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German Pages 264 [266] Year 2012
Heiner Fangerau / Igor J. Polianski (Hg.) Medizin im Spiegel ihrer Geschichte, Theorie und Ethik
K ultur A namnesen Schriften zur Geschichte und Philosophie der Medizin und der Naturwissenschaften Herausgegeben von Heiner Fangerau, Renate Breuninger und Igor Polianski in Verbindung mit dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, dem HumboldtStudienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften und dem Zentrum Medizin und Gesellschaft der Universität Ulm Band 4
HEINER FANGERAU / IGOR J. POLIANSKI (HG.)
Medizin im Spiegel ihrer Geschichte, Theorie und Ethik Schlüsselthemen für ein junges Querschnittsfach
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Walter Draesner, „Der Tod und der Anatom“, Graphiksammlung „Mensch und Tod“ der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10227-8
Inhalt Heiner Fangerau, Igor J. Polianski Geschichte, theorie und Ethik der Medizin: Eine Standortbestimmung .........7 I. „GTE“: Synergien und Wahlverwandtschaften Claudia Wiesemann Die Beziehung der Medizinethik zur Medizingeschichte und Medizintheorie .......................................................................................17 Igor J. Polianski, Heiner Fangerau Zwischen Mythos und Evidenz? legitimationsdruck und theoretisierungszwang in der Geschichte, theorie und Ethik der Medizin ....................................................................................20 II. Achsenthemen des Querschnittsfaches Volker Roelcke Medizin im nationalsozialismus – radikale Manifestation latenter Potentiale moderner Gesellschaften? historische Kenntnisse, aktuelle Implikationen ....................................................................................35 Walter Bruchhausen Export und Import von Medizinern und Gesundheitspolitik – Globalisierungsgeschichte der Medizin am Beispiel der deutschen Entwicklungshilfe. ..................................................................51 Irmgard Müller Den himmel im Visier: Macht und Evidenz der Bilder in Johannes Zahns „Oculus artificialis“ .........................................................71 Heinz Schott Die „natürliche Magie“ und ihre Bedeutung für die Medizingeschichte ....105 Gisela Badura-Lotter Sexuell übertragbare Krankheiten. Überlegungen zu Metaphorik und Ethik .....................................................................................................127 III. Medizin zwischen Wohlfahrt und Biomacht Eva Brinkschulte Medizin und Behinderung – Zur „Gehörlosenproblematik“ seit dem 18. Jahrhundert ...............................................................................151
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Inhalt
Sebastian Kessler anerkannt oder ausgegrenzt. Die diskursive Konstruktion von sozialer Ungleichheit und Krankheit in Deutschland ............................169 Debora Lea Frommeld Eine Grammatik des richtigen Gewichts: Der Body-Mass-Index (BMI) als biopolitisches Instrument .............................................................183 Jörg Vögele Säuglingsfürsorge, Säuglingsernährung und die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in Deutschland während des 20. Jahrhunderts ...203 Maria Griemmert Das Ulmer Funden- und Waisenhaus in der Frühen neuzeit ......................221 Heinz-Peter Schmiedebach Seuchen und ihre Spuren in Gesellschaft, Kultur und Politik ......................235 Zu den autoren ...................................................................................................259
GESchIchtE, thEOrIE UnD EthIK DEr MEDIZIn: EInE StanDOrtBEStIMMUnG Heiner Fangerau, Igor J. Polianski Seit dem ersten großen auf den Seiten der Frankfurter allgemeinen Zeitung öffentlich ausgetragenen „Medizinhistorikerstreit“ vor knapp fünfundzwanzig Jahren (Frevert 1987; Frevert 1987a; Mann 1987) – nur kurz nachdem der Konsolidierungsprozess der institutionalisierten Medizingeschichte in Deutschland einen höhepunkt erreicht hatte (roelcke 1994: 197; Brocke 2001: 191) – hat es für die an deutschen medizinischen Fakultäten tätigen Medizinhistoriker immer wieder anlass gegeben, die damals angeregten Grundsatzfragen nach dem Sinn, dem Zweck und der Perspektive ihres Faches neu aufzunehmen. nicht von ungefähr fiel diese Debatte in eine Zeit, in der die Medizinethik auch in der Bundesrepublik einen Professionalisierungsschub erfuhr, der neben der Gründung der akademie für Ethik in der Medizin 1986 auch die Frage mit sich brachte, ob der aufgabenbereich der Medizinethik sich nicht mit der Identitätsfindung der Medizingeschichte überschneide. Die ursprünglich primär theoretische Disziplin der Ethik hatte in der Medizin damals auch schon international eine praktische aufgabe übernommen und an relevanz gewonnen. Stephen toulmin kommentierte diese Volte der Ethik pointiert in seinem Beitrag: „how Medicine Saved the life of Ethics“ (toulmin 1982). Die in der Folge unter Medizinhistorikern immer wieder diskutierte Frage lautete, ob das Überlebensrezept, sich durch einen engen Bezug auf aktuelle ärztliche Praxis zu legitimieren, auch für die Medizingeschichte Gültigkeit beanspruchen könne? Die curriculare Etablierung der Medizinethik im Studium der Medizin zusammen mit der Medizingeschichte und der Medizintheorie in einem Querschnittsfach durch die novelle der Ärztlichen approbationsordnung von 2002 hat diese Diskussion erneut aufflammen lassen. Darüber hinaus entwickelte sich zum Beispiel im Fachverband Medizingeschichte ein fachinterner Diskurs über das Verhältnis dieser drei Fachrichtungen innerhalb der geistes- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Institute für Geschichte und/oder Ethik der Medizin. Blickt man nun aus dem Jahr 2012 auf diese unablässige reflexionsarbeit zurück, so darf man vielleicht feststellen, dass sich mittlerweile – teilweise als Ergebnis der Diskussionen und teilweise aufgrund externer Kontingenzen – mit dem „Dreigestirn“ von Geschichte, theorie und Ethik der Medizin (GtE) im Querschnittsfach 2 der ÄappO ein Fachzuschnitt und eine Fachkultur formiert hat, wie es sie zu Beginn der Debatte so noch nicht gegeben hatte.1 1
Eine Besonderheit des Querschnittfachs Q2 liegt darin, dass hier jeweils eine Institution (nämlich die Institute für Geschichte und/oder Ethik der Medizin) den anspruch auf die Vertretung des ganzen Querschnittfachs erhob und „Querschnitt“ im Sinne einer Synergie der drei Fächer
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Der geplante Band möchte vor diesem hintergrund an die bisherigen Selbstthematisierungen anschließen und zur aktuellen Standortbestimmung von „GtE“ und zur Erhellung der Perspektiven dieses Querschnittsfaches beitragen. Die hier zusammengestellten aufsätze fassen die Ergebnisse einer tagung zusammen, die bewusst offen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Forum geben sollte, Forschungsergebnisse und –perspektiven aus den teilgebieten der Geschichte, der theorie und der Ethik der Medizin zu präsentieren, die über einen sich allmählich entwickelnden „Kanon“ der themen von „GtE“ hinaus gehen (vgl. Schulz, Steigleder, Fangerau, Paul 2006; riha 2008; Bruchhausen & Schott 2008; Steger 2011). anlass war die neugründung des Institutes für Geschichte, theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Dabei sollte in der Diskussion der Versuch unternommen werden, aktuelle Forschungsergebnisse immer auch im hinblick auf ihre Wirkmächtigkeit und integrativen Elemente für das Querschnittsfach GtE hin zu prüfen. Diese Diskussion soll mit dem vorliegenden Band nicht nur dokumentiert, sondern fortgesetzt werden. hilfreich erscheint es, zu diesem Zweck die wichtigsten Problemdiagnosen und Programmatiken, die den Konsolidierungsprozess von „GtE“ begleitet, inspiriert oder mitgetragen haben, kurz zu rekapitulieren. Insbesondere vier Spannungslinien treten in diesem Prozess deutlich hervor: Erstens ist hier die theoretisch-methodische Urkontroverse zwischen einer ereignis- und personenzentrierten Medizingeschichte sowie einer theoriegeleiteten historiographie der Medizin zu nennen, die sich anschickte den „hermetischen raum einer engen Disziplingeschichte“ (Frevert 1987) zu sprengen. Zweitens handelt es sich auf struktureller Ebene um die problembehaftete Grenzziehung zwischen allgemeiner Geschichte der Medizin, deren Daseinsrecht unbestritten ist, und einer stets in Frage gestellten Geschichte in der Medizin (labisch 2002; Vögele, Fangerau, noack 2006). Das dritte Dual, an dem sich die Fachdebatten aus der jüngsten Zeit immer häufiger orientierten, bezieht sich auf das bekannte Phänomen des „erinnerungskulturellen Booms“, bei dem sich gerade im Zusammenhang mit (medizinischen) Jubiläen immer schärfer ein Konflikt zwischen medizinhistorischer Expertise und einem zur Mythenbildung und Vergangenheitsverklärung neigenden kommunikativen Gedächtnis (heritage, „Disney history“) abzeichnet. Viertens kam in den eingangs erwähnten Grundsatzdebatten dem Komplementär- und Konkurrenzverhältnis zwischen Geschichte und Ethik der Medizin eine besondere aufmerksamkeit zu, wobei diese Debatte die rolle der theorie der Medizin bisher eher am rande behandelte. Entlang dieser vier achsen haben sich – zumindest aus unserer Perspektive – in den letzten zwei Jahrzehnten wesentliche Verschiebungen vollzogen. noch zu Beginn der 1990er Jahre glaubte man mit der Programmatik eines seit Mitte der 1970er für die Medizingeschichte profilierten struktur- und prozessorientierten theorieansatzes und seinen gesellschaftskritischen leitkategorien der Professionalisierung und der Medikalisierung über eine schlagkräftige alternative zu einem klassischen historismus zu verfügen. Daher war der Diskurs jener Zeit durch Bemühungen Geschichte, theorie und Ethik der Medizin verstanden wissen wollte, während die anderen Querschnittsfächer eher multidisziplinär durch mehrere selbständige Institute gemeinsam gestaltet werden.
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gekennzeichnet, die Sozialgeschichte der Medizin als „Gesamtgeschichte der medikalen Kultur“ (Jütte 1992) auf dem schmalen Grat zwischen Quantifizierungsphobien und aversionen gegen großspuriges „theoriegetöse“ zu etablieren (Jütte 1992; roelcke 1994; labisch 1996). Kaum ein Jahrzehnt danach übernahm aber die „neue Kulturgeschichte“ auch im Bereich der Medizingeschichte die Führung, um zusammen mit der historiographie „alten“ Formats die zaghaft aufblühende Sozialgeschichte nicht gerade zu überrollen, aber doch in ihrer Bedeutung zu überholen. Ihre „treffende Kritik in Bezug auf die reichweite sozialwissenschaftlicher Modelle“ (Paul 1999) konnte viele Fachvertreter überzeugen.2 Wieder wenige Jahre später gingen von der internationalen Ebene schon Impulse für die nächste richtungswende aus. Zum einen wurde eine produktive re-lektüre von pauschal als „traditionell“ stigmatisierten arbeiten angeregt, um wieder quellenbasiert auf empirisches Material und strukturelle Fakten zurückgreifen zu können (huisman & Warner 2006: 3ff). Zum anderen hat man unterstellt, dass das geschärfte Bewusstsein für den Konstruktionscharakter von kausalen und linearen Geschichtsmodellen mit einer abnehmenden Sensibilität für die machtpolitischen Dimensionen des Gesundheitswesens erkauft wurde. akteurszentrierte Gesellschaftskritik war angeblich eingetauscht worden gegen eine gesellschaftlich belanglose und gezähmte analyse von anonymen Diskursmächten. Die these lautete, dass sich eine rückbesinnung auf das „Soziale“ anbahnen würde, nachdem eine zur absorption und auflösung der medizinischen Sozialgeschichte führende „Flucht“ in die selbstreferentiellen „cultural studies“ die Medizingeschichte ihres gesellschaftskritischen Potentials beraubt hätte: „the ‚civil war‘ between discursivity and historicity, or more broadly between ‚the cultural‘ and ‚the social‘, has entered a more accommodating phase, less privileging of the cultural.“ (cooter 2006: 325). Diese Syntheseleistung spiegelt sich auch auf weiteren Konfliktachsen wieder: Weder hat sich die fachpolitische Befürchtung bewahrheitet, dass die pragmatisch fachimmanent orientierte Geschichte in der Medizin ihre innovativsten themen an ihre „große Schwester“, die allgemeine Geschichte der Medizin verlieren würde (labisch 2002: 361ff) noch hat die Geschichtsschreibung der Medizin unter dem Druck einer spätmodern boomenden Erinnerungs- und Festschriftenkultur des Faches ihre kritische Funktion eingebüßt. Sie ist nicht wie befürchtet zu einem märchenhaften Beiwerk der Medizin verkommen (Bröer 1999: 5). Dies hat sich zum Beispiel zuletzt an der auseinandersetzung um den nachruf für h. J. Sewering deutlich gezeigt (Wolff 2010). Obwohl wie von alfons labisch beschrieben „der Wunsch nach unmittelbarer Entscheidungsentlastung in der täglichen Praxis zur klinischen Ethik statt zur historisch reflektierten Eigenverantwortung [drängt]“ (labisch 2002: 361), hat das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer historisch distanzierten analyse sein Eigengewicht behalten. Zwar ist die Frage, „wie medizinische Ethik in die ärztliche ausbildung eingefügt werden kann“, noch nicht wirklich „eine genuine aufgabe der Me2
Vgl. stellvertretend hierzu Beiträge in dem von thomas Schnalke und claudia Wiesemann herausgegebenen Band Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive (Schnalke & Wiesemann 1998).
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dizingeschichte“ (labisch 1996: 17) geworden. auch ließen sich Beispiele für einen seit den 1990er Jahren institutionell verfestigten „Dualismus“ von Ethik und Geschichte geben. aber statt einer Gewichtsverlagerung von der Geschichte auf die Ethik der Medizin und statt einer Instrumentalisierung der Geschichte durch die Ethik zeichnet sich doch zunehmend eine produktive Interpenetranz beider Bereiche ab. (Wiesing 1995: 136ff; Wiesemann 1997: 85; Schulz 1997: 31; Frewer & neumann 2001: 11). Das Gemeinsame Grundsatzpapier des Fachverbandes Medizingeschichte und der akademie für Ethik in der Medizin von 2009, das diese Entwicklung markiert, zeigt, dass ausgerechnet die Medizintheorie zu jenem Feld wird, auf dem sich dieser austausch vorwiegend vollzieht. Dies wiederum könnte bedeuten, dass der innerhalb der Medizinethik seit einiger Zeit tobende Streit zwischen eher an den Methoden der empirischen Sozialforschung orientierten Vertretern und den sich an die traditionen der analytischen und angewandten Philosophie anlehnenden Wissenschaftlern sich im Querschnittsbereich „GtE“ fruchtbar und in kooperativer Weise als verschiedene Seiten der theorie auflösen könnte. Wenn die Beobachtung stimmt, dass innerhalb der medizinischen Ethik die Philosophie als Mutterdisziplin „starke rückzugstendenzen“ aufweist oder durch andere ansätze medizinethischer reflexion verdrängt wird (Steigleder 2006: 314), dann ist dies für die philosophische Ethik und die Qualität ethischer analysen ein alarmierendes Signal. Wenn aber dieser rückzug aufgehalten werden kann und die Philosophie im Bereich der Medizinethik systematisch mit reflexionsebenen der Sozial-, Wissenschafts- und Kulturtheorie sowie der Geschichte vernetzt wird, können alle Bereiche gewinnen. Im Vergleich zum angelsächsischen Sprachraum hat dieser Prozess in Deutschland erst begonnen. Es ist aber zu erwarten, dass mit dem Brückenschlag zwischen historizität und Diskursivität sich der Blick für das Ineinandergreifen der kognitiven und normativen Dimension ärztlicher Praxis in diachroner Perspektive schärfen und sich die neuerdings geäußerte Forderung nach einer „soziologisch aufgeklärten Medizinethik“ (Graumann & lindemann 2009) um eine sozialhistorische aufklärung erweitern wird. Das Querschnittsfach „Geschichte, theorie und Ethik der Medizin“ scheint vor diesem hintergrund im Begriff zu sein, sich aus einem terminus technicus für ein schwer zu verortendes lehrfach in eine wichtige Instanz zu verwandeln, die gerade für das Gesundheitssystem lange vermisst wurde (luhmann 1983: 173): Es wird allmählich zu einer reflexionstheorie der Medizin. natürlich ist der Weg dahin noch weit und es macht deshalb Sinn, wieder eine Bestandaufnahme zu machen. Vor einer solchen darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Integration von eigentlich drei Disziplinen in ein so genanntes Querschnittsfach nicht unproblematisch ist. Zum einen besteht die Frage, ob und wie man jeder einzelnen Subdisziplin in ihrer methodischen und theoretischen Eigenheit noch gerecht werden kann. Dies gilt sowohl für lehrinhalte als auch für Forschungsvorhaben. Zum anderen besteht die Gefahr der nivellierung des gesamten themenfeldes durch einen engen durch ressourcenknappheit gekennzeichneten institutionellen rahmen, der es nicht erlaubt, jede der drei Subdisziplinen mit gleicher Intensität zu bearbeiten. Statt jeweils einer Professur für Geschichte der Medizin, Medizinethik und theorie der Medizin haben sich viele Fakultäten dazu
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entschlossen, das breite Spektrum von GtE durch eine Professur vertreten zu lassen. Inhaltlich besteht darum die tendenz, zumindest auf dem Gebiet der Forschung Schwerpunkte zu setzen, die nicht in jedem Fall die erwünschte Integration von Geschichte, theorie und Ethik der Medizin widerspiegeln, sondern dezidiert einer der Subdisziplinen zugeordnet werden können. Dieser Symposiumsband möchte die Einrichtung des Instituts für Geschichte, theorie und Ethik der Medizin sowie eines Zentrums Medizin und Gesellschaft an der Universität Ulm als Gelegenheit nutzen, um die oben umrissene reflexionsarbeit weiter zu vertiefen, hat doch die Ulmer Medizinische Fakultät mit der Gründung gerade auf die eben umrissenen Zeichen der Zeit reagiert. anders als beim hundertjährigen Geburtstag Walter Pagels oder beim hundertsten Jubiläum der DGGMnt und mehr zum „Frontier Spirit“ einer neugründung passend, wurde hier für diesen Band allerdings ein maximal breit angelegter, explorativer Fokus gewählt. Ziel ist weniger ein bilanzierender rückblick, sondern vielmehr eine „auskundschaftung“ und Erschließung eines bisher nur notdürftig definierten terrains. Im ersten abschnitt, in dem zu diesem Zweck Synergien und Wahlverwandtschaften der herkunftsfächer von „Geschichte, theorie und Ethik der Medizin“ in den Blick genommen werden sollen, untersucht claudia Wiesemann die Beziehung der Medizinethik zur Medizingeschichte und Medizintheorie. Igor Polianski und heiner Fangerau betrachten den legitimationsdruck und theoretisierungszwang in der Geschichte, theorie und Ethik der Medizin und betten ihre analyse in die Darstellung eines hieraus gefolgerten lehrkonzeptes ein. Der zweite abschnitt wiederum schildert fünf zentrale achsenthemen des Querschnittsfaches. Volker roelcke fokussiert ausgehend von der Frage nach den aktuellen Implikationen historischer Kenntnisse die Medizin im nationalsozialismus und ergründet an diesem Beispiel die radikale Manifestation latenter Potentiale moderner Gesellschaften. Walter Bruchhausen wendet sich einer Globalisierungsgeschichte der Medizin am Beispiel der deutschen Entwicklungshilfe zu und beschreibt den Export und Import von Medizinern und Gesundheitspolitik als deutschdeutschen Systemstreit. Irmgard Müller fragt nach der Macht und Evidenz der Bilder für die naturwissenschaftlich orientierte Medizin, indem sie Johannes Zahns „Oculus artificialis“ einer Evidenzstrategien fokussierenden analyse unterzieht. heinz Schott untersucht in seinem Beitrag die Bedeutung des historischen Studiums der „natürlichen Magie“ für die Medizingeschichte und Gisela Badura-lotter stellt Überlegungen zu Metaphorik und Ethik der Medizin am Beispiel von sexuell übertragbaren Erkrankungen an. Damit öffnen sich die achsenthemen dem dritten abschnitt, der nun die Medizin zwischen Wohlfahrt und Biomacht in den Blick nimmt. nachdem Eva Brinkschulte die „Gehörlosenproblematik“ seit dem 18. Jahrhundert als Beispiel für den medizinischen Umgang mit Behinderung dargestellt hat, prüft Sebastian Kessler in seinem Beitrag die diskursive Konstruktion von sozialer Ungleichheit und Krankheit in Deutschland, bevor Debora Frommeld den Body-Mass-Index als biopolitisches Instrument charakterisiert. In seinem Beitrag zu Säuglingsfürsorge und Säuglingsernährung im 20. Jahrhundert schildert Jörg Vögele das Verhältnis von Staat und Medizin im Kontext der Fokussierung auf die Kindheit, ein Verhältnis, das
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Maria Griemmert in ihrer lokalstudie zum Ulmer Funden- und Waisenhaus auf die Stadt und die Frühe neuzeit überträgt. heinz-Peter Schmiedebach zuletzt wendet sich den kulturgeschichtlichen Implikationen von Seuchen zu, indem er ihre Spuren in Gesellschaft, Kultur und Politik ins Zentrum der Betrachtung rückt. Durch diese Sammlung von Beiträgen einschlägiger Vertreter des Faches sowie von nachwuchswissenschaftlern soll aufgezeigt werden, was und wie in der Medizingeschichte aktuell gesucht, geforscht und gefragt wird. auch wenn in diesem Band fachprogrammatische oder methodisch-theoretische Selbstverortungen explizit nicht im Vordergrund stehen, gibt er so die Gelegenheit diese an konkreten Einzelfragen zu erproben. Wir danken allen Beitragenden und wünschen den leserinnen und lesern eine angenehme und gewinnbringende lektüre. Prof. Dr. Heiner Fangerau Dr. Igor J. Polianski Ulm, den 26. September 2012 lItEratUrVErZEIchnIS Brocke, Bernhard vom (2001) ‚Medizinhistoriographie im Kontext der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte‘, in andreas Frewer und Volker roelcke (hrsg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. Ins 20. Jahrhundert. Stuttgart: 187– 212. Bröer, ralf (1999) Einleitung, in ralf Bröer (hg.) Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der aufklärung bis zur Postmoderne. Pfaffenweiler: 5 Bruchhausen, Walter; Schott, heinz (2008) Geschichte, theorie und Ethik der Medizin. Göttingen. cooter, roger (2006) ‚„Framing“ the End of the Social history of Medicine‘, in Frank huisman, John harley Warner (Ed.): locating Medical history. the Stories and their Meanings. Baltimore, london: 309–337. Frevert, Ute (1987) ‚Geteilte Geschichte der Gesundheit. Zum Stand der historischen Erforschung der Medizin in Deutschland, England und Frankreich‘, in FaZ vom 28.01.1987. Frevert, Ute (1987) ‚Medizingeschichte endlos. Zu Gunter Manns Kritik an der Sozialgeschichte der Medizin‘, in FaZ vom 08.04.1987. Frewer, andreas & neumann, Josef F. (2001) ‚Medizingeschichte und Moral: Medizinethik 1900– 1950 in historischer analyse‘, in andreas Frewer, Josef n. neumann (hg.): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1900–1950. Frankfurt am Main, new York: 11–19. Graumann, Sigrid & lindemann, Gesa (2009) ‚Medizin als gesellschaftliche Praxis, sozialwissenschaftliche Empirie und ethische reflexion: ein Vorschlag für eine soziologisch aufgeklärte Medizinethik‘, Ethik in der Medizin 21: 235–245. huismann, Frank & Warner, John harley (2006) ‚Medical histories‘, in: Frank huisman, John harley Warner (Ed.): locating Medical history. the Stories and their Meanings. Baltimore, london: 1–30. Jütte, robert (1992) ‚Sozialgeschichte der Medizin: Inhalte – Methoden – Ziele‘, Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9: 149–164. labisch, alfons (1996) ‚Geschichte, Sozialgeschichte und Soziologie der Medizin: Ein imaginäres Streitgespräch mit christian Probst‘, Sudhoffs archiv, Bd. 80, heft 1: 1–27.
