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German Pages 179 Year 1972
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 180
Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten
Von
Josef Jurina
Duncker & Humblot · Berlin
Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Recht Band 180
JOSEF
JURINA
Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten
Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften i m Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten
Von
Dr. Josef Jurina
DUNCKER
& HUMBLOT
/
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten © 1972 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1972 bei Buchdruckerei Bruno Lude, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 02618 7
Vorwort Diese Untersuchung lag im Sommersemester 1971 der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation vor. Sie ist im wesentlichen zum Ende des Jahres 1970 abgeschlossen worden. Ich habe nunmehr vor allem Herrn Professor Dr. Hermann Mosler für seine großzügige Geduld beim Entstehen dieser Arbeit und für viele Jahre wissenschaftlicher Anleitung und Arbeitsmöglichkeit zu danken. Herrn Professor Dr. Hans Schneider gilt mein Dank für die schnelle Abfassung des Zweitgutachtens, Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Broermann für die freundliche Bereitschaft, die Arbeit in dieser Schriftenreihe zu publizieren. Die nachfolgende Untersuchung ist in dem Bewußtsein geschrieben, daß sie das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland von einer Seite, vom Blickwinkel der staatlichen Verfassung aus, damit in der Tat in manchen Punkten „einseitig" sieht. Dies sollte nicht von vornherein als Mangel gewertet werden. I n vielen grundsätzlichen Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche müssen in einem weltanschaulich neutralen Staat der staatliche und der kirchliche Standpunkt notwendigerweise differieren, ohne daß diese verschiedenen Standpunkte in jedem Falle harmonisiert werden könnten. Dem Juristen verbleibt hier manchmal nur die Möglichkeit, sich für die eine oder die andere Sicht zu entscheiden. Hierbei muß er, soweit er vom staatlichen Recht ausgeht, die Grundaussagen der Verfassung zum Ausgangspunkt dieser Entscheidung nehmen. Daß eine solche staatliche Verfassung der Kirche dennoch genügend Freiheit lassen kann, um ihrem Selbstverständnis gemäß leben zu können, beweisen gerade die staatskirchenrechtlichen Regeln des Grundgesetzes, die diese Untersuchung zum Gegenstand hat. Ich widme diese Schrift in Dankbarkeit meinen Eltern. Mainz, im Oktober 1971 Josef Jurina
Inhaltsverzeichnis Einleitung Kirchliche Selbständigkeit Im älteren deutschen Staatskirchenrecht
9
Erster Teil Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V nach herrschender Lehre und Praxis Erstes Kapitel: Die Auslegung von Art herrschender Auffassung Zweites Kapitel: Kritische
Würdigung
140 GG/137 Abs. 3 WRV nach
19 20
der herrschenden Auffassung
A. Die Begründung der Eigenständigkeitslehre
24 25
B. Eigenständigkeitslehre und Körperschaftsstellung der Kirchen
36
C. Eigenständigkeitslehre und „für alle geltendes Gesetz"
40
D. Die Unterscheidung von Kirchen und kleinen Religionsgemeinschaften
48
Drittes Kapitel: Gegenstand und Methode der Untersuchung
50
Zweiter Teil Der Eigenbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften
59
Erstes Kapitel: Die „eigenen" Angelegenheiten
59
Zweites Kapitel: Die „gemeinsamen" Angelegenheiten
65
Dritter Teil Kirchliche Rechtsetzung i m Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Erstes Kapitel: Entstehungsgeschichte und rechtssystematischer menhang von Art 140 GG/137 Abs. 3 WRV Zweites Kapitel: Kirchliche Neutralität des Staates
Zusam-
Rechtsetzung und weltanschaulich-religiöse
68
71 77
Erster Abschnitt: Das Verbot der Übertragung staatlicher Rechtsetzungsgewalt zur selbständigen Regelung des Kernbereichs der eigenen A n gelegenheiten
78
Zweiter Abschnitt: Wesen und Eigenarten der innerkirchlichen Rechtsordnung
83
Erster Unterabschnitt: Die Regelung des Kernbereichs der eigenen A n gelegenheiten i m katholischen und i m evangelischen Kirchenrecht
84
8
Inhaltsverzeichnis A. Grundzüge des katholischen Kirchenrechtsverständnisses
85
B. Grundzüge des evangelischen Kirchenrechtsverständnisses
88
C. Das katholische Sakraments- und Gottesdienstrecht
91
D. Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands E. Grundzüge der katholischen Kirchenverfassung F. Grundzüge der Verfassung der evangelischen Kirchen
96 101 104
I. Grundzüge der lutherischen Kirchen Verfassung
104
I I . Grundzüge der reformierten Kirchen Verfassung
108
Zweiter Unterabschnitt: Die Rechtsetzung der kleineren Religionsgemeinschaften i m Kernbereich der eigenen Angelegenheiten 110 I. Die Methodistenkirche
111
I I . Die Evangelisch-Lutherischen Freikirchen Dritter Unterabschnitt: Ergebnis Drittes Kapitel: Die Anerkennung der Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Vierter
der geistlichen Amtsträger
Zweites Kapitel: Der Status der Laienbediensteten Vermögensrecht
sowie das kirchliche
Drittes Kapitel: Die gemeinsamen Angelegenheiten Fünfter
113
Teil
Selbständige kirchliche Rechtsetzung für die übrigen eigenen und die gemeinsamen Angelegenheiten Erstes Kapitel: Das Dienstverhältnis
111 112
122 122 127 131
Teil
Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Bereich der eigenen Angelegenheiten
136
Erstes Kapitel: Die kircheneigene Verwaltung
136
Zweites Kapitel: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
139
Sechster Teil Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes
151
Schluß Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V im staatskirchenrechtlichen Gesamtsystem des Grundgesetzes
163
Literaturverzeichnis
170
EINLEITUNG
Kirchliche Selbständigkeit im älteren deutschen Staatskirchenrecht* Zu den konstanten, immer neu zur Lösung aufgegebenen Problemen in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche zählt die Frage nach dem Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Gewalt. Diese Frage und die Versuche, sie zugunsten der einen oder der anderen Seite zu lösen, haben einen großen Teil der Geschichte des Mittelalters geprägt. I m „modernen" Staat der Neuzeit hat dieses Problem nichts von seiner Bedeutung verloren, ja eher eine Zuspitzung erfahren: Gegenpol der Kirche war nun nicht mehr der einzelne weltliche Herrscher, sondern die verselbständigte Institution des Staates. Dessen entscheidendes Wesensmerkmal wurde in einer allumfassenden, d. h. sich grundsätzlich auf alle Lebenserscheinungen seines Territoriums erstrekkenden Staatsgewalt gesehen. Dies gab der Frage nach der Bewertung der kirchlichen Gewalt neue Bedeutung. I. Das Zeitalter des Absolutismus löste diese Frage klar zugunsten des Staates: Die Kirchen waren als Staatskirchen wie alle anderen Gesellschaften auf dem Gebiet des Staates seiner Hoheit unterworfen 1. II. Dieses strenge System der Einfügung der Kirche in den Staat erfuhr jedoch gegen Ende des 18. Jahrhunderts maßgebliche Veränderungen. Aus dem Gedankengut der Aufklärung stammend, setzte sich in Deutschland immer mehr der Grundsatz der individuellen Religionsfreiheit als Naturrecht durch, als dessen Folge auch die Freiheit zum Zusammenschluß zu Religionsgemeinschaften anerkannt wurde 2 . * Die für diese Untersuchung verwendete Literatur ist grundsätzlich im Literaturverzeichnis S. 170 ff. aufgeführt. Dort verzeichnete selbständig erschienene Werke werden nur mit dem Namen des Verfassers oder, bei mehreren Werken desselben Verfassers, mit einem erklärenden Zusatz zitiert. Bei nicht selbständig erschienenen Werken wird neben dem Namen des Verfassers die Fundstelle genannt. 1 Vgl. die Darstellung bei Ebers , S. 2 ff.; ferner E. R. Huber , Bd. I, S. 393 ff. 2 Positives Recht wurde dieser Grundsatz im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794. I n dessen 11. Titel „Von den Rechten und Pflichten der Kirchen und geistlichen Gesellschaften" ist bestimmt: „§ 1: Die Begriffe der Einwohner des Staats von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube, und der innere Gottesdienst, können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein. § 2: Jedem Einwoh-
10
Einleitung
Parallel dazu bekam — entgegen der alten Bevorzugung der einen Landeskirche — der Grundsatz der Parität der Konfessionen immer stärkere Geltung 8 , der ebenso wie die individuelle Religionsfreiheit die schrankenlose Anwendung des alten Grundsatzes „cuius regio, eius religio" ausschloß und zu einer gewissen Distanzierung von Staat und Kirche führen mußte. Diese Distanzierung wurde durch die im Vordringen begriffene Erkenntnis der Verschiedenheit der Zwecke von Staat und Kirche begünstigt. Daraus wurde gefolgert, daß die auf die bürgerliche Ordnung dieser Welt bezogene Zuständigkeit des Staates vom Aufgabenbereich der Kirche und ihrer Zuständigkeit in geistlichen Dingen zu unterscheiden war 4 . Das wurde untermauert durch die Erstreckung der Lehre vom Gesellschaf tsvertrag auf die Kirchen: Auch die Kirchengewalt, die von der Hoheitsgewalt des Staates unterschieden wurde, sei dadurch entstanden, daß die einzelnen Kirchenglieder den kirchlichen Leitungsorganen eine entsprechende Befugnis übertrugen. Die Kirchengewalt sei also echte Gesellschaftsgewalt 5. Diese bedenkenlose Übertragung einer für das staatliche Gemeinwesen entworfenen Konstruktion auf die Kirchen widersprach zwar deren geistlicher Eigenart. Sie trug jedoch ihren Teil dazu bei, daß staatliche und kirchliche Dinge nicht mehr ohne weiteres als der einen staatlichen Kompetenz unterstehende Materien betrachtet wurden, vielmehr der Gedanke eines eigenen kirchlichen Sachbereichs, in dem der Staat an sich unzuständig ist, Boden gewann6. ner im Staate muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden. § 3: Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinungen in Religionssachen Vorschriften vom Staate anzunehmen. § 4: Niemand soll wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur Rechenschaft gezogen, verspottet, oder gar verfolgt werden." Vgl. auch Svarez, S. 52 f. und 350 f.; Häberlin, S. 350; Wiese, S. 126; Klüber, S. 765,776 f. 3 Vgl. dazu ausführlich Lothar Weber, Die Parität der Konfessionen in der Reichsverfassung von den Anfängen der Reformation bis zum Untergang des alten Reichs im Jahre 1806, Bonner Dissertation 1961; Martin Heckel, Parität, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, Bd. 49 (1963), S. 261 ff. 4 Vgl. z. B. Häberlin, S. 349: „Staat und Kirche sind Gesellschaften von ganz verschiedenen Zwecken. Bey der Staatsverbindung geht die Absicht auf Sicherheit und Beförderung der äußern Glückseligkeit. Bey der kirchlichen hingegen auf gemeinschaftliche Gottesverehrung"; Zachariä, S. 44, 45: „Die Sphäre des Staats, umfaßt, nach idealer Bestimmung, alle äußern Verhältnisse des irdischen Lebens der Menschen... Verschieden vom Staate ist daher die Kirche, als die zur Pflege der Religion bestimmte organische Anstalt. Die Kirche unterscheidet sich wesentlich vom Staate durch ihren Gegenstand (Religion), durch ihre Einsetzung oder Entstehung (göttliche Offenbarung) und durch die Art ihrer Wirksamkeit (keine Zwangsgewalt)". — Vgl. allgemein zur Säkularisierung des Staates Herbert Krüger, S. 32 ff. 5 Besonders ausführlich Wiese, S. 52 und 880 ff.; Klüber, S. 765 und 767 f. 8 Das fand seinen Ausdruck z. B. darin, daß die Summepiskopalrechte der
Kirchliche Selbständigkeit im älteren deutschen Staatskirchenrecht
11
Diese neuen Einsichten über das Wesen von Staat und Kirche führten zu einer Veränderung ihrer juristischen Zuordnung. Der erste Schritt dazu findet sich im Preußischen Allgemeinen Landrecht und bei den in seinem Geist denkenden Autoren. Das Preußische Allgemeine Landrecht akzeptierte die Religionsfreiheit des Einzelnen7 und folgerte daraus das Recht auf private Religionsübung ohne vorherige Genehmigung8. Erlaubt war auch der Zusammenschluß zu Religionsgesellschaften, jedoch nur — und das war das juristische Einfallstor für die bestehenbleibenden Rechte des Staates — mit staatlicher Genehmigung9, mit deren Hilfe der Staat sein „ius reformandi", das Recht auf Zulassung oder Nichtzulassung einer Religonsgesellschaft auf seinem Territorium, ausübte10. Nur die private Religionsausübung war also, folgend aus der Religionsfreiheit, „Angelegenheit des Menschen und nicht des Bürgers" 11 . Wo hingegen die Einzelnen dem Staat als Verband gegenübertraten, machte jener als oberster Verband seines Herrschaftsbereichs diejenigen Hoheitsrechte, die er allen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen gegenüber in Anspruch nahm, auch hinsichtlich der Kirchen geltend. „Allgemein ist das Recht der einzelnen Bürger, religiöse Gesellschaften zu errichten ein Recht der natürlichen Freiheit . . . Alleine da im Staat nur die höchste Gewalt allein independent, alle Andere im Staat befindliche Gegenstände ihr untergeordnet seyn müssen, Alles ihrer vorsorgenden Oberaufsicht unterworfen seyn muß; so müssen auch alle Arten der gesellschaftlichen Verbindungen dieser subordinirt sein . . . Der Staat existirte früher als die Kirche; nur die äußere Sicherheit, welche jener gewährte, machte die Errichtung von dieser möglich. Es widerspricht der Idee einer höchsten Gewalt, irgendeine höhere anzuerkennen . . . Nein, die Kirche existirt im Staat, ist subordinirt, existirt nur mit Bewilligung des Staats" 12 . Staat und Kirche sind also als zwei verschiedene Gesellschaften zu denken, „von denen aber die Kirche im Staat existirt, nur einen Theil desselben ausmacht"18. Landesherren in bezug auf die evangelischen Kirchen nunmehr als von der Kirchengesellschaft auf den Landesherrn übertragene Rechte konstruiert wurden; vgl. Häberlin, S. 424 ff.; Svarez, S. 56 ff.; Wiese, S. 167. 7 Vgl. oben Anm. 2. 8 So war es nach dem 11. Titel, § 7 des Allgemeinen Landrechts jedem Hausvater gestattet, seinen häuslichen Gottesdienst „nach Gutbefinden" anzuordnen. • Preußisches Allgemeines Landrecht, 11. Titel § 10; vgl. auch Svarez, S. 55. " Wiese, S. 131 ff.; Eichhorn, S. 551 ff. 11 Häberlin, S. 350. 11 Wiese, S. 124. Vgl. auch Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat, 1789 - 1835,1. Teilband S. 121 f. 18 Wiese, S. 136.
12
Einleitung
Die Kirche war demnach in ihrer rechtlichen Existenz als „Gesellschaft" Schöpfung des Staates, nur durch ihn konnte sie rechtliche Existenz erlangen: „Erst durch die Bestätigung von Seiten der höchsten Gewalt wird eine Gesellschaft zur moralischen Person im Staat, die also gewisser Rechte und Verbindlichkeiten fähig wird. Ohne Vorwißen und Bewilligung der höchsten Gewalt muß jede Gesellschaft durchaus als nicht existirend betrachtet werden 14 ." Aus dieser allgemeinen Oberhoheit des Staates über die Religionsgesellschaften folgte sein Recht zur Oberaufsicht über ihr Leben 15 . Dieses äußerte sich schon bei Prüfung der Zulassung der Religionsgesellschaft, bei der der Staat Aufschluß über Grundsätze und den Zweck der Religionsgesellschaften verlangen konnte 16 , und erstreckte sich bei der genehmigten Religionsgesellschaft auf deren gesamtes Leben, mit der Grenze des Staatszwecks freilich: Dieses Aufsichtsrecht war gerichtet „vorzüglich auf Erhaltung der Staatsverbindung und Beförderung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit, durch Entfernung alles dessen, was ein Hinderniß, oder Störung werden könnte" 17 . Es erstreckte sich also nur auf jene Äußerungen des kirchlichen Lebens, die nach außen wirkten, war „ius circa sacra" zum Unterschied von den „iura in sacra", die der Kirche als „Kollegialrecht" zustanden18. Rechtstechnisch wurde es verwirklicht durch Erteilung oder Verweigerung des „Placet" 19 zu den kirchlichen Amtshandlungen. Dieses wirkte aber nur verneinend, nicht so, daß es den Kirchen ein bestimmtes Verhalten positiv vorschrieb 20. Die staatlichen Rechte hinsichtlich der Kirchen äußerten sich ferner in Schutz- und Schirmrechten über die Kirche (ius advocatiae ecclesiasticae)21. 14 Wiese , S. 137. - Vgl. auch Eichhorn , S. 556 ff.; Klüber, S. 750: „Als Gesellschaft bedarf eine Kirche zu ihrem rechtlichen Dasein in dem Staat der Bewilligung der Staatsregierung." 15 Vgl. Wiese , S. 149 ff.; Svarez , S. 51 ff. und 501 ff.; Eichhorn , S. 550 ff.; Klüber , S. 750, 765 ff. 16 Wiese , S. 137 ff. 17 Wiese , S. 149, vgl. auch Klüber , S. 765 ff. und Svarez , S. 52 ff., 352 ff. und 506 ff. 18 Vgl. zu diesen Begriffen Johannes Heckel, Festschrift für Ulrich Stutz zum 70. Geburtstag, S. 224 ff. 19 Klüber , S. 783; Wiese , S. 149 ff. 20 Svarez , S. 53 und 506 ff.: „Der Staat kann einer Gesellschaft nie vorschreiben, was sie tun, er kann ihr nur befehlen, was sie unterlassen soll" (S. 506). 21 Vgl. Klüber, S. 786 f.; Wiese , S. 155 ff. - Dieses Recht umfaßte einerseits den Schutz, den der Staat der Kirche als solcher, z. B. mit Hilfe seines Strafrechts, gewährte, aber auch den Schutz seiner eigenen staatlichen Angelegenheiten vor Rechtshandlungen der Kirche: „Vermöge dieses Rechts ist die höchste Gewalt berechtigt, wirksam dafür zu sorgen, daß dem Staat aus der kirchlichen Gesellschaft kein Nachteil erwachse. Es erstreckt sich dieses Recht also auf alle Personen, Rechte, Güter und Handlungen der kirchlichen Gesell-
Kirchliche Selbständigkeit im älteren deutschen Staatskirchenrecht
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Die drei aufgeführten Befugnisse des Staates über die Kirche wurden unter dem Begriff der Kirchenhoheit 22 zusammengefaßt, die dem Staat als solchem ohne besondere Verleihung zuerkannt wurde. I I I . Die staatliche Kirchenhoheit blieb auch im 19. Jahrhundert Grundprinzip des Staatskirchenrechts. Sie erfuhr jedoch gegenüber dem früheren Rechtszustand eine nicht unerhebliche Modifikation. Hatten sich bisher die Grenzen der staatlichen Kirchenhoheit vor allem aus der Religions- und Glaubensfreiheit des Individuums ergeben, die auf die Kirchen nur insofern zurückwirkte, als diese der Zusammenschluß der die Religionsfreiheit innehabenden Individuen waren, so setzte sich jetzt mehr und mehr die Vorstellung durch, daß die Kirchen selbst Träger eines Rechts auf Freiheit vom Staat waren. Dies beruhte vor allem auf der in verstärktem Maße akzeptierten Erkenntnis der Wesensverschiedenheit staatlicher und kirchlicher Aufgaben 28 . Dies veranlaßte den Staat, nicht mehr nur individuelle Religionsfreiheit zu gewähren, sondern darüber hinaus den Kirchen das Recht einzuräumen, die auf Kultus und Glauben bezogenen Angelegenheiten selbst zu ordnen. Zur Besorgung dieser Angelegenheiten wurde den Kirchen Autonomie gewährt 24 . Dieser neue Grundsatz fand insbesondere Eingang in die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts 25 : zunächst in die Landesverfassungen des Frühkonstitutionalismus 26, sodann, nachdem die Frankfurter Reichsverfassung von 184927 ihn aufgenommen hatte, auch in die übrigen Länderverfassungen, unter denen besonders die preußische Verfassung von 185028 zu nennen ist. schaft. Vorzüglich aber äußert es sich in thätiger Anwendung der Gesetze bei der kirchlichen Gesellschaft, also was damit gleichbedeutend ist, in Ausübung der Jurisdiction... Nach allgemeinen Grundsätzen (hat) die höchste Gewalt völlige Gerichtsbarkeit über die kirchliche Gesellschaft, soweit ihre geistige Natur und Zweck keine Ausname heischen. Denn freilich in Glaubens- und Gewißenssachen ist jede Gewalt unmöglich, mithin jede Anmaßung einer Gerichtsbarkeit ridikül" (Wiese, S. 156 f.). 22 Wiese, S. 125, nennt diese Befugnisse das „landesherrliche Recht in A n sehung der Religion (ius circa sacra territoriale)"; vgl. auch Ebers, S. 39 ff.; E. R. Huber, Bd. I , S. 396 f. 23 Vgl. hierzu Herbert Krüger, S. 32 ff. und E. R. Huber, Bd. I, S. 395. 24 Vgl. dazu allgemein E. R. Huber, Bd. I, S. 395 ff. 25 Vgl. dazu die Sammlung von Zachariä, Die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, 1855. 26 Vgl. etwa Titel I V , § 9 Abs. 5 der bayrischen Verfassungsurkunde von 1818; § 71 der württembergischen Verfassungsurkunde von 1819; § 57 I I der sächsischen Verfassungsurkunde von 1831. 27 Vgl. § 147: „Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen." 28 Art. 15 lautete in der ursprünglichen Fassung: „Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, so wie jede andere Religionsgesellschaft, ordnet
14
Einleitung
Diese Autonomie der Kardien wurde in der Rechtslehre allgemein akzeptiert 29 . Dies bedeutete jedoch keine volle Verselbständigung der Kardien. Diese blieben vielmehr gerade auf Grund der ihnen gewährten Autonomie der Staatsgewalt grundsätzlich ebenso unterworfen wie jede andere Gesellschaf t im Staat 30 . Die Kirchenhoheit blieb als „ins maiestaticum circa sacra" erhalten. Sie wurde aber nicht mehr als besonderes Recht des Staates hinsichtlich der Kirchen betrachtet, sondern als Anwendung der allgemeinen Hoheitsgewalt des Staates über die Verbände seines Territoriums auf die Kirchen 31 . Sie stellte ein Oberaufsichtsrecht des Staates über die Kirchen dar, das sich im Recht der Zulassung der Kirchen, im Recht, von allem, was in der Kirche vor sich ging, Kenntnis zu nehmen und repressiv einzugreifen, und in gewissen historischen Schutzrechten äußerte 32 . Diese Konstruktion führte im Ergebnis zu einer Doppelstellung der Kirchen im Staat 33 . Die Kirchen waren einerseits wie alle Verbände der staatlichen Hoheit in Form der Kirchenhoheit unterworfen. Sie waren kein souveräner Verband 34 , nicht „status in statu" 35 , sondern rechtlich vom Staat abhängig, weil sie von ihm die „lex ihres Daseins" erhielten 36 . Ihnen stand andererseits ein Eigenbereich zu der zwar formell in den Zusammenhang des staatlichen Rechts eingefügt wurde, dem aber nie verloren ging, daß er in seinen Inhalten nicht vom Staat, sondern von den Kirchen stammte 37 , so daß den Kirchen — solange der Staat an dieser Sicht der kirchlichen Dinge festhielt — die Selbständigkeit in diesem Eigenbereich und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultur-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds." 29 Vgl. Kluber , S. 767, Maurenbrecher, S. 415 ff., besonders S. 418, Anm. h; Zoepfl, S. 833 ff.; Haenel, S. 151; v. Schulze-Gaevernitz, S. 456. 30 Vgl. Klüber, S. 763; Maurenbrecher, S. 415; Zoepfl, S. 831 ff.; v. SchulzeGaevernitz, S. 456 und 479 ff. 81 Maurenbrecher, S. 415; Zoepfl, S. 833. 32 Vgl. die Darstellungen bei Klüber, S. 765 ff.; Maurenbrecher, S. 419 ff.; Zoepfl, S. 857 ff. Ferner E. R. Huber, Bd. 4, S. 649 f. 88 Ernst Rudolf Huber spricht von einem „Doppelstatus" in der Rechtsstellung der drei christlichen Hauptkonfessionen: Sie seien dem Staat im Bereich ihrer Autonomie, d. h. der geistlichen Angelegenheiten, koordiniert gewesen, in dem darüber hinausgehenden Bereich dem Staat subordiniert (Bd. I, S. 400). 84 Zoepfl, S. 13. 85 Zoepfl, S. 14. 86 Zoepfl, S. 14. 87 Man versuchte teilweise auch im 19. Jahrhundert die Kirchengewalt naturrechtlich als Kollegialgewalt der Kirchen zu konstruieren, vgl. etwa Klüber, S. 767, Zoepfl, S. 833.
Kirchliche Selbständigkeit im älteren deutschen Staatskirchenrecht
15
auch nicht genommen werden konnte 38 . Dies unterschied die Kirchen von allen anderen der Hoheitsgewalt des Staates unterstellten Verbänden, weshalb sie von Maurenbrecher auch als die „privilegiertesten Korporationen" bezeichnet wurden 89 . Audi Haenel betonte, daß die Kirchen weder den Gruppen der Selbstverwaltung noch den freien Vereinen zuzuordnen seien: nicht der Selbstverwaltung, weil die Kirchen nicht Zwecke der staatlichen Verwaltung wahrnähmen; nicht dem freien Vereinswesen, weil der Staat, anders als bei den Vereinen, keine Anforderungen an die innere Organisation der Kirchen stelle und weil die Kirchen wegen ihrer sich nach dogmatischen Maßstäben richtenden Lebensformen nicht allseitig der staatlichen Jurisdiktion unterworfen seien40. Der Rechtsstatus der Kirchen im Staat wurde folglich dahin beschrieben, daß er bestimmt sei sowohl von der staatlichen Kirchenhoheit wie von der Selbständigkeit der Kirchen 41 . Diese zwei Seiten des kirchlichen Rechtsstatus werden auch von Anschütz in seiner Interpretation des Art. 15 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850 herausgearbeitet 42. Er legt großen Nachdruck auf die Wesensverschiedenheit von Staat und Kirche: „Staat und Kirche sind getrennt, subjektiv und objektiv, das heißt als Wesen und im Wirkungskreise. Sie sind nicht Eines, sondern Zwei, zwei Gemeinwesen mit verschiedenen Wirkungskreisen 43 ." Die Kirche ist deshalb in keinem Sinn „Staatsteil": „Das verfassungsmäßige Verhältnis der Religionsgemeinschaften zum Staat ist nicht Gliedstellung, nicht Organschaft im Staat, der religionsgesellschaftliche Wirkungskreis nicht Stück, sondern Gegenstück des staatlichen Wirkungskreises 44." Deshalb sei die Kirche auch nicht öffentlich-rechtliche Korporation wie die Gemeinde 45 . Nach diesem System der Unterscheidung von Staat und Kirche (nicht der Trennung) 46 sei die Kirche frei und dürfe ihre Angelegenheiten selbständig ordnen, sei der sie ordnende Wille „ihr Wille, d. h. . . . nicht Staatswille, sondern ein von der Staatsgewalt verschiedener Wille" 4 7 . Aber Staat und Kirche seien dadurch nicht in ein Verhältnis von gleich zu gleich gestellt 48 , es 38 So konnte man davon sprechen, daß die Kirchen ein Recht auf Anerkennung der Autonomie hätten, vgl. Zoepfl, S. 14. 99 Maurenbrecher, S. 416. 40 Haenel, S. 151 ff.; ähnlich r . Schulze-Gaevernitz, S. 456 und 476. 41 v. Schulze-Gaevernitz, S. 350. 42 Vgl. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 282 ff. Zu Art. 15 der Preußischen Verfassungsurkunde vgl. auch E. R. Huber, Bd. I I I , S. 116. 43 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 300. 44 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 300. 45 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 300 - 301. 46 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 299. 47 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 304. 48 Anschütz , Verfassungsurkunde, S. 305.
16
Einleitung
herrsche zwischen ihnen keine Koordination 49 : „Der Satz, daß alle Freiheit rechtlich, also staatlich beschränkte Freiheit ist, macht vor dem religionsgesellschaftlichen Selbstbestimmungsrecht des Art. 15 nicht halt: Was »Angelegenheit4, was ,ordnen und verwalten', was »selbständig1 ist im Sinne des Artikels, wird durch die Staatsgesetze bestimmt und begrenzt. Die Freiheit des Art. 15 ist zu verstehen vorbehaltlich der Staatsgesetze und der durch diese Gesetze näher zu regelnden Staatsaufsicht 50." Deshalb sei, trotz aller Verschiedenheit von Staat und Kirche, ihre Trennung nur eine relative: Zwischen ihnen gebe es als Bindeglied „die in Aufsicht und Schutz sich betätigende, aber nicht allen Religionsgesellschaften gegenüber sich gleichmäßig betätigende, sondern sie unterschiedlich behandelnde Staatskirchenhoheit" 51. Insbesondere die Regelung der Rechtssubjektivität der Religionsgesellschaften sei „ausschließlich eine Frage des staatlichen, nicht des kirchlichen Rechts, sie ist zu beantworten nach Maßgabe der Staatsgesetze"52; „die Fragen nach dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein, nach der juristischen Qualifikation der kirchlichen Rechtspersönlichkeit... sind solche, für deren Regelung die Staatsgesetzgebung ausschließlich zuständig, die den Religionsgesellschaften durch Art. 15 eingeräumte Autonomie schlechthin unzuständig ist" 58 . Die soeben beschriebene rechtliche Unterordnung der Kirchen unter den Staat bestimmte auch die Lösung der Frage, welchem Rechtsbereich das Kirchenrecht zuzuordnen ist. Zwar erhoben sich schon früh Stimmen, die dafür eintraten, daß das Kirchenrecht einen eigenen Rechtskreis bildet 54 . I n einem Rechtssystem jedoch, das grundsätzlich von der Einfügung der Kirche unter die übrigen autonomen Verbände des Staates ausging, konnten sich diese Tendenzen nicht durchsetzen. So blieb das Kirchenrecht, soweit es der autonomen Rechtssetzung durch die Kirchen 49
Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 294,297. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 305. 51 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 301. 52 Anschütz , Verfassungsurkunde, S. 313. 53 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 313/314. 54 Vgl. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 27 f.: „Vom rein weltlichen Standpunkt aus erscheint die Kirche wie jede andere Gesellschaft, und so wie andere Corporationen theils im Staatsrecht, theils im Privatrecht, ihre abhängige, untergeordnete Stellung erhalten, könnte man eine solche auch der Kirche anweisen wollen. Ihre, das innerste Wesen des Menschen beherrschende, Wichtigkeit läßt jedoch diese Behandlung nicht z u . . . Wir können die verschiedenen christlichen Kirchen nur betrachten als neben dem Staate, aber in mannichf altiger und inniger Berührung mit demselben, stehend. Daher ist uns das Kirchenrecht ein für sich bestehendes Rechtsgebiet, das weder dem öffentlichen noch dem Privatrecht untergeordnet werden darf." Ebenso Zachariä, S. 2; Frantz, S. 2. Für eine gewisse Verselbständigung des Kirchenrechts auch Stutz, in: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, begr. durch von Holtzendorff, hrsg. von Kohler, 7., der Neubearbeitung 2. Auflage, 5 Bd. 1914, S. 391 f. 50
Kirchliche Selbständigkeit im älteren deutschen Staatskirchenrecht
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entstammte, Teil des staatlichen Rechts, innerhalb dessen es wegen der Rechtsstellung der Kirchen als öffentlich-rechtliche Körperschaften dem öffentlichen Recht zugewiesen wurde 55 . Daneben wurde innerhalb des Bereichs, den zu regeln der Staat sich vorbehielt, die Existenz eines direkt vom Staat stammenden Kirchenrechts angenommen56. Aus dieser rechtssystematischen Einordnung des Kirchenrechts ergab sich seine Unterordnung unter das staatliche Recht: „Kirchliche Ordnungen, welche dem staatlichen Recht widersprechen, sind nichtig 57 ." IV. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 änderte das alte System des Staatskirchenrechts zwar dadurch, daß sie ihren staatskirchenrechtlichen Bestimmungen den Satz „Es besteht keine Staatskirche" (Art. 137, Abs. 1) voranstellte und so dem alten Landeskirchentum den Boden entzog. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV nahm aber die traditionellen Formeln des 19. Jahrhunderts wieder auf: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes58." Es überrascht deshalb nicht, daß diese Vorschrift von der herrschenden Auffassung im Sinn der überkommenen Lehren ausgelegt wurde. Danach waren Staat und Kirche zwar verschieden, so daß dem Staat die Leitung der Kirche untersagt war. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften aber „ist . . . keine souveräne Gewalt. Die Kirche ist auch nach heutigem Staatsrecht ein innerstaatlicher, dem Staat untergeordneter Verband, kein Staat im Staate" 59 . Das „Ordnen und Verwalten" sei an sich privatrechtliche Betätigung, werde aber durch den Staat ins öffentliche Recht erhoben 60, so daß die gesamte innere Ordnung der Kirchen öffentliches Recht darstelle 81 . Es blieb nach dieser Lehre also beim alten Doppelstatus der Kirchen, der sich zwischen den beiden Polen der Selbständigkeit und der Ein55 Vgl. Richter-Dove-Kahl, S. 7; Friedberg , S. 2. Vgl. auch Anschütz , Verfassungsurkunde, S. 305 f.: Das „Ordnen und Verwalten" der Kirche sei grundsätzlich eine rein privatrechtliche Tätigkeit: „Ordnen und verwalten heißt nicht befehlen und zwingen in den Formen und mit den Mitteln des öffentlichen Rechts, sondern Willenserklärungen abgeben und Geschäfte besorgen in den Formen und mit den Mitteln des Privatrechts." Diese an sich privatrechtliche Tätigkeit der Kirchen sei jedoch durch den Staat in die Sphäre des öffentlichen Rechts erhoben worden. 56 Vgl. Zorn, S. 7 f.; Friedberg, S. 2. 57 Vgl. Zorn, S. 422. — Zum Problem des Rangverhältnisses von staatlichen Gesetzen und kirchlichem Recht während des Kulturkampfes vgl. E. R. Huber, Bd. 4, S. 820. 58 Vgl. den oben Anm. 27 zitierten Art. 147 der Frankfurter Reichsverfassung von 1849. 59 Vgl. Anschütz, WRV, S. 634 f. 80 Vgl. Anschütz, WRV, S. 635. 61 Vgl. Anschütz , W R V , S. 645.
2 Jurina
18
Einleitung
fügung in den Staat bewegte 62 . So verbarg sich „in der äußeren Form des Systems der Trennung . . . inhaltlich das bisherige System der Staatskirchenhoheit mit verminderter staatlicher Kirchenhoheit und vermehrter kirchlicher Selbstverwaltung" 68 . Eine von den überkommenen Lehren abweichende Interpretation des Art. 137 Abs. 3 WRV wurde von Ebers im Jahre 1930 vertreten. Nach seiner Auffassung war die Rechtsetzungsgewalt der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft nicht Autonomie. Dieses Rechtsinstitut sei auf die Kirchen nicht anwendbar, da sie keine staatlichen Aufgaben mehr zu erfüllen hätten und deshalb auch keine öffentlich-rechtlichen Körperschaften im eigentlichen Sinne seien: „Ihre Herrschaftsgewalt ist eine ursprüngliche Gewalt und steht ihnen zu eigenem Recht zu. Die Erhebung zur öffentlich-rechtlichen Korporation hat für sie nicht konstitutive, sondern affirmative Bedeutung, ist nicht Verleihung, sondern nur Anerkennung dieser Herrschaftsgewalt; ihnen wird die Herrschafts- und damit Gesetzgebungsgewalt nicht erst verliehen, sondern allein für den Bereich des Staates anerkannt 64 ." Diese von der herrschenden Meinung abweichende Auffassung konnte auf die Auslegung des Staatskirchenrechts der Weimarer Reichsverfassung jedoch schon deshalb keinen besonderen Einfluß ausüben, weil diese bald nach Erscheinen des Buchs von Ebers durch das nationalsozialistische Regime abgelöst wurde 65 .
M Das wurde mit besonderem Nachdruck von Holstein , AöR N.F. Bd. 13, S. 153 ff., herausgearbeitet. Ä8 So Koeniger-Giese, S. 247 f. Vgl. ferner den Überblick über das Weimarer Staatskirchenrecht bei Giese, Das kirchenpolitische System der Weimarer Verfassung, AöR N.F. 7. Band (1924), S. 1 ff. 64 Vgl. Ebers, S. 256. 65 Zum Staatskirchenrecht nach 1933 vgl. E. R. Huber, Verfassung, S. 314 ff.
ERSTER T E I L
Art. 140 G G / 1 3 7 Abs. 3 W R V nach herrschender Lehre und Praxis Auch das geltende Staatskirchenrecht muß die Frage beantworten, in welchem Umfang der Staat seine Hoheitsgewalt auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften erstredten kann. Dabei bleibt das Grundproblem dasselbe wie im 19. Jahrhundert: Auch heute kann der Staat nicht übersehen, daß die Kirchen und Religionsgemeinschaften einen religiös geprägten Eigenbereich besitzen, der nur auf der Grundlage des Selbstverständnisses der jeweiligen Konfession, nicht aber mit Hilfe der Grundvorstellungen und Kategorien der weltlichen Ordnung zu erfassen ist. Heute wie früher ergibt sich somit für den Staat die Notwendigkeit, einer mehr oder weniger weit gehenden Verselbständigung dieses Eigenbereichs der Kirchen und Religionsgemeinschaften zuzustimmen. Andererseits sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften, obzwar mit besonderen Eigenarten ausgestattet, doch innerhalb des Staates existierende, eine „weltliche" Seite besitzende Organisationserscheinungen, die der Staat wegen seiner Verantwortung für das weltliche Gemeinwesen nicht in jeder Hinsicht aus seinem Zuständigkeitsbereich entlassen kann, die er vielmehr in irgendeiner Form ins staatliche Recht einfügen muß. Die Regelung dieser Problematik für das geltende Staatskirchenrecht findet sich in dem durch Art. 140 GG ins Grundgesetz übernommenen Art. 137 Abs. 3 WRV: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde." Der Auslegung dieser Vorschrift dienen die Ausführungen dieser Untersuchung.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis Erstes
Kapitel
Die Auslegung von Art. 1 4 0 GG / 1 3 7 Abs. 3 W R V naeh herrschender Auffassung Wie am Ende des rechtshistorischen Überblicks ausgeführt wurde, war es das Bestreben der herrschenden Auffassung der Weimarer Zeit, bei der Auslegung von Art. 137 Abs. 3 WRV die umfassende Zuständigkeit des Staates zur rechtlichen Ordnung aller Lebenserscheinungen auf seinem Territorium möglichst ungeschmälert zu erhalten. So wurde den Religionsgesellschaften zwar jene Freiheit vom Staat zuerkannt, die angesichts des Wortlauts von Art. 137 Abs. 3 WRV notwendigerweise gewährt werden mußte, gleichzeitig jedoch streng darauf geachtet, daß die grundsätzliche Unterordnung der Religionsgesellschaften unter den Staat unangetastet blieb. Es kennzeichnet demgegenüber die herrschende Auffassung im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik, daß die geistliche Eigenart der Kirchen und Religionsgemeinschaften in bisher nicht gekannter Weise in den Vordergrund gestellt wird. Sie stellt den maßgeblichen Ausgangspunkt für die rechtliche Bewertung des kirchlichen Eigenbereichs im geltenden Staatskirchenrecht dar. I. Diese neue Sicht des Verhältnisses von Staat und Kirche wurde durch den Text des Grundgesetzes nicht eben nahegelegt. Wie bekannt, wurden in dieses keine neuen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen aufgenommen, sondern die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung mittels Art. 140 GG inkorporiert. Es hätte daher nicht überrascht, wenn die Auslegung dieser Vorschriften die in der Weimarer Zeit herrschenden Prinzipien übernommen hätte. Die staatskirchenrechtliche Literatur und — mit zeitlicher Verzögerung — auch die staatskirchenrechtliche Praxis der Bundesrepublik ist jedoch einen anderen Weg gegangen. Sie hat sich dabei von der von Smend im Jahre 1951 programmatisch entwickelten These leiten lassen, die eine gegenüber der Weimarer Zeit veränderte Auslegung der ins Grundgesetz übernommenen Bestimmungen für unabdingbar hielt: „Unwiderruflich und unübersehbar ist das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland mit dem Dritten Reich in eine neue Phase eingetreten. Nur der Bonner Gesetzgeber hat es nicht bemerkt oder gemeint, in der notgedrungenen Kompromißformel des Bonner Grundgesetzes darüber hinweggehen zu können . . . Aber wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe1." 1
Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 4.
1. Kap.: Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V
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I I . D i e heute herrschende Auffassung unterscheidet bei der Auslegung von A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V zwischen den großen Kirchen u n d den übrigen kleineren Religionsgemeinschaften. 1. D i e Aussagen zur Rechtsstellung der großen Kirchen lassen sich w i e folgt zusammenfassen: a) D i e schon unter der W e i m a r e r Verfassung teilweise bestrittene besondere Kirchenhoheit des Staates ist weggefallen, m i t i h r die grundsätzliche Unterordnung der Kirchen unter den Staat 2 . b) D i e i n A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V den Kirchen zuerkannte M ö g lichkeit, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen u n d zu verwalten, bedeutet, daß die Kirchen als Träger einer originären, nicht v o m Staat stammenden Herrschaftsgewalt anerkannt werden, die sie zur Hervorbringung einer eigenen, i n ihrer Geltung nicht v o m Staat abhängigen Rechtsordnung befähigt 3 . Hieraus w u r d e vielfach weiter gefolgert, daß die Kirchen als ein dem Staat gleichgeordnetes, gleichrangiges, i h m koordiniertes Gemeinwesen anzusehen sind 4 . c) Gleichzeitig sind die Kirchen z w a r k r a f t positiver Verfassungsvorschrift (Art. 140 GG/137 Abs. 5 W R V ) Körperschaften des öffentlichen 2 Vgl. v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 269; Fuß, DÖV1961, S. 736; Grundmann, österr. Archiv f. Kirchenrecht, Bd. 13 (1962), S. 288; Hesse, S. 77; ders., JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 23; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 921; Marré, Zeitschrift für Politik, N.F. Jg. 12 (1966), S. 388; Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 169 f.; Peters, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 187 f.; Scheuner, ZevKR Bd. 6 (1957/58), S. 9; ders., ZevKR Bd. 7 (1959/60), S. 254. 3 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, Rdnr. 39 zu Art. 19 Abs. 3; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 329 f.; Fuß, D Ö V 1961, S. 737; Grundmann, Bayerische Verwaltungsblätter 1962, S. 34; ders., österr. Archiv f. Kirchenrecht, Bd. 13 (1962), S. 190; M. Heckel, ZevKR Bd. 12 (1966/67), S. 34 f., Anm. 7; Hesse, S. 60 ff.; ders., JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 25; ders., ZevKR Bd. 11 (1964/65), S. 340 f., 356; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 921; Hollerbach, S. 120; ders., Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1, S. 51; ders., W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61; Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 140, Nr. 3; Keim, S. 137; Krüger, S. 865; Liermann, österr. Archiv f. Kirchenrecht, Bd. 5 (1954), S. 220; Marré und Schlief, NJW 1965, S. 1516; Marré, Gedächtnisschrift Hans Peters, S. 305; Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 171 ff.; ders., Kirche und Staat, S. 14 f.; Obermayer, DÖV 1967, S. 13; Peters, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 187; Pirson, S. 188 ff.; ders., Festschrift für Ruppel, S. 279; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295, 319 f.; Scheuner, ZevKR Bd. 6 (1957/58), S. 9; ders., ZevKR Bd. 7 (1959/60), S. 256 ff.; ders., D Ö V 1967, S. 591; Schlief, S. 203 f.; Hermann Weber, S. 33; Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 169; Zippelius, ZevKR Bd. 9 (1962/ 63), S. 60. Aus der Rechtsprechung vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 386; Bd. 24, 248. B G H Z Bd. 12, S. 323; Bd. 22, S. 387; Bd. 34, S. 373; Bd. 46, S. 98 f. BVerwGE Bd. 7, S. 190, 193 f.; Bd. 25, S. 229; Bd. 28, S. 347; Bd. 30, S. 330 f. BSozGE Bd. 16, S. 291. 4 Vgl. vor allem Mikat, Bd. IV/1, S. 145; Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 176; Ridder, Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 1026; Hesse, JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 33 sowie die Darstellung und die Literaturhinweise bei Marré, DVB1. 1966, S. 10 ff.; ders., Gedächtnisschrift Hans Peters, S. 306, Anm. 12; Obermayer, D Ö V 1967, S. 10; Mayer, Staat und Gesellschaft, Festgabe für Günther Küchenhoff, S. 72 ff. Aus der Rechtsprechung vgl. vor allem BGHZ Bd. 34, S. 373 f.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
Rechts. Wegen der unter b) gekennzeichneten Auslegung von Artikel 140 GG/137 Abs. 3 W R V aa) bedeutet dieser Status als Körperschaft jedoch nicht, daß die Karchen dem Staat eingegliedert wären, müssen sie vielmehr als Körperschaften eigener Art betrachtet werden 6 ; bb) bewirkt die Körperschaftsstellung aber dennoch, daß die originäre kirchliche Gewalt als öffentliche Gewalt in einem weiteren Sinne zu qualifizieren ist. Das auf dieser kirchlichen Gewalt beruhende Kirchenrecht ist deshalb, obwohl eigenständig, dennoch zugleich Teil des öffentlichen Rechts®. d) Trotz des Wegfalls einer allgemeinen Karchenhoheit ist davon auszugehen, daß die Begrenzung der Freiheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften durch die „Schranken des für alle geltenden Gesetzes" fortgilt 7 . Bei der näheren Bestimmung des Inhalts dieser Schrankenformel ist jedoch darauf zu achten, daß die soeben beschriebene Unabhängigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Staat nicht grundsätzlich tangiert wird. Die hiernach notwendig werdende einschränkende Auslegung der Schrankenformel wird auf verschiedene Weise versucht. So finden sich einerseits Versuche, die auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften anwendbaren „für alle geltenden Gesetze" auf Rechtsvorschriften von besonderer Wichtigkeit zu reduzieren (vgl. insbesondere die unten beschriebene „Heckeische Formel" 8 ); andererseits wird die gewünschte Ein5 Das ist ganz herrschende Meinung. Vgl. statt aller die Darstellung sowie die Literaturhinweise bei Hermann Weber, S. 56 ff.; sowie BVerfGE Bd. 18, S. 386 f. • So vor allem BVerfGE Bd. 18, S. 387; BVerwGE Bd. 25, 229; ferner v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 266; Fuß, DÖV 1961, S. 738; Marré und Schlief, NJW 1965, S. 1514; Marré, Zeitschrift für Politik, N.F. Jg. 12 (1966), S. 389 ff.; Peters, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 187; Schlief, S. 183; Hans Schneider, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 661 f.; Stern, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1390; H. J. Wolff, Bd. I , S. 298. Diese Ansicht findet jedoch immer mehr Gegner, vgl. unten S. 38 f. 7 Ein Außerkrafttreten der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V war von Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 140 GG, I I , 3 und dem O V G Berlin, ZevKR Bd. 3 (1954), S. 205 angenommen worden. Die ganz überwiegende Auffassung in Lehre und Schrifttum nimmt jedoch die Weitergeltung der Schrankenklausel an, vgl. v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 272; M . Hechel, S. 226; Hering, Festschrift für Jahrreiss, S. 88; Hesse, S. 71 f.; ders., JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 26; Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 177; Scheuner, ZevKR Bd. 7 (1959/60), S. 257, 269; ders., D Ö V 1966, S. 145, Anm. 4; Hermann Weber, S. 35; implicite auch Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61 f.; Quaritsch, Der Staat, S. 291 ff. A u d i die Rechtsprechung bejaht implicite die Fortgeltung der Schrankenklausel, vgl. z.B. BVerfGE Bd. 18, S. 388; BGHZ Bd. 22, S. 387; B G H Z Bd. 34, S. 374. 8 Vgl. J. Heckel, Verwaltungsarchiv, Bd. 37 (1932), S. 284 und die Fortführung dieser Formel durch den Bundesgerichtshof in BGHZ Bd. 22, S. 387 und B G H Z Bd. 34, S. 374. Näheres unten S. 42 f.
1. Kap.: Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV
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schränkung dadurch erreicht, daß nur bestimmte Arten des Handelns von Kirchen und Religionsgemeinschaften als an staatliches Recht gebunden betrachtet werden (so insbesondere die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts9). 2. Nach Ansicht vieler Vertreter der herrschenden Lehre unterscheidet sich dagegen der den kleineren Religionsgemeinschaften gem. Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV zukommende Rechtsstatus nicht von ihrer Rechtsstellung unter der Weimarer Verfassung. Sie besitzen daher zwar wie die Kirchen das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig rechtlich zu regeln. Dies geschieht aber nicht auf Grund originärer Rechtsetzungsgewalt, sondern mit Hilfe einer vom Staat verliehenen Befugnis, die — je nach der Art der Rechtssubjektivität dieser Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht — entweder privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Verbandsgewalt ist. Somit bleiben diese Religionsgemeinschaften — im Rahmen der ausdrücklich durch die Verfassung gewährten Freiheiten — dem Staat ebenso untergeordnet wie andere Vereinigungen oder Korporationen auf staatlichem Territorium 10 . I I I . Die zentrale Aussage dieser gegenüber der Weimarer Zeit neuen Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V ist in dem Satz enthalten, daß die großen Kirchen im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten originäre Rechtsetzungsmacht besitzen, die sie zur Hervorbringung einer vom staatlichen Recht unterschiedenen, eigenen Rechtsordnung befähigt. In ihrem Internbereich leben die Kirchen demnach gemäß eigenem Kirchenrecht, das weder in seinem Entstehen noch in seinem Bestand von staatlicher, auf die Kirchen übertragener Rechtsetzungsgewalt abhängig ist. Für diese These hat sich bislang keine einheitliche Bezeichnung durchgesetzt. Man spricht vom „Selbstbestimmungsrecht" der Kirchen 11 , von ihrer originären Selbständigkeit 12 , von ihrer „Autonomie" 18 , sogar ausdrücklich von der kirchlichen Autonomie, „die nicht aus seiner (sc. des Staates) Verleihung abgeleitet ist" 14 . 9
BVerfGE Bd. 18, S. 388. Näheres unten S. 45 f. Vgl. vor allem Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 167 f.; Hesse, ZevKR Bd. 3 (1953/54), S. 193; Peters, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 187; für grundsätzliche Unterschiede im allgemeinen staatskirchenrechtlichen Rechtsstatus auch J. Heckel, Festschrift für Smend, 1952, S. 108 f.; Smend, ZevKR Bd. 2 (1952), S. 374 ff.; Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 172; Ridder, Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 1030. — Allgemein zum (umfassenderen) Problem der Parität MayerScheu, Grundgesetz und Parität von Kirchen und Religionsgemeinschaften. 11 Vgl. etwa Hesse, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 922; Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 171 ff.; M . Heckel, S. 225; ders., W d S t R L Heft 26 (1968), S. 40; BGHZ Bd. 46, S. 98; BVerfGE Bd. 18, S. 386. 11 BVerwGE Bd. 7, S. 190. 18 BGHZ Bd. 34, S. 373; B G H Z Bd. 46, S. 101. 14 BSozGE Bd. 16, S. 291. 10
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
Diese Arbeit wird für die beschriebene These in Übereinstimmung mit anderen Autoren 15 , einigen Äußerungen der Rechtsprechung16 und insbesondere den evangelischen Karchenverträgen der Nachkriegszeit 17 den Begriff der „Eigenständigkeit der Kirchen" verwenden. Es handelt sich dabei um den Gegenbegriff zur Lehre von der „Autonomie der Kirchen": Autonomie meint verliehene Rechtsetzungsmacht, Eigenständigkeit meint originäre Rechtsetzungsmacht. Autonomes Recht verbleibt im Gesamtzusammenhang des staatlichen Rechts, eigenständiges Recht steht unabhängig neben dem staatlichen Recht.
Zweites Kapitel
Kritische Würdigung der herrschenden Auffassung Die Lehre von der Eigenständigkeit der Kirchen, die im Zentrum der Aussagen der h. L. zu Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV steht, übertrifft alle bislang unternommenen Versuche, die Freiheit der Kirchen gegenüber dem Staat rechtlich zu sichern. Insbesondere in ihrer Fortentwicklung zur Lehre von der Koordination von Staat und Kirche führt sie zu einer völligen Abkehr von den überkommenen Prinzipien des deutschen Staatskirchenrechts. Es kann angesichts dessen nur verwundern, daß diese neuen Lehren in Literatur und Rechtsprechung zunächst widerspruchslos akzeptiert wurden und das aus ihnen gefolgerte staatskirchenrechtliche System geraume Zeit hindurch unangefochten in Geltung stand. Dies hat sich erst in neuerer Zeit geändert. Es ist einerseits grundsätzliche Kritik an der herrschenden Auffassung geäußert worden 18 . Mit besonderem Interesse muß aber vermerkt werden, daß auch Autoren, die grundsätzlich auf dem Boden der herrschenden Auffassung stehen, zu einer Überprüfung der bislang unangefochtenen Thesen auffordern. So betonte Scheuner schon im Jahre 1963, es erscheine die Zeit gekommen, „die für die westdeutschen Verhältnisse entwickelten Vorstellungen und Grundformeln von der Relation Kirche 15 Vgl. etwa Mikat, Kirche und Staat, S. 14 f.; Hesse, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 921; Höllerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61. 18 Etwa BVerfGE Bd. 18, S. 386; BVerwGE Bd. 25, S. 228 f. 17 Vgl. die Präambeln zum Niedersächsischen Evangelischen Kirchenvertrag, zum Rheinland-Pfälzischen Evangelischen Kirchenvertrag, zum Evangelischen Kirchenvertrag Schleswig-Holsteins und zum Hessischen Evangelischen K i r chenvertrag, sämtliche abgedruckt bei Hermann Weber, Staatskirchenverträge, Textsammlung, München 1967. 18 Vgl. etwa Fuß, DÖV 1961, S. 734 ff.; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 175 ff. und S. 289 ff.; Hermann Weber, S. 23 ff.; Obermayer, DÖV 1967, S. 9 ff.
