medium der öffentlichen Sprache explizit gemacht werden; statt "Gesinnungsschulung", die eben die Stützen nicht verändern kann, müsse eben Vermittlung gesucht werden (S. 65ff.).
110 Dies zeigt zuletzt noch einmal, daß Argumentieren immer an beidem hängt: an dem formalen Schema eines Argumentationsganges wie an der inhaltlichen Orientierung einer Begründungssprache. Das Schematische des Argumentierens, das die Topoi in Gang setzen, kommt nur zum Zuge, wenn die Phänomene, um die es geht, in den Zusammenhang einer adäquaten und in ihren Voraussetzungen durchschauten Begründungsspräche gestellt werden können.
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SCHLAGWORTVERZEICHNIS
Ableitung(sverfahren) 5f. Adäquatheit 4Ο Alltagswissen 53, 78 Begriff Begrifflichkeit 50f. Begriffs(aus)bildung 52, 59 Begriffsdefinition 56 Begriffssystem 54f. Behauptung 2, 6, 21f. Beschreibung 24f., 50ff. Bewertung 21f. Conclusio 1, 26 Dialog, dialogisch 67ff. Diskurs (theoretischer D., praktischer D.) 85f. Empfehlung 2, 6, 21 f., 25 Erklärung 20ff., 26 Fakten 27ff., 32 formal formal gültig 4f., 12 formal-logisch 3f. , 6 formale Ableitung 14 formale Folgerung 15, 26 Geltung 13, 16f., 32, 71 Gesetz 21f., 28 Grund 3, 21f., 25f., 53 Grund i.e.S. (Handlungsgrund) 21, 24 Grundsatz 28ff., 34 Implikation(sbeziehung) 4f., 6 Information 2f., 23, 25 kritisch 11, 16ff.
Merkmal Argumentations-Merkmal 50f. Grundsatz-Merkmal 52f. Motiv 22, 24 Neuheit (Erkenntnisneuheit) lf., 14, 52f. Norm, normativ 21 f., 28, 71 Normdiskurs 69, 97, lo7 Notwendigkeit logische Notwendigkeit lf. normative Notwendigkeit 9 optative Notwendigkeit 8f. praktisch praktische Erklärung 24 praktische Wahrheit 7 praktisches Handeln 21, 29 praktisches Schließen 9, 17 Prämisse 1, 14, 26 Präsupposition 5 Rechtfertigung 20ff., 25f. Rhetorik, rhetorisch lOff., 67 Schlußfolgerung Iff., 5, 8f., 26 Schlußverfahren 4f., 14 Sprechakt, Sprechhandlung 17f.. Stütze 28ff., 32 Syllogismus lf., 14, 26, 32 theoretisch 17, 21 theoretische Erklärung 24 theoretisches Wissen 29 These 28f., 77f. Topos lOf. Wahrheit, Wahrheitsbegriff 12f.,