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DIE BEZIEhUnG DEr MEDIZInEthIK ZUr MEDIZInGESchIchtE UnD MEDIZInthEOrIE1 Claudia Wiesemann Medizinethik, Medizingeschichte und Medizintheorie sind in Deutschland erst seit kurzer Zeit eine allianz eingegangen. Doch trotz der Bündelung zu einem lehrfach namens „Geschichte, theorie, Ethik der Medizin“ ist unklar, in welchen Bereichen sich die Fächer inhaltlich wie methodisch überschneiden, denn auf den ersten Blick befassen sie sich mit kategorial unterschiedlichen Inhalten: Die Medizingeschichte – so scheint es – fragt nach der Vergangenheit, die Medizintheorie analysiert die Gegenwart und die Medizinethik gestaltet gewissermaßen die Zukunft der heilkunde. Geschichte und theorie analysieren ein Sein, die Ethik ein Sollen. Die Geschichte geht induktiv vor, die Ethik – in der regel – deduktiv. handelt es sich also bei der Koppelung der drei Fächer nur um das Ergebnis einer historisch kontingenten Entwicklung oder doch um den ausdruck eines inhaltlich begründbaren Zusammenhangs? Dass sich eine vergleichbare institutionelle Koppelung nirgends außerhalb Deutschlands findet, ist kein schlagender Beweis gegen die letztere hypothese. Denn auch wenn die Professionalisierung und Institutionalisierung der Medizinethik, -geschichte und -theorie in den ländern dieser Welt unterschiedlichen regionalen Zufällen gehorchen, könnte sich doch das Spektrum der ihnen jeweils gemeinsamen Fragestellungen gleichen. Dafür spricht ein nicht unerhebliches Indiz: Im Mutterland der modernen Bioethik, den USa, haben sich eine reihe angesehener Bioethiker auch medizinhistorischen themen zugewandt.2 Zu nennen sind hier unter anderen: Jay Katz, Edmund Pellegrino, al Jonsen, ruth Faden oder tom Beauchamp. Im europäischen ausland geläufig ist zudem die Kombination von Medizinethik und Medizintheorie unter dem Dach der Philosophie der Medizin, die wiederum nicht selten in einem atemzug mit der Medizingeschichte genannt wird.3 Die Kombination von Geschichte, theorie und Ethik der Medizin scheint also mehr als ein Zufall der deutschen Geistesgeschichte zu sein (Wiesing 1995). allen 1 2 3
Die Erstpublikation dieses Beitrages findet sich in: Ethik in der Medizin 2006 (18) 4: 337–341. Der umgekehrte Effekt ist ebenfalls zu verzeichnen, Medizinhistoriker befassen sich mit medizinethischen themen aus historischer Perspektive, vgl. z. B. Bergdolt (2004), Frewer & neumann (2001). Vgl. z. B. die Zeitschriften „history and Philosophy of Medicine“ sowie „Medicine, health care and Philosophy“. letztere hat sich 2004 in zwei ausgaben ausführlich mit Empirischer Ethik (heft 1) und der Beziehung von Medizinphilosophie und Ethik (heft 3) befasst. Kazem Sadegh-Zadeh bezeichnet die Philosophie der Medizin als erweiterte theorie der Medizin, sie umfasse neben der Ethik auch die Praxistheorie der Medizin und die Wissenschaftsforschung (www.medizintheorie.de, 20.7.2012).
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drei Fächern ist zudem gemeinsam, dass sie ihre Existenz einer Dialektik von Krise und legitimation verdanken. Die Medizingeschichte erlangte ihre Bedeutung für die Medizin mit der institutionellen revolution des 19. Jahrhunderts, die zur akademisierung der heilkunde und zur Gründung der großen und einflussreichen überregionalen ärztlichen Körperschaften führte. Die Philosophie der Medizin antwortete auf die zeitgleiche revolutionierung des Weltbilds der Medizin durch die Zellulartheorie in der zweiten hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Medizinethik schließlich verdankt ihren aufschwung einer Erschütterung des traditionellen arzt-Patient-Verhältnisses durch die Verbreitung von Krankenhaus und Krankenkassen als gesellschaftlichen Einrichtungen, die der kollektiven medizinischen Versorgung dienen, sowie der Krise des naturwissenschaftlichen Expertenwissens in der zweiten hälfte des 20. Jahrhunderts.4 Medizingeschichte, Medizintheorie und Medizinethik sind die Kinder dieser Krisen und zugleich Protagonisten ihrer Bewältigung. Diese herkunft erklärt die ambivalente rolle aller dreier Fächer zwischen reformmotor auf der einen und legitimierungsinstanz auf der anderen Seite, die ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit bis heute prägt. all dies sind Indizien für einen echten inhaltlichen Zusammenhang der methodisch heterogenen Fächer. Deshalb gilt es zu untersuchen, welche Fragestellungen die Ethik als Wissenschaft vom Sollen und die Medizingeschichte und Medizintheorie als Wissenschaften vom Sein gemein haben? Der Weg zur Beantwortung dieser Frage führt über einige grundsätzliche Fragen angewandter Ethik. Ethik ist eine praktische Wissenschaft, und mit den anderen Wissenschaften vom menschlichen handeln teilt sie jene Probleme, die sich aus der prinzipiellen Inkongruenz von menschlichem Erkennen einerseits und menschlichem handeln andererseits herleiten lassen (Wieland 1989; Wiesemann 1999). Der Medizinphilosoph Wolfgang Wieland zählt dazu die aporien der Anwendung, der Motivation und der Institution. Es handelt sich um grundsätzliche Probleme der Ethik, die immer entstehen, wenn regeln allgemeiner art auf bestimmte Individuen in bestimmten Umständen angewendet werden sollen. Dann – so Wieland – bleibt der Ethik, und mit ihr jeder anderen praktischen Wissenschaft, nichts anderes übrig, als sich auf annäherungen zu beschränken, denn „ihre Kraft reicht nicht aus, die aufgaben, die sich im Umkreis von applikation und Motivation stellen, mit dem anspruch auf Endgültigkeit zu bewältigen; sie ist zu schwach, für die Institutionen, in denen sie sich vorfindet und deren Existenz sie fordern muß, Bedingungen durchzusetzen, denen jede herrschaft von Menschen über Menschen genügen muß, wenn sie gerechte herrschaft sein soll. nur unter utopischen Bedingungen könnte sie ihren aporien entgehen“ (Wieland 1989: 46). Das applikationsproblem begegnet der Ethik immer dort, wo ihrer natur nach allgemeine regeln oder Maximen auf den je besonderen Einzelfall angewendet 4
andere, in diesem Zusammenhang ebenfalls häufig als ursächlich genannte Faktoren haben entweder nur regionale Bedeutung und können das globale Phänomen daher nicht erklären (wie z. B. die Bürgerrechtsbewegung in den USa) oder beschreiben nur einen teilaspekt der Kollektivierung (wie z. B. die Erschütterung über die medizinischen Verbrechen des nationalsozialismus). Die Medizin im nationalsozialismus zeigte besonders drastisch die Konsequenzen einer Kollektivierung der Medizin unter den Bedingungen des totalitären Staats.
Die Beziehung der Medizinethik zur Medizingeschichte und Medizintheorie
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werden müssen und damit unter realen Bedingungen entschieden werden muss, ob ein Fall von x oder von y vorliegt. Das Motivationsproblem entsteht, wenn die Ethik den handelnden nicht nur die Gründe für ihr handeln vorgibt, sondern sie auch tatsächlich dazu bewegen muss, die solcherart legitimierte handlung zu vollziehen und ihr Verhalten danach auszurichten. Das Institutionsproblem schließlich hat zur Ursache, dass moralisches handeln in komplexen Gesellschaften immer zugleich auch sinnvoller Weise von Institutionen geregelt wird, womit aber die Frage aufgeworfen wird, wann das Individuum Entscheidungen an diese Institutionen delegieren darf oder sogar muss und wann es im Gegenteil nur seinem individuellen Gewissen verpflichtet sein sollte oder gar dazu beitragen muss, die vorhandenen Institutionen zu ändern. Gerade in der Medizinethik sind diese aporien in vielen Bereichen augenfällig. Denn die auf den individuellen Patienten und seine lebensgeschichte fokussierende Perspektive von heilkundigen und der – vom Gesetzgeber durchaus nicht unbeabsichtigte – relative Mangel an gesellschaftlichen Institutionen zur moralischen regulierung medizinethischer Fragen lassen eine routinemäßige Subsumption des Einzelfalles unter allgemeine regeln als besonders schwierig erscheinen. Ein Beispiel: In der Medizinethik wird gern auf den Kantischen Kategorischen Imperativ verwiesen: „handle so, dass Du die Menschen, sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Doch die anwendung dieses Grundsatzes in der Praxis erzeugt eine reihe von inzwischen sattsam bekannten Problemen: Sie entstehen in allen Situationen, in denen das Menschsein von Entitäten oder gar ihr Personsein auf dem Prüfstand steht, z. B. in der Fortpflanzungsmedizin; sie tauchen aber auch dort auf, wo zwischen „Instrumentalisierung“ auf der einen und „bloßer Instrumentalisierung“ auf der anderen Seite unterschieden werden muss, man denke hier nur an die fremdnützige Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Probanden. Mit dem von Wolfgang Wieland beschriebenen Motivationsproblem hat die Medizinethik immer dort zu tun, wo heilkundige nicht nur als moralisch empfindende Individuen, sondern als Vertreter einer Profession handeln, und damit ihr Verhalten nach spezifischen, für ihren Beruf kennzeichnenden Motiven ausrichten müssen. Die Berufsbilder von heilkundigen und die an sie gerichteten rollenerwartungen unterliegen einem gesellschaftlichen Wandel, der auch das Verhältnis zum Patienten nicht unberührt lässt. So haben sich z. B. in den letzten Jahren die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung in wesentlichen Punkten, z. B. im hinblick auf die respektierung von Patientenverfügungen oder die akzeptanz der passiven Sterbehilfe, mehrfach geändert und dabei dem arzt jeweils neue rollenerwartungen vorgegeben. Die Institutionsaporie schließlich lässt sich unschwer als Ursache einer manchmal an absurdität grenzenden öffentlichen Debatte in Deutschland über Ethikkommissionen und Ethikräte erkennen: Im Wechsel wurden dabei Forderungen nach mehr Eingriffen von mehr gesellschaftlichen Kontrollinstanzen auf der einen und heftige Kritik an solchermaßen eingerichteten Kontrollinstanzen auf der anderen Seite vorgetragen. Freiheit des heilkundigen ohne Beschränkung durch institutio-
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nelle auflagen oder rückbindung an gesellschaftliche Institutionen? Beidem wird gleichermaßen misstraut. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Probleme nicht prinzipiell gelöst oder umgangen werden können. Man kann ihre auswirkungen nur durch eine besonders gute analyse der lebenswirklichkeit und der sie bestimmenden Faktoren zu minimieren versuchen. Zu diesen Faktoren gehören auch das professionelle rollenverständnis und die aufgaben professioneller Institutionen. Moralische Prinzipien und situative Faktoren müssen sich wechselseitig bereichern und informieren. nicht nur lassen sich oft (vermeintliche) Seins-Fragen in Sollens-Fragen umformulieren – dies ist ein der Medizinethik bekanntes Phänomen –, auch Sollens-Fragen können in Fragen nach dem Sein umgewandelt und damit um eine faktische analyse bereichert werden. So hat in der Debatte um die Zulässigkeit der ärztlichen Beihilfe zu Suizid die Frage nach den rollenerwartungen an Ärzte in unserer Gesellschaft ihren berechtigten Platz. Die moralischen Pflichten von heilkundigen qua Profession können ohne eine faktische analyse derjenigen aufgaben, die ihnen bisher aus tradition zugewachsen sind, nicht plausibel gemacht werden. Medizintheorie und Medizingeschichte geben der Medizinethik damit phänomenale tiefe und situationsbezogene angemessenheit.5 Die von allen drei Disziplinen dabei verwendeten Begriffe und Konzepte können zudem nicht ohne wechselseitigen Bezug verstanden werden. Schon jede anthropologie enthält faktische und normative anteile. Dies gilt vor allem für den Begriff der Krankheit6. Welcher dieser aspekte jeweils führend ist, kann nur situationsabhängig entschieden werden. Für den Genetiker ist beispielsweise die mangelnde androgen-Empfindlichkeit von Keimdrüsen ein Problem gestörter Zellrezeptorfunktionen, für den Kinderarzt verbindet sich damit die schwierige aufgabe, die für das Kind daraus zu erwartenden Störungen oder gar Behinderungen zu quantifizieren und zu qualifizieren und für den Ethiker die Frage, wie eine daraus resultierende uneindeutige Geschlechtsidentität mit dem Kindeswohl zu vereinbaren ist. Jede dieser Perspektiven, die das Gewicht zwischen faktischen und normativen anteilen unterschiedlich verteilt, hat ihre Berechtigung. Es ist eine Frage der Urteilskraft, wie jeweils abhängig von der ausgangssituation und den intendierten Zielen eine angemessene Gewichtung vorgenommen werden muss. Die Urteilskraft, das Vermögen des Menschen, im Dickicht des Denkens dem handeln eine Schneise zu schlagen, kennt nur zwei Wege der ausbildung und Schulung: auf das Individuum bezogen ist dies die Erfahrung, die man im leben erwirbt und die es dem Einzelnen ermöglicht, mehrere Situationen ähnlichen charakters miteinander zu vergleichen, um daraus Schlüsse für das individuelle handeln zu ziehen. Für das Gemeinwesen nimmt diese Stelle die Geschichte ein. Sich ihrer zu bedienen ist die einzige, der Gesellschaft zur Verfügung stehende Methode, sich über die möglichen Folgen gesellschaftlichen handelns aufzuklären. aus die5 6
Dargestellt am Beispiel der Geschichte des nationalsozialismus in (roelcke et al 1997: 81– 106; Simon 2004), am Beispiel der Geschichte der transplantationsmedizin in (Schlich & Wiesemann 2001). Die Medizin kennt sogar den Begriff der körperlichen norm, die – wie das Beispiel der Sucht zeigt – keinesfalls auf wertfreie „normalwerte“ reduzierbar ist (Wiesemann 1999: 275–282).
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sem Grund ist auch die Geschichte selbst von ethischen narrativen durchzogen, über welche sie wiederum durch die Ethik aufgeklärt werden muss. Man denke hier nur an das so prominente wie umstrittene Ethos des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Medizinethik kann deshalb die in ihrem Kontext auftretenden medizintheoretischen und medizinhistorischen Fragen nicht einfach an die entsprechenden Fächer delegieren und somit aus dem ihr eigenen Fragenkreis heraushalten. Die Grenze zwischen diesen Fächern ist im Praktischen nicht eindeutig zu ziehen. In der konkreten Situation stellen sich Sein- und Sollensfragen immer gemeinsam, und ihre Differenzierung um der theorie willen kann nur in einer gemeinsamen analyse erfolgen. Darin zeigt sich die grundlegende kulturelle7 und soziale Dimension der Medizinethik. Die Probleme einer angewandten Ethik wie der Medizinethik haben damit die Gestalt eines Paradoxons: Die Medizinethik muss sich, um sinnvolle handlungsanweisungen für die Praxis zu geben, auf ein Sein beziehen, aber 1. dieses Sein (z. B. die rolle des arztes und die abgrenzung von arzt- und Pflegeberuf) ist historisch gewachsen und wird sich auch in Zukunft weiter wandeln; 2. die medizinischen „Fakten“ beruhen auf kontingenten Konzepten und theorien, die ihrerseits kritikwürdig sein können (hier wären z. B. theorien des Gens oder des Bewusstseins zu nennen); 3. das medizinische handeln findet in einem kulturellen Kontext statt, für den sich bestimmte moralische Maximen bewährt haben. Verpflanzt man jedoch die medizinische handlung und ihre moralische Motivierung in andere kulturelle Kontexte, kann sich der als selbstverständlich angenommene Zusammenhang relativieren oder sogar im schlimmsten Fall als problematisch herausstellen (wie z. B. im Fall einer unkritischen Übertragung des Konzepts des individual informed consent auf Kulturen mit starker Familienorientierung). Es ist an der Zeit, dass sich die Medizinethik diesen bohrenden Fragen praktischer anwendung widmet. Der Öffentlichkeit jedenfalls ist es nicht verborgen geblieben, dass die Sicherheit der theorien und Maximen immer dann dahin schwindet, wenn es an den Einzelfall geht. Dieser herausforderung sollte sich die Medizinethik in Zukunft stellen. Es wird ihr nur im Verbund mit Medizingeschichte und Medizintheorie gelingen. trotz aller heterogenität überschneiden sich ihre Fragestellungen dort, wo es um die angemessene Berücksichtigung der lebenswirklichkeit der handelnden im Gesundheitswesen und dessen sozialen und kulturellen Wandel geht. Insofern befassen sich alle drei mit Fragen nach dem Gestern, heute und Morgen der Medizin. Das Ergebnis ist eine an der lebenswirklichkeit orientierte praktische Disziplin, die den aporien der Ethik mit situationsgebundenen analysen begegnet. Eine solche kontextsensitive Ethik – die schon von t. Krones und G. richter gefordert wurde (Krones & richter 2003) – eröffnet schließlich auch die im Zeitalter der 7
Kultur hier verstanden als symbolische normierung des Seins.
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Globalisierung so notwendigen kulturspezifischen und kulturübergreifende Perspektiven. Dies sind die aufgaben des Fachs „Geschichte, theorie, Ethik der Medizin“. lItEratUrVErZEIchnIS Bergdolt, K. (2004) Das Gewissen der Medizin: Ärztliche Moral von der antike bis heute (München: c. h. Beck). Düwell, M. (2005) ‚Sozialwissenschaften, Gesellschaftstheorie und Ethik‘, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 10: 5–22. Frewer, a. & n. J. neumann (2001) Medizingeschichte und Medizinethik: Kontroversen und Begründungsansätze 1900–1950 (Frankfurt/M.: campus). Krones, t. & G. richter (2003) ‚Kontextsensitive Ethik am rubikon‘, in Düwell, M. & K. Steigleder (hg.), Bioethik: Eine Einführung (Frankfurt/M.: Suhrkamp): 238–245. roelcke, V., hohendorf, G. & M. rotzoll (1997) ‚Von der Ethik des wissenschaftlichen Zugriffs auf den Menschen: Die Verknüpfung von psychiatrischer Forschung und „Euthanasie“ im nationalsozialismus und einige Implikationen für die aktuelle medizinische Ethik‘, Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 13: 81–106. Schlich, t. & c. Wiesemann (hg.) (2001) hirntod: Kulturgeschichte der todesfeststellung (Frankfurt/M.: Suhrkamp). Simon, E. c. (2004) Geschichte als argument in der Medizinethik: Die Bezugnahme auf die Zeit des nationalsozialismus im internationalen Diskurs (1980–1994). Diss. med. Gießen Wieland, W. (1989) aporien der praktischen Vernunft (Frankfurt/M.: Klostermann). Wiesemann, c. (1999) ‚norm, normalität, normativität – Ein Beitrag zur Definition des Krankheitsbegriffs‘, in rüsen, J.; leitgeb, h. & n. Jegelka (hg.), Zukunftsentwürfe: Ideen für eine Kultur der Veränderung (Frankfurt/M./new York: campus): 275–282. Wiesemann, c. (2006) ‚the contribution of Medical history to Medical Ethics: the case of Brain Death‘, in rehmann-Sutter, c., Düwell, M. & D. Mieth (hg.), Bioethics in cultural contexts (Berlin, heidelberg, new York: Springer): 187–196. Wiesing, U. (1995) ‚Zum Verhältnis von Geschichte und Ethik in der Medizin‘, ntM Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der naturwissenschaften, technik und Medizin 3: 129– 144.