2. Kap.: Kritische Würdigung der herrschenden Auffassung
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und Staat zu überprüfen. Der Gedanke der selbständigen Begründung kirchlicher Ordnung, unabhängig von staatlicher Verleihung und Aufsicht, und die Forderung nach Achtung der kirchlichen Autonomie wie des Wirkens der Kirchen in der Öffentlichkeit werden dabei ihre Bedeutung behalten. Aber man wird mit größerer Schärfe fragen müssen, ob das Bild des modernen säkularen Staates bisweilen nicht allzu sanfte Umrisse erhalten hat, indem der in der neuzeitlichen potestas civilis angelegte Souveränitätsanspruch übersehen wird, der auch gegenüber Gedanken der „Partnerschaft" und der „Vertragssicherung" seine ruhende Gewalt zeigen könnte" 19 . Auch Hollerbach betont, es sei heute „eine kritische Phase erreicht, in welcher Grundfiguren und Einzelprobleme unserer staatskirchenrechtlichen Ordnung neu durchdacht werden müssen"20. Dieses kritische Überdenken bislang unangefochtener Positionen kann vor den Thesen der herrschenden Lehre zum Inhalt von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nicht haltmachen. Es wird sich im folgenden zeigen, daß die herrschende Lehre insoweit zahlreiche Unklarheiten und Widersprüche enthält, die es geboten erscheinen lassen, die Frage nach der rechtlichen Bewertung des Status der Kirchen und der übrigen Religionsgemeinschaften in ihrem Internbereich durch das geltende Staatskirchenrecht neu zu stellen. A. Die Begründung der Eigenständigkeitslehre
Eine Überprüfung der Lehre von der Eigenständigkeit der Kirchen muß bei der Frage ansetzen, wie diese Lehre begründet worden ist. Dabei wird sich ergeben, daß eine tragfähige Begründung der Eigenständigkeitslehre bislang nur in Ansätzen existiert 21 . Das ist um so bedauerlicher, als, wie noch zu zeigen sein wird, die Mangelhaftigkeit der für die Eigenständigkeitslehre gegebenen Begründung zu Unklarheiten und Widersprüchen bei den aus dieser Lehre gezogenen Folgerungen führt. I. Nahezu alle Autoren, die Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Sinne der Eigenständigkeitslehre interpretieren, berufen sich dabei auf die in der Nachkriegszeit eingetretenen Veränderungen im Verhältnis von Staat und Kirche. Ein solcher Wandel in den tatsächlichen Beziehungen von Staat und Kirche hatte in der Tat stattgefunden. Er manifestierte sich zunächst darin, daß nicht mehr nur die katholische Kirche, sondern auf Grund der 19 20 21
Scheuner, ZevKR Bd. 10 (1963), S. 59. Hollerbach, AöR Bd. 92 (1967), S. 103. Ebenso schon ders., JZ 1965, S. 615. Vgl. auch die Kritik bei Quaritsch, Der Staat 1966, S. 451 ff.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
Erfahrungen des Kirchenkampfes im Dritten Reich auch die evangelischen Kirchen ihre rechtliche Unabhängigkeit vom Staat zu einem unabdingbaren Prinzip erhoben. Die so von den Kirchen gemeinsam vertretene Forderung nach der Respektierung eines eigenständigen Kirchenrechts erhielt folglich großes Gewicht. Den mit neuem Selbstbewußtsein erfüllten Kirchen trat auf der anderen Seite ein Staat gegenüber, der die Anliegen des weltlichen Gemeinwesens keineswegs selbstbewußt vertrat, der vielmehr seinen Standort neu bestimmen mußte. Insbesondere bedurfte nach dem Erlebnis einer pervertierten Staatsgewalt die staatliche Gemeinschaft einer neuen sittlichen Grundlegung, bei deren Gewinnung dem Wort der Kirchen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei kam den Kirchen auch das besondere Ansehen zustatten, das sie sich erworben hatten, als sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit Aufgaben der Daseinsvorsorge, die der zerschlagene Staat nicht mehr erfüllen konnte, mitübernahmen. A l l dies ließ die Kirchen zu einer der bedeutendsten gesellschaftlidien Mächte der Nachkriegszeit werden 22 . Die Vertreter der neuen Lehre im westdeutschen Staatskirchenrecht fühlten von vornherein die Verpflichtung, dieser neuen politischen Stellung der Kirchen auch bei der Auslegung der das Verhältnis von Staat und Kirche regelnden Verfassungsbestimmungen Rechnung zu tragen. Dies beeinflußte auch die Interpretation von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Hierbei folgten die einzelnen Autoren unterschiedlichen Erwägungen. 1. Von besonderem Einfluß waren die Arbeiten von Smend, der mit großem Nachdruck die Relevanz des neuen Selbstverständnisses der Kirchen für die Auslegung der durch Art. 140 GG ins Grundgesetz übernomenen Weimarer Kirchenartikel betonte 28 . Der Parlamentarische Rat sei zwar einer neuen staatskirchenrechtlichen Entscheidung ausgewichen und habe statt dessen lediglich die Weimarer Kirchenartikel ins Grundgesetz rezipiert. Dies ändere jedoch nichts daran, „daß angesichts der veränderten Lage der Dinge die wörtlich übernommenen Sätze der Weimarer Verfassung in der Welt der wirklichen Geltung unbeabsichtigt, aber unvermeidlich etwas anderes besagen, als früher im Zusammenhang der Weimarer Verfassung" 24. Ausschlaggebend ist dafür nach Smend die Tatsache, daß nach der inneren Entwicklung der evangelischen Kirche im Kirchenkampf des Dritten Reiches nunmehr beide Kirchen gegenüber dem Staat den aus ihrem geistlichen Auftrag stammenden und daher unabdingbaren Anspruch geltend machten, in der M Zur Veränderung der tatsächlichen Beziehungen von Staat und Kirche vgl. Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 134 ff.; Hesse, S. 36 ff. 28 Vgl. Smend, Festgabe für Otto Dibelius, S. 179 ff.; ders., ZevKR Bd. 1 (1951), S. 4 ff.; ders., JZ 1956, S. 50 ff. 24 Vgl. Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 11.
2. Kap.: Kritische Würdigung der herrschenden Auffassung
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Erfüllung ihrer kirchlichen Aufgaben frei zu sein 25 . „Wenn die Bundesrepublik unter diesen Umständen mit der Kirche . . . den vom Dritten Reich zerstörten Frieden wieder herstellt — und das bedeutet die Wiederherstellung der Weimarer Verfassungsartikel —, so erkennt sie damit den veränderten, auf letzter, unabdingbarer Nötigung beruhenden Anspruch der Kirche an. Sonst wäre der Art. 140 des Bonner Grundgesetzes keine sinnvolle, für die Kirche irgendwie annehmbare Wiederherstellung des staatskirchenpolitischen Friedens 26 ." Nachdem Staat und Kirche sich 1933 und 1934 gegenseitig das Zeitalter konstantinischer Nähe von Kirche und Staat gekündigt hätten, könne eine neue Ordnung ihres Verhältnisses „nur etwas mit der nunmehrigen grundsätzlich unabdingbaren Haltung der Kirche Vereinbares und damit allerdings etwas grundsätzlich Neues und Anderes gegenüber der Vergangenheit sein" 27 . Dieser Versuch Smends, die Notwendigkeit einer dem kirchlichen Selbstverständnis entsprechenden Auslegung der Kirchenartikel des Grundgesetzes darzutun, kann nicht überzeugen 28. Der Inhalt dieser das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik regelnden Verfassungsnorm kann nicht aus einem vorentworfenen staatskirchenpolitischen Modell gewonnen, aus einer bloßen „Bedeutung" dieser Vorschriften gefolgert werden 29 . Er ist vielmehr, wie bei der Auslegung jeder Verfassungsnorm, durch die Herausarbeitung der konkreten normativen Aussagen der einzelnen Kirchenartikel, unter Berücksichtigung der übrigen, für das Verhältnis von Staat und Kirche relevanten Verfassungssätze, zu bestimmen. Dann können aber staatskirchenrechtliche Aussagen nicht mehr allein daraus abgeleitet werden, daß man in der Aufnahme der Weimarer Kirchenartikel ins Grundgesetz einen Friedensschluß zwischen Staat und Kirche sieht, der, um für die Kirchen „sinnvoll" und „annehmbar" zu sein, ihre „unabdingbaren" Forderungen akzeptiert haben muß. Vielmehr ist (jedenfalls solange die Stellung der Kirchen gemäß staatlichem Recht in Frage steht) zu prüfen, welche konkreten Verfügungen die staatliche Verfassung insoweit getroffen hat. 2. Hesse geht davon aus, daß für das Recht, insbesondere auch für das Verfassungsrecht, ein „soziologisches Moment" wesentlich sei, so daß ein Wandel der vom Verfassungssatz zu regelnden Wirklichkeit einen * Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 9. 26 Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 9 f. Ebenso ders., Festschrift für Otto Dibelius, S. 185. 27 Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 10. M Vgl. auch die Kritik bei v. Drygalski, S. 6. 29 Gegen die Verwendung staatskirchenpolitischer Systeme und Modelle auch Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 58.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 W V nach herrschender Lehre u. Praxis
Wandel seines Inhalts zur Folge habe. „Auf unsere Frage angewendet: Wenn sich das Lebensverhältnis von Staat und Kirche gewandelt hat, muß sich auch ihr Rechtsverhältnis gewandelt haben 30 ." Ausgehend von dieser These, wendet sich Hesse der tatsächlichen Situation im Verhältnis von Staat und Kirche zu. Er konstatiert auf Seiten der Kirche die auch von anderen Autoren festgestellten Veränderungen, insbesondere ihr neues Unabhängigkeitsbewußtsein31. Dieses treffe auf einen Staat, der sich in einer Wertungskrise befinde, da der Pluralismus der innerhalb der staatlichen Gemeinschaft vertretenen Werte „den Staat unmittelbar in einer seiner Grundvoraussetzungen in Frage stellt, wenn er jenes Mindestmaß des Einverständnisses zu zerstören droht, das Bedingung jedes einigenden Zusammenschlusses und damit Voraussetzung der staatlichen Einheit ist" 32 . Je weiter deshalb die Krise der Wertungen fortschreite, desto größer sei die Bedeutung, die die Religion für den Staat erhalte. Wolle der Staat sich nicht selbst eine Ersatzreligion schaffen, so müsse er Religion und Kirchen positiv bewerten, so daß die Aufgabe „positiver Religionspflege" eine neue und tiefe Bedeutung gewinne 33 . Dann müsse aber der Staat auch „die unabdingbare Selbständigkeit der Kirchen in der Erfüllung ihres Auftrags" akzeptieren: „Denn der Erfolg ihres Wirkens hängt auch für den Staat davon ab, daß dieser Dienst sich frei von jedem heteronomen Einfluß vollzieht. Wenn die Kir30 Hesse, S. 32. — Diese Fragestellung wird von Hesse unter dem rechtssystematischen Begriff der „Geltungsfortbildung geschriebenen Verfassungsrechts" behandelt, die in der von Hsü Dau Lin (Die Verfassungswandlung, 1932, S. 19 ff., 35 ff.) entwickelten Systematik einen Ausschnitt aus der sog. „Verfassungswandlung durch Interpretation" bildet (Hesse, S. 28). Dabei handele es sich um die Frage, ob ein Verfassungssatz bei gleichbleibendem Wortlaut überhaupt einen anderen Inhalt annehmen kann und ob dies bei „Art. 137 RV" (sie!) der Fall ist (Hesse, S. 28). Dagegen ist schon von Schlief (S. 141 f.) zu Recht eingewandt worden, daß bei dem von Hesse erörterten Problem ein Fall der Verfassungswandlung nicht in Betracht kommt. Gegenstand der Auslegung ist nicht mehr Art. 137 WRV, sondern eine durch das Grundgesetz neu geschaffene Verfassungsnorm, nämlich Art. 140 GG/137 WRV, die ihre Geltungskraft allein aus dem Grundgesetz ableitet. Somit stellt sich nicht das Problem, ob und inwieweit sich die Auslegung der Weimarer Kirchenartikel unter dem Grundgesetz „gewandelt" hat, sondern wie die einen vollgültigen Bestandteil des Grundgesetzes bildenden (vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 219), lediglich in ihrem Wortlaut durch den Verweis auf den Text der Weimarer Reichsverfassung festgelegten Kirchenartikel des Grundgesetzes auszulegen sind. Da sich jedoch auch hierbei die Frage stellt, ob und inwieweit die tatsächlichen Umstände im Verhältnis von Staat und Kirche die Auslegung von Art. 140 GG/ 137 W R V zu beeinflussen vermögen, wird im Text die verfehlte rechtssystematische Einordnung des Problems vernachlässigt. Vgl. im übrigen unten S. 71. 31 32 33
Hesse, S. 36 ff. Hesse, S. 58. Hesse, S. 59.
2. Kap. : Kritische Würdigung der herrschenden Auffassung
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chen ihre besondere Aufgabe im Leben des Volkes wahrnehmen sollen, dann können sie an keine andere Grundlage als an Schrift, Bekenntnis, Dogma und das Kirchenrecht gebunden sein. Jede staatliche Einflußnahme würde den Prozeß einer geistigen Erneuerung in Frage stellen 84 ." Diese neue staatskirchenpolitische Situation hat nach Hesse unmittelbare Folgen für die Auslegung von Art. 140 GG/137 WRV. Das telos eines Verfassungssatzes und sein normierender Wille dürften zwar dem Wandel der Situation nicht zum Opfer gebracht werden. Auch die an der Wirklichkeit orientierte Auslegung dürfe daher nicht am Wortlaut des Rechtssatzes vorbeigehen und nicht gegen den Sinn der Verfassung verstoßen35. Das Verhältnis von Normativität und Wirklichkeitsbezogenheit in einem Rechtssatz sei jedoch nicht starr, sondern hänge vom Charakter der Norm ab, wobei — je nach Fassung und Intention der Norm — das eine oder das andere Element bis zur Ausschließlichkeit vorherrschen oder zurücktreten könne. Regelmäßig trete das normative Element um so mehr in den Vordergrund, je mehr der technische oder formelle Charakter des Rechts überwiege. Umgekehrt erhielten die Bedingungen der Wirklichkeit um so größeres Gewicht, je weniger der Rechtssatz das geregelte Lebensverhältnis auf formale Tatbestände reduziere. I n diese zweite Gruppe gehöre Art. 140 GG/137 WRV: „Hinter der eigentümlichen Weite seiner Fassung steht ein normativer Gehalt, der den verschiedensten Ausprägungen rechtlicher Ausgestaltung Raum läßt: der Artikel will nicht mehr, aber auch nicht weniger, als in der gegebenen historischen Situation im Rahmen der Sinntotalität der Verfassung ein optimales Maß schiedlich-friedlichen, die Belange beider Teile schützenden Zusammenlebens gewährleisten. Eine Konkretisierung dieses Gehalts ist ohne den Rückgriff auf die staatskirchenpolitische Wirklichkeit nicht möglich 36 ." Deshalb habe der vom Staat aus den dargestellten, also staatskirchenpolitischen Gründen anerkannte Grundsatz der vollen Unabhängigkeit der Kirchen „in den Art. 137 RV Eingang gefunden" 37. Durch das in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen garantierte Selbstbestimmungsrecht werde daher ihre „Bedeutung für das Leben des Volkes von Verfassungs wegen grundsätzlich bejaht und ihre Unabhängigkeit als seinsnotwendige Voraussetzung ihres Dienstes nicht nur garantiert, sondern auch legitimiert" 38 . Dieser Betrachtungsweise ist zunächst entgegenzuhalten, daß sie den normativen Gehalt von Art. 140 GG/137 WRV zu Unrecht nahezu völlig verflüchtigt. Was nach Hesse von dieser Vorschrift noch übrig bleibt, hat keinen Normcharakter mehr, sondern stellt eine 84 35 38 87 88
Hesse, S. 60. - Ähnlich auch Ridder, AöR Bd. 80 (1955), S. 155. Hesse, S. 33. Hesse, S. 64. Hesse, S. 64 f. Hesse, S. 68.
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umrißartige staatskirchenpolitische Direktive dar, die allerdings auf Grund verschiedenster Erwägungen mit den unterschiedlichsten Inhalten angefüllt werden kann. Was soll das sein: ein „optimales Maß schiedlichfriedlichen Zusammenlebens"? Von welcher Seite soll insbesondere entschieden werden, welche Form des Zusammenlebens „optimal" ist? Durch eine solche Formel wird nicht nur das Lebensverhältnis von Staat und Kirche nicht auf „formale Tatbestände reduziert", sondern im Grunde völlig aus dem Bereich normativer Aussagen herausgenommen. Inwieweit das der Sinn von Art. 140 GG/137 WRV sein könnte, ist nicht ersichtlich. Eines Besseren sollte schon der Wortlaut dieser Vorschrift belehren, der im allgemeinen durchaus präzise Formulierungen über die Rechtsstellung der Kirchen enthält. Sicherlich bedürfen diese einer zusätzlichen, sie ins Gesamtsystem des Staatskirchenrechts einfügenden Auslegung. Dabei darf aber der aus dem Wortlaut zu erschließende spezielle Gehalt dieser Vorschrift nicht einfach beiseitegeschoben werden. Vor allem aber kann nicht überzeugen, daß die Auslegung der Kirchenartikel im Sinne der Eigenständigkeitslehre geboten sein soll, weil dem Staat die Unabhängigkeit der Kirchen zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben „im Leben des Volkes", im „Prozeß der geistigen Erneuerimg" nottut. Eine solche Indienstnahme der Kirchen für die Zwecke des Staates, zum Aufbau seiner sittlichen Fundamente, wie sie in diesen früheren Ausführungen von Hesse vertreten wird, verträgt sich nicht mit der jedenfalls heute anerkannten und in den neueren Veröffentlichungen gerade auch von Hesse unterstrichenen religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates39. Aus dieser Neutralität folgt zwar nicht, daß der Staat die Kardien zurückdrängen und ihnen jede Möglichkeit eines geistigen Einflusses im Bereich der Öffentlichkeit nehmen muß. Dieses Verfassungsprinzip schließt aber die Möglichkeit aus, gerade die religiösen Lebensvollzüge der Kirchen als dem Staat und seiner Ordnung dienende Verhaltensweisen zu betrachten und diese als sachlichen Grund einer bestimmten rechtlichen Privilegierung der Kirchen im staatlichen Recht zu wählen. 3. Werner Weber leitete die Notwendigkeit einer veränderten Sicht des Verhältnisses von Staat und Kirche aus der These ab, daß den innerlich und äußerlich vom Staat emanzipierten Kirchen keine einheitliche Staatsgewalt mehr gegenüberstehe: I m Verfassungssystem der Bundesrepublik verwirkliche sich kein über den politisch-sozialen Machtgebilden stehender „Staat" 40 , vielmehr habe die öffentliche Ordnung in der Bundesrepublik „mehrere oder viele Herren" — eine Situation, die am ehesten dem * Hesse, Grundzüge, S. 64. « Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 169.
2. Kap.: Kritische Würdigung der herrschenden Auffassung
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Ständestaat vergleichbar sei. Einer dieser Stände seien die Kirchen 41 . So sei die Selbständigkeit der Kirchen auch nicht mehr mit dem Begriff der Autonomie zu erfassen. Dieser habe seinen Ausgangspunkt darin gehabt, daß der Staat als Herr der öffentlichen Ordnung aufgefaßt wurde, innerhalb derer ein autonomer Raum freier Entfaltung ausgespart blieb. Angesichts der nunmehr eingetretenen Aufgliederung der öffentlichen Ordnung und der Tatsache, daß die Kirchen ein „tragendes und wirkendes Glied" der neuen öffentlich-rechtlichen Gesamtordnung darstellten 42 , sei die Selbständigkeit der Kirchen jedoch „von anderer Art" 4 8 . Diese Darlegungen halten rechtlicher Betrachtung, um die es hier allein geht, nicht stand. Sicher kennt der demokratische Staat nicht mehr eine staatliche „Obrigkeit" im Sinne älterer Staatsmodelle, die den Staat und seine Geschicke autonom lenkt. Statt dessen werden die relevanten politischen Entscheidungen in einen vielschichtigen Willensbildungsprozeß getroffen, an dem eine große Anzahl der verschiedensten Mächte (darunter auch die Kirchen) beteiligt sind. Damit ist aber der Staat nicht in ein „ständisches Konglomerat paziszierender Kontrahenten" 44 aufgelöst. Vielmehr verwirklicht sich seine Einheit in der alles überwölbenden Rechtsordnung, in deren Rahmen sich das Zusammenleben aller im Staat vollzieht. Dieser Rechtsordnung sind auch jene Gruppen und Mächte unterworfen, denen besonderes politisches, ja vielleicht sogar „staatstragendes" Gewicht zukommt. Auch ihr Status bestimmt sich nach staatlichem Recht. Somit besteht grundsätzlich nach wie vor die Möglichkeit, eine ihnen in ihren Internbereich zukommende rechtliche Sonderstellung als „Autonomie", d. h. als Freiheit zu rechtlicher Selbstbestimmung innerhalb des Rahmens der staatlichen Rechtsordnung, zu begreifen. II. Die Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Sinn der Eigenständigkeitslehre wird ferner auf die staatskirchenrechtliche Praxis gestützt, die sich ganz nach der Eigenständigkeitslehre richtet. Angesichts der Kompetenzverteilung durch das Grundgesetz handelt es sich hierbei um die Praxis der Länder. 1. Hierzu wird zunächst die Bedeutung der Länderverfassungen betont. Daraus, daß diese Verfassungen Bestimmungen enthalten, die eine neue Bewertimg des Verhältnisses von Staat und Kirche erkennen lassen und diese Bestimmungen „den tatsächlich gewordenen Verhältnissen weitgehend gerecht werden", folgt nach Mikat, daß ihnen „eine über das Länderverfassungsrecht hinausgehende Bedeutung zuerkannt werden" muß, „die auch bei der Auslegung des Art. 140 GG Berücksichtigung for41 42 48 44
Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 173. Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 175. Werner Weber, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 169. Vgl. Scheuner, W d S t R L Heft 11 (1954), S. 225.
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dert, wenn dessen Inhalt und Tragweite in der Welt des Wirklichen erkannt werden soll" 45 . Nach Siegfried Grundmann ist es möglich, angesichts der weiten Übereinstimmung über einen Grundbestand der staatskirchenrechtlichen Einsichten, die sich insbesondere auch in der Rechtsprechung durchgesetzt haben, von einer Rechtsfortbildung im Bereich des Staatskirchenrechts zu sprechen 46. I n diesem Zusammenhang habe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Eigenständigkeitslehre ohne Zögern akzeptierte, besonderes Gewicht 47 . Das Bundesverfassungsgericht als Gericht und Verfassungsorgan sei wie kein anderes Gericht zur Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des Verfassungsrechts und damit der staatskirchenrechtlichen Grundordnung berufen 48 . Zur Begründung der Eigenständigkeitslehre wird schließlich auf die evangelischen Staatskirchen Verträge der Nachkriegszeit verwiesen. Einige dieser Verträge, nämlich der Niedersächsische, der Schleswig-Holsteinische, der Hessische sowie der Rheinland-Pfälzische Kirchenvertrag, bringen in ihren Präambeln die Übereinstimmung beider Seiten über die „Eigenständigkeit der Kirchen" zum Ausdruck 49. Dies wird nicht nur als Bestätigung der Eigenständigkeitslehre durch die staatskirchenrechtliche Praxis gewertet 50 , sondern auch als „Weiterentwicklung des Verfassungsrechts" durch „das tatsächliche rechtserhebliche Verhalten der staatlichen Organe gegenüber den Kirchen" 51 : „Die Eigenständigkeit der evangelischen Kirchen ist in den einleitenden Bestimmungen der genannten Verträge ausdrücklich als Vertragsgrundlage gekennzeichnet, so daß eine in andere Richtung weisende Interpretation des geltenden Staatskirchenrechts hinfort nicht mehr vertretbar ist 52 ." Diese Bewertung der Verträge entspricht der Wertschätzung, die ihnen durch die herrschende Auffassung von Anfang an zuteil geworden ist. Sie gelten ihr als „deutende Positivierung, ja beinahe als authentische Auslegung des geltenden Staatskirchenrechts" 58. Sie haben nach derselben Meinung das gesamte Staatskirchenrecht selbst grundlegend verändert: 45
Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 142. S. Grundmann, JZ 1966, S. 82. 47 Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 385. 48 S. Grundmann, JZ 1966, S. 82. 49 Vgl. die Texte in der Sammlung von Hermann Weber, Staatskirchenverträge, München 1967. 50 So Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik, S. 14; Hesse, JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 33. 51 Pirson, S. 195. 52 Pirson, S. 197. 53 So Smend, JZ 1956, S. 50; übereinstimmend Hesse, JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 35 und 5. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2378. 46
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„Staatskirchenrecht kann in der Gegenwart nicht mehr ohne weiteres mit staatlichem Recht gleichgesetzt werden. Seine Kernbereiche sind zu einem beide Partner und ihrer rechtlichen Ordnungen bindenden und verbindenden Rechtsgebiet geworden, dessen Gegenstand sich weder allein mit Kategorien des Staats- oder Kirchenrechts noch mit solchen des Völkerrechts erfassen läßt 54 ." 2. Keines dieser der staatskirchenrechtlichen Praxis entnommenen Argumente für die Eigenständigkeitslehre vermag zu überzeugen. Dem Versuch Mikats, die Regelungen der Länderverfassungen zur Auslegung von Art. 140 GG heranzuziehen, kann nicht gefolgt werden, weil es nicht möglich ist, den Inhalt von Bundesrecht durch unter diesem stehendes Landesrecht festzulegen. Auf die Ausführungen von Grundmann ist zu erwidern, daß allein die Tatsache, daß eine bestimmte Auffassung „herrschend" ist, noch nichts über deren Richtigkeit besagt. Auch eine „herrschende Meinung" muß vielmehr ihre Gründe offenlegen und sich deren kritische Überprüfung gefallen lassen. Dies ist selbst dann nicht anders, wenn eine bestimmte Auffassung, wie es bei der Eigenständigkeitslehre der Fall ist, vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert wurde. Das Bundesverfassungsgericht steht zwar auf dem Standpunkt, daß seine Entscheidungen gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG hinsichtlich der sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen ergebenden Grundsätzen nicht nur in dem entschiedenen Einzelfall, sondern in allen zukünftigen Fällen für die Auslegung der Verfassung verbindlich sind 55 . Dies kann jedoch höchstens für die Staatsorgane, nicht aber für die wissenschaftliche Diskussion gelten. Hier kann allein das Argument zählen. Bedauerlicherweise fehlt aber ein solches bei der ohne weitere Begründung erfolgten Bejahung der Eigenständigkeitslehre durch das Bundesverfassungsgericht völlig 56 . Eine Festlegung der Interpretation von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV durch die in den evangelischen Staatskirchenverträgen zum Ausdruck gebrachte Übereinstimmung über die Eigenständigkeit der Kirchen scheidet schließlich aus denselben Gründen aus, aus denen soeben die Möglichkeit eines Einflusses des Länderverfassungsrechts auf das Grundgesetz verneint wurde. Auch der Abschluß der genannten Staatskirchenverträge stellt auf staatlicher Seite (ganz unabhängig davon, wie man diese Verträge rechtssystematisch einordnet 57 ) ein rechtliches Handeln der 54 Hesse, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 920; ebenso ders., JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 33. 55 Vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 391 f. M Vgl. die Ausführungen BVerfGE Bd. 18, S. 386, unter I I , 1. 57 Vgl. dazu Höllerbach, S. 83ff.; ders., W d S t R L Heft 26 (1968), S. 80f.; Quaritsch, Festschrift für Friedrich Schack, S. 125 ff.; Scheuner, Festschrift für Ruppel, S. 317 ff.
3 Jurina
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Länder dar, das unter dem Grundgesetz steht, das also dessen staatskirchenrechtliche Bestimmungen zu beachten hat. Diesen Bestimmungen kann daher nicht allein deshalb eine bestimmte Aussage entnommen werden, weil diese von der staatskirchenrechtlichen Praxis der Länder vertreten wird. Die Kirchenartikel des Grundgesetzes sind vielmehr prinzipiell unabhängig von dem ihnen durch die Länder beigemessenen Inhalt zu interpretieren. Darauf nehmen im übrigen die Verträge selbst auch ganz offenbar Rücksicht, indem sie die Billigung der Eigenständigkeitslehre in der Präambel, nicht im Vertragstext selbst aussprechen und damit ausdrücken, daß es sich um einen bei Vertragsschluß vorausgesetzten, nicht durch das Vertragsband selbst geschaffenen Rechtssatz handelt. Gegen eine „authentische" Interpretation des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV durch die Staatskirchenverträge spricht übrigens auch, daß die Zahl der Verträge, die in ihren Präambeln Hinweise auf die dem Vertragsschluß zugrundegelegete Eigenständigkeit der Kirchen enthalten, keineswegs hoch ist. Solche Verträge mit evangelischen Kirchen gelten, wie schon bemerkt, in den Ländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hessen und Rheinland-Pfalz. Dagegen fehlen entsprechende vertragliche Stellungnahmen völlig in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Hamburg, Bremen sowie im Saarland. Darüber hinaus gibt es keinen einzigen Vertrag mit der katholischen Kirche, der Aussagen über die kirchliche Eigenständigkeit träfe, auch nicht das Niedersächsische Konkordat von 1965. Auch angesichts dieser Sachlage scheint es nicht sehr überzeugend, daß die Vertragspraxis von vier Ländern, zudem noch nur mit evangelischen Kirchen, den Inhalt des gesamten deutschen Staatskirchenrechts bindend festlegen soll. I I I . Die bislang beschriebenen und, wie dargetan, unbefriedigenden Versuche einer Begründung der Eigenständigkeitslehre werden in der Diskussion der letzten Jahre mehr und mehr von der Überlegung abgelöst, daß die Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts aus seiner grundsätzlichen Verschiedenheit vom staatlichen Recht abzuleiten ist. So betont Hollerbach, staatliches Recht könne nur „das ihm wesensmäßig Zukommende erfassen". Staatliches Recht sei weltliches Recht, „hingeordnet auf die Gewährleistung von irdischer Gerechtigkeit, politischer Freiheit und geordnetem Frieden . . . Die Ordnung des Spirituale und des Temporale, soweit es unmittelbar mit dem geistlichen Auftrag der Kirche verknüpft ist, transzendiert den Bereich seiner legitimen Aufgaben" 58 . Nach Hermann Weber hat „die Trennung von Staat und Kirche 58 Hollerbach, S. 125, vgl. auch S. 168. I n W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61, Anm. findet sich dagegen die Bemerkung, die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts als bloße Autonomie sei „der freiheitlichen Gesamtkonzeption des GG nicht mehr gemäß".
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auf der organisatorischen Ebene . . . heute den Blick dafür geschärft, daß eine im Religiösen beheimatete kirchliche Gewalt nicht vom Staat abgeleitet, sondern eigenständig, ursprünglich und von der Staatsgewalt wesensverschieden ist" 69 . Nach Martens wurzeln „kirchliche und staatliche Ordnung . . . in verschiedenen Rechtsböden; sie sind nach Ursprung, Geltungsgrund und Zielsetzung inkommensurabel. Damit entfällt zugleich die Möglichkeit, Recht und Gewalt der Kirchen in den Kategorien des weltlichen Rechts zu erfassen" 60. Auch Pirson leitet die von ihm ausdrücklich anerkannte Eigenständigkeit des Kirchenrechts 61 u. a. daraus ab, daß der moderne Verfassungsstaat zwangsläufig „die Eigenschaft eines säkularen Staates" annehmen müsse. Dies bedinge auch eine gewisse Beschränkung seiner Herrschaftsgewalt 62. „Die Organe eines sich als säkular verstehenden Staates erkennen sich.. keine Urteilsfähigkeit in Angelegenheiten zu, die über den Bereich des Irdischen hinausweisen . . . Der Staat ist unzuständig und unfähig, das zu regeln, was nicht mit Hilfe rein diesseitiger Kategorien erfaßt werden kann 68 ." A l l diesen und vergleichbaren anderen 64 Ausführungen kommt insofern besondere Bedeutung zu, als sie, wie noch näher zu zeigen sein wird, in der Tat einen maßgeblichen Grund für die rechtliche Qualifizierung der den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV eingeräumten Befugnis zu selbständiger Rechtsetzung als Eigenständigkeit hervorheben. Sie befriedigen freilich nicht völlig, weil sie nicht mit genügender Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, aus welchem verfassungsrechtlichen Grund die zunächst rein als Faktum festgestellte Andersartigkeit des kirchlichen Rechts für die Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV relevant ist. Hierzu finden sich zwar die zitierten Hinweise auf den „säkularen" Charakter des modernen Staates. Dabei handelt es sich aber weniger um einen Verfassungssatz als um eine Aussage der allgemeinen Staatslehre, die nicht ohne weiteres als Grundlage der Verfassungsauslegung gewählt werden sollte. Davor sollte auch die Tatsache warnen, daß, wie in der Einleitung zu dieser Arbeit ausgeführt wurde, schon das Staatskirchenrecht des 19. Jahrhunderts die Weltlichkeit des Staates dem geistlichen Charakter der Kirchen gegenüberstellte, ohne daraus eine Lehre von der rechtlichen Eigenständigkeit der Kirchen abzuleiten. 59 60 81 88
Hermann Weber, S. 33. — Ähnlich Krüger, S. 865. Martens, S. 139. Pirson, S. 188 und ff.
Pirson, S. 191. Pirson, S. 192. 64 Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat, S. 11, 15; S. Grundmann, österr. Archiv f. Kirchenrecht, 13. Jg. (1962), S. 290; ders., JZ 1966, S. 53. 63
3*
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Die allgemeine Erwägung, daß die Zuständigkeit des „modernen" Staates sich auf die „weltlichen" Dinge beschränke, wird von einigen Autoren verfassungsrechtlich mit dem Hinweis konkretisiert, daß sich in der Anerkennung vorstaatlicher Grundrechte durch das Grundgesetz dessen Abkehr von einer „etatistischen Grundauffassung und dem Gedanken jeder Staatsomnipotenz"65 manifestiere, so daß eine „Auswechslung des verfassungsrechtlichen Hintergrundes" stattgefunden habe 66 . Auch diese Erwägungen, deren Richtigkeit nicht zu bestreiten ist, sind indes zu allgemein. Sie geben lediglich eine generelle Charakteristik des Grundgesetzes und lassen nicht erkennen, inwiefern aus dieser eine konkrete Privilegierung der Kirchen im staatlichen Recht folgen soll. IV. Diese Überlegungen rechtfertigen die zusammenfassende Feststellung, daß die Eigenständigkeitslehre, obwohl sie in Lehre und Rechtsprechung allgemein akzeptiert wird, bislang keine voll befriedigende verfassungsrechtliche Begründung erfahren hat. Es finden sich im Gegenteil eine Reihe von Begründungsversuchen, die, wie gezeigt, näherer Betrachtung nicht standhalten. B. Eigenständigkeitslehre und Körperschaftsstellung der Kirchen
Die Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Sinne der Eigenständigkeit der Kirchen bringt die Notwendigkeit mit sich, diese Lehre mit den übrigen verfassungsrechtlichen Aussagen über die Stellung der Kirchen im Staat zu vereinbaren. Dazu gehört die Frage, in welchem Verhältnis die Eigenständigkeitslehre zur Erhebung der Kirchen zu Körperschaften des öffentlichen Rechts steht. Dies meint vor allem das Problem, ob das grundsätzlich als eigenständig klassifizierte Kirchenrecht zugleich als öffentliches Recht bezeichnet werden kann oder muß. I. Diese Frage wird, wie schon erwähnt, überwiegend bejaht. 1. Dabei beziehen sich einige Autoren auf die überkommene Rechtssystematik, ohne deren Angemessenheit im Hinblick auf die neuen staatskirchenrechtlichen Lehren zu überprüfen 67 . Andere Autoren erörtern die Frage, ob das Kirchenrecht als öffentliches Recht zu bezeichnen ist, lediglich unter dem Gesichtspunkt der Rechtswegproblematik und zählen die Kirchengewalt zur „öffentlichen 65
Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 140 GG, Nr. I I , 2. Röttgen, DVB1. 1952, S. 486. — Hinweise auf die Veränderung der Staatsauffassung finden sich z. B. auch bei Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 138; v. Mangoldt, S. 661; hiermann, österreichisches Archiv f. Kirchenrecht, Jg. 5 (1954), S. 214. 67 Vgl. etwa Dahm, S. 404; Werner Weber, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 8, S. 40; Kipp, Staatslexikon, Bd. 5, Sp. 1218; Stern, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1390; Fuß, DÖV 1961, S. 738. M
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Gewalt" i. S. von Art. 19 Abs. 4 G G 6 8 und gegen die Kirchen erhobene Klagen zu den „öffentlich-rechtlichen Rechtsstreitigkeiten" gem. § 40 VwGO 6 9 . Auch dezidierte Anhänger der Eigenständigkeitslehre bezeichnen das Kirchenrecht als öffentliches Recht, die Kirchengewalt als öffentliche Gewalt i. S. von Art. 19 Abs. 4 GG 7 0 . Hierbei wird jedoch z. T. berücksichtigt, daß ein zuvor als eigenständig qualifiziertes Kirchenrecht nicht mehr dem staatlichen öffentlichen Recht gleichgesetzt werden kann. Dies führt zur Prägung eines Begriffs des öffentlichen Rechts „im weiteren Sinne", demzufolge „das öffentliche Recht der Kirchen zwar nicht zu einem Teil des staatlichen öffentlichen Rechts, aber zu einem staatsrechtlich relevanten öffentlichen Recht" gezählt wird 7 1 . Für die Qualifizierung der eigenständigen Kirchengewalt als öffentliche Gewalt im weiteren Sinne hat sich auch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Es betont einerseits, der Staat erkenne die Karchen als Institutionen mit dem Recht der Selbstbestimmung an, „die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten" 72 . Gleichzeitig wird jedoch die kirchliche Gewalt als „zwar öffentliche, aber nicht staatliche Gewalt" bezeichnet73. 2. Die Einordnung des Kirchenrechts ins öffentliche Recht wird von Fuß mit der Stellung der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts begründet 74 . Ule beruft sich darauf, die entsprechende Qualifikation des Kirchenrechts sei „um der Einheit und Geschlossenheit der rechtsstaatlichen Ordnung unseres Gemeinwesens willen notwendig" 76 , während Hesse auf den „materiell-öffentlichen Status der Kirchen" verweist, „der eben nicht nur ein Status innerkirchlicher Öffentlichkeit, sondern auch ein öffentlicher Status innerhalb des staatlichen Rechts ist" 76 . Marré und Schlief beziehen sich auf die Definition des öffentlichen Rechts durch H. J. Wolff, wonach öffentliches Recht der Inbegriff der68
Vgl. z. B. v. Mangoldt-Klein, Art. 19, V I I 2 a. Vgl. Ule, § 40, I I I , S. 90; Stern, JuS 1965, S. 142. 70 Vgl. Hesse, S. 116 ff., 119; ders., JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 78 f., Anm. 13 (diese Ansicht hat Hesse möglicherweise aufgegeben, vgl. Evangelisches Staatslexikon, Sp. 922/923); Peters, W d S t R L Heft 11 (1951), S. 187; Schlief, S. 183; Marré und Schlief, N J W 1965, S. 1516; Marré, Zeitschrift für Politik, N.F. Jg. 12 (1966), S. 389 ff.; v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 266. 71 So Marré und Schlief, NJW 1965, S. 1516. 72 BVerfGE Bd. 18, S. 386. 78 BVerfGE Bd. 18, S. 387. Ebenso BVerwGE Bd. 25, S. 229 und H. J. Wolff, Bd. I, S. 298. 74 Vgl. Fuß, DÖV1961, S. 738. 75 Vgl. Ule, § 40, I I I , S. 40. Ebenso Stern, JuS 1965, S. 142. 76 Vgl. Hesse, JöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 79, Anm. 13. 69
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jenigen Rechtssätze sei, „deren Zuordnungsobjekt ausschließlich ein Träger hoheitlicher Gewalt ist". Das öffentliche Recht sei somit nicht ausschließlich auf den Staat hin geordnet, sondern auf alle Träger hoheitlicher Gewalt. Zu diesen seien aber auch die Kirchen zu zählen, da sie zu den Trägern ursprünglicher, d. h. nicht abgeleiteter hoheitlicher Gewalt gehörten. So müsse auch das von der hoheitlichen Gewalt der Kirche hervorgebrachte Recht als öffentliches Recht im weiteren Sinne bezeichnet werden 77 . Das Bundesverfassungsgericht verweist zur Begründung seiner These einmal pauschal auf die öffentliche Rechtsstellung der Kirchen kraft Art. 140 GG/137 Abs. 5 WRV, sodann auf die öffentliche Wirksamkeit der Kirchen, „die sie aus ihrem besonderen Auftrag herleiten und durch die sie sich von anderen gesellschaftlichen Gebilden grundsätzlich unterscheiden"78. II. Diese Auffassungen haben jedoch Widerspruch erfahren. Die Angemessenheit der Einordnung eines als eigenständig verstandenen Kirchenrechts unter das öffentliche Recht ist zuerst von Mikat verneint worden 79 . Gemäß der Begriffsbestimmung des „öffentlichen als des Raumes, in welchem für die und vor der Gemeinschaft gehandelt wird", sei kirchliches Wirken zwar in weitem Umfang „öffentlicher Art" 8 0 . Wegen der notwendigen Unterscheidung des „öffentlichen" vom „öffentlich-Rechtlichen"81 bedeute dies aber weder, daß die Handlungen der Kirchen, die sich im öffentlichen Raum vollziehen, öffentlich-rechtlicher Natur seien, noch, daß den Kirchen ein öffentlich-rechtlicher Gesamtstatus zukomme. Den Kirchen stünde vielmehr „eine originäre Hoheitsgewalt . . . für ihren Bereich zu, welche neben der des Staates steht, ihr weder übergeordnet, noch untergeordnet ist, weil staatliche und kirchliche Hoheitsgewalt sich jeweils auf einen anderen Bereich beziehen"82. Das von den Kirchen auf Grund ihrer Selbstordnungsgewalt geschaffene Recht sei daher kein öffentliches Recht im staatlichen Sinne 88 . Eine solche Qualifikation des kirchlichen Rechts ergebe sich auch nicht aus dem Körperschaftsstatus der Kirchen. Dieser Status habe weder die ursprüngliche Ordnungsgewalt der Kirchen zu einer staatlichen gemacht, noch die kirchliche Ordnung in den staatlichen Rechtsraum eingefügt. Er vermag
77 Marré und Schlief, N J W 1965, S. 1515,1516, unter Berufung auf H. J. Wolff, Verwaltungsrecht, Bd. 1,6. Auflage 1965, § 22 I I c. 78 BVerfGE Bd. 18, S. 387. 78 Vgl. Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 315 ff., 324 f. 80 Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 324. 81 Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 322 f. 88 Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 324. 88 Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 325.
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„über grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung nichts Wesentliches auszusagen"84. Dieser Kritik Mikats haben sich andere Autoren angeschlossen. So betont Hermann Weber, „daß die eigenständige kirchliche Gewalt und das eigenständige kirchliche Recht mit dem öffentlichen Recht und der öffentlichen Gewalt der staatlichen Rechtsordnung nichts gemein haben" und diese einmal bestätigte Eigenständigkeit durch die Verleihung der Körperschaftsrechte nicht wieder beeinträchtigt werde 86 . Er lehnt auch den Versuch von Marré und Schlief, einen Begriff des öffentlichen Rechts im weiteren Sinne zu schaffen, als „inhaltsleere Begriffsspielerei" ab 86 . Nach Hollerbach ist der „geschichtlich-politische affizierte" Begriff öffentliches Recht dadurch gekennzeichnet, daß „hoheitliche G e w a l t . . . ausgeübt wird, die direkt und principaliter auf die gute Ordnung des Gemeinwesens im ganzen, auf die res publica, bezogen ist" 87 . Deshalb sei es „nicht mehr zulässig, zumindest aber unangebracht und unnötig", die Äußerungen der vom Staat anerkannten Eigenrechtsmacht der Kirchen als öffentlichrechtlich zu qualifizieren. Die historische Zuordnung der Begriffe „öffentliches Recht" und „öffentliche Gewalt" zum Staat wird auch von Martens hervorgehoben 88. So verneint auch er die Möglichkeit, die Kirchengewalt als „öffentlich-rechtliche Kompetenz" zu verstehen 89. Eine abweichende wissenschaftliche Begriffsbildung im Sinne der Schaffung einer staatliches und kirchliches Redit umspannenden Zone des öffentlichen Rechts im weiteren Sinne bleibe zwar möglich. „Der systematische Wert eines solchen Begriffs dürfte freilich angesichts der Quell- und Wesensverschiedenheit von weltlichem und geistlichem Redit sehr gering sein90." I I I . Der von den zuletzt genannten Autoren geübten Kritik an der Einordnung eines als eigenständig verstandenen Kirchenrechts ins öffentliche Recht muß — unter der Voraussetzung, daß die Eigenständigkeitslehre zutrifft — grundsätzlich zugestimmt werden. Allein die Körperschaftsstellung der Kirchen vermag eine solche Einordnung in der Tat nicht zu tragen, da diese staatlich-rechtliche Rechtsposition nicht auf Sachbereiche bezogen werden kann, in denen die K i r chen nicht nach staatlichem, sondern — gemäß der Eigenständigkeitslehre — nach eigenständigem Recht leben. 84 85 86 87 88 89
Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 325. H. Weber, S. 89. H. Weber, S. 89 f. Hollerbach, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1, S. 52. Martens, S. 144. Martens, S. 146. Martens, S. 145.
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Aber auch die Bildung eines Begriffs des öffentlichen Rechts „im weiteren Sinne" weckt Bedenken. Rechtswissenschaftliche Begriffe sollten nicht aus Freude an der gleichsam ästhetischen Vollkommenheit eines Systems, sondern nur dann geprägt werden, wenn sich mit ihnen eine auf alle unter diesen Begriff fallenden Sachverhalte zutreffende grundsätzliche Erkenntnis verdeutlichen läßt. Diese grundsätzliche Gemeinsamkeit staatlichen und kirchlichen Rechts soll nach Marré und Schlief darin zu erblicken sein, daß Staat und Kirchen gleichermaßen „hoheitlich" handeln. Wenn jedoch andererseits die grundsätzliche Verschiedenheit des rechtlichen Handelns von Staat und Kirchen betont und als Grund der Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts genannt wird, erscheint es höchst zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, die Unterschiede durch einen notwendigerweise formalen Oberbegriff zu überspielen.
C. Eigenständigkeitslehre und „für alle geltendes Gesetz"
Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantiert nicht nur das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, sondern schränkt dieses Recht dadurch ein, daß seine Ausübung an die Beachtung der Schranken des für alle geltenden Gesetzes gebunden wird. Die Bestimmimg des Inhalts dieser Schrankenformel ist schon in der Weimarer Zeit umstritten gewesen91. Die Schwierigkeiten bei ihrer Auslegung sind gewachsen, seitdem die herrschende Meinung davon ausgeht, daß jedenfalls den großen Kirchen beim Ordnen und Verwalten ihres Internbereichs Eigenständigkeit zukommt. I. Holtkotten hat daraus, daß die „Herrschaftsgewalt" der Religionsgemeinschaften (nicht nur der Kirchen!) vom Standpunkt des Grundgesetzes eine „ursprüngliche Gewalt zu eigenem Recht" darstelle, die Betätigung dieser Gewalt somit prinzipiell auf einer anderen als der staatlichen Ebene liege, geschlossen, daß die Schrankenklausel vom für alle geltenden Gesetz „nunmehr unverwendbar" sei 92 . Die weitaus überwiegende Meinung ist jedoch zu Recht der Auffassung, daß es nicht möglich ist, in dieser Weise über den Wortlaut der Verfassung hinwegzugehen. So wird allgemein von der Geltung der Schrankenklausel auch im heutigen Staatskirchenrecht ausgegangen98, ja sogar 91 Vgl. die Darstellung bei Anschütz, Weimarer Verfassung, Art. 137, Nr. 5, S. 636 ff. 92 Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 140 GG, I I , 3. Ebenso O V G Berlin, ZevKRBd. 3, S. 205. 93 Vgl. die Nachweise S. 22, Anm. 7.
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betont, daß es sich dabei um eine „tragende Grundnorm" des Staatskirchenrechts handele 94 . II. I m Hinblick auf die Lehre von der Eigenständigkeit der Kirchen und die daraus gefolgerte Ablehnung einer staatlichen Kirchenhoheit wird von einigen Autoren betont, die Fortgeltung der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV bedeute nicht, wie dies in der Weimarer Zeit angenommen wurde, einfachhin die Unterordnung der Kirchen unter den Staat bzw. seine Rechtsordnung 95. Statt dessen wird eine materiale Begründung der Schrankenklausel gegeben: sie diene der „Gewährleistung eines Verhältnisses sinnvoller Zuordnung von Staat und Kirche" 96 , ihre Aufgabe sei es, „nach Maßgabe der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit die Gewährleistung kirchlicher Freiheit den Gewährleistungen anderer Güter zuzuordnen, die ebenfalls zu der von der staatlichen Verfassung konstituierten Ordnung des Gesamtkörpers gehören und für sie ebenfalls wesentlich sind" 97 . Aus dem Fortfall einer staatlichen Kirchenhoheit und der Anerkennung der Eigenständigkeitslehre sind jedoch noch weiter gehende Folgerungen gezogen worden. So ist Hesse dafür eingetreten, die Entscheidung von Meinungsverschiedenheiten darüber, welche staatlichen Rechtsvorschriften dem für alle geltenden Gesetz im Sinn von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zuzurechnen sind, nicht mehr einseitig dem Staat zuzuweisen: Die Antwort auf diese Frage nach dem „quis iudicabit" laute: „Niemand... Art. 137 Abs. 3 RV trägt seine Gewähr nur in sich selbst. Alles ist auf den Zwang zur Verständigung und die Loyalität beider Partner abgestellt. Es gibt nur die Alternative der Einigung oder des Kulturkampfes 98 ." Hierin ist Hesse von Mikat beigepflichtet worden: das „iudicium finium regundorum" könne in einer Koordinierungsordnimg nicht mehr dem Staat zugestanden werden. Hier liege vielmehr die praktische Bedeutung der Konkordate und Kirchenverträge 99 . Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Sofern sie (von Hesse) damit begründet wird, daß sie „der Wirklichkeit" entspreche 100, der „gegenüber 94
So M. Heckel, S. 225 f. Vgl. Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 175; Hesse, S. 70; dersJöR N.F. Bd. 10 (1961), S. 26. * Hesse, S. 72. 97 Hesse, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 922; ähnlich ders., ZevKR Bd. 11 (1964/65), S. 357. 98 Hesse, S. 76. Freilich sah Hesse zugleich die Möglichkeit, daß der Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes auch als einseitiger staatlicher Vorbehalt wirken könne, vgl. Hesse, S. 75. Ausdrücklich als „einseitig staatlichen, von den K i r chen freilich anerkannten" Vorbehalt bezeichnet Hesse die Schrankenklausel in Evangelisches Staatslexikon, Sp. 922. 99 Mikat, Kirche und Staat, S. 22. 190 Hesse, S. 76. 95
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dem bisherigen Verhältnis des Mißtrauens neue(n) Atmosphäre der Loyalität" zwischen Staat und Kirche 101 , unterliegt sie denselben Einwänden, die oben gegen die Begründung der Eigenständigkeitslehre mittels des Verweises auf die faktische Situation im Verhältnis von Staat und Kirche vorgebracht wurden 102 . Sofern sie (von Mikat) aus der Beschreibung der Beziehungen von Staat und Kirche als „Koordinierungsordnung" gefolgert wird 1 0 3 , muß sie sich entgegenhalten lassen, daß das Grundgesetz keinerlei Anhaltspunkte für eine derartige Kennzeichnung des Verhältnisses von Staat und Kirche enthält 104 . I m übrigen betont Hesse selbst, daß die Schrankenklausel der „Einheit der nationalen Rechtsgemeinschaft" diene, daß sie sicherstellen solle, daß alle im Raum des Staates „lebenden Personen und Verbände, also auch die Kirchen, sich einer gemeinsamen Ordnung des Zusammenlebens einfügen" 105 . Wenn es aber, wie wiederum Hesse hervorhebt, der Staat ist, „der für diese Grundordnung innerhalb seines Raumes die bleibende Verantwortung trägt" 1 0 6 , liegt eigentlich die Annahme nahe, daß dieser Verantwortung auch das Recht korrespondiert, darüber befinden zu können, welche staatlichen Rechtsvorschriften um der Erhaltung dieser Grundordnung willen auch von den Kirchen respektiert werden müssen. I m Gegensatz zu Mikat und Hesse vertreten denn auch die meisten Autoren die Ansicht, daß die Bestimmung des Inhalts der Schranken des für alle geltenden Gesetzes sich nach staatlichem Recht richtet und nicht von der Zustimmung der Kirchen und Religionsgemeinschaften abhängt 107 . I I I . Ungeachtet dieser Meinungsverschiedenheiten herrscht jedoch Übereinstimmung darüber, daß nicht schlechthin jedes staatliche Gesetz für das Handeln der Kirchen Geltung beanspruchen kann, vielmehr bei der Bestimmung des Inhalts der Schrankenklausel auf die in Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV grundsätzlich garantierte Freiheit der Kirchen Bedacht zu nehmen ist. Dies wird in verschiedener Weise versucht: 1. Viele Autoren 108 vertreten auch heute die schon oben erwähnte, im Jahre 1932 entwickelte Formel Johannes Heckeis, wonach das für alle 101 101 10i 104
S. 74. 105
Hesse, S. 74. Vgl. oben S. 25 ff. Mikat, Kirche und Staat, S. 22. Vgl. auch die von Hollerbach geäußerte Kritik, W d S t R L Heft 26 (1968),
Hesse, S. 73. Hesse, S. 73. 107 So ausdrücklich z. B. M . Heckel, S. 235; Zippelius, ZevKR Bd. 9 (1962/63), S. 60; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 299, 302; H. Weber, S. 36. — M . Heckel, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 44 verweist auf die Notwendigkeit der Kooperation des Staates mit den kirchlichen Stellen bei der Bestimmung der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. 106
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geltende Gesetz ein Gesetz ist, „das trotz grundsätzlicher Bejahung der kirchlichen Autonomie vom Standpunkt der Gesamtnation als sachlich notwendige Schranke der kirchlichen Freiheit anerkannt werden muß; m. a. W. jedes für die Gesamtnation als politische, Kultur- und Hechtsgemeinschaft unentbehrliche Gesetz" 109 . Diese Formel wurde verschiedentlich auch in der Rechtssprechung aufgegriffen 110 . Der Bundesgerichtshof hat sie sowohl in bezug auf den Anwendungsbereich des für alle geltenden Gesetzes als auch inhaltlich modifiziert: Die kirchliche „Autonomie" finde u. a. „vom Verfassungsrecht des Staates her angesichts dessen, daß die Kirchen als Gemeinschaften auch in der Welt stehen und ihre Maßnahmen mit ihren Wirkungen sich nicht immer auf den innerkirchlichen Bereich beschränken, sondern darüber hinausgreifen und auch auf den staatlich-gesellschaftlichen Bereich ausstrahlen können, insoweit ihre Schranken an dem für alle geltenden Gesetz" 111 . Damit sei nicht jede staatliche Vorschrift, die mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit auftritt, gemeint, sondern in Anlehnung an Heckel nur das „für die Gesamtnation . . . unentbehrliche Gesetz". Dies bedeute, „daß heute alle, aber auch nur diejenigen Normen, die sich als Ausprägungen und Regelungen grundsätzlicher, für unseren Rechtsstaat unabdingbarer Postúlate darstellen, die kirchliche Autonomie „einengen". Das sind aber Sätze, die entweder jedes Recht, auch das kirchliche Recht, mit Notwendigkeit enthält, oder die vom kirchlichen Recht stillschweigend oder ausdrücklich bejaht und in Bezug genommen werden" 112 . 2. In der Literatur sind sowohl die Heckeische Formel als auch ihre Modifizierung durch den Bundesgerichtshof auf Kritik gestoßen. a) Beiden Formeln wird zunächst mit Recht vorgehalten, sie führten zu großen Unsicherheiten bei der Bestimmung der dem Wirken der Kirchen gezogenen Schranken: „Denn darüber, was für die Nation unentbehrlich ist, läßt sich weithin mit rationalen Argumenten nicht streiten; es nimmt deshalb kaum Wunder, daß hier die unterschiedlichsten Normenkomplexe genannt werden 113 ." Diese Unsicherheiten werden mit der Formel des Bundesgerichtshofs eher noch vergrößert: Denn wonach soll es sich bestimmen, welche Sätze 108
Vgl. Smend, ZevKR Bd. 1 (1951), S. 12 f.; Hesse, S. 74, 75; ders., JöR N F Bd. 10 (1961), S. 26; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 922; S. Grundmann, österr. Archiv f. Kirchenrecht Jg. 13 (1962), S. 292 f. - Vgl. im übrigen die Nachweise bei M . Heckel, S. 227 f., Anm. 694. 108 Johannes Heckel, Verwaltungsarchiv Bd. 37 (1932), S. 284. 110 Vgl. die Nachweise bei Hering, Festschrift für Jahrreiss, S. 90 ff. 111 BGHZ Bd. 22, S. 387 (Hervorhebung hinzugefügt). 118 BGHZ Bd. 22, S. 387/388. 115 So Quaritsch, Der Staat 1962, S. 290 f. mit weiteren Nachweisen.
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jedes Recht, also auch das kirchliche Recht, nicht nur einfach enthält, sondern mit Notwendigkeit enthält? — ganz abgesehen davon, daß gerade in einem System, das die Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts betont, nicht ersichtlich ist, wie solche Sätze durch Organe des Staates, etwa die staatlichen Gerichte, festgestellt werden sollten 114 . Und wie sollen jene Sätze, die das kirchliche Recht stillschweigend oder ausdrücklich „bejaht oder in Bezug" nimmt, vom Staat gezogene Schranken der kirchlichen Selbständigkeit darstellen? So hat gerade die Formel des Bundesgerichtshofs wenig zur Klärung der umstrittenen Frage nach der Bedeutung des für alle geltenden Gesetzes beigetragen, sondern nur neue Auslegungsprobleme geschaffen. b) Berechtigt ist auch jene Kritik, die darauf hinweist, daß das Handeln von Kirchen und Religionsgemeinschaften unbestrittenermaßen an zahlreiche staatliche Rechtsvorschriften gebunden ist, die zwar wichtige Regeln für das Zusammenleben im Staat enthalten, aber nicht (oder nicht in jeder Hinsicht) als „für die Gesamtnation unentbehrlich" bezeichnet werden können. Als Beispiele hierfür sei an baurechtliche und polizeirechtliche Vorschriften oder etwa die Regeln der Straßenverkehrsordnung erinnert 115 . c) Schließlich wird darauf hingewiesen, die Heckeische Formel könne dazu führen, daß staatliche Rechtssätze, etwa Grundsätze der Verfassung, als „für die Nation unentbehrlich" auf den kirchlichen Innenbereich angewandt und dadurch Eingriffe in dogmatische Grundpositionen der Kirchen begangen werden, die gegen das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen verstoßen 116 . Diese Kritik trifft freilich nicht die Modifizierung der Heckeischen Formel durch den Bundesgerichtshof, da dieser, wie dargelegt, die Schrankenformel nur dort anwenden will, wo das Handeln der Kirchen über den innerkirchlichen Bereich hinausgreift und auf den staatlich-gesellschaftlichen Bereich ausstrahlt 117 . IV. Die Nachteile der Heckeischen Formel suchen andere Autoren dadurch zu vermeiden, daß sie nicht einseitig auf für den Staat oder die Nation „unentbehrliche" Gesetze abstellen, sondern die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV in Zusammenhang mit der in derselben 114 115
S. 291.
Auf diesen Gesichtspunkt weist Quaritsch, Der Staat 1962, S. 292, hin. Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 178; Quaritsch, Der Staat 1962,
116 Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 178; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 293/294; ferner Hering, Festschrift für Jahrreiss, S. 95/96. Auf diese Gefahr weist auch Pirson, S. 201 ff., hin und macht darauf aufmerksam, daß es angesichts der Anerkennung der Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts nicht mehr möglich ist, über die Schrankenklausel die „Einheit der nationalen Rechtsgemeinschaft" zu sichern, d. h. „eine kollisionslose Harmonie von staatlichem und kirchlichem Recht herzustellen" (Pirson, S. 201). " 7 Vgl. B G H Z Bd. 22, S. 387.
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Vorschrift garantierten Unabhängigkeit der Kirchen im Bereich der eigenen Angelegenheiten sehen. So betont Hollerbach, daß der Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes gegenüber den mit „Eigenrechtsmacht" ausgestatteten Kirchen zur Wahrung der Gemeinwohlverantwortung des Staates erfolge 118 . „Demgemäß müssen Eigenrechtsmacht der Kirche und Eigenrechtsmacht des Staates zum Ausgleich gebracht werden. I n Anbetracht der grundlegenden Bedeutung der Gewährleistung von Kirchenfreiheit in einem säkularen Gemeinwesen kann ein „für alle geltendes Gesetz" nur ein solches sein, das zwingenden Erfordernissen für ein friedliches Zusammenleben von Kirche und Staat entspricht 119 ." Bei der somit gebotenen Güterabwägung zwischen der Freiheit kirchlichen Wirkens einerseits und der staatlichen Gemeinwohlverantwortung andererseits 120 sei nach den Grundsätzen zu verfahren, die das Bundesverfassungsgericht für die Interpretation von Art. 5 GG aufgestellt hat: Es sei einerseits die Freiheit der Kirchen im Lichte der durch die Schrankenformel aufgerichteten Grenzen zu sehen, andererseits der Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes im Lichte der grundsätzlichen Verbürgung kirchlicher Freiheit auszulegen121. Einer solchen Bestimmung des Inhalts der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV kann grundsätzlich zugestimmt werden. Andererseits ist jedoch nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden, daß eine solche bloße Abwägungsformel nicht ausreiche, vielmehr der staatskirchenrechtlichen Praxis zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten genauere Inhaltsbestimmungen der Schrankenklausel an die Hand gegeben werden müßten 122 . Freilich hat Hollerbach selbst betont, die von ihm gegebene „Umschreibung" der Schrankenklausel wolle „nicht mehr als die grundsätzliche Richtung für die Deutung im einzelnen angeben" 123 . V. Eine über bloße Abwägungsformeln hinausgehende Auslegung der Schrankenklausel versuchen jene Stellungnahmen, die für die Anwendung des für alle geltenden Gesetzes zwischen dem internen und dem nach außen wirkenden Handeln der Kirchen unterscheiden. 1. Nach dieser Auffassung sollen die Kirchen, soweit es sich um „innerkirchliche Maßnahmen, die im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten", handelt, „im Rahmen ihrer 118
Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61 f. Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 62; vgl. auch ders., S. 120 ff.; v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 271. 120 Vgl. Hollerbach, S. 122. 121 Vgl. v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 271, unter Hinweis auf BVerfGE Bd. 7, S. 210 (Lüth-Urteil). 122 Vgl. Quaritsch, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 113 (Diskussion); Hesse, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 138 (Diskussion). 123 Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 62, Anm. 26. 118
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Selbstbestimmung nicht an das für alle geltende Gesetz gebunden sein" 124 . Als Raum eigener Angelegenheiten, „in dem das für alle geltende Gesetz nicht gilt (und nie gegolten hat)", wird dabei „jener dem neuzeitlichen Staate fremde Bereich" bezeichnet, „der nach Inhalt und Wesen vom Bekenntnis durchwaltet ist und seine Gestalt durch den Vollzug des überirdischen Auftrags gewinnt, also Dogma und Kultus, Verfassung sowie Rechte und Pflichten der Mitglieder. I n dieser Sphäre gelten allein die Entscheidungen der Religionsgemeinschaften" 125. Zur Begründung dieser Auffassung beruft sich Mikat auf die Lehre von der ursprünglichen Hoheitsgewalt der Kirchen 128 , deretwegen, „soweit die Kirchen kraft eigenen Rechts in einem vom Staat wesensmäßig verschiedenen Bereich leben", jede Hoheit des Staates über sie ausscheide127. Quaritsch zieht zu einer solchen Interpretation von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV das individuelle und kollektive Grundrecht der ungestörten Religionsausübung heran 128 , während Hermann Weber und Martens sich sowohl auf das Selbstbestimmungsrecht des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV wie auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen: Danach gebe es kein vom Staat gesetztes Recht darüber, was der geistliche Auftrag der Kirche, ihre Lehre, ihr Evangelium erfordern, und es dürfe es auch nicht geben 129 . 2. Eine Bindung der Kirchen an das für alle geltende Gesetz wird dagegen angenommen, wenn eine Angelegenheit der Kirche „aus dem innerkirchlichen („internen") Bereich in die Welt des Staates und des Staatsbürgers hineinwirkt" 1 8 0 ; wenn es sich um kirchliche Tätigkeiten handelt, „die auch Rechtswirkungen im staatlichen Rechtsbereich entfalten", d. h. um eine Maßnahme, „die in ihrer praktischen Durchführung auch einen Aufgabenbereich des Staates berührt" 181 ; wenn die Kirchen ihrem Wirken „rechtliche Wirksamkeit nach außen verleihen (wollen) oder... sich zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben in die Sphäre des gesellschaftlichen Zusammenlebens" begeben 132 . I n diesen Fällen unterliegen 124
Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 387, 388. Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295. Inhaltlich übereinstimmend Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 179; ders., Kirche und Staat, S. 21; Pirson, S. 201, 202; H. Weber, S. 38; Martens, S. 139; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 342; Schlief, S. 255; Keim, S. 135; wohl auch Hering, Festschrift für Jahrreiss, S. 95/96. 128 Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 179. 127 Mikat, Kirche und Staat, S. 20. 128 Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295. 129 So H. Weber, S. 38; vgl. auch Martens, S. 139. 1,0 Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295. Inhaltlich übereinstimmend Pirson, S. 201. 131 Mikat, Die Grundrechte Band IV/1, S. 178 und 179. 132 H. Weber, S. 38. Nach Martens, S. 140, unterliegen die Kirchen dem für alle geltenden Gesetz dort, „wo sie die Sphäre ihrer eigenen Angelegenheiten ver125
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die Kirchen den „allgemeinen Gesetzen", d.h. jedem Gesetz, „das die Kirchen nicht speziell als Religionsgesellschaften, sondern in der gleichen indifferenten Eigenschaft anspricht wie jeden Bürger" 183 . Es handele sich hierbei um Normen, die von jedermann unter Wahrung seiner Gewissensfreiheit befolgt werden könnten 134 . Deshalb werden z. B. Normen ausgeschieden, die nur an den Staat gerichtet sind, z. B. Vorschriften zur Regelung der Staatsorganisation und der Ausübung der Staatsgewalt 136 . 3. Diese Auslegung der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV besitzt den Vorteil, daß sie die oben beschriebenen allgemeinen Abwägungsformeln wenigstens teilweise konkretisiert. Ihrer Unterscheidung zwischen dem auf den religiösen Internbereich beschränkten und dem nach außen wirkenden Handeln der Kirchen liegt die zutreffende Erkenntnis zugrunde, daß das mittels der Schrankenklausel zu wahrende Gemeinwohlinteresse eines weltanschaulich-religiös neutralen Staates um so weniger im Spiel sein kann, je stärker das Handeln der Kirchen auf ihren religiösen Kernbereich bezogen ist. Mit der Unterscheidung verschiedener Arten des rechtlichen Handelns der Kirchen als Grundlage der Interpretation der Schrankenformel wird also ein prinzipiell richtiger Weg beschritten. Freilich lassen die bisher in dieser Richtung abgegebenen Stellungnahmen noch manche Frage offen. Zunächst ist zu bemerken, daß die Umschreibungen jenes Bereichs, in dem das für alle geltende Gesetz gelten soll, nicht sehr genau sind, im übrigen auch untereinander differieren. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts etwa soll das für alle geltende Gesetz nur für jene innerkirchlichen Maßnahmen nicht gelten, die im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten 186 . Nach Mikat soll es dagegen ausreichen, wenn eine Maßnahme der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei ihrer Durchführung einen Aufgabenbereich des Staates berührt 137, während
lassen und in den staatsgesetzlich geordneten Bereich der Gesellschaft hinaustreten". 188 H. Weber, S. 40 unter Berufung auf H. Krüger, DÖV1961, S. 727. 134 Quaritsch, Der Staat 1962, S. 294. Ähnlich Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 179: Soweit die Tätigkeit der Kirchen auch einen Aufgabenbereich des Staats berührt, „unterliegt sie der Geltung des auf diesem Gebiete für alle geltenden Gesetzes". Nach Pirson, S. 200, handelt es sich um die Schranken, „die jedem Rechtssubjekt durch die staatliche Rechtsordnung gesetzt sind". — Für die Geltung der allgemeinen Gesetze treten ferner ein Scheffler, S. 219 f.; Schlief, S. 255; Keim, S. 133. 185 Quaritsch, Der Staat 1962, S. 294. 158 Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 387 f. 187 Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 179.
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Quaritsch darauf abstellt, ob das Handeln der Kirche in den staatlichen Bereich hineinwirkt 128. Nicht ganz treffend erscheint auch die Formulierung, bei ihren sich im weltlichen Bereich vollziehenden Handlungen seien die Karchen wie jeder Bürger schlechthin an alle „allgemeinen Gesetze" gebunden. Dies trifft im Prinzip wohl zu. Andererseits kommt so aber nicht genügend zum Ausdruck, daß auch dort, wo das Handeln der Kirchen den staatlichen Gesetzen unterliegt, bei deren Anwendung die religiöse Eigenart der Kirchen wegen Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV berücksichtigt werden muß. So schließen etwa die Kirchen bei der Beschäftigung von Laienangestellten (Pfarrsekretärinnen, Seelsorgshelferinnen, Organisten) Dienstverträge des staatlichen Rechts und sind dabei also grundsätzlich an die allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften gebunden. Diese können freilich nicht schematisch auf die Kirchen angewandt werden, sondern müssen für die Berücksichtigung der Eigenarten kirchlicher Anstellungsverhältnisse Raum lassen 139 . So wird etwa den Kirchen ein (außerordentliches) Kündigungsrecht auch in Fällen zugestanden, in denen ein anderer Arbeitgeber nicht kündigen dürfte. So sind die Kirchen ausdrücklich von der Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes ausgenommen (§ 81 Abs. 2 BetrVerfG). VI. Auch in bezug auf die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV muß also zusammenfassend festgestellt werden, daß ihre Bedeutung weiterer Klärung bedarf. Hierzu erscheint es weniger erfolgversprechend, nach Verfeinerungen der bislang gefundenen allgemeinen Aussagen über den Inhalt der Schrankenklausel zu suchen. Es sollte statt dessen der Versuch unternommen werden, diese allgemeinen Aussagen dadurch zu präzisieren, daß man für die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit staatlicher Gesetze auf das Handeln der Kirchen verschiedene konkrete Fallgruppen herausarbeitet. D. Die Unterscheidung von Kirchen und kleinen Religionsgemeinschaften
Es ist schließlich die Frage zu erörtern, ob die Auffassung einiger Vertreter der herrschenden Lehre, bei der Auslegung von Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV sei zwischen Kirchen und kleineren Religionsgemeinschaften mit dem Ergebnis zu unterscheiden, daß nur den ersteren Eigenständigkeit, den letzteren dagegen lediglich Autonomie zukomme, überzeugen kann. Dabei muß betont werden, daß hier nur diese begrenzte
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Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295. Vgl. dazu unten S. 128 f.
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Fragestellung, nicht dagegen das umfassendere Problem der Parität oder Imparität beider Gruppen behandelt wird 1 4 0 . Zur Begründung dieser Unterscheidung wird ausgeführt, die überragende Bedeutung der Kirchen in der Öffentlichkeit lasse eine Gleichstellung mit den unzähligen kleineren Religionsgemeinschaften nicht zu 1 4 1 . Die Kirchen hätten vielmehr einen Sonderstatus inne, der von zwei einander bedingenden Momenten bestimmt sei: der inneren und äußeren Emanzipation der großen Kirchen von der staatlichen Kirchenhoheit und der Mitübernahme der Verantwortung für das „soziale Ganze", die sie neben dem Staat und mit dem Staat zu „öffentlichen Ordnungsmächten" habe werden lassen 142 , die einen besonderen öffentlichen Status besitzen 148 . Dieser besondere, nicht vom Staat verliehene öffentliche Status hebe die Kirchen auch über alle übrigen öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgesellschaften hinaus. Erst recht gelte das gegenüber den Religionsgesellschaften des Privatrechts, die nicht die Anforderungen erfüllten, „welche Voraussetzung ihrer Anerkennung als Bestandteil der verfassungsmäßig bejahten guten öffentlichen Ordnung sind". Selbst wenn diese Religionsgesellschaften ihre Rechtsgewalt als eigenständig verstünden, fehle für den Staat deshalb (im Gegensatz zu den großen Kirchen) jede Voraussetzung, diesen Anspruch anzuerkennen 144 . Die Gewalt der kleineren Religionsgemeinschaften sei für das staatliche Recht daher „nicht eigene Gewalt, sondern Verbandsgewalt, wie jede andere" 145 . Dieser Auffassung ist verschiedentlich widersprochen worden 146 . Ihre Richtigkeit muß in der Tat bezweifelt werden. Sie widerspricht bereits dem Wortlaut von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV, der unterschiedslos von allen Religionsgesellschaften, d.h. von Kirchen und kleinen Religionsgemeinschaften gemäß neuerer Terminologie spricht. Demgegenüber ist mit Hinweisen auf die besondere Öffentlichkeitsbedeutung der großen Kirchen nichts auszurichten. Diese Öffentlichkeitsbedeutung, 140 Zum Problem der Parität vgl. Mayer-Scheu, Grundgesetz und Parität von Kirchen und Religionsgemeinschaften. 141 So Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 168. 142 Hesse, ZevKR Bd. 3 (1953/54), S. 190. 148 Hesse, ZevKR Bd. 3 (1953/54), S. 192. 144 Hesse, ZevKR Bd. 3 (1953/54), S. 193 f., unter Berufung auf Smend, ZevKR Bd. 2 (1952/53), S. 376. 145 Hesse, ZevKR Bd. 3 (1953/54), S. 193; ausdrücklich zustimmend Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 167; vgl. auch Mikat, a.a.O., S. 173 f. 148 Vgl. Lehmann, S. 96; H. Weber, S. 40; Mayer-Scheu, S. 163 m. w. N.; auch Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 60 spricht von dem für alle Religionsgemeinschaften gleichen konstitutionellen Grundstatus, zu dem er auch Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V zählt.
4 Jurina
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deren Existenz nicht bestritten werden soll, betrifft das Wirken der Kirchen als gesellschaftliche Macht in der Öffentlichkeit, hat also unter juristischen Aspekten mit der Frage, wie die interne Rechtsetzung von Kirchen und Religionsgemeinschaften rechtlich zu qualifizieren sei, nichts zu tun. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß sich in der neueren Diskussion, wie oben ausgeführt wurde, die Tendenz verstärkt, die Eigenständigkeit des Kirchenrechts aus dessen religiöser Eigenart abzuleiten. Dann ist aber nicht ersichtlich, inwiefern diese besondere religiöse Prägung nur dem Recht der großen Kirchen zukommen sollte.
Drittes Kapitel
Gegenstand und Methode der Untersuchung I. Die voranstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß die von der herrschenden Meinung vertretenen Thesen zur Deutung des Rechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, zahlreiche Fragen offen lassen. 1. In bewußter Abkehr von der in der Weimarer Zeit herrschenden Ansicht wird allgemein die Auffassung vertreten, daß gem. Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV den Kirchen nicht bloße „Autonomie", sondern „Eigenständigkeit" zukommt. Für diese für das System des geltenden Staatskirchenrechts grundlegende These ist eine befriedigende verfassungsrechtliche Begründung bislang jedoch nur in Ansätzen entwickelt worden. Andererseits finden sich, wie gezeigt, eine Reihe von Begründungsversuchen, die näherer verfassungsrechtlicher Betrachtung nicht standhalten. 2. Das von der herrschenden Auffassung grundsätzlich als „eigenständig" qualifizierte Kirchenrecht wird um der den Kirchen durch Art. 140 GG/137 Abs. 5 WRV verliehenen Körperschaftsstellung willen als öffentliches Recht in einem „weiteren Sinne" bezeichnet. Auch diese Aussage weckt Zweifel; es scheint nur schwer miteinander vereinbar zu sein, daß man einerseits die Andersartigkeit des Kirchenrechts, seine Eigenständigkeit, betont und gleichzeitig dieses eigenständige Kirchenrecht mit dem im Dienst ganz anderer Zwecke stehenden staatlichen öffentlichen Recht in einer Kategorie „öffentlichen" Rechts zusammenfaßt. 3. Es ist ferner keineswegs geklärt, welchen Inhalt das die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem Internbereich begrenzende „für alle geltende Gesetz" hat. Die Klärung dieser Frage ist jedoch von zentraler Bedeutung, da ohne ihre Lösung Umfang und Wert der
3. Kap.: Gegenstand und Methode der Untersuchung
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Selbständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich der eigenen Angelegenheiten nicht zutreffend erkannt werden können. 4. Zu den grundlegenden Aussagen der herrschenden staatskirchenrechtlichen Auffassung gehört schließlich die im Bereich des Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV vorgenommene Differenzierung zwischen den Kirchen, denen Eigenständigkeit, und den kleineren Religionsgemeinschaften, denen lediglich vom Staat abgeleitete Rechtsetzungsgewalt zuerkannt wird. Diese Unterscheidung ist jedoch, wie dargetan, schon deshalb wenig überzeugend, weil sie dem Wortlaut von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV eindeutig widerspricht. Dies führt zu der zusammenfassenden Feststellung, daß der Inhalt und die Bedeutung des den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V verbürgten Rechts zur (in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes) selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten nicht als verfassungsrechtlich geklärt betrachtet werden können. Dieses Ergebnis legt es nahe, neu zu prüfen, welche rechtlichen Befugnisse den Kardien und Religionsgemeinschaften nach geltendem Staatskirchenrecht für den Bereich der eigenen Angelegenheiten zukommen. Einen Versuch hierzu stellt diese Schrift dar. II. Den bisherigen Ausführungen dieser Untersuchung lag die in Schrifttum und Praxis bislang allgemein vertretene Auffassung zugrunde, daß Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV als sedes materiae des Rechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur selbständigen rechtlichen Ordnung ihres Internbereichs zu betrachten ist. Danach wäre es Aufgabe dieser Untersuchung, den Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV auszulegen. 1. Dieser Auffassung ist in der neueren Literatur jedoch widersprochen worden. Ausgangspunkt der insoweit angestellten Überlegungen ist die erst relativ spät in ihrer staatskirchenrechtlichen Bedeutung erkannte Tatsache, daß das in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte Grundrecht der Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit nicht nur den Mitgliedern der Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern gem. Art. 19 Abs. 3 GG auch diesen Gemeinschaften selbst zukommt 147 . Hieraus hat Listl die These abgeleitet, daß das Recht der Kirchen auf selbständige Gestaltung ihres Internbereichs sich bereits aus Art. 4 GG ergebe, so daß Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V lediglich als eine „Deklara147 Vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 132; BVerfGE Bd. 24, S. 246; dazu Scholtissek, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 107 ff. — Allgemein und grundsätzlich zur Bedeutung der Religionsfreiheit für das Staatskirchenrecht Hesse, ZevKR Bd. 11 (1964/65), S. 337 ff.; Scheuner, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1, S. 132 ff.; ders., D Ö V 1967, S. 585 ff.; Häberle, DÖV 1969, S. 386.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
tion des in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit anzusprechen ist" 1 4 8 . Dies folge daraus, daß Art. 4 GG den Kirchen nicht nur Bekenntnis- und Kultusfreiheit, sondern auch die religiöse Vereinigungsfreiheit garantiere 149 . Dieses Recht auf religiöse Vereinigungsfreiheit sei ebenso auszulegen wie die den weltlichen Vereinigungen zukommende Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 und 3 GG. Dieses Grundrecht schütze nicht nur den Vorgang des Zusammenschlusses zu einer Vereinigung, sondern garantiere zugleich „das korporative Existenz- und Betätigungsrecht dieser Vereine, Gesellschaften und Koalitionen", gewährleiste ihnen also das „Recht auf Entstehen und Bestehen" 150 . In gleicher Weise gewährleiste Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, insofern er das Recht der Kirchen auf religiöse Vereinigungsfreiheit enthalte, „das korporative Daseins- und Betätigungsrecht der religiösen Vereinigungen selbst, jeweils unabhängig vom Staat die durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zu allseitiger Erfüllung wahrzunehmen" 151 . Daraus folge das Grundrecht der Religionsgesellschaften, „in der grundsätzlichen Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung von jeder formellen oder materiellen Bestimmung oder Beeinflussung des Staates ihre Angelegenheiten zu ordnen und zu verwalten" 162 . Dieses Recht sei Ausfluß der „Organisationsgewalt körperschaftlich organisierter religiös zweckgebundener Gemeinschaften von Angehörigen eines gemeinsamen Bekenntnisses". So sei das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht nur in Art. 137 Abs. 3 WRV, sondern auch grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gesichert. Art. 4 GG und Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV regelten somit denselben Gegenstand153. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV stelle daher nur eine „deklaratorische Verdeutlichung" von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dar 1 5 4 , da „der Inhalt des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV auch, und zwar primär, bereits im Grundrecht des Art. 4 GG enthalten ist" 1 5 5 . Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV erfülle aber dennoch eine bedeutsame Funktion: er sei „Ausdruck der Eigenrechtsmacht" der Kirchen, da dieses Recht in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG „nicht in ausreichendem Maße dokumentiert" werde 1 5 6 .
148
Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 87 und S. 137. Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 76. 150 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 75. 151 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 77 und 86. 152 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 87 unter Berufung auf Schlief, S. 216 f. 158 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 87. 154 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 89. 155 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 137 (Hervorhebung im Original). 156 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 89. 149
3. Kap.: Gegenstand und Methode der Untersuchung
53
2. Zustimmend zu den Thesen Listls hat sich Scholtissek geäußert 157 . Audi Scheuner hat bemerkt, die Auswirkung der Glaubensfreiheit „bedeute" eine Scheidung der inneren Ordnung der Kirchen von der Sphäre des staatlichen Rechts, woraus folge, daß der weltanschaulich neutrale Staat nicht in den Bereich der eigenständigen kirchlichen Verwaltung eingreife. Die Selbständigkeit kirchlicher Eigenregelung werde „in ihrem Kern auch durch Art. 4 GG gedeckt" 150 . III. Diesen Versuchen, der Vorschrift des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV die selbständige Bedeutung dadurch zu nehmen, daß sie als bloße Verdeutlichung des Art. 4 GG betrachtet wird, kann nicht zugestimmt werden. 1. Die Erstreckung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften ist zwar von großer staatskirchenrechtlicher Bedeutung. Indem der Staat den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst die Freiheit des Glaubens, des Bekenntnisses und der Religionsausübung garantiert, umgibt er die Mitte der Lebensäußerungen dieser Gemeinschaften mit grundrechtlichem Schutz. Kirchen und Religionsgemeinschaften erhalten so einen Status grundsätzlicher Freiheit im Staat 159 , der nicht zur Disposition des Staates gestellt ist. Die Bedeutung dieses Grundrechts für Kirchen und Religionsgemeinschaften wird noch verstärkt, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht der Ansicht ist, daß die in Art. 4 Abs. 2 GG verbürgte Freiheit der Religionsausübung angesichts der zentralen Bedeutung dieses Rechts für jeden Glauben und für jedes Bekenntnis „gegenüber seinem historischen Inhalt extensiv ausgelegt werden" muß, so daß durch dieses Recht nicht mehr nur kultische Handlungen, sondern auch „andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens" geschützt werden 160 . Hierzu zählt das Bundesverfassungsgericht etwa die Liebestätigkeit der Kirchen 161 . 2. Dies alles ist jedoch kein hinreichender Grund, die selbständige Bedeutung des Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V zu verneinen. a) Diese Vorschrift garantiert, wie ihr Wortlaut eindeutig ergibt, die spezifische Befugnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre eige157
Scholtissek, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 110 und
S. 172. 158
Scheuner, DÖV1967, S. 591. 159 Von der Garantie der „Kirchenfreiheit" durch Art. 4 G G spricht auch Höllerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 60. wo BVerfGE Bd. 24, S. 246 (Hervorhebung hinzugefügt). Zum Problem einer extensiven oder restriktiven Auslegung von Art. 4 GG vgl. im übrigen Zippelius, Bonner Kommentar, Art. 4 GG, Zweitbearbeitung, Rdnr. 41 ff., bes. Rdnr. 45. 161 BVerfGE Bd. 24, S. 247.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
nen Angelegenheiten selbständig zu „ordnen" und zu „verwalten", d. h. einem von ihnen selbständig geschaffenen rechtlichen Regime zu unterstellen. Dies impliziert, wie noch näher auszuführen sein wird, vor allem das Recht zu eigener Rechtsetzung durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch die Befugnis zur selbständigen Durchführung und Anwendung dieses Rechts. Dies erweist den Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV als Sondervorschrift für die genannten Befugnisse, die kraft ausdrücklicher Anordnung des Verfassungsgebers neben der allgemeinen Garantie der Kirchenfreiheit durch Art. 4 GG steht. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß lediglich Art. 4 GG eine durch das Grundgesetz geschaffene Norm darstelle, Art. 140 GGl 137 Abs. 3 WRV dagegen in das Grundgesetz „nur" rezipiert worden sei. Wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht betont hat, sind die durch Art. 140 GG ins Grundgesetz rezipierten Kirchenartikel „vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geworden und stehen gegenüber den anderen Artikeln des Grundgesetzes nicht etwa auf einer Stufe minderen Ranges"1«. Dies gilt auch für Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Als mit dem System des Grundgesetzes vereinbar kann daher nur diejenige Auslegung betrachtet werden, die die vom Verfassunggeber gewollte spezifische Bedeutung des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nicht hinweginterpretiert. Das Verhältnis von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in seiner Anwendung auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften und Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist daher — unter Zugrundelegung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten extensiven Interpretation von Art. 4 Abs. 2 GG — wie folgt zu bestimmen: Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantiert den Kirchen und Religionsgemeinschaften das allgemeine Recht der freien Betätigung ihres Glaubens und Bekenntnisses, d. h. das Recht, als Kirche bzw. Religionsgemeinschaft so zu leben, wie dies der jeweilige Glaube gebietet. Dies meint (in hier nicht zu erörternden Grenzen) das Recht, den Glauben zu lehren und zu verkünden, das Recht zur freien Abhaltung und Gestaltung des Gottesdienstes, das Recht zur Vornahme anderer, durch den Glauben gebotener Handlungen, etwa zur Übung der kirchlichen Liebestätigkeit und Sozialarbeit, das Recht zur Mission etc. Ein Eingriff des Staates in die genannten Sachbereiche wäre demnach nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Verletzung eines durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantierten allgemeinen kirchlichen „Selbstbestimmungsrechts", sondern als Verletzung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG rechtlich zu würdigen. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantiert demgegenüber die besondere Befugnis, den Bereich 1W
BVerfGE Bd. 19, S. 219.
3. Kap.: Gegenstand und Methode der Untersuchung
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„eigener Angelegenheiten" selbständig, d. h. frei von staatlicher Einflußnahme, rechtlich auszugestalten. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgt den Kirchen und Religionsgemeinschaften also allgemein die Freiheit der faktischen Betätigung von Glaube und Bekenntnis. Sofern hierzu kirchliche Rechtsakte gesetzt werden, gilt die Sondervorschrift des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV, der gerade auf diese kirchlichen Rechtsakte abhebt und ihre freie Vornahme durch Kirchen und Religionsgemeinschaftten selbst garantiert 168 . b) Für die hier vertretene Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV als Spezialregelung der Befugnis von Karchen und Religionsgemeinschaften, den Bereich der eigenen Angelegenheiten einem eigenen rechtlichen Regime zu unterstellen, spricht im übrigen auch, daß diese Vorschrift nicht nur die genannte Befugnis garantiert, sondern ihr zugleich Schranken auferlegt, die vom Staat her gesehen unabdingbares Korrelat der grundsätzlichen Freiheitsgewährung sind. Dieser besondere, von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV gewollte Zusammenhang zwischen gleichzeitiger Garantie und Begrenzung der Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften würde zerrissen, wenn man das Recht zur freien rechtlichen Ausgestaltung des Internbereiches der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Art. 4 GG angesiedelt sehen wollte, der keine ausdrücklichen Grundrechtsschranken enthält. Es mag zwar sein, daß, wie Listl annimmt1®4, unter Zugrundelegung immanenter Schranken des Grundrechts aus Art. 4 GG eine in dieser Vorschrift verankerte Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur rechtlichen Gestaltung ihres Internbereichs im Ergebnis inhaltsgleichen Schranken unterläge wie bei der Anwendung der Schrankenklausel des „für alle geltenden Gesetzes" aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Es sollte aber nicht übersehen werden, daß Inhalt und Reichweite immanenter Schranken jener Grundrechte, die durch keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt sind, nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion keineswegs als geklärt gelten können, so daß man sich mit einer Hintanstellung der Schrankenklausel des Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV und der sich dann ergebenden Notwendigkeit, nach 1 M Für eine ähnliche Unterscheidung auch Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61: Die durch das Grundrecht der Religionsfreiheit garantierte K i r chenfreiheit sei „nach der Seite der Rechtsgestalt der Religionsgemeinschaften hin mitgewährleistet durch Art. 137 Abs. 3 WRV". — Auch Scheuner (DÖV 1967, S. 587) wendet sich gegen eine „Zurücksetzung der institutionellen Bestandteile der staatskirchenrechtlichen Ordnung", die nicht genügend berücksichtige, „daß seit den Anfängen der deutschen Verfassungen stets diese allgemeinen Aussagen über Kirche und Staat neben dem Grundrecht der Glaubensfreiheit in gleicher Weise zum alten überlieferten Grundrechtsbestand des deutschen Rechts gehört haben". 164 Listl, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 3, S. 89.
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1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
immanenten Grenzen einer aus Art. 4 GG folgenden Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur rechtlichen Ordnung ihres Internbereichs zu fragen, auf höchst unsicheres Gelände begäbe. Dazu besteht aber kein Anlaß, wenn das Grundgesetz selbst in Gestalt der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV eine nicht zuletzt durch eine gewisse staatskirchenrechtliche Tradition jedenfalls annähernd bestimmte Formel enthält. c) So ist zusammenfassend festzuhalten, daß trotz der grundsätzlichen Bedeutung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG für das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik die Vorschrift des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im heutigen Staatskirchenrecht einen selbständigen Inhalt behalten hat. Nach wie vor ist also der Umfang und die Bedeutung der Befugnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur selbständigen rechtlichen Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten einer Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu entnehmen. d) Die hier vertretene Unterscheidung der Anwendungsbereiche von Art. 4 GG und Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV kann (und soll) freilich nicht ausschließen, daß das durch Art. 4 GG geschützte Recht zu freiem Bekenntnis und freier Religionsausübung und die durch Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV geschützte freie rechtliche Ordnung des Internbereichs der Karchen und Religionsgemeinschaften innerlich eng zusammenhängen und die Wirkungsbereiche beider Vorschriften sich im Einzelfall sogar überschneiden. Das wird etwa am Gottesdienst deutlich: Als Urform der Religionsausübung fällt er in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 2 GG, so daß etwa seine freie Ausgestaltung durch dieses Grundrecht geschützt wird. Soweit freilich die Regeln über die Gottesdienstgestaltung zugleich Vorschriften des kirchlichen Rechts darstellen, wie dies etwa im kanonischen Recht der katholischen Kirche der Fall ist, ist die Freiheit dieser Rechtserzeugung zugleich in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV verbürgt. So läßt sich in der Tat sagen, daß die den Kirchen und Religionsgemeinschaften gemäß Art. 4 GG zukommende Religionsfreiheit und das in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV geschützte Recht zur rechtlichen Gestaltung des Internbereichs „nur zwei Seiten ein und derselben Sache" sind 166 . Dann kann man in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch den sachlichen Grund für die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantierte Freiheit zur rechtlichen Ausgestaltung des Internbereichs der Kirchen und Religionsgemeinschaften erblicken 166 . Das kann aber nichts daran ändern, daß dem 166
So Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61. Nach Albrecht, S. 143 f., sind die verfassungsrechtlichen Einzelregelungen über die Rechtsstellung der Kirchen i m wesentlichen normativ verselbständigte Konsequenzen der Grundnorm der Glaubensfreiheit. 166
3. Kap.: Gegenstand und Methode der Untersuchung
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System der staatskirchenrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes nur entsprochen werden kann, wenn Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV einen je spezifischen Anwendungsbereich behalten. Sie regeln dann dieselbe „Sache", nämlich die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber dem Staat, aber je von einer anderen Seite her. IV. Für die Bestimmung des Gegenstandes dieser Untersuchung folgt daraus, daß die Frage nach Umfang und Bedeutung des Rechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur selbständigen rechtlichen Ordnung ihres Internbereichs mit Hilfe einer Bestimmung des Inhalts von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu beantworten ist. Der Auslegung dieser Vorschrift dienen die sich anschließenden Überlegungen. V. Diese Fragestellung wird in dieser Untersuchung als verfassungsrechtliches Problem betrachtet 167 . Damit scheidet zum einen die Möglichkeit aus, das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften über ihr Verhältnis zum Staat als verbindlichen Maßstab zur Lösung der von uns behandelten Fragen zu betrachten. Ebensowenig jedoch kann sich diese Untersuchung an einem in der Bundesrepublik angeblich verwirklichten staatskirchenpolitischen System orientieren. Gegenstand dieser Untersuchung ist vielmehr allein die Frage, welche Befugnisse den Kirchen und Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV als einer Vorschrift der Verfassung, d. h. des staatlichen Rechts, zukommen. Bei der Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist im übrigen, was die Methode der Auslegung anlangt, grundsätzlich ebenso zu verfahren wie bei der Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen. Dies bedingt insbesondere die Notwendigkeit, Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV in Zusammenhang mit den anderen für das Verhältnis von Staat und Kirche relevanten Regeln der Verfassung zu sehen 168 . Hierbei kommt der in Art. 4 GG verbürgten Religionsfreiheit 169 sowie dem aus dieser und aus anderen Vorschriften des Grundgesetzes abgeleiteten Verfassungsprinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates eine besondere Bedeutung zu. Es ist dagegen nicht zulässig, einseitig eine auf den Rechtszustand der Weimarer Zeit bezogene historische Auslegung der durch
187
Zum Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts vgl. die Ausführungen bei Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 58 ff. und H. Weber, S. 15 ff, ™ Vgl. Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 58, Anm. 9; H. Weber, JuS 1967, S. 437 ff. 169 Vgl. auch Obermayer, DÖV1967, S. 11.
58
1. Teil: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach herrschender Lehre u. Praxis
Art. 140 GG ins GG eingefügten Kirchenartikel zu betonen 170 oder die Anwendbarkeit des sonst zu beachtenden Interpretationsprinzips der „Einheit der Verfassung" deshalb zu verneinen, weil den inkorporierten Kirchenartikeln der „Charakter einer Kompromißlösung", von „Sonderbestimmungen" zukomme, die keine „eigentliche Neuordnung" des Verhältnisses von Staat und Kirche darstellten 171 .
170
So aber — allerdings ausdrücklich für Art. 140 GG/137 Abs. 6 W R V S. Grundmann, JZ 1967, S. 194 ff.; vgl. die Kritik bei H. Weber, JuS 1967, S. 439. 171 So Haberle, DVB1. 1966, S. 218, Anm. 19. Dagegen Obermayer, D Ö V 1967, S. 11, Anm. 25; Hollerbach, AöR 92. Bd. (1967), S. 114, Anm. 61.
ZWEITER T E I L
Der Eigenbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften Erstes Kapitel
D i e „eigenen 46 Angelegenheiten I. Den Anknüpfungspunkt für die in Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV getroffene Regelung besonderer rechtlicher Befugnisse der Kirchen und Religionsgemeinschaften bildet die Hervorhebung eines Bereichs „eigener" Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der dem Sinn dieser Vorschrift nach von den „staatlichen" Angelegenheiten zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung beruht, wie auch schon im älteren deutschen Staatskirchenrecht, auf der für die Beziehungen von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften grundlegenden Erkenntnis, daß dem Staat als weltlichem Gemeinwesen für die auf die Religion bezüglichen Materien keine sachliche Kompetenz zukommt, daß Glaube und Bekenntnis jenseits der Aufgaben des Staates liegen, der Staat folglich von der Besorgung religiöser Angelegenheiten abzusehen hat. Dies folgt im geltenden Recht jedoch nicht mehr nur aus einer allgemeinen theoretischen Besinnung über die unterschiedlichen Aufgaben von Staat und Kirchen, sondern ergibt sich unmittelbar aus dem Verfassungsgrundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Dieses Prinzip zählt „als Voraussetzung eines freien politischen Prozesses und als Grundlage heutiger Rechtsstaatlichkeit"1 zu den fundamentalen Sätzen des geltenden Verfassungsrechts. Der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ergibt sich, wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, aus zahlreichen Vorschriften des Grundgesetzes2. Er findet seine Grundlage in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, der dem Einzelnen wie auch den Kirchen bzw. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaf1 8
Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 147. Vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 216.
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2. Teil : Der Eigenbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften
ten Religions- oder Weltanschauungsfreiheit verbürgt. Die Distanz des Staates zum Bereich des Religiösen drückt sich ferner in jenen Verfassungsnormen aus, die es dem Staat und seinen Organen verbieten, den Einzelnen wegen seines religiösen Bekenntnisses zu bevorzugen oder zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG). Somit hat der Staat dem Einzelnen nicht nur seinen Glauben zu lassen, sondern darüber hinaus sein Recht so einzurichten, daß der Rechtsstatus des Einzelnen gegenüber dem Staat von seinem Glauben und seinem religiösen Bekenntnis nicht beeinflußt wird. Dieselben Grundgedanken finden sich in den über Art. 140 GG ins Grundgesetz übernommenen Vorschriften der Art. 136 Abs. 1 und Abs. 4 WRV. Von besonderer Bedeutung für die Begründung des Prinzips der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ist ferner das in Art. 140 GG/137 Abs. 1 WRV niedergelegte Verbot einer Staatskirche. Diese Vorschrift enthält, wenn auch nicht das Verbot schlechthin jeder institutionellen Verbindung 3 , so doch das Verbot solcher institutionellen Verklammerungen zwischen Staat und Kirche, die zur Leitung einer Kirche durch den Staat bzw. seine Organe führen. Art. 140 GG/137 Abs. 1 WRV verbietet somit eine institutionelle Verbindung von Staat und Kirchen „im inneren Verfassungsrechtskreis" und bringt so die zwischen ihnen bestehende „Scheidung in der Wurzel" zum Ausdruck 4. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zieht nur die Konsequenz aus dem in den genannten Vorschriften niedergelegten Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, wenn er von den staatlichen „eigene" Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften unterscheidet und diese einem besonderen verfassungsrechtlichen Regime unterstellt. II. Es besteht heute weitgehende Einigkeit darüber, daß die Abgrenzung des Eigenbereichs der Kirchen und Religionsgemeinschaften von den staatlichen Angelegenheiten nach materiellen Kriterien zu erfolgen hat, nämlich danach, „was der Natur der Sache oder der Zweckbeziehung nach als eigene Angelegenheit der Kirchen anzusehen ist" 5 . 1. Diese Formel kann grundsätzlich akzeptiert werden. Sie bedarf allerdings einer Ergänzung. Die genannte Formel verwendet als Maßstab der Abgrenzung kirchlicher und staatlicher Angelegenheiten die „Natur" oder die „Zweckbeziehung" der konkreten, dem Staat oder der Kirche zuzuordnenden Materie. Dies setzt eine Wertung voraus, die ihrerseits eines Maßstabes 8 So Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 112 und ihm folgend viele Autoren, vgl. die Nachweise bei Mayer-Scheu, S. 118, Fn. 1 und 2. 4 Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 62. 5 Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 387; Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 182; Hesse, S. 68; Keim, S. 132.
1. Kap.: Die „eigenen" Angelegenheiten
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bedarf. Daraus ergeben sich so lange keine Schwierigkeiten, als die Zuordnung einer bestimmten Materie zum kirchlichen oder staatlichen Sachbereich zwischen Staat und Kirche nicht streitig ist. Wenn hingegen eine Angelegenheit vom Staat wie der Kirche auf der Grundlage einer je verschiedenen Wertung in Anspruch genommen wird, erweist sich der bloße Verweis auf die „Natur der Sache" als nicht mehr ausreichend. Die hier gemeinte Situation läßt sich etwa am Rechtsinstitut der Ehe verdeutlichen. Es gibt vom Standpunkt des staatlichen Rechts aus keinen Zweifel an der Notwendigkeit der zwingenden Geltung eines zivilen Eherechts für alle Staatsbürger. Dies bedeutet, daß der Staat die Regelung der Ehe zu seinen Aufgaben zählt. Ebenso eindeutig folgert aber die katholische Kirche aus der Sakramentsnatur der Ehe eine ausschließliche kirchliche Zuständigkeit für die Fragen des Zustandekommens und des Bestandes einer Ehe unter Getauften 6 , zählt sie also auf Grund dieses Maßstabs die Ehe zu den kirchlichen Angelegenheiten. Je nachdem, von welcher Warte aus man die „Natur", die „Zweckbeziehung" der Ehe betrachtet, kommt man also zu ganz verschiedenen Zuordnungen dieses Rechtsinstituts. Es ist deshalb unumgänglich, der Formel von der „Natur der Sache" ein weiteres Kriterium anzufügen, nämlich zu bestimmen, welche der verschiedenen Sichten der „Natur" einer bestimmten „Sache" über deren Zuordnung zum staatlichen oder kirchlichen Bereich entscheiden soll. 2. Hierzu wird von Martin Heckel die Auffassung vertreten, daß die „Kirche... selbst nach Art. 137 I I I WV/140 GG" bestimmt, „was zu ,ihren Angelegenheiten' gehört" 7. Für die Bestimmung des Kreises der kirchlichen Angelegenheiten gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV wäre es demnach ausschlaggebend, welche Materien von den Kirchen und Religionsgemeinschaften als „eigene" Angelegenheiten in Anspruch genommen werden. Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Der Begriff der „eigenen Angelegenheiten" von Kirchen und Religionsgemeinschaften ist Bestandteil eines Rechtssatzes der staatlichen Verfassung, ist also selbst ein Begriff des staatlichen Rechts. Sein Inhalt kann daher nicht zur Disposition der Kirchen und Religionsgemeinschaften und ihres jeweils verschiedenen Selbstverständnisses stehen, sondern ist mit Hilfe jener Grundsätze und Maßstäbe zu ermitteln, die die Verfassung zur Bestimmung des Kreises der „eigenen Angelegenheiten" der Kirchen und Religionsgemeinschaften an die Hand gibt. Über die Zuweisung einer Materie zu den • Vgl. c. 1016 CIC. — Auf dieses Beispiel weist auch Böckenförde, Heft 26 (1968), S. 122 (Diskussion) hin. 7 M. HeckeZ, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 41.
WdStRL
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2. Teil: Der Eigenbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften
kirchlichen oder den staatlichen Angelegenheiten entscheidet demnach die durch den „Staat" getroffene Bewertung dieser Angelegenheit, was freilich keine Auslieferung an die Willkür irgendwelcher staatlicher Organe bedeutet8, sondern die auf Grund der Regeln der staatlichen Verfassung zu lösende Rechtsfrage meint, zu welchem Sachbereich eine bestimmte Angelegenheit zu zählen ist. Zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften gehören somit jene Materien, die „nach Inhalt und Wesen vom Bekenntnis durchwaltet" sind und ihre „Gestalt durch den Vollzug des überirdischen Auftrags" der Kirchen gewinnen9, so daß sie, vom Staat, d. h. von seiner Verfassung aus betrachtet, wegen der dem Staat gebotenen Distanz zum Bereich des Religiösen nicht in seinen Zuständigkeitsbereich einbezogen werden dürfen. Die Abgrenzung der kirchlichen von den staatlichen Angelegenheiten nach materiellen Kriterien, nach der „Natur der Sache" bzw. gemäß ihrer „Zweckbeziehung" hat also so zu erfolgen, daß gefragt wird, ob auf der Grundlage des in der Verfassung umschriebenen Zuständigkeitsbereichs des Staates bei der in Frage stehenden Materie eine sachliche Beziehung zu den Aufgaben des Staates zu erkennen ist, die den Vorbehalt der Sachentscheidung für die staatlichen Institutionen gebietet. Ist das der Fall, so muß innerhalb des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV die Zurechnung dieser Angelegenheit zum staatlichen Bereich selbst dann angenommen werden, wenn sie von einer Kirche oder einer Religionsgemeinschaft zu ihrem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich gezählt wird. Überwiegt dagegen, unter Zugrundelegung der genannten Gesichtspunkte, der geistlich-religiöse Gehalt einer Materie oder ist ein bestimmter Sachbereich, obwohl an sich mehr technischer Natur, eng mit dem geistlichen Lebensvollzug der Kirchen oder Religionsgemeinschaften verkünpft, liegt eine eigene Angelegenheit der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften ¡vor. 3. Dieser Grundsatz, daß die nach Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV vorzunehmende Abgrenzung des kircheneigenen vom staatlichen Bereich auf Grund des aus der Verfassung zu erschließenden staatlichen Selbstverständnisses zu erfolgen hat, muß jedoch mit gewissen Modifikationen versehen werden. a) Um sicherzustellen, daß die Zuweisung einer Materie zum staatlichen oder zum kirchlichen Sachbereich unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte erfolgt, ist es angebracht, die Stellungnahme der Kirchen und Religionsgemeinschaften über die Zuordnung der in
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Dies ist die Sorge von Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 181 f. • Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295.
. Kap.: Die „ e i e n " Angelegenheiten
63
Frage stehenden Materie in Betracht zu ziehen, in diesem Sinn also das kirchliche Selbstverständnis zu „berücksichtigen" 10. b) Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates für das geltende Verfassungsrecht wird immer dann, wenn eine Materie zu den staatlichen Angelegenheiten gerechnet wird, obwohl die Kirchen sie als „eigene" Angelegenheit für sich beanspruchen, genau zu fragen sein, in welchem Umfang diese Materie zum staatlichen Zuständigkeitsbereich gezählt werden muß. Sollte sich dabei ergeben, daß den staatlichen Zwecken auch mit einer teilweisen Einbeziehung dieser Angelegenheit in den staatlichen Sachbereich entsprochen werden kann, hätte sich das staatliche Recht auf diese teilweise Einbeziehung zu beschränken. c) Schließlich muß der Staat dort, wo er eine Materie zu seinem Bereich zählt, obwohl eine Kirche dafür die ausschließliche Zuständigkeit in Anspruch nimmt, es zulassen, daß die Kirche dieselbe Angelegenheit für ihren internen Bereich, ohne die staatliche Regelung anzutasten, einer eigenen kirchenrechtlichen Regelung unterwirft. Dies ist etwa für die Ehe geschehen, die zwar grundsätzlich als staatliches Rechtsinstitut betrachtet, in religiöser Hinsicht aber den Kirchen und Religionsgemeinschaften überlassen wird (vgl. § 1588 BGB). I I I . Über den Kreis der zu den einzelnen Angelegenheiten der Karchen und Religionsgemeinschaften gehörigen Materien herrscht heute weithin Übereinstimmung 11. 1. Hierzu sind zunächst die Glaubenslehre der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihr Gottesdienst sowie die Verwaltung der Sakramente zu zählen. Diese Materien bilden die Mitte der religiösen Lebensvollzüge der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie können nicht Aufgaben eines weltanschaulich-religiös neutralen Staates darstellen. Zu den eigenen Angelegenheiten gehören auch die kirchliche Verfassung, die Bestimmung der Aufgaben und Vollmachten der Träger der geistlichen Ämter sowie deren Erziehung und Ausbildung. Die in diesen Sachbereichen zu treffenden Entscheidungen sind untrennbar mit dem Glaubensbekenntnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften verknüpft und können daher nicht Sache des Staates sein. Eigene Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist auch die Umschreibung des Status ihrer Mitglieder. Deren Rechte und Pflichten lassen sich nur aus den theologischen Grundüberzeugungen der 10
Vgl. auch die — wohl weitergehenden — Ausführungen in BVerfGE Bd. 24, S. 247 f. 11 Vgl. die Aufzählung bei Hesse, S. 69; Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 182 ff.; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295; Keim. S. 132.
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2. Teil: Der Eigenbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften
Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften ableiten, so daß nicht der Staat über sie befinden kann. Damit ist es insbesondere Sache der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Kriterien für den Erwerb und den Verlust der Mitgliedschaft aufzustellen. Davon unberührt bleibt freilich das heute unbestrittene Recht des Staates, ein auf den staatlichen Rechtsbereich bezogenes Kirchenaustrittsrecht zu schaffen. Eine eigene Angelegenheit ist ferner die Ausgestaltung der Dienst- und Arbeitsverhältnisse der Laienbeamten, Angestellten und Arbeiter der Kirchen und Religionsgemeinschaften 12. Die Tätigkeit dieser Personen dient den Aufgaben und Zwecken der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Diesen muß daher grundsätzlich die Befugnis zugestanden werden, selbständig über die Voraussetzungen für die Begründung und die Beendigung dieser Dienstverhältnisse sowie über die mit ihnen verbundenen Rechte und Pflichten entscheiden zu dürfen. Zu den eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Sinn von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist schließlich das Vermögen dieser Gemeinschaften zu rechnen. Dieser besondere Schutz für das kirchliche Vermögen muß auf dem Hintergrund früherer Beschränkungen der Freiheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Verwaltung ihres Vermögens gesehen werden. Er ist mit der Erwägung zu rechtfertigen, daß die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem geistlichen Bereich nur dann effektiv gewährleistet ist, wenn diese über die Verwendung ihrer materiellen Güter selbst befinden können 18 . 2. Nach der soeben gegebenen Übersicht lassen sich zwei Gruppen eigener Angelegenheiten i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV unterscheiden: a) Die erste Gruppe umfaßt die Formen des geistlichen Lebens der Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie die auf Dogma und Lehre beruhende Organisation dieser Gemeinschaften. Hierzu zählen die Glaubenslehre der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihr Gottesdienst, die Verwaltung der Sakramente, die Kirchenverfassung, die Ordnung der geistlichen Ämter sowie des Status der Mitglieder von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Man könnte hier von dem Kernbereich eigener Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften sprechen. b) Andere Materien sind zwar nicht so eng mit dem geistlichen Auftrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften verknüpft, müssen aber dennoch zum den Kirchen und Religionsgemeinschaften vorbehaltenen Be12
Vgl. Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 72. Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 187; M. Heckel, S. 240; Bundesfinanzhof, Urteil vom 28. 2.1969, NJW 1969, S. 2032. 18
2. Kap.: Die „gemeinsamen" Angelegenheiten
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reich, d. h. den eigenen Angelegenheiten, gezählt werden, weil sie eine organisatorische Voraussetzung und die materielle Grundlage der Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten bilden. Hierzu zählen die Dienstverhältnisse der Laienbeamten, Angestellten und Arbeiter sowie das Vermögen der Kirchen und Religionsgemeinschaften.
Zweites
Kapitel
Die „gemeinsamen66 Angelegenheiten Herkömmlicherweise unterscheidet das deutsche Staatskirchenrecht neben den eigenen Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften und den staatlichen Angelegenheiten einen dritten Sachbereich, die „gemeinsamen" Angelegenheiten von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften („gemischte" Angelegenheiten, res mixtae). I. Will man die Bedeutung dieses Begriffs zutreffend erkennen, so muß man sich vergegenwärtigen, daß es sich hierbei nicht um etwas gegenüber den kircheneigenen und den staatlichen Angelegenheiten qualitativ Neues handelt, sondern um eine Bezeichnung für den in einigen Fällen anzutreffenden Sachverhalt, daß ein Gegenstand unter je verschiedenen Rücksichten sowohl zu den staatlichen wie den kircheneigenen Angelegenheiten gehört. Das ist dann der Fall, wenn diesem Gegenstand eine selbständige Zweckbeziehung (gemäß den oben entwickelten Kriterien) sowohl zum staatlichen wie zum kirchlichen Aufgabenbereich zukommt. Diese beiden Zweckbeziehungen verbinden sich aber nicht zu einer untrennbaren Einheit. Vielmehr müssen gemäß der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV enthaltenen Unterscheidung an diesem einen Gegenstand eine kirchliche und eine staatliche „Seite" unterschieden werden, die je für sich gesondert zu betrachten sind 14 . Der Begriff der gemeinsamen Angelegenheiten dient somit lediglich der Beschreibung einer faktischen Situation, bezeichnet aber kein grundsätzlich neues Rechtsinstitut. II. Zu diesen gemeinsamen Angelegenheiten gehört zunächst die Seelsorge in öffentlichen Anstalten und im Heer (vgl. Art. 140 GG/141 WRV). Organisation und Leitung dieser besonderen öffentlichen Einrichtungen ist allein Sache des Staates. Wegen seiner Bindung an das Grundrecht der Religionsfreiheit hat der Staat aber den in den öffentlichen Anstalten (Krankenhäuser, Strafanstalten) und dem Heer lebenden Personen die Möglichkeit freier Religionsausübung einzuräumen. Zu diesem Zweck muß der Staat die Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Ausübung 14
Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 194.
5 Jurina
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2. Teil : Der Eigenbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften
der Seelsorge in diesen Institutionen zulassen, wobei diese Seelsorge selbst, wie jede andere Seelsorge, eigene Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist 16 . I I I . Eine gemeinsame Angelegenheit ist ferner der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen. Die Organisation der Schule und die Regelung des internen Schulbetriebs gehört zu den Aufgaben des Staates. Daher hat auch der Staat darüber zu entscheiden, ob er den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zuläßt und in welcher Form. Die inhaltliche Gestaltung dieses Unterrichts, der ein Stück kirchlicher, konfessionell gebundener Verkündigung ist, ist aber eigene Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Diese sich schon aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ergebende Aufgabenteilung wird durch Art. 7 Abs. 3 GG ausdrücklich bestätigt 16 . IV. Auch das Bestattungswesen gehört zu den gemeinsamen Angelegenheiten. Dies bedeutet beim staatlichen (kommunalen) Friedhof, daß das religiöse Bestattungszeremoniell von Kirchen und Religionsgemeinschaften als eigene Angelegenheit frei gestaltet werden kann. Bei den kirchlichen Friedhöfen obliegt die Anlage, Organisation und Verwaltung zwar den Kirchen, aber nicht als eigene Angelegenheit, sondern als ihnen übertragene staatliche Angelegenheit. Eigene Angelegenheit im Sinn von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist auch hier nur das religiöse Bestattungszeremoniell 17. V. Entgegen den älteren staatskirchenrechtlichen Auffassungen 18 vertritt eine neuere Lehre die Ansicht, daß auch das Recht der als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisierten Kirchen und Religionsgemeinschaften, von ihren Angehörigen Steuern zu erheben (vgl. Art. 140 GG/137 Abs. 6 WRV), zu den gemeinsamen Angelegenheiten zu zählen ist 19 . Dieser Auffassung kann grundsätzlich zugestimmt werden. Zwar hängt der Rechtscharakter der von den Kirchen und Religionsgemeinschaften erhobenen Abgaben als Steuern von der Verleihung des Besteuerungsrechts durch den Staat ab 20 . Dieses Besteuerungsrecht knüpft » Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 195,196. 16 Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 197 f.; v. Campenhausen, S. 142 ff., bes. S. 144 f. 17 Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 199 ff.; ff. Weber, S. 56,129. 18 Vgl. die Nachweise bei Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 307, Anm. 17 und Marré-Hoffacker, S. 110, Anm. 56. 19 Hesse, JöR N F Bd. 10 (1961), S. 53 f.; Mikat, Gedächtnisschrift Peters, S. 328 ff.; Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 302 ff.; Marré-Hoffacker, S. 115 f.; Engelhardt, S. 15 ff.; BVerfGE Bd. 19, S. 217 f. Vgl. ferner die weiteren Nachweisen bei Marré-Hoffacker, S. 116, Anm. 82. 20 Vgl. Hesse, JöR N F Bd. 10 (1961), S. 54; Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 310; BVerfGE Bd. 19, S. 217.