ZWISchEn MYthOS UnD EVIDEnZ? legitimationsdruck und theoretisierungszwang in der Geschichte, theorie und Ethik der Medizin1 Igor J. Polianski, Heiner Fangerau Die Debatte um die Daseinsberechtigung geistes- bzw. kulturwissenschaftlicher Wissensanteile im medizinischen Kurrikulum ist so alt wie das fortschrittsorientierte naturwissenschaftlich-technische Paradigma der Medizin. am schwersten traf die Durchsetzung des naturwissenschaftlich-technischen Ideals die Geschichte der Medizin, der zuerst ihre unmittelbare Praxisrelevanz und sodann auch ihre standespolitische Symbolbedeutung abhanden kam. Konnte die Medizingeschichte als lehrfach an vielen Fakultäten bis heute dennoch überleben, dann spätestens seit den 1990er Jahren entweder im Dreigespann mit der medizinischen theorie und Ethik (GtE) wie in Deutschland oder im literarisch-künstlerischen arrangement der sogenannten „Medical humanities“ wie in den USa. aus einer kritischen Perspektive erwies sie sich dabei die Medizingeschichte als die hauptprofiteurin eines periodisch wiederkehrenden medizinischen Krisendiskurses: Das lamento am „mechanistischen Geist“ und der „Entseelung“ der Medizin ging häufig mit dem ruf nach der „Wiederbesinnung“ auf die historischen Wurzeln und philosophischen tiefen der heilkunde einher. Darüber hinaus erfuhr die Medizingeschichte speziell in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik eine erinnerungspolitische aufwertung durch die aufarbeitung der von den Ärzten im nS-Staat begangen Verbrechen. trotz gelegentlicher Konjunkturen gelang es humanitären Wissensanteilen im Kurrikulum aber nie, sich des fragilen Stigmas der „Schöngeisterei“ ganz zu entledigen. Gleichwohl konnte ein gewisser Status quo stets aufrecht erhalten werden, der auch dadurch bewahrt wurde, dass es zum gesellschaftlichen und standespolitischen Konsens zu gehören scheint, dass der Bildungshorizont eines guten arztes mehr umfassen sollte, als bloß seine technisch-wissenschaftliche Expertise. Mit diesem aufsatz möchten wir ein an der Universität Ulm entwickeltes didaktisches Modell vorstellen, das unter anderem zum Ziel hat, bestehenden legitimationsproblemen der GtE mit einer mehr integrierten Vermittlung humanitären Wissens im medizinischen Kurrikulum zu begegnen. Dabei gehen wir von der Beobachtung aus, dass in medizinischer Fachkultur die Funktion der Medizingeschichte und Medizinethik bzw. der „Medical humanities“ in die nähe einer Säkularreligion für die Ärzte gerückt wird. Mit unserem ansatz möchten wir zum abbau 1
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und ergänzte Version des folgenden aufsatzes: Polianski I, Fangerau h (2012): „toward ‚harder‘ Medical humanities: Moving Beyond the ‚two cultures‘ Dichotomy“, academic Medicine (87) 1.
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dieses prekären Bildes beitragen. Zuerst bietet er einen kurzen Überblick über die internationale Diskussion zum thema der „Medical humanities“ und ihrer Evaluation. Sodann wird die aktuelle lage des Querschnittsfachs GtE in der Bundesrepublik skizziert. abschließend wird das in Ulm entwickelte Modell detailliert erläutert. nEUE lEGItIMatIOnSKrISE – nUn aUch DIE lEhrE Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich in der Bewertung medizinhistorischer und medizinethischer Inhalte im Medizinstudium eine neue Entwicklung ab, die die Gewichte zwischen legitimation und Kritik an den Medical humanities wieder einmal zu verschieben scheint. Initiiert und inspiriert wurde diese bedenkliche Entwicklung von einer Denkfigur, die sich in den 1990er Jahren zunächst als lehrkonzept unter dem label „evidence based“ in ganz verschiedenen Bereichen durchsetzen konnte. Falsch als „Evidenz“ übersetzt – Evidenz bedeutet im Deutschen im Gegensatz zum englischen „evidence“ eben gerade nicht, dass ein Sachverhalt auf einen Beweis angewiesen ist, sondern, dass er augenscheinlich und unmittelbar erkennbar ist – erreichte die „Evidenzbasierung“ die unterschiedlichsten Kontexte. Evidenzbasiert sollen mittlerweile Politikberatung und armutsbekämpfung, Markenstrategie und Design, Karriereplanung und polizeiliche Ermittlungsarbeit sein. In zwei Bereichen kommt diesem Begriff aber eine ganz besondere Bedeutung zu: Es ist zum einen die Evidence Based Medicine (EBM) und zum anderen die so genannte „evidence- and outcome-based education“ (OBE). Bei der OBE handelt es sich um ein didaktisches reformkonzept, das seinen Schwerpunkt auf messbaren und empirisch validen lehrergebnisdaten legt, wie sie bspw. in praktischen „Skills“ der Studierenden manifestieren, statt sich auf den „Input“ des Unterrichtsstoffs (z. B. absolvierte lehrstunden) zu konzentrieren. Das Konzept stammt aus den 1980er Jahren und wurde bereits weltweit in Bildungsfelder wie Fremdsprachenunterricht oder Mathematik erfolgreich implementiert. Evidenz ist im deutschen Sprachverständnis selbstevident – erst recht in der Medizin, die mit dem ebenso seit den 1980er Jahren an Popularität stets zugewonnenem EBM-Konzept über ein Korrelat zum OBE verfügt. Es überrascht daher nicht, dass der Gedanke, Evidenz ausgerechnet in die Ärzteausbildung einzuführen, auf eine besonders positive resonanz stieß. nach 1999 hat sich im angelsächsischen raum mit dem Begriff der „Best Evidence Medical Education“ (BEME) (harden 1999; Eitel 2000) gleichsam eine Kreuzung aus beiden Evidenzen, didaktischer und medizinischer, herauskristallisiert. Zeitversetzt um einige Jahre erreichte die BEME die deutsche Ärzteausbildung mit der aufschlussreichen Begründung: „Es handelt sich hier also um einen der klinischen Forschung ähnlichen ansatz: die Effektstärkemessung. Wir bezeichnen diese Form der Evidenzgewinnung als Wirkungsanalyse“ (Eitel 2003: 155). laut Florian h. Eitel bewegte sich die Unterrichtsgestaltung wie die klinische Praxis „zwischen Mythos und Evidenz“ und analog zur Klinik könne die Qualität der lehre nur erhöht werden, wenn rationale evidenzbasierte Entscheidungen an die Stelle von meinungs- und eminenzbasierten Mythen träten
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(Eitel 2003: 154). nach magischen sieben Jahren gerieten auch die „Medical humanities“ ins Visier der BEME. In einer literaturübersicht stellten Jakob Ousager und helle Johannessen im Jahr 2010 fest, dass sich das unter diesem titel (Medical humanities) vereinende geisteswissenschaftliche Fächerkonglomerat in der medizinischen ausbildung der Evidenzbewährung notorisch verweigere und sie warfen daraufhin die Frage auf, ob ein Fehlen entsprechender Effektstudien seine legitimation und gar seine Existenz gefährde (Ousager 2010). Mit dieser arbeit lösten die autoren eine rege Debatte aus, die um so heftiger verlief, weil die autoren einen prinzipiellen Ebenenwechsel vollzogen hatten: Statt auf die Evaluation von konkreten lehrmethoden, wie sie die BEME für die chirurgie oder Innere Medizin forderte, zielte ihre argumentation nun auf die Bewertung des ganzen Faches auf die Frage nach seinem nutzen für die klinische Praxis. Die folgende auseinandersetzung verdeutlichte einmal mehr, dass nach wie vor kein Konsens über die Funktion und Definition der „Medical humanities“ besteht, obwohl diese schon seit den 1960er Jahren an den US-amerikanischen medizinischen Fakultäten gelehrt werden. Im weiteren Sinne umfasst dieser Begriff eine reihe von Disziplinen einschließlich der Philosophie, Ethik, Geschichte, Sozialwissenschaften und Kunst in ihren vielfältigen Bezügen zur Medizin. Diese breite aufstellung des Faches kommt der in der Bundesrepublik als Querschnittsfach Geschichte, theorie und Ethik etablierten lehrkonzeption in unseren augen recht nahe. In den englischsprachigen ländern werden die Medical humanities jedoch häufiger enger gefasst und allein auf die Implementierung fiktionaler texte und Kunstwerke in der Ärzteausbildung bezogen. Im Folgenden benutzen wir bei eigenen aussagen den weiter gefassten Begriff. In ihrer systematischen Übersicht haben Ousager und Johannessen 245 Publikationen aus der Zeit von 2000 bis 2008 ausgewertet, die sich mit den Medical humanities in der Ärzteausbildung beschäftigen. Dabei lag ihr Fokus auf der Frage, inwieweit Befürworter der Medical humanities bereit waren, eine empirische Evidenz für den langfristigen nutzen dieses Unterrichts für die spätere klinische Praxis der Studierenden (Ziel: „better Doctors“ in „real-life doctoring“) anzuführen. Ousager und Johannessen kommen zu dem für sie niederschmetternden Ergebnis, dass die große Mehrheit der autoren lediglich einen blinden Glauben an die positive Wirkung solcher Kurse an den tag gelegt hätte. nur in ausnahmefällen seien randomisierte Effektstudien durchgeführt worden, die eine gewisse auswirkung auf die ärztliche haltung (mehr „Empathie“) in ihrer späteren Berufspraxis nachgewiesen hätten. Ousager und Johannessen sehen damit den Status und selbst die Existenz des Fachgebietes in Gefahr und fordern noch mehr harte empirische Daten, denn: „outcomes-based education is currently on the agenda“ (Ousager 2010: 993). Es verwundert nicht, dass der ansatz Ousagers und Johannessens als „utilitaristisch“ und „diskriminierend“ abgelehnt wurde (charon 2010 & Belling 2010). Ironisch ergänzt rita charon den pointierten Kommentar, dass im „idiosynkratrischen System“ der empirischen Evidenz und Utilität bald die Blutwerte von Patienten verglichen würden, um zu prüfen, ob sie bei denjenigen besser seien, die von den in Medical humanities qualifizierten Ärzten behandelt worden seien (charon 2010: 936). tatsächlich entsteht auch bei uns der Eindruck, dass dem akademischen leh-
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rer der Medical humanities im Prokrustesbett der „evidence based education“ eine ähnlich peinliche rolle zugedacht wird, wie die des homöopathen in einer randomisiert kontrollierten Studie. Dennoch stellen wie eingangs skizziert legitimationsdefizite des Faches natürlich keine Erfindung Ousagers und Johannessens dar. Um die tiefenstruktur der in dieser jüngsten Debatte zum ausdruck kommenden Fragilität des Faches freizulegen, sollten zwei aspekte ihres reviews genauer betrachtet werden. Erstens ist ihre Studie so angelegt, dass die legitimität der Medical humanities apriori angezweifelt wird. Ihr resümee lautet: „the present trend of evidence-based learning, after all, requires that the study of the humanities, like any other curricular activity within medical education, should in principle be able to justify its existence with evidence of its effectiveness“ (Ousager 2010: 993). Genau an diesem Punkt schleicht sich in die auseinandersetzung aber eine symptomatische akzentverschiebung ein, die deutlich wird, wenn man sich vor augen hält, dass doch kaum ein anatom, Pathologe, Internist oder klinischer Pharmakologe auf die Idee kommen würde, die Existenz seines lehrfaches durch nutzennachweis für die ärztliche Praxis sichern zu müssen. Stattdessen wird man im BEME-Paradigma die Effektivität und legitimität von bestimmten lehrmethoden (Einsatz von elektronischen Medien, themenauswahl, Prüfungsformen usw.) in diesen Fächern prüfen wollen (Eitel 2003: 157). Indem der Fokus von Ousager und Johannessen aber auf die langfristigen nutzeffekte verschoben wird, wird die Frage nach dem, welche Inhalte und wie Medical humanities im Unterricht vermittelt werden, durch die pauschale Ob-Frage nach ihrer Daseinsberechtigung ersetzt. Dabei sind es gerade Was- und Wie-Fragen, die in einem derart heterogenem Fach wie Medical humanities, das im Unterschied zu „normalen“ Fächern der Medizin auf kein mehr oder weniger festes Wissenskanon zurückgreifen kann, gestellt werden müssen. Bei Ousager und Johannessen wird diese Vielfalt jedoch ausgeblendet und eine homogenität des Faches konstruiert, die es so nicht gibt. Zweitens wird die Kompetenz der Medical humanities von diesen autoren nicht um die Zielgröße Bildung, sondern um die Kategorie Erziehung selektiv festgeschrieben. Indem die Semantik von „human“, „humanistic“ und „humanizing“ systematisch vermengt wird, wird suggeriert, dass mit dem Endziel „bessere Doktoren“ zu bekommen, ausschließlich moralische Qualitäten (mehr „Empathie“ und „Mitgefühl“) anvisiert sind. Medical humanities werden daran bemessen, ob „humanere“ (nicht etwa kompetentere) Ärzte die Universitäten verlassen. Damit werden die Medical humanities über die schillernde Qualität der „Softness“ definiert – ein von catherine Belling schon in einem früheren aufsatz trefflich beschriebener Stigmatisierungsdiskurs, der die rezeption des Fachs in das dichotome Schema von „soft“ und „hard“ hineinzwingt und sich auf zwei Ebenen vollzieht, die miteinander systematisch vermengt werden (Belling 2006). auf der einen Seite soll auf der Funktionsebene der „harte“ Mediziner zu größerer humanität erzogen werden, auf der anderen Seite wird auf der Methodenebene unterstellt, dass ein über die Erziehung hinausgehender nutzen (Bildung) vom humanitären Fach auch nicht erwartet werden könne, da er selbst über keine „harten“ Verfahren und exakten disziplinären normen verfüge.
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Beide Diskurse, die homogenität und die „Softness“, erinnern an die „two cultures“-Debatte der 1960er Jahre (Snow 1960) und zeigen gleichzeitig, dass der damals diskutierte Dualismus von Science und humanities im medizinischen Bereich nicht überwunden ist. am Department of clinical Sciences der lund University sah man sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts sogar genötigt, eine lehrveranstaltung namens „airbags for the culture clash“ einzuführen, um die beiden Wissenskulturen einander etwas anzunähern (Wachtler 2006: 16). Wie dringend angezeigt solche Entspannungsinitiativen inzwischen geworden sind, macht eine analyse der studentischen Kritik am Fach der Medical humanities bzw. der Geschichte, theorie und Ethik der Medizin (als deutsche Entsprechung) überdeutlich. Johanna Shapiro und ihre Koautoren berichten von einer konsistenten reserviertheit der Studierenden gegenüber dem Fach, die dieses bestenfalls als „very relaxing“ dulden, es oft aber als „vague“ und „open ended“, „too personal“ und „pointless“, „irrelevant“ und „just plain stupid“ ganz abschaffen wollen (Shapiro 2009: 193). Vor derartigen Vorurteilen möchten Ousager und Johannessen dieses „sympathische“ Projekt nach eigener aussage mit ihrer Forderung nach mehr „harten Daten“ schützen. Gleichzeitig transportieren und multiplizieren sie aber mit ihrem aufsatz selbst ein diffuses Unbehagen an der „Softness“ der Disziplin, welche nach aussage von Delese Wear quasi zum Strohmann der ganzen Debatte geworden ist (Wear 2009: 215). Doch auch die Befürworter des Faches tragen häufig zu diesem Diskurs nicht wenig bei. Über den Sinn und Zweck der Medical humanities koexistieren gegenwärtig mehrere narrative. howard Brody klassifiziert sie in drei Kategorien: 1. Sie dienen der klassischen Erbauung (liberal arts education), 2. Sie dienen der moralischen Kultivierung und 3. Sie dienen der geistigen regeneration (Erholung vom „harten“ alltag durch die Besinnung auf ästhetische Werte) (Brody 2011: 2). Damit vollzieht sich die Selbstpositionierung des Faches nicht im Kern der Medizin, sondern als deren halbschatten, Umrahmung und geistige aura. rita charon etwa verteidigt das Konzept einer „narrative Medicine“ mit den Worten: „at the risk of sounding like a pleader for the case, I suggest that we are midwifing a medicine that makes contact with the mysteries of human experience along with its certainties–a medicine that appreciates the deep beauty of health, the silence of health, the wisdom of the body, and the grace of its genius.“ (charon 2010: 937). Die Selbstverweigerung empirisch validierte Daten für den nutzen derartiger lehrinhalte zu erheben, wird aber von den Kritikern der Medizingeschichte und Medizinethik nicht einfach kritisch aufgenommen, sondern, wie bei Florian h. Eitel mit dem Stigma des „Mythos“ belegt (Eitel 2003: 154). Damit erfolgt eine gleichzeitige Stigmatisierung und Selbstinszenierung des Faches als eine art Säkularreligion für den arzt, deren Funktionen sich in Brodys Klassifikation erkennen lassen. Brody zieht aus seiner kritischen analyse den Schluss: „the three conceptions of the medical humanities are each individually incomplete and require the others to fill critical gaps.“ (Brody 2011: 6). aus unserer Sicht erscheint es jedoch zumindest fraglich, ob eine derartige Synthese des Dreiklangs einer weltanschaulichen Erbauung, moralischen Erziehung und ästhetischen andacht legitimationsprobleme wirklich löst. Das gilt für die Medical humanities international aber auch für den Fall des Querschnittfachs
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GtE in Deutschland, auch wenn die Konstellation hier mit den Schwerpunkten auf Ethik und Geschichte Besonderheiten aufweist. Im universitären Bildungssystem kann nach unserem Verständnis nur Bildung und eben keine Erziehung eine integrative achse eines Faches sein. In dieser hinsicht erscheint uns die haltung von Belling wegweisend, die in ihrem aufsatz „toward a harder humanities in Medicine“ die prinzipielle Frage aufwirft, warum die exaktere Definition von Standards und Präzision einer geisteswissenschaftlichen herangehensweise in der Medizin widersprechen sollte? („Why should exacting standards and precision be at odds with humanity?“ (Belling 2006: 3)). Obwohl Bellings konkrete Vorschläge in eine andere richtung weisen, als unsere folgenden Überlegungen, möchten wir an ihren Kerngedanken anknüpfen, die „Medical humanities“ oder das Querschnittsfach Geschichte, theorie und Ethik der Medizin auf eine solide methodologische und theoretische Basis zu stellen. Der Wissenschaftshistoriker Wolf lepenies hat in rückblick auf die bereits erwähnte „Zwei-Kulturen-Debatte“ den Begriff der „dritten Kultur“ geprägt (lepenies 1985). Damit meinte er eine Einebnung der überholten Konfrontationsstellung der Geistes- und naturwissenschaften auf dem Feld der Sozial-, Wissenschafts- und Kulturtheorie. Dieses Feld genießt jedoch im Bereich der Medical humanities zu wenig Beachtung. Dieser Befund lässt sich zumindest für die USa und einige europäische länder einschließlich der Bundesrepublik konstatieren (Möller 2006: 5). So wird in einer schwedischen Studie kritisiert, dass Studierende unbelastet von theorie ihr Studium durchlaufen („students come away lacking theoretical structure to understand what they have learned.“ (Wachtler 2006: 1). Diese aussage bezieht sich sowohl auf historische als auch auf ethische Wissensinhalte. Die hiermit geforderte theorie – begriffen im Sinne einer medizinbezogenen „dritten Kultur“ – stellt aus unserer Sicht jene Integrationsachse dar, die zwischen den Fronten der „Zwei Kulturen“ zu vermitteln vermag. In langfristiger Perspektive könnten Medical humanities beziehungsweise GtE in Deutschland damit zum Kristallisationspunkt jenes Funktionsbereiches in der Medizin werden, der von manchen Soziologen vermisst wurde: Sie haben das Zeug zur reflexionstheorie der Medizin (luhmann 1983: 173). GESchIchtE, thEOrIE UnD EthIK DEr MEDIZIn – DaS DEUtSchE MODEll legitimationsdefizite, auf die Ousager und Johannessen hinweisen, sind ein internationales Phänomen, das auch in Deutschland nicht nur reichlich bekannt ist, sondern auf eine lange tradition verweist. Fast zu einer „historischen Konstante“ ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts die permanente Klage geworden: „Die wenigen aerzte und naturforscher, die sich den Sinn für historische Studien bewahrt haben und auf diesem Gebiete thätig sind, erscheinen der großen Mehrzahl ihrer Berufsgenossen als Sonderlinge oder curiositäten-Krämer, für deren Bestrebungen man eine durch mitleidiges Wohlwollen gemilderte Geringschätzung empfindet.“ (Puschmann 1889: 504) auch „Im gegenwärtigen Zeitalter der molekularen Medizin“