2. Kap.: Die „gemeinsamen" Angelegenheiten
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aber, wie die neuere Lehre zu Recht hervorhebt, an die Befugnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, aus eigenem Recht von den Kirchenangehörigen finanzielle Beiträge zur Erfüllung kirchlicher Aufgaben zu erheben, an und stellt die Hinzufügung einer in der Qualifizierung als Steuer liegenden staatlichen Durchsetzungsmöglichkeit dar: der Staat stellt den Karchen und Religionsgemeinschaften zur Beitreibung der von ihnen erhobenen Abgaben seinen „Verwaltungszwang" zur Verfügung 21 . Mit dieser Konstruktion des Besteuerungsrechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften wird also verdeutlicht, daß es keine lediglich von außen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften herangetragene Befugnis, keine den Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Ausübung übertragene staatliche „Angelegenheit" darstellt. Das ändert freilich nichts daran, daß der Charakter dieser Abgaben als Steuern allein von der Verleihung des Besteuerungsrechts durch den Staat abhängt: „Für die Kirchensteuer ist die staatliche Normierung konstitutiv 22 ." Damit mag die Bezeichnung der Kirchensteuer als „gemeinsame" Angelegenheit als ein wenig platonisch erscheinen 28. Immerhin folgt aber aus dieser Qualifizierung des kirchlichen Besteuerungsrechts, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften entgegen älteren Auffassungen, die eine Pflicht zur Steuererhebung annahmen 24 , zur Erhebung von Kirchensteuern lediglich berechtigt, nicht aber verpflichtet sind, es also ihnen überlassen bleibt, ob sie von dem Besteuerungsrecht wirklich Gebrauch machen wollen 26 .
21 Hesse, JöR N F Bd. 10 (1961), S. 54; Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 309 f.; BVerfGE Bd. 19, S. 217. 22 BVerfGE Bd. 19, S. 217. 23 H. Weber, JuS 1967, S. 442, meint, dem Streit um die Einordnung des Steuerrechts komme nur terminologische Bedeutung zu. 24 So Wehrhahn, S. 18. 25 Vgl. Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 309; Mikat, Gedächtnisschrift Peters, S. 346. — Freilich könnte gefragt werden, ob dies nicht bereits aus dem Wortlaut von Art. 140 GG/137 Abs. 6 W R V („Die Religionsgesellschaften... sind berechtigt...") folgt.
5*
DRITTER T E I L
Kirchliche Rechtsetzung i m Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV verbürgt den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht, „ihre", d.h. die eigenen und die kirchliche „Seite" der gemeinsamen Angelegenheiten, selbständig zu „ordnen" und zu „verwalten". Nach allgemein akzeptierter Auffassung beinhaltet dies die Befugnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu eigener Rechtsetzung, zu selbständiger Verwaltung sowie zur Errichtung einer eigenen Gerichtsbarkeit 1 . a) Die Zuerkennung dieser Befugnisse stellt eine folgerichtige Weiterführung der Unterscheidung eines Bereichs eigener Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften von den staatlichen Angelegenheiten dar: Wenn das staatliche Recht anerkennt, daß diese eigenen Angelegenheiten nicht zu den Aufgaben des weltanschaulich-religiös neutralen Staats gehören, ist es nur konsequent, wenn auch die rechtlichen Entscheidungen, die im Bereich dieser eigenen Angelegenheiten notwendig werden, nicht durch den Staat getroffen, sondern den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst überlassen werden. I. An der Spitze der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen und Religionsgemeinschaften verbürgten Rechte steht die Befugnis, die eigenen Angelegenheiten zu „ordnen", d. h. die Befugnis zu vom Staat unabhängiger Rechtsetzung. Dies bewirkt, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften, soweit sie von dieser Befugnis Gebrauch machen, im Bereich der eigenen Angelegenheiten nicht nach vom Staat stammendem, sondern nach von ihnen selbst geschaffenem Recht leben. Diese eigene kirchliche Rechtsetzung ist zwar, wie noch näher auszuführen sein wird, gemäß Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV an die „Schranken des für alle geltenden Gesetzes", also an auch von den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu respektierende staatliche Gesetze, gebunden. Dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Freiheit der innerkirchlichen Rechtsetzung, die durch die Schrankenklausel nicht beseitigt, sondern eben nur begrenzt 1
Vgl. z. B. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 172 ff.; Scheffler,
S. 110.
3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten wird. So führt die eigene Rechtsetzung der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu einer jedenfalls faktischen Exemtion des Bereichs der eigenen Angelegenheiten aus dem Bereich der vom Staat gestalteten Rechtsordnung. II. Die Befugnis zur selbständigen Rechtsetzung durch Kirchen und Religionsgemeinschaften erstreckt sich nach dem Wortlaut von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV auf den gesamten Bereich der eigenen Angelegenheiten. Dennoch ist diese innerkirchliche Rechtsetzung nicht überall von gleicher Intensität. Sie ist am stärksten ausgebildet und besitzt die größte Bedeutung für den in dieser Untersuchung so genannten „Kernbereich" der eigenen Angelegenheit, also in bezug auf die Glaubenslehre, den Gottesdienst, die Sakramente, die Kirchenverfassung, den Status der geistlichen Amtsträger sowie den Status der Kirchenglieder. Insbesondere die großen Kirchen besitzen für diese Materien ein reich entfaltetes kirchliches Recht. Die folgenden Ausführungen dieser Untersuchung behandeln daher zunächst dieses den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten regelnde Kirchenrecht. III. Diese Rechtsetzung der Kirchen und Religionsgemeinschaften wirft eine grundsätzliche Frage auf, die für das Verhältnis von Staat und Kirche von maßgeblicher Bedeutung ist: welchem Rechtskreis dieses von Kirchen und Religionsgemeinschaften hervorgebrachte Recht zuzuordnen, wie also die den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zukommende Rechtsetzungsgewalt rechtssystematisch zu qualifizieren ist. Diese Frage ist nicht nur von rechtstheoretischem Interesse. Von ihrer Beantwortung hängt vielmehr die Lösung einiger praktisch bedeutsamer staatskirchenrechtlicher Probleme ab, so etwa die Lösung der Frage, in welchem Umfang die selbständige kirchliche Rechtsetzung an Regeln des staatlichen Rechts gebunden ist und ob und in welchem Umfang das Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften der staatlichen Gerichtsbarkeit unterliegt. Für die rechtssystematische Einordnung der Rechtsetzungsgewalt von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten kommen zwei Möglichkeiten in Betracht: 1. Folgte man der traditionellen, in der Einleitung zu dieser Untersuchung beschriebenen Auffassung, so wäre diese Rechtsetzungsgewalt als vom Staat abgeleitete, von ihm den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV verliehene Befugnis zu begreifen. Sie stellte eine Teilhabe der Kirchen und Religionsgemeinschaften an der umfassenden Rechtsetzungsbefugnis des Staates dar 2 . 2 I n diesem Sinn heute wohl Fischer, S. 192, der das von den Kirchen geschaffene Recht als „Verbandsrecht" bezeichnet.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
2. Die Alternative hierzu bildet die Deutung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Sinn der bereits oben beschriebenen Eigenständigkeitslehre, die von der herrschenden Auffassung im gegenwärtigen Staatskirchenrecht allerdings nur für die unabhängige Rechtsetzimg der großen Kirchen vertreten wird. Dies bedeutete die Annahme, daß sich die Rechtsetzungsgewalt der Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten nicht vom Staat ableitete, sondern ihnen aus eigenem Recht, unabhängig von einer staatlichen Verleihung zukäme 8 . Das interne Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften wäre dann nicht ein Teil des staatlichen Rechts, sondern ein selbständig neben dem staatlichen Recht stehender besonderer Rechtskreis. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV wäre also nicht mehr im Sinn einer Verleihung von Rechtsetzungsmacht an die Kirchen und Religionsgemeinschaften auszulegen. Vielmehr wäre davon auszugehen, daß Art. 140 GGl 137 Abs. 3 W R V die Existenz einer den Kirchen und Religionsgemeinschaften aus eigenem Recht zukommenden Rechtsetzungsgewalt voraussetzt und sie mit Wirkung für den staatlichen Bereich anerkennt. Insoweit hätte Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV allerdings nach wie vor konstitutive Wirkung: Ohne eine solche Anerkennungsnorm könnte nämlich innerhalb des staatlichen Rechts nicht von der Eigenständigkeit kirchlichen Rechts ausgegangen werden. Nur also, wenn Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Sinn der Anerkennung kirchlicher Eigenständigkeit auszulegen ist, kann das staatliche Recht die Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten akzeptieren. Art. 140 GGI 137 Abs. 3 W R V wäre dann eine Art Kollisionsnorm, die über die rechtliche Behandlung eines nicht vom Staat stammenden Rechtsbereichs innerhalb des staatlichen Rechts befände, und dies mit für das staatliche Recht konstitutiver Wirkung. Daraus folgt zugleich, daß es eine Frage des staatlichen Rechts darstellt, in welchem Umfang und in welchen Grenzen den Kirchen und Religionsgemeinschaften Eigenständigkeit zuzuerkennen wäre. So sehr also die Annahme der Eigenständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften einerseits bedeuten würde, daß sich diese Eigenständigkeit nicht vom Staat ableitet, sondern aus anderen Quellen stammt, so sehr müßte andererseits angenommen werden, daß im Verhältnis zum Staat dessen Anerkennung darüber entscheidet, in welchem Umfang diese Eigenständigkeit innerhalb des staatlichen Rechts zu beachten ist. Aus diesen Überlegungen folgt, daß eine genauere rechtssystematische Qualifizierung der bislang als lediglich faktisch unabhängig erkannten s Allgemein zum Begriff der „Eigenständigkeit" und seiner Funktion vgl. die Schrift von Heinz Wagner, Die Vorstellung der Eigenständigkeit in der Rechtswissenschaft.
1. Kap.: Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV
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Rechtsetzungsmacht der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten in jedem Falle mittels einer Auslegung des staatlichen Rechts, genauer: von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV gefunden werden muß. Vom Inhalt dieser Vorschrift hängt es also ab, ob diese Rechtsetzungsmacht der Kirchen und Religionsgemeinschaften als vom staatlichen Recht abgeleitet oder als eigenständig zu betrachten ist. Erstes Kapitel
Entstehungsgeschichte und rechtssystematischer Zusammenhang von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV I. Die Frage, ob die selbständige Rechtsetzung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten auf Grund einer vom Staat abgeleiteten oder auf Grund eigenständiger Rechtsetzungsmacht erfolgt, läßt sich mit Hilfe des Wortlauts von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nicht beantworten. Dieser läßt beide Möglichkeiten offen. Es muß deshalb nach anderen Wegen der Auslegung dieser Vorschrift gesucht werden. II. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob sich aus der Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V ein Argument zugunsten der einen oder anderen Auffassung ergibt. Dabei ist zu beachten, daß es im Rahmen des geltenden Rechts allein auf die Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG ankommen kann, nicht etwa auf die Entstehungsgeschichte von Art. 137 WRV innerhalb der Weimarer Reichsverfassung 4. Innerhalb des heutigen Verfassungsrechts beruht die Geltung einer dem ehemaligen Art. 137 WRV entsprechenden Verfassungsnorm allein auf der in Art. 140 GG getroffenen Anordnung, so daß eine historische Auslegung nur bei der Entstehung dieser Rezeptionsvorschrift anknüpfen kann. Die in diesem Zusammenhang zu stellende Frage lautet, ob aus der Tatsache, daß Art. 140 GG jedenfalls der Formulierung nach keine neuen Rechtssätze schuf, sondern das alte Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung (wenigstens teilweise) ins Grundgesetz übernahm, geschlossen werden muß, daß mit dieser Übernahme auch das gesamte zu den Kirchenartikeln entwickelte dogmatische System, für unseren Fall insbesondere die damals herrschende Auslegung des Art. 137 I I I WRV i. S. der Autonomie der Religionsgesellschaften, mit ins Grundgesetz übernommen wurden. 4
So z. B. auch Scheffler,
S. 106.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, die Frage zu erörtern, ob sich eine solche Auffassung nicht schon deshalb verbietet, weil diese „subjektive" Auslegung der Verfassung jedenfalls nicht gleichberechtigt neben den anderen Interpretationsmethoden steht, sondern höchstens ergänzend herangezogen werden kann 5 . Eine Festlegung des Inhalts von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im eben gezeigten Sinne käme nämlich überhaupt nur dann in Betracht, wenn sich aus den Materialien zu Art. 140 GG der klare und unzweideutige Wille des Verfassungsschöpfers erschließen ließe, mit der Rezeption des Textes der Weimarer Kirchenartikel auch die alte Auslegung dieser Bestimmungen zu übernehmen. Ein solcher Beweis läßt sich aber nicht führen. Wie sich aus den Debatten des Parlamentarischen Rates ergibt 6 , wurde der Kompromißvorschlag, statt neuer staatskirchenrechtlicher Bestimmungen die entsprechenden Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz zu übernehmen, mit einiger Erleichterung als Ausweg gewählt, als die Mehrheit nicht gewillt war, sich auf die als sehr schwierig empfundene Frage nach der angemessenen Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Staat einzulassen7. Nachdem dieser Kompromiß aber einmal als möglicher Ausweg auf der Tagesordnung stand, wurde zwar erörtert, ob eine solche Einbeziehung alten Rechts in eine neue Verfassung überhaupt angemessen sein kann, aber nichts über die rechtliche Bedeutung dieses Rezeptionsvorganges gesagt. Insbesondere hat offenbar — mit einer Ausnahme — keine Diskussion über den Inhalt der einzelnen rezipierten Bestimmungen8, ohne die ein Wille des Verfassunggebers, die Interpretation von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV inhaltlich festzulegen, nicht angenommen werden könnte, stattgefunden. Eine solche Festlegung hätte auch nicht dem Sinn des Art. 140 GG entsprochen. Diese Vorschrift ordnet nicht die Weitergeltung alten Rechts * Zum Streit um die „subjektive" und die „objektive" Auslegung der Verfassung vgl. Peter Schneider, W d S t R L Heft 20 (1963), S. 7 ff.; die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich zusammengefaßt bei Leibholz-Rinck, Einführung Anm. 7 ff., bes. Anm. 8. • Vgl. die Zusammenfassung in JöR N F Bd. 1 (1951), S. 899 ff. Die Originalprotokolle liegen der Darstellung von Schlief, S. 65 ff., zugrunde. Diese Darstellung bestätigt das hier beschriebene Ergebnis. 7 Die Ansicht, eine Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche sei zu schwierig, wurde von verschiedenen Abgeordneten ausgesprochen, vgl. JöR N F Bd. 1 (1951), S. 901. Der Abgeordnete Bergsträßer wandte sich gegen die Schaffung neuer Kirchenartikel „wegen der verfassungsrechtlichen Bedeutung eines solchen Verfahrens und aus Furcht davor, an Dinge zu rühren, die man besser unberührt läßt", vgl. Schlief, S. 81. 8 Dieselbe Analyse der Debatten findet sich in BVerfGE Bd. 19, S. 219, wo verzeichnet wird, daß über die einzelnen aus der Weimarer Verfassung übernommenen Bestimmungen mit Ausnahme einer Diskussion über Art. 138 W R V und über die Fortgeltung des Reichskonkordats keine Aussprache und Beratung stattgefunden habe.
1. Kap.: Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV
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an, das als solches, also als Recht der (alten) Weimarer Verfassung, in Geltung bliebe. Die „Rezeption" der Weimarer Kirchenartikel muß vielmehr als Setzung neuen Verfassungsrechts betrachtet werden, die sich von der Schaffung der übrigen Regeln des Grundgesetzes lediglich durch ihre besondere Form unterschied. Es gelten also nicht mehr die alten Normen der Weimarer Reichsverfassung, sondern der Rechtsqualität nach neue staatskirchenrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes, die lediglich ihrem Wortlaut nach mit den entsprechenden Regeln der Weimarer Verfassung übereinstimmen. Dann ist es aber nur folgerichtig, die Auslegung der durch Art. 140 GG rezipierten Kirchenartikel nicht als auf frühere staatskirchenrechtliche Auffassungen festgelegt zu betrachten. Unsere Frage, ob Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Sinne abgeleiteter oder eigenständiger Rechtsetzung von Kirchen und Religionsgemeinschaften gedeutet werden muß, kann daher nicht unter Bezugnahme auf alte Prinzipien früher geltender Verfassungen gelöst werden, sondern nur als Fragestellung innerhalb des Grundgesetzes. Sie hat vom Charakter der durch Art. 140 GG in Geltung gesetzten Kirchenartikel als „vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland" auszugehen9. Ebensowenig jedoch, wie im Parlamentarischen Rat eine Festlegung der Interpretation der rezipierten Kirchenartikel auf die in der Weimarer Zeit vertretenen Auffassungen erfolgte, kann den Debatten dieses Gremiums eine Billigung des Grundsatzes der Eigenständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften entnommen werden. Das ergibt sich schon daraus, daß ein Antrag, der die Einführung eines entsprechenden neuen Artikels ins Grundgesetz anstrebte, im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit fand 10 . Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV lassen sich daher keine positiven Hinweise für die Auslegung dieser Vorschrift entnehmen. 9
BVerfGE Bd. 19, S. 219. I n diesem Zusammenhang weist das Bundesverfassungsgericht auf den schriftlichen Bericht des Abgeordneten v. Brentano hin, der zur Interpretation der Kirchenartikel im Grundgesetz ausführte, ihre rechtliche Bedeutung sei nicht richtig zu ermessen, wenn ihre Auslegung primär aus dem Blickpunkt der früheren Reichsverfassung erfolgen würde. „Sinn und Zweck, wie sie den Bestimmungen heute richtigerweise zukommt, ergibt sich vielmehr nur aus der Tatsache ihrer Einbettung in das gesamte Wertsystem des Grundgesetzes, ihres Einbezogenseins in den Rahmen der Gesamtentscheidung, dessen Ausdruck das Grundgesetz ist." 10 Vgl. den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, des Zentrums und der DP vom 29. November 1948 (Schlief, S. 73 und JöR N F Bd. 1, S. 899 f.), der eine Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche erstrebte. Abs. 2 dieser Vorlage lautete: „Die Kirchen und Religionsgesellschaften ordnen ihre Angelegenheiten selbständig aus eigenem Recht." Die Vorlage wurde im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates mit 11 gegen 10 Stimmen abgelehnt, vgl. Schlief. S. 84.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
I I I . Nachdem weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V erkennen lassen, ob die kirchliche Rechtsetzungsgewalt im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten als vom Staat abgeleitet oder als eigenständig zu qualifizieren ist, muß weiter gefragt werden, ob aus dem systematischen Zusammenhang dieser Vorschrift mit anderen staatskirchenrechtlichen Aussagen Folgerungen für die Lösung unseres Problems gezogen werden können. 1. Nach Art. 140 GG/137 Abs. 5 W R V besitzt ein großer Teil der Religionsgesellschaften, darunter vor allem die großen Kirchen, die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die übrigen Religionsgesellschaften haben gem. Art. 140 GG/137 Abs. 4 WRV entweder die Stellung von rechtsfähigen oder von nicht rechtsfähigen Vereinen. Es ist zu fragen, ob sich aus dieser Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht ein Hinweis für die rechtssystematische Einordnimg der ihnen zuerkannten selbständigen Rechtsetzungsmacht ergibt. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob nicht für jene Kirchen und Religionsgemeinschaften, die die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts innehaben, angenommen werden muß, daß sie, wie andere staatliche öffentlich-rechtliche Körperschaften, Träger einer vom Staat verliehenen öffentlich-rechtlichen Rechtsetzungsbefugnis sind, ob also die Stellung dieser Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht dazu zwingt, die Möglichkeit einer Qualifizierung ihrer Rechtsetzungsbefugnis als eigenständig von vornherein zu verwerfen. Das ist jedoch nicht der Fall. Nach zutreffender und allseits anerkannter Auffassung sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie auch immer ihr Körperschaftsstatus im einzelnen zu umschreiben sein mag, nicht Körperschaften des öffentlichen Rechts in der genauen Bedeutung dieses Begriffs, sondern nur in einem „weiteren" Sinne. Das ergibt sich daraus, daß zu den entscheidenden Merkmalen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts die Erfüllung staatlicher Aufgaben gehört, die Kirchen und Religionsgemeinschaften aber gerade außerhalb des Bereichs staatlicher Funktionen tätig sind 11 . Dann kann aber für die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem Internbereich, dessen Unterscheidung von den staatlichen Angelegenheiten gerade die Unanwendbarkeit des sonst anerkannten Körperschaftsbegriffs auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften begründet, nicht ohne weiteres vom gewöhnlichen Inhalt des Körperschaftsstatus ausgegangen, also unterstellt werden, die Rechtsetzungsbefugnis der öffentlich-rechtlich organisierten Kirchen und Reli11
Vgl. hierzu statt aller H. Weber, S. 56 ff. mit weiteren Nachweisen.
1. Kap.: Entstehungsgeschichte von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV
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gionsgemeinschaften für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten sei wegen dieser Körperschaftsstellung notwendigerweise als vom Staat abgeleitet zu betrachten. Vielmehr bedarf die Frage der rechtlichen Einordnung dieser Rechtsetzungsgewalt gesonderter, von den Eigenarten der Rechtsetzung im Internbereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften ausgehender Erörterung. Ihre Lösung wird durch die Körperschaftsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht präjudiziert. Ähnliches gilt für die privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften. Auch für sie kann aus der Einordnimg unter die rechtsfähigen oder die nicht rechtsfähigen Vereine für die rechtssystematische Bewertung der Rechtsetzung in ihrem Internbereich nichts gefolgert werden. 2. Es muß ferner gefragt werden, ob die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV selbst ausgesprochene Bindung der Rechtsetzung von Kirchen und Religionsgemeinschaften an das „für alle geltende Gesetz" es gebietet, eine Ableitung der Rechtsetzungsgewalt von Kirchen und Religionsgemeinschaften von der Rechtsetzungsgewalt des Staates anzunehmen. Es scheint auf den ersten Blick viel dafür zu sprechen, eine Befugnis, die Begrenzungen von Seiten des staatlichen Rechts unterliegt, systematisch auch unter die Rechtspositionen des staatlichen Rechts einzugliedern. Nun ist es zwar richtig, daß die Wirkungsweise der Schrankenformel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V dann besonders leicht erklärbar ist, wenn jene Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die durch die Schrankenformel begrenzt wird, als aus dem staatlichen Recht abgeleitet betrachtet wird. Jedoch ist eine derartige Beschränkung der Rechtsetzungsgewalt auch mit einem System der Eigenständigkeit rechtlich vereinbar, ohne daß Abstriche an der Effektivität dieser Schranken für die Selbständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften gemacht werden müßten. Es muß hier daran erinnert werden, daß, wie oben ausgeführt wurde, die Qualifizierung der Rechtsetzungsgewalt von Kirchen und Religionsgemeinschaften als eigenständige, von ihnen selbst stammende Rechtsetzungsbefugnis für das staatliche Verfassungsrecht, um das es hier allein geht, davon abhängt, ob diese Eigenständigkeit durch einen staatlichen Rechtssatz anerkannt ist. Die Eigenständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften wird also nicht von außen verbindlich für das staatliche Recht verfügt, sondern hängt von einem Rechtsakt des staatlichen Rechts selbst, von der Anerkennung der Eigenständigkeit, ab. Dann ist es aber möglich, diese Anerkennung kirchlicher Eigenständigkeit mit „Vorbehalten" zu versehen, d. h. die Freiheit des rechtlichen Wirkens von Kirchen und Religionsgemeinschaften nur unter gewissen Voraussetzungen, der Bedingung nämlich, bestimmte staatliche Gesetze zu beachten,
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
zuzulassen12. Damit würde aber dem Anliegen der in Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV enthaltenen Schrankenklausel in vollem Umfang Rechnung getragen. An dieser Stelle kann der oben gezogene Vergleich weitergeführt werden: So, wie Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV bei seiner Auslegung im Sinne der Eigenständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften als eine Norm aufzufassen wäre, die über die Bewertung eines nicht vom Staat stammenden Rechts durch das staatliche Recht entschiede, also als eine Art Kollisionsnorm, wäre die Klausel von den Schranken des für alle geltenden Gesetzes etwa dem in Art. 30 EGBGB enthaltenen Vorbehalt zugunsten des deutschen „ordre public" vergleichbar. Es versteht sich freilich, daß dieser Vergleich nur für die Art der in beiden Fällen anzutreffenden rechtlichen Konstruktion gilt, dagegen nichts über den Inhalt der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV enthaltenen Schrankenklausel besagt. Ist es sonach möglich, die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ausgesprochene Beschränkung der selbständigen Rechtsetzungsbefugnis von Kirchen und Religionsgemeinschaften sowohl in einem System der abgeleiteten Rechtsetzungsgewalt wie in einem System der Eigenständigkeit zu verwirklichen, so kann aus der Geltung dieser Schrankenklausel im heutigen Staatskirchenrecht kein Argument für das eine oder andere System selbständiger Rechtsetzung durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten abgeleitet werden, wobei hier offen bleiben kann, ob diese Schrankenklausel für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten überhaupt gilt. 3. Die Qualifizierung der Rechtsetzungsgewalt der Kirchen und Religionsgemeinschaften als „Autonomie" hat Fischer daraus abgeleitet, daß das „Selbstbestimmungsrecht" der Religionsgesellschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten auf dem Grundrecht der Religionsfreiheit beruhe. So, wie der Einzelne, auch wenn er grundrechtlich gesicherte Rechtspositionen innehabe, dem staatlichen Recht unterworfen bleibe, könnten auch die Religionsgesellschaften im Bereich ihrer selbständigen Rechtsetzungsbefugnis nicht außerhalb des staatlichen Rechts stehen. Sie seien lediglich in einem Zustand partieller Freiheit vom Staat, die keine „Souveränität" darstelle. Ihre Gewalt sei Autonomie und Verbandsgewalt 18 . Diesen Überlegungen ist das schon oben Ausgeführte entgegenzuhalten 14 : Das Recht von Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Bereich 12 Davon, daß der Staat, der die Eigenständigkeit der kirchlichen Gewalt anerkenne, sich dennoch zur Wahrung seiner Gemeinwohlverantwortung die Schrankenziehung vorbehalte, spricht auch Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 61 f. 13 Fischer, S. 191 f. 14 Vgl. oben S. 53 ff.
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des S t a a t e s 7 7 ihrer eigenen Angelegenheiten selbständig rechtlich zu regeln, beruht nicht auf Art. 4 GG, sondern auf der Sondervorschrift des Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV. Dann ist es aber auch nicht möglich, Parallelen zur rechtssystematischen Einordnung eines grundrechtlich gesicherten Rechtsstatus des Einzelnen zu ziehen. Vielmehr muß allein der Sonderregelung des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV entnommen werden, wie die selbständige Rechtsetzungsgewalt von Karchen und Religionsgemeinschaften zu qualifizieren ist. IV. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß weder mit Hilfe einer Würdigung der Materialien zu Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV noch mittels einer Betrachtung des systematischen Zusammenhangs dieser Vorschrift mit anderen staatskirchenrechtlichen Regeln des Grundgesetzes entschieden werden kann, wie die den Kirchen und Religionsgemeinschaften zustehende Befugnis zur selbständigen Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten rechtssystematisch zu bewerten ist. Es müssen daher andere Interpretationsgesichtspunkte herangezogen werden.
Zweites
Kapitel
Kirchliche Rechtsetzung und weltanschaulichreligiöse Neutralität des Staates Es wurde bereits bemerkt, daß die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen und Religionsgemeinschaften zuerkannte Befugnis, die eigenen Angelegenheiten selbständig rechtlich zu ordnen, eine folgerichtige Weiterführung der in dieser Vorschrift enthaltenen Unterscheidung zwischen staatlichen und kirchlichen, d. h. nicht staatlichen, Angelegenheiten darstellt. Beide Aussagen beruhen nach geltendem Verfassungsrecht nicht mehr nur auf grundsätzlichen Überlegungen über den Wirkungsbereich des Staates, sondern erweisen sich als Ausprägungen des Verfassungsgrundsatzes seiner weltanschaulich-religiösen Neutralität. Das gilt in besonderem Maße für die Rechtsetzung der Karchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten. Der genannte Verfassungsgrundsatz bildet hier jedoch nicht lediglich die Legitimation für die Garantie der Befugnis, diese Materien selbständig zu ordnen. Aus diesem Grundsatz folgen vielmehr darüber hinaus die Maßstäbe für die rechtssystematische Bewertung der innerkirchlichen Rechtsetzung für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Erster Abschnitt
Das Verbot der Übertragung staatlicher Rechtsetzungsgewalt zur selbständigen Regelung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten I. Wie bereits ausgeführt wurde 15 , umfaßt der Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften die Glaubenslehre und den Kultus, die kirchliche Verfassung, die Stellung und die Funktionen der Träger der kirchlichen Leitungsämter sowie die Rechte und die Pflichten der Kirchenglieder. Es handelt sich also um Materien, in denen das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre theologischen Grundüberzeugungen unmittelbaren Ausdruck finden. Die rechtliche Ordnung dieser Sachbereiche kann daher nur dann in sachgerechter Weise erfolgen, wenn sie die Glaubenssätze der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft zugrundelegt und sie als Maßstab für die inhaltliche Richtigkeit der kirchenrechtlichen Normen betrachtet. So können etwa Rechtsregeln für die Ausgestaltung des Gottesdienstes gleich welcher Religionsgemeinschaft nicht einfach als äußere Ordnungsvorschriften konzipiert werden. Sie müssen vielmehr auf theologischen Aussagen über die Gestalt und den Sinn des Gottesdienstes, über seine Funktion im Rahmen der übrigen Lebensvollzüge der Religionsgemeinschaft, über die Frage, wem die Abhaltung des Gottesdienstes zukommt, aufbauen. Entsprechendes gilt für die rechtliche Regelung der anderen kultischen Handlungen und die Möglichkeit sowie die Art und Weise der Spendung von Sakramenten. Bevor letztere einer rechtlichen Regelung unterstellt werden können, muß gemäß dem religiösen Selbstverständnis festgestellt werden, ob überhaupt und welche Sakramente in der betreffenden Kirche bzw. Religionsgemeinschaft anerkannt werden, was sich in ihnen vollzieht, wem die theologische Vollmacht zu ihrer Spendung zukommt, wer sie unter welchen Voraussetzungen empfangen darf. Religiöser Vorentscheidungen bedürfen auch die Regelung der kirchlichen Verfassung sowie der Stellung der Träger der geistlichen Ämter: Jedenfalls in ihren Grundzügen stellen sie keine einfach nur praktische äußere Ordnung dar, sondern werden sie im Hinblick auf die Glaubensüberzeugungen der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften entworfen. Auf der Grundlage dieses Glaubens muß darüber befunden werden, welche Kompetenzen den Trägern der geistlichen Ämter zukommen und 16
Vgl. oben S. 64.
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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ob sie den übrigen Kirchengliedern in irgendeiner Form übergeordnet sind. Ebenso sind schließlich die Rechtssätze über die innerkirchliche Stellung der Glieder von Karchen und Religionsgemeinschaften durch deren Glaubenslehren bedingt: Wann und wie die Kirchengliedschaft erworben wird, welchen Pflichten die Kirchenglieder unterliegen, welche Funktionen ihnen im Rahmen ihrer Gemeinschaft zukommen, hängt vom theologischen Selbstverständnis der einzelnen Kirche bzw. Religionsgemeinschaft ab. Aus dieser engen Verknüpfung der im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften zu treffenden rechtlichen Entscheidungen mit dem theologischen Selbstverständnis dieser Gemeinschaften folgt, daß die Rechtsetzung in diesem Internbereich nicht unter die Kompetenz eines Staates, zu dessen fundamentalen Verfassungsprinzipien die weltanschaulich-religiöse Neutralität zählt, fallen kann, sondern daß sie als dem Wirken der Staatsgewalt entzogen betrachtet werden muß. Es ist der Kritik an der Verwendung des Begriffs der weltanschaulichreligiösen Neutralität des Staates in der gegenwärtigen staatskirchenrechtlichen Lehre und Rechtsprechung durchaus zuzugeben, daß der Inhalt dieser Formel keineswegs immer eindeutig bestimmbar ist, daß sie vielmehr insbesondere dann, wenn sie i m staatskirchenpolitischen Sinn verwendet wird, für durchaus verschiedene Zwecke in Dienst genommen werden kann 16 . Dennoch kann auf dieses Prinzip als einen Leitgedanken des geltenden Staatskirchenrechts, als eine Interpretationsrichtlinie 17 nicht verzichtet werden. Dieser Grundsatz bildet den gemeinsamen Kern zahlreicher Einzelregelungen der Verfassung zum Verhältnis von Staat und Religion, von Staat und Kirche. Es ist daher möglich und geboten, ihn als Grundaussage der geltenden staatskirchenrechtlichen Ordnung zu deren Deutung im einzelnen heranzuziehen. Dies bedeutet freilich nicht, daß es zulässig wäre, mit Hilfe dieses Grundsatzes die normativen Einzelregelungen des Grundgesetzes zum Verhältnis von Staat und Kirche aus den Angeln zu heben, also ein neues, dann wiederum nicht staatskirchenrecJitiiches, sondern staatskirchenpolitisches System zu „entwerfen", d.h. willkürlich an die Stelle des geltenden Verfassungsrechts zu setzen. Vielmehr muß den konkreten 16 Vgl. hierzu Schiaich, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 4, S. 9 ff., bes. S. 16. 17 So auch Schiaich, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 4, S. 41, der im Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität eine Ausformimg des Gedankens der Einheit der Verfassung sieht.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Einzelregelungen der Vorrang vor dem allgemeinen Prinzip eingeräumt werden. Ein Zurückgehen auf das Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ist aber immer dann erlaubt und geboten, wenn und soweit die konkrete Einzelregelung zu ihrer vollständigen Deutung der Verknüpfung mit den Grundlagen des geltenden Staatskirchenrechts bedarf. Das allgemeine Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität entfaltet dann seine Wirkung innerhalb des durch die konkrete Einzelregelung gezogenen Rahmens, der nicht beiseite geschoben werden darf. Ein solcher Fall ist bei der hier zu lösenden Frage nach der rechtssystematischen Bewertung der von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV grundsätzlich freigegebenen Rechtsetzimg der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten gegeben. Diese Frage kann allein mit Hilfe der ausdrücklichen Einzelaussage des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nicht gelöst werden. Hierzu bedarf es vielmehr der Rückbesinnung auf den Charakter der Staatsgewalt eines von Verlassungs wegen weltanschaulich-religiös neutralen Staates. Die Staatsgewalt auch dieses Staates ist zwar grundsätzlich allbezüglich, insofern „die integrative Zusammenordnung aller Wirkkräfte und Sachbereiche" im Staat zu seiner Gemeinwohlverantwortung gehört 18 . Somit ist der Staat auch berechtigt, Stellung und Befugnisse der Kirchen und Religionsgemeinschaften innerhalb der Gesamtheit der staatlichen Rechtsordnung zu regeln und sich Kirchen und Religionsgemeinschaften insoweit zu unterstellen. Dies rechtfertigt den Erlaß etwa einer Vorschrift wie Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Diese Allbezüglichkeit der Staatsgewalt bedeutet aber nicht ihre Allzuständigkeit, nicht virtuelle Omnipotenz und Omnikompetenz des Staates 19 . Vielmehr ist die Staatsgewalt, so sehr sie zu den essentiellen, die „Staatlichkeit" des Staates erst begründenden Eigenschaften zählt, doch nur Mittel zum Zweck, Wirkmittel zur Erfüllung staatlicher Aufgaben. Es ist dem Staat deshalb verwehrt, seine Staatsgewalt auch in jenen Sachbereichen einzusetzen, die nicht zu seinen Aufgaben zählen 20 . Für einen weltanschaulich-religiös neutralen Staat wie die Bundesrepublik gilt dies für den Bereich von Glaube, Bekenntnis und Kirche: Diese liegen jenseits der Aufgaben des Staates als eines weltlichen Gemeinwesens21 und sind dem Wirken der Staatsgewalt daher verschlossen22. 18
Vgl. Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 60. Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 59. 20 Vgl. Krüger, S. 834. 21 So Hesse, ZevKR Bd. 11 (1964/65), S. 354. 22 Vgl. Pirson, S. 192: „Die Organe eines sich als säkular verstehenden Staates erkennen sich... keine Urteilsfähigkeit in Angelegenheiten zu, die über den Bereich des Irdischen hinausweisen. Darum muß auch unter diesem Aspekt ein hoheitliches Handeln, das die religiöse Existenz betrifft, als ausgeschlossen 19
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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Teil der Staatsgewalt ist aber auch die staatliche Rechtsetzungsgewalt. Diese kann daher nicht zur Regelung religiös geprägter Sachverhalte wie der zum Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften zählenden Materien eingesetzt werden. So, wie der weltanschaulich-religiös neutrale Staat selbst keinen Gottesdienst hält, so, wie er nicht tauft, keine Sünden behält oder vergibt, kein geistliches Amt kennt, nicht betet, so kann er auch selbst keine rechtliche Ordnung für diese religiösen Lebensvollzüge aufstellen. Unter der Geltung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität ist es dem Staat daher von Verfassungs wegen verboten, die rechtliche Ordnung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten an sich zu ziehen und durch seine eigenen Organe vornehmen zu lassen, staatliches Recht für Kirchen und Religionsgemeinschaften zu setzen. Diese Rechtsetzung war vielmehr den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu überlassen, was durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV geschehen ist. Kraft dieser Norm ist es den Kirchen und Religionsgemeinschaften freigestellt, den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten einer nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis ausgestalteten eigenen Rechtsordnung zu unterstellen. II. Dieses aus dem Verfassungsprinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates abgeleitete Verbot des Einsatzes staatlicher Rechtsetzungsgewalt zur Ordnung des ganz im religiösen Selbstverständnis von Kirchen und Religionsgemeinschaften verwurzelten Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten kann aber nicht nur für die direkte Ausübung von Staatsgewalt im innerkirchlichen Bereich durch die Organe des Staates selbst gelten. Vielmehr muß angenommen werden, daß dieser Grundsatz auch die Übertragung staatlicher Rechtsetzungsgewalt auf die Kirchen und Religelten. Der Staat ist unzuständig und unfähig, das zu regeln, was nicht mit Hilfe rein diesseitiger Denkkategorien erfaßt werden kann. Sofern man speziell diese Begrenzung der staatlichen Gewalt im Auge hat, darf man davon sprechen, daß die Idee einer absoluten inneren Souveränität mit dem Staatsbegriff, der dem modernen Verfassungsstaat zu Grunde liegt, nicht in Einklang zu bringen ist." — Somit führt die Anwendung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates im hier erörterten Fall zu einer Folgerung, die Elemente des Gedankens der Trennung von Staat und Kirche verwirklicht. Es muß aber betont werden, daß es nicht zulässig ist, aus diesem Grundsatz allgemein auf eine Trennung von Staat und Kirche in der BRD zu schließen. Diese wird vielmehr in zahlreichen Punkten durch konkrete Einzelregelungen gerade ausgeschlossen. Diese Rechtssätze dürfen nicht mit Hilfe eines allgemeinen Grundsatzes hinweginterpretiert werden. Vielmehr kann die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates „rechtlich ihre Wirksamkeit nur jeweils im Rahmen der verschiedenen Sachbereiche und ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Ausgestaltungen gewinnen" (so Schiaich, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 4, S. 41). Neutralität muß daher nicht immer zur Distanz von Staat und Kirche führen: „Denn Neutralität meint nicht eine bestimmte staatliche Ideologie, sondern je nach dem in Frage stehenden Bereich gleiche Nähe oder gleiche Distanz zu allen Partnern" (Mayer-Scheu, S. 243). 6 Jurina
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
gionsgemeinschaften zur rechtlichen Ordnung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten untersagt. Die Annahme einer solchen Übertragung staatlicher Rechtsetzungsgewalt auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften würde zwar eine äußere Neutralität des Staates im weltanschaulich-religiösen Bereich wahren, insofern der Rechtsetzungsvorgang selbst in Händen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, nicht der Organe des Staates läge. Das änderte jedoch nichts daran, daß diese Rechtsetzung durch Kirchen und Religionsgemeinschaften materiell Ausübung staatlicher Rechtsetzungsgewalt bliebe, Rechtsetzung im Namen und in Vollmacht des Staates, gestützt auf die Innehabung staatlicher Hoheitsgewalt, darstellte. Staatsgewalt würde also zur Erreichung kirchlich-religiöser Ziele, zur Hervorbringung einer religiösen Zwecken dienenden Rechtsordnung eingesetzt. Einer solchen Verwendung ist die staatliche Hoheitsgewalt aber nicht fähig, weil sie, wie dargelegt, ein Mittel zur Erfüllung staatlicher Aufgaben darstellt, der Kernbereich eigener Angelegenheiten von Karchen und Religionsgemeinschaften aber aus dem Wirkungsbereich des Staates völlig herausfällt. So wie also der an den Grundsatz der weltanschaulichreligiösen Neutralität gebundene Staat in diesem ureigenen Bereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht selbst tätig werden kann, weil seine Staatsgewalt sich nicht auf diese Sachbereiche bezieht, er für sie keine Kompetenz besitzt, so darf er auch nicht Kirchen und Religionsgemeinschaften mit dem Recht belehnen, den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten mit Hilfe staatlicher Hoheitsgewalt rechtlich auszugestalten. Vielmehr muß das Wirken der Staatsgewalt in allen ihren Aspekten auf den Bereich der staatlichen Aufgaben beschränkt bleiben 28 . Aus allem folgt, daß die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantierte unabhängige Rechtsetzung von Kirchen und Religionsgemeinschaften, soweit es sich um den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten handelt, nicht als auf verliehener staatlicher Rechtsetzungsgewalt beruhend betrachtet werden kann. Vielmehr ist der Staat in diesem Sachbereich absolut inkompetent. Er kann weder unmittelbar für diesen Bereich Recht setzen, noch mittelbar, durch Übertragung seiner staatlichen Rechtsetzungsgewalt auf Kirchen und Religionsgemeinschaften, an der Recht28 Vgl. auch Krüger, S. 865: „Die Annahme, die Kirchengewalt könne eine vom Staat abgeleitete Gewalt sein, wird heute durch die Trennung von Staat und Kirche von vornherein ausgeschlossen. Aber auch abgesehen hiervon muß die Kirchengewalt vor allem als etwas ganz anderes denn die Staatsgewalt angesehen werden — jedenfalls wenn man den Staat im weltlichen und die Kirche im geistlichen Bereich beheimatet sein läßt. Da es in beiden Bereichen um ganz verschiedene Arten der Zielsetzung geht, müssen auch die in Betracht kommenden Mittel ihrer Art und Wirksamkeit nach ganz verschiedene sein. Diese Heterogenität verbietet die Annahme, es könne eine dieser Gewalten aus der anderen abgeleitet sein: Aus der Kirchengewalt kann niemals eine Staatsgewalt,, aus einer Staatsgewalt niemals eine Kirchengewalt hervorgehen."
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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Setzung in diesem Bereich beteiligt sein. Das Wirken der staatlichen Hoheitsgewalt ist vielmehr darauf beschränkt, dieser eigenen Rechtsetzung durch Kirchen und Religionsgemeinschaften „von außen" Schranken zu ziehen. Vom Inhalt dieser Befugnis wird noch zu handeln sein. A l l dies gilt, was angesichts der oben angeführten 24 , entgegenstehenden Tendenzen in der staatskirchenrechtlidien Lehre besonderer Betonung bedarf, für die großen Kirchen ebenso wie für die kleinen Religionsgemeinschaften: auch bei den letzteren ist die Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten unmittelbar mit religiösen Vorentscheidungen verbunden, so daß auch hier der Staat als von jeder Mitwirkung an dieser Rechtsetzung ausgeschlossen betrachtet werden muß. Weder für die Kirchen noch für die kleineren Religionsgemeinschaften kann Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV folglich dahin ausgelegt werden, daß die in dieser Vorschrift garantierte unabhängige Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten auf verliehener staatlicher Rechtsetzungsgewalt beruht.
Zweiter Abschnitt
Wesen und Eigenarten der innerkirchlichen Rechtsordnung Die bisherigen Überlegungen haben ergeben, daß die Annahme, die Rechtsetzung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten beruhe auf den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu selbständiger Ausübung übertragener staatlicher Rechtsetzungsgewalt, angesichts der engen Verknüpfung der im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zu treffenden rechtlichen Entscheidungen mit dem religiösen Selbstverständnis von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Hinblick auf den Verfassungsgrundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ausgeschlossen ist. Dieses Ergebnis wird, wie im folgenden darzulegen sein wird, bestätigt, wenn man über die allgemeine Kennzeichnung der Eigenarten der innerkirchlichen Rechtsetzung hinaus das von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Rahmen der Garantie des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV geschaffene Recht einer näheren Betrachtung unterzieht und daran die Frage knüpft, ob dieses konkrete kirchliche Recht als Teil des Rechts eines weltanschaulich-religiös neutralen Staates betrachtet werden kann. Der so unternommene Versuch, an den Eigenarten des internen Rechts von Kirchen und Religionsgemeinschaften anzuknüpfen und daraus ArM
6»
Vgl. oben S. 48 ff.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
gumente für seine rechtssystematische Einordnung abzuleiten, kann nicht für unzulässig gehalten werden: Da Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV selbst den Kirchen und Religionsgemeinschaften die Möglichkeit eröffnet, den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten einem ihrem Selbstverständnis entsprechenden Recht zu unterstellen, muß es auch zulässig sein, ja ist es geboten, die Merkmale und Besonderheiten dieses Rechts seiner rechtssystematischen Bewertung durch das staatliche Verfassungsrecht zugrundezulegen. Dabei wäre es innerhalb einer Untersuchung, die der rechtssystematischen Qualifizierung des internen Rechts aller „Religionsgesellschaften" im Sinn des Verfassungstextes, also des Rechts sowohl der Kirchen wie der kleineren Religionsgemeinschaften gewidmet ist, an sich wünschenswert, das Recht aller dieser in Deutschland vertretenen Kirchen und Religionsgemeinschaften wenigstens kurz betrachten zu können. Dies ist freilich in bezug auf die kleineren Religionsgemeinschaften schon wegen des teilweise unsicheren Quellen- und Literaturbestandes nicht möglich. Deshalb wird im folgenden vor allem die interne Rechtsetzung der großen Kirchen dargestellt werden (1. Unterabschnitt). Daran werden sich kürzere Hinweise auf das Recht einiger kleinerer Religionsgemeinschaften anschließen (2. Unterabschnitt). Eine solche Darstellung der Grundzüge des Kirchenrechts trifft, wenn sie sich nicht auf eine Bestandsaufnahme der positiven Rechtsregeln beschränken will, insofern auf eine besondere Schwierigkeit, als gerade die Bewertung der Grundfragen des Kirchenrechts nicht nur zwischen den Konfessionen kontrovers, sondern in weitem Umfang auch innerhalb der einzelnen Kirchen der Diskussion ausgesetzt ist. Es kann nicht Aufgabe dieser verfassungsrechtlichen Untersuchung sein, in diesem rechtstheologischen Streit Stellung zu beziehen oder gar selbst ein bestimmtes Konzept vom Kirchenrecht zu erarbeiten. Die folgenden Ausführungen müssen sich daher auf eine Bestandsaufnahme „von außen" beschränken, wobei naturgemäß die in einer Kirche „herrschende" Bewertimg des Kirchenrechts selbst dann im Vordergrund zu stehen hat, wenn sie innerkirchlich in Zweifel gezogen wird. Erster Unterabschnitt: D i e Regelung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten i m katholischen u n d i m evangelischen Kirchenrecht
Die folgenden Ausführungen über die kirchenrechtliche Regelung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten in der katholischen und den evangelischen Kirchen werden zunächst einen Überblick über die Grundsätze des Kirchenrechtsverständnisses in den beiden Kirchen geben (A und B). Daran wird sich eine Darstellung der konkreten Rechtsregeln
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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für die genannten Materien anschließen, wobei zunächst die Regelung des Gottesdienstes und der Sakramente (C und D), sodann die Ordnung der kirchlichen Verfassung im katholischen und im evangelischen Kirchenrecht behandelt werden (E und F). A. Grnndzüge des katholischen Kirchenrechtsverständnisses
„Das Kirchenrecht... i s t . . . nicht etwas zum inneren Gefüge, zum Wesen der Kirche nur von außen Hinzutretendes und nur Menschenwerk . . . Christus hat seine Kirche gestiftet nicht als ungeformte Geistesbewegung, sondern als festgefügte Gemeinschaft... Kirchenleben und Kirchenrecht gehören zusammen25." Diese Sätze Pius' X I I . sind Ausdruck einer Überzeugung, die zu den Grundprinzipien des katholischen Kirchenverständnisses gehört. I. Aus dieser Äußerung spricht die im katholischen Denken besonders ausgeprägte Auffassung, daß die Kirche als menschliche Gemeinschaft in der Welt notwendigerweise rechtlich geordnet sein muß. Diese Auffassung hat im Laufe der kirchlichen Entwicklung zu einer höchst differenzierten und umfassenden kirchlichen Rechtsordnung geführt, die im Corpus Iuris Canonici des Mittelalters eine für Jahrhunderte gültige Zusammenfassung fand und für die Neuzeit im Codex Iuris Canonici des Jahres 1917 in ein einheitliches System gebracht wurde 26 . II. Der Ausspruch Pius' X I I . betont aber auch den anderen das katholische Kirchenrechtsverständnis kennzeichnenden Grundsatz: daß das in den Formen menschlicher Rechtsregeln ausgesagte und entfaltete Kirchenrecht nicht das Werk souveräner menschlicher Rechtsschöpfung ist, sondern sich jedenfalls in seinen Grundzügen aus der Anordnung Gottes herleitet 27 . Diese der Anordnung Gottes entstammenden Rechtssätze bezeichnet die katholische Lehre als ius divinum, wobei sie näher zwischen dem ius divinum positivum, d.h. den unmittelbar in der Offenbarung ausgesprochenen Rechtssätzen, sowie dem ius divinum naturale, den mit Hilfe 26 Pius XII., Ansprache an Professoren, Assistenten und Studenten der Juristischen Fakultät des Instituts für kanonisches Recht und Rechtsgeschichte der Universität Wien vom 3.6.1956, Acta Apostolicae Sedis 1956, S. 498 - 499. 28 I m Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils wird eine Reform des CIC vorbereitet; vgl. dazu Mörsdorf, Streiflichter zur Reform des kanonischen Rechts, Archiv für katholisches Kirchenrecht, 135. Bd. (1966), S. 38; Huizing, Reform des kirchlichen Rechts, Concilium 1. Jg. (1965), S. 670. I m Vordergrund der Diskussion steht gegenwärtig der Entwurf für ein „Grundgesetz der Kirche", dessen ins Deutsche übersetzter Text sich in dem Bändchen „Kein Grundgesetz der Kirche ohne Zustimmung der Christen", Mainz 1971, findet. 27 Zur Grundlegung der rechtlichen Struktur der Kirche „in ihrem heiligen Ursprung aus dem Gottmenschen und in der in ihr waltenden heiligen Herrschaft" vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I, S. 13 ff.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
der menschlichen Vernunft erkannten und in menschlichen Rechtssätzen ausgeformten Vorschriftten für ihr Leben, unterscheidet 28. Das ius divinum ist menschlicher Verfügung entzogen, d. h. unabänderlich. Es bildet die Grundlage des gesamten übrigen Kirchenrechts iuris humani2®. Dieses entsteht aus der mittels der menschlichen Vernunft geschehenen Anwendung und Entfaltung des ius divinum für die konkrete Situation, hat sich also immer an den Sätzen iuris divini auszurichten. Soweit das menschliche Kirchenrecht diesem Kirchenrecht göttlichen Ursprungs widerspricht, ist es nichtig 30 . So hat letztlich alles Kirchenrecht seinen Ursprung in Gott 31 , sei es, daß es unmittelbar von Gott stammt, sei es, daß es auf der der Kirche von Gott verliehenen Befugnis zur rechtlichen Entfaltung des ius divinum beruht. Es ist somit, wie die Kirche selbst, für Gott in Dienst genommen. Es gibt daher nach katholischer Auffassung keine Trennung von Glaube und Recht. Auch das Kirchenrecht ist vielmehr Frucht des Glaubens an Gott und seine Offenbarung 32 , es ist selbst „bekennendes Recht" 33 . I I I . Die (unmittelbare oder mittelbare) Herkunft des Kirchenrechts aus der Anordnung Gottes, sein Wesensmerkmal als den Glauben der Kirche „bekennendes Recht" drückt sich besonders deutlich in seinem Ziel aus: es ist Werkzeug der Kirche und dient deren Aufgabe, die Glieder der Kirche zum Heil zu führen. Eine solche Kennzeichnung der Aufgabe des Kirchenrechts ist nur möglich auf dem Hintergrund der katholischen Lehre über die Kirche. Deren Wesen beschreibt die Dogmatische Konstitution über die Kirche des 2. Vatikanischen Konzils als „gleichsam das Sakrament, d. h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit"34. Dies meint, daß zunächst Christus selbst das große Sakrament ist, durch das der Heilswille Gottes in der Welt geschichtlich präsent ge28 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I , S. 22. Insbesondere zur Frage der Erkennbarkeit des ius divinum vgl. Karl Rahner, Festschrift für Erik Wolf, S. 62 ff. 29 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I, S. 23. 30 Vgl. May, Archiv für katholisches Kirchenrecht 130. Bd. (1961), S. 7. 31 Vgl. May, Archiv für katholisches Kirchenrecht 130. Bd. (1961), S. 4 ff. 32 May, Archiv für katholisches Kirchenrecht 130. Bd. (1961), S. 5; vgl. auch Soehngen, S. 68: „Der Grund und das Recht, der Rechtsgrund kirchlicher Rechtsordnungen liegt im Dogma, im glaubensdogmatischen Charakter der kirchlichen Rechtsordnungen." 33 So May, Archiv für katholisches Kirchenrecht 130. Bd. (1961), S. 6 im A n schluß an Erik Wolf. 34 Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 1. Der authentische lateinische Text dieser Stelle lautet: „Cum autem Ecclesia sit in Christo veluti sacramentum seu Signum et instrumentum intimae cum Deo unionis totiusque generis humani unitatis..
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des S t a a t e s 8 7 worden ist 86 . Von Christus her ist aber auch die Kirche, die sein Leib ist, Sakrament: Sie ist das „Zeichen, in dem sich die Anwesenheit der Heilsgnade kundtut", „Werkzeug, dessen sich Gott bei der Verwirklichung seines Heilsplanes bedient" 86 . Dieses Werkzeug Gottes kann aber nicht als von ihm getrennt gesehen werden. Die Kirche ist vielmehr das Werkzeug Gottes, „in dem er lebt" 87 . Sie ist Heilsmittel und Heilszeichen, weil sie schon Angeld des Heiles ist" 88 . I n diesen Heilsdienst der Kirche ist auch ihr Recht einbezogen: „Es setzt sich... die Fleischwerdung des Wortes . . . fort in der geistlichen Rechtswirklichkeit der Kirche. Heilsordnung und Rechtsordnung verhalten sich demnach analog wie das Wort und seine Fleischwerdung8®." Insofern also nach Gottes Ratschluß das Heil dem Menschen innerhalb der Kirche zukommen soll, läßt sich sagen, daß das Heil nicht verwirklicht wird ohne Dogma und ohne Recht 40 . Somit bedeutet Kirchenrecht den „Rechtscharakter der Heilsordnung im Sinne ihrer Rechtsstruktur" 41. Dies ändert freilich nichts daran, daß auch nach katholischer Auffassung nicht das Kirchenrecht, sondern allein die Tat Gottes das Heil schaffen kann: „Die Heilsordnung hat Rechtsstruktur: dieser Satz darf nicht einfach umgekehrt werden in den Satz von der Heilswirksamkeit der Rechtsstruktur 42 ." Dogma und Recht sind als solche nicht das Heilsgeschehen selbst, sondern die notwendigen, von Gott und der Kirche gesetzten Bedingungen zur Vermittlung des Heils 48 , weshalb auch von heilsnotwendigen Bedingungen gesprochen werden kann 4 4 : „aber eben von Bedingung, d. h. in einen durchaus konditionalen Sinn, nicht in einen wirkursächlichen. Das Heil muß reine Gnadengerechtigkeit bleiben inmitten aller hierarchischen und sakramentalen Rechtsstruktur" 45. So ist das Kirchenrecht nicht einfach eine Ordnung des äußeren Lebens der kirchlichen Gemeinschaft. Seine Eigenart besteht vielmehr darin, daß es den Dienst an Christi Heilsmysterien und die Verkündigung seines 85
Smulders, in: De Ecclesia, 1. Bd., S. 305. Smulders, in: De Ecclesia, 1. Bd., S. 306. 87 Smulders, in: De Ecclesia, 1. Bd., S. 307. 88 Smulders, in: De Ecclesia, 1. Bd., S. 307. 88 Soehngen, S. 78. 40 Soehngen, S. 70. 41 Soehngen, S. 81. 42 Soehngen, S. 82. 48 Soehngen, S. 70. 44 Soehngen, S. 81. 45 Soehngen, S. 81. — Vgl. auch Lesage, S. 46: „Sans doute, la loi n'a pas d'emprise sur la grâce et la vérité divines considérées en elles-mêmes, mais elle peut coordonner les signes humaines par lesquels la grâce et la vérité sont communiquées aux âmes." 38
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Wortes in seinem Auftrag und seinem Namen ordnet, um so dem Heil der Welt zu dienen 48 . Das Kirchenrecht ist also nicht Selbstzweck, sondern „es ist immer Mittel zu einem über ihm liegenden Ziel. Wie alles in der Kirche, steht es im Dienst der ,salus animarum', und damit der Seelsorge. Es soll mithelfen, der Wahrheit und Gnade Jesu Christi die Wege in die Herzen der Menschen zu öffnen und zu ebnen" 47 . So ist das letzte Ziel des Kirchenrechts — wie das der Kirche überhaupt — „die Verherrlichung Gottes durch die Hinführung der Menschen zum ewigen Heil" 4 8 . Aus diesem Ziel des Kirchenrechts, dem Heil des Menschen zu dienen, folgt zugleich der Maßstab für seine Richtigkeit: „Les lois, les coutumes, les privilèges, les jugements, les prescriptions, sont de nulle valeur, dès qu'il en découle un danger pour les âmes49." B. Grundzüge des evangelischen Kirchenrechtsverständnisses
Eine zusammenfassende Darstellung des evangelischen Kirchenrechtsverständnisses begegnet einigen Schwierigkeiten, da trotz einer grundsätzlichen Bejahung der Notwendigkeit einer eigenen kirchlichen Rechtsordnung durch alle deutschen evangelischen Kirchen „man von einer Übereinstimmung über die Grundlagenproblematik des evangelischen Kirchenrechts noch nicht sprechen kann" 50 . Eine umfassende Erörterung dieser Grundlagenproblematik müßte daher mittels eines Überblicks über die einzelnen heute vertretenen Kirchenrechtssysteme und -lehren versucht werden — ein Beginnen, das über den Rahmen dieser Untersuchung hinausgehen würde 51 . Das Vorhandensein von weitgehenden Differenzen zwischen den verschiedenen Kirchenrechtslehren innerhalb der evangelischen Kirchen bedeutet aber andererseits nicht, daß jegliche Übereinstimmung über die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts fehlt. Vielmehr lassen sich 48
Huizing, Concilium, 1. Jg. (1965), S. 674. Pius XII., Acta Apostolicae Sedis 1956, S. 498. 48 May, Archiv für katholisches Kirchenrecht 130. Band (1961), S. 18 f. — Vgl. auch Lesage, S. 44: „La loi ecclesiastique est essentiellement ordonnée à poursuivre parmi les hommes la mission rédemptrice de Jésus-Christ." S. 151: „Le but immédiat et spécifique du droit canonique est l'organisation sociale de la vie surnaturelle; son but médiat est le salut des fidèles; son but ultime, comme celui de l'univers, est la gloire de Dieu." 48 Lesage, S. 115. — Vgl. auch May, Archiv für katholisches Kirchenrecht 130. Bd. (1961), S. 3: „Alle Rechtsbegriffe und Rechtseinrichtungen der Kirche sind in erster Linie am Geist Gottes zu messen, anders ausgedrückt, an ihrer Eignung, das übernatürliche Leben der Gnade zu schenken, zu erhalten und zu entfalten." 50 S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 981. Vgl. auch den Überblick über die offenen Fragen bei Steinmüller, S. 817 f. 61 Vgl. aber die umfangreiche Monographie von Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie. Zweireichelehre, Christokratie, Gnadenrecht. 47
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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nach dem heutigen Stand der Diskussion einige Prinzipien feststellen, die grundsätzlichste Aussagen zum evangelischen Kirchenrecht beinhalten und von allen evangelischen Kirchen bzw. Kirchenrechtslehrern akzeptiert werden. Ihre zusammenfassende Aufzählung genügt, um im Rahmen dieser Untersuchung, die nur eine allgemeine Kennzeichnung des Kirchenrechtsverständnisses der evangelischen Kirchen zum Ziel hat, die Besonderheiten des evangelischen Kirchenrechts aufzuzeigen. I. Zu den allgemein anerkannten Prinzipien des evangelischen Kirchenrechts gehört zunächst der Satz, daß die Kirche nach eigenständigem, von den Grundlagen ihres Bekenntnisses nicht ablösbarem Recht lebt. Dieses Prinzip fand ausdrückliche Anerkennung zuerst in der von der Barmer Bekenntnissynode im Jahre 1934 verfaßten „Theologischen Erklärung zur gegenwärtigen Lage der deutschen Evangelischen Kirche", die auf Grund eines neuen reformatorischen Kirchenverständnisses die für die Entwicklung des evangelischen Kirchenrechts entscheidenden Bemühungen um die theologische Begründung einer evangelischen Kirchenordnung einleitete 52 . I n ihrer Ziffer 3 betont die Barmer Theologische Erklärung, die Kirche, deren Herr Jesus Christus ist, habe mitten in der Welt mit ihrem Glauben, ihrem Gehorsam, ihrer Botschaft, sowie mit ihrer Ordnung „zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte". Die Erklärung verwirft deshalb die „falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen". Damit wird ein an der staatlich-politischen Ordnung ausgerichtetes Kirchenrechtsdenken abgelehnt und die Ordnung der Kirche „auf das Bekenntnis zu Jesus Christus als den wahren Grund kirchlicher Existenz bezogen", somit die Lehre vom „bekennenden Kirchenrecht" grundgelegt 53. Diese Bindung des evangelischen Kirchenrechts an das Bekenntnis verfügt auch die Grundordnung der EKD, indem sie in Art. 2 Abs. 2 bestimmt, daß das Recht der E K D und ihrer Gliedkirchen auf der im Vorspruch und der in Nr. 1 der Grundordnung bezeichneten Grundlage ruhen muß 54 . Damit werden in Bezug genommen: 1. das Prinzip, daß das Evangelium von Jesus Christus, „wie es uns in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben ist", die
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So Klügel und Till, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 956. Vgl. Klügel und Till, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 955. 54 Art. 2 Abs. 1 der Grundordnung der E K D lautet: „Das Recht der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen muß auf der im Vorspruch und in Art. 1 bezeichneten Grundlage ruhen." 58
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Grundlage der EKD bildet, die ferner auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse steht (Vorspruch, 1. und 2. Absatz); 2. die in Art. 1 der Grundordnung enthaltene Aussage, daß die EKD als Bund verschiedener Gliedkirchen voraussetzt, daß diese „ihr Bekenntnis in Lehre, Leben und Ordnung der Kirchen wirksam werden lassen". Angesichts dieses Inhalts der in Bezug genommenen Vorschriften muß Art. 2 der Grundordnung entnommen werden, daß „das Recht der Kirche nicht abgelöst von ihrem Bekenntnis besteht und nicht nach kirchenfremden Gesichtspunkten gestaltet werden kann". Kirchenrecht muß somit in einem inneren Zusammenhang mit dem Bekenntnis stehen, es darf den bekenntnismäßigen Grundlagen der Kirche mindestens nicht widersprechen 55. II. Aus dieser Bindung des Kirchenrechts an das Bekenntnis der einzelnen Kirchen wird gefolgert, daß das Kirchenrecht — wie Wilhelm Maurer es formuliert hat — „vom weltlichen' Recht irgendwie unterschieden werden (muß), ohne dabei doch seinen Rechtscharakter zu verlieren" 56 . Über die genauere Bedeutung dieser Kennzeichnung des Kirchenrechts als eine gegenüber dem staatlichen Recht qualitativ andere Rechtsordnung 57 herrscht freilich Streit, der sich insbesondere an der Formulierung entzündet hat, staatliches und kirchliches Recht seien „toto coelo" verschieden58. Dieser Streit, der als Frage nach dem Begriff des „Rechts" vor allem rechtsphilosophische Probleme aufwirft 59 , kann hier auf sich beruhen. Denn jedenfalls steht schon nach den allgemein akzeptierten Aussagen der Barmer Theologischen Erklärung fest, daß das kirchliche Recht, indem es sich am Bekenntnis der Kirchen orientiert, eine andere Grundlage besitzt als das Recht eines weltanschaulich-religiös neutralen Staates. Daraus wird übereinstimmend gefolgert, daß nicht der Staat, sondern nur die Kirchen selbst zur Setzung von Kirchenrecht befugt sind 60 . I I I . Die Bindung der Inhalte des Kirchenrechts an das Bekenntnis der Kirchen wirft die Frage auf, inwieweit diesem Bekenntnis, insbesondere der Heiligen Schrift, konkrete Weisungen für die Gestaltung des Kirchenrechts zu entnehmen sind. Diese Frage wird von einigen der bedeutendsten evangelischen Kirchenrechtslehrern der Gegenwart bejaht, indem diese die Existenz eines für die Ausgestaltung des Kirchenrechts ver55 56 57 58 59 60
Brunotte, S. 133. Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 984. Vgl. Steinmüller, S. 808. Vgl. die Nachweise bei Hollerbach, S. 89, Anm. 2. Vgl. die Ausführungen bei Hollerbach, S. 90 ff., bes. 94 f. Vgl. Steinmüller, S. 808.
2. Kap.: Kirchliche
echtsetzung und Neutralität des Staates
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bindlichen ius divinum annehmen. Eine Reihe anderer Autoren verwirft zwar diese Auffassung 61. Immerhin ist es aber — so wiederum Wilhelm Maurer — allgemein anerkannt, daß zur Setzung des Kirchenrechts durch die Kirchen Schrift und Bekenntnis „unerläßlich" sind. So wird, „auch wer Bedenken tragen sollte, ihm ,biblische Weisungen' unmittelbar zugrundezulegen, . . . jeden kirchenrechtlichen Anspruch an der Heiligen Schrift messen"62. IV. Schließlich „kann die Erkenntnis, daß das Kirchenrecht in der Liebe Gottes zu den Menschen und dem daraus fließenden Gebot der Nächstenliebe seinen Lebensnerv hat, als gesichert angesehen werden. Kirchenrecht ist Liebesrecht. Daran wird sich nichts mehr ändern" 63 . Dies ist vor allem als Aussage über den Geltungsgrund des Kirchenrechts gemeint, als Aussage dahin, „daß das evangelische Kirchenrecht seine Kraft, sich durchzusetzen, nicht aus äußerem menschlichen Zwang, sondern aus dem Ernst des göttlichen Liebesgebotes gewinnt" 64 . So gilt der Grundsatz: „Respublica ecclesiastica unica lege charitatis instituta est" 65 oder, wie Gerhard Gloege formuliert hat: „Die Glaubenden leben nicht aus einer Ordnung, sondern aus Liebe in ihr 6 6 ." C. Das katholische Sakraments- and Gottesdienstrecht
I. Entsprechend dem oben beschriebenen Ziel des katholischen Kirchenrechts, den Dienst an Christi Heilsmysterien und die Verkündigung des Wortes Gottes zu ordnen, um so dem Heil der Welt zu dienen 67 , sollen die Rechtsregeln für die Spendung der Sakramente es sicherstellen, daß diese der Kirche gegebenen Heilsmittel dem Auftrag Christi gemäß verwaltet werden. Zu diesem Zweck wird durch das kanonische Recht insbesondere die Beachtimg der liturgischen Vorschriften eingeschärft 68. Deren Bedeutung besteht zum einen darin, die wirksame Spendung der Sakramente zu verbürgen. Zum anderen hat der Ritus die Aufgabe, den Sinn und Gehalt des jeweiligen Sakraments für die Gläubigen sichtbar werden zu lassen69. 81 Vgl. den Überblick bei Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 831 ff.; Steinmüller, S. 810; ferner S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1018 f. 82 Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 984. 88 S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 981 f. 84 Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 984. 85 Das ist nach Johannes Heckel „der Kernsatz aller irdischen Kirchenverfassung", vgl. S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 977. 88 Gloege, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 888. 87 Huizing, Concilium, 1. Jg. (1965), S. 674. 88 Vgl. c. 733 § 1 CIC. 89 So bestimmt etwa die Konstitution über die heilige Liturgie des 2. Vati-
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Da die Sakramente der Kirche anvertraute Heilsgüter sind, entspricht es alter kirchlicher Auffassung, daß nur diejenigen zum Empfang der Sakramente zugelassen sein können, die voll zur kirchlichen Gemeinschaft gehören. Deshalb bestimmt das kanonische Recht, daß die Spendung der Sakramente an Häretiker und Schismatiker verboten ist 70 . II. Unter den einzelnen Sakramenten nimmt die Taufe eine besondere Stellung ein: Sie ist „sacramentorum ianua ac fundamentum" 71 , weil sie die Zugehörigkeit zur kirchlichen Gemeinschaft begründet, somit ohne Empfang der Taufe kein anderes Sakrament empfangen werden kann. Sie ist zum Heil des Menschen notwendig. Der Empfang der Taufe begründet die Gliedschaft in der Kirche. Diese ist unwiderruflich 72 . Sie kann gültig gespendet werden nur „per ablutionem aquae verae et naturalis cum praescripta verborum forma" 78 . Die ausführliche kirchenrechtliche Regelung der Taufe 74 befaßt sich im einzelnen vor allem mit der Befugnis zur Spendung der Taufe, mit den Voraussetzungen ihres Empfangs, mit dem Ritus der Taufe sowie der Funktion und den Voraussetzungen des Patenamts. I I I . Das Sakrament der Firmung 75 dient der Ergänzung der durch die Taufe gewirkten Gnade und bildet zusammen mit der Taufe die christliche Initiation 76 . Grundsätzlich ist deshalb der Empfang der sog. „Standessakramente" der Heiligen Weihen und der Ehe ohne vorherigen Empfang der Firmung nicht zulässig77. Auch bei der Firmung sind die Zuständigkeit zur Spendung, ihr Ritus sowie die Voraussetzungen ihres Empfanges geregelt. IV. Das Sakrament der Eucharistie entstammt dem Auftrag Christi im Abendmahlsaal. I n den Gestalten von Brot und Wein „ipsemet Christus Dominus continetur, offertur, sumitur" 78 . Da die Spendung dieses Sakraments innerhalb der Feier der Messe erfolgt, befaßt sich der der Eucharistie gewidmete Abschnitt des Codex kanischen Konzils, die Riten seien so zu ordnen, „dass sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen, und so, dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann" (Nr. 21). 70 Vgl. c. 731 § 2 CIC. 71 Vgl. c. 737 § 1 CIC. 72 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 15. Zur Kirchenmitgliedschaft ferner Mörsdorf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 939. 78 Vgl. c. 737 § 1 CIC. 74 Vgl. cc. 737 - 779 CIC. 75 Vgl. cc. 780 - 800 CIC. 76 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 27. 77 Vgl. c. 974 § 1 n. 1 und c. 1021 § 2 CIC. 78 Vgl. c. 801 CIC.
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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Iuris Canonici zunächst mit der Ordnung des Messopfers 79, sodann mit den Voraussetzungen und der Form der Kommunionspendung selbst80. 1. Zum Messopfer ist bestimmt, daß dieses allein von einem Priester gefeiert werden kann 81 . Diese Befähigung ist mit der Priesterweihe unverlierbar gegeben. Das Recht zur Ausübung dieser Befugnis kann aber von der kirchlichen Autorität entzogen werden 82 . Das kanonische Recht schreibt ferner vor, daß die Zelebration verboten ist, wenn ein Priester eine Todsünde begangen hat 8 3 und daß der Priester sich auf die Messfeier durch Gebet innerlich vorzubereiten hat 8 4 . Ferner finden sich grundsätzliche Regeln für den Ritus der Messe86. 2. Die Spendung der Kommunion hat grundsätzlich in der Messe zu geschehen86. Befähigt zum Empfang der Kommunion ist jeder Getaufte, der sich im Stand der Gnade befindet. Er darf die Eucharistie aber nur empfangen, wenn er nicht rechtlich daran gehindert ist 87 . V. I m Sakrament der Buße werden einem Getauften die nach der Taufe begangenen Sünden vergeben 88. Da bei der Spendung des Bußsakraments nach katholischer Lehre ein Zusammenspiel von Weihegewalt und Hirtengewalt 89 stattfindet 90, kann es nur gespendet werden von einem Priester, der über den die Lossprechung Begehrenden oberhirtliche Gewalt besitzt 91 . Diese kann eine ordentliche Beichtgewalt sein, die insbesondere dem Papst für die ganze Kirche, den Bischöfen für ihre Diözesen und den Pfarrern für ihre Pfarreien zukommt 92 . Daneben ist es möglich, einem Priester Beichtgewalt zu delegieren 93. Das kanonische Recht gibt ferner Regeln für das Verhalten des Beichtvaters und für die Form der Lossprechung 94. Der gesamte Inhalt der 79
Vgl. cc. 801 - 823 CIC. Vgl. cc. 845 - 869 CIC. 81 Vgl. c. 802 CIC. 82 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 33 f. 83 Vgl. c. 807 CIC. 84 Vgl. c. 810 CIC. 85 Dieser ist im einzelnen in Sondervorschriften außerhalb des CIC geregelt. 88 Vgl. c. 846 CIC. 87 Vgl. c. 853 CIC. Solche Hindernisse bestehen für Kinder vor Erlangung des Vernunftgebrauchs (c. 854 CIC) und für die von der vollen Teilhabe an der kirchlichen Gemeinschaft Ausgeschlossenen (c. 855 CIC). 88 Vgl. c. 870 CIC. 89 Zu diesen Begriffen vgl. unten S. 101 ff. 90 Vgl. Mörsdorf, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Sp. 220. 91 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 65. 92 Vgl. c. 873 CIC. 98 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 66 ff. 94 Vgl. cc. 885 - 888 CIC. 80
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3. Teil: echtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Beichte steht unter dem Schutz des Beichtgeheimnisses65, das nicht nur den Beichtvater, sondern jeden verpflichtet, der auf irgendeine Weise vom Inhalt der Beichte Kenntnis hat, und zwar für immer und gegenüber jedermann. Eine Verletzung des Beichtgeheimnisses ist mit schweren Kirchenstrafen bedroht. Zum Empfang des Bußsakraments ist nach göttlichem Recht jedes Kirchenglied verpflichtet, das nach der Taufe eine schwere Sünde begangen hat 9 6 . VI. Das Sakrament der Krankensalbung („Letzte Ölung") ist ein besonderes Gnadenmittel für den in Lebensgefahr befindlichen Kranken. Es wird als Vollendung des Bußsakraments bezeichnet, und bewirkt die Vergebimg der Sünden 97 . Die kirchenrechtliche Regelung bezieht sich vor allem auf die Befähigung zum Empfang des Sakraments sowie den Ritus seiner Spendimg 98 . V I I . Das Sakrament der Weihe legt den Grund für die Unterscheidung von Klerikern und Laien in der katholischen Kirche 99 . Die Weihe vermittelt die unwiderrufliche geistliche Befähigung zum Vollzug der gottesdienstlichen Handlungen und zur Spendung der Sakramente 100 . Die katholische Kirche unterscheidet je nach dem Umfang der Teilhabe am Weihesakrament, dessen Fülle dem Bischof zukommt, verschiedene Weihestufen (insbesondere des Diakonats und des Presbyterats) 101 . Zur Spendung des Weihesakraments ist in ordentlicher Weise nur der Bischof befugt 102 . I n besonderer ausführlicher Weise sind die Voraussetzungen zum Empfang der Weihe geregelt 108 . V I I I . Nach katholischer Lehre ist schließlich die Ehe unter Getauften ein Sakrament 104 . Daraus folgt zunächst, daß unter Getauften eine gültige Ehe nur zustande kommen kann, wenn sie in der Form der Spendung des Sakraments geschlossen wird 1 0 5 . Aus der Sakramentalität der Ehe folgt nach katholischer Auffassung außerdem die ausschließliche Zuständigkeit des 95
Vgl. cc. 889 - 891 CIC. Vgl. c. 901 CIC. 97 Vgl. Rahner-Vorgrimler, S. 214. 98 Vgl. c. 940 - 947 CIC. 99 Vgl. c. 948 CIC. 190 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 94. 191 Vgl. ders., a.a.O., S. 94 f. 102 Vgl. c. 951 CIC. 108 Vgl. cc. 968 - 991 CIC. 194 Vgl. c. 1012 § 1 CIC: „Christus Dominus ad sacramenti dignitatem exevit ipsum contractum matrimonialem inter baptizatos." 105 Vgl. c. 1012 8 2 CIC. 98
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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kirchlichen Rechts zur rechtlichen Regelung jedenfalls der Gültigkeitsvoraussetzungen und des Zustandekommens der Ehe 1 0 6 . Auf diesen Grundsätzen ist eine sehr eingehende Regelung des kirchlichen Eherechts aufgebaut 107 . Danach gilt insbesondere: 1. Sakrament ist der kirchenrechtlich gültig zustandegekommene Eheschluß (Ehevertrag) unter Getauften, so daß sich die Ehegatten beim Eheschluß das Ehesakrament selbst gegenseitig spenden. Wirksames Zeichen der Gnade ist die Ehe jedoch nicht nur im Zeitpunkt ihres Abschlusses, sondern während der ganzen Dauer ihres Bestehens108. 2. Nach katholischer Lehre ist die gültig zustande gekommene und leiblich vollzogene Ehe zu Lebzeiten der Gatten unauflöslich 109. Zugelassen ist lediglich in bestimmten Fällen ein erlaubtes Getrenntleben der Ehegatten, das jedoch das Eheband unberührt läßt 1 1 0 . Von dieser „Trennung von Tisch und Bett" zu unterscheiden ist die Nichtigkeitserklärung der Ehe, die keine Auflösung, sondern die Feststellung darstellt, daß keine gültige Ehe vorliegt; ferner die Lösung der gültig geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe „dem Bande nach" 111 . c) Eine besonders ausführliche Regelung haben im kanonischen Recht die Ehehindernisse, die vertragsrechtlichen Fragen des Eheschlusses und seine Form erfahren. I X . I m Codex Iuris Canonici findet sich ferner eine Grundsatzregelung des Gottesdienstes112 sowie der Funktionen des Lehramts 118 . 1. Das kanonische Recht unterscheidet drei Arten des Gottesdienstes: die Anbetung, die nur Gott selbst zukommt, die sogenannte einfache Verehrung, mit der Heilige geehrt werden und die Hochverehrung, mit der Maria geehrt wird 1 1 4 . Für die Gestaltung und Abhaltung des Gottesdienstes wird Freiheit von jeder anderen als der kirchlichen Gewalt in Anspruch genommen 115 . Der Abschnitt über den Gottesdienst enthält ferner Regeln für die Aufbewahrimg und Verehrung der Eucharistie 116 , für die Heiligen-, 106 Vgl. c. 1016 CIC. Eine Ausnahme macht der genannte canon für eine Zuständigkeit der potestas civilis „circa mere civiles eiusdem matrimonii effectus". 107 Vgl. cc. 1012 -1143 CIC. 108 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 133. 109 Vgl. c. 1118 CIC. 110 Vgl. cc. 1128 - 1132 CIC. 111 Vgl. cc. 1118 - 1127 CIC. 112 Vgl. cc. 1255 - 1321 CIC. 118 Vgl. cc. 1322 - 1408 CIC. 114 Vgl. c. 1255 § 1 CIC. 115 Vgl. c. 1260 CIC. 118 Vgl. cc. 1265 - 1275 CIC.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Bilder- und Reliquienverehrung 117 , für die Prozessionen 118 und für die Kultgeräte 119 . 2. Für das Lehramt beruft sich die katholische Kirche auf die Anordnung Christi, das Evangelium allen Völkern zu verkünden. Dazu nimmt sie Unabhängigkeit von jeder weltlichen Gewalt in Anspruch 120 . Kraft göttlichen Rechts sind eigenberechtigte Träger der Lehrgewalt der Papst und die Bischöfe. An der Wahrnehmung der Lehraufgabe beteiligt sind die Pfarrer und Kapläne sowie gegebenenfalls auch Laien 1 2 1 . Kraft dieser Lehrgewalt nimmt die katholische Kirche gegenüber ihren Kirchengliedern für die vom kirchlichen Lehramt als verbindlich festgelegten Glaubenslehren (Dogmen) rechtliche Verbindlichkeit in Anspruch. Diese Dogmen können durch feierliche Glaubensentscheidungen eines Konzils oder des Papstes in einer ex-cathedra-Entscheidung, ansonsten durch die vom Papst und den Bischöfen in der ständigen Lehrverkündigung einstimmig und autoritativ vorgetragenen Wahrheiten begründet werden 122 . Aber auch für die übrigen, nicht unfehlbaren Lehrentscheidungen besteht eine Gehorsamspflicht 123. Die Kirchenglieder trifft ferner eine kirchenrechtliche Verpflichtung zum Bekenntnis des Glaubens, wenn das Schweigen einer Glaubensverleugnung, einer Verachtung der Religion oder einer Beleidigung Gottes gleichkäme oder anderen zum Ärgernis gereichen würde 1 2 4 . D. Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands
Auch das evangelische Kirchenrecht kennt zahlreiche Rechtsregeln über den Gottesdienst, die Sakramente sowie über die Rechte und Pflichten der Kirchenglieder in der kirchlichen Gemeinschaft 125. Zur Vereinfachung unserer Darstellung wird hier jedoch darauf verzichtet, allen diesen Regelungen nachzugehen. Statt dessen werden die folgenden Ausführungen als Beispiel derartiger kirchenrechtlicher Vorschriften der evangelischen Kirchen den Inhalt der „Ordnung des kirchlichen Lebens" der V E L K D kurz darstellen. 117 118 119 120 121 122 128 124 125
Vgl. cc. 1276 - 1289 CIC. Vgl. cc. 1290 - 1295 CIC. Vgl. cc. 1296 - 1306 CIC. Vgl. c. 1322 CIC. Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 401. Vgl. c. 1323 CIC und Eichmann-Mörsdorf, Bd. I I , S. 402 f. Vgl. c. 1324 CIC. Vgl. c. 1325 CIC. Vgl. z. B. die Darstellung bei Erik Wolf, S. 502 ff.
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Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" ist durch Kirchengesetz der V E L K D vom 27. 4. 1955 beschlossen und den Gliedkirchen als Richtlinie für gliedkirchliche Regelungen übergeben worden 126 . Die Gliedkirchen der V E L K D sind verpflichtet, dafür zu sorgen, daß diese Ordnung des kirchlichen Lebens „zur allgemeinen Richtschnur für die Amtsführung der Geistlichen und das Leben der Gemeindeglieder gemacht wird" 1 2 7 . I. Gemäß ihrem Vorwort will die Ordnung des kirchlichen Lebens dazu beitragen, „das Leben in Familie, Beruf und Gemeinde nach dem Willen Christi zu gestalten und kirchliche Sitte zu festigen." Diese Ordnung sei zwar kein Gesetz, dessen Erfüllung vor Gott rechtfertige. Sie könne aber dazu helfen, daß „Gottes Wort Kirche und Gemeinde, unser Haus und unser persönliches Leben heiligt". Es ist, wie für alle „Lebensordnungen" der evangelischen Kirchen, auch für die „Ordnimg des kirchlichen Lebens" der V E L K D charakteristisch, daß in ihrem Inhalt nicht streng unterschieden werden kann zwischen echten Rechtsnormen, in Aussageform gekleideten Beschreibungen des kirchlichen Lebens, seelsorgerlichen Ermahnungen und Richtlinien für den Geistlichen 128 . Dennoch handelt es sich aber bei den Lebensordnungen insgesamt um Anweisungen mit Rechtscharakter. II. Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der V E L K D beginnt mit einem Abschnitt über die Taufe. Er betont, daß die Kirche tauft im Gehorsam gegen den Befehl Christi und im Glauben an seine Verheißung (11). Durch die Taufe werde der Mensch Glied der Gemeinde Jesu Christi, weshalb die Taufe grundsätzlich in der Kirche und am besten in einem Gottesdienst der Gemeinde zu halten ist (14). I n der Regel wird die Taufe an Kindern vollzogen, wobei es kirchlicher Ordnung entspricht, daß die Kinder möglichst bald nach ihrer Geburt getauft werden. Eltern, die ihr Kind nicht innerhalb eines Jahres nach der Geburt taufen lassen und dadurch zeigen, daß sie „den Segen der Taufe verschmähen", verletzen die Ordnung der Kirche und gehen ihres Wahlrechts, der Befähigung zur Patenschaft und zur Bekleidung von kirchlichen Ämtern verlustig (12, 3). Grundsätzlich wird die Taufe vom Pastor vollzogen. Jedoch kann bei Lebensgefahr und wenn kein Pastor zugegen ist, jeder Christ die Taufe vornehmen. Sie ist mit der trinitarischen Taufformel zu vollziehen (15, 6). Das Taufsakrament muß mit einer Unterweisung der Getauften verbunden sein. Die Taufe muß daher versagt werden, wenn die evangelische Erziehung des Täuflings ernstlich in Frage gestellt ist. Deshalb wird z. B. nicht getauft, wenn beide Eltern der evangelischen Kirche nicht 126 127 128
Vgl. § 1 des Kirchengesetzes vom 27.4.1955, ABl. der E K D 1955, S. 257. § 2 des Kirchengesetzes vom 27.4.1955. Vgl. Pirson, Evangelisdies Staatslexikon, Sp. 1014.
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angehören, ferner, wenn die Eltern ihr Bekenntnis zu Christus und zur Kirche „offensichtlich verwerfen oder öffentlich schmähen". I n diesen Fällen kann ausnahmsweise doch getauft werden, wenn an Stelle der Eltern andere evangelische Christen für die religiöse Erziehung des Kindes zuverlässig sorgen (17). II. Der 2. Abschnitt der Lebensordnung der V E L K D behandelt Fragen der religiösen Kindererziehung in der Gemeinde, vor allem die Konfirmation und deren Voraussetzungen bzw. Versagungsgründe. Als Ergänzung gibt der 3. Abschnitt der Lebensordnung Regeln für das Leben der Jugend in der Gemeinde. I I I . Der 4. Abschnitt der Lebensordnung behandelt des Gottesdienst. Dieser ist die Versammlung der Gemeinde auf Gottes Gebot und Verheißung, „um in Wort und Sakrament der Gegenwart ihres Herrn gewiß zu werden". Der Gottesdienst vollzieht sich in der Liturgie, die vom Wort Gottes her geordnetes Handeln ist (IV1). Die Lebensordnung erinnert an das Gebot, den Feiertag zu heiligen. Daraus folgt, daß die Gemeinde sich vor allem am Sonntag zum Gottesdienst versammelt. Da die Glieder der Gemeinde zur „leibhaftigen Gemeinschaft" gerufen sind, wird kein Christ ohne Not dem Gemeindegottesdienst fernbleiben (IV 3). Der Gottesdienst wird vollzogen in einer „Zusammenordnung von Predigt, Gebet und heiligem Abendmahl" (IV 4). IV. Zur Beichte und Lossprechung führt der 5. Abschnitt der Lebensordnung aus, der große Schatz der Kirche sei die frohe Botschaft von der Vergebung der Sünden. Zur Verwaltung dieses Schatzes hat Gott nicht nur das Predigtamt und die Sakramente eingesetzt, sondern auch das „Amt der Schlüssel" gestiftet. Er hat somit der Gemeinde die Vollmacht verliehen, „in der Kraft des Heiligen Geistes Sünden zu erlassen oder zu behalten" (V1). Bekenntnis und Vergebung der Schuld geschehen in der Beichte, die die Kirche als Einzelbeichte oder als gemeinsame Beichte kennt (V 2). Zum Hören der Beichte sind vor allem die Träger des ministerium verbi berufen. An Stelle des Pastors kann aber auch „jeder Christ, zu dem ein Bruder in seiner Not kommt, Beichte hören und bei rechter Reue die Vergebung der Sünden zusprechen". Jeder, der eine Beichte entgegengenommen hat, ist zur Wahrung des Beichtgeheimnisses verpflichtet (V 4,5). V. Die Feier des Abendmahls wird im 6. Abschnitt der Lebensordnung behandelt. Sie beruht auf der Stiftung und dem Gebot Christi (VI 1). Die Lebensordnung mahnt dazu, häufig und regelmäßig zum Tisch Christi zu kommen (VI 2) und betont die Notwendigkeit einer rechten Vorbereitung (VI 3).
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Die Teilnahme am Abendmahl muß den Gemeindemitgliedern versagt werden, „die das Bekenntnis zu Jesus Christus offensichtlich verwerfen oder öffentlich schmähen oder die in mutwilligem Ungehorsam gegen die Gebote Gottes verharren" ( V I 4). VI. In ihrem 7. Abschnitt betont die Lebensordnung die Einsetzimg der Ehe durch Gott selbst: „Wer die Ehe schließt, handelt darum nicht nur vor Menschen, sondern vor Gott" (VII1). Deshalb beginnen Christen ihren Ehestand mit der kirchlichen Trauung ( V I I 2). Diese wird in der Regel in der Kirche gehalten. Bei der Anmeldung zur Trauung müssen die Eheleute nachweisen, daß sie getauft und zum Abendmahl zugelassen sind sowie einer christlichen Kirche angehören (VII3). Die Trauung in einer lutherischen Kirche setzt voraus, daß mindestens ein Ehegatte evangelisch-lutherischen Bekenntnisses ist. Die Trauung wird nicht gewährt, wenn einer der beiden Eheschließenden nicht Glied einer christlichen Kirche ist oder nicht das Versprechen gegeben hat, alle Kinder in einem anderen als dem evangelisch-lutherischen Bekenntnis zu erziehen. Die Trauung ist außerdem zu versagen, wenn einer der beiden Gatten das Bekenntnis zur christlichen Ehe offensichtlich nicht ernst nehmen will oder durch Verhöhnung Gottes, seines Wortes und seiner Kirche oder durch unehrbaren Lebenswandel der Kirche Ärgernis gegeben hat (VII6). Grundsätzlich ist auch nach evangelischer Auffassung die Ehe gemäß dem Willen Gottes unauflöslich. Wenn die Ehe trotzdem geschieden wird, so muß das seelsorgliche Bemühen darauf gerichtet sein, die Geschiedenen zur Rückkehr in die Ehe oder zum Verzicht auf eine neue Ehe zu führen. I n der Regel kann darum Geschiedenen eine kirchliche Trauung mit einem neuen Partner nicht gewährt werden. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind der geistlichen Entscheidung des Pastors übertragen (VII7). V I I . Der 8. Abschnitt der Lebensordnung enthält Regeln für das christliche Begräbnis, dessen Charakter als Gottesdienst betont wird ( V I I I 2). Ein kirchliches Begräbnis wird nur gehalten, wenn der Verstorbene Glied der evangelischen Kirche war ( V I I I 3). Das Begräbnis ist ferner zu versagen, wenn der Verstorbene, obwohl Glied der evangelischen Kirche, „das Bekenntnis zu Jesus Christus offensichtlich verworfen oder öffentlich geschmäht hat, oder wenn er trotz ernster persönlicher Mahnung und Warnung in mutwilligem Ungehorsam gegen die Gebote Gottes verharrt hat" (VIII4). V I I I . Der 11. Abschnitt behandelt den Übertritt in die evangelische Kirche, den Austritt aus ihr und die Wiederaufnahme in die Kirche. 7»
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Der Übertritt eines Getauften in die evangelisch-lutherische Kirche setzt einen Unterricht in der Lehre der lutherischen Kirche sowie eine Vorbereitung auf das Abendmahl voraus. Danach hat derjenige, der die Aufnahme begehrt, vor der Gemeinde oder vor Kirchenältesten den Übertritt zu erklären und an der Feier des Abendmahls teilzunehmen. Damit ist der Übertritt vollzogen (XI1). Wer sich von der evangelisch-lutherischen Kirche nach den staatlichen Austrittsregeln lossagt, ohne sich einer anderen christlichen Kirche anzuschließen, verliert das Recht zur Teilnahme am Abendmahl und den Anspruch auf Trauung und Begräbnis, sowie alle übrigen kirchlichen Rechte (XI2). Wer aus der Kirche ausgetreten ist, kann auf Antrag wieder aufgenommen werden. Der Wiederaufnahme soll eine längere Wartezeit vorangehen. Die Wiederaufnahme erfolgt nach Beratung im Kirchenvorstand durch den Pastor in Verbindung mit Beichte und Absolution (XI3). IX. Zu den Aufgaben der Gemeinde gehört schließlich die Kirchenzucht, die im 12. Abschnitt erörtert wird. Zunächst ist es Aufgabe der Seelsorge und aller Gemeindeglieder, „den Bruder mit Mahnung und Zuspruch zur Erkenntnis seiner Sünden und zur Reue und Umkehr zu führen". Wo dies nicht erreicht wird, muß an dem in der Sünde Verharrenden besondere Kirchenzucht geübt werden (XII3). Dabei werden in bestimmten Fällen „kirchliche Handlungen und kirchliche Rechte" versagt. „Diese Versagungen wollen nicht Verfehlungen und Versäumnisse menschlich strafen, sondern den Ernst der göttlichen Gebote vor Augen stellen. Sie haben das Ziel, die vorliegenden Hemmnisse zu beseitigen und dem Bruder zurechtzuhelfen" (XII4). Das äußerste Mittel der Kirchenzucht ist der Ausschluß vom Altarsakrament. Er gehört unter die Verantwortung des zuständigen Seelsorgers. Wer durch ausdrückliche Entscheidung vom Abendmahl ausgeschlossen ist, verliert auch alle übrigen kirchlichen Rechte; die Teilnahme an der Wortverkündigung der Kirche steht ihm aber offen (XII5). Zur besonderen Wachsamkeit wird gegenüber Irrlehren aufgerufen. Wenn Gemeindeglieder in der Gefahr sind, dem Einfluß von Irrlehren zu erliegen, ist jeder, der davon Kenntnis hat, zu brüderlich-seelsorglichem Beistand verpflichtet. Gemeindeglieder, die sich Irrlehren anschließen und besonders denen, die an ihren sakramentalen Handlungen teilnehmen oder selbst für Irrlehren werben, ist die Abendmahlgemeinschaft zu versagen, wenn sie trotz seelsorglicher Belehrung und Warnung dabei beharren (XII7).
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E. Grandzüge der katholischen Kirchenverfassung
1. Grundlegend für die Ausgestaltung der katholischen Kirchenverfassung ist die als ius divinum verstandene Unterscheidung der Laien vom Klerus 129 . Diese Unterscheidung folgt aus den besonderen Aufgaben des Klerus, dessen Angehörige als Glieder des „ordo" mit der Leitung der Gläubigen und dem Dienst im Kult der Kirche berufen sind 130 . 2. Zum Zweck der Erfüllung dieser Aufgaben haben die Angehörigen des Klerus in verschiedener Weise an der Kirchengewalt (potestas ecclesiastica) teil. Diese ist „die der Kirche zur Erfüllung ihres Sendungsauftrags von ihrem Stifter übertragene Gewalt, durch die der Herr in der Kirche fortwirkt" 1 3 1 . Kraft ausdrücklicher Vorschrift können nur Kleriker Träger der Kirchengewalt sein 132 . Gemäß den beiden genannten Aufgaben des Klerus, den Kult der Kirche zu verwalten und die Gläubigen zu leiten, wird innerhalb der Kirchengewalt die Weihegewalt (potestas ordinis) und die Hirtengewalt (potestas iurisdictionis) unterschieden. 3. Die Weihegewalt ist „ihrem Wesen nach die innere seinshafte Befähigung zum Vollzug bestimmter sakramentaler Handlungen", sie bildet daher das „Lebensprinzip, das die Glieder des neuen Gottesvolkes gebiert und nährt" 133 . Diese Weihegewalt, die aus dem Auftrag Christi an seine Jünger, seine Lehre zu verkünden, die Sünden zu vergeben und die Sakramente zu spenden, stammt, kommt nach göttlicher Stiftung den Bischöfen, Priestern und Diakonen als den Trägern des Amtspriestertums zu 1 3 4 . Da die Weihegewalt keine eigenständige Vollmacht gibt, sondern nur eine Teilnahme am Priestertum Christi darstellt, ist ihre Verleihung weder von der Zustimmung des Kirchenvolkes noch sonstiger weltlicher Machtträger abhängig: sie kann vielmehr nur durch die sakramentale Weihe übertragen 129
Vgl. c. 107 CIC: „Ex divina institutione sunt in Ecclesia ,clerici' a ,laicis' distincti." 180 Vgl. c. 948 CIC: „Ordo ex Christi institutione clericos a laicis in Ecclesia distinguit ad fldelium regimen et cultus divini ministerium." — Die soeben betonte Unterscheidung zwischen Klerus und Laien ist Merkmal der Rechts gestalt der katholischen Kirche. I n theologischer Hinsicht wird jedoch gerade in neuerer Zeit die Einheit des ganzen „Volkes Gottes" betont, vgl. z.B. die dogmatische Konstitution „De Ecclesia" des 2. Vatikanischen Konzils, 2. Kapitel. ist Mörsdorf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 932. 182 Vgl. c. 118 CIC: „Soli clerici possunt potestatem sive ordinis sive iurisdictionis ecclesiasticae... obtinere." 138 Eichmann-Mörsdorf, Bd. I, S. 245. 134 Vgl. Fransen-Kaiser-Lohff, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Sp. 1212 ff. und c. 108 § 3 CIC.
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werden 185 . Durch diese Weihe, die unverlierbar ist18®, wird der Geweihte in den Klerus der Kirche eingegliedert und als Kleriker zur geistlichen Leitung des Gottesvolkes und zum besonderen Vollzug des Gottesdienstes ausgesondert. Insbesondere ist den Gliedern des ordo die öffentliche Wortverkündigung im Gottesdienst und die Spendung der meisten Sakramente vorbehalten 187 . 4. Die Hirtengewalt umfaßt die zur Erfüllung des Hirtenamtes der Kirche gegebenen Befugnisse. Sie dient also dazu, im „Gottesvolk jene Ordnung zu pflegen, die für das Heil notwendig oder förderlich ist" 1 8 8 . Wie die Weihegewalt das Lebensprinzip der Kirche darstellt, so ist die Hirtengewalt ihr Ordnungsprinzip. Sie ist verliehen „unter dem Bild des Hirten" und ist somit „Ordnungsmacht in dienender Hingabe für die Gefolgschaft" 189. Sie ist, insbesondere wegen ihrer Hinordnung auf das geistliche Ziel der Kirche, wie die gesamte Kirchengewalt geistlich zu verstehen; sie ist aber gleichwohl juristische Gewalt, dazu bestimmt, die Kirchenglieder mit rechtlicher Autorität zu leiten. Die Kirchengewalt wird deshalb auch als hoheitliche Gewalt bezeichnet. Sie wird tätig in der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung der Kirche 140 . 5. Die Hirtengewalt hat im kanonischen Recht eine eingehende Regelung erfahren. a) Träger der Hirtengewalt sind die Glieder der Jurisdiktionshierarchie, das sind (um die wichtigsten zu nennen) der Papst, die Bischöfe, Dekane, Pfarrer. Ihre Hirtengewalt ist mit der Innehabung eines dieser Ämter verbunden 141 . b) Der Erwerb der Hirtengewalt geschieht grundsätzlich mittels der besonderen „missio canonica" durch einen höheren Träger der Hirtengewalt bei der Amtsverleihung 142 . Anders als die Weihe hat die missio canonica keinen sakramentalen Charakter. c) Diese grundsätzliche Regelung erfährt gewisse Modifikationen für die Inhaber der höchsten Ämter der katholischen Kirche, für den Papst und die Bischöfe. Diese sind Träger der Hirtengewalt kraft göttlicher Einsetzung, bilden also die Jurisdiktionshierarchie iuris divini. 185 Vgl. Fransen-Kaiser-Lohff, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Sp. 1213. iss vgl. c. 211 § 1: „ . . . sacra ordinatio,semel valide recepta, nunquam irrita fiat". 187 Vgl. Fransen-Kaiser-Lohff, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Sp. 1220. 188 Vgl. Mörsdorf, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Sp. 386. 189 Vgl. Eidimann-Mörsdorf, Bd. I , S. 306. 140 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I, S. 306. 141 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I, S. 307. 148 Vgl. c. 109 CIC.
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Deshalb bedarf der Papst für den Erwerb der Hirtengewalt keiner besonderen Verleihung. Er erwirbt sie vielmehr kraft göttlichen Rechts mit der gültigen Papstwahl und deren Annahme 143 . Auch das Amt des Bischofs beruht auf göttlicher Einsetzung 144 . Dem Bischof ist für seine Diözese das Hirtenamt im vollen Umfang anvertraut. Die darin eingeschlossene Gewalt, Gesetze zu erlassen, Urteile zu fällen, den Gottesdienst sowie das Apostolat zu ordnen, kommt den Bischöfen daher als eigene, ordentliche und unmittelbare Gewalt zu, die sie im Namen Christi persönlich ausüben, auch wenn ihr Vollzug letztlich von der höchsten kirchlichen Autorität, dem Papst, geregelt wird. Die Bischöfe sind daher nicht Stellvertreter des Papstes, sondern haben „eine ihnen eigene Gewalt inne und heißen in voller Wahrheit Vorsteher des Volkes, das sie leiten" 145 . d) Innerhalb der Jurisdiktionshierarchie kommt dem Papst der Jurisdiktionsprimat zu14®. Kraft dieses Primats hat der Papst in der ganzen Kirche die volle höchste und universale Gewalt und kann sie immer frei ausüben 147 . Diese Lehre von der Primatialgewalt des Papstes ist durch das 2. Vatikanische Konzil insofern ergänzt worden, als dieses lehrt, daß auch das Kollegium der Bischöfe gemeinsam mit seinem Haupt, dem römischen Bischof, gleichfalls Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche ist. Diese Gewalt kann nur mit Zustimmung des römischen Bischofs ausgeübt werden 148 . Die Grundlagen dieser Auffassung fanden sich bereits im CIC, insofern dort dem ökumenischen Konzil, sofern es vom Papst einberufen wird, die höchste Gewalt über die Kirche zuerkannt wird 1 4 9 . e) Obwohl die Hirtengewalt somit auf verschiedene Träger verteilt ist und verschiedene Funktionen kennt (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung), ist der katholischen Kirchenverfassung dennoch der Grundsatz der Gewaltenteilung fremd. Vielmehr ist in ihr (jedenfalls für die höchsten Ämter) der Grundsatz der Einheit der Gewalt verwirklicht, da sowohl Papst wie Bischof je in ihrem Zuständigkeitsbereich die Fülle der Gewalt besitzen, also jede Sache (auch jedes Gerichtsverfahren) an sich ziehen und selbst entscheiden können 150 . 143
Vgl. c. 109 CIC. Vgl. die Dogmatische Konstitution „De Ecclesia", Nr. 20. 145 Vgl. die Dogmatische Konstitution „De Ecclesia44, Nr. 27. 149 Vgl. c. 218 8 1 und 2 CIC. 147 Vgl. die Dogmatische Konstitution „De Ecclesia44, Nr. 22. 148 Vgl. die Dogmatische Konstitution „De Ecclesia44, Nr. 22, Abs. 2; ferner Weigand, Archiv für katholisches Kirchenrecht, 135. Bd. (1966), S. 400 ff. 149 Vgl. c. 228 CIC. 158 Vgl. Eichmann-Mörsdorf, Bd. I , S. 319 f. 144
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'6. Obwohl theologisch wie juristisch Weihe- und Hirtengewalt nach der Lehre der katholischen Kirche getrennt werden, handelt es sich doch nicht um zwei völlig verschiedene Befugnisse 151. Weihe- und Hirtengewalt sind vielmehr nur funktionale Unterscheidungen innerhalb einer mindestens dem Ursprung nach einheitlichen Gewalt: der Leitungs- und Sendungsgewalt Christi für seine Kirche, an der die Kirche in ihren Amtsträgern teilnimmt. Diese eine Sendung der Kirche, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu spenden, wird nur doppelt entfaltet: einmal unter dem Gesichtspunkt der geistlichen Belehnung mit der priesterlichen Vollmacht, zum anderen unter dem Gesichtspunkt der Ordnung in der Kirche. Daß aber beide Gewalten innerlich zusammengehören, zeigt sich etwa darin, daß, wie erwähnt, nur Kleriker Träger der Hirtengewalt sein können. Dadurch soll die innere Einheit beider Gewalten auch in ihrer Trägerschaft erhalten bleiben. Den theologischen Grund für diesen Zusammenhang beider Gewalten erblickt Mörsdorf darin, „daß die Weihegewalt vor allem der Feier der Eucharistie und, da die Eucharistiefeier die Lebensmitte des Gottesvolkes ist, indirekt auch diesem und der Ordnung seines Lebens, die Hirtengewalt aber unmittelbar der Ordnung des Gottesvolkes und, da dieses von der Eucharistie lebt, indirekt auch der Eucharistie zugeordnet ist" 152 . F. Grandzüge der Verfassung der evangelischen Kirchen
Die Verfassung der reformatorischen Kirchen beruht zwar auf grundsätzlich gemeinsamen Ausgangspunkten. Da diese jedoch in den verschiedenen Kirchen unterschiedlich weiterentwickelt wurden, wird die folgende Darstellung die Beschreibung der lutherischen und der reformierten Kirchenverfassung trennen. I. Grundzüge
der lutherischen
Kirchenverfassung
1. Die Grundlage der lutherischen Kirchenverfassung bildet die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen und die daraus folgende Ablehnung der katholischen Unterscheidung zwischen Laien und Klerus. Nach lutherischer Auffassung sind alle Gläubigen als ecclesia spiritualis Träger des ministerium verbi 1 5 8 , durch das „die Gläubigen aneinander und an der Welt zu Werkzeugen und dienenden Trägern des Heilswerks 151 Vgl. hierzu Mörsdorf, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Sp. 386 f.; ders., Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Sp. 218; Eichmann-Mörsdorf, Bd. I , S. 246 f. 158 Mörsdorf, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Sp. 386 f. 153 Vgl. S. Grundmann, Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Bd. 3, Sp. 1435.
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
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Christi werden". Dies geschieht in der Verkündigung des Evangeliums, in der Fürbitte für die Menschen, in der gegenseitigen Ermahnung und Stärkung sowie in Werken der Liebe 154 . Somit kann es keinen besonderen Priesterstand geben, dem exklusiv der Vollzug bestimmter heilsvermittelnder Handlungen anvertraut wäre. Statt dessen haben grundsätzlich alle Christen die geistliche Fähigkeit zur Spendung der Sakramente 155 . 2. Dennoch kennt aber auch die lutherische Kirche ein besonders Amt, dem das ministerium verbi zur öffentlichen Ausübung übertragen ist 1 5 6 . Seine Existenz, die gleichzeitig bedeutet, daß der öffentliche Dienst am Wort den Trägern des ministerium publicum vorbehalten ist, folgt einmal aus dem Ordnungsgebot, sodann aus der Eigenschaft der Kirche als einer „Kirche in der Öffentlichkeit" 157 . Dieses öffentliche ministerium verbi hat zum Inhalt die Wortverkündigung, die Sakramentsverwaltung und die Schlüsselgewalt, oder, wie es die Confessio Augustana umschreibt, „das Evangelium predigen, Sünd vergeben, Lehr urtheilen und die Lehr,, so dem Evangelio entgegen, verwerfen" 138 . Seine geschichtlich bedingte Institutionalisierung hat das ministerium publicum im Pfarramt gefunden, wobei Grundmann betont, daß man die göttliche Stiftung des Amtes als solchen nicht auf diese institutionalisierte Form beziehen dürfe 15®. Die Übertragung des Amtes geschieht durch Ordination. Deren Deutung ist in der neueren lutherischen Theologie von der Überzeugung bestimmt, daß letztlich die besondere Amtsvollmacht des geistlichen Amtes von Gott her stammt. Die Ordination geschieht durch kirchliche Amtsträger vor der Gemeinde, theologisch wird wohl auch der Gemeinde das Ordinationsrecht zugeschrieben. Dennoch verfügt die Gemeinde nicht souverän über eine ihr zukommende Vollmacht: „Vielmehr vollzieht die Gemeinde in der Ordination (vertreten durch ihre Amtsträger) im Glauben an das Walten des Heiligen Geistes die Sendung zum Dienst der 154
Vgl. Joest, Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I I I , Sp. 330. Vgl. Joest, a.a.O., Sp. 332. Zum allgemeinen Priestertum vgl. ferner Prenter, R G G Bd. 5, Sp. 581 f. 158 Vgl. S. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 23 f., 62; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1028; Joest, Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I I I , Sp. 332. — Die Anerkennung eines besonderen Amtes wirft die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Amt und Gemeinde auf, insbesondere die Frage, ob sich das Amt von der Gemeinde ableitet oder nicht; vgl. dazu 5. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 18 ff. 167 So S. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 24. Grundmann bemerkt an dieser Stelle, daß die Kirche diese Eigenschaft nach göttlichem Recht besitze, weshalb auch von der Funktion des ministerium verbi als göttlicher Stiftung gesprochen werden könne. 158 CA X X V I I I . 159 S. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 24. 155
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Verkündigung. Sie verfügt nicht die Übertragimg der geistlichen Gewalt, sondern überantwortet (in der Handauflegung) den Ordinierten fürbittend der Verfügung des Heiligen Geistes, der selbst als Subjekt der in der Verkündigung ausgeübten geistlichen Gewalt verstanden wird 1 8 0 ." Obwohl die Ordination (anders als nach katholischer Auffassung die Priesterweihe) keinen „character indelebilis" verleiht, ist sie doch vom Menschen her unwiderrufbar 181 . 3. Außer dem eben beschriebenen, dem geistlichen Predigtamt übertragenen Teil der Kirchengewalt kennt auch das lutherische Kirchenrecht Befugnisse, die sich auf jenen Aufgabenbereich beziehen, für den die katholische Lehre die Exsitenz der Hirtengewalt annimmt. I n diesem Bereich der Kirchengewalt muß nach lutherischer Auffassung jedoch unterschieden werden: a) Zunächst kennt auch die lutherische Lehre eine potestas iurisdictionis, die sich jedoch auf das öffentliche Bußwesen beschränkt. Gemäß der Augsburgischen Konfession ist es ihre Aufgabe, „die Gottlosen, dero gottlos Wesen offenbar ist, aus christlicher Gemein auszuschließen"162. b) Zu dieser kommt die äußere Leitungsgewalt hinzu 168 . Sie beruht auf menschlichem Kirchenrecht 164 und hat den Zweck, daß „in der Kirche das Wort Gottes gepredigt und dadurch in den Menschen der Glaube geweckt und erhalten, also die christliche Gemeinde gebaut wird". Obwohl sie also nicht Wortverkündigung ist, dient sie ihr doch 165 . Sie ist auf der Grundlage der lex charitatis zu führen. Zu ihren Aufgaben 166 gehört es vor allem, mittels der kirchlichen Gesetzgebung eine dem Wesen der Kirche entsprechende Ordnung zu schaffen. Diese regelt das Kultusrecht, die äußere Ordnung des Predigtamtes und das Standesrecht der Pfarrer, die Ordnung des Kirchenvermögens, die Ordnung der karitativen Arbeit, die Ordnung der Öffentlichkeitsarbeit der Kirchen etc. Zur äußeren Leitungsgewalt gehört ferner die Befugnis zur Durchführung des Kirchenrechts sowie eine innerkirchliche Rechtsprechung. Wer Träger dieser äußeren Leitungsgewalt ist, hat das menschliche Kirchenrecht zu bestimmen. Insbesondere kann nicht gesagt werden, daß 166 Vgl. Lohff, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Sp. 1223. - Vgl. ferner Lohse-Heubach-Philipp, R G G Bd. 4, Sp. 1671 ff. 161 Lohff, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Sp. 1223. 168 CA X X V I I I ; vgl. auch 5. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 62. 148 S. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 63; ferner Irmtraud Tempel, S.281 114 S. Grundmann, R G G Bd. 5, Sp. 1435. 145 S. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 54. 1 M Vgl. Irmtraud Tempel, S. 28 f. und S. Grundmann, ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 54 f.
2. Kap.: Kirchliche
echtsetzung und Neutralität des Staates
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die äußere Kirchenleitung grundsätzlich eine Funktion des Predigtamtes sei1*7. Das bedeutet allerdings nicht, daß die äußere Kirchenleitung dem Predigtamt nicht ganz oder teilweise übertragen werden dürfte. Das ist nach ius humanum zulässig und je nach dem Maß, in dem eine zur äußeren Kirchenleitung gehörige Materie eine Nähe zum geistlichen Zentrum der Kirche besitzt, auch sinnvoll 168 . Diese Verknüpfung von Predigtamt und äußerer Leitungsgewalt ist faktisch in großem Umfang geschehen, so daß die Übertragung der äußeren Leitungsgewalt auf die Träger des ministerium verbi als kennzeichnendes Merkmal der lutherischen Kirchenverfassung bezeichnet werden kann 1 6 9 . Daneben hat jedoch gerade die neuere Verfassungsentwicklung der lutherischen Kirchen für die äußere Kirchenleitung auf gesamtkirchlicher Ebene zusätzliche Organe in den Synoden sowie den Kirchenregierungsund -Verwaltungsorganen geschaffen 170. 4. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß auch die lutherische Kirchenverfassung ein Bischofsamt kennt, das sich vom römisch-katholischen Bischofs-amt jedoch grundlegend unterscheidet 171. Das lutherische Bischofsamt ist keine Einrichtung iuris divini, sondern eine auf menschlichen Zweckmäßigkeitserwägungen beruhende Einrichtung 172 . Es wurde als übergeordnetes Amt zur Wahrung der reinen Lehre eingerichtet. Dem Bischof wurde daher die Aufgabe übertragen, die zum Predigtamt Berufenen zu prüfen und sie erst danach ins Amt einzusetzen. Deshalb kommt dem Bischof die Ordination zu. Der Bischof hat ferner die einzelnen Amtsträger in den Gemeinden durch Besuche in ihrer Amtsführung zu überwachen und sie durch seelsorgliche Gespräche geistlich für ihren Dienst zu stärken. Diese Aufgabe wird als Visitation bezeichnet 1 7 6 . Nach allem gibt es keinen wesensmäßigen Unterschied zwischen den Trägern des Pfarramts und dem Bischof, sondern nur einen Unterschied im Tätigkeitsbereich, der sich beim Pfarrer auf seine Gemeinde, beim Bischof auf die ganze Kirche erstreckt 174 . Deshalb gibt es auch keine 167 Vgl. S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1025; ders., ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 53 f. 168 Vgl. S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1025, 1026; ders., ZevKR Bd. 11 (1966/67), S. 54,55. 169 Vgl. S. Grundmann, R G G Bd. 5, Sp. 1435; Irmtraud Tempel, S. 29. 170 Vgl. Pirson, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1013 ff.; Irmtraud Tempel, S. 65-161. 171 Vgl. Tröger, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 184 ff.; Irmtraud Tempel, S. 30 ff. 172 Tröger, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 188. 172 Tröger, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 188. 174 Tröger, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 189.