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wird vielfach vor der Machtübernahme einer reduktionistischen wissenschaftlichen „Monokultur“ gewarnt, in der die Begriffe „natur“ oder „Geist“ zu „blinden Flecken“ werden, befürchtet der Bonner Medizinhistoriker hans Schott (Schott 2009: 937). Ungeachtet solcher düsteren Prognosen hat sich die Situation der Medical humanities in Deutschland auf institutioneller Ebene jedoch deutlich verbessert. Seit 2002 fordert die Ärztliche approbationsordnung an zentraler Stelle in §1 die Vermittlung der „geistigen, historischen und ethischen Grundlagen ärztlichen Verhaltens auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes“ (ÄappO 2002: §1). Im Sinne dieser reform wurde in den medizinischen Fakultäten der Bundesrepublik seit 2003 der Querschnittbereich Geschichte, theorie und Ethik der Medizin (GtE) eingeführt. Zwar wird die inhaltliche Implementierung des Faches den einzelnen Instituten überlassen, doch haben der Fachverband Medizingeschichte und die akademie für Ethik in der Medizin in einem gemeinsamen Grundsatzpapier im Juli 2009 ihre Empfehlungen dazu formuliert, die genau auf die Überbrückung der genannten Kluft zweier Wissenskulturen abzielt: Gerade weil die Medizin „keine reine naturwissenschaft“ ist, sollen die Studierenden zu einer kritischen reflexion über die historischen, soziokulturellen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der modernen Medizin befähigt werden (Gemeinsames Grundsatzpapier 2009). Mit diesem kollektiven Statement wurde den seit der neunten reform der Ärztlichen approbationsprüfung immer wieder artikulierten Plädoyers für eine neue „Kultur der Medizin“ (Fangerau 2002 & Möller 2006) einmal mehr nachdruck verliehen. Im „Deutschen Ärzteblatt“ wurde 2010 sogar von einer autorengruppe vorgeschlagen, ein „Philosophicum“ in das medizinische Kurrikulum wieder einzuführen. Ein philosophischer Basiskurs würde nämlich philosophische Schlüsselkategorien wie „Menschenwürde“ vermitteln und professionelle Ethik der Medizin fundieren (Bohrer 2010). trotz dieser Erfolge kann auch in der Bundesrepublik beobachtet werden, dass die relevanz von GtE immer wieder in Frage gestellt wird und zwar nach wie vor im Geiste der „two cultures“-Dichotomie. auch hier zeigt sich der paradoxe Kontrast zwischen wachsender Bedeutung der Medical humanities im curriculum und deren oft kritischen aufnahme. Man könnte hinterfragen, ob dieses Missverhältnis nicht ein Symptom dafür wäre, dass der Bedarf an GtE durchaus besteht, dass aber damit verbundene hoffnungen teilweise enttäuscht werden? Damit kommen wir auf die für die internationale Ebene bereits formulierten thesen zurück. auch in der Bundesrepublik bildet die „theorie“ das am schwächsten repräsentierte Glied im Querschnittsfach GtE (Möller 2006: 5). Gelegentlich wurde auch hier gefordert, den akzent vom narrativen zum theoretischen Wissen zu verschieben. Da in der ausbildung von Ärztinnen und Ärzten „nicht nur die Vermittlung von Fakten, sondern auch ihre kritische reflexion“ zählen, sollen mit hilfe des Querschnittbereichs GtE u. a. auch eine medizinische anthropologie, Wissenschaftstheorie usw. in den Unterricht implementiert werden, die die „blinden Flecken“ der Biomedizin zu tilgen helfen (Stöckel 2005 & Schott 2009). nichtsdestotrotz sind in der Bundesrepublik medizinhistorische Erzählung und ethische reflexion im Unterricht oft zu wenig miteinander verzahnt und sozial- und kulturwissenschaftlich aufbereitet. Im 2009 neu gegründeten Institut für Ge-
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schichte, theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm wird versucht, diesen Defiziten mit einem innovativen lehrkonzept zu begegnen. 4-InStrUMEntE-anSatZ: DaS nEUE UlMEr MODEll Das Querschnittsfach GtE wird in Ulm wie an den meisten Medizinischen Fakultäten in integrierter Form angeboten und besteht aus drei Unterrichtselementen: zwei Seminaren und einer Vorlesung. Geschichte, theorie und Ethik werden in allen Kursen im Querschnitt gelehrt. Die akzente werden allerdings unterschiedlich gesetzt. Während das Seminar GtE 1, das von den Studierenden im 8. oder 9. Semester (8 Stunden) belegt wird, hauptsächlich in die moralphilosophischen leitparadigmen und historischen Kontingenzmomente der Ethik der Medizin einführt, setzt das Seminar GtE 2 im 10. Semester (14 Stunden) seinen Schwerpunkt auf die Geschichte und theorie der Medizin. auch hier werden medizinethische Fragen betrachtet, nunmehr aber vornehmlich von der kulturtheoretischen Warte her. Ein zweistündiges Praxisseminar im 10. Semester (GtE 3) übt in Kooperation mit der anästhesie in Simulationsszenarien die anwendung des erworbenen reflexionsvermögens unter klinischen Stressbedingungen ein. Eine begleitende Vorlesung bringt zuletzt das „G“, „t“, und „E“ (10 Stunden) des Faches wieder in eine Synthese. Das Seminar bildet hier die stundenmäßig größte Veranstaltung und den optimalen curricularen rahmen, um die oben formulierten Ziele didaktisch einzulösen. Gleichzeitig reicht die Stundenzahl nicht aus, medizinhistorische Methoden und Werkzeuge zu unterrichten, weshalb zu diesem Zweck für Interessierte ein eigenes Wahlpflichtangebot erstellt wurde. Vielmehr wurde in diesem Seminar Wert darauf gelegt, exemplarisch medizinhistorische, medizintheoretische und medizinethische Betrachtungswinkel im Blick auf die Medizin einzunehmen. Das didaktische leitnarrativ des Kurses GtE 2 in Ulm fordert die Medizinstudentinnen und Medizinstudenten somit dazu auf, ihre Fachinstrumente, Skalpell und Stethoskop, für die Seminardauer abzulegen, um vier kultur- und geschichtswissenschaftliche Beobachtungs- und Denkinstrumente kennenzulernen. Diese umfassen die Konzepte der „Paradigmen“, „Diskurse“, „Systeme“ und „Kosmologien“ und ihre jeweilige anwendung auf die Medizin. Damit schließt sich das Konzept dem generellen trend, weg von bloßer Faktenvermittlung an, macht aber die bekannte Kantsche Formel zu seinem didaktischen Prinzip: „Gedanken ohne Inhalte sind leer, anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Kant 1781: 51). anders formuliert: Die Befähigung, selbständige Gedanken zu entwickeln, erfordert sowohl eine theoretische Sehhilfe als auch eine phänomenologische horizonterweiterung. Unter gegebenen engen curricularen Bedingungen erschien daher die an einigen GtE-Instituten praktizierte lösung, Wahlmöglichkeit zwischen thematisch verschieden ausgerichteten GtE-Seminaren zu geben, weniger sinnvoll zu sein, als ein in der tendenz einheitliches Programm, das die unvermeidlichen lücken in einer thematisch gegliederten Übersichtsvorlesung ausgleichen kann. Dementsprechend gründet der Kurs einerseits auf dem für geis-
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teswissenschaftliche Studiengänge charakteristischen Primat von theorie und Methode vor Detail- und Faktenwissen, legt andererseits zur theorieerläuterung die zentralen Punkte der Geschichte und Ethik der Medizin fest. Eigene Forschungsschwerpunkte und persönliche Interessen des jeweiligen Dozenten lassen sich so zwar nur punktuell in die Seminarinhalte integrieren, kommen aber im Bereich eines Wahlpflichtfachangebotes zu ihrem vollen recht. Das Seminar wird wahlweise im Block oder wöchentlich angeboten und gliedert sich in fünf Module. Im ersten einführenden Block „Medizin und Kultur“ werden zuerst die lernziele des Kurses aus den herausforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung (soziale Differenzierung, Individualisierung, Globalisierung und Beschleunigung) an die Medizin abgeleitet. Die Vorstellung einer „reflexiven Moderne“ eignet sich hier in besonderer Weise Medizinstudierende für die historische Zeitdimension und für den Wandel des systematischen Ortes ihres Wahlberufes in der Gesellschaft zu sensibilisieren (Beck 1994). So lässt sich im auftakt des Programms die aufforderung an die Kursteilnehmer herausarbeiten, Perspektivenwechsel zu vollziehen, die dann in einer näheren auseinandersetzung mit dem Begriffspaar „Kultur und natur“ mündet. Diese Diskussion wiederum rückt die erkenntnistheoretischen Grundkonstituenten und Grundbegriffe der Medizin und der medizinischen anthropologie in ihren Fokus: Körper und leib, leiden und Schmerz, Gender und Sex, Krankheit und Gesundheit, Diagnose und Medikalisierung. Diese Kategorien werden in ihrer historischen Bedingtheit und soziokulturellen relativität an konkreten Beispielen problematisiert. So wird etwa die Medikalisierung, z. B. anhand der Geschichte der „c-hypovitaminose“, wie sie in der kürzlich erschienenen Studie „Vitamin c für alle!“ untersucht worden ist, erläutert (Bächi 2009). „Kultur“ wird als jene überindividuelle unsichtbare Macht präsentiert, die den ärztlichen Blick auf die vermeintlich objektiven „naturphänomene“ vorstrukturiert. Die vier weiteren Module vertiefen diesen Gedanken anhand eines jeweils eigenen theoretisch-methodischen Instruments nach einem einheitlichen Muster: auf die kurze Vorstellung der jeweiligen theorie zum Instrument folgen ein bis drei historische oder aktuelle Beispiele bzw. Übungen. an diesen Punkten ist es den Dozentinnen und Dozenten auch möglich, eigene Forschungsarbeiten in die Seminarinhalte einfließen zu lassen, um auf diese Weise auch nicht „kanonisiertes“ Wissen aus der vordersten Forschungslinie zu diskutieren. Den Startpunkt bildet das Paradigmenkonzept thomas Kuhns als ein genuin wissenschaftshistorischer Zugang, der Gelegenheit gibt, über Genese, Etablierung und auflösung wissenschaftlicher und medizinischer Erklärungsmodelle und Denkstile zu reflektieren (Kuhn 1962). Um Kuhns Inkommensurabilitätsthese zu illustrieren, wird die Signaturenlehre nach Giambattista della Porta als ein in sich stimmiges Gedankenkonstrukt, das statt Kausalnexus einen sympathischen Konnex voraussetzt, vorgestellt und anhand eines speziell dafür entwickelten Karteikartenspiels „geübt“ (della Porta 1591). Die Begriffe „wissenschaftliche revolution“ und „normalwissenschaft“ werden am Beispiel der Entdeckung des Blutkreislaufs durch William harvey erläutert. Schließlich wird der Gegenwartsbezug über die medizintheoretische Frage hergestellt, ob und inwieweit die (post)moderne Medizin in ihrer zunehmend prag-
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matischen Orientierung sich von ihrem monoparadigmatischen Purismus verabschieden darf (Wiesing 2004: 10). auf diese relativ praktische und einfache Übung folgt das dritte Modul, das etwas höhere kognitive anforderungen an die Studierenden stellt. anders als im Paradigmenmodul, in dem die binnenmedizinischen Dynamiken und Entwicklungslogiken interessierten, werden hier unter den Kategorien „Kollektivsymbol“ und „Diskurstransfer“ die Wechselwirkungen von Wissenschaft und Gesellschaft aus der diskurstheoretischen Perspektive Michel Foucaults eruiert (Foucault 2002). Beispielsweise wird in anlehnung an alain corbins bekannte arbeit „Meereslust. Das abendland und die Entdeckung der Küste“ die Entstehung der tradition des Badeurlaubs und Meereskuraufenthalts als diskursives Zusammenspiel von Medizin, Philosophie, religion und Kunst nachgezeichnet (corbin 1995). So kann schrittweise verfolgt werden, wie sich bei der Wahrnehmung des Meeres die Kategorien des „delightful horror“ (Edmund Burke) und des „Erhabenen“ (Immanuel Kant) aus dem ästhetiktheoretischen Diskurs des 19. Jahrhunderts auf die Medizin übertrugen und in das hydrotherapeutische Konzept zur Behandlung von „Spleen“, „hysterie“ oder „Bleichsucht“ einflossen. Mittels dieses ansatzes lässt sich der Gedanke vermitteln, dass so wie die Entwicklung des medizinischen Wissens stets soziokulturell eingebettet ist, die Genealogie der modernen alltagskultur ihrerseits eine medizinhistorische Dimension hat. In demselben Block bietet sich darüber hinaus die Gelegenheit, die gerade im bioethischen Bereich oft inflationär gebrauchten Begriffe „Biomacht“ und „Biopolitik“ zu klären, indem die politischen Implikationen der Wissenschaft und Medizin problematisiert werden. Der Illustration dient einigen Dozentinnen und Dozenten unter anderem ein kurzer populärwissenschaftlicher DDr-Film von 1959. Er handelt von einem jungen Ingenieur, der sich von den einfachen Werftarbeitern separiert hat. nachdem auf der Werft ein Unfall passiert, weil er als Verantwortlicher für technische Sicherheit eine „falsche Unterschrift“ geleistet hatte, versagt seine rechte hand. Einem nervenarzt gelingt es aber, den Zusammenhang zwischen lähmung der hand, „hemmung im Gehirn“ und abkapselung vom arbeiterkollektiv zu erkennen und den Ingenieur mit hilfe „heilender Worte“ wieder gesund zu machen. auf metaphorischer Ebene wird im Film Ivan Pavlovs Krankheitsbegriff und dessen lehre von der höheren nerventätigkeit mit der politischen Ordnung des arbeiter-und-Bauern-Staates in Bezug gesetzt (hirn – Ingenieur, hand – arbeiter, nervenarzt – politische Führung). nach einem von Siegried Jäger und Jürgen link für ihre kritische Diskursanalyse entwickelten analyseverfahren wird der Film in Kleingruppenarbeit auf dessen Kollektivsymbole und politische Botschaften hin hinterfragt (Jäger 2009). Mit dem vierten Modul wird die kulturtheoretische Betrachtungsweise der Medizin intensiviert. Interessanterweise wird aber nach unserer Erfahrung mit den Ulmer Studierenden der Medizin gerade die in diesem abschnitt geübte strukturfunktionale Systemtheorie niklas luhmanns aufgrund ihrer anleihen aus den Biowissenschaften gut aufgenommen (luhmann 1995). Die Genese, funktionale ausdifferenzierung und Verselbständigung der Medizin als ein autonomes Sozialsystem im laufe der gesellschaftlichen Modernisierung und Säkularisierung wird in histori-
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scher langzeitperspektive am Beispiel der Geschichte der Epilepsie ausgehend von der „heiligen Krankheit“ des hippokrates als „Entzauberung der Krankheit“ (Steinbrunner 1987) und trennung zwischen Kult und heilpraxis betrachtet und mit den Studierenden diskutiert. Die Entkoppelung des Krankheitsbegriffs von fremdreferenziellen Bezügen gibt die Gelegenheit, aktuelle reportagen und Dokumentarfilmsequenzen zum Verhältnis zwischen Medizin und religion oder zum thema alternativer therapierichtungen zu besprechen. Schließlich werden im Zusammenhang mit intersystemischen Wertekollisionen aktuelle und historische Brennpunkte der medizinischen Ethik aufgegriffen. Zum einen wird in historischer retrospektive das Beispiel des sogenannten therapeutischen nihilismus aus dem 19. Jahrhundert erläutert. Zum anderen wird für die Gegenwart anhand eines in luhmannscher Manier argumentierenden FaZ-artikels der Problemkreis der aktiven Sterbehilfe diskutiert. auf diese Weise – so das Ziel – kann bereits im Studium eine Vorsorge gegen das zu recht beklagte „chronisch unfreundliche Verhältnis von Medizinethik und Gesellschaftstheorie“ getroffen werden (Graumann 2009: 240). Das fünfte und letzte Modul erfordert einen weiteren Perspektivwechsel und fördert eine ganz andere, von empirisch-soziologischen Erhebungen ausgehende Betrachtungsweise. In seinem Mittelpunkt steht das von Bernhard Gill erarbeitete Kosmologiekonzept (Gill 2003), das eine Weiterentwicklung der cultural theory of risk von Mary Douglas und aaron Wildavsky darstellt (Douglas 1982). Unter Kosmologien versteht der Münchener Soziologe historisch dauerhafte naturanschauliche Präferenzmuster und entsprechende lebensstile, die er drei großen historischen Epochen, der Vormoderne (Identitätsprinzip), der Industriemoderne (Utilitätsprinzip) und der Spätmoderne (alteritätsprinzip) zuordnet. Die entsprechenden Präferenzmuster macht er zudem für die öffentlichen Konflikte im Gesundheitswesen verantwortlich. Didaktisch wird seine hauptidee über eine Übung vermittelt, die eine Konfliktanalyse am Beispiel der öffentlichen auseinandersetzungen um den Ursprung der Immunschwäche-Krankheit aIDS zur aufgabe macht. nach dem abspielen von Dokumentarfilmsequenzen, die verschiedenste Spielarten der aIDS-leugnung in den USa zeigen, erhalten die in drei Gruppen aufgeteilten Studierenden jeweils eine aIDS-Ursprungslegende zur Bearbeitung, die sie anhand eines Fragenformulars abstrakteren naturanschaulichen Prämissen zuordnen und dabei die drei Kosmologien in ihren leitaussagen selbst rekonstruieren und beschreiben sollen. neben dem aIDS-Beispiel wird darüber hinaus der gesellschaftliche Umgang mit tabak, alkohol und Drogen oder auch Sexualität aus kosmologientheoretischer Sicht diskutiert. Zum abschluss des Seminars werden im rahmen einer kurzen rekapitulation des Gelernten die vier theoretischen ansätze schließlich aufeinander bezogen, miteinander verglichen und problemorientiert diskutiert. Klausuren und insbesondere multiple-choice-Fragen genügen dem Grundanliegen des GtE, selbständiges Denken zu fördern, in keiner Weise (Möller 2006: 5). Der leistungskontrolle der in Ulm gelernten Inhalte aus dem themenfeld GtE dient daher neben einer schriftlichen Vor- und nachbereitung eines Fallberichts in GtE 1 die mündliche Prüfung. Die Verarbeitung des Stoffs und die Prüfungsvorbe-
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reitung werden durch ein kurzes Seminarskript mit einschlägigen Definitionen erleichtert, das allen Studierenden zur Verfügung gestellt wird. rESÜMEE Ein derart durchstrukturiertes Programm erlaubt es u. E. sich der von hans Schott kürzlich geforderten „Dreifaltigkeit“ im Bereich GtE „aus einem Guss“ auf die Weise anzunähern, dass zu deren spiritus rector und Bindeglied eine theorie der Medizin avanciert, unter die sich „auch philosophische, kultur- und medizinanthropologische, phänomenologische ansätze subsumieren“ lassen (Schott 2009: 935). Denn erst wenn die kulturtheoretische Fremdbeschreibung anstelle der medizinischen Selbstbeschreibung als ausgangspunkt normativer und kognitiver reflexion in der Medizin behandelt wird, kann der bisher allgemein unterrepräsentierte Bereich „theorie“ als inhärenter Bestandteil des Querschnittsbereichs seinen ansprüchen wirklich gerecht werden. Dem bei den Studierenden weit verbreiteten Vorurteil, die Geschichtswissenschaft sei bloße Gedächtnisleistung und Ethik ein einfühlsames Kaffeekränzchen, wird auf diese Weise offensiv mittels Erkenntnisinstrumentarien begegnet. Und tatsächlich resultiert diese offensive Strategie nicht nur in sehr guten Evaluationswerten, sondern auch in den studentischen Kommentaren, die vor allem eine „positive Überraschung“ über die ungeahnten Potentiale des Fachs zum ausdruck bringen. Insofern bedeutet der Ulmer 4-Instrumente-ansatz keineswegs ein häufig gefordertes „Zurück zu humboldt“. Diesem ruf zu folgen würde bedeuten, wieder in die von uns oben geschilderte Sackgasse einer Säkularreligion für die Ärzte zu steuern. Stattdessen wird die von Belling formulierte Forderung „toward a harder humanities in Medicine“ aufgegriffen (Belling 2006). In unserem Konzept soll nicht die unter ständigem rechtfertigungsdruck stehende und von Studenten unbeliebte „historische Methode“ in ihrer alterität und Subjektivität der in exaktwissenschaftlicher „Geistlosigkeit“ versunkenen Welt der hightech-Medizin aus ihrer Misere helfen. auch sollen hier keine Versuche unternommen werden, moralische Erziehungsziele in den Mittelpunkt des Faches zu rücken, so respektabel und wünschenswert diese Ziele und ihre Integration in das moderne Bildungssystem auch sein mögen. Vielmehr geht es uns darum, Geschichte, theorie und Ethik der Medizin selbst als weitgehend „exakte“ Disziplinen eigenen rechts in integrierter Form in einer Medizinischen Fakultät anschlussfähig zu machen und auf der höhe der Zeit zu vermitteln, Gelingt die Vermittlung von GtE als Disziplinenkanon eigenen rechts, werden die von Ousager und Johannessen reflektierten legitimationsfragen des Querschnittsfaches GtE um „Mythos“ und „Evidenz“ sich unseres Erachtens gar nicht erst stellen. Sie stellen sich ja auch in den anderen „ganz normalen“ medizinischen Fächern anatomie, Biochemie oder innere Medizin nicht.