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3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Überordnung des Bischofs über den Pfarrer kraft göttlichen, sondern nur kraft menschlichen Kirchenrechts 175. 5. Obwohl so die Kirchengewalt der lutherischen Kirchen zu großen Teilen aus dem menschlichen Kirchenrecht abgeleitet wird, ist sie dennoch keine Hoheitsgewalt nach säkularem Vorbild, sondern „eine mittels der Charitas fraterna geübte, geistlich legitimierte, innere Mächtigkeit" 176 . Träger der Kirchengewalt ist nach lutherischer Auffassung die Kirche selbst, genauer die „ecclesia spiritualis als Inbegriff der vom Heiligen Geist geleiteten Gläubigen in einer Partikularkirche" 177 . IL Grundzüge der reformierten
Kirchenverfassung
Die reformierte Kirchenverfassung weist gegenüber der lutherischen Kirchenverfassung einige charakteristische Eigenheiten auf 1 7 8 . 1. Auch die reformierte Kirchenlehre lehnt eine Unterscheidung von Laien und besonderen Amtsträgern im katholischen Sinn ab und betont statt dessen den der gesamten Kirche gegebenen Auftrag zum ministerium verbi divini 1 7 9 . Darauf beruht die besondere Bewertung der Stellung der Gemeinde im reformierten Kirchenrechtsdenken: „Die reformierte Ordnung der Gemeindeverfassung zeigt gegenwärtig wie anfänglich die Bestimmtheit der ,Kirche* von der ,Gemeinde' her 1 8 0 ." So versteht sich jede Gemeinde als „Verkündigungsgemeinde". Sie ist in ihrer Existenz nicht als von der Kirche abgeleitet zu sehen, sondern eine Gemeinschaft iuris divini, „beispielhafte Darstellung der Christokratie" 181 . 2. Wegen dieser starken Stellung der Gemeinde darf in der reformierten Kirchenverfassung die Frage nach der Ordnung des Amtes nicht Ausgangspunkt aller Verfassungsfragen sein; diese Frage steht vielmehr im zweiten Rang 182 . Dennoch kennt auch die reformierte Kirchenverfassung dieses besondere Amt.
175 Tröger, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 187. Zur Beteiligung des Bischofs an Aufgaben der äußeren Kirchenleitung auf überregionaler Ebene vgl. Irmtraud Tempel, S. 65 ff. 176 So S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1028. 177 S. Grundmann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1028. 178 Vgl. die Darstellungen bei Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1031 ff. und Irmtraud Tempel, S. 32 ff. 179 Vgl. Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1034. 180 Vgl. Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1038. 181 Vgl. Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1039. 181 Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1039.
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
109
a) Dabei ist für das reformierte Kirchenverständnis charakteristisch die Aufgliederung des einen ministerium verbi divini in mehrere Funktionen gemäß dem dreifachen Amt Christi als dem Priester, dem Lehrer und dem Hirten. Hieraus hat sich die reformierte „Mehrämterlehre" entwickelt, die in einem gewissen Gegensatz zu der lutherischen Lehre von dem einen Amt des ministerium verbi steht 183 . b) Träger eines solchen dem ministerium verbi zugeordneten Amtes sind: aa) Der Träger des Pfarramtes. Er ist zur Ausübung des Priesteramts Christi, das auch nach reformierter Theologie allen Gläubigen zukommt, bestellt; er wird von der Gemeinde gewählt 184 . bb) Zu den unverzichtbaren Ämtern der reformierten Gemeinde gehört ferner das Ältestenamt, das iure divino dem Pfarramt rechtlich gleichsteht185. Ihm obliegt besonders die Wahrung der Kirchenzucht 186 . cc) Zur kirchlichen Liebestätigkeit sind die Diakone bestellt. Der Diakon hat keinen geringeren geistlichen Stand als der Älteste und ist auch dem Pfarrer nicht untergeordnet 187 . dd) Das Lehramt ist heute praktisch auf die zur Ausbildung der Prediger berufenen Theologen beschränkt, schließt aber die Zulassung charismatisch begabter Gemeindeglieder zu Lehrdiensten katechetischer Art mit ein 1 8 8 . 3. Die äußere Kirchenleitung, die nach lutherischer Praxis (jedenfalls in den Gemeinden) überwiegend den Trägern des Pfarramtes zukommt, wird in der reformierten Kirche durch ein Kollegium (Presbyterium) ausgeübt. Dieses besteht überwiegend aus den Ältesten, so daß in deren Funktion die (aus dem ministerium verbi stammende) Kirchenzucht und die äußere Kirchenleitung vereinigt sind 189 . 4. Das Bischofsamt wird in den reformierten Kirchen abgelehnt, obwohl auch hier die Praxis die Einsetzung eines den Pfarrern übergeordneten Amtsträgers (Landessuperintendent) durchgesetzt hat 1 9 0 .
iss Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1034. Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1034,1039. 185 Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1039. 188 Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1034; Irmtraud Tempel, S. 36 f. 187 Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1034,1040. 188 Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1040. 189 Vgl. Irmtraud Tempel, S. 36 f. und Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1040. 190 Vgl. Irmtraud Tempel, S. 37 f.; Erik Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1039. 184
110
3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Zweiter Unterabschnitt: Die Rechtsetzung der kleineren Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Wie bereits bemerkt wurde, ist es nicht möglich, das interne Recht der kleineren in der Bundesrepublik vertretenen Religionsgemeinschaften 101 in auch nur annähernd ähnlichem Umfang abzuhandeln wie das Recht der großen Kirchen. Statt dessen müssen hier einige Hinweise genügen. I. Zunächst ist zu bemerken, daß jedenfalls die meisten der kleineren Religionsgemeinschaften für den in dieser Untersuchung so genannten Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Regeln kennen, die für die jeweilige Gemeinschaft verbindlich sind. Dies gilt insbesondere für die Kirchenverfassung, die bei allen Religionsgemeinschaften in mehr oder minder entfalteter Form festgelegt ist 1 9 2 . Für andere Fragen des internen Lebens, insbesondere für die Ordnung des Gottesdienstes und der Sakramente, finden sich ebenfalls bei allen Gemeinschaften Regeln, wobei freilich nicht immer ohne weiteres klar ist, ob es sich um (nur) theologische Lehrsätze handelt oder ob diese zugleich als rechtliche Aussagen gemeint sind. Als allgemeine Charakterisierung der zur Ordnung des internen Lebens der einzelnen Religionsgemeinschaften bestehenden Regeln ist ferner festzuhalten, daß diese Regeln auf den jeweiligen theologischen Lehren beruhen, also nicht nur eine aus äußeren Ordnungsbedürfnissen geschaffene Reglementierung darstellen 193 . II. Einzelne der kleineren, in der Bundesrepublik vertretenen Religionsgemeinschaften besitzen eine recht weitgehend ausgebildete interne Rechtsordnung. Für diese Gemeinschaften sollen hier als Beispiel die Methodisten-Kirche 194 und die Evangelisch-Lutherischen Freikirchen 195 stehen. 191 Ein Überblick über die Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts findet sich bei Lehmann, S. 23 ff., ein Überblick über die in Deutschland vertretenen christlichen Religionsgemeinschaften bei Algermissen, Kirchliches Handbuch Bd. X X I V (1952 - 56), S. 466 ff. Vgl. ferner Gründler, Lexikon der christlichen Kirchen und Sekten, Bd. 1 und 2. 192 Vgl. die Angaben zu den einzelnen Religionsgemeinschaften bei Gründler, Lexikon der christlichen Kirchen und Sekten, Bd. 1 und 2. im vgl. auch hierzu die Angaben bei Gründler, Lexikon der christlichen K i r chen und Sekten, Bd. 1 und 2. 194 Zum Kirchenrecht der Methodistenkirche vgl. Freudenberg, Der Aufbau und die Organisation der Methodistenkirche in Deutschland, Jur. Diss. Würzburg 1963. 195 Zum Kirchenrecht der Evangelisch-Lutherischen Freikirchen vgl. Lücfchoff, Die lutherischen Freikirchenverfassungen in Deutschland, Jur. Diss. Freiburg i. Br. 1960.
2. Kap.: Kirchliche Rechtsetzung und Neutralität des Staates
111
I. Die Methodistenkirche Die interne Rechtsordnung der Methodistenkirche ist niedergelegt vor allem in der „Kirchenordnung", die verbindliche Normen zur Regelung des innerkirchlichen Lebens enthält und nicht nur für den Gebrauch der Kirchenbehörden, sondern auch als Hausbuch für jedes Glied der Kirche gedacht ist 1 9 6 . Oberste Verwaltungsbehörde und gesetzgebende Körperschaft der Methodistenkirche in Deutschland ist die Zentralkonferenz, an deren Spitze ein von ihr gewählter Bischof steht. Die Zentralkonferenz besteht je zur Hälfte aus Predigern und Laien, die von Gremien der nächst tieferen Ebene, den sog. jährlichen Konferenzen, gewählt werden 197 . Die Methodistenkirche geht grundsätzlich vom allgemeinen Priestertum aller Kirchenglieder aus, kennt aber doch besondere Prediger 198 . Der eigentliche religiöse Führer der Gemeinden ist der „Aufsichtsprediger" (Pastor), er soll das Evangelium predigen, die Sakramente der Taufe und des Abendmahls verwalten, Trauungen vollziehen und Beerdigungen vornehmen 199 . Die Befugnis hierzu wird durch die Ordination übertragen 200 . Neben den geistlichen Amtsträgern sind am Leben der Kirche, vor allem an der Predigt, in vielfacher Weise Laien beteiligt 201 . Kennzeichnend für die Bedeutung des Kirchenrechts innerhalb der Methodistenkirche ist die Existenz einer kirchlichen Gerichtsbarkeit 202 . Sie kennt einerseits ein Schiedsverfahren, das der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten von Kirchengliedern untereinander dient 203 , andererseits ein Kirchenzuchtverfahren, daß zur Verhängung von Kirchenstrafen führen kann 2 0 4 . ZI. Die Evangelisch-Lutherischen
Freikirchen
Zu dieser Gruppe der evangelischen Freikirchen zählen die Evangelisch-Lutherische (altlutherische) Kirche im früheren Preußen, die Evangelisch-Lutherische Freikirche sowie die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 205 . 196
Freudenberg, Freudenberg, 198 Freudenberg, 199 Freudenberg, 899 Freudenberg, Mi Freudenberg, 197
802 808 804 895
S. 25. S. 33,34. S. 42 ff. S. 45. S. 49. S. 51 ff.
Freudenberg, Freudenberg, Freudenberg, Vgl. Lehmann,
S. 57 ff. S. 58. S. 59 ff. S. 27 f.; Lückhoff, S. 9.
112
3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
Grundlage des Kirchenrechts dieser Freikirchen sind die allgemeinen Bekenntnisschriften der lutherischen Reformation 206 . Die kirchliche Ordnung dieser Freikirchen — die „um der Liebe willen zu halten" ist — ist darauf gerichtet, „daß Wort und Sakrament der Gemeinde recht dargelegt werden und daß diese dazu angehalten wird, aus dem Wort und Sakrament heraus christlich zu leben". Die Ordnung der Kirche erhält daher „Ausrichtung und Struktur ausschließlich von Wort und Sakrament her" 2 0 7 . Wie den Kirchenordnungen der lutherischen Freikirchen zu entnehmen ist, besitzen diese ein recht weitgehend ausgebildetes internes Kirchenrecht 208 . Charakteristisch für die Verfassungen der Freikirchen ist ein umfassendes Selbstverwaltungsrecht der einzelnen Gemeinden 209 .
D r i t t e r Unterabschnitt: Ergebnis
Der soeben gegebene Überblick über die Grundlagen und die Inhalte des von Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten gesetzten Rechts zeigt deutlich die geistlichreligiöse Prägung dieser innerkirchlichen Rechtsordnung. Dieses Recht kann nicht als nach lediglich menschlich-rationalen Gesichtspunkten gestaltete, zweckmäßige Ordnung des menschlichen Gemeinwesens Kirche begriffen werden. Es handelt sich vielmehr um Recht, das im Hinblick auf den geistlichen Charakter und den religiösen Auftrag von Kirchen und Religionsgemeinschaften entworfen ist, das den geistlichen Zielen dieser Gemeinschaften, soweit sie zu deren Erfüllung einer Rechtsordnung bedürfen, dient. Die Maßstäbe für die Inhalte und die Richtigkeit dieses Rechts folgen daher aus dem Glaubensverständnis der einzelnen Gemeinschaften, aus jenen Sätzen, die sie als Offenbarung, als Weisung Gottes für ihr Leben im Glauben annehmen. So ist das kirchliche Recht in der Tat „bekennendes Recht": Es beruht auf dem Glauben, dem Bekenntnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und bekennt selbst in seinen Sätzen diesen Glauben. Es kann befolgt werden, d. h. aber: es gilt nur dort und insoweit, als die ihm zugrundeliegenden Glaubensüberzeugungen akzeptiert werden. Es ist — dies betont vor allem die Kirchenrechtslehre der großen Kirchen — richtiges Recht, d. h. es ist gerechtfertigt nur insoweit, als es dem Auftrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht entgegensteht, als es sich in dessen Dienst stellt. 2 M 207 208 209
Lückhoff, S. 10. Lückhoff, S. 11. Vgl. die Darstellung bei Lückhoff, S. 20 ff. Lückhoff, S. 26.
3. Kap.: Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung
113
Daraus folgt für unsere Frage nach der rechtssystematischen Einordnung des Kirchenrechts für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten durch das staatliche Recht, daß dieses geistlich geprägte und im Dienst religiöser Zielsetzungen stehende kirchliche Recht nicht Teil des staatlichen Rechtskreises sein, nicht als auf verliehener staatlicher Rechtsetzungsgewalt beruhend betrachtet werden kann. Eine solche Annahme stünde in unaufhebbarem Gegensatz zum Verfassungsprinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, das es verbietet, Äußerungen des religiösen Lebens in die unter der Verantwortung des Staates stehende weltliche Sphäre einzubeziehen. Auf der Grundlage seines Verfassungsprinzips der weltanschaulich-religiösen Neutralität hat der Staat den Kirchen und Religionsgemeinschaften die selbständige Rechtsetzung im Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten zugestanden und es somit zugelassen, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften die soeben in ihren Grundzügen beschriebene, religiös geprägte innerkirchliche Rechtsordnung hervorbringen. Dann ist es aber auch nicht mehr möglich, diese innerkirchliche Rechtsordnung „wenigstens" rechtssystematisch als Teil des staatlichen Rechtskreises zu betrachten. Damit bestätigt die vorstehend unternommene Kennzeichnung der Grundprinzipien des kirchlichen Rechts das oben bereits auf Grund allgemeiner Erwägungen gewonnene Ergebnis, daß Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach geltendem Verfassungsrecht nicht dahin ausgelegt werden kann, daß das staatliche Recht mit der Freigabe einer innerkirchlichen Rechtsetzung für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften diesen zugleich staatliche Rechtsetzungsgewalt übertragen hat. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist vielmehr so auszulegen, daß die soeben beschriebene geistliche Eigenart des kirchlichen Rechts für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten volle Berücksichtigung finden kann.
Drittes
Kapitel
Die Anerkennung der Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Mit der Verwerfung der Möglichkeit, das von den Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten selbständig gesetzte Recht als auf verliehener staatlicher Rechtsetzungsbefugnis beruhend zu begreifen, stellt sich erneut die Frage, wie dieses interne kirchliche Recht rechtssystematisch einzuordnen ist. S Jurina
114
3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
I. Dazu haben unsere bisherigen Überlegungen zunächst ergeben, daß das staatliche Recht selbst durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht zuerkennt, den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten einer rechtlichen Regelung zu unterwerfen, die sich nach dem religiösen Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft bestimmt. Das Ergebnis dieser vom Staat freigegebenen selbständigen kirchlichen Rechtsetzung ist eine innerkirchliche Rechtsordnung, die ganz vom Glaubensverständnis der Kirchen geprägt, die selbst Vollzug und Verkündigung des Glaubens ist. Wie unsere Überlegungen weiter gezeigt haben, verbietet sich nach geltendem Staatskirchenrecht die Annahme, daß dieses kirchliche Recht für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten auf den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu selbständiger Ausübung verliehener staatlicher Rechtsetzungsgewalt beruht. Damit entfällt auch die Möglichkeit, dieses kirchliche Recht als Teil des staatlichen Rechts zu betrachten. Dann kann aber nur gefolgert werden, daß das gemäß Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV von den Kirchen und Religionsgemeinschaften zur rechtlichen Ordnung des Kernbereichs ihrer eigenen Angelegenheiten selbständig hervorgebrachte Kirchenrecht als ein besonderer, nicht ins staatliche Recht gehöriger, sondern neben diesem stehender Rechtsbereich zu betrachten ist. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist somit im Sinne der Eigenständigkeit des von den Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten hervorgebrachten Rechts auszulegen. Es wird hierdurch (mit konstitutiver Wirkung für den Bereich des staatlichen Rechts) anerkannt, daß das kirchliche Recht für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten allein von den Kirchen und Religionsgemeinschaften und nicht, auch nicht mittelbar, vom Staat herrührt, daß sein Entstehen und sein Bestand allein von den Kirchen und Religionsgemeinschaften, nicht vom Staat, abhängt. Diese Erkenntnis impliziert die Anerkennung einer eigenen kirchlichen Rechtsetzungsgewalt für diesen Bereich: von ihr und nicht von staatlicher Rechtsetzungsgewalt bezieht das kirchliche Recht für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten seine Geltung als Recht. Diese kirchliche Rechtsetzungsgewalt kann allerdings nur im innerkirchlichen Bereich wirken. Ihre Existenz für das staatliche Recht, die Geltung des staatlichen Rechtssatzes, daß das mittels dieser Rechtsetzungsgewalt hervorgebrachte kirchliche Recht für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten einen eigenständigen Rechtsbereich bildet, beruht allein auf der Anerkennung dieser Sachverhalte durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV, also auf staatlichem Recht.
3. Kap.: Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung
115
„Eigenständigkeit" des kirchlichen Rechts für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten bedeutet dabei keine absolute Aussage über das Kirchenrecht, zu der das staatliche Recht auch gar nicht imstande wäre. Vielmehr wird, wie bei allen Qualifizierungen als „eigenständig", eine bestimmte Relation zum Ausdruck gebracht: für die Zwecke des staatlichen Rechts, im Verhältnis zum staatlichen Recht wird das kirchliche Recht für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten vom staatlichen Recht als eigenständig anerkannt 210 . II. Der Annahme einer Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung wäre nach älteren staatskirchenrechtlichen Auffassungen entgegenzuhalten gewesen, daß sie gegen das für den Staat unabdingbare Prinzip der Einzigkeit der Staatsgewalt auf dem Territorium des Staates, gegen den Grundsatz verstoße, daß der Staat auf seinem Territorium ein Rechtsetzungsmonopol besitzt, weshalb nur solchen Sätzen die Qualität von Recht zukommen könne, die ihre Geltung aus der staatlichen Rechtsetzungsgewalt ableiten. So ist etwa von Georg Jellinek betont worden, daß das Kirchenrecht, das er grundsätzlich dem Staatsrecht zurechnet, wegen seiner „ganz anderen Voraussetzungen" auch als „gesondertes Rechtsgebiet neben Privat- und öffentliches Recht gestellt werden" kann. „Nur muß man sich vor Augen halten, daß diese Selbständigkeit relativ und für den nicht vorhanden ist, der folgerichtig alles Recht als staatlich geschaffenes oder zugelassenes erkannt hat 2 1 1 ." Auch nach heutigen Vorstellungen gehört das Rechtsetzungsmonopol des Staates zu den wesentlichen Elementen der Staatsgewalt. Es darf aber nicht übersehen werden, daß ein solches Rechtsetzungsmonopol des Staates nur insoweit angenommen werden kann, als der Zuständigkeitsbereich des Staates reicht. Der Begriff der Staatsgewalt bezeichnet, wie schon ausgeführt, keine Omnipotenz, sondern die Kompetenz des Staates, seine Aufgaben zu erfüllen, seine Zwecke zu erreichen. Von einem Rechtsetzungsmonopol des Staates kann folglich nur dort ausgegangen werden, wo die Erfüllung staatlicher Aufgaben in Frage steht. Das ist aber bei der Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften gerade nicht der Fall. Die grundsätzlich richtige Lehre vom Rechtsetzungsmonopol des Staates kann daher nach heutigem Rechtsverständnis der Annahme der Eigenständigkeit kirchlicher Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten nicht mehr entgegenstehen. Angesichts der Trennung der Aufgaben von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften muß vielmehr die „Kirchengewalt... als etwas ganz anderes denn die Staatsgewalt ange210 211
8*
Vgl. Wagner, S. 21,93 f. Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 393.
116
3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
sehen werden — jedenfalls wenn man den Staat im weltlichen und die Kirche im geistlichen Bereich beheimatet sein läßt. Da es in beiden Bereichen um ganz verschiedene Arten der Zielsetzung geht, müssen auch die in Betracht kommenden Mittel ihrer Art und ihrer Wirksamkeit nach ganz verschieden sein. Diese Heterogenität verbietet die Annahme, es könne eine dieser Gewalten aus der anderen abgeleitet sein" 212 . Gegen die Möglichkeit, Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Rechtsetzung im Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten Eigenständigkeit zuzuerkennen, kann auch nicht die Erwägung ins Feld geführt werden, eine solche Konstruktion verletzte das legitime Interesse des Staates, der unabhängigen Rechtsetzung von Kirchen und Religionsgemeinschaften gewisse, im Hinblick auf die Gemeinwohlverantwortung des Staates notwendige Grenzen zu ziehen. Wie schon dargelegt 218 , hat auch eine als eigenständig verstandene, das heißt nicht aus der staatlichen Rechtsetzungsgewalt abgeleitete Rechtsetzung der Kirchen und Religionsgemeinschaften die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ausdrücklich vorbehaltenen Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu beachten. Die Anerkennung kirchlicher Eigenständigkeit für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten ist also von vornherein an die Bedingung geknüpft, die sich aus dem staatlichen Recht ergebenden Schranken des für alle geltenden Gesetzes nicht zu überschreiten. Für das staatliche Recht reicht demnach die Eigenständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten nur so weit, als die vom staatlichen Recht aufgestellten Grenzen der Eigenständigkeit nicht verletzt werden. So lassen sich alle nach geltendem Verfassungsrecht legitimen Interessen des Staates gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften voll wahren. Die Anerkennung der Eigenständigkeit kirchlicher Rechtsetzung für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten bedeutet also keine unangemessene Schmälerung der Staatsgewalt. Sie zeigt vielmehr immanente Grenzen der Staatsgewalt eines Staates auf, der den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität zu seinen Verfassungsprinzipien zählt. Dieser Staat müßte seine eigenen Grundlagen verleugnen, wollte er das vom geistlichen Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften geprägte Kirchenrecht als auf weltlicher Hoheitsgewalt beruhend betrachten. III. Diese rechtssystematische Bewertung des kirchlichen Rechts für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten als eigenständig gilt, wie noch einmal ausdrücklich hervorgehoben werden soll, nicht nur für die interne Rechtsetzung der großen Kirchen, sondern auch für das von den kleineren 212 213
Krüger, S. 865. Vgl. oben S. 76.
3. Kap.: Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung
117
Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten hervorgebrachte Recht. Auch für dieses Recht gilt, daß es eine nach dem religiösen Selbstverständnis der einzelnen Gemeinschaften gestaltete Ordnung darstellt, die im Dienst der religiösen Aufgabe der einzelnen Religionsgemeinschaft steht. Um dieser engen Verflechtung mit der Glaubensüberzeugung der einzelnen Gemeinschaften willen kann auch das Recht der kleineren Religionsgemeinschaften daher nicht als auf staatlicher Rechtsetzungsgewalt beruhend betrachtet werden, nicht in irgendeiner Form Teil des staatlichen Rechts sein, sondern muß als selbständiger, neben dem staatlichen Recht stehender Rechtskreis betrachtet werden 214 . Gegen diese aus dem Verfassungsgrundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates abgeleiteten Argumente können Hinweise auf die größere „Öffentlichkeitsbedeutung" 215 der großen Kirchen nicht mit Erfolg ins Feld geführt werden: Nicht auf diese Stellung in der Öffentlichkeit, nicht auf einen bestimmten Rang unter den das Leben des Gemeinwesens prägenden öffentlichen Mächten kommt es in unserem Zusammenhang an, sondern auf die Erkenntnis, daß ein religiösen Zwekken dienendes Recht nicht als Teil des Rechts eines weltanschaulichreligiös neutralen Staates betrachtet werden kann. So muß — dem Verfassungstext entsprechend — die interne Rechtsetzung der Kirchen und der kleineren Religionsgemeinschaften gleich bewertet, d. h. das im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten geltende Recht sowohl der Kirchen wie der kleineren Religionsgemeinschaften als eigenständiger Rechtskreis verstanden werden. IV. Es muß schließlich die schon oben angesprochene 218 Frage wieder aufgenommen werden, ob die soeben als eigenständig gekennzeichnete kirchliche Rechtsordnung für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten im Hinblick auf die Körperschaftsstellung der großen Kirchen und vieler kleinerer Religionsgemeinschaften nicht zugleich als öffentliches Recht betrachtet werden muß. 1. Ohne weiteres kann aufgrund der bisherigen Erörterungen die Möglichkeit verworfen werden, daß das eigenständige kirchliche Recht für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten Teil des öffentlichen Rechts im strengen Sinne, d.h. Teil des vom Staat ausgehenden öffentlichen Rechts sein könnte. Eine solche Annahme stünde in unaufhebbarem Gegensatz zu der eben getroffenen Feststellung, daß dieses kirchliche Recht nicht als von der staatlichen Rechtsetzungsgewalt abgeleitet betrachtet werden kann. Damit wird die Geltung des Körperschaftsstatus 214 215 216
So z. B. auch Hollerbach, VVdStRL Heft 26 (1968), S. 60. Vgl. oben S. 48 ff. Vgl. oben S. 36 ff.
118
3. Teil: echtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
für Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht negiert. Diesem Körperschaftsstatus als typischer Rechtsposition innerhalb des staatlichen Rechts wird nur dort die rechtliche Wirkung versagt, wo die Kirchen und Religionsgemeinschaften kraft eines ebenfalls dem staatlichen Recht angehörenden Rechtssatzes nicht nach staatlichem Recht leben. Daraus folgt insbesondere, daß, wie das Bundesverfassungsgericht mit Recht angenommen hat, die kirchliche Gewalt im innerkirchlichen Bereich keine öffentliche Gewalt im Sinn von § 90 BVerfGG darstellt, so daß gegen innerkirchliche Maßnahmen, die zum Kernbereich der eigenen Angelegenheiten gehören und die nicht unter anderen Gesichtspunkten die Ausübung von öffentlicher Gewalt darstellen, keine Verfassungsbeschwerde möglich ist 2 1 7 . 2. Damit bleibt es freilich grundsätzlich noch möglich, das eigenständige kirchliche Recht, wie dies von verschiedenen Autoren versucht wird 2 1 8 , unter einen Begriff des öffentlichen Rechts im weiteren Sinne zu bringen. Offensichtlich hat sich das Bundesverfassungsgericht von ähnlichen Überlegungen leiten lassen, wenn es die kirchliche Gewalt als „öffentliche, aber nicht staatliche Gewalt" apostrophiert 219 . a) Ein solcher Begriff des öffentlichen Rechts im weiteren Sinne, einer öffentlichen Gewalt, die nicht mit der staatlichen Gewalt identisch ist, sondern auch die eigenständige Kirchengewalt mit umfaßt, ist ein reiner dogmatischer Konstruktionsbegriff. Aus der Einordnimg einer Rechtsposition unter ein solches öffentliches Recht im weiteren Sinne ergeben sich keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen wie etwa bei der Qualifizierung eines rechtlichen Sachverhalts als dem staatlichen öffentlichen Recht angehörig, die z. B. die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs bedingt. Es handelt sich bei der Bildung eines Begriffs des öffentlichen Rechts im weiteren Sinne vielmehr um den Versuch, für zwei selbständige, nenbeinander stehende Rechtskreise einen systematischen Oberbegriff zu finden. Einer solchen Begriffsbildung kann, wenn sie sich nur bemüht, den Oberbegriff so weit zu fassen, daß keine der darunter fallenden Einzelpositionen verfälscht wird, nicht der Vorwurf gemacht werden, sie sei schlechthin unrichtig. Wohl aber muß gefragt werden, ob die betreffende Begriffsbildung sinnvoll, d. h. zweckmäßig ist. Dies kann nur dann bejaht werden, wenn die verschiedenen unter den Oberbegriff gebrachten Einzelsachverhalte in irgendeiner Hinsicht grundsätzliche Gemeinsamkeiten aufweisen, die ihre Zusammenfassung in eine gemeinsame Kategorie als sinnvoll erscheinen lassen. 217 218 219
Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 385. Vgl. oben S. 37. BVerfGE Bd. 18, S. 387.
3. Kap.: Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung
119
b) Eine solche Gemeinsamkeit des staatlichen öffentlichen und des eigenständigen kirchlichen Rechts soll nach Ansicht einiger Autoren darin zu sehen sein, daß beide Rechtskreise Rechtsbeziehungen gegenüber Trägern von Hoheitsgewalt regeln. Das sei aber das Charakteristikum von öffentlichem Recht, so daß es sich rechtfertige, auch das kirchliche Recht als öffentliches Recht zu betrachten 220 . Die maßgebliche Frage bei der Überprüfung dieser Ansicht lautet also, ob es möglich ist, Staatsgewalt und Kirchengewalt als Formen einer einheitlichen Kategorie von „Hoheitsgewalt" zu betrachten, die dann nicht mit der staatlichen Hoheitsgewalt identisch sein könnte, sondern einen weiteren Inhalt haben müßte. Eine solche Annahme mag nahe liegen, wenn man allein darauf abstellt, ob einer „Gewalt" die Befugnis zuerkannt wird, einen „Gewaltunterworfenen" autoritativ zu verpflichten, wenn man also nur die formale Seite berücksichtigt. Es kann aber nicht befriedigen, wenn Staatsgewalt und Kirchengewalt nur wegen gewisser formaler Übereinstimmungen zu einem allgemeinen Begriff der Hoheitsgewalt zusammengefaßt werden, die fundamentalen materiellen Unterschiede beider Gewalten aber außer Betracht bleiben. Diese materiellen Unterschiede sind ein Spiegelbild der Unterschiede zwischen kirchlichem und staatlichem Recht. Die Staatsgewalt dient der Erfüllung der weltlichen Aufgaben des Staates, dem geordneten Zusammenleben im Staat als weltlicher Gemeinschaft. Sie beruft sich zu ihrer Rechtfertigung darauf, daß sie „vom Volke ausgeht" (Art. 20 GG). Demgegenüber trägt die eigenständige Kirchengewalt ganz andere Züge: Sie dient den religiösen Zielen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ist also Mittel zur Erfüllung der von den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Glauben an eine göttliche Weisung angenommenen Sendung. Angesichts dieser fundamentalen inhaltlichen Unterschiede zwischen der staatlichen und der kirchlichen Gewalt kann kein Sinn darin erblickt werden, wenn beide Gewalten unter einem Begriff der Hoheitsgewalt zusammengefaßt werden. Ein solcher Oberbegriff spiegelt Gemeinsamkeiten vor, die in formaler Hinsicht zu geringen Teilen vorhanden sein mögen, die angesichts der tiefgreifenden materiellen Unterschiede zwischen Staatsgewalt und Kirchengewalt jedoch ihre Bedeutung verlieren. Wollte man dennoch diesen gemeinsamen Oberbegriff bilden, könnte dies nur um den Preis einer nahezu völligen Verflüchtigung seines Inhalts geschehen. c) Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts „bedeutet" die Verleihung der Körperschaftsrechte an die Kirchen „die Zuerkennung eines m
So Marré und Schlief, vgl. oben S. 37 f.
120
3. Teil: Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten
öffentlichen Status, der sie . . . über die Religionsgesellschaften des Privatrechts erhebt. Infolge dieser öffentlichen Wirksamkeit der Kirchen, die sie aus ihrem besonderen Auftrag herleiten und durch die sie sich von anderen gesellschaftlichen Gebilden grundsätzlich unterscheiden, ist kirchliche Gewalt zwar öffentliche, aber nicht staatliche Gewalt" 2 2 1 . Damit bezieht sich das Bundesverfassungsgericht auf die Rechtsfigur des Öffentlichkeitsauftrags oder Öffentlichkeitsanspruchs der Kirchen, die in der staatskirchenrechtlichen Diskussion ursprünglich eine große Rolle spielte und in den evangelischen Staatskirchenverträgen der Nachkriegszeit vom Staat als Prinzip des geltenden Staatskirchenrechts anerkannt wurde. Es ist im Zusammenhang der hier angestellten Überlegungen nicht notwendig, den Inhalt und die Angemessenheit eines verfassungsrechtlichen Begriffs des Öffentlichkeitsauftrags der Kirchen ausführlich zu analysieren 222 . I n bezug auf die hier untersuchte Frage, ob das eigenständig-kirchliche Recht zutreffend zugleich als öffentliches Recht in einem weiteren Sinn bezeichnet werden kann, genügt der Hinweis, daß der Begriff des Öffentlichkeitsauftrags der Kirchen ihre aus dem ihnen übertragenen theologischen Verkündigungsauftrag folgende Aufgabe zur Verkündigung des Evangeliums in der Öffentlichkeit des politischen Gemeinwesens, zur Wahrnehmung eines „Wächteramtes" gegenüber dem Staat meint, also mit der rechtlichen Bewertung der innerkirchlichen Rechtsordnung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten nichts zu tun hat. Der vom Bundesverfassungsgericht gebrauchte, auf den Öffentlichkeitsauftrag bezogene Begriff einer „öffentlichen Gewalt" der Kirchen kann also höchstens als Kennzeichnung einer politischen Bewertung des Handelns der Kirchen in der Öffentlichkeit verstanden werden. Ob eine solche Begriffsbildung sinnvoll ist, steht hier nicht zur Debatte. Sie vermag jedenfalls für die rechtliche Einordnung des innerkirchlich-eigenständigen Rechts durch das staatliche Recht nichts beizutragen 228 . 3. Somit ergibt sich, daß keiner der Versuche, das gemäß Art. 140 GGI 137 Abs. 3 WRV als eigenständig anerkannte kirchliche Recht im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zugleich in irgendeiner Hinsicht als öffentliches Recht zu qualifizieren, überzeugen kann. Ein solches Ergebnis kann angesichts der grundsätzlichen Entscheidung, das kirchliche Recht wegen seiner geistlich geprägten Eigenart als einen 221 BVerfGE Bd. 18, S. 386 f. Übereinstimmend H. J. Wolff, Bd. I, 7. Auflage, S. 298; ähnlich Hans Schneider, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 661 f. 222 Vgl. hierzu statt aller Pirson, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1390 ff.; ferner Hesse, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 923 f. 228 Gegen eine Verwendung des Begriffs des Öffentlichkeitsauftrags der K i r chen zur Kennzeichnung ihrer eigenständigen kirchlichen Gewalt als öffentliche Gewalt auch Martens, S. 141 ff.; H. Weber, S. 79 ff.
3. Kap.: Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung
121
selbständigen, neben dem staatlichen Recht stehenden Rechtskreis zu betrachten, nicht überraschen. Gerade wenn die Erkenntnis der Unterschiedlichkeit des kirchlichen und des staatlichen Rechts die Verselbständigung des kirchlichen Rechts für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten gegenüber dem staatlichen Recht bedingt, liegen Versuche, dennoch eine rechtstheoretische Klammer zwischen diesen beiden Rechtskreisen zu konstruieren, neben der Sache 224 . V. Es ist also daran festzuhalten, daß kraft Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV mit Wirkung für das staatliche Recht anerkannt wird, daß Kirchen und Religonsgemeinschaften im Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten nach eigenem, von ihnen selbständig hervorgebrachtem Recht leben, das einen eigenen Rechtskreis bildet. Dieses eigenständige kirchliche Recht ist mit dem staatlichen Recht auch nicht durch die rechtstheoretische Klammer eines Oberbegriffs des öffentlichen Rechts in einem „weiteren" Sinn verbunden. Gemäß der oben gegebenen Definition des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten gilt dieses eigenständig-kirchliche Recht für den Bereich der Glaubenslehre, den Gottesdienst und die Sakramente, für die kirchliche Verfassung, die Rechtsstellung der Träger der geistlichen Ämter sowie für den innerkirchlichen Status der Kirchenglieder. Die rechtliche Ordnung dieser Sachbereiche ist grundsätzlich allein dem eigenen, vom Staat als eigenständig anerkannten Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften überlassen.
224 Inhaltlich übereinstimmend auch Hollerbach, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1, S. 57f.; Martens, S. 145; H. Weber, S. 89; Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I I , S. 324 f.
VIERTER T E I L
Selbständige kirchliche Rechtsetzung für die übrigen eigenen und die gemeinsamen Angelegenheiten Wie bereits bemerkt 1 , erstreckt sich die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV enthaltene Garantie einer unabhängigen Rechtsetzung von Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht nur auf den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten, sondern gilt auch für die übrigen zum Kreis der eigenen Angelegenheiten zu zählenden Materien, desgleichen für die kirchliche „Seite" der gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Audi diese Sachbereiche unterliegen somit nicht vom Staat gesetzten, sondern — soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften von ihren Befugnissen Gebrauch gemacht haben — von den Kardien und Religionsgemeinschaften selbst geschaffenen Rechtsvorschriften. Auch in bezug auf die hier von Kirchen und Religonsgemeinschaften ausgeübte Rechtsetzung ist also zu fragen, welchem Rechtskreis sie zuzuordnen ist. I m Hinblick auf die soeben erörterte Eigenständigkeit der innerkirchlichen Rechtsetzung im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten stellt sich dabei insbesondere die Frage, ob auch das für die übrigen eigenen und die gemeinsamen Angelegenheiten geltende kirchliche Recht als eigenständiges Recht zu qualifizieren ist.
Erstes Kapitel
Das Dienstverhältnis der geistlichen Amtsträger I. Die bisherigen Ausführungen dieser Untersuchung gingen davon aus, daß der Status der Träger der geistlichen Ämter von Kirchen und Religionsgemeinschaften grundsätzlich zum Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zu zählen ist. Dies bedeutet, daß die den Status der Träger der geistlichen Ämter regelnden kirchlichen Rechtsvorschriften, damit aber auch das Rechtsverhältnis von Kirche oder Religionsgemein1
Vgl. oben S. 64 f., 65.
1. Kap.: Das Dienstverhältnis der geistlichen Amtsträger
123
schaft und geistlichem Amtsträger selbst dem eigenständigen kirchlichen Recht zuzuordnen sind2. Die Gründe hierfür sind in den bisherigen Ausführungen bereits deutlich geworden. Die geistlichen Amtsträger der Kirchen und Religionsgemeinschaften sind zur Verkündigung des Wortes Gottes, zur Abhaltung des Gottesdienstes und zur Spendung der Sakramente bestellt, zum Vollzug jener geistlichen Handlungen also, die die Mitte des religiösen Lebens der Kirchen und Religionsgemeinschaften ausmachen. Eine rechtliche Regelung der Voraussetzungen zur Übernahme dieser Ämter, die Festlegung der Form ihrer Verleihung, die Umschreibung der mit diesen Ämtern verbundenen Rechte und Pflichten ist daher nur möglich, wenn sie auf diese religiösen Funktionen Bezug nimmt. Das bedeutet aber, daß diese Rechtsregeln unmittelbar auf dem religiösen Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften beruhen, also gemäß den oben angestellten Überlegungen nicht Teil des Rechts eines weltanschaulichreligiös neutralen Staates sein können. Sie sind zum Bereich des eigenständigen Rechts von Kirchen und Religionsgemeinschaften zu zählen. II. Das Rechtsverhältnis der hauptamtlich tätigen geistlichen Amtsträger von Kirchen und Religionsgemeinschaften erschöpft sich jedoch nicht in diesen Fragen, sondern weist auch eine „weltliche" Seite auf, insofern die Pfarrer und Geistlichen von ihren Karchen oder Religionsgemeinschaften unterhalten werden, also für ihre Tätigkeit Gehalt und andere Vergütungen beziehen8. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Dienstverhältnis der geistlichen Amtsträger zu ihren Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht von beliebigen anderen Dienstverhältnissen. Da auch diese vermögensrechtliche Seite der Dienstverhältnisse der geistlichen Amtsträger von den Kirchen und Religionsgemeinschaften unter der Garantie des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV selbständig rechtlich geregelt werden kann, erhebt sich auch hier die Frage nach der rechtlichen Einordnung dieser Vorschriften. 1. Eine Einordnung auch der vermögensrechtlichen Seite des Dienstverhältnisses der Pfarrer und Geistlichen mit ihren Kirchen und Reli1 Darüber besteht heute in Literatur und Rechtsprechung Einigkeit. Vgl. ff. Weber, S. 113; ders., N J W 1967, S. 1645 f.; ders., NJW 1968, S. 1345; ders., N J W 1969, S. 1364; Hollerbach, W d S t R L Heft 26, S. 75; Martens, S. 150; v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 274; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 345, 349; Scheuner, D Ö V 1967, S. 591; Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 297, 298, 303. Ferner BVerwGE Bd. 25, S. 230 f.; V G H Mannheim, NJW 1969, S. 1364. 8 ff. Weber, S. 113 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß dies für eine Reihe kirchlicher „Ehrenämter" (Mitglieder von Synoden, von Pfarrgemeinderäten etc.) nicht zutrifft, sondern die Regelung dieser Ämter ganz dem eigenständigen kirchlichen Recht angehört.
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4. Teil: Kirchliche Rechtsetzung im übrigen
gionsgemeinschaften ins eigenständige kirchliche Recht4 könnte versuchsweise damit begründet werden, daß man die Regelung des finanziellen Status der geistlichen Amtsträger lediglich als Annex derjenigen Vorschriften betrachtet, die das Entstehen dieser Dienstverhältnisse und die mit ihm verbundenen Funktionen regeln. Da die auf diese Fragen bezüglichen Rechtsregeln, wie ausgeführt, dem eigenständigen kirchlichen Recht zuzurechnen sind, könnte man dasselbe für die die vermögensrechtliche Seite regelnden Vorschriften folgern, also das gesamte Dienstverhältnis der geistlichen Amsträger von Kirchen und Religionsgemeinschaften dem eigenständigen kirchlichen Recht zuweisen. Hierbei würde jedoch außer Acht gelassen, daß nach den oben angestellten Erwägungen die Anerkennung der Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten nur deshalb geboten ist, weil dieses kirchliche Recht so eng mit dem geistlichen Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften verknüpft ist, daß sich in einem von Verfassungs wegen weltanschaulich-religiös neutralen Staat die Annahme verbietet, dieses Recht könne Teil des staatlichen Rechtskreises sein. Nach geltendem Staatskirchenrecht kann also nur dort die Anerkennung der Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts erfolgen, wo diese enge Verknüpfung der kirchlichen Rechtsvorschriften mit dem geistlichen Auftrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften tatsächlich vorliegt. Davon kann aber bei der Regelung der Besoldung der geistlichen Amtsträger, die üblicherweise in von den Kirchen oder Religionsgemeinschaften erlassenen Besoldungsordnungen erfolgt, keine Rede sein. Es handelt sich hier um Vorschriften, die sich von entsprechenden Regeln für andere weltliche Dienstverhältnisse in keiner Weise unterscheiden, ja die im Gegenteil sogar oftmals an die staatlichen Besoldungsregelungen weithin angeglichen sind. 4
Dafür möglicherweise D. und ü. Mann, DVB1. 1962, S. 243 f. - Die Erörterung dieser Fragestellung leidet meistens daran, daß sie sofort unter dem Gesichtswinkel des Rechtswegs für Ansprüche aus dem Dienstverhältnis mit den Kirchen oder Religionsgemeinschaften angegangen und nicht zuvor erörtert wird, ob die in Frage stehenden materiell-rechtlichen Ansprüche dem eigenständig-kirchlichen oder dem staatlichen Recht angehören. Typische Beispiele hierfür sind das Urteil des B G H vom 19. 9. 1966, B G H Z Bd. 46, S. 96 sowie die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.10.1966, BVerwGE Bd. 25, S. 226 sowie vom 25.12.1967, BVerwGE Bd. 28, S. 345. Es könnte auf den ersten Blick scheinen, daß diese Urteile, wenn sie davon ausgehen, daß die Kirchen kraft ihres Selbstbestimmungsredits auch für vermögensrechtliche Ansprüche ihrer Amtsträger einen ausschließlichen kirchlichen Rechtsweg begründen dürfen (so insbesondere B G H Z Bd. 46, S. 98 f.), für eine Einordnung dieser A n sprüche ins eigenständige kirchliche Recht eintreten. Dies ist indes wohl nicht der Fall. Grundlage der genannten Urteile dürfte vielmehr die Ansicht sein, daß den Kirchen kraft § 135 BRRG das Recht zukommt, für diese Ansprüche, obwohl es sich um Positionen des staatlichen Rechts handelt, den staatlichen Rechtsweg auszuschließen. Vgl. zu den Rechtswegfragen unten S. 141 ff.
1. Kap.: Das Dienstverhältnis der geistlichen Amtsträger
125
Es muß außerdem beachtet werden, daß für den Einzelnen die vermögensrechtliche Seite eines Dienstverhältnisses kein bloßes Akzidentale darstellt. Die aus einem Dienstverhältnis sich ergebenden vermögensrechtlichen Berechtigungen bilden vielmehr die Grundlage der Sicherheit der äußeren Existenz des Einzelnen, damit seiner — weltlich verstandenen — persönlichen Freiheit. I n diesem Bereich kommt dem Staat eine spezifische Schutzfunktion zu, die sich in der seit langem anerkannten Aufgabe des Staates, die weltlichen Rechtspositionen seiner Bürger mit Hilfe der Gerichte zu schützen und durchzusetzen, manifestiert 5. Sie erfährt aus der allgemeinen Charakterisierung des Staatswesens der Bundesrepublik als Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 GG) im geltenden Recht eine prinzipielle verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Diese Schutzfunktion muß vom Staat zugunsten des Einzelnen auch gegenüber den Kirchen und Religionsgemeinschaften wahrgenommen werden. Dies kann für die geistlichen Amtsträger der Kirchen und Religionsgemeinschaften nur dann wirksam geschehen, wenn die vermögensrechtliche Seite ihrer mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften geschlossenen Dienstverträge nicht ins eigenständige kirchliche Recht entlassen wird, sondern innerhalb des staatlichen Rechts verbleibt. Die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV enthaltene Anerkennung eigenständigkirchlichen Rechts für den geistlichen Bereich der Dienstverhältnisse zwischen den Kirchen und Religonsgemeinschaften und ihren geistlichen Amtsträgern kann also nicht auf die vermögensrechtliche Seite dieser Dienstverhältnisse erstreckt werden 6 . Es muß hier daran erinnert werden, daß es — wie oben dargelegt wurde 7 — eine Rechtsfrage des staatlichen Rechts darstellt, in welchem Umfang den Kirchen und Religionsgemeinschaften Eigenständigkeit zuzuerkennen ist. Die Maßstäbe für die Möglichkeit und den Umfang einer Anerkennung kirchlicher Eigenständigkeit sind also dem staatlichen Recht zu entnehmen. Die Grundsätze des staatlichen Rechts lassen aber die Annahme, auch die vermögensrechtliche Seite der Dienstverhältnisse der geistlichen Amsträger mit ihren Kirchen und Religionsgemeinschaften sei durch eigenständiges kirchliches Recht geregelt, aus den dargestellten Gründen nicht zu. Den Kirchen und Religionsgemeinschaften geschieht damit kein Unrecht. Die vermögensrechtliche Seite der Dienstverhältnisse ihrer geistlichen Amtsträger bleibt auch bei der hier vertretenen Lösung eine eigene 5 Vgl. Scheuner, DÖV 1967, S. 591; ders. t VVdStRL Heft 26 (1968), S. 141 (Diskussion). 8 So auch Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 298 f.; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 344 f.; H. Weber, S. 113; Martens, S. 150; ferner v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 270; Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 72. 7 Vgl. oben S. 70.
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4. Teil: Kirchliche Rechtsetzung im übrigen
Angelegenheit i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV 8 . Kirchen und Religionsgemeinschaften bleiben daher befugt, die Besoldung ihrer geistlichen Amtsträger selbständig, d. h. ohne Einmischung des Staates durch eigene Rechtssätze zu regeln. Diese Rechtsnormen, die kirchlichen Besoldungsvorschriften also, stellen aber kein eigenständiges kirchliches Recht dar. Vielmehr handeln Kirchen und Religionsgemeinschaften insoweit als Rechtssubjekte des staatlichen Rechts, d. h. kraft der Befugnisse, die ihnen nach staatlichem Recht zukommen. Zur Regelung der Besoldungsfragen setzen sie daher, soweit sie gem. Art. 140 GG/137 Abs. 5 WRV Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und im konkreten Fall von der ihnen mit der Körperschaftsstellung verliehenen Befugnis zu autonomer Rechtsetzung Gebrauch machen, Normen autonomen öffentlichen, also staatlichen Rechts9. Andernfalls handeln sie als Rechtssubjekte des Privatrechts und ordnen die vermögensrechtliche Seite der Dienstverhältnisse ihrer geistlichen Amtsträger mit Hilfe des Erlasses privatrechtlicher Satzungen10. Entsprechendes gilt für die Einordnung der Dienstverhältnisse der geistlichen Amtsträger zu ihren Kirchen oder Religionsgemeinschaften. Diese Dienstverhältnisse sind, soweit sie den vermögensrechtlichen Status der Amtsträger betreffen, Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechts. Sie gehören dem öffentlichen Recht an, soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften, die nach Art. 140 GG/137 Abs. 5 WRV Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, von der in der Körperschaftsstellung enthaltenen Dienstherreneigenschaft Gebrauch gemacht und Dienstverhältnisse des öffentlichen Rechts begründet haben. Ob dies geschehen ist, muß durch Auslegung der betreffenden kirchlichen Rechtsvorschriftten und der anderen, das Dienstverhältnis betreffenden rechtlichen Handlungen ermittelt werden 11 . Falls das Bestehen eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses nicht angenommen werden kann, muß gefolgert werden, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Begründung des Dienstverhältnisses eines geistlichen Amtsträgers hinsichtlich der vermögensrechtlichen Seite dieses Dienstverhältnisses kraft der ihnen in den meisten Fällen zukommenden privatrechtlichen Rechtssubjektivität gehandelt haben. Die vermögensrechtliche Seite dieses Dienstverhältnisses ist dann dem (staatlichen) Privatrecht einzuordnen. 8 So auch Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 72 und v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 272. 9 H. Weber, S. 121 f.; Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 305. w Vgl. auch H. Weber, S. 113 ff. 11 Für das Pfarrerrecht der evangelischen Kirchen kann die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung durchweg angenommen werden, vgl. H. Weber, S. 115. Dasselbe dürfte für die vermögensrechtliche Seite der Dienstverhältnisse der katholischen Geistlichen gelten, vgl. z. B. die Ordnung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Pfarrer im nordrhein-westfälischen Anteil des Erzbistums Köln vom 22.10.1968, Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln 1968, S. 394.
2. Kap.: Status der Laienbediensteten und Vermögensrecht
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Das bedeutet, daß das Dienstverhältnis der geistlichen Amtsträger mit ihren Kirchen oder Religionsgemeinschaften in zwei Teile zerfällt 12 : Durch eigenständiges Kirchenrecht ist geregelt die Funktion des betreffenden Amtes, die Form und der Inhalt des Verleihungsaktes, die von den Amtsträgern geforderten persönlichen Voraussetzungen sowie die mit der Innehabung des jeweiligen Amtes verbundenen Rechte und Pflichten 18. Neben diesem „Grundverhältnis" steht die vermögensrechtliche Seite dieser Dienstverhältnisse 14, die — soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften von dem Recht zu eigener Rechtsetzung Gebrauch gemacht haben — zwar auch durch von den Kirchen oder Religionsgemeinschaften geschaffene, jedoch dem staatlichen Rechtskreis zugehörige Rechtsregeln geordnet ist. Gegenstand dieser weltlich-rechtlichen Regelung sind die Ansprüche auf Besoldung, auf Ruhegehalt, auf sonstige Unterhaltsbeiträge, auf Unfall- und Krankheitsfürsorge, auf eine Dienstwohnung etc. Alle diese vermögensrechtlichen Ansprüche stellen also Rechtspositionen des staatlichen Rechts dar. Diese Ansprüche bestehen freilich nicht völlig selbständig. Sie setzen vielmehr die Existenz eines dem eigenständig-kirchlichen Recht unterliegenden „Grundverhältnisses" zwischen der Kirche oder Religionsgemeinschaft und ihrem Amtsträger voraus. Die weltlich-rechtliche Regelung der vermögensrechtlichen Seite des Dienstverhältnisses der geistlichen Amtsträger enthält insoweit eine Verweisung auf die für die vermögensrechtlichen Ansprüche mit-konstitutive Regelung des „Grundverhältnisses" durch eigenständig-kirchliches Recht, dessen Bestehen eine Tatbestandsvoraussetzung für die Existenz eines vermögensrechtlichen Anspruchs bildet. Zweites Kapitel
Der Status der Laienbediensteten sowie das kirchliehe Vermögensrecht I. Auch der Status der Laienbediensteten von Kirchen und Religionsgemeinschaften kann unter der Garantie des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV von diesen Gemeinschaften selbst rechtlich geregelt werden. Unter „Laienbediensteten" werden hier alle diejenigen Bediensteten der Kirchen und Religionsgemeinschaften verstanden, die nicht durch eine besondere geistliche Bevollmächtigung (z. B. durch Weihe oder durch 18
Vgl. auch Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 298 ff. » Vgl. H. Weber, S. 113; Martens, S. 150. 14 H. Weber, N J W 1967, S. 1646 unterscheidet zwischen dem (geistlichen) »Amtsverhältnis" und dem (weltlichen) „Dienstverhältnis".
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4. Teil: Kirchliche Rechtsetzung im übrigen
Ordination) zur öffentlichen Wortverkündung, zum Vollzug des Gottesdienstes und zur Spendung der Sakramente bestellt wurden, sondern die mit der Wahrnehmung anderer, sei es Verwaltungs-, sei es anderer Hilfsdienste in der Kirche oder in den einzelnen Gemeinden bestellt sind. Dazu zählen z. B. kirchliche Verwaltungsbeamte oder andere mit der Erledigung von Verwaltungsgeschäften betraute Personen, Schreibkräfte und Sekretärinnen, Seelsorgshelfer, Gemeindehelfer, kirchliche Sozialarbeiter, die Kindergärtnerinnen der konfessionellen Kindergärten, Organisten und Chorleiter, Mesner etc. Obwohl diese kirchlichen Bediensteten keine spezifisch geistlichen Funktionen ausüben, steht ihre Tätigkeit in wenigstens mittelbarem Bezug zu den geistlichen Aufgaben von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dies macht es notwendig, daß an die Vorbildung der betreffenden Personen, an ihre Einstellung in religiöser Hinsicht, an ihr Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes bestimmte Anforderungen gestellt werden, die nur von den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst normiert werden können. Das rechtfertigt es, diesen Bereich zu den eigenen Angelegenheiten i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu zählen und seine rechtliche Regelung den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu überlassen. Von dieser Möglichkeit machen insbesondere die Kirchen in großem Umfang Gebrauch. Somit ist auch hier die Frage zu stellen, ob diese von den Kirchen und den übrigen Religionsgemeinschaften erlassenen Rechtsvorschriften dem eigenständigen kirchlichen Recht angehören oder ob sie dem staatlichen Rechtskreis zuzurechnen sind. Eine Einordnung der Dienstverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten ins eigenständige Kirchenrecht, die von einigen Autoren jedenfalls für den Grundstatus, nicht für die vermögensrechtliche Seite des Dienstverhältnisses der evangelischen Kirchenbeamten vertreten wird 1 5 , könnte mit der geschilderten Hinordnung ihres Dienstes auf die geistlichen Aufgaben von Kirchen und Religionsgemeinschaften begründet werden. Hierbei würde jedoch nicht genügend beachtet, daß, wie bereits bemerkt, keine der verschiedenen Gruppen kirchlicher Laienbediensteter an spezifisch geistlichen Amtsvollmachten der Kirchen und Religionsgemeinschaften teilhat, die rechtliche Regelung ihrer Dienstverhältnisse daher auch nicht, anders als bei den geistlichen Amtsträgern, eine solche besondere, nur auf Grund eines bestimmten religiösen Bekenntnisses zu umschreibende Befugnis zum Gegenstand hat. Von anderen Dienstverhältnissen im weltlichen Bereich unterscheidet sich die Rechtsstellung der 15 So Martens, S. 150; von Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 274; wohl auch Evers, Festschrift für Ruppel, S. 344 f.
2. Kap.: Status der Laienbediensteten und Vermögensrecht
129
kirchlichen Laienbediensteten (mag es sich um kirchliche Beamte oder um kirchliche Angestellte handeln) vielmehr nur dadurch, daß mit Hilfe besonderer Regeln gesichert werden muß, daß nur den Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften und ihrem Auftrag besonders verbundene Personen in ein Beschäftigungsverhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften treten können 16 . Dieser Besonderheit kann aber auch dann Rechnung getragen werden, wenn man die Dienstverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten als Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechts betrachtet und den Kirchen und Religionsgemeinschaften die (in der Qualifizierung dieser Dienstverhältnisse als eigene Angelegenheit bereits implizierte) Möglichkeit einräumt, mit Hilfe bestimmter Sonderregeln z. B. für die Voraussetzungen der Einstellung oder für die Gründe der Beendigung des Dienstverhältnisses ihre legitimen Interessen zu sichern 17. Bei dieser Sachlage besteht für das staatliche Recht keine zwingende Veranlassung, auch nur einen Teil der Dienstverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten aus dem staatlichen Recht auszugliedern und eine Befugnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur eigenständigen rechtlichen Regelung dieser Dienstverhältnisse anzuerkennen. Vielmehr muß der Aufgabe des Staates, die entgeltlichen Dienstverhältnisse seiner Bürger einem umfassenden rechtlichen Schutz zu unterstellen, das größere Gewicht zugemessen, müssen somit die Dienstverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten und die zu ihrer Regelung von Kirchen und Religionsgemeinschaften erlassenen Vorschriften als Teile des staatlichen Rechts betrachtet werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Dienstverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten als eigene Angelegenheiten i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV der selbständigen rechtlichen Regelung durch Kirchen und Religionsgemeinschaften unterliegen. Diese erfolgt jedoch nicht durch die Setzung eigenständigen kirchlichen Rechts. Vielmehr üben die Kirchen und Religionsgemeinschaften hierbei die ihnen nach staatlichem Recht zukommenden Befugnisse aus. Sie erlassen daher, soweit sie Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und von den ihnen insoweit zukommenden Rechten Gebrauch machen, autonome Vorschriften des öffentlichen Rechts (z. B. in der Gestalt kirchlicher Beamtengesetze und Besoldungsordnungen) 18. Soweit diese Voraussetzungen nicht
16 Dies zeigt sich deutlich bei einer näheren Betrachtung der kirchlichen Beamtengesetze, vgl. z. B. das Kirchenbeamtengesetz der V E L K D vom 12.12. 1968, Amtsblatt der V E L K D 1968, Band I I I , S. 86. 17 I m Arbeitsrecht wird die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften als „Tendenzbetrieb" seit langem berücksichtigt, vgl. statt aller Nikisch, Band 1, S. 447,450,730,760. 18 Vgl. H. Weber, S. 120 ff., 122.
9 Jurlna
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4. Teil: Kirchliche Rechtsetzung im übrigen
vorliegen, ordnen sie die Dienstverhältnisse ihrer Laienbediensteten mit Hilfe privatrechtlicher Satzungen. Entsprechend ist die Einordnung der Dienstverhältnisse selbst vorzunehmen. Diese sind in jedem Fall Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechts. Soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und von der in diesem Status enthaltenen Dienstherreneigenschaft Gebrauch gemacht haben, handelt es sich um Dienstverhältnisse des öffentlichen Rechts, um kirchliche Beamtenverhältnisse19. Diese sind freilich nicht „öffentlicher Dienst" im Sinn des staatlichen Beamtenrechts 20. Andernfalls handelt es sich um Dienst- oder Arbeitsverhältnisse des Privatrechts 21. II. Zu den eigenen Angelegenheiten i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV gehört auch das kirchliche Vermögen. Dies hat, wie noch näher zu zeigen sein wird, in erster Linie Bedeutung für die ebenfalls in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantierte Freiheit der kirchlichen Vermögensverwaltung 22 . Jedoch kommt auch für diesen Bereich eine eigene rechtsetzende Tätigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Betracht. Diese findet sich insbesondere bei der Regelung der Vertretungsbefugnis der kirchlichen Amtsträger und bei der Normierung von Veräußerungsverboten und Genehmigungsvorbehalten in bezug auf Rechtsgeschäfte über kirchliches Eigentum 23 . Da dies Rechtsakte sind, die innerhalb des dem staatlichen Recht unterliegenden Privatrechtsverkehrs wirksam sein sollen, muß angenommen werden, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften hier kraft ihrer Rechtssubjektivität des staatlichen Rechts handeln, also etwa dem staatlichen Recht zuzuordnende Regeln über den Umfang der rechtsgeschäftlichen Vertretungsbefugnis ihrer Organe schaffen 24. Für eine gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV auszu19
Vgl. H. Weber, S. 114 ff.; J. Frank, ZevKR Bd. 10 (1963/64), S. 264 ff. Vgl. hierzu statt aller Martens, S. 149 f. mit weiteren Nachweisen; auch H. Weber, S. 116 ff. 21 Vgl. H. Weber, S. 113. Von dieser Auffassung geht auch die kirchliche Praxis aus, wie sich etwa aus der Behandlung der sozialversicherungsrechtlichen und der tarif rechtlichen Fragen ergibt. 22 Vgl. unten S. 137. 22 Vgl. zum Problem der Vertretungsbefugnis Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 288 ff.; zu kirchlichen Veräußerungsverboten und Genehmigungsvorbehalten J. Dittrich, Die kirchenaufsichtliche Genehmigung in Vermögens- und Personalangelegenheiten, ZevKR Bd. 12 (1966/67), S. 100 und W. Knüllig, Kirchliche Genehmigungsvorbehalte und Veräußerungsverbote, ZevKR Bd. 12 (1966/67), S.116. 24 Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 292 nimmt hier das Vorliegen doppelter, sowohl dem kirchlichen wie dem staatlichen Recht angehörender Regelungen an. Für diese Konstruktion ist jedoch kein Bedarf ersichtlich. 20
. Kap.: Die gemeinsamen Angelegenheiten
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sprechende Anerkennung dieser Regeln als eigenständiges kirchliches Recht besteht also kein Anlaß. Das ändert freilich nichts daran, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst frei darüber befinden können, welchen Amtsträgern sie Vertretungsbefugnis erteilen wollen. Andererseits ist aber dem Staat das Recht zuzuerkennen, im Interesse eines geordneten Privatrechtsverkehrs zu prüfen, ob die kirchlichen Vertretungsregelungen den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs genügen25. Soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften besondere Vorschriften über die Verwendung des kirchlichen Vermögens, die lediglich im Internum der Kirchen und Religionsgemeinschaften wirken sollen, erlassen, wird man diese dem eigenständigen kirchlichen Rechtsbereich zurechnen können. Das gilt insbesondere für die im katholischen Kirchenrecht anzutreffenden Vorschriften über die Kirchen und die sonstigen Gottesdiensträume, die an einer bestimmten theologischen Qualifikation dieser Gebäude anknüpfen 26 . Drittes Kapitel
Die gemeinsamen Angelegenheiten Eigene Rechtsetzungsakte der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die im Rahmen dieser Untersuchung der rechtlichen Qualifizierung bedürfen, finden sich schließlich im Bereich der sog. „gemeinsamen" oder „gemischten" Angelegenheiten (res mixtae). Hierzu gehören, wie bereits dargelegt wurde, die Anstalts- und Heeresseelsorge, der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, das Bestattungswesen sowie das Besteuerungsrecht der öffentlich-rechtlich organisierten Kirchen und Religionsgemeinschaften 27. Diese Materien sind dadurch gekennzeichnet, daß sie in einer Hinsicht zum Aufgabenbereich des Staates, in anderer Hinsicht zu den „eigenen" Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zählen. Nur diese „kirchliche" Seite der gemeinsamen Angelegenheiten kann unter der Garantie des Art. 140 GG/137 Abs. 3 von den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbständig rechtlich geregelt werden. Auch hier stellt sich 25 Vgl. hierzu die in den neueren evangelischen Kirchenverträgen getroffenen Regelungen, die überwiegend ein Einspruchsrecht des Staates vorsehen, z.B. Art. 10 des Niedersächsischen Kirchenvertrags, Art. 4 des Rheinland-pfälzischen Kirchenvertrags, Art. 12 des Schleswig-Holsteinischen Kirchenvertrags, Art. 3 des Hessischen Kirchenvertrags. Vgl. ferner die Regelung in Art. 13 und in § 8 der Anlage des Niedersächsischen Konkordats. 26 Vgl. cc. 1161 ff. CIC. 27 Vgl. oben S. 65 ff.
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4. Teil: Kirchliche Rechtsetzung im übrigen
somit die Frage, welchem Rechtskreis dieses Handeln von Kirchen und Religionsgemeinschaften zuzuordnen ist. I. Eigene Angelegenheit im Bereich der durch Art. 140 GG/141 WRV garantierten Anstalts- und Heeresseelsorge ist die seelsorgliche Betreuung der in besonderen Anstalten oder Institutionen (z. B. Strafanstalten, Krankenhäusern, der Bundeswehr, Polizei, Bundesgrenzschutz) lebenden Personen durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Diese Seelsorge vollzieht sich insbesondere — außer im persönlichen Gespräch — in der Abhaltung von Gottesdiensten und der Spendung von Sakramenten. Wie oben dargelegt wurde, fallen diese Tätigkeiten in den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften, der durch eigenständiges kirchliches Recht geregelt wird 2 8 . Für die Anstalts- und Heeresseelsorge ergeben sich hierbei keine Unterschiede. Der Rechtsstatus der in der Anstalts- und Heeresseelsorge tätigen Geistlichen und Pfarrer unterscheidet sich ebenfalls grundsätzlich nicht von der Rechtsstellung der übrigen geistlichen Amtsträger der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Eine Sonderregelung gilt für die Heeresseelsorge durch die katholischen und die evangelischen Kirchen. Hier sind die Militärgeistlichen und Militärpfarrer, soweit ihr weltlicher Rechtsstatus in Frage steht, kraft ausdrücklicher Regelung Staatsbeamte29. II. Der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen ist gem. Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG, soweit nicht über Art. 141 GG Ausnahmen zugelassen sind, ordentliches Lehrfach. Daraus folgt, daß die schulorganisatorische Zuständigkeit des Staates auch für den Religionsunterricht gilt. Dieser wird daher vom Staat, nicht von den Kirchen und Religionsgemeinschaften „veranstaltet" 30 . Da der Religionsunterricht jedoch nicht weltliche Lehrgegenstände, sondern die Lehren und Glaubensüberzeugungen der einzelnen Konfessionen zum Gegenstand hat, ist es Sache der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre eigene Angelegenheit81, über den Inhalt des Religionsunterrichts zu bestimmen. Es wird daher „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt" (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG). I n Ausführung dieser Grundsatzbestimmung werden Kirchen und Religionsgemeinschaften in den einzelnen Bundesländern in verschiedener 28
Vgl. oben S. 121. Vgl. Art. 27 Reichskonkordat und den Vertrag zwischen der BRD und der E K D zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge vom 22. 2. 1957, dessen beamtenrechtliche Bestimmungen nach Art. 2 des Gesetzes über die Militärseelsorge vom 26. 7.1957 auf die katholischen Militärgeistlichen sinngemäß anzuwenden sind. 80 Vgl. Herzog in Maunz - Dürig - Herzog, Rdnr. 48 und 49 zu Art. 77 GG; von Drygalski, S. 60 ff. 81 Vgl. von Campenhausen, S. 145. 29
. Kap.: Die gemeinsamen Angelegenheiten
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Form an der Organisation und der Durchführung des Religionsunterrichts beteiligt. Eine rechtsetzende Tätigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt hierbei insbesondere in bezug auf die kirchliche Beauftragung zur Abhaltung des Religionsunterrichts, über deren Erteilung oder Versagimg allein die Kirchen und Religionsgemeinschaften entscheiden, in Betracht. Diese Beauftragung geschieht z. B. in der katholischen Kirche mittels der „missio canonica"32, in den evangelischen Kirchen in der Form der „Vokation" 33 . Sie bringt zum Ausdruck, daß die so beauftragte Person nach dem Urteil der Kirche oder Religionsgemeinschaft fähig und willens ist, den Religionsunterricht gemäß den Lehren der jeweiligen Konfession zu erteilen. Damit wird nicht nur ein Urteil über äußere Voraussetzungen, etwa über das theologische Wissen, sondern auch über die innere Einstellung der betreffenden Person in religiöser Hinsicht erbracht 34 . Missio canonica und Vokation sind daher so eng mit den religiösen Überzeugungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften verbunden, daß die rechtliche Regelung der Voraussetzungen ihrer Erteilung oder ihres Widerrufs nicht als Rechtsetzungsakt innerhalb des Rechts eines weltanschaulich-religiös neutralen Staates betrachtet werden kann, sie vielmehr dem eigenständigen Rechtsbereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften zugerechnet werden muß. Zwar wirken missio canonica und Vokation insofern über den innerkirchlichen Bereich hinaus, als der Staat nur Lehrkräfte mit kirchlicher Beauftragung mit der Erteilung von Religionsunterricht betrauen darf 35 . Durch eine solche auch in anderen Fällen vorkommende Tatbestandswirkung eines kirchlichen Rechtsakts im staatlichen Recht geht jedoch der eigenständig-kirchenrechtliche Charakter dieser Beauftragung nicht verloren 36 . i n . Das Bestattungswesen zählt heute zu den Aufgaben des Staates und richtet sich nach staatlichem Recht. Das gilt auch für die kirchlichen Friedhöfe. Bei deren Einrichtung und Verwaltung werden Kirchen und Religionsgemeinschaften also nicht aus eigenem Recht tätig, sondern nehmen eine ihnen als Körperschaften des öffentlichen Rechts vom Staat übertragene Aufgabe wahr. Sie handeln also auf Grund und im Bereich des staatlichen öffentlichen Rechts37. Von den Kirchen oder Religionsgemeinschaften erlassene Friedhofssatzungen stellen deshalb öffentlichrechtliche Rechtsvorschriften dar. 82 33 34 35 39 37
Vgl. von Campenhausen, S. 161. Vgl. von Campenhausen, S. 161 ff. Vgl. von Campenhausen, S. 161. Vgl. von Campenhausen, S. 160. Vgl. hierzu Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 277. Vgl. H. Weber, S. 56,129; Gaedke, S. 24.
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4. Teil: Kirchliche Rechtsetzung im übrigen
Eigene Angelegenheit ist dagegen die Ausgestaltung des Bestattungszeremoniells, dessen Abhaltung den Kirchen und Religionsgemeinschaften im übrigen auch auf kommunalen Friedhöfen ohne besondere Erlaubnis gestattet ist 88 . Es gehört sachlich zum Bereich des Gottesdienstes. Seine rechtliche Regelung erfolgt daher durch eigenständiges kirchliches Recht. IV. Eigene Rechtsetzungsakte der Kirchen und Religionsgemeinschaften finden sich schließlich im Bereich des Kirchensteuerrechts. Auch hier stellt sich somit die Frage, welchem Rechtskreis diese kirchlichen Rechtsnormen zuzurechnen sind. Wie bereits ausgeführt wurde, knüpft das Recht zur Erhebimg von Kirchensteuern an die den Kirchen und Religionsgemeinschaften aus eigenem Recht zustehende Befugnis an, von ihren Angehörigen finanzielle Beiträge zur Erfüllung der kirchlichen Aufgaben, also zur Abhaltung des Gottesdienstes, zur Errichtung und Ausstattung der Gottesdiensträume, zur Besoldung der kirchlichen Amtsträger, zur Ausübung der kirchlichen Liebestätigkeit etc. zu verlangen 89 . Wegen dieser Bezogenheit auf die im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten sich stellenden Aufgaben scheint es vertretbar, die rechtliche Ausgestaltung dieses innerkirchlichen Rechts auf Beitragserhebung als dem eigenständigen kirchlichen Recht zugehörig zu betrachten. Entsprechendes gilt jedoch nicht für die rechtliche Ausgestaltung des den als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisierten Kirchen und Religionsgemeinschaften zugestandenen eigentlichen Besteuerungsrechts. Zwar ist den steuererhebenden Kirchen und Religionsgemeinschaften in einigen Kirchensteuergesetzen ausdrücklich das Recht zugebilligt, durch den Erlaß von Kirchensteuerordnungen Einzelheiten hinsichtlich der Steuerarten, der Höhe der Steuern sowie des Kreises der Steuerpflichtigen — vorbehaltlich eines weiteren staatlichen Mitwirkungsaktes — selbständig festzulegen 40. Da jedoch das Besteuerungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf staatlicher Verleihung beruht, es als mit den staatlichen Zwangsmitteln durchsetzbares Recht allein auf Grund und innerhalb des staatlichen Rechts existiert 41 , müssen die zu seiner Konkretisierung erlassenen Rechtssätze, sollen sie nicht leerlaufen, selbst als Normen des staatlichen Rechts betrachtet werden. Bei Erlaß der Kirchensteuerordnungen und anderer, zur Durchführung des Besteuerungsrechts bestimmter rechtlicher Regelungen werden 88
Vgl. Gaedke, S. 198. Vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 217. 40 Vgl. z. B. die §§ 1 und 2 des nordrhein-westfälischen Kirchensteuergesetzes i. d. F. vom 13.11.1968, GVB1.1968, S. 375; Art. 8 des bayerischen Kirchensteuergesetzes i. d. F. vom 15.3.1967, GVB1.1967, S. 317. 41 Vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 217. 99
. Kap.: Die gemeinsamen Angelegenheiten
135
die Kirchen und Religionsgemeinschaften also nicht kraft einer ihrem eigenständigen Recht angehörenden Rechtsetzungsbefugnis tätig. Sie setzen hier vielmehr autonome Rechtsregeln des staatlichen öffentlichen Rechts42, die auf eine ihnen mit dem Besteuerungsrecht vom Staat verliehene, öffentlich-rechtliche Rechtsetzungsbefugnis zurückgehen. Für die Anerkennung eines eigenständigen rechtlichen Handelns der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist insoweit also kein Raum 43 .
42 Vgl. Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 326; ders., in: Marré - Hof facker, S. 82. Wie Marré, Gedächtnisschrift Peters, S. 317, zu Recht ausführt, handelt es sich um Satzungen, nicht um Durchführungsverordnungen in der Form von Rechtsverordnungen, so daß Art. 80 G G auf die Ermächtigungsnormen nicht anzuwenden ist. Ebenso BVerfGE Bd. 19, S. 253. 43 Dies gilt unabhängig von der Frage, ob den Kirchen und Religionsgemeinschaften — entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts — ein Recht darauf zuzuerkennen ist, bei den Regelungen der Einzelheiten der Kirchensteuer mitzuwirken, vgl. einerseits BVerfGE Bd. 19, S. 258, andererseits Mikat, Gedächtnisschrift Peters, S. 343 ff.
FÜNFTER TEIL
Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Bereich der eigenen Angelegenheiten Die den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV garantierte Freiheit der rechtlichen Selbstbestimmung umfaßt nicht nur die bislang erörterte Befugnis zu selbständiger Rechtsetzimg. Diese Vorschrift verbürgt vielmehr auch, wie oben bereits kurz bemerkt wurde 1 , das Recht zur selbständigen Verwaltung des Bereichs der eigenen Angelegenheiten sowie zur Errichtung einer eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit. Dem Inhalt dieser Befugnisse sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Erstes Kapitel
Die kircheneigene Verwaltung Die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V den Kirchen und Religionsgemeinschaften zuerkannte Befugnis, die eigenen Angelegenheiten selbständig zu verwalten, stellt eine konsequente Fortführung der in derselben Vorschrift verankerten Befugnis zu selbständiger Rechtsetzung dar. Wenn es den Kardien und Religionsgemeinschaften überlassen ist, ihren Internbereich nach ihren eigenen Grundsätzen und Vorentscheidungen rechtlich zu ordnen, ist es nur sachgerecht, wenn auch die Verwaltung dieser Materien als eigene Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften betrachtet wird. I. Demgemäß umfaßt das Recht zur selbständigen Verwaltung der eigenen Angelegenheiten zunächst die Befugnis zur selbständigen Durchführung des von Kirchen und Religionsgemeinschaften geschaffenen Rechts. Hierunter fällt u. a. die Besetzung der kirchlichen Ämter und die Bildung der anderen im Verfassungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften vorgesehenen Organe. Deshalb ist die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ausdrücklich verbriefte Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Besetzung ihrer Ämter lediglich als gesetzliches Beispiel für 1
Vgl. oben S. 68.
. Kap.: Die kircheneigene
erat
137
die in Satz 1 dieser Vorschrift allgemein umschriebene Befugnis zur selbständigen Verwaltung des Internbereichs zu werten. Die Befugnis, die eigenen Angelegenheiten selbständig zu verwalten, beschränkt sich aber nicht auf die verschiedenen Formen der Durchführung der kirchlichen Rechtsvorschriften. I n Entsprechung zu der auch im staatlichen Recht allgemein akzeptierten Auffassung, daß „Verwaltung" nicht nur die Durchführung von Rechtsvorschriften meint, sondern darüber hinaus eine Vielzahl anderer, nur schwer erschöpfend beschreibbarer Tätigkeiten zur Erreichung staatlicher Ziele umgreift, muß auch für die Kirchen und Religionsgemeinschaften davon ausgegangen werden, daß das ihnen garantierte Recht, die Interna selbständig zu verwalten, über die Durchführung des eigenen Rechts hinaus alle jene Tätigkeiten umfaßt, die zu einer zweckmäßigen Erfüllung der im Bereich der eigenen Angelegenheiten gestellten Aufgaben und Ziele notwendig sind. Hierunter fällt, um nur einige Beispiele zu nennen, etwa die Planung und Durchführung der Seelsorge, die kirchliche Jugendarbeit, die Herausgabe der kirchlichen Presse, die kirchliche Liebestätigkeit etc. Besondere Bedeutung hat das Recht zur selbständigen Verwaltung der eigenen Angelegenheiten für das Vermögen der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Kraft Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV besitzen Kirchen und Religonsgemeinschaften die „volle Dispositionsfreiheit über die Organisation und Verwendung ihres weltlichen Gutes, den Einsatz ihrer materiellen Mittel im Dienst der kirchlichen Aufgaben und Ziele" 2 . Kirchen und Religionsgemeinschaften sind durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV also gegen die Wiedereinführung der in den älteren staatskirchenrechtlichen Systemen entwickelten Formen der staatlichen Reglementierungen und Beschränkungen der kirchlichen Vermögensverwaltung geschützt3. Die Besorgung der Vermögensangelegenheiten darf daher nicht „als Staatsaufgabe vom S t a a t . . . in die Hand genommen werden" 4 . Diese Freiheit der kirchlichen Vermögensverwaltung impliziert die Freiheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften beim Erwerb und bei der Veräußerung von kirchlichem Vermögen. Erwerbsbeschränkungen oder Veräußerungsverbote, die sich (sei es auch nur aus Erwägung einer „Fürsorge" des Staates für die Kirchen) ausschließlich gegen Kirchen und Religionsgemeinschaften richten, sind daher mit Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV unvereinbar 5. II. Die Frage, ob die unter den Begriff des „Verwaltens" der eigenen Angelegenheiten fallenden rechtlichen Tätigkeiten von Kirchen und 2 3 4 6
M. Heckel, S. 240. Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 189. M . Heckel, S. 241. Vgl. M. Heckel, S. 240.
138
5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Internbereich
Religionsgemeinschaften Rechtsakte innerhalb des eigenständig-kirchlichen oder innerhalb des staatlichen Rechts darstellen, läßt sich ebensowenig generell beantworten wie die Frage nach der Qualifizierung der rechtsetzenden Tätigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Es kommt auch hier darauf an, auf welchen Sachbereich sich dieses „Verwalten" bezieht. 1. Sofern es sich hierbei um Materien handelt, deren rechtliche Regelung durch eigenständiges kirchliches Recht erfolgt, muß konsequenterweise angenommen werden, daß die diese Materien verwaltenden rechtlichen Tätigkeiten Akte des eigenständig-kirchlichen Rechts darstellen. Als Beispiele hierfür seien angeführt die Berufung eines geistlichen Amtsträgers i n sein Amt (durch Ordination oder missio canonica); die Verhängung einer Kirchenstrafe (etwa der Ausschluß vom Sakramentenempfang); die Zulassung zum Empfang eines Sakraments. 2. Sofern dagegen der von Kirchen und Religionsgemeinschaften gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV selbständig verwaltete Sachbereich durch Rechtsvorschriften geregelt ist, die nach den oben angestellten Erwägungen dem staatlichen Recht zuzuordnen sind, müssen auch die verwaltenden Tätigkeiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften als Akte des staatlichen Rechts begriffen werden. Dies gilt etwa für die Dienstund Arbeitsverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten, die durch dem staatlichen Recht zuzurechnende Akte (Berufung in ein kirchliches Beamtenverhältnis, Abschluß eines privatrechtlichen Dienst- oder Arbeitsvertrages) begründet werden. I n Rechtsakten vorzugsweise des staatlichen Rechts vollzieht sich auch die kirchliche Vermögensverwaltung, da die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen und Religionsgemeinschaften verbürgte Freiheit der Vermögensverwaltung nicht deren Exemtion aus dem staatlichen Recht bedeutet. Erwerb, Verwaltung und Veräußerung des kirchlichen Vermögens verwirklichen sich vielmehr in Rechtsakten des staatlichen, zumeist des bürgerlichen Rechts8. 3. Audi bei den „gemeinsamen" Angelegenheiten muß für eine Qualifizierung der vollziehenden Tätigkeiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften danach unterschieden werden, um welchen Sachbereich es sich handelt. Vollziehungsakte in bezug auf die Gestaltung des religiösen Bestattungszeremoniells stellen Handlungen des eigenständig-kirchlichen Rechts dar. Sofern Kirchen und Religionsgemeinschaften dagegen in Fragen der ihnen vom Staat übertragenen Friedhofsverwaltung tätig werden, bewegt sich ihr Handeln innerhalb des staatlichen öffentlichen Rechts. So stellt etwa die Verweigerung der Bestattung auf einem kirch-
• Vgl. M. Heckel, S. 241.
2. Kap.: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
139
liehen Friedhof oder eine Anweisung, einen Grabstein in bestimmter Weise zu gestalten, einen Verwaltungsakt des staatlichen Rechts dar 7 . I m Bereich des Religionsunterrichts ist die Erteilung oder Verweigerung der missio canonica oder der Vokation als Akt des eigenständigkirchlichen Rechts zu qualifizieren. Dagegen ist etwa die Beteiligung der Kirchen und Religionsgemeinschaften an der Aufstellung der Lehrpläne für den Religionsunterricht als Handeln im Bereich des staatlichen Rechts zu betrachten, da sich diese Akte auf die Durchführung des Religionsunterrichts als eines ordentlichen Lehrfachs der staatlichen Schulen beziehen. Entsprechendes gilt für die in verschiedener Weise ermöglichte Beaufsichtigung des Religionsunterrichts durch besondere Beauftragte der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die der Feststellung dient, ob der Religionsunterricht gemäß den Lehren der jeweiligen Konfession erteilt wird. Auch hier handeln Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht im Bereich des eigenständig-kirchlichen Rechts, sondern üben eine durch das staatliche Recht eröffnete und umschriebene Funktion aus8. Rechtsakte des staatlichen Rechts stellen schließlich die Geltendmachung des Anspruchs auf Kirchensteuer oder der Erlaß der kirchlichen Steuerschuld dar, da das kirchliche Besteuerungsrecht selbst, wie ausgeführt, ins staatliche öffentliche Recht einzuordnen ist.
Zweites Kapitel
Die kircheneigene Gerichtsbarkeit I. Zu den den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV freigegebenen Formen rechtlicher Betätigung im Bereich der eigenen Angelegenheiten wird traditionell schließlich auch die Befugnis zur Errichtung einer kircheneigenen Gerichtsbarkeit gezählt9. 1. Solche zur Entscheidung kirchenrechtlicher Fragen eingesetzten Gerichte finden sich insbesondere im Recht der katholischen und der evangelischen Kirchen. I m katholischen Kirchenrecht besitzt die kirchliche Gerichtsbarkeit eine lange Tradition. Die Aufgaben und die Organisation dieser Gerichte sowie das von ihnen einzuhaltende Verfahren haben im kanonischen Recht eine eingehende Regelung erfahren 10 . 7
Vgl. statt aller BVerwGE Bd. 25, S. 364. Zu den Mitwirkungsrechten der Kirchen und Religionsgemeinschaften hinsichtlich des Religionsunterrichts vgl. von Campenhausen, S. 159 ff. 9 Vgl. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 174. 10 Vgl. die Darstellung bei Eichmann-Mörsdorf, 3. Band sowie den Überblick bei Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 625 f. 8
140
5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Intebereich
Gemäß c. 1553 § 1 CIC sind die kirchlichen Gerichte ausschließlich zuständig a) in geistlichen Sachen und in solchen weltlichen Sachen, die mit einer geistlichen Sache notwendig oder zufällig verbunden sind. Hierunter fallen einerseits das geistliche Amt und die Sakramente, zu denen auch die Ehe zählt, andererseits die durch Weihe geheiligten Sachen (Kirche, Altar, Kelch) sowie die durch ihre Zweckbestimmung geistlichen Aufgaben dienenden Sachen (Pfründe, Kirchenvermögen); b) zur strafrechtlichen Verfolgung nach kirchlichem Strafrecht; c) in allen Streit- und Strafsachen von Personen, die das Vorrecht des kirchlichen Gerichtsstandes (Privilegium fori) genießen, d. h. von Klerikern und Ordensleuten. Diese zuletzt genannte Zuständigkeit ist allerdings in Deutschland im Hinblick auf das staatliche Recht gewohnheitsrechtlich außer Übung gekommen11. Träger der Gerichtsbarkeit sind der Papst und die Bischöfe, die diese Funktion jedoch meist nicht selbst ausüben, sondern sie kirchlichen Gerichten übertragen haben. Papst und Bischöfe besitzen jedoch das Recht, jeden Rechtsstreit innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs an sich zu ziehen und selbst zu entscheiden12. Die Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirchen 13 gliedert sich insbesondere in Verwaltungsgerichte zur Überprüfung kirchlicher Verwaltungsakte, Disziplinargerichte für die Geistlichen und Kirchenbeamten sowie Spruchkollegien, die im Rahmen eines sog. Lehrzuchtverfahrens über Abweichungen von der Lehre zu entscheiden haben 14 . Die Organisation und das Verfahren der kirchlichen Verwaltungsgerichte lehnen sich eng an das Vorbild der staatlichen Verwaltungsgerichte an. Die kirchlichen Verwaltungsgerichte sind personell und organisatorisch von den gesetzgebenden und verwaltenden Organen der Kirchen getrennt. Für das Verfahren wird oft subsidiär auf das staatliche Verfahrensrecht verwiesen 15 . Auch die Disziplinargerichte sind weitgehend nach dem Vorbild der staatlichen Gerichte organisiert 16. 2. Eine kirchliche Gerichtsbarkeit findet sich jedoch nicht nur im Recht der großen Kirchen, sondern auch bei manchen kleineren Religionsge11 18 13 14 15 16
Vgl. Eichmann-Mörsdorf, 3. Band, S. 16. Vgl. Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 625 f. Vgl. den Überblick bei Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 626 ff. Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 627. Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 627. Maurer, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 628.
2. Kap.: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
141
meinschaften. So besitzt z. B., wie schon erwähnt wurde, die Methodistenkirche eine ausgebaute eigene Gerichtsbarkeit 17. II. Die Feststellung, daß eine kircheneigene Gerichtsbarkeit in weitem Umfang faktisch existiert, enthebt freilich nicht der Notwendigkeit zu prüfen, ob und inwieweit eine solche kirchliche Gerichtsbarkeit vom staatlichen Recht anerkannt werden kann, ob und in welchem Umfang also die Existenz und die Tätigkeit kirchlicher Gerichte als durch die Garantie des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV geschützt zu betrachten sind. 1. Soweit die kirchlichen Gerichte mit der Aufgabe betraut sind, auf Grund und für den Geltungsbereich des eigenständigen kirchlichen Rechts Recht zu sprechen, stellt die Zuerkennung der Befugnis zur Errichtung kircheneigener Gerichte und die Anerkennung ihrer Jurisdiktion durch das staatliche Recht lediglich eine Folgerung aus der den Kirchen und Religionsgemeinschaften gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zuerkannten Befugnis dar, den Kernbereich ihrer eigenen Angelegenheiten einer allein auf kirchlicher Rechtsetzungsgewalt beruhenden, besonderen kirchlichen Rechtsordnung zu unterstellen. Diese Befugnis zu eigener Rechtsetzung gibt den Kirchen und Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten nach ihren eigenen Vorstellungen und Maßstäben zu ordnen. Es ist dann nur folgerichtig, ihnen auch die Befugnis zur Errichtung von Organen zuzubilligen, die mit der richterlichen Anwendung des eigenständigen Rechts und der verbindlichen Feststellung seines Inhalts betraut sind 18 . Dies rechtfertigt die Anerkennung einer kircheneigenen Gerichtsbarkeit für den eigenständig-kirchlichen Rechtsbereich durch das staatliche Recht. Eine Zuständigkeit staatlicher Gerichte für Rechtsstreitigkeiten im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten kommt nicht in Betracht 19 . Sie würde eine Betätigung staatlicher Hoheitsgewalt darstellen, die, wie schon ausgeführt wurde, in diesem mit dem religiösen Selbstverständnis der einzelnen Kirchen und Religionsgemeinschaften aufs engste verknüpften Bereich wegen des Verfassungsgrundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates nicht in Frage kommt 20 . 17
Vgl. oben S. 111. Vgl. auch H. Weber, S. 135 f. - Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 189 betrachtet die kirchliche Gerichtsbarkeit als Teil des den Kirchen und Religionsgemeinschaften in Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V zugestandenen selbständigen „Verwaltens" der eigenen Angelegenheiten. 19 Das wird heute allgemein akzeptiert, vgl. Scheuner, D Ö V 1967, S. 591; von Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 270; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 343; H. Weber, S. 144,145; Hesse, JöR N F Bd. 10, S. 78; Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 301; Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 190 f.; Maurer, D Ö V 1960, S. 749; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 629; Gert Meier, DVB1. 1967, S. 706; BVerwGE Bd. 25, S. 226. 20 Vgl. oben S. 80 ff. 18
142
5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Internbereich
Dies bedeutet keinen Verstoß gegen den in Art. 92 GG enthaltenen Grundsatz, „daß die rechtsprechende Gewalt durch die staatlichen Gerichte ausgeübt wird" 2 1 . Dieses „Rechtsprechungsmonopol" des Staates22 bezieht sich — ebenso wie das staatliche Rechtsetzungsmonopol — nur auf den staatlichen Bereich, nur auf das staatliche Recht. Da aber kraft Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV feststeht, daß der Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften eigenständigkirchlichem, d. h. aber gerade nicht staatlichem Recht unterstellt ist, wird das Rechtsprechungsmonopol des Staates durch die Anerkennung einer eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten nicht nur nicht verletzt, sondern überhaupt nicht tangiert. Der Ausschluß der Jurisdiktion der staatlichen Gerichte im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften verletzt auch nicht die in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltene Garantie eines Rechtswegs zu den staatlichen Gerichten. Diese Garantie ist ausdrücklich auf Klagen gegen das Handeln der „öffentlichen Gewalt", d. h. gegen hoheitliches Handeln kraft des staatlichen öffentlichen Rechts, beschränkt. Sie bezieht sich also nicht auf das Handeln von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten, das auf eigenständig-kirchlichem, nicht dem staatlichen öffentlichen Recht zurechenbaren Rechtsvorschriften beruht 28 . Es ist also daran festzuhalten, daß Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen und Religionsgemeinschaften mit der Garantie der Befugnis zu eigenständiger Rechtsetzung für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zugleich das Recht verbürgt, für den Bereich des eigenständigen kirchlichen Rechts eine eigene, von den Kirchen und Religionsgemeinschaften ins Leben gerufene und von ihnen getragene kirchliche Gerichtsbarkeit einzurichten 24. Diesen kirchlichen Gerichten kommt für den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten die alleinige Zuständigkeit zu, die eine Zuständigkeit der staatlichen Gerichte für diese Materien ausschließt. Allein den kirchlichen Gerichten obliegt es also, kirchliche Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich der Glaubenslehre, des Gottesdienstes, der Sakramente, der kirchlichen Verfassung, der geistlichen Seite der Dienstverhältnisse der geistlichen Amtsträger sowie der kircheninternen Rechtsstellung der 21
BVerfGE Bd. 18, S. 251. Zum Rechtsprechungsmonopol des Staates, das in Literatur und Rechtsprechung einhellig akzeptiert ist, vgl. Bettermann, Die Grundrechte Bd. III/2, S. 629 ff.; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1711 f., 1724; v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 267; H. Weber, S. 136; ferner Schleicher, S. 45 sowie die dort Anm. 45 gegebene Literaturübersicht. 25 Vgl. oben S. 117 ff.; ferner Mikat, Staatsbürger und Staatsgewalt Bd. I I , S. 325,328 f.; Maurer, DÖV1960, S. 752; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 338. 24 Vgl. auch H. Weber, S. 136. 22
2. Kap.: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
143
Kirchenglieder zu entscheiden. Diese Materien betreffende, vor den staatlichen Gerichten erhobene Klagen sind daher mangels eines staatlichen Rechtswegs als unzulässig abzuweisen25. Staatlicher Rechtsschutz kann im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften auch nicht subsidiär, etwa dort, wo kein kirchlicher Rechtsweg besteht, gewährt werden 26 . Angesichts der Anerkennung der rechtlichen Eigenständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten und der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ist es vielmehr Sache allein der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ob und in welchem Umfang sie im Bereich des eigenständig-kirchlichen Rechts gerichtlichen Rechtsschutz gewähren wollen. 2. Grundsätzlich anders ist die Rechtslage dagegen bei jenen zu den eigenen Angelegenheiten zu zählenden Materien, die von Karchen und Religionsgemeinschaften gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zwar selbständig, aber mittels dem staatlichen Rechtskreis zugehörigen Rechts geordnet und verwaltet werden. a) Zwar kommt auch hier, wie dargelegt, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in weitem Umfang das Recht zu, eigene kirchliche Rechtsvorschriften zu erlassen. So werden insbesondere die weltliche Seite des Dienstverhältnisses der kirchlichen Laienbediensteten weitgehend durch von den Kirchen und Religionsgemeinschaften erlassene Rechtsnormen geregelt. Diese stellen aber, wie ausgeführt, kein eigenständiges kirchliches Recht dar, sondern werden von Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Grund der ihnen insoweit nach staatlichem Recht zukommenden Befugnisse erlassen. Die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften in diesen Sachbereichen begründeten oder eingegangenen rechtlichen Beziehungen sind daher auch nicht aus dem Bereich des staatlichen Rechts herausgenommen, sondern stellen Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechtskreises dar, z. B. kirchliche Beamtenverhältnisse oder privatrechtliche Dienst- oder Arbeitsverhältnisse 27. Erst recht gilt dies für die ebenfalls zu den eigenen Angelegenheiten zählende kirchliche Vermögensverwaltung, die sich, wie dargelegt, in den Formen des staatlichen Rechts vollzieht 28 . Bezüglich aller dieser Materien handeln Kirchen und Religionsgemeinschaften also zwar gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV selbständig, aber 25 So ist auch die Rechtsprechung verschiedentlich verfahren, vgl. z. B. BVerfGE Bd. 18, S. 388; BVerwGE Bd. 25, S. 230 f. 28 So aber B G H Z Bd. 34, S. 373. Dagegen ausdrücklich v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 267. 27 Vgl. oben S. 127 ff. 28 Vgl. oben S. 130 f.
144
5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Internbereich
nicht im Bereich eigenständig-kirchlichen, sondern als Rechtssubjekte des staatlichen Rechts. Das „Ordnen und Verwalten" dieser Materien vollzieht sich nicht außerhalb, sondern innerhalb der staatlichen Rechtsordnung, mit den Mitteln und den Formen des staatlichen Rechts. Aus den den Kirchen und Religionsgemeinschaften insoweit zukommenden Befugnissen kann daher, anders als in bezug auf den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten, nicht der Ausschluß der staatlichen Gerichtsbarkeit gefolgert werden. Wie für alle anderen Rechtssubjekte des staatlichen Rechts gilt hier vielmehr auch für die Kirchen und Religionsgemeinschaften das durch Art. 92 GG statuierte Rechtsprechungsmonopol des Staates 29 . Danach unterliegen alle auf zum staatlichen Rechtskreis gehörige Rechtsverhältnisse bezüglichen Rechtsstreitigkeiten der Jurisdiktion der staatlichen Gerichte, deren Zuständigkeit sich kein staatliches Rechtssubjekt durch die Errichtimg eigener rechtsprechender Organe entziehen kann. Dies gilt auch für die Kirchen und Religionsgemeinschaften 80. Rechtsstreitigkeiten in bezug auf die vermögensrechtliche Seite der Dienstverhältnisse der geistlichen Amtsträger von Kirchen und Religionsgemeinschaften, in bezug auf die Dienstverhältnisse der kirchlichen Laienbediensteten sowie bezüglich der in Wahrnehmung der kirchlichen Vermögensverwaltung eingegangenen Rechtsverhältnisse unterliegen daher der Jurisdiktion der staatlichen Gerichte 81 . Kirchen29
Vgl. die Nachweise oben S. 142, Anm. 22. Vgl. H. Weber, N J W 1967, S. 1645 f.; ders., NJW 1967, S. 1672; dersNJW 1969, S. 1363; Scheuner, DÖV1967, S. 591; ders., W d S t R L Heft 26 (1968), S. 141 f. (Diskussion); Scheven, ZBR, 1967, S. 163; von Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 269 f.; ders., Bayerische Verwaltungsblätter 1968, S. 222 f.; Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 307; Hollerbach, W d S t R L , Heft 26 (1968), S. 72 f. 31 Gewisse Schwierigkeiten bereitet die Frage, ob die staatlichen Gerichte hierbei auch durch eigenständig-kirchliches Recht geregelte Sachverhalte in die Prüfung einbeziehen dürfen, wenn diese eine Tatbestandsvoraussetzung der ins weltliche Recht gehörigen Rechtspositionen büden. Solche Überschneidungen kommen vor allem, wie gezeigt (vgl. oben S. 127), bei Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche der geistlichen Amtsträger gegen ihre Kirche oder Religionsgemeinschaft in Betracht. Hier müssen die folgenden Grundsätze gelten: Vor den staatlichen Gerichten zulässig sind alle Klagen, deren Streitgegenstand ein aus einem Dienstverhältnis eines geistlichen Amtsträgers folgender vermögensrechtlicher Anspruch ist. Hierbei bezieht sich die Prüfungsbefugnis der staatlichen Gerichte zunächst auf jene Rechtsfragen, die die Ausgestaltung des vermögensrechtlichen Anspruchs unmittelbar betreffen. So kann das Gericht die Berechnung des Gehalts, die Festsetzung des Besoldungsdienstalters, den Anspruch auf Zuschläge oder die Zulässigkeit und die richtige Berechnung von innerkirchlichen Abzügen, etwa für die Gewährung einer Dienstwohnung, überprüfen. Die Prüfungsbefugnis der staatlichen Gerichte ist jedoch nicht auf diese Fragen beschränkt. Ihnen muß um der Effektivität des Rechtsschutzes wülen vielmehr grundsätzlich auch die Möglichkeit zuerkannt werden, jene A n 80
2. Kap.: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
145
rechtliche Rechtsvorschriften, die für die genannten Rechtsverhältnisse dennoch die Errichtung eines ausschließlichen kirchlichen Rechtswegs bezwecken würden, w ä r e n f ü r die Eröffnung des staatlichen Rechtswegs durch staatliches Recht ohne W i r k u n g , d. h. unbeachtlich 3 2 . b) Diese Auffassung widerspricht der Ansicht, die der Bundesgerichtshof u n d das Bundesverwaltungsgericht z u einem Teilbereich der soeben behandelten Fragen, nämlich i n bezug auf den Rechtsweg f ü r die v e r mögensrechtlichen Ansprüche der Geistlichen u n d Kirchenbeamten, v e r treten haben. W i e der Bundesgerichtshof i n der Entscheidimg v o m 16. 3. 1961 ausgeführt hat, gehe das Grundgesetz „von der grundsätzlichen Gleichordnung von Staat u n d Kirche als eigenständigen G e w a l t e n aus". D i e Karchen seien der staatlichen Hoheitsgewalt daher grundsätzlich nicht m e h r
spruchsvoraussetzungen, die eigenständig-kirchlichem Recht unterliegen, einer inzidenten Prüfung zu unterziehen. Die staatlichen Gerichte besitzen demnach grundsätzlich die Befugnis, Vorschriften des eigenständig-kirchlichen Rechts, soweit sie Tatbestandsvoraussetzungen der überprüften vermögensrechtlichen Ansprüche bilden, in deren rechtliche Untersuchung inzidenter einzubeziehen und der Entscheidung zugrundezulegen. Eine solche Befugnis der staatlichen Gerichte ist keine Besonderheit. Sie findet sich in entsprechender Form etwa bei der Prüfung jener Rechtsfragen, die sich nicht ausschließlich nach deutschem, sondern teilweise auch nach ausländischem Recht richten. Auch hier wendet das deutsche Gericht Rechtsnormen an, die nicht zu seinem eigentlichen, d. h. dem innerstaatlichen Jurisdiktionsbereich, gehören. Das eigenständig-kirchliche Recht kann in dieser Hinsicht keine grundsätzliche Privilegierung genießen und vom staatlichen Recht aus als „unberührbar" gelten. Dabei muß allerdings die Befugnis zur inzidenten Prüfung eigenständigkirchlicher Rechtsätze angesichts des Verfassungsgrundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates auf jene kirchlichen Rechtsvorschriften beschränkt werden, die keinen bekenntnisgebundenen Inhalt haben. Soweit es sich um Rechtsvorschriften handelt, deren Auslegung und Anwendung religiöse, damit bekenntnisgebundene Wertungen voraussetzt und impliziert, müssen die staatlichen Gerichte von einer eigenen Auslegung absehen und die durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften vorgenommene Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften ihrer Entscheidung als feststehenden Tatbestand zugrundelegen. Dies bedeutet, daß die staatlichen Gerichte inzidenter etwa prüfen könnten, ob eine formelle Berufung ins kirchliche Amtsverhältnis stattgefunden hat oder ob die formellen Voraussetzungen (etwa ein bestimmtes Alter) für den Eintritt des Ruhestandes gegeben waren. Sie könnten ihre Prüfung dagegen nicht auch die Frage erstrecken, ob die von einer Kirche wegen einer Lehrbeanstandung ausgesprochene Entlassung eines Pfarrers zu Recht erfolgt ist. Dagegen könnten sie prüfen, ob ein Lehrbeanstandungsverfahren stattgefunden hat. Noch einmal sei aber betont, daß diese inzidente Prüfung eigenständig-kirchlichen Rechts nur bei Rechtsstreitigkeiten erfolgen darf, deren Streitgegenstand ein vermögensrechtlicher Anspruch ist. Damit sind „verkappte" Statusklagen als unzulässig abzuweisen. Vgl. zu diesen Fragen auch H. Weber, S. 147 f. 32 So auch von Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 267 f.; a. A. Gert Meier, DVB1.1967, S. 709 unter (hier) abwegiger Berufung auf das „Prinzip der loyalen Partnerschaft" zwischen Staat und Kirche. 10 Jurlna
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5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Internbereich
unterworfen, „sondern regeln ihre Angelegenheiten selbständig und in eigener Verantwortung" 33 . Dies gelte auch für den gesamten Bereich der kirchlichen Organisation mitsamt dem kirchlichen Ämterrecht. Innerhalb der Grenzen des „für alle geltenden Gesetzes" komme den Kirchen daher das Recht zu, „den kirchlichen Dienst selbständig zu ordnen, insbesondere auch die aus dem Dienstverhältnis sich ergebenden vermögensrechtlichen Ansprüche der Geistlichen und Kirchenbeamten zu regeln. Damit steht es ihnen auch frei, die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über derartige vermögensrechtliche Ansprüche ihrer Amtsträger einem eigenen Gericht zuzuweisen. Mit ihrer Zuweisung an eigene kirchliche Gerichte werden diese Streitigkeiten der Jurisdiktionsgewalt des Staates entzogen, für dessen Gerichte die Zuständigkeit zur Entscheidung über derartige Streitigkeiten nur so lange begründet ist, als die Kirche die Zuständigkeit eigener kirchlicher Gerichte nicht begründet hat" 3 4 . Diese Auffassung wurde im Urteil vom 19.9.1966 ausdrücklich bestätigt. Danach können die Kirchen auf Grund des ihnen durch Art. 140 GGl 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts in eigenen Angelegenheiten „Streitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche ihrer Amtsträger durch eigene Gerichte entscheiden lassen. Sie könen diese Streitigkeiten aber auch staatlichen Gerichten zur Entscheidung überlassen, sofern und soweit der Staat damit einverstanden ist" 35 . Danach ist es Sache der Kirchen, über die Art des für vermögensrechtliche Ansprüche der kirchlichen Amtsträger bestehenden Rechtswegs zu entscheiden: Sie können diesen Rechtsschutz eigenen kirchlichen Gerichten vorbehalten und die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte ausschließen. Sie können aber auch den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten zulassen, d. h. durch Vereinbarimg mit dem Staat diesen Rechtsweg begründen. Ausdrude der prinzipiellen Bereitschaft des Staates, für derartige Rechtsstreitigkeiten seine Gerichte „zur Verfügung zu stellen", ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs die Vorschrift des § 135 BRRG 3 6 . Satz 1 dieser Vorschrift schließt die Geltung des staatlichen Beamtenrechts für die öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften und ihre Verbände aus. Satz 2 eröffnet jedoch die Möglichkeit der pauschalen Übernahme staatlichen Rechts: „Diesen (sc. den Religionsgesellschaften und ihren Verbänden) bleibt es überlassen, die Rechtsverhältnisse ihrer Beamten und Seelsorger entsprechend zu regeln und die Vorschriften des Kapitels I I Abschnitt I I für anwendbar zu erklären." Diese Verweisung M
BGHZ Bd. 34, S. 373. BGHZ Bd. 34, S. 374. 35 BGHZ Bd. 46, S. 96,98 f. * BGHZ Bd. 46, S. 101.
M
2. Kap.: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
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betrifft die §§ 126 und 127 BERG, die den Rechtsweg für Klagen aus dem Beamtenverhältnis regeln und den Verwaltungsrechtsweg eröffnen. § 135 Satz 2 BRRG enthält nach Ansicht des Bundesgerichtshofs somit das „Angebot" des Staates an die Kirchen, staatliches Beamtenrecht in ihrem Bereich für anwendbar zu erklären und ihren Beamten den staatlichen Rechtsweg zu eröffnen. Durch diese Regelung sei den Kirchen die „Entscheidung überlassen..., ob sie für die in Frage stehenden Streitigkeiten sich der staatlichen Gerichtsbarkeit unterwerfen wollen" 37 . Ebenso hat sich das Bundesverwaltungsgericht geäußert 38 . Auch dieses Gericht bejaht in den von ihm entschiedenen Fällen den Verwaltungsrechtsweg für vermögensrechtliche Ansprüche von Geistlichen nur deshalb, weil er „kraft erkennbarer Willenseinigung zwischen Staat und Kirche", d. h. durch die „Annahme" des in § 135 Satz 2 BRRG enthaltenen „Angebots" durch die jeweils beteiligte Kirche eröffnet worden sei 89 . An die Form der Erklärung des kirchlichen Einverständnisses stellen weder der Bundesgerichtshof noch das Bundesverwaltungsgericht allzu hohe Anforderungen: Eine Vereinbarung über den Rechtsweg sei — bei Fehlen einer ausdrücklichen kirchengesetzlichen Regelung — schon dann anzunehmen, „wenn und soweit eine Kirche schon vor dem Inkrafttreten des § 135 Satz 2 BRRG auf Grund überkommenen Rechts die Entscheidungskompetenz staatlicher Gerichte stets bejaht hatte und dies seither nicht ausdrücklich geändert hat" 4 0 . Dieser vom Bundesgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht vertretenen Ansicht haben sich einige Autoren angeschlossen41. Der überwiegende Teil des staatskirchenrechtlichen Schrifttums lehnt jedoch die vom Bundesgerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Thesen ab 4 2 und vertritt die oben dargelegte Auffassung, daß Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche der kirchlichen Amtsträger Rechtsstreitigkeiten des staatlichen Rechts darstellen und folglich der Jurisdiktion der staatlichen Gerichte nicht entzogen werden können. I n der Tat kann die Ansicht des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts nicht überzeugen. Der entscheidende Fehler in den 37
B G H Z Bd. 46, S. 102 f. BVerwGE Bd. 25, S. 226; 28, S. 345; 30, S. 326. 39 BVerwGE Bd. 25, S. 233; inhaltlich ebenso BVerwGE Bd. 28, S. 346,348. 40 BVerwGE Bd. 25, S. 233; vgl. auch B G H Z Bd. 46, S. 103. 41 Maurer, DVB1. 1961, S. 625; dersJZ 1967, S. 408; Gert Meier, DVB1. 1967, S. 706; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 345. 42 Scheven, ZBR 1967, S. 163; Scheuner, D Ö V 1967, S. 591; ders., W d S t R L Heft 26 (1968), S. 142 (Diskussion); v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 267 ff.; H. Weber, N J W 1967, S. 1641 ff.; ders., NJW 1967, S. 1672; Pirson, Festschrift für Ruppel, S. 307; Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 72 ff. 38
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5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Internbereich
Ausführungen insbesondere des Bundesgerichtshofs ist darin zu erblicken, daß er eine genauere rechtliche Analyse der den Kirchen und Religionsgemeinschaften in bezug auf ihr internes Dienstrecht nach Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zukommenden Befugnisse unterläßt 43 und sich statt dessen mit einem pauschalen Hinweis auf das kirchliche „Selbstbestimmungsrecht" 44, kraft dessen das kirchliche Ämterrecht zu den „der eigenverantwortlichen Regelung durch die Kirchen unterliegenden Angelegenheiten" gehöre 45, begnügt. So wird übersehen, daß zwar das kirchliche Ämterrecht zu den eigenen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften gehört, dies aber nicht die völlige Exemtion der kirchlichen Dienstverhältnisse aus dem staatlichen Rechtskreis bewirkt. Eigenständig-kirchlichem, also nicht staatlichem Recht unterliegt lediglich der Grundstatus der geistlichen Amtsträger von Kirchen und Religionsgemeinschaften, der dem Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zuzurechnen ist. Die vermögensrechtliche Seite des Dienstverhältnisses der geistlichen Amtsträger dagegen sowie das gesamte Dienstverhältnis der kirchlichen Laienbediensteten richten sich nach zum staatlichen Rechtskreis gehörigen, wenn auch von den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst geschaffenen Rechtsvorschriften, so daß die hier bestehenden rechtlichen Beziehungen als Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechts zu qualifizieren sind. Dies bedingt, wie ausgeführt, die durch kirchliche Gerichte nicht ausschließbare Jurisdiktion der staatlichen Gerichte über Rechtsstreitigkeiten in bezug auf die genannten Rechtsverhältnisse. Die vom Bundesgerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Ansicht, § 135 Satz 2 BRRG eröffne den Kirchen die Wahl zwischen dem kircheneigenen und dem staatlichen Rechtsweg, indem er ihnen die Unterstellung der vermögensrechtlichen Streitigkeiten aus den kirchlichen Dienstverhältnissen unter die staatliche Gerichtsbarkeit lediglich „anbiete", ist danach unzutreffend. Diese Auslegung von § 135 Satz 2 BRRG verstößt gegen den in Art. 92 GG enthaltenen Grundsatz, daß Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechts allein der Gerichtsbarkeit des Staates unterliegen und ist daher verfassungswidrig 46. Die vom Bundesgerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Auslegung von § 135 Satz 2 BRRG harmoniert nicht einmal mit dem Wortlaut dieser Vorschrift. Diese unterscheidet nicht zwischen der Möglichkeit, das materielle Beamtenrecht des Staates zu übernehmen und der Möglichkeit, den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten zuzu48
Dies wird auch von H. Weber, NJW 1967, S. 1645 gerügt. BGHZ Bd. 46, S. 98. 45 BGHZ Bd. 34, S. 374. 4 ® Ebenso H. Weber, NJW 1967, S. 1645; dersNJW 1967, S. 1672. - Zu § 135 BRRG vgl. ferner v. Campenhausen, Festschrift für Ruppel, S. 268 mit weiteren Nachweisen. 44
2. Kap.: Die kircheneigene Gerichtsbarkeit
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lassen, sondern nennt beide Vorgänge in einem. § 135 Satz 2 BRRG läßt sich daher unschwer dahin deuten, daß die Kirchen und die öffentlichrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften, wenn sie die für die Staatsbeamten geltenden Vorschriften des Beamtenrechtsrahmengesetzes auf die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und der Kirchenbeamten erstrecken, auch die prozessualen Vorschriften der §§ 126 und 127 dieses Gesetzes zu übernehmen haben 47 , die keineswegs nur die (heute durch § 40 VwGO ohnehin überholte) Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs für beamtenrechtliche Rechtsstreitigkeiten betreffen, sondern auch andere prozessuale Fragen, etwa das Vorverfahren und die Revision zum Bundesverwaltungsgericht, regeln. Diese Vorschrift erscheint so in der Tat als ein „Angebot" des Staates an die Kirchen und öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften — freilich nicht als Angebot, zum staatlichen Recht gehörige Rechtsverhältnisse der Jurisdiktion der staatlichen Gerichte entziehen zu dürfen, sondern als Angebot, die in jedem Fall dem staatlichen Recht zugehörigen vermögensrechtlichen Dienstverhältnisse der geistlichen Amtsträger und die Rechtsverhältnisse der übrigen Kirchenbeamten rechtstechnisch in besonderer Weise, nämlich durch pauschalen Verweis auf das staatliche Beamtenrecht, regeln zu können. c) Besondere kirchliche, die sonst zuständigen staatlichen Gerichte verdrängende Gerichte etwa für Rechtsstreitigkeiten aus den kirchlichen Beamtenverhältnissen könnten höchstens auf dem Wege errichtet werden, auf dem jedenfalls das Bundesverfassungsgericht die Ersetzung der staatsunmittelbaren Gerichtsbarkeit durch mittelbar staatliche Gerichte etwa einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für mit dem Grundgesetz vereinbar hält 4 8 . Solche Gerichte müßten, da sie Gerichte für ein besonderes Sachgebiet im Sinn von Art. 102 Abs. 2 GG darstellten, durch ein staatliches Gesetz errichtet werden 49 . Dieses Gesetz müßte zugleich mit der Errichtung dieses besonderen kirchlichen Gerichts dessen sachliche und örtliche Zuständigkeit, die Zusammensetzung seiner Spruchkörper sowie Einzelheiten der Auswahl und Ernennung der an diesem Gericht tätigen Richter regeln 50 . 47
Vgl. ff. Weber, NJW1967, S. 1645. Vgl. BVerfGE Bd. 4, S. 92; Bd. 10, S. 200; Bd. 14, S. 66; Bd. 18, S. 242; Bd. 22, S. 42. Dagegen vertritt insbes. Bettermann die Auffassung, daß Art. 92 GG die Übertragung der rechtsprechenden Gewalt auf nichtstaatliche Selbstverwaltungsträger ausschließe, vgl. Die Grundrechte, Bd. I I I / 2 , S. 629; ders., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1724; ders., AöR N F Bd. 92, S. 538 ff. 49 Vgl. auch Höllerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 73. Dort findet sich auch der Hinweis, daß zur Einsetzung solcher Gerichte eine Vereinbarung zwischen Staat und Kirche in Frage käme. 50 Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 257; Bd. 22, S. 47 f. 49
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5. Teil: Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Internbereich
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wäre ein solches Gericht ferner nur dann ein „staatliches" Gericht gemäß Art. 92 GG, wenn es in personeller Hinsicht an den Staat gebunden, d. h. „personell vom Staat entscheidend bestimmt" wäre. Staatliche Stellen müßten daher — jedenfalls, wenn keine Rechtsmittel zu den staatsunmittelbaren Gerichten eingeräumt wären — an der Ernennung der Richter wenigstens in der Form der Bestätigung beteiligt sein 51 . Gemäß Art. 20 Abs. 2 GG müßten solche besonderen kirchlichen Gerichte ferner von den kirchlichen Verwaltungsbehörden organisatorisch genügend getrennt und müßte ein Minimum an sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit der an diesen Gerichten tätigen Richter gewährleistet sein 62 . Die Einsetzung solcher besonderer kirchlicher Gerichte, die hiernach rechtlich grundsätzlich möglich erscheint, ist bislang jedoch nicht erfolgt. 3. Nach den soeben entwickelten Grundsätzen beantwortet sich auch die Frage, in welchem Umfang Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich der gemeinsamen Angelegenheiten gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV der ausschließlichen Gerichtsbarkeit kirchlicher Gerichte unterliegen. Eine Zuständigkeit kirchlicher Gerichte kommt in Betracht, soweit die kirchliche „Seite" einer den gemeinsamen Angelegenheiten zuzurechnenden Materie eigenständig-kirchlichem Recht unterliegt. Das gilt etwa für das religiöse Bestattungszeremoniell und für die Frage der Erteilung oder der Verweigerung der „missio canonica" oder der Vokation für Religionslehrer. Dagegen kann die kirchliche Gerichtsbarkeit nicht auf jene Sachgebiete erstreckt werden, deren Wahrnehmung den Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Staat übertragen ist. Somit unterliegen etwa Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich der Friedhofsverwaltung 58 oder aus dem Bereich des Kirchensteuerrechts 54 der Zuständigkeit nicht der kirchlichen, sondern der staatlichen Gerichte.