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MEDIZIn IM natIOnalSOZIalISMUS – raDIKalE ManIFEStatIOn latEntEr POtEntIalE MODErnEr GESEllSchaFtEn? historische Kenntnisse, aktuelle Implikationen1 Volker Roelcke Die jüngere historische und sozialwissenschaftliche Forschung dokumentiert sehr breit, wie intensiv miteinander verschränkt Medizin und Gesellschaft schon immer waren und noch immer sind. Dies gilt nicht nur für das Denken und handeln in der ärztlichen Praxis, das jederzeit sichtbar unmittelbar mit gesundheitspolitischen und ökonomischen Kontexten verbunden ist. Es gilt – wie die jüngere Forschung gezeigt hat – ebenso für die biomedizinischen Wissenschaften bis hin in die vermeintlich politikfreien labors von elitären Forschungseinrichtungen oder nobelpreisträgern.2 Die Behauptung von einer politik- und kulturfreien Wissenschaft, welche allein universal gültigen Kriterien der Objektivität verpflichtet sei, kann deshalb am ehesten als idealisiertes Selbstbild der Wissenschaften oder als rhetorische ressource in politischen auseinandersetzungen verstanden werden. In einer solchen Betrachtungsweise muss die Medizin inklusive der biomedizinischen Wissenschaften im nationalsozialismus eine deutliche Irritation hervorrufen. Wie lassen sich die Grenzüberschreitungen in der ärztlichen Praxis, im Umgang mit chronisch Kranken und Behinderten sowie in der medizinischen Forschung und lehre verstehen, die ja zu einem erheblichen teil von Medizinern begangen wurden, die ihre primäre Sozialisation und ihre medizinische ausbildung in einer der führenden Kultur- und Wissenschaftsnationen erhalten hatten? Zum Verständnis der breiteren Geschichte des nationalsozialismus wurden in der allgemeinen Geschichtswissenschaft und in öffentlichen Debatten eine reihe von Interpretationsansätzen vorgeschlagen. als Stichworte sei etwa die Formel vom „deutschen Sonderweg“ genannt, die eine seit dem 19. Jahrhundert vom internationalen „Standard“ abweichende Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland annimmt, dann die von Dan Diner geprägte Formel vom „Zivilisationsbruch“, die insbesondere in der „Ära adenauer“ verbreitete rede vom „rückfall in die Barbarei“ aufgrund des irrationalen Fanatismus einzelner führender Politiker, oder schließlich die von dem historiker Detlev Peukert formulierte Interpretation
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Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und erweiterte Version des folgenden aufsatzes: roelcke (2010). Vgl. etwa latour et al (1986); Gradmann (2005); Satzinger (2009); Fangerau (2010).
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Volker roelcke
des nationalsozialismus als einer spezifischen Manifestation von Potentialen der Moderne.3 Wie im Folgenden ausgeführt wird, bestätigt die jüngere historische Forschung zu Medizin und Biowissenschaften im nationalsozialismus die von Peukert formulierte Interpretation in vieler hinsicht. Diese historische Forschung hat inzwischen zu einem recht umfangreichen, allerdings noch keineswegs zu einem abgeschlossenen Wissensbestand zu diesem arbeitsfeld geführt.4 Im Wesentlichen hat sich diese Forschung zunächst auf drei themenkreise konzentriert: 1. die auswirkungen des regierungswechsels 1933 auf die Ärzteschaft, mit zwei Unterthemen: einerseits die (Selbst-) Gleichschaltung ärztlicher Standesorganisationen und Fachgesellschaften und der überwiegenden Mehrheit der Ärzte; und andererseits die Entlassung, erzwungene Emigration und schließlich systematische Vernichtung von „jüdischen“ und „sozialistischen“ Medizinern (Kater 1985; Weindling 1989; Süß 2003); 2. die eugenisch bzw. rassenhygienisch motivierte sowie an ökonomischer Effizienz und leistungsfähigkeit des „Volkskörpers“ orientierte Gesundheits- und Sozialpolitik: Diese führte u. a. zur Zwangssterilisation von über 360.000 so genannten „Erbkranken“, und zur systematischen tötung von ca. 250.000 bis 300.000 psychiatrischen Patienten, Behinderten und anderen Erkrankten aus sozialen randgruppen (Klee 1983; aly 1985; Schmuhl 1987; Weindling 1989; Friedländer 1995; Faulstich 1998; Fuchs 2007; rotzoll 2010; Schmuhl 2011); 3. die nutzung von biologisch oder juristisch als „minderwertig“ eingeordneten Menschen für medizinische Forschung und lehre. Die entsprechende medizinische Forschung fand v. a. in Konzentrationslagern, in psychiatrischen anstalten und in Krankenhäusern der besetzten Gebiete statt (Müller-hill 1984; aly und roth 1985; roelcke et al. 1994; roelcke 2000; roth 2001; Massin 2003; von Schwerin 2004; Schmuhl 2005; Eckart 2006; roelcke 2009; Eckart 2011); die nutzung in der lehre ist v. a. dokumentiert für die Körper und Körperteile von politischen häftlingen in anatomischen Instituten.5 3
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In Peukerts Interpretation wird „die Moderne“ als analytischer Begriff verstanden, der sich – bei unterschiedlichen auffassungen im Detail – sozialhistorisch auf die Zeit seit etwa dem Beginn des 19. Jahrhunderts bezieht. Diese Zeit ist demnach gekennzeichnet durch Ideen der aufklärung mit ihrer hochschätzung der menschlichen Vernunft und den positiven auswirkungen von rationalem handeln, durch arbeitsteilung und Massenproduktion, durch ein zunehmendes Primat von wissenschaftlich und ökonomisch verstandenem Effizienzdenken, verbunden mit Idealen der Standardisierung und Kontrolle, und auf einer kulturellen Ebene die Verfestigung von Dichotomien in Bezug auf grundlegende Kategorien für unser Weltverständnis wie etwa natur-Kultur, Körper und Geist, Objektivität und Subjektivität. Peukert (1988: 51– 61); Peukert (1989). Vgl. auch: Diner (1988); Diner (1988a). Der kürzlich vorgelegte Sammelband von Jütte (2011) versucht einen Überblick über den Forschungsstand zu geben; allerdings fehlt dort (im Kontrast zur hier vorgelegten Übersicht) ein allen beteiligten autoren gemeinsames Konzept und ein übergeordneter Interpretationsansatz; so findet sich etwa im Kapitel von W. Eckart zu humanexperimenten eine zu dem im Kapitel von W. Süß („Wiedergutmachung“) strukturierend gebrauchten Begriff „pseudomedizinische Versuche“ letztlich konträre herangehens- und Interpretationsweise. Der Beitrag von Eckart (2011) ist eine gute Synthese, berücksichtigt allerdings – wohl auch
Medizin im nationalsozialismus
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In den letzten Jahren wurde (u. a. durch die Öffnung osteuropäischer archive) ein weiteres Forschungsfeld eröffnet: 4. die Frage nach der ausbeutung und medizinischen Behandlung von zivilen Zwangsarbeitern in medizinischen Institutionen (Frewer und Siedbürger 2004; Siedbürger und Frewer 2006; Frewer et al 2009; Graefe 2011).6 auf einer allgemeinen Ebene hat sich dabei gezeigt, dass die Programmatiken und Praktiken von Medizinern während der Zeit des nationalsozialismus nur adäquat verstanden werden können, wenn sie im Kontext der spezifischen herausforderungen und auch chancen gesehen werden, die durch das politische System geschaffen wurden, und ebenso im Kontext der expliziten und impliziten Wertsetzungen und -hierarchien, die an die Gesundheit und leistungsfähigkeit im Dienste der nation oder des „Volkskörpers“ geknüpft waren. Diese Konstellation von herausforderungen, chancen und Wertehierarchien kann folgendermaßen zusammengefasst werden:7 Die Gesundheits- und Wissenschaftspolitik des regimes zielte darauf ab, diejenigen zu fördern, die zur Gesundheit und leistungsfähigkeit der nationalen Ökonomie und des „Volkskörpers“ beitragen konnten. Diejenigen, welche die Effizienz der ökonomischen anstrengungen und die Gesundheit des Kollektivorganismus „Volkskörper“ gefährden könnten, sollten dagegen identifiziert und ausgesondert werden. Sie sollten nur einen Minimal-aufwand an ressourcen erhalten und im Falle von Erbkrankheiten von der reproduktion ausgeschlossen werden. Diese Prioritäten gelten für die Zeit ab 1933; sie sind aber 1933 keineswegs erfunden worden, und schon gar nicht von Politikern, sondern solche Ideen existierten schon lange zuvor, sie wurden ab 1933 allerdings massiv privilegiert gegenüber anderen Prioritätensetzungen. Mit dem Kriegsbeginn 1939 lassen sich nochmals veränderte Problemlagen und politisch-ökonomische rahmenbedingungen konstatieren:8 nämlich insbesondere ein massiv verstärkter ökonomischer Druck unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft, und die notwendigkeit, alle verfügbaren ressourcen (Geld, arbeitskraft, Forschungsleistung) für die Wehrmacht, die rüstungsindustrie, sowie zur medizinischen Versorgung verwundeter Soldaten einzusetzen. Die systematische räumung von psychiatrischen anstalten und heimen und das damit eng verbundene Euthanasie-Programm in seinen verschiedenen Stadien folgten dieser rationalität und Wertehierarchie: Dieses Programm zielte auf
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aufgrund der Breite des aktuellen Forschungsstandes – nicht zentrale Publikationen aus dem Projekt zur Geschichte der KWG im nationalsozialismus (wie die o. g. arbeit von Massin), oder jüngere arbeiten zu den Sulfonamid-Experimenten im KZ ravensbrück. In der Überblicksdarstellung von Jütte et al. (2011), ist dem thema Zwangsarbeiter in medizinischen Institutionen erstaunlicherweise nur eine einzige Seite gewidmet: Süß 2011: 193–194. Dieser Interpretationsansatz ist (am Beispiel der biomedizinischen Forschung) erstmals systematisch entfaltet in roelcke (2004: 92–109). Zu den Konsequenzen des Krieges auf die neuverteilung von ressourcen, und die auswirkungen auf Gesundheitsversorgung und medizinische Forschung, vgl. exemplarisch Süß (2003); Eckart & neumann (2006).
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die Einsparung von ressourcen für vermeintliche „Ballastexistenzen“; und es stellte andererseits neue Kapazitäten zur Behandlung von verwundeten Soldaten, in zweiter linie auch zur Behandlung der Zivilbevölkerung zur Verfügung. MYthEn UnD rEalItÄtEn In der Konsequenz des gerade skizzierten analytischen rahmens hat die jüngere historische Forschung drei zentrale annahmen in Frage gestellt, die über viele Jahrzehnte das Bild von der Medizin während des nationalsozialismus bestimmt haben und die sich, wie zu zeigen sein wird, als Mythen erweisen. Diese drei Mythen können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Mythos: die annahme, dass medizinische Verbrechen von einigen wenigen fanatischen nazi-Ärzten begangen wurden und dass sie im Wesentlichen das resultat einer irrationalen, der Medizin von außen aufgezwungenen, Politik gewesen seien 2. Mythos: die annahme, dass die Programme der Zwangssterilisation und der Patiententötungen der ausdruck einer „Ideologie“ gewesen seien, die wenig oder gar nichts mit dem zeitgenössisch aktuellen Stand von medizinischem Wissen und handeln zu tun gehabt hätten 3. Mythos: die annahme, dass die Forschungsaktivitäten von Medizinern in Konzentrationslagern nichts zu tun hatten mit dem zeitgenössischen Standard der biomedizinischen Wissenschaften, sondern vielmehr der ausdruck von rassenideologie oder auch individueller Perversion unter dem Deckmantel der Wissenschaft gewesen seien, und dass diese Forschungen daher besser als „Pseudo“-wissenschaft bezeichnet werden sollten. Im Folgenden sollen diese drei Mythen mit den Ergebnissen aus der jüngeren medizinhistorischen Forschung konfrontiert und in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt werden.9 Diese Mythen sollen jedoch selbstverständlich nicht deshalb dekonstruiert werden, um an ihrer Stelle ein positiveres Bild der Medizin im nationalsozialismus zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, auf signifikante Ähnlichkeiten in Bezug auf fundamentale Konzepte, Einstellungen, und handlungsweisen zwischen der Medizin im nationalsozialismus und derjenigen vor 1933 und nach 1945 hinzuweisen und ebenso auf die strukturellen Ähnlichkeiten mit der zeitgleich praktizierten Medizin in den europäischen nachbarländern oder nordamerika.10 anders formuliert: Die Grenzüberschreitungen in der Medizin zwischen 1933 und 1945 wären 9
Das bedeutet keineswegs, dass sich diese Mythen, oder teile davon nicht auch in der neueren historiographie finden: Beispiele hierfür wären etwa henke (2008: 9–29, hier S.9); die rede von den „pseudowissenschaftlichen Versuchen“ in Süß (2011),vgl. Fn. 4 oder Oevermann (2000: 18–76.). 10 Zur Frage nach Kontinuitäten und Brüchen für die Jahre 1933 und 1945 am Beispiel der Psychiatrie, vgl. roelcke (2005:162–182); zur internationalen Dimension am Beispiel der eugenisch motivierten psychiatrischen Genetik, vgl. roelcke (2007: 173–190).
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demnach nicht spezifisch für die Zeit des nationalsozialismus, sondern lediglich eine extreme Manifestation von Potentialen, die in der modernen Medizin generell, oder noch breiter in modernen Gesellschaften mit ihrer Orientierung an wissenschaftlicher autorität und instrumentell-technisch plausibilisierten Machbarkeitsvorstellungen angelegt sind. Diese Potentiale der modernen Medizin – das wäre die hypothese für die vorliegende Übersicht – wurden zunächst durch die rahmenbedingungen des totalitären Staates ab 1933 und dann in nochmals verstärkter Weise durch den 2. Weltkrieg ab 1939 zu einer destruktiven Manifestation gebracht. DaS VErhÄltnIS ZWISchEn ÄrZtESchaFt UnD natIOnalSOZIalIStISchEM rEGIME Die deutliche Mehrheit der deutschen Ärzte war bereit, auf die Versprechungen und Versuchungen durch die neuen Machthaber einzugehen. Das lässt sich veranschaulichen am anteil derjenigen Mediziner, die mit dem regime kooperierten. Der Prozentsatz von Ärzten, die in der nSDaP oder einer der ihr angeschlossenen Organisationen (Sa, SS) Mitglied waren, betrug ca. 50 bis 65 % (je nach Berechnungsgrundlage) (Kater 1985).11 Dieser schlichte Prozentsatz verweist auf zweierlei: 1. Fast die hälfte der Ärzte war nicht Mitglied einer der genannten Organisationen. Das ist ein deutlicher Beleg für die in der damaligen Zeit existierenden handlungsspielräume, denn diese Ärzte ohne Mitgliedschaft hatten durchaus nicht automatisch mit Sanktionen zu rechnen, solange sie sich nicht öffentlich gegen das regime oder seine repräsentanten äußerten. Es ist inzwischen breit dokumentiert, dass die Mitgliedschaft in der Partei oder einer der angeschlossenen Organisationen eine Karriere zwar erleichtern konnte. Entgegen weit verbreiteten auffassungen in der nachkriegszeit existierte aber kein Zwang, in die Partei einzutreten und es war auch in öffentlichen Institutionen wie etwa Universitäten durchaus möglich, Karriere zu machen, ohne Mitglied zu sein. 2. Mit 50–65 % ist der anteil von Mitgliedern in nS-Organisationen bei Medizinern wesentlich höher als bei anderen vergleichbaren akademischen Berufsgruppen (etwa lehrern, Juristen) (Kater 1985). Das weist darauf hin, dass Mediziner eine besonders hohe affinität zum nationalsozialistischen regime hatten. hierfür gibt es mindestens drei zentrale Erklärungen: So versprach der „neue Staat“, die ökonomischen rahmenbedingungen für ärztliche tätigkeit deutlich zu verbessern: Speziell unter jungen Ärzten gab es am Ende der Weimarer Zeit eine erhebliche arbeitslosigkeit. Der aus historisch erklärbaren Gründen im Vergleich zur allgemeinbevölkerung hohe anteil von jüdischstämmigen Medizinern in der Ärzteschaft führte dazu, dass deren Entlassung aus dem öffentlichen Dienst schon ab Mitte 1933 ein nicht unbeträchtliches 11 neuere Berechnungen im Detail in rüther (2001: c2561–c2562) sowie in Forsbach (2006: 39–40).
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Stellenreservoir für die zuvor arbeitslosen Jungärzte eröffnete. Daneben versprach das regime einen schon seit langem von der Ärzteschaft formulierten Wunsch zu erfüllen: nämlich eine reichsweit gültige Vereinheitlichung der rechtlichen rahmenbedingungen für ärztliches handeln in Form einer reichsärztekammer und reichsärzteordnung zu schaffen. Schließlich versprach das regime, die Macht der Krankenkassen zu beschneiden, bzw. das Kassenwesen sogar ganz aufzuheben, ein schon in den 1920er Jahren vorhandenes zentrales anliegen sehr vieler niedergelassener Ärzte (Kater 2001: 51–67). Diese bereits vor 1933 formulierte Programmatik der nSDaP und des nS-Ärztebundes wurde in den ersten Jahren nach 1933 tatsächlich umgesetzt: So wurde im august 1933 die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands zur Vereinheitlichung des Kassenarztwesens geschaffen. Im april 1935 wurde erstmals eine reichsärzteordnung verabschiedet, die im april 1936 in Kraft trat. hiermit fand eine gesetzliche Grundlage, was die Vertreter unterschiedlicher Ärzteorganisationen schon jahrzehntelang gefordert hatten: nämlich die abschaffung der „Kurierfreiheit“ (für nicht-ärztliche heiler), die herauslösung der Ärzte aus der Gewerbeordnung und damit ihre Privilegierung, sowie die Errichtung der reichsärztekammer als einheitlicher Standesorganisation. auch lässt sich dokumentieren, dass das Durchschnittseinkommen der deutschen Ärzte von 1933 bis 1938 um insgesamt ca. 61 % zunahm, ein im Vergleich etwa zu Juristen deutlich überproportionaler anstieg (rüther 1997: 143–193, Kater 2001). Ein weiterer aspekt zur Erklärung der ärztlichen affinität zum neuen regime besteht darin, dass viele – vor allem jüngere – Ärzte hofften, sich durch eine Mitgliedschaft in einer der nS-Organisationen neue Karrieremöglichkeiten im ab 1933 besonders geförderten arbeitsfeld der „Erbgesundheitspflege“ zu eröffnen: Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken nachwuchses“ (in Kraft getreten am 1. Januar 1934) wurden reichsweit an die Gesundheitsämter angegliederte Erbgesundheitsgerichte und -obergerichte geschaffen. Parallel wurden erhebliche ressourcen für die so genannte „erbbiologische Bestandsaufnahme“, d. h., für Datenerhebungen und Forschungen zur Epidemiologie und Genetik von potentiellen Erbkrankheiten der gesamten Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Mit der praktischen Umsetzung der eugenisch-rassenhygienischen Erbgesundheitspolitik im Gesundheitswesen, in der medizinischen aus- und Weiterbildung, sowie in der Forschung war für die Ärzteschaft sichtbar, dass der „neue Staat“ tatsächlich erhebliche materielle und symbolische ressourcen für diesen teil von Medizin und Biowissenschaften zur Verfügung stellte, und damit das Verspechen auf neue Karrierechancen und einen Statusgewinn der Ärzteschaft im Staat einlöste.12 Diese Situation fand ihren Widerhall in den Stellungnahmen führender Erbforscher bzw. humangenetiker nach dem regierungswechsel 1933, in denen der „neue Staat“ mit seiner Erbgesundheitspolitik zum teil geradezu euphorisch begrüßt wurde (z. B. rüdin 1934: 1049–1052; Weindling 1989). 12 Zur Bedeutung dieser Konstellation von Karriereressourcen, und dem analytischen Potential dieses Begriffs, vgl. roelcke (2006: 72–87).
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In der jüngeren historischen Forschung ist weiter dokumentiert worden, dass nicht nur in Bezug auf die Parteimitgliedschaft, sondern auf fast allen Ebenen medizinischen handelns mehr oder weniger ausgeprägte handlungsspielräume existierten, so lange man nicht zu den stigmatisierten und dann verfolgten Minoritäten (also „Juden“, oder „Sozialisten“) gehörte. Dieser handlungsspielraum lässt sich exemplarisch durch die rekonstruktion des tatsächlichen ärztlichen Verhaltens in Bezug auf das Sterilisationsgesetz dokumentieren (ley 2004: 230–303):13 nach dem Wortlaut des Gesetzes waren alle Ärzte verpflichtet, diejenigen Menschen an die Behörden zu melden, bei denen möglicherweise eine Erbkrankheit vorlag. Im Gesetz genannt waren u. a. die manisch-depressive Erkrankung, Schizophrenie, erbliche Formen der Epilepsie, sowie Debilität („Schwachsinn“). Während nun die im öffentlichen Dienst angestellten Fürsorgeärzte – meist Psychiater – dieser gesetzlichen Pflicht offenbar weitgehend nachkamen, zeigt sich für Ärzte, die in eigener Praxis niedergelassen waren, ein ganz anderes Bild: astrid ley hat in einer sehr interessanten Studie gezeigt, dass im fränkischen Bezirk Schwabach zwar der anteil derjenigen Ärzte, die Mitglied in einer der nationalsozialistischen Organisationen war, besonders hoch war (nämlich ca. 75 %), – trotzdem findet sich dort im Zeitraum zwischen 1934 und 1939 von zwei Dritteln der niedergelassenen Ärzte keine einzige Meldung an das zuständige Erbgesundheitsgericht. Die Erklärung für dieses Verhalten besteht nicht darin, dass die Mehrheit der Ärzte in dieser region heimliche regime-Gegner waren. Vielmehr ist eine andere Deutung gut belegt: Da gerade die tätigkeit der niedergelassenen Ärzte verbunden war mit einer längerfristigen Beziehung zu den Patienten, die wesentlich auf gegenseitiger Kenntnis und Vertrauen beruhte, ergab sich mit der neuen gesetzlichen Vorgabe ein scharfer rollenkonflikt: Einerseits basierte das arzt-Patienten-Verhältnis auf eben diesem Vertrauen; gleichzeitig forderte das Gesetz aber mit der Meldung an die Gesundheitsämter eine handlung des arztes, die zumindest potentiell zu einer medizinischen Intervention auch gegen den Willen des Betroffenen führen konnte. Vor dem hintergrund dieses rollenkonfliktes entzogen sich offenbar sehr viele niedergelassene Ärzte weitgehend der anzeigepflicht. negative Konsequenzen aus dieser nichtbeachtung des Gesetzes sind nicht bekannt (ley 2004). handlungsspielräume existierten auch gegenüber dem Programm der systematischen Patiententötungen (Euthanasie): Ein exemplarischer Fall hierfür ist der Professor für Psychiatrie und nervenkrankheiten Gottfried Ewald aus Göttingen: Ewald war zwar ein Befürworter der Sterilisationsgesetzgebung, lehnte aber das angebot zu einer tätigkeit als „Gutachter“ für den Selektionsprozess im rahmen des Euthanasie-Programms ab. auch verfasste er mehrere Briefe an verschiedene offizielle Dienststellen, z. B. an den reichsärzteführer Dr. leonardo conti, in denen er gegen das tötungsprogramm Stellung nahm. Diese Briefe hatten zwar nicht die gewünschte Wirkung; es entstanden Ewald jedoch auch keinerlei nachteile in seiner beruflichen tätigkeit oder in seinem Privatleben (Stobäus 2000: 177–192).14 13 Sowie exemplarisch für den Psychiater Karl Bonhoeffer: roelcke (2008: 67–84). 14 Ein weiteres Beispiel für die Weigerung, sich den Erwartungen des regimes zu beugen, findet sich in neumann (2004: 241–255).
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Diese Beispiele verweisen darauf, dass durchaus handlungsspielräume für Ärzte existierten – allerdings wurden diese Spielräume von der überwiegenden Mehrheit der Mediziner offenbar nicht ausgenutzt. DIE ratIOnalItÄt UnD InItIatIVE VOn MEDIZInErn FÜr EUGEnIK UnD EUthanaSIE Der Begriff des handlungsspielraums könnte nun in dem Sinn missverstanden werden, dass es sich um Spielräume innerhalb von rahmenbedingungen handelte, die ohne Zutun der Ärzte entstanden waren. Dementsprechend wären alle inhumanen und menschenrechtswidrigen handlungen im nationalsozialismus den Ärzten quasi „von oben“, also von politischen Instanzen, aufgezwungen worden. Obwohl dieses Bild für viele Situationen zutreffen mag, ist es gerade für die extremsten Beispiele von inhumanem ärztlichem Verhalten völlig inadäquat: In der jüngeren historischen Forschung hat sich vielmehr gezeigt, dass die Initiative sowohl für das Programm der eugenischen Sterilisationen als auch für die Patiententötungen (Euthanasie), und ebenso für praktisch alle Formen von inhumaner medizinischer Forschung an Menschen nicht von politischer Seite, sondern von den beteiligten Ärzten selbst ausging. So ist seit langem belegt, dass die Programmatik von Eugenik, rassenhygiene und damit verbundener medizinischer Forschung und Praxis nicht von nationalsozialistischen Ideologen erfunden wurde und keineswegs der Ärzteschaft aufgezwungen wurde. Vielmehr hatten Begriff und Programmatik von Eugenik und rassenhygiene, die im deutschen Sprachraum seit den 1920er Jahren vorwiegend synonym verwendet wurden, ihre Ursprünge im späten 19. Jahrhundert, und zwar unter Ärzten, Biologen, und Statistikern. Ziel dieser Bewegung war es, mit bestem verfügbarem wissenschaftlichem Wissen die in der Zeit befürchtete Degeneration bzw. Verschlechterung des kollektiven Genpools abzuwenden und langfristig die Gesundheit und leistungsfähigkeit der Bevölkerung zu optimieren. hierzu entstanden in Großbritannien, den USa, Skandinavien und weiteren europäischen sowie außer-europäischen ländern Fachgesellschaften und eugenisch inspirierte humangenetische Forschungsinstitute (Weindling 1989; Paul 1995).15 am Ende der 1920er Jahre war der weit überwiegende teil der Forschung im Bereich der internationalen humangenetik durch eugenische bzw. rassenhygienische Ideen motiviert. Diese Forschung wurde von den damals größten Institutionen der Wissenschaftsförderung finanziert, wie etwa der notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft/Deutsche Forschungsgemeinschaft, oder der rockefellerFoundation (Weindling 1988: 119–149; roelcke 2006). Maßgeblich beteiligt an dieser humangenetischen Forschung waren international angesehene Wissenschaftler wie Ernst rüdin, Fritz lenz oder Otmar von Verschuer, die ab 1933 eng mit dem 15 Zur internationalen Dimension, vgl. Weindling (1999: 179–197); roelcke (2002: 1019–1030). Eine umfassende Deutung der internationalen Eugenik im Kontext der Moderne und des Modernismus, wenngleich unter eher geringer Berücksichtigung der wissenschaftlichen Dimension i.e.S. findet sich in turda (2010).
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neuen regime bei der Implementierung der Sterilisationsgesetzgebung kooperierten. Obwohl rüdins und Verschuers Forschungen zur humangenetik darauf abzielten, die wissenschaftlichen Grundlagen für die nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik zu liefern, d. h., trotz ihrer Kooperation mit dem regime wurden beide noch 1939, kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs, als führende Persönlichkeiten in ihrem arbeitsfeld betrachtet und als Plenarredner zum 7. Weltkongress für Genetik nach Edinburgh eingeladen – ein Indikator für das nach wie vor hohe internationale ansehen eines teils der rassenhygienisch motivierten deutschen humangenetiker.16 Ebenso wie die eugenische Programmatik ist die Idee, dass es möglich sei, auf der Grundlage von medizinischer Expertise zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ leben zu unterscheiden, keine Erfindung der nationalsozialisten. Sie hatte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine rasch zunehmende Plausibilität.17 In der Zwischenkriegszeit wurde diese Idee auch jenseits der bekannten Schrift von Karl Binding und alfred hoche von Medizinern und Juristen breit debattiert, lange bevor die nationalsozialisten an die Macht kamen. In Zeiten finanzieller Krisen, wie unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs oder im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise nach dem Börsenkrach 1929, fand diese Idee besonderen Zuspruch unter Ärzten und in der breiteren Öffentlichkeit (roelcke 2009). Und auch 1939 waren es, soweit sich dies rekonstruieren lässt, Kinderärzte, Psychiater und Medizinalbeamte, welche die Initiative ergriffen, ein bürokratisch und arbeitsteilig organisiertes Programm zur Kinder- und Erwachsenen-Euthanasie zu implementieren. Die rationalität hierfür wurde schon angesprochen: Zentral war die Überlegung, ressourcen einzusparen und Krankenhausbetten verfügbar zu machen. Dieses Programm wurde dann in Kooperation mit Machtinstanzen des regimes in die Praxis umgesetzt, insbesondere mit der Gesundheitsabteilung des reichs-Innenministeriums und der Kanzlei des „Führers“ (Süß 2003; rotzoll et al 2010; Schmuhl 2011). Von den beteiligten historischen akteuren bis hin zum hierarchisch obersten Mediziner in der Endphase des regimes, Professor Karl Brandt, wurde dies durchaus als genuin ärztliches Denken und sogar vereinbar mit dem hippokratischen Eid gesehen – ein Denken, bei dem das Wohl des Volkskörpers demjenigen des einzelnen Menschen übergeordnet ist (z. B. rütten 1997: 91–106). FOrtSchrItt OhnE rÜcKSIcht: EntGrEnZtE FOrSchUnG noch immer ist die annahme weit verbreitet, bei der menschenverachtenden medizinischen Forschung im nationalsozialismus habe es sich um „Pseudo-Wissenschaft“ gehandelt. tatsächlich ergeben die historischen arbeiten der letzten Jahre 16 Zu rüdin, vgl. roelcke (2002: 21–55), sowie roelcke (2007: 173–190); zu Verschuer und lenz, vgl. Schmuhl (2005); gleichzeitig ko-existierte auf internationaler Ebene auch eine Kritik an der extremen Form rassenhygienischer Programmatik der deutschen humangenetiker. 17 Vgl. für einen Überblick Benzenhöfer (1999); als Beispiel für die Enttabuisierung des tötens am lebensende in der literatur, vgl. Welsh (2011); detaillierter zur Zeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert roelcke (2009: 15–28).
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jedoch ein deutlich anderes Bild:18 Die medizinische Forschung am Menschen in dieser Zeit verfolgte Fragestellungen, die manchmal überholt, teilweise kontrovers, aber in vielen Fällen auch hoch aktuell in Bezug auf die internationalen wissenschaftlichen Standards der Zeit waren, ähnlich wie sich das in anderen historischen Kontexten feststellen lässt. Die in der medizinischen Forschung angewendeten Methoden repräsentierten ebenfalls ein breites Spektrum, von traditionellen und teilweise überholten bis hin zu sehr innovativen Verfahren (etwa im Bereich der luftfahrtphysiologie). Bei Berücksichtigung dieser Gesamtsituation können die biomedizinischen Forschungsaktivitäten im nationalsozialismus nicht einfach in ihrer Gesamtheit als „Pseudowissenschaft“, oder gar als irrationale aktivitäten klassifiziert werden, die lediglich unter dem Deckmantel der Wissenschaft stattgefunden hätten. Wie etwa die Ergebnisse der umfangreichen historischen Projekte zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft oder zur Deutschen Forschungsgemeinschaft im nationalsozialismus zeigen, war eine Vielzahl von Mitarbeitern der Elite-Institutionen der deutschen biomedizinischen Forschung direkt oder indirekt beteiligt an menschenverachtenden Versuchen, beispielsweise im Bereich der Physiologie und Biochemie, der Mikrobiologie und Pharmakologie, der humangenetik sowie der neuropsychiatrischen Wissenschaften (roelcke 2000; roelcke 2004; Eckart 2006; cottebrune 2008). Konkrete Beispiele wären neben der Zusammenarbeit zwischen Josef Mengele und dem genannten prominenten humangenetiker Otmar von Verschuer die parallel bestehende Kooperation zwischen Mengele und einer arbeitsgruppe am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie unter der leitung des nobelpreisträgers adolf Butenandt, oder die Beteiligung prominentester deutscher Physiologen an der kriegsrelevanten Forschung im Kontext der luftfahrtmedizin (Massin 2003; roth 2001; roth 2006: 107–137). allerdings muss festgehalten werden, dass in sehr vielen der bekannten Fälle die praktische Durchführung der Versuche brutal und ohne rücksicht auf die Subjektivität der Versuchspersonen, oder auf elementare Menschenrechte erfolgte. Solche Forschungen wurden konsequenterweise auch nicht an gesunden deutschen „Volksgenossen“, sondern an Mitgliedern der verschiedensten sozialen randgruppen durchgeführt: am bekanntesten sind die medizinischen Versuche an häftlingen in Konzentrationslagern; daneben fanden medizinische Forschungen aber auch in erheblichem Umfang an Patienten in psychiatrischen anstalten oder in Krankenhäusern der besetzten Ostgebiete statt.19 Der Großteil der Forscher folgte der intrinsischen logik ihrer wissenschaftlichen Disziplinen, um neues Wissen zu produzieren. Gleichzeitig nutzten sie die Gelegenheit, einen unbegrenzten Zugriff auf Probandendaten und menschliche Versuchs“objekte“ verfügbar zu haben. Diese juristisch und ethisch völlig ent18 Für eine reihe exemplarischer Studien aus den letzten Jahren, vgl. Müller-hill (1984); aly und roth (1985); roelcke et al. (1994); roelcke (2000); roth (2001); Massin (2003); von Schwerin (2004); Schmuhl (2005); Eckart (2006); roelcke (2009). 19 Vgl. zu letzterem die Beispiele in Weindling (2000), sowie das gegenwärtige Projekt zur Erstellung einer topographie und Datenbank zu den Opfern von medizinischer Forschung an Menschen im nationalsozialismus der arbeitsgruppe um Paul Weindling (Oxford).
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grenzte und damit „de-regulierte“ Möglichkeit zur Forschung hatte sich durch den Kontext des totalitären politischen Systems zusammen mit der Kriegssituation ergeben (roelcke 2004). Die Forscher waren dadurch in der lage, Forschungsprogramme durchzuführen, die in anderen Kontexten nicht realisierbar gewesen wären. So schaffte der weitgehend ungehinderte Zugriff auf Daten von Probanden und Familienangehörigen in öffentlichen Ämtern und Gerichten, sowie die anlage enormer Datenbanken eine wesentliche Voraussetzung für epidemiologische und genealogisch-humangenetische Forschung in zuvor nicht gekanntem ausmaß (roelcke 2002; Schmuhl 2005). Das Euthanasie-Programm ab 1939 sowie die Verfügbarkeit von häftlingen in Konzentrationslagern ermöglichten die rasche und systematische Korrelation und analyse von Daten, die bei der Untersuchung von lebenden Probanden gewonnen waren, mit den Obduktionsbefunden und Ergebnissen histopathologischer Untersuchungen, beispielsweise für neuropsychiatrische, humangenetische, höhenphysiologische, mikrobiologische oder pharmakologische Experimente (z. B. roelcke et al. 1994; roth 2001; Massin 2003; Eckart 2006; roelcke 2009). IMPlIKatIOnEn FÜr DIE MEDIZIn DEr GEGEnWart Sowohl vor 1945, als auch in der nachkriegszeit, etwa im Kontext des nürnberger Ärzteprozesses, entwickelten einige der historischen akteure eigene argumentationen, um ihr handeln zu rechtfertigen (rütten 1997, Weindling 2004, 257–269). Damit formulierten sie normative regeln für ärztliches und wissenschaftliches handeln, die für die Zeit des nationalsozialismus plausibel waren und dort verbreitete Gültigkeit hatten. Diese Form einer moralischen rechtfertigung – pointiert gesagt, einer nationalsozialistischen Medizinethik – besitzt eine gewisse innere Kohärenz und verdient eine genauere analyse. Ein zentraler Baustein dieser Ethik war der hohe Wert, welcher der Produktion von neuem wissenschaftlichem Wissen zugeordnet wurde, insbesondere, wenn dieses Wissen zur Steigerung der menschlichen leistungsfähigkeit oder zur Optimierung der menschlichen natur und der Gesundheit in zukünftigen Generationen beitragen konnte. Ein anderer sehr hoher Wert war das Wohlergehen der Gesamtbevölkerung oder des „Volkskörpers“, das dem Wohlergehen des Individuums eindeutig übergeordnet war. Eine analyse dieser expliziten und impliziten normsetzungen in der Medizin des nationalsozialismus und ein Vergleich mit entsprechenden normativen Diskursen in der gegenwärtigen Medizin- und Bioethik könnte eine zentrale aufgabe für zukünftige Forschungen in der Medizinhistoriographie und -ethik sein. Die Motivationen, Werthaltungen und das tatsächliche handeln von Ärzten und biomedizinischen Wissenschaftlern während der Zeit des nationalsozialismus legen auch einige weiterführende Überlegungen zu Fragen der medizinischen Ethik und ärztlicher Professionalität nahe. Ein ausgangspunkt für solche Überlegungen ist die Feststellung, dass die meisten dieser haltungen und handlungsweisen nicht nS-spezifisch sind:
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1. Die Schwierigkeiten für Ärzte und Wissenschaftler, den Versprechungen und Versuchungen derjenigen zu widerstehen, die im Besitz von Macht und/oder Geld sind, sind selbstverständlich keineswegs spezifisch für die Zeit des nationalsozialismus, sondern gerade in Zeiten knapper finanzieller ressourcen für die Gesundheitsversorgung und die universitäre Forschung überall mit händen zu greifen. 2. Der Drang, Forschungsfragen und wissenschaftliche Interessen unter allen Umständen zu verfolgen und hierfür Orte der Forschung zu suchen, an denen möglichst minimale reglementierungen und restriktionen existieren, ist ebenfalls nicht nS-spezifisch, sondern zumindest seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert international nachweisbar. 3. Wissenschaftliche und gesundheitspolitische Programme, die auf die Steigerung menschlicher leistungsfähigkeit und die Optimierung der genetischen ausstattung von Individuen oder sozialen Gruppen abzielen, sind schließlich ebenfalls nicht beschränkt auf die Zeit des nationalsozialismus. Der politische Kontext des nationalsozialismus war allerdings notwendig, um die problematischen Potentiale dieser weit verbreiteten Mentalitäten, Motivationen und Verhaltensweisen zu einer radikalen Manifestation zu bringen: Die Protagonisten des regimes beriefen sich zu ihrer legitimation auf Biologie und Medizin als Fundament ihrer Gesundheits-, Sozial- und Bevölkerungspolitik. Für diese legitimation waren sie bereit, Ärzten und biomedizinischen Forschern sowie den zugehörigen Institutionen gewisse handlungsspielräume einzuräumen und rasch wachsende finanzielle ressourcen zur Verfügung zu stellen. Komplementär waren viele Mediziner nur zu bereit, mit den unterschiedlichen politischen Instanzen des regimes zu kooperieren, um arbeitsstellen zu sichern, ihren Status zu verbessern oder Gelder für ihre Forschungsprojekte zu bekommen. Durch diese auf Gegenseitigkeit beruhende Kooperation entstand eine gemeinsame autorität, die beanspruchte, Menschen aufgrund ihrer biologischen ausstattung in ihrem Wert differenzieren zu können und hieraus sowohl medizinische als auch politische Interventionen abzuleiten. Solche Konstellationen existierten in mancher hinsicht zwar auch in anderen historischen Kontexten, aber dort waren sie durch einen politischen und wissenschaftlichen Pluralismus, d. h., durch konkurrierende politische und wissenschaftliche Programme zur natur des Menschen, und zum Verhältnis zwischen Individuum und Staat relativiert. Die Spezifität des nationalsozialismus liegt in dieser Perspektive in erster linie in der abschaffung des politischen und wissenschaftlichen Pluralismus. Verbunden mit der Bereitschaft von Politikern, Ärzten und breiter Öffentlichkeit, der rationalität und den Effizienz-Versprechungen der Wissenschaften uneingeschränkt zu folgen, entstand eine Konstellation, in welcher der einzelne Mensch mit seiner Subjektivität seinen Platz im Zentrum medizinischen Denkens und handelns verlor.
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FaZIt Die Ergebnisse der historischen Forschung dokumentieren, dass die Grenzüberschreitungen zwischen 1933 und 1945 nicht spezifisch für die Zeit des nationalsozialismus waren; vielmehr lassen sie sich verstehen als Beispiele für eine extreme Manifestation von Potentialen, die in der modernen Medizin generell angelegt sind. Die Denk- und handlungsmöglichkeiten für das inhumane Verhalten von Medizinern im nationalsozialismus waren in den Köpfen bereits vorhanden, sie waren teil des Denk- und handlungspotentials der modernen Medizin; die Zeit ab 1933 stellte lediglich rahmenbedingungen bereit, unter denen diese Potentiale realisiert wurden. Die Medizin im nationalsozialismus kann in dieser Perspektive als heuristische Kasuistik verstanden werden: Die Beschäftigung mit den Gefahren von (historischen) Versuchungssituationen für Ärzte, mit ihren rationalitäten und Wertehierarchien, mit anpassungs- und rechtfertigungsmechanismen sowie handlungsspielräumen kann die Fähigkeit zu kritischer analyse und professionellem Umgang mit Versuchungs- und Zumutungssituationen heute verbessern. lItEratUrVErZEIchnIS aly, Götz; roth, Karl heinz (1985) ‚Der saubere und der schmutzige Fortschritt‘, in Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 2 (Berlin). aly, Götz; roth, Karl heinz et al. (1985) Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik (Berlin): Bd1ff. Benzenhöfer, Udo (1999) Der „gute tod“: Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart (München). cottebrune, anne (2008) Der planbare Mensch: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die menschliche Vererbungswissenschaft, 1920–1970 (Stuttgart). Diner, Dan (1988) ‚Zwischen aporie und apologie. Über Grenzen der historisierbarkeit des nationalsozialismus‘, in D. Diner (hg.), Ist der nationalsozialismus Geschichte? (Frankfurt/M.): 62–73. Diner, Dan (hg.) (1988) Zivilisationsbruch: Denken nach auschwitz (Frankfurt/M.). [Diner 1988a] Eckart, Wolfgang U.; alexander neumann (hg.) (2006) Medizin im Zweiten Weltkrieg (Paderborn). Eckart, Wolfgang U. (2011) ‚Medizinische Forschung‘, in r. Jütte et al (hg.), Medizin und nationalsozialismus: Bilanz und Perspektiven der Forschung (Göttingen): 106–178. Eckart, Wolfgang U. (hg.) (2006) Man, Medicine, and the State: the human Body as an Object of Government-Sponsored Medical research in the 20th century (Stuttgart). Fangerau, heiner (2010) Spinning the Scientific Web: Jacques loeb (1859–1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung (Berlin). Faulstich, heinz (1998) hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949: Mit einer topographie der nS- Psychiatrie (Freiburg/Br.). Forsbach, ralf (2006) Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten reich“ (München). Frewer, andreas; Siedbürger, Günther (hg.) (2004) Medizin und Zwangsarbeit im nationalsozialismus: Einsatz und Behandlung von „ausländern“ im Gesundheitswesen (Frankfurt/M.). Frewer, andreas et al. (2009) Der „ausländereinsatz im Gesundheitswesen“ (1939–1945) (Stuttgart: Steiner).
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ExPOrt UnD IMPOrt VOn MEDIZInErn UnD GESUnDhEItSPOlItIK Globalisierungsgeschichte der Medizin am Beispiel der deutschen Entwicklungshilfe Walter Bruchhausen Fragt man nach eventuellen blinden Flecken des Bereichs „Geschichte, theorie und Ethik der Medizin“ in Deutschland, insbesondere im internationalen Vergleich, so stößt man nicht zuletzt auf das thema der Gesundheitsversorgung außerhalb des nordatlantisch-mediterranen Großraums, d. h. Europas, nordamerikas und des Vorderen Orients. Diese weitgehende Vernachlässigung betrifft offenbar sowohl die Forschung als auch die lehre und soll hier mit einer analyse von ausmaß und möglichen auswegen betrachtet werden. Dabei geht es v. a. um die Frage, wie auch mit dem fachpolitisch offenbar erforderlichen Fokus auf Deutschland und ohne überseeische Forschungsaufenthalte, die in der Medizin(geschichte) weitaus schwerer als z. B. in der Ethnologie zu verwirklichen sein dürften, eine historische Beschäftigung mit themen globaler Gesundheit möglich sein könnte. Diese erste breitere historisierung soll in einem Überblick über die v. a. westdeutschen, vereinzelt auch ostdeutschen ansätze in der medizinischen Entwicklungszusammenarbeit mit verschiedenen offenen Fragen geschehen. Dabei stellt nicht zuletzt die Bonner Zeitzeugen-tagung 2009, die erstmals maßgebliche deutsche Experten der Entwicklungszusammenarbeit im Gesundheitsbereich mit einschlägig medizinhistorisch arbeitenden Forschern zusammenbrachte, eine wichtige Grundlage für die Einschätzungen dar (Bruchhausen et al. 2011). nach der kurzen Darstellung der relevanten medizinhistorischen lehr- und Forschungssituation, auch im deutsch-britischen Vergleich, wird mit der Frage begonnen, warum man sich eigentlich eigens mit der Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) im Gesundheitsbereich beschäftigen sollte. anschließend werden eher chronologisch die wesentlichen Entwicklungen skizziert. Das soll angelehnt an die offiziellen Un-Entwicklungsdekaden geschehen – nicht weil diese unbedingt eine passende Periodisierung für den Gesundheitsbereich darstellen, sondern weil sich damit allgemeine und vielleicht spezifisch medizinische Entwicklungen kontrastieren lassen. abschließend wird gefragt, was sich aus diesem groben Überblick für eine zeitgemäße akademische annäherung an diese Geschichte ergibt und wie bzw. wo die chancen für eine Etablierung solcher themen im Medizinstudium sind.
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DEFIZItE UnD DESIDEratE MEDIZInhIStOrISchEr FOrSchUnG UnD lEhrE nach den umfassenden Werken von Wolfgang U. Eckart zu deutschen Ärzten in china, zur leprabekämpfung und zu Medizin im deutschen Kolonialreich (Eckart 1989, 1990 und 1897) und von Paul U. Unschuld zur Medizin in china (Unschuld 1975 und 1980), die alle schon Ende des letzten Jahrhunderts entstanden, hat kein Medizinhistoriker in Deutschland nennenswerte, geschweige denn international beachtete Beiträge zu solchen themengebieten geleistet.1 Erst in allerjüngster Zeit sind in Deutschland mit dem Forschungsverbund von v. a. den Instituten in Düsseldorf und Ulm mit der Japanologie in halle und ostasiatischen Kollegen breitere medizinhistorische ansätze der Forschung zu Ostasien entstanden. auch in der medizinhistorischen lehre scheint die Beschäftigung mit Medizin außerhalb Europas (insbesondere bei fehlender Schrifttradition) kaum eine rolle zu spielen, wie gängige lehrbücher, Grundsatzpapier (Fachverband Medizingeschichte & aEM 2009) und die eigenen Erfahrungen aus überregionalen Veranstaltungen für Medizinstudierende zeigen. Es gäbe jedoch nicht nur aufgrund von politischem und studentischem Interesse, sondern auch der deutschen Forschungslandschaft gute Gründe für eine medizinhistorische Beschäftigung mit entsprechenden themen und regionen. Denn mit einer gewissen Verspätung gegenüber dem ausland boomen jetzt auch in den deutschen Geschichtswissenschaften globalhistorische themen in beeindruckenden Monographien und Sammelbänden (Bayly 2006; Budde et al. 2006; conrad et al. 2007; Gradner et al. 2005; Wolfrum & arendes 2007), neuen Zeitschriften,2 grundsätzlichen reflexionen (Werner & Zimmermann 2002) und zahlreichen Fachtagungen, ja sogar neuen lehrstühlen und Forschungsverbünden unter Schlagworten wie Globalgeschichte, Entangled history oder histoire croisée. auch zur Entwicklungszusammenarbeit wird daher im deutschsprachigen raum schon an verschiedenen Orten intensiv historisch geforscht (heim 2006; Büschel/Speich 2009). Bei den eher nur medizinethisch interessierten angehörigen der einschlägigen deutschen Institute fällt die literarische Bilanz, trotz der Beteiligung an entsprechenden Forschergruppen und tagungen,3 ähnlich mager aus. Gleiches gilt offenbar auch hier für die lehre, wie der Blick in das wohl am weitesten verbreitete deutschsprachige heft zur globalen Gesundheit, verfasst von Studierenden einer Gruppe der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd), offenbart. Das Kapitel „Ethische aspekte globaler Gesundheit“ beginnt bezeichnenderweise mit dem Satz: „Ethikvorlesungen werden im Studium oft müde belächelt, 1 2 3
als verdienstvolle Beiträge von deutschen autoren, die nicht (mehr) in der professionellen Medizingeschichte tätig sind, wären darüber hinaus zu nennen: Grundmann (1992); Grosse (2000). U. a. comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung (1991) und Journal of Global history (2006). Insbesondere zu nennen sind hier die DFG-Forschergruppe „Kulturübergreifende Bioethik“ und die Jahrestagung der akademie für Ethik in der Medizin 2009 „Medizinethik in einer globalisierten Welt“.
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in unseren Köpfen häufig auf die in Deutschland immerwährende Debatte um aktive/passive Sterbehilfe reduziert“ (GandhI 2009: 72).4 Ganz anders sieht der Blick auf (nicht nur) geistes- und gesellschaftswissenschaftlich führende Universitäten im ausland aus: In der Oxford University und der Oxford Brooks University etwa widmen sich drei der fünf medizinhistorischen Professuren hauptsächlich ehemaligen Kolonialgebieten,5 das Ethik-Zentrum EthOx hat seinen Schwerpunkt in diesen regionen. Selbst ein land ohne ehemaliges Kolonialreich wie die Schweiz kann in der afrikageschichte in Basel oder der Bioethik in Zürich auf relevante Schwerpunktinteressen verweisen. Die allgemeinen Gründe für einschlägige deutsche Defizite sind aus der Diskussion um die Globalgeschichte bestens bekannt: das Fehlen eines „aufzuarbeitenden“ jüngeren Kolonialreichs und zwischenzeitlich einer weltpolitischen rolle Deutschlands, der geringe anteil global- bzw. welthistorischer themen in Schulunterricht und universitärer lehre, mangelnde Sprachkenntnisse, mancherorts fehlende Durchlässigkeit zwischen regional- und Geschichtswissenschaften, vergleichsweise wenige internationale Studierende und Doktoranden in relevanten Fächern und aus entsprechenden ländern. Erschwerend hinzu kommt die geringe Bedeutung von nord-Süd-themen in medizinischen Fakultäten, die sich auch in eher spärlichen Kooperationen mit Entwicklungsländern widerspiegelt. Dabei ist unter dem Begriff „Globale Gesundheit“ in den letzten Jahren wieder ins Bewusstsein gerückt worden, dass der Gesundheitszustand der Weltbevölkerung sehr weit von dem entfernt ist, was medizinisch und ökonomisch bereits heute möglich wäre. Mit einigen der soziokulturellen Faktoren, die für diese Diskrepanzen in der Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, hat sich in Deutschland auch an medizinischen Fakultäten, u. a. in Düsseldorf, Würzburg, Frankfurt, Bonn, Gießen und Ulm, die Ethnomedizin oder Medical anthropology beschäftigt, allerdings ohne eine dauerhafte Institutionalisierung zu erfahren. längerfristige anbindungen an die Medizingeschichte sind bisher gescheitert, in der Medizinethik interessiert diese Expertise eher im hinblick auf Migration hierzulande als auf Gesundheitsversorgung im globalen Süden.6
4
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aus den Studienorten der autoren zu schließen, dürfte sich dieser Eindruck auf medizinethische Vorlesungen in Marburg und/oder heidelberg beziehen, allerdings lassen auch lehrbücher und der lehr-/lernzielkatalog (aEM 2002) – mit ausnahme von 10. d) „Globale Gerechtigkeit“ – keine flächendeckende intensive Beschäftigung mit internationalen und interkulturellen medizinethischen Fragen vermuten. ann Digby arbeitet zum südlichen afrika, Waltraud Ernst zu Indien und Mark harrison zu Indien und zur levante. Vergleiche die neue aG „Interkulturalität in der medizinischen Praxis“ der akademie für Ethik in der Medizin oder den medizinethnologischen Beitrag zu GtE von Knipper (2007).
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EInE EIGEnE MEDIZInGESchIchtE DEr EntWIcKlUnGSZUSaMMEnarBEIt? Man mag fragen, ob man überhaupt eine eigene Geschichte des Gesundheitssektors schreiben muss. reicht es denn nicht, ihn als teil der Entwicklungshilfe allgemein mitzubehandeln? In der tat teilt der Gesundheitsbereich die allgemeinen rahmenbedingungen der Entwicklungszusammenarbeit (Kevenhörster 2006: 137–139), so dass er von den unterschiedlichen politischen Interessen und den wechselnden Entwicklungstheorien abhängig ist. So lassen sich zahlreiche allgemeine Einflüsse auch im Gesundheitsbereich als einflussreich nachweisen. In westlichen Industrienationen kam es nicht zuletzt aus der Erfahrung des deutschen Wiederaufbaus bzw. Wirtschaftswunders zur breiten akzeptanz der Wachstumstheorien mit der Idee eines trickle-down-Effekts, dass also zuerst Wirtschaftswachstum und -entwicklung entstehen muss und sich dies dann u. a. auf die gesundheitliche lage der Ärmsten positiv auswirken kann. Der in dieser hinsicht im Westen publizistisch führende Ökonom, Walt Whitman rostow, sah 1960 erst nach erreichtem wirtschaftlichem Erfolg, der mit einer Durststrecke zu erkaufen ist, die drei staatlichen Wahlmöglichkeiten von äußerer Macht, Wohlfahrtsstaat oder Massenkonsum gegeben, wodurch dann auch staatlich organisierte Gesundheitsversorgung und Gesundheitsmarkt hochwertiger leistungen zu erreichen wären (rostow 1960: 94–95 und 103–105). Im Osten galt als Konsequenz marxistisch-leninistischer lehre in der Politik der Grundsatz, dass letztlich erst der Sozialismus bessere Gesundheit der ganzen Bevölkerung bringt. Seit den 1960er Jahren forderten jedoch sowohl die im Westen domininierende Modernisierungstheorie als auch die eher marxistisch inspirierte Dependenztheorie die gezielte Förderung von Gesundheitsversorgung und wollten damit Verbesserungen in diesem Bereich nicht erst zukünftigen wirtschaftlichen bzw. politischen Idealzuständen überlassen. In beiden deutschen Staaten brachten seit den 1970er Jahren Emanzipationsbewegungen und Gesellschaftskritik Modelle von Partizipation und Basisorientierung der Gesundheitspolitik auf. Gleichzeitig ließen die Erfahrung der Ölkrise und die rede von den „Grenzen des Wachstums“ Sustainability bzw. nachhaltigkeit auch in Gesundheitsprogrammen fordern. Schließlich resultierte der aufstieg des neoliberalismus nicht zuletzt für das Gesundheitswesen in Entwicklungsländern in Strukturanpassungsprogrammen mit (stärkerer) finanzieller Eigenbeteiligung der Patienten. Doch trotz dieser weitreichenden Gemeinsamkeiten mit anderen Sektoren der Entwicklungspolitik weist der Gesundheitsbereich eine ganze reihe von Eigenheiten auf, die seine eigene Erforschung verlangen. Dazu gehört, dass die Kluft zwischen vollmundigen absichtserklärungen und realitäten in der Umsetzung, die wohl viele, vielleicht alle Politikbereiche zwangläufig betrifft, im Gesundheitsbereich ganz eigene aspekte hat. Obwohl Gesundheitsfragen heute wie selbstverständlich einen großen teil der ausgaben staatlicher EZ betreffen und immer wieder zu medienwirksamen Projekten, nicht zuletzt auch kirchlicher und privater träger führen, ist ihre Stellung in staatlicher Entwicklungspolitik und spendenfinanzierter Entwicklungshilfe ambivalent und häufig entsprechend scharf kritisiert.
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So galten Projekte im Gesundheitswesen oft 1. als eher karitativ und von geringer entwicklungspolitischer Qualität, verglichen etwa mit den Sektoren Bildung oder Wirtschaftsförderung, 2. als Fass ohne Boden mit überhöhten Gehältern und Kosten sowie 3. als von absatzinteressen der Pharma-Industrie durchdrungen. Gegen diese tatsächlichen oder vermeintlichen Fehler gab es immer wieder Gegenmaßnahmen: 1. Die zunehmende präventive statt der häufig gewünschten kurativen Orientierung, mit entsprechender breiter Verbesserung des auch wirtschaftsrelevanten Gesundheitszustands der Bevölkerung, 2. das Konzept von Primary Health Care (Basisgesundheitsfürsorge) mit angepassten Gesundheitsberufen und Eigenleistungen als erschwingliche alternative zum völligen Import des Modells der Industrienationen bzw. 3. das Programm der unentbehrlichen Medikamente (Essential drugs), also ausgewählte standardisierte Generika statt Markenpräparaten, als ausschließlich sachorientierte, nicht von Eigeninteressen gesteuerte Intervention (WhO 1977). Doch gerade der medizinische Sektor widersetzte sich dann wiederum mit seinen Eigenheiten dieser primär nutzenmaximierend ökonomischen ausrichtung auch in allen drei aufgeführten Punkten immer wieder. Denn 1. betonte medizinisches Personal die notwendigkeit kurativer Versorgung gegenüber einem Überwiegen der Prävention nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch um akzeptanz für präventive Maßnahmen zu schaffen; 2. führten die niedrigen Gehälter des Gesundheitspersonals zu massiver abwanderung und die Einführung von nutzergebühren, die eine Übernutzung der zuvor kostenfreien Gesundheitsdienstleistungen verhindern sollte, zu einem nachweisbaren rückgang des Zugangs zu ihnen und gleichzeitig zu einer „retraditionalisierung“ (Green 2000), d. h. der wieder verstärkten Inanspruchnahme so genannter „traditioneller heiler“; und 3. bedingte das Entstehen neuer Gesundheitsprobleme wie hIV/aIDS wieder stärkere statt dauernd abnehmender abhängigkeit von multinationalen Pharma-Konzernen. DIE anFÄnGE DEUtSchEr MEDIZInISchEr EntWIcKlUnGShIlFE nach 1950: „ErStE EntWIcKlUnGSDEKaDE“ (1961–1970) Beteiligung des nordens in der Gesundheitsversorgung des Südens der Welt hat es schon seit der jeweiligen Kolonialzeit gegeben, so dass sich hier auch lange Entwicklungslinien ziehen lassen (Bruchhausen 2008). Doch es ist sinnvoll, die Geschichte deutscher Entwicklungshilfe erst nach 1945 beginnen zu lassen, weil es im staatlichen Bereich – ganz im Gegensatz zur arbeit der Kirchen – kein durchgehendes deutsches Engagement seit der eigenen Kolonialherrschaft vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hat. Die vereinzelte Mitarbeit in Kommissionen des Völkerbunds (Borowy 2009), tropenmedizinische Forschung einschließlich Expeditionen und Medikamentenentwicklung oder die auch kolonialmedizinisch begleiteten Pläne für die (rück-)Eroberung afrikas (hildebrand 1969; Eckart 1997: 505–539) unterscheiden sich in Zielsetzung und aktivitäten grundlegend von der nun beginnenden zwischenstaatlichen hilfe.
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Die Perspektive des Westens: „nachholende Entwicklung“ Die anfänglichen Motive zur Unterstützung u. a. des Gesundheitswesen in ländern afrika, lateinamerika und asiens entsprangen in der jungen Bundesrepublik zwei damals aktuellen herausforderungen: Der Mitgestaltung der „Dekolonisierung“ und der „Weitergabe der empfangenen (aufbau-)hilfe“. Zunächst bedeutet die „Dekolonisierung“, die sich in jüngster Zeit wachsender geschichtswissenschaftlicher aufmerksamkeit erfreut (hopkins 2008; Eckert 2008; Friedrich-Ebert-Stiftung 2008), einen Wechsel in der Verantwortung für Gesundheitsprogramme und -politik, der auch deutsche akteure betrifft. Seit dem Ende deutscher Kolonialherrschaft war die rolle von Deutschen im Gesundheitswesen außereuropäischer regionen auf tropenhygienische Forschung und individuelle Mitarbeit in Gebieten anderer Kolonialmächte, insbesondere in niederländischen Diensten oder als Missionsärzte, beschränkt gewesen. nun verloren die scheidenden Kolonialmächte ihr Monopol auf die Gesundheitspolitik ihrer territorien, was neue Möglichkeiten für deutsche Institutionen beinhaltete. Kirchliche und staatliche akteure aus Deutschland hatten nun neue Kooperationsformen mit den unabhängigen regierungen zu finden. Dass Gesundheitsprogramme nach der politischen Unabhängigkeit häufig ansätze aus der Kolonialzeit, zumeist unwissentlich, wiederholten, wurde bereits aufgewiesen (chaiken 1998). Der gesundheits- und entwicklungspolitische Umgang mit dem kolonialen Erbe, etwa neuartigen Gesundheitseinrichtungen ohne Ärzte (Dispensaries genannt), nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen (Medical auxiliaries), Seuchenkontroll-Programmen und epidemiologischen Erfassungsmethoden, verdient jedoch nähere aufmerksamkeit, um eventuelle Prozesse ideologischer ausblendung oder ablehnung, stillschweigender Übernahme und expliziter auseinandersetzung zu beleuchten. Ob sich die seit Beginn des 20. Jahrhunderts gängige rechfertigung kolonialer herrschaft auch mit der Verbesserung der Gesundheitssituation Einheimischer für die postkoloniale Kooperation bruchlos fortsetzt oder ob neue töne bestimmend werden, ist – angesichts bemerkenswerter Kontinuitäten bei britischen akteuren (Sabben-clare et al. 1980) – der näheren Untersuchung wert. Ein zweigleisiges Vorgehen von gleichzeitiger operativer Kontinuität mit rhetorischer absetzung von den Vorgängern wäre nicht unerwartet. Der Übergang vom Wiederaufbau zum Wirtschaftswunder der Bundesrepublik hatte im kirchlichen wie staatlichen Bereich erkennbare auswirkungen auf die Beziehungen zu den ländern afrikas, asiens und lateinamerikas. Im Staat reifte – auch im hinblick auf den Marshallplan (European recovery Programme) und die Eindämmung des Kommunismus (truman- und hallstein-Doktrin) mit dem daraus entstehendem westlichen Druck – die Strategie, die empfangene aufbauhilfe und eigene Devisenüberschüsse Bedürftigeren zur Verfügungen zu stellen, um so die Überlegenheit der westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsform zu beweisen (White 1965; Bodemer 1974). Wie nicht nur an der noch zu behandelnden propagandistischen ausschlachtung, sondern auch schon an der Wahl der Partnerländer zu erkennen ist, stand die Entwicklungshilfe ganz im Zeichen des Ost-West-Konflikts und seiner Systemkonkurrenz.
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Ähnlich wie im staatlichen Bereich wurde in den Kirchen die moralische Verpflichtung und wirtschaftliche Möglichkeit gesehen, aus dem neuen eigenen Wohlstand anderen Menschen in armut – noch eher karitativ, aber mit sozialethischem appell – zu helfen. Berühmt wurde insbesondere die rede des Kölner Kardinals Frings 1958 zur Gründung einer „aktion gegen hunger und Krankheit“ mit dem namen „Misereor“ (Frings 1976/1958). Wenig später folgte auf evangelischer Seite die Gründung von „Brot für die Welt“, ebenfalls mit ausdrücklicher ausrichtung auf Krankheitsbekämpfung. neben impliziter oder expliziter Fortführung der erwähnten, bis zu einem gewissen Grade bereits angepassten Modelle aus der späten Kolonialzeit setzte sich die Bundesrepublik gleichzeitig – durchaus auch auf Wunsch der neuen einheimischen Eliten, die sich an nordatlantischen Standards orientierten – mit modern imponierenden, vergleichsweise hoch technisierten Prestige-Projekten, wie z. B. dem heinrich-lübke-hospital in Djourbel/Senegal, von den stärker kostenbewussten Strukturen der Vorgänger ab. Ähnliche Großkrankenhäuser mit entsprechenden Folgeproblemen entstanden damals unter deutscher Unterstützung in tansania auch auf kirchlicher Seite, so auf katholischer 1968–1971 mit dem Buganda Hospital in Mwanza und auf evangelischer das Kilimanjaro Christian Medical Centre in Moshi. Es sollten leuchttürme des Fortschritts entstehen. rücksicht auf laufende Kosten und Sozialverträglichkeit wurde hingegen wenig genommen, nachhaltigkeit war noch kein zentraler Begriff der EZ. DDr: „antiimperialistische Solidarität“ Für die DDr, die weder mit westlichen Kolonialmächten noch umfangreichen ausländischen Finanz- und Wirtschaftshilfen verbunden war und „Entwicklungshilfe“ als neokolonialistisch ablehnte, gestalteten sich die Ursprünge der Kooperation mit den „ökonomisch schwachentwickelten ländern“ anders (Domdey 1961). Sie entstanden eher aus internationalen Beziehungen zu Befreiungsbewegungen und (potentiell) sozialistischen Staaten, unter den „zwei politisch-ideologischen Grundprinzipien – dem proletarischen Internationalismus und der antiimperialistischen Solidarität“ (Benger 2009: 341). Eine zentrale Koordination wie das BMZ fehlte, wichtig waren im Politbüro die seit 1949 bestehende abteilung „Internationale Verbindungen“ und das Beiträge der Berufstätigen verwendende Solidaritätskomitee. Weitere Säulen bestanden in FDGB (mit direkter Unterstützung u. a. einer tansanischen Gewerkschaftsklinik), FDJ (seit 1963, v. a. in der Berufsbildung vor Ort, aber auch in medizinischer Betreuung) und insbesondere der Bildungs- und ausbildungshilfe für junge Menschen aus Entwicklungsländern (45% der „unentgeltlichen hilfe“). Der Stellenwert von Gesundheit in den Strategien und Maßnahmen dieser Einheiten war unterschiedlich. auf jeden Fall umfassten die Maßnahmen auch Studium und ausbildung in Gesundheitsberufen (hong 2008). Mitte der 1960er Jahre kamen 20% der Medizinstudierenden in der DDr aus jungen nationen wie algerien, Ghana, Guinea, Kamerun, Mali, Sambia, tansania oder Burma. Schon seit
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Ende der 1960er Jahre wurden in leipzig Medizinstudierende aus solchen ländern zusätzlich in tropenmedizinischen Sommerkursen unterrichtet. Die personelle hilfe auch im Gesundheitswesen vor Ort erreichte Ende der 1960er Jahre einen ersten höhepunkt, ging aber z. B. in tansania durch die dortige Politik der Self-reliance schon anfang der 1970er Jahre wieder zurück und wurde durch helfer aus china abgelöst. Die nutzung des Gesundheitswesens für staatliche Propaganda im In- und ausland wurde intensiv betrieben. allein eine (unvollständige) auflistung der medienwirksamen aktivitäten im Jahr 1964 beinhaltete – neben der Entsendung von Gesundheitsfachpersonal – nach im Bundesgesundheitsministerium gesammelten auswärtspressemeldungen: Behandlung zypriotischer Bombardierungsopfer in Ostberlin, Besuche von Gesundheitsminister Sefrin und anderen Offiziellen des DDr-Gesundheitswesens in Ägypten, Indien, Brasilien, Kolumbien und Guinea, Besuche ausländischer Gesundheitsdelegationen aus Zypern, Jemen, Japan, Vietnam, Indonesien, Burma, ceylon, nepal, Mali, Senegal, togo sowie die lieferung von Medikamenten, Geräten und Instrumenten nach Jemen, Indonesien, Ghana, algerien und Sansibar und von Gesundheitsausstellungen nach Burma, Kambodscha, Mali und Guinea – was in Westdeutschland zu besorgten Verweisen auf die eigene tatenlosigkeit und den propagandistischen Erfolg des Ostens führte: „Wer die Mauer lobt, erhält zur Belohnung eine Klinik“ (Schreiber 1965). „ZWEItE EntWIcKlUnGSDEKaDE“ (1971–1980): „GrUnDBEDÜrFnISBEFrIEDIGUnG“ Mit dem Bericht der Weltbank-Kommission unter lester Pearson, der als Premierminister zuvor u. a. eine allgemeine Krankenversicherung (Medicare) in Kanada eingeführt hatte, wurde 1969 Kritik an der Modernisierungstheorie auch in internationalen Dokumenten artikuliert und betont, dass Entwicklung mehr als nur direkte Wirtschaftsförderung sei (lefringhausen & Merz 1970: 15–38). anfang der 1970er proklamierte man, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse, zu denen immer auch der Gesundheitsbereich gezählt wurde, Priorität gegenüber bloßem Wirtschaftswachstum haben müsse. Weltbankpräsident Mcnamara hatte in einer aufsehen erregenden rede in nairobi 1973 erklärt: „absolute armut … ist durch einen Zustand solch entwürdigender lebensbedingungen wie Krankheit, analphabetentum, Unterernährung und Verwahrlosung charakterisiert, dass die Opfer dieser armut nicht einmal die grundlegendsten menschlichen Existenzbedürfnisse befriedigen können. […] die lebenserwartung beträgt 20 Jahre weniger als in den wohlhabenden ländern. Mit anderen Worten: Menschen in den Entwicklungsländern werden 30 Prozent der lebensjahre verweigert.“ (Mcnamara 1973). Die Erklärung von cocoyoc in Mexiko, Ergebnis eines UnO-Expertentreffens, formulierte 1974: „mehr Menschen sind hungrig, krank, obdachlos und analphabeten als zur Gründungszeit der Vereinten nationen […] Menschen haben Grundbedürfnisse: nahrung, Obdach, Kleidung, Gesundheit, Bildung. Jedes Wachstum, das nicht zu deren
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Befriedigung führt, oder – noch schlimmer – sie stört, ist eine Verkehrung der Idee von Entwicklung“ (UnEP/UnctaD 1975). Gleichzeitig bedeuteten die Ölkrise und die regierung helmut Schmidt auch einen gewissen abschied von idealistischer rhetorik, man sprach später von der „wirtschaftspolitischen Instrumentalisierung der Entwicklungskooperation in der zweiten hälfte der 70er Jahre“ (Bodemer 1985: 292) – wobei auch die DDr jetzt stärker auf eigene rohstoffversorgung und Exportsicherung schaute. trotz dieser Einschränkungen – vielleicht aber auch als kostenbewusste antwort darauf – war die entscheidende gesundheitspolitische Entwicklung dieser Dekade, dass die bisher unter den Schlagworten „Medicine of Poverty“ (King 1966) für Entwicklungsländer und „Public health“ wie auch „Social Medicine“ für Industrienationen verlaufende neuorientierung mit der WhO/UnIcEF-Konferenz von alma ata 1978 und ihrer Erklärung zur „Primary health care“ auch offizielle Gesundheitspolitik der WhO und UnIcEF wurde. Die bewährten acht Maßnahmenbereiche der Gesundheitserziehung, nahrungsmittel-, Wasser- und Sanitärversorgung, Mutter-Kind-Gesundheit und Bekämpfung endemischer Krankheiten, angepasster Behandlung der häufigsten Krankheiten und Bereitstellung unentbehrlicher arzneimittel sollten nun durch die eher neuen Prinzipien intersektoraler Zusammenarbeit, Basisorientierung und Bevölkerungsbeteiligung umgesetzt werden – mit dem Ziel „Gesundheit für alle im Jahr 2000“ (WhO/UnIcEF 1978). Für die Entstehung und Durchsetzung von Primary health care, das übrigens auch für Industrienationen gelten sollte (labisch 1982), ist ein indirekter Beitrag aus Deutschland auszumachen. So war der ehemalige Mitarbeiter des evangelischen Deutschen Instituts für ärztliche Mission, der Finne Dr. hakan hellberg, bei der WhO hierin einflussreich (Bastian 2011: 34–35). Der katholische Beitrag war nicht zuletzt die Gründung des bis heute arbeitenden arbeitskreises Medizin in der Entwicklungszusammenarbeit (aKME) (Diesfeld 2008), in dem die deutschen staatlichen und zivilgesellschaftlichen akteure vertreten sind. Medizinische ausbildungsstätten und Organisationen Mit der akzentverschiebung der Gesundheitsversorgung hin zu sozialmedizinischen Problemstellungen waren zahlreiche herausforderungen für die Planung verbunden (Bichmann 1979). Die zunehmende Expertise deutschen Gesundheitspersonals für die Gesundheitssituation von Entwicklungsländern schlug sich in einer ganzen reihe institutioneller Entwicklungen wieder. Die Vorbereitung auf die ärztliche arbeit wurde von einem überwiegend tropenmedizinischen Kurs zu einer auch sozialwissenschaftlichen Einführung in die „Medizin in Entwicklungsländern“ abgelöst, sowohl für den Entwicklungsdienst im Westen (Universität heidelberg) als auch für rückkehrende, in Deutschland ausgebildete Ärzte im Osten (Universität leipzig). Einschlägige ärztliche Fachgesellschaften öffneten sich für [alle] Fragen der Gesundheitsversorgung in tropischen ländern, wie die Deutsche tropenmedizinische Gesellschaft/DtG (gegründet 1907), später Deutsche Gesellschaft für tropenmedizin und Internationale Gesundheit, oder entstanden neu, wie
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die Deutsche Gesellschaft für tropenchirurgie (Dtc) und die aG Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit/aG F.I.D.E (Schuler 1997). nach der Entsendung westdeutscher Fachkräfte bereits seit 1957 (hoffmann 1980: 179) waren die 1970er und 1980er Jahre die Zeiten mit der stärksten Entsendung von deutschem Gesundheitspersonal in die EZ. In der Bundesrepublik geschah dies außer dem durch anregung des amerikanischen Peace corps 1963 gegründeten, ganz staatlich finanzierten Deutschen Entwicklungsdienst (DED) (haase 1991) vor allem in den kirchlichen Entsendediensten, nämlich in der seit 1959 bestehenden arbeitsgemeinschaft Entwicklungshilfe (aGEh) auf katholischer Seite (Sollich 1984) sowie in der 1960 begonnenen Organisation Dienste in Übersee (Benn 1996) und in dem schon ab 1957 arbeitenden Internationalen christlichen Friedensdienst Eirene auf evangelischer. In der DDr erfolgte die Entsendung v. a. als FDJ-Brigadier oder als hochschuldozent. Entwicklungspolitische Gruppen Die mediale, staatliche und kirchliche aufmerksamkeit führte in Ost und West dazu, dass sich zahlreiche kleinere Gruppen und Initiativen zur Unterstützung von Entwicklungsprojekten und Bewusstseinswandel bildeten. 1971 schlossen sich in der DDr nach einer tagung „aufbruch gegen die Weltarmut“ in halle/Saale katholische und evangelische Gruppen zum entwicklungspolitischen netzwerk InKOta (In-formation, KO-ordination und ta-gungen) mit eigenem rundbrief zusammen (Verburg 2007). Gesundheitsfragen spielten hierin nur gelegentlich eine rolle (Döring 2007: 114). Überhaupt ist angesichts der Popularität von albert Schweitzer in der DDr die seltene Erwähnung von Medizin und Gesundheit erklärungsbedürftig und vielleicht der ausrichtung auf politische Bewusstseinsbildung geschuldet: Von 24 als unabhängig zu klassifizierenden entwicklungspolitischen Gruppen in der DDr gab nur eine auch „Gesundheit“ als arbeitsgebiet an. Ob diese seltene Erwähnung, die mit der häufigen Unterstützung von Krankenversorgung und Gesundheitsprojekten in basisnahen Gruppen Westdeutschlands kontrastiert, nur die Berichtspraxis oder tatsächlich geringeres Engagement in diesem Bereich widerspiegelt, wäre zu untersuchen. Mögliche hinderungsgründe könnten sowohl wirtschaftlicher als auch politischer natur gewesen sein, etwa Devisenmangel, administrative Beschränkungen oder bewusste Konzentration auf andere Bereiche. Während so im Osten die Kirchen das notwendige Dach für entsprechende Gruppen bildeten, entstanden im Westen auch in Verbindung mit den neuen sozialen Bewegungen, die sich zu einem großen teil im Gefolge der 68er als eher antikapitalistisch oder links verstanden, viele Dritte-Welt-Gruppen, -läden und -Unterstützerkreise, insbesondere in der Solidaritäts- und Friedensbewegung. 1977 gründete sich daraus der Bundeskongress entwicklungspolitischer aktionsgruppen (BUKO), später in Bundeskoordination Internationalismus umbenannt. Mit der 1981 begonnenen BUKO-Pharma-Kampagne, die den arzneimittelmarkt kritisch beleuchtet und Mitglied von Health Action International (haI) wurde, stellt BUKO einen der einflussreichsten Verfechter von rationalem arzneimittelgebrauch in
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Deutschland wie in Entwicklungsländern dar. auch medico (international), schon 1968 gegründet und bis heute bestehend, gehört in dieses gesellschaftlich-politische Spektrum. „DrIttE EntWIcKlUnGSDEKaDE“ (1981–1990): „BEKÄMPFUnG VOn hUnGEr UnD KInDErStErBlIchKEIt“ UnD „VErlOrEnES JahrZEhnt“ Gegenüber dem noch breiteren ansatz der „Grundbedürfnisbefriedigung“ der vorigen Dekade stellt die zunehmende Konzentration auf schleichende humanitäre Katastrophen wie den Wiederanstieg von Unterernährung und Sterblichkeit, die durch verschlechterte lebensbedingungen nicht zuletzt wegen verfallender staatlicher (Infra-)Strukturen bedingt sind, auch bestimmte teile des Gesundheitssektors in den Fokus der aufmerksamkeit. neben neuen internen Unsicherheiten der Entwicklungsländer wirkte sich auch die durch die wirtschaftliche rezession bedingte Verschlechterung der rahmenbedingungen in Industrienationen auf die EZ aus. Die stillschweigende Erwartung von immer weiter fortschreitendem ökonomischem Wachstum in nord und Süd musste begraben werden, nationale und internationale Verteilungsfragen traten in den Vordergrund. Die Primary health care-Bewegung spaltete sich in einen von der WhO repräsentierten „horizontalen“ ansatz, der auf Gesundheitssystementwicklung und breite Bevölkerungsbeteiligung setzte, und einen von UnIcEF favorisierten „vertikalen“, der wirksame Kampagnen gegen einzelne Gesundheitsprobleme bevorzugt und zunächst die Senkung der Säuglingssterblichkeit ins Visier nahm (Diesfeld & Wolter 1989: 131–132). Der unter dem Vorsitz von Willy Brandt verfasste „Bericht der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen (nord-SüdKommission)“ betonte die vertikalen Programme der „Bekämpfung von Krankheiten“, v. a. gegen Malaria, Schlafkrankheit, Flußblindheit und Bilharziose (nordSüd-Kommission 1980: 106–107; 286). neben der damals aufkommenden „rechten“ und „linken“ Fundamentalkritik an Entwicklungshilfe überhaupt (Bauer 1982; Erler 1985; Breyer 1987), nicht zuletzt angesichts zunehmender armut, Unterernährung und Kindersterblichkeit, etablierte sich weltweit eine teilweise wissenschaftliche Diskussion über eventuelle nachteilige Folgen des Medizintransfers (Brown 1979), über die Einbeziehung nicht-professioneller Mitarbeiter (lachenmann 1980; Zacher 1982) und der indigenes Wissen und bewährte Praxis verdrängen und dadurch gesundheitsschädlich wirken könne (Bös & Wörthmüller 1987).7 als gleichzeitige akteure der EZ in Gesundheitsberufen haben einige Vertreter der Ethnomedizin leitungsverantwortung für die EZ übernommen, andere entwickelten ihre Kritik, teilweise durch den Esoterik-Boom beflügelt, in akademischen und außerakademischen Positionen weiter. Die Integration der thematik in die Vorbereitungskurse für medizinische Entwick7
Vgl. auch zeitgenössische Beiträge in den Zeitschriften Ethnomedizin/Ethnomedicine und curare.
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lungshelfer wurde vollzogen,8 was jedoch ihre wissenschaftliche und politische Marginalisierung in Deutschland nicht verhindern konnte. Bevölkerungswachstum und Familienplanungsprogramme Ein zentrales thema wurde hingegen das Bevölkerungswachstum. Während die Kolonialmächte noch in den 1940er Jahren vielerorts einen bedrohlichen Schwund der einheimischen Bevölkerung befürchteten und hauptsächlich nur einzelne amerikaner vor Überbevölkerung warnten, sah sich bald ein großer teil der EZ von überschießendem Bevölkerungswachstum bedroht (Frey 2007). Spätestens seit dem einflussreichen Buch „Die Bevölkerungsbombe“ des Stanford-Professors Paul r. Ehrlich 1968 (Ehrlich 1971/1968) wurde dieses Bedrohungsszenario bestimmend, auch für Motive und Programme bundesdeutscher EZ im Gesundheitssektor (Keim 1982; Diesfeld 1982; Korte 1983). als reaktion auf diese tendenz und ihre auswirkungen klagten nicht nur die Vertreter von Entwicklungsländern auf der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest 1974, dass die westlichen länder mehr für die reduzierung von armen als von armut tun, sondern auch „linke“ Kritik in der Bundesrepublik Deutschland prangerte ein groteskes Überwiegen von gut ausgestatteten Maßnahmen zur Familienplanung gegenüber den weiterhin völlig unzureichenden medizinischen Versorgungsmöglichkeiten an (Erler 1985: 64–77). Die Extrembeispiele von Zwangsmaßnahmen, z. B. Zwangssterilisationen in Indien 1976–1978 und Durchsetzung der Ein-Kind-Politik in china ab 1979 durch Geldstrafen oder Druck zur abtreibung, und unzureichender aufklärung der kontrazeptiv behandelten Frauen wurden in menschenrechtlich, feministisch und religiös motivierter literatur häufig diskutiert. Die Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 sah hier noch einmal die notwendigkeit, rechte und Bedürfnisse von Individuen ausdrücklich vor die Erreichung bevölkerungspolitischer Ziele zu setzen (Sieberg 1995). „Solidarität“ der DDr: Solide ausbildung und ein später „weißer Elefant“ Kurzfristigen aufschwung und langsamen niedergang der Gesundheitssysteme vieler länder beantwortete die DDr, der inzwischen mangels Devisen auswärtige Gesundheitsprogramme kaum möglich waren, mit zwei entwicklungspolitisch äußerst gegensätzlichen Maßnahmen: Sie verbesserte einerseits die ausbildung in Gesundheitsberufen für Menschen dieser länder in der DDr durch zusätzliche einschlägige Pflichtkurse für Medizinstudierende in leipzig (ca. 50 absolventen/ Jahr), weil die bisher ungenügende ausbildung für die ärztliche arbeit in tropischen und armen ländern erkannt war, und vor Ort im jeweiligen heimatland durch hochschulkooperationen, u. a. Äthiopien 1979–1989, mit Entsendung von Dozenten aus der DDr (Schubert 2011). andererseits begann sie noch 1985 ein entwick8
Vgl. das Kapitel „Kulturvergleichende anthropologie“ in: Diesfeld & Wolter 1989: 69–117.
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lungspolitisch längst überholtes Prestige-Projekt, das „hospital carlos Marx“ in Managua/nicaragua, bei dem vom Baumaterial über das Personal bis zum toilettenpapier alles aus der DDr importiert wurde (Zimmermann 1998). Enttäuschung und Wut über die westdeutsche abwicklung dieses Vorzeigeobjektes waren für den Verfasser 1990 im tropenmedizinischen Kurs in Ost-Berlin bei mehreren Dozenten deutlich spürbar. „VIErtE EntWIcKlUnGSDEKaDE“ (1991–2000) MIt DEM ZIEl „nachhaltIGKEIt“: EnDE DES „KaltEn KrIEGES“, nIEDErGanG DEr EZ UnD aUFStIEG DEr nOthIlFE Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden die in truman- und hallstein-Doktrin begründete geostrategisch motivierte Unterstützungen von Partnern im Süden, aber auch rücksichtnahme auf korrupte regime aus weltpolitischem Kalkül und starke Konkurrenz in der EZ, beides schon lange ein Vorwurf vieler Kritiker, weniger wichtig (Simensen 2007: 175). Das dadurch ermöglichte Insistieren auf „good governance“ sollte auch die anstehenden reformen im Gesundheitswesen vorantreiben, Korruption als zentrales Problem der medizinischen Versorgung konnte offener angesprochen und angegangen werden. Das stärker wirtschaftsliberale Klima begünstigte die Durchsetzung der schon zuvor in den Strukturanpassungsprogrammen beschlossenen stärkeren finanziellen Eigenbeteiligung von Patienten, was auch den Effekt einer Qualitätsverbesserung durch abhängigkeit vom „Kunden“ Patient haben sollte. Insgesamt ist seit 1990 ein rückzug der Geberländer aus der direkten Entwicklungszusammenarbeit zu konstatieren. Die Mittelvergabe erfolgt zunehmend in Form des Basket funding, durch Budget- statt durch Programmhilfe, damit durch Einzahlung in einen einzigen topf für zentral koordinierte Programme die verschiedenen Geberländer nicht mehr so viele parallele Strukturen unterhalten und parallele Maßnahmen durchführen. Das hat verschiedene Gründe. Der entwicklungspolitische Optimismus bis in die frühen 1980er Jahre hatte mittel- bis langfristige Gesundheitsprojekte begünstigt, zuletzt insbesondere im aufbau eines Basisgesundheitswesens. Doch die angesprochenen Fehlschläge großer Entwicklungsprojekte, nicht unbedingt im Gesundheitssektor, die Zerstörung sichtbarerer Erfolge durch Zerfall des Staates, neue Kriege und wirtschaftlichen niedergang, aber auch die erreichte ausbildung rein statistisch genügender Zahlen einheimischer Mitarbeiter in Gesundheitsberufen und drängende Probleme in anderen Bereichen änderten dies grundlegend. Denn sie führten zu nachlassendem öffentlichen Interesse an Entwicklungszusammenarbeit insgesamt, zu rückläufigem staatlichem Engagement im Gesundheitssektor und zum wachsenden medizinischen Engagement von (nicht nur) deutschen Spendern und deutschem Gesundheitspersonal in