51 Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 253. — Die Anforderungen wären demnach möglicherweise geringer, wenn das kirchliche Gericht nur mit einer Vorentscheidung betraut wäre, die den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten offenließe, vgl. auch den Hinweis bei Scheuner, DÖV1967, S. 591. « Vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 254. M Vgl. BVerwG, D Ö V 1967, S. 575. 54 Vgl. die Nachweise bei Marrö-Hoffacker, S. 245 f.
SECHSTER T E I L
Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes Die bisherigen Erörterungen dieser Untersuchung haben gezeigt, daß Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV den Kirchen und Religionsgemeinschaften zahlreiche, zum Teil sehr weit reichende Befugnisse zur selbständigen rechtlichen Ausgestaltung des Bereichs der eigenen Angelegenheiten verbürgt. Diese Vorschrift garantiert aber nicht nur die Freiheit des „Ordnens" und des „Verwaltens" im Internbereich. Sie bindet vielmehr die Ausübung dieser Befugnisse zugleich an die Beachtung der „Schranken des für alle geltenden Gesetzes". Erst eine Bestimmung des Inhalts dieser Schrankenklausel, die, wie oben ausgeführt, bislang nicht immer in befriedigender Weise gelungen ist, ermöglicht es daher, den Umfang der den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV wirklich garantierten Freiheit zutreffend zu erkennen. I. Die in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ausgesprochene Bindimg an die Schranken des für alle geltenden Gesetzes verpflichtet die Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Beachtung jener staatlichen Rechtsregeln, die um des weltlichen Gemeinwohls willen, für das der Staat Verantwortung trägt, auch für das rechtliche Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften gelten müssen1. Die Aufgabe der Schrankenklausel ist es also, die von der Verfassung gewährleistete Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften der Gewährleistung jener anderen Güter zuzuordnen, die ebenfalls zu der von der staatlichen Verfassung konstituierten und garantierten Ordnung des staatlichen Gemeinwesens gehören 2. Die durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV gewährten oder garantierten Befugnisse stehen daher von vornherein unter dem Vorbehalt der Beachtung bestimmter, auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften verpflichtender staatlicher Rechtsvorschrif ten. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV keine Aufhebung der den Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Internbereich grundsätzlich garantierten 1
Vgl. Höllerbach, , S. 120 f.; ders., W d S t R L Heft 26 (1968), S. 62. I n Anlehnung an Hesse, ZevKR Bd. 11 (1964/65), S. 357. Vgl. auch Hollerbach , W d S t R L Heft 26 (1968), S. 62. 2
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6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes
Freiheit beabsichtigt, sondern lediglich die Betätigung dieser Freiheit an die Beachtung bestimmter Grenzen binden will 8 . Die Auslegung der Schrankenklausel hat also darauf zu achten, daß die den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Internbereich zukommende Freiheit durch staatliche Schrankengesetze nicht über Gebühr eingeengt oder gar nur formell aufrechterhalten, in Wirklichkeit aber ganz beseitigt wird. Das bedeutet aber nicht, daß die somit vorzunehmende Bestimmung der Grenze zwischen kirchlicher Freiheit und notwendiger staatlicher Beschränkung um dieser den Kirchen und Religionsgemeinschaften grundsätzlich verbürgten Freiheit willen zu einer „gemeinsamen" Angelegenheit von Staat und Kirche würde, die Anwendung der Schrankenklausel in einem konkreten Fall also vom Einverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften mit der Geltung eines Schrankengesetzes abhinge4. Als Frage danach, welcher Status den Kirchen und Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht zukommt, muß die Bestimmung der Art und des Umfangs der Geltung des für alle geltenden Gesetzes auch für die Kirchen und Religionsgemeinschaften vielmehr als Rechtsfrage allein des staatlichen Rechts betrachtet und den zur Anwendung der Schrankenklausel im Einzelfall berufenen staatlichen Organen zugewiesen werden. Diese haben den Inhalt der Schrankengesetze im Wege der Auslegung von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu ermitteln 5 . Somit kommt, entgegen den oben angeführten anderslautenden Meinungen6, auch heute noch das „iudicium finium regundorum" bei der Bestimmung des Inhalts der Schrankenklausel dem „Staat" zu, was freilich auch hier 7 nicht bedeutet, daß er hierbei willkürlich verfahren, einfachhin nur eigene „Interessen" berücksichtigen dürfte. Der Staat bzw. seine Organe haben vielmehr die Rechtsfrage zu prüfen, in welchem Umfang bei grundsätzlicher Wahrung der Selbständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten um des weltlichen Gemeinwohls willen eine Beschränkung dieser Selbständigkeit durch staatliche Rechtsvorschriften angenommen werden muß. Die Aufgabe der zur Auslegung und Anwendung des für alle geltenden Gesetzes auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften berufenen Staatsorgane ist es also nicht, über die Grenze der kirchlichen Selbständigkeit lediglich zu entscheiden, sondern die Rechtsfrage zu beantworten, wie durch Abwägung aller für den Einzelfall relevanten Gesichtspunkte „Eigenrechts8
Vgl. auch Quaritsch, Der Staat 1962, S. 293 f., 295. Gegen eine solche Auffassung auch M . Heckel, S. 235. 5 So auch M . Heckel, S. 234 f.; Zippelius, ZevKR Bd. 9 (1962/63), S. 60; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 298 ff. 6 Vgl. oben S. 41. 7 Vgl. oben S. 62. 4
6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes macht der Kirche und Eigenrechtsmacht des Staates" zum Ausgleich zu bringen ist 8 . Dabei wird eine gewisse Kooperation mit kirchlichen Stellen 9 oder eine vertragliche Interpretation des Anwendungsbereichs der Schrankenklausel 10 praktisch von Nutzen sein, ohne daß daraus auf eine rechtlich gebotene Beteiligung der Kirchen und Religionsgemeinschaften geschlossen werden dürfte. Insbesondere steht jede vertragliche Festlegung der Anwendungsfälle der Schrankenformel unter dem Vorbehalt ihrer Übereinstimmung mit der Verfassung, d. h. mit Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Ein Versuch, den Inhalt und die Bedeutung der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu bestimmen, darf freilich nicht bei solchen allgemeinen Abwägungsformeln stehen bleiben 11 . Vielmehr ist schon im Interesse der Rechtssicherheit in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche nach genaueren Aussagen darüber zu suchen, was die Beschränkung der Freiheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften durch das staatliche für alle geltende Gesetz im einzelnen bedeutet. Dabei empfiehlt es sich, nicht zusätzlich zu den oben beschriebenen neue abstrakte Formeln zu entwickeln, deren Anwendung auf den Einzelfall oftmals große Schwierigkeiten bereitet, sondern die Bedeutung der Schrankenklausel an Hand einzelner Fallgruppen zu verdeutlichen, wie dies auch sonst bei der Konkretisierung von Generalklauseln notwendig ist. Dabei können freilich die möglichen Fallgestaltungen hier nicht erschöpfend beschrieben, sondern nur einzelne Beispiele angeführt werden. Die Möglichkeit der Übertragung der so gewonnenen Ergebnisse auf neue Fallgestaltungen muß dann im Einzelfall sorgsam geprüft werden. II. Nach dem Wortlaut von Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V gelten die Schranken des für alle geltenden Gesetzes nur für den eigenen Bereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist somit unanwendbar, aber auch überflüssig, wo die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht in Wahrnehmung eigener Angelegenheiten handeln. 1. Kein Fall der Anwendung der Schrankenklausel ist somit etwa die Geltung staatlichen Rechts für die Kirchen und Religionsgemeinschaften in jenen Fällen, in denen sie kraft besonderer Belehnung staatliche Angelegenheiten wahrnehmen 12 , also öffentlich-rechtliche Befugnisse ausüben. Hierbei unterliegen die Kirchen und Religionsgemeinschaften allen 8
Vgl. Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 62. Vgl. M. Heckel, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 44. 10 Vgl. Mikat, Kirche und Staat, S. 22 f. 11 Vgl. auch die Kritik von Quaritsch, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 113 (Diskussion) und Hesse, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 138 (Diskussion). 12 Vgl. auch Hesse, JöR N F Bd. 10 (1961), S. 25. 9
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6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes
einschlägigen Vorschriften des staatlichen Rechts, insbesondere auch den Grundrechten 13. So sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften etwa bei der Anlage und der Verwaltung der kirchlichen Friedhöfe an alle Vorschriften des staatlichen Bestattungsrechts, aber auch an die Regeln des allgemeinen staatlichen Verwaltungsrechts und an die Grundrechte gebunden14. Prinzipiell derselbe Rechtszustand gilt für das kirchliche Besteuerungsrecht. Dieses ist zwar, wie dargelegt, hinsichtlich seines Anknüpfungspunktes, des innerkirchlichen Rechts zur Abgabenerhebung nämlich, eine eigene Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften 15. Dagegen beruht die Qualifizierung dieser kircheninternen Befugnis zu einem zwangsweise durchsetzbaren Besteuerungsrecht allein auf der Verleihung staatlicher Steuerhoheit an die Kirchen und die öffentlich-reditlich organisierten Religionsgemeinschaften, entsteht das Besteuerungsrecht also durch die Übertragung staatlicher Hoheitsgewalt an Kirchen und Religionsgemeinschaften. Es existiert folglich nur in dem Umfang und in den Grenzen, die durch das staatliche Recht bestimmt werden. Hierbei ist die auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bejahte Grundrechtsbindung der kirchlichen Gewalt von besonderer Bedeutung1®. 2. Ähnlich ist die Rechtslage dann, wenn die Kirchen und Religionsgemeinschaften bzw. deren Organe innerhalb eines durch das staatliche Recht geregelten Sachbereichs tätig werden, ohne hierbei und hierdurch eigene Angelegenheiten wahrzunehmen. Die Geltung der Vorschriften des staatlichen Rechts auch für die Kirchen und Religionsgemeinschaften folgt dann ohne weiteres daraus, daß der betreffende Sachbereich durch staatliches Recht geregelt ist. Als Beispiel hierfür ist etwa die Teilnahme von Geistlichen und anderen kirchlichen Würdenträgern am Straßenverkehr anzuführen. Sie sind wie alle anderen Verkehrsteilnehmer zur Beachtung des Straßenverkehrsrechts verpflichtet. Dies gilt selbst dann, wenn die Fahrt zum Zweck der Ausübung einer religiösen Funktion erfolgt, etwa wenn der Pfarrer zu seiner Kirche fährt, um dort den Gottesdienst zu halten oder zu einem Kranken, um ihm die Sterbesakramente zu bringen. Auch in diesen Fällen wird die eigene Angelegenheit (Gottesdienst und Sakramentsspendung) nicht durch die Teilnahme am Straßenverkehr besorgt. Zu dieser Fallgruppe zählt auch die Geltung des staatlichen Strafrechts für die Organe der Kirchen und Religionsgemeinschaften. 1S
Vgl. auch H. Weber, S. 149 f.; Säcker, DVB1.1969, S. 5. Vgl. Bundesverwaltungsgericht, DVB1. 1967, S. 451; Martens, S. 149; Säcker, DVB1.1969, S. 5. 15 Vgl. oben S. 66 f. 16 Vgl. BVerfGE Bd. 19, S. 206; Bd. 19, S. 268. Dies ist im übrigen ganz herrschende Meinung, vgl. auch die Nachweise bei Säcker, DVB1.1969, S. 5. 14
6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes I I I . Dagegen gilt die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nach dem Wortlaut dieser Vorschrift grundsätzlich überall dort, wo die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Wahrnehmung eigener Angelegenheiten rechtlich tätig werden. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß der gesamte Bereich der eigenen Angelegenheiten gleichermaßen staatlichen Schrankengesetzen unterliegt. Vielmehr ist nach den einzelnen Gruppen eigener Angelegenheiten i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu unterscheiden. 1. Die Anwendung der Schrankenklausel bereitet insoweit keine prinzipiellen Schwierigkeiten, als die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Wahrnehmung eigener Angelegenheiten zwar selbständig, aber mittels Rechtsakten des staatlichen Rechts tätig werden. Die Geltung der Schrankenklausel bedeutet hier, daß die gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV grundsätzlich freie rechtliche Ausgestaltung dieser Materien durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften ebenso grundsätzlich alle zwingenden, für die betreffenden Sachbereiche allgemein geltenden Vorschriften des staatlichen Rechts zu beachten hat. Angesichts der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV enthaltenen Entscheidung zugunsten grundsätzlicher Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften dürfen diese staatlichen Rechtsvorschriften allerdings nicht schematisch auf die kirchlichen Rechtsverhältnisse erstreckt werden. Vielmehr muß im Einzelfall geprüft werden, ob und inwieweit die Anwendung einer staatlichen Rechtsnorm auf ein kirchliches Rechtsverhältnis mit der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V enthaltenen Garantie der prinzipiellen Selbständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten vereinbar ist. I n Entsprechung zu der bekannten, vom Bundesverfassungsgericht für die Auslegung von Art. 5 GG entwickelten Formel 17 ist also die Wechselwirkung zwischen grundsätzlicher Verbürgung der Freiheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten und der Beschränkung dieser Freiheit durch das für alle geltende Gesetz zu beachten. Die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV muß daher im Licht der in dieser Norm verbürgten Selbständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften gesehen und damit in ihrer diese Freiheit begrenzenden Wirkung selbst wiederum eingeschränkt werden. Es ist ferner zu beachten, daß als die Freiheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften einschränkende Regeln keineswegs immer nur allgemeine, „für jedermann" geltende Vorschriften des staatlichen Rechts in Betracht kommen. Vielmehr ist es durchaus möglich, daß das staatliche Recht selbst die in einem bestimmten Sachbereich allgemein geltenden Regeln für die Kirchen und Religionsgemeinschaften modifiziert und so 17
Vgl. BVerfGE Bd. 7, S. 208 f.; ferner z. B. auch M . Heckel, S. 227.
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6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes
die soeben allgemein beschriebene Abwägung zwischen der Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften und deren notwendiger Einschränkung in Spezialvorschriften bereits ausdrücklich vollzieht. Für „alle" geltendes Gesetz i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV sind dann nicht mehr die allgemeinen, sondern gerade nur für die Kirchen und Religionsgemeinschaften geltende, besondere Rechtsregeln. Aus diesen Grundsätzen folgt für die Anwendung der Schrankenklausel im einzelnen: a) Die privatrechtlich ausgestalteten kirchlichen Dienst- und Arbeitsverhältnisse unterliegen allen zwingenden Regeln des staatlichen Arbeitsrechts. So gelten z. B. die Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes, des Bundesurlaubsgesetzes, des Mutterschutzgesetzes, des Jugendarbeitsschutzgesetzes, ebenso die Vorschriften des staatlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungsrechts, soweit ihre Geltung für die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist 18 . Manche dieser Regeln müssen allerdings im Hinblick auf die Eigenarten der kirchlichen Dienst- und Arbeitsverhältnisse eine inhaltliche Modifizierung erfahren. So müssen etwa jene in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründe, die eine Kündigung nach § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz als sozial gerechtfertigt erscheinen lassen, für ein Arbeitsverhältnis mit einer Kirche anders bestimmt werden als für den Arbeitnehmer eines weltanschaulich neutralen erwerbswirtschaftlichen Betriebes. Eine gesetzliche Berücksichtigung der Besonderheiten kirchlicher Arbeitsverhältnisse findet sich in § 81 Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes, der die Religionsgesellschaften und ihre karitativen sowie erzieherischen Einrichtungen von der Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes ausnimmt. Für die kirchlichen Arbeits- und Dienstverhältnisse gelten grundsätzlich auch die allgemeinen Prinzipien des staatlichen Arbeitsrechts, so insbesondere auch die aus den Grundrechten abgeleiteten Regeln 19 . Freilich ist gerade bei der Anwendung der Grundrechte auf die Eigenarten der kirchlichen Arbeitsverhältnisse zu achten. b) Welchen staatlichen Schranken die von den Kirchen und öffentlichrechtlichen Religionsgemeinschaften begründeten Beamtenverhältnisse unterliegen, ist umstritten, wobei vor allem fraglich ist, ob diese kirchlichen Beamtenverhältnisse den in Art. 33 Abs. 5 GG garantierten Grundsätzen des Berufsbeamtentums unterliegen. Dies wird meist mit dem Hinweis darauf verneint, daß diese Vorschrift nur für das staatliche Berufsbeamtentum, also nicht für die keine 18 10
Vgl. z. B. die Ausschlußtatbestände der §§ 1229,1230 RVO. Vgl. den Überblick bei Hesse, Grundzüge, S. 139 f.
6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes staatlichen Funktionen wahrnehmenden Beamten der Kirchen und Religionsgemeinschaften gelte 20 . Diese Fragestellung verliert allerdings an Schärfe, wenn man bedenkt, daß die Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Ausgestaltung des kirchlichen Beamtenrechts nicht völlig frei sein können. Mit den Karchen und den Religionsgemeinschaften eingegangene Dienstverhältnisse können nur dann als Dienstverhältnisse von Beamten im öffentlich-rechtlichen, wenn auch nicht staatlichen Sinn qualifiziert werden, wenn die Ausgestaltung dieser Dienstverhältnisse gewissen Mindestanforderungen genügt, ohne die nach den Maßstäben des staatlichen Rechts ein Beamtenverhältnis nicht denkbar ist. Nur die Beachtung dieser Mindestanforderungen gibt die Möglichkeit, diese Dienstverhältnisse den ansonsten zwingend zur Geltung kommenden Vorschriften des staatlichen Arbeitsrechts zu entziehen. Zu diesen Mindestanforderungen sind insbesondere die grundsätzlich lebenslängliche Dauer des Dienstverhältnisses, die Verpflichtung zur Zahlung eines Ruhegehalts sowie die Übernahme einer Fürsorgepflicht zu zählen 21 . Da es sich hierbei um Regeln handelt, die zu den durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehören, läßt sich insoweit von einer entsprechenden Anwendung des Art. 33 Abs. 5 GG auf die kirchlichen Beamtenverhältnisse sprechen. Diese Einschränkung bewahrt die Kirchen und Religionsgemeinschaften davor, jeden einzelnen der für das staatliche Recht entwickelten beamtenrechtlichen Grundsätze in das kirchliche Beamtenrecht übernehmen zu müssen. Die Einzelregelungen des staatlichen Beamtenrechts besitzen dagegen schon kraft ausdrücklicher Vorschrift (§ 135 BRRG) keine Geltung für die Beamtenverhältnisse der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ihnen ist es allerdings freigestellt, die Regeln des Beamtenrechtsrahmengesetzes zu übernehmen. Da die kirchlichen Beamtenverhältnisse, wie dargelegt, auf der Körperschaftsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften beruhende Rechtsverhältnisse des staatlichen öffentlichen Rechts darstellen, gelten für sie prinzipiell auch die Grundrechte 22. Hierbei muß aber wiederum die Besonderheit der kirchlichen Beamtenverhältnisse berücksichtigt werden. So ist etwa aus der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV verbrieften Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ämterbesetzung ab20 Vgl. z. B. Maunz-Dürig-Herzog, Rdn. 45 zu Art. 33 GG; BVerwGE Bd. 28, S. 351. 21 Vgl. hierzu H. Weber, S. 122 f.; ders., N J W 1967, S. 1645. Hierbei ist zu beachten, daß diese Grundsätze, soweit die Kirchenbeamtenverhältnisse der geistlichen Amtsträger in Betracht kommen, nur für die vermögensrechtliche Seite gelten. « H. Weber, S. 149.
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6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes
zuleiten, daß Art. 33 Abs. 2 GG, der den gleichen Zugang zu den öffentlichen Ämtern garantiert, auf die kirchlichen Beamtenverhältnisse keine Anwendung finden kann, da in diesem Bereich jede staatliche Einwirkung auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften verfassungsrechtlich verboten ist. Aus demselben Grund kann für die Begründung eines kirchlichen Beamtenverhältnisses nicht der Gleichheitssatz, ebenso nicht der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau gelten 28 . Beide Rechtsgrundsätze kommen allerdings innerhalb der bestehenden Dienstverhältnisse zur Anwendung, so daß etwa für die Besoldung der Gleichheitssatz und das Verbot einer unterschiedlichen Besoldung von männlichen und weiblichen Beamten zu beachten ist 24 . Keine Geltung für die kirchlichen Beamtenverhältnisse kann auch das Grundrecht der Religionsfreiheit und das Verbot der Differenzierung nach konfessionellen Gesichtspunkten beanspruchen. Die Entlassung eines Kirchenbeamten wegen eines Konfessionswechsels etwa verstieße daher weder gegen Art. 4 GG noch gegen Art. 3 Abs. 3 GG oder gegen Art. 33 Abs. 3 GG. c) An die zwingenden Regeln des staatlichen Rechts gebunden ist auch die grundsätzlich freie kirchliche Vermögensverwaltung. So gilt für Rechtsgeschäfte über kirchliches Vermögen das staatliche Zivilrecht, für die Errichtung und Instandhaltung kirchlicher Bauwerke staatliches Bauund Baupolizeirecht. So haften die Kirchen und Religionsgemeinschaften für die von ihrem Eigentum ausgehenden Schädigungen und Beeinträchtigungen nach den allgemeinen staatlichen Rechtsvorschriften. 2. Schwierige Probleme wirft dagegen die Frage auf, ob die Schrankenklausel vom für alle geltenden Gesetz, wie dies der Wortlaut von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nahelegt, auch auf das Handeln von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten, also in bezug auf die Glaubenslehre, den Gottesdienst, die Sakramente, die Kirchenverfassung, den geistlichen Status der Träger der geistlichen Ämter sowie die kircheninterne Rechtsstellung der Kirchenangehörigen, anzuwenden ist. a) Dieser Kernbereich der eigenen Angelegenheiten untersteht, wie ausführlich dargelegt wurde, eigenständig-kirchlichem Recht, das von den Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Grund eigener kirchlicher, nicht vom Staat abgeleiteter Rechtsetzungsmacht erlassen wird. Die Grundlage dieses Rechts sind nicht die Ordnungsprinzipien des Staates, dem es wegen seiner weltanschaulich-religiösen Neutralität verwehrt ist, Direktiven für den religiösen Bereich aufzustellen, sondern die dogmatischen und rechtstheologischen Grundpositionen der Kirchen und ReliM 24
Vgl. auch H. Weber, S. 150 f. Vgl. auch H. Weber, S. 151.
6. Teil: Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes gionsgemeinschaften selbst. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind daher bei der Ausgestaltung des eigenständigen kirchlichen Rechts nicht an die fundamentalen Vorschriften für die Organisation der Staatsgewalt, etwa die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Demokratie, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit, gebunden und prinzipiell auch nicht zur Beachtimg der die staatliche öffentliche Gewalt bindenden Grundrechte verpflichtet. Ihnen ist es vielmehr durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ausdrücklich freigestellt, die rechtliche Ordnung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten allein an ihrem Selbstverständnis in theologischer und kirchenorganisatorischer Hinsicht zu orientieren 25 . Hieraus folgt weiter, daß der Kernbereich der eigenen Angelegenheiten der eigenständigen Regelung durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften vorbehalten ist, also staatliche Rechtsnormen innerhalb dieses eigenständigen Rechtsbereichs grundsätzlich nicht in Geltung stehen können. Hier gilt prinzipiell vielmehr allein das innerkirchliche Recht. An diesem Ergebnis vermag auch die Existenz der Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV nichts zu ändern, da insoweit der in derselben Vorschrift enthaltenen Grundsatzentscheidung, die die Regelung des eigenständigen Rechtsbereichs der selbständigen Verfügung der Kirchen und Religionsgemeinschaften überläßt, der Vorrang einzuräumen ist. b) Diese Grundsatzlösung bedeutet freilich nicht, daß die Schrankenklausel des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV für das Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kernbereich der eigenen Angelegenheiten ohne jede Bedeutung ist. aa) Vielmehr gilt hier staatliches Recht über die Schrankenklausel immer dann, wenn dieses Handeln der Kardien und Religionsgemeinschaften, obwohl es primär dem eigenständig-kirchlichen Rechtsbereich angehört, zugleich auch in den Bereich des staatlichen Rechts, genauer: in einen durch staatliches Recht geregelten Aufgabenbereich des Staates eintritt 26 . Die staatlichen Schrankengesetze greifen dann also nicht unmittelbar in den eigenständig-kirchlichen Rechtsbereich ein, sondern wirken gleichsam „von außen", d. h. insoweit, als das Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften über den eigenständig-kirchlichen Rechtsbereich hinausgreift. Hierbei ist es nicht notwendig, daß das Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften den kircheneigenen Bereich völlig verläßt. Es kommt 25 Vgl. auch Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 177; ders., Kirche und Staat, S. 20; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 295; Martens, S. 139; H. Weber, S. 58; Evers, Festschrift für Ruppel, S. 342; Hering, Festschrift für Jahrreiss, S. 95 f. Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 177; ders., Kirche und Staat, S. 22; Qua26 Dies entspricht der allgemeinen Auffassung, vgl. BVerfGE Bd. 18, S. 387 f.; ritsch, Der Staat 1962, S. 295; Martens, S. 140.
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vielmehr nur darauf an, daß dieses Handeln, mag es auch in erster Linie dem Kernbereich der eigenen Angelegenheiten angehören, sich zugleich in einem durch weltliches Recht geregelten staatlichen Sachbereich abspielt. Insofern und insoweit unterliegt es dann allen für diesen Sachbereich geltenden Normen des staatlichen Rechts, wobei keineswegs nur allgemeine, sondern auch besondere, ausschließlich für die Kirchen und Religionsgemeinschaften geltende Rechtsnormen in Betracht kommen. Diese Grundsätze lassen sich an Hand einzelner Beispiele konkretisieren. Zum ureigenen Bereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften gehört etwa der Gottesdienst, dessen Gestaltung somit allein den von den Kirchen und Religionsgemeinschaften aufgestellten Regeln, nicht aber der Ordnung des Staates unterliegt. Dennoch kann in diesem Bereich den Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht jegliche Freiheit zugestanden werden. So wäre etwa ein Menschenopfer wegen des im staatlichen Recht enthaltenen allgemeinen Verbots der Tötung von Menschen selbst dann untersagt, wenn es als kultische Handlung erfolgen, es von einer Religionsgemeinschaft also als Form des Gottesdienstes beansprucht würde. Die rechtliche Anordnung des Menschenopfers durch eine Religionsgemeinschaft verbliebe nicht im Bereich des eigenständig-kirchlichem Recht unterliegenden Gottesdienstes, sondern stellte zugleich eine den staatlichen Rechtsbereich tangierende Rechtshandlung dar. Sie wäre insoweit an den Vorschriften des staatlichen Rechts zu messen, d. h. verboten. Eine Einschränkung des Rechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften, selbständig über die Gestaltung des Gottesdienstes bestimmen zu können, käme aber auch etwa aus seuchenpolizeilichen Gründen in Betracht. So wäre es z. B. zulässig, zur Vermeidung der Übertragung einer Seuche bestimmte gottesdienstliche Formen, etwa jene Form der Kelchkommunion, bei der alle Gläubigen aus demselben Kelch trinken, von Staats wegen zu verbieten. Audi sonst können geistliche Amtshandlungen, die grundsätzlich nur durch eigenständiges kirchliches Recht geregelt sind, in bestimmten Situationen zum Gegenstand von Vorschriften des staatlichen Rechts werden. So ist etwa eine von einem Geistlichen in einer Predigt ausgesprochene Beleidigung nach staatlichem Strafrecht strafbar. So unterliegt eine Prozession, die eine gottesdienstliche Handlung darstellt, den Regeln der Straßenverkehrsordnung, wenn sie auf öffentlichen Wegen oder Plätzen stattfindet. In all diesen Fällen wird die interne Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur rechtlichen Ausgestaltung des Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten nicht berührt. Die Kirchen und Religionsgemein-
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Schäften werden nur dort zur Beachtung des staatlichen Rechts verpflichtet, wo ihr Handeln nicht ganz im kircheninternen Bereich verbleibt, sondern sich auch im Zuständigkeitsbereich des Staates auswirkt. bb) Es ist abschließend zu fragen, ob — in Abweichung von der soeben entwickelten Grundsatzlösung — die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Ausnahmefällen durch die Schrankenklausel des Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV auch innerhalb ihres Internbereichs zur Beachtung gewisser fundamentaler, aus der Sicht des Staates unentbehrlicher Regeln des staatlichen Rechts verpflichtet sind. Eine solche Ansicht ist neuerdings von Säcker vertreten worden. Nach seiner Auffassung ist es der Sinn der Schrankenklausel, daß die Kirchen und Religionsgemeinschaften ein Minimum an Gerechtigkeit respektieren, das der Staat seinen Bürgern zu garantieren hat. Demnach müßten die Kirchen und Religionsgemeinschaften auch dort, wo sie allein im Bereich des eigenständig-kirchlichen Rechts handeln, gewisse tragende Grundsätze respektieren, die sowohl im staatlichen wie im kirchlichen Recht zu beachten seien 27 . Zu diesen gemeinsamen Grundsätzen gehöre zwar nicht das Demokratieprinzip, wohl aber das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip 28. Auch bestimmte Grundrechte seien in einigen Fällen zu beachten. So richte sich Art. 4 GG, wenn eine Kirche eines ihrer Mitglieder rechtswidrig, etwa ohne es vorher angehört zu haben, ausschließe, auch gegen sie. Denkbar sei auch eine Verletzung des in Art. 3 GG enthaltenen Willkürverbots, z. B. dann, wenn ein Kirchenglied ausgeschlossen wurde, ohne die Grundsätze der Kirche verletzt und ohne sich anders verhalten zu haben, als die übrigen Mitglieder 2®. Staatlicher Rechtsschutz müsse auch bei Gerechtigkeitsverstößen im geistlichen Amtsverhältnis gewährt werden, etwa dann, wenn eine willkürliche Amtsenthebung ohne ausreichende vorherige Anhörung des Betroffenen erfolgt sei 80 . Geltung für den kircheninternen Bereich müsse auch der Grundsatz ne bis in idem beanspruchen 81. Dagegen könne kein staatlicher Rechtsschutz gewährt werden bei der Verweigerung der Eheschließung oder des Begräbnisses, weil dies nur gesellschaftliche Bedeutung habe und nicht in vom staatlichen Rechtskreis anerkannte Rechtspositionen eingreife 82 . 27
Säcker, DVB1. 1969, S. 6. Die Berufung auf den Bundesgerichtshof (BGHZ Bd. 22, S. 387 f.) geht allerdings fehl, da diese Entscheidung, wie ausgeführt (vgl. oben S. 43), eine Bindung der Kirchen an fundamentale Rechtsgrundsätze des staatlichen Rechts nur insoweit annimmt, als die Maßnahmen der Kirchen über den innerkirchlichen Bereich hinausgreifen. 28 Säcker, DVB1.1969, S. 6. 29 Säcker, DVB1.1969, S. 7. 80 Säcker, DVB1.1969, S. 8. 81 Säcker, DVB1.1969, S. 8. 82 Säcker, DVB1.1969, S. 9. 11 Jurlna
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Diesen Thesen kann nur in sehr begrenztem Umfang zugestimmt werden 83 . Es erscheint zwar prinzipiell nicht ausgeschlossen, bei extremen, evidenten Gerechtigkeitsverstößen im kirchlichen Internbereich, die sich gegen ein Kirchenglied richten, ein Eingriffsrecht des Staates anzuerkennen. Es ist hierbei jedoch darauf zu achten, daß auf diese Weise nicht typisch staatliche Gerechtigkeitsvorstellungen, auf deren Verwirklichimg im kirchlichen Internbereich der Staat um seiner weltanschaulichreligiösen Neutralität willen durch die Anerkennung der rechtlichen Eigenständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften gerade verzichtet hat, diesen doch wieder aufgezwungen und somit Sachverhalte der staatlichen Beurteilung unterworfen werden, die einem solchen Urteil nicht zugänglich sind. So muß entgegen der Ansicht Säckers z. B. die Möglichkeit verneint werden, daß ein staatliches Gericht sollte beurteilen können, ob jemand fundamentale Prinzipien einer Kirche verletzt hat oder nicht. Ebensowenig ist es möglich, von Staats wegen für jede einen Einzelnen betreffende Rechtshandlung einer Kirche oder Religionsgemeinschaf t seine vorherige Anhörung zu fordern. Der Verzicht auf eine solche Anhörung etwa bei einem Ausschluß aus der Kirche mag zwar von weltlichen Rechtsvorstellungen aus (denen sich in vielen Fällen auch die Kirchen anschließen mögen) als ungerecht erscheinen. Es erscheint aber durchaus denkbar, daß eine Religionsgemeinschaft aus Gründen ihres Bekenntnisses sich verpflichtet glaubt, eine solche Anhörung in bestimmten Fällen ausschließen zu müssen, ohne daß ersichtlich wäre, warum ein solches Verhalten in jedem Falle zu rechtlichen Sanktionen des Staates führen müßte. Vielmehr ist es zur Wahrung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates eher geboten, daß dieser in derartigen Fällen darauf verzichtet, seine Gerechtigkeitsvorstellungen in jedem Falle durchsetzen zu wollen. So wird eine Geltung staatlicher Rechtsprinzipien für Rechtshandlungen im kirchlichen Internbereich nur für sehr extreme Fälle, in denen das Unterbleiben eines Eingreifens des Staates zum Schutz des betroffenen Einzelnen schlechthin unerträglich wäre, angenommen werden können. Beispiele für solche „Notstandssituationen" sind nur schwer zu bilden. I m übrigen wäre es grundsätzlich nur denkbar, daß staatliche Gerichte in solchen Fällen einen Verstoß gegen ein „für alle geltendes Gesetz" feststellen, da eine Aufhebung einer kircheninternen Maßnahme durch ein staatliches Gericht wegen der Selbständigkeit der innerkirchlichen Rechtsordnung nicht in Frage kommen kann. 83 Der V I . Senat des Bundesverwaltungsgerichts „neigt zu der Auffassung, daß die vom Staat als,staatsunabhängig 4 anerkannte kirchliche öffentliche (sie!) Gewalt jedenfalls an staatsunabhängige Grundrechte gebunden ist, soweit diese jedem öffentlichen Hecht vorgegeben, somit im Kernbereich von jeder weltlichen Regelung zu respektieren sind", läßt die Lösung dieser Frage aber ausdrücklich offen (BVerwGE Bd. 28, S. 351).
SCHLUSS
Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V im staatskirchenrechtlichen Gesamtsystem des Grundgesetzes I. Unsere Überlegungen z u m I n h a l t von A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V lassen sich w i e folgt zusammenfassen: 1. A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V garantiert den Kirchen u n d Religionsgemeinschaften, also allen „Religionsgesellschaften" i m S i n n des Verfassungstextes, die Befugnis zu selbständiger innerkirchlicher Rechtsetzung, V e r w a l t u n g und Rechtsprechung für den Bereich der eigenen Angelegenheiten. 2. D i e von den Kirchen und Religionsgemeinschaften i m Bereich der eigenen Angelegenheiten ausgeübte selbständige Rechtsetzung ist ihrer Rechtsqualität nach teils „eigenständig", teils „autonom". a) Eigenständigkeit k o m m t den Kirchen u n d Religionsgemeinschaften für den i n dieser Untersuchung so genannten Kernbereich der eigenen Angelegenheiten zu, also für den Erlaß kirchlicher Rechtsvorschriften i m Bereich der Glaubenslehre, zur Regelung des Gottesdienstes, der S a k r a mente, der Kirchenverfassung, der „geistlichen" Seite des Dienstverhältnisses der Träger der geistlichen Ä m t e r sowie der Rechtsstellung der Kirchenangehörigen. F ü r diese Sachgebiete w i r d den Kirchen u n d Religionsgemeinschaften gem. A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V eine selbständige kirchliche Rechtsetzungsbefugnis zuerkannt, die sie i n den Stand setzt, die genannten M a t e r i e n eigenen, i n ihrer G e l t u n g v o m staatlichen Recht unabhängigen, eigenständigen rechtlichen Regelungen zu unterstellen. b) Jenseits dieses Kernbereichs der eigenen Angelegenheiten leben Kirchen und Religionsgemeinschaften dagegen nicht nach eigenständigem, sondern — falls sie von der Befugnis zu selbständiger Rechtsetzung Gebrauch gemacht haben — nach autonomem, d. h. z u m staatlichen Rechtskreis gehörigem Recht. Dies gilt für die vermögensrechtliche Seite des Dienstverhältnisses der geistlichen Amtsträger, für das Dienstrecht der kirchlichen Laienbediensteten sowie für die kirchliche Vermögensverwaltung. c) Dieselben Grundsätze gelten für die gemeinsamen Angelegenheiten. Soweit deren kirchliche „Seite" dem Kernbereich der eigenen Angelegen-
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heiten zuzurechnen ist, unterstehen sie eigenständigem Kirchenrecht. Dies gilt vor a l l e m für die Regelung der Seelsorge i n öffentlichen A n stalten u n d i m Heer, für die Regelung der besonderen kirchlichen Bevollmächtigung zur E r t e i l u n g des Religionsunterrichts sowie für die Ordnung des Bestattungszeremoniells. Soweit eine Zurechnung zum K e r n bereich der eigenen Angelegenheiten nicht vollzogen werden kann, handeln die Kirchen u n d Religionsgemeinschaften auf G r u n d und innerhalb des staatlichen Rechts. Das ist insbesondere beim E r l a ß der Kirchensteuerordnungen der F a l l . 3. D i e Befugnis zu selbständiger V e r w a l t u n g der eigenen Angelegenheiten gibt das Recht zur selbständigen Durchführung der von Kirchen und Religionsgemeinschaften gesetzten Rechtsvorschriften sowie zu anderen innerkirchlichen Verwaltungshandlungen. D i e rechtssystematische B e w e r t u n g dieser innerkirchlichen Vollzugsakte richtet sich danach, ob die jeweils betroffenen Sachbereiche eigenständig-kirchlichem oder zum staatlichen Rechtskreis gehörigem Recht unterliegen. 4. D i e Befugnis zur Errichtung einer eigenen Gerichtsbarkeit w i r d den Kirchen u n d Religionsgemeinschaften durch A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V n u r für den Bereich des eigenständigen kirchlichen Rechts garantiert. Sow e i t Kirchen u n d Religionsgemeinschaften dagegen nach zum staatlichen Rechtskreis gehörigem Recht leben, unterliegen sie dem i n A r t . 92 G G enthaltenen staatlichen Rechtsprechungsmonopol, das auch durch die selbständige Errichtung eigener kirchlicher Gerichte nicht umgangen werden kann. 5. Diese Freiheiten der Kirchen u n d Religionsgemeinschaften bestehen freilich nicht unbegrenzt. I h r e Ausübung ist vielmehr durch A r t . 140 GG/137 Abs. 3 W R V an die Schranken des für alle geltenden Gesetzes gebunden, also Beschränkungen i n Gestalt staatlicher Rechtsvorschriften unterworfen. F ü r den Wirkungsbereich dieser Schrankenklausel müssen verschiedene Fallgruppen unterschieden werden: a) K e i n F a l l der A n w e n d u n g der Schrankenklausel ist die Geltung staatlichen Rechts f ü r Kirchen und Religionsgemeinschaften in jenen F ä l len, i n denen diese k r a f t besonderer Belehnung staatliche Aufgaben w a h r nehmen. b) Ebenso gilt staatliches Rechts auch ohne die Schrankenklausel, w e n n die Organe von Kirchen u n d Religionsgemeinschaften innerhalb eines durch staatliches Recht geregelten Sachbereichs handeln, ohne hierbei und hierdurch eigene Angelegenheiten wahrzunehmen. c) Eine A n w e n d u n g der Schrankenklausel k o m m t folglich n u r dort grundsätzlich i n Betracht, w o die Kirchen und Religionsgemeinschaften
Schluß: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV m Gesamtsystem des GG in Wahrnehmung eigener Angelegenheiten rechtlich tätig werden. Audi hier ist jedoch zu differenzieren: aa) Wenn die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Wahrnehmung eigener Angelegenheiten zwar selbständig, aber mittels Rechtsakten des staatlichen Rechts handeln, sind sie hierbei grundsätzlich an alle zwingenden, für die betreffenden Sachbereiche allgemein geltenden Vorschriften des staatlichen Rechts gebunden. Diese können freilich nicht schematisch auf die kirchlichen Rechtsverhältnisse erstreckt werden. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob das konkrete Schrankengesetz wegen der in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV prinzipiell verbürgten Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht seinerseits einschränkend interpretiert werden muß. bb) Der Kernbereich der eigenen Angelegenheiten unterliegt gem. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV allein dem nach dem theologischen Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften ausgestalteten eigenständigen kirchlichen Recht. Ordnungsprinzipien des Staates, staatliche Rechts- und Verfassungsgrundsätze können hier also auch nicht über die Schrankenklausel in Geltung stehen. Eine andere Lösung scheint nur in ganz extremen Fällen der Verletzung fundamentaler Gerechtigkeitsprinzipien durch eine Kirche oder Religionsgemeinschaft denkbar. cc) Dagegen gilt staatliches Recht über die Schrankenklausel vom für alle geltenden Gesetz immer dann, wenn das Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften, obwohl es primär dem eigenständigen Rechtsbereich angehört, zugleich auch in einen durch staatliches Recht geregelten Aufgabenbereich des Staates hineinreicht. Insofern und insoweit unterliegt auch das grundsätzlich dem eigenständig-kirchlichen Recht zuzurechnende Handeln der Kirchen und Religionsgemeinschaften den für den in Frage stehenden staatlichen Sachbereich geltenden Rechtsvorschriften, wobei keineswegs nur „für alle geltende", sondern auch besondere, ausschließlich für die Kirchen und Religionsgemeinschaften geschaffene Rechtsnormen in Betracht kommen. II. Die in ihrem Inhalt soeben noch einmal zusammenfassend umschriebene Vorschrift des Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ist für das geltende staatskirchenrechtliche System von grundlegender Bedeutung: Sie bewirkt die grundsätzliche Scheidung der Rechtssphären von Staat und Kirche und verbürgt den Kirchen und Religionsgemeinschaften so einen Raum rechtlicher Freiheit gegenüber dem Staat, in dem nur die Entscheidungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, nicht das Handeln des Staates von rechtlicher Relevanz sind. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV erweist sich somit als Konkretisierung der das staatskirchenrechtliche Gesamtsystem der Bundesrepublik bestimmenden Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften.
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Diese ist grundgelegt im Grundrecht der Religionsfreiheit, das nach geltendem Verfassungsrecht nicht mehr nur den einzelnen Kirchenangehörigen, sondern auch den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst zukommt. Die so den Kirchen und Religionsgemeinschaften verbürgte freie Religionsausübung, deren grundrechtlicher Schutz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts extensiv zu interpretieren ist 1 , erfährt eine zusätzliche Absicherung durch den Verfassungsgrundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der diesem die Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten verbietet. Eben dieselbe Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften hat Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zum Gegenstand: Diese Vorschrift knüpft an die in der Religionsfreiheit und im Verfassungsprinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität ausgesagte Scheidung der Sachzuständigkeiten von Staat und Kirche an und verselbständigt die Kirchen und Religionsgemeinschaften als rechtlich geordnete Gemeinschaften überall dort, wo dies um der religiösen Prägung der innerkirchlichen Rechtsordnung willen geboten ist. Soweit daher die Kirchen und Religionsgemeinschaften um der ihnen allgemein gewährleisteten Religionsfreiheit willen des besonderen Schutzes als Rechtsgemeinschaften bedürfen, vervollständigt Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV die allgemeine Religionsfreiheitsgarantie des Grundgesetzes in dieser besonderen Hinsicht. Art. 140 GG/137 Abs. 3 W R V garantiert daher, wie bereits bemerkt wurde, nicht mehr ein allgemeines „Selbstbestimmungsrecht" der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Vielmehr steht diese Vorschrift heute im Kontext der übrigen die Kirchenfreiheit garantierenden Normen des Grundgesetzes, vermag freilich so in ihrer spezifischen Bedeutung um so klarer hervorzutreten. I n dieser Beschränkung auf einen Teilaspekt des Verhältnisses von Staat und Kirche beantwortet diese Vorschrift nunmehr auch die Frage nach der rechtssystematischen Einordnung des Kirchenrechts, die die ältere deutsche Staatskirchenrechtslehre 2 an Hand der Auslegung weitgehend übereinstimmender Verfassungsformeln nicht oder nur unbefriedigend zu lösen vermochte: Das Kirchenrecht wird, jedenfalls soweit es den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten regelt, nicht mehr als Teil des staatlichen Rechts gesehen, sondern durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV als eigenständiger Rechtsbereich anerkannt. So ist von neuer Aktualität, was Friedrich Carl von Savigny schon 1840 schrieb: „Wir können die verschiedenen christlichen Kirchen nur betrachten als neben dem Staate, aber in mannichfaltiger und inniger Berührung mit demselben, stehend. Daher ist uns das Kirchenrecht ein für sich bestehendes Rechts1 8
Vgl. BVerfGE Bd. 24, S. 246. Vgl. oben S. 16 f.
Schluß: Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV im Gesamtsystem des GG gebiet, das weder dem öffentlichen noch dem Privatrecht untergeordnet werden darf 3 ." I I I . Aus dieser verfassungsrechtlichen Anerkennung der Eigenständigkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften (unter gleichzeitiger Hervorhebung der die staatskirchenrechtliche Praxis der Bundesrepublik in der Tat prägenden Vertragsschlüsse zwischen Staat und Kirche) haben Vertreter der herrschenden Auffassung auf das Vorliegen eines allgemeinen Koordinationssystems in den Beziehungen zwischen dem Staat und jedenfalls den großen Kirchen geschlossen. So ist etwa von Mikat betont worden, das „neuartige Beziehungssystem" zwischen Staat und Kirche sei „ein System der Zuordnung (Koordination) zweier voneinander unabhängiger in ihren Bereichen selbständiger Gemeinwesen, die ihre jeweilige Höchstzuständigkeit in dem ihnen zugewiesenen Raum gegenseitig anerkennen und darüber hinaus auf bestimmten, die Interessen beider Gemeinschaften berührenden Gebieten . . . zusammenwirken". So habe sich die Koordinationslehre durchgesetzt, die den Staat und die Kirche als „gleichrangige Gemeinschaften erster Ordnimg, als ,societates perfectae"' begreife. „Die Ebene, auf der sich jetzt Staat und Kirche begegnen, kann nur die der natürlichen Rechtsordnung sein4." I n den Zusammenhang einer solchen Sicht des Verhältnisses von Staat und Kirche gehört etwa auch die bekannte Antwort Hesses auf die Frage, wer im Konfliktsfall über die Auslegung des Schrankengesetzes i. S. von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV entscheide: „Niemand . . . Alles ist auf den Zwang zur Verständigung und die Loyalität beider Partner abgestellt. Es gibt nur die Alternative der Einigung oder des Kulturkampfes 5 ." Auch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs geht „das Grundgesetz von der grundsätzlichen Gleichordnung von Staat und Kirche als eigenständigen Gewalten aus"6. Es wird heute zunehmend erkannt, daß eine solche Sicht des Verhältnisses von Staat und Kirche nicht allein aus der Tatsache der vielfältigen Vertragsschlüsse zwischen Staat und Kirche abgeleitet werden kann, sie vielmehr, sollte sie richtig sein, ihre Begründung in der verfassungsrechtlichen Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche finden müßte 7 . 8
Vgl. das Zitat oben S. 16, Anm. 54. Mikat, Die Grundrechte Bd. IV/1, S. 145 f. Vgl. auch ders., Kirche und Staat, S. 13. Weitere Nachweise über die Anerkennnung der Koordinationslehre bei Obermayer, DÖV1967, S. 10, Anm. 12. 5 Hesse, S. 76. • B G H Z Bd. 34, S. 373; Bd. 46, S. 96. 7 Vgl. etwa Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 74: „Staat und Kirche 4
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Diesen Bestimmungen des Grundgesetzes ist aber, wie gerade unsere Überlegungen zum Inhalt von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ergeben haben, ein solches allgemeines Koordinationsverhältnis zwischen Staat und Kirche nicht zu entnehmen. Das Grundgesetz gewährleistet zwar die grundsätzliche Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber dem Staat und anerkennt zu diesem Zweck auch ihre rechtliche Eigenständigkeit. Damit gibt die Verfassung jedoch das Recht des Staates, über die Grenzen der Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften und die Grenzen der Anerkennung ihrer Eigenständigkeit zu befinden, nicht auf. Dieses Recht bleibt vielmehr, wie oben im einzelnen gezeigt wurde 8 , gerade mit der Regelung der Kirchenfreiheit im Grundgesetz vorbehalten. Somit ist der Staat zur Regelung seines Verhältnisses zu den Kirchen keineswegs von Verfassungs wegen auf das Einvernehmen mit den Kirchen, auf die vertragliche Absprache verwiesen. Ihm ist vielmehr — im Rahmen der freilich nie zu beseitigenden Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften — nach wie vor die rechtliche Befugnis zur einseitigen Regelung, damit auch zur einseitigen Grenzziehung gegenüber den Kirchen und Religionsgemeinschaften belassen9. Damit kann von einem allgemeinen durch die Verfassung geschaffenen Koordinationsverhältnis in den Beziehungen von Staat und Kirche trotz aller Eigenständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften also nach wie vor nicht die Rede sein. IV. Dies heißt freilich weder, daß die Verfassung das Verhältnis von Staat und Kirche als „Subordinationsverhältnis" ausgestaltet hat noch daß die tatsächliche Gestaltung der Beziehungen von Staat und Kirche im Wege des Vertrages der verfassungsrechtlichen Legitimation, damit etwa auch der einzelne Vertrag im Konfliktsfall jeder Bestandskraft gegenüber dem einseitigen Handeln des Staates entbehren müßte 10 . Vielmehr hat sich gerade in dem durch das Grundgesetz errichteten System der Kirchenfreiheit der Staatskirchenvertrag als das auch in verfassungsrechtlicher Sicht adäquate Mittel sowohl zur Konkretisierung der in der Verfassung nur allgemein bezeichneten Freiheitsräume der Kirchen wie zur Verdeutlichung der dem Staat auch gegenüber den freien Kirchen von Verfassungs wegen vorbehaltenen Rechte erwiesen.
leben nicht in einem irgendwie vorausgesetzten Koordinationsverhältnis, sondern sie leben zusammen gemäß der Verfassung." 8 Vgl. oben S. 75, S. 151 f. • So ausdrücklich auch etwa Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 74,78. 10 Zu diesem Fragenkreis vgl. etwa Hollerbach, W d S t R L Heft 26 (1968), S. 78 ff. mit weiteren Nachweisen.
Schluß: Art. 140 GG/137 Abs. 3 W V im Gesamtsystem des GG Darüber hinaus bildet der Staatskirchenvertrag eine besonders angemessene Rechtsgrundlage für die Ermöglichung einer Kooperation von Staat und Kirche, die es verhindert, daß die Beziehungen von Staat und Kirche sich in der juristischen Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeitsbereiche, damit in einer einseitigen Betonung der Antinomien von Staat und Kirche, erschöpfen 11. Inhalt und Umfang solcher Absprachen sind aber nicht dem Belieben ihrer Partner überlassen. I m Rahmen der staatlichen Rechtsordnung sind solche Verträge vielmehr nur dann möglich, wenn sie die durch die Verfassung gegebenen Grundregeln für das Verhältnis von Staat und Kirche zum Ausgangspunkt nehmen. So werden die Kirchen und Religionsgemeinschaften durchArt. 140 GG/ 137 Abs. 3 WRV, so sehr diese Vorschrift ihre Freiheit gegenüber dem Staat, ihre rechtliche Eigenständigkeit begründet, keineswegs aus dem Geltungsbereich des staatlichen Rechts entlassen. Dieses bildet vielmehr aus der Sicht des Staates nach wie vor den Rahmen, in dem allein sich die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften in verfassungsrechtlich zulässiger Weise entfalten kann.
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Vgl. zu diesen Fragen Hesse, ZevKR Bd. 11 (1964/65), S. 337 ff.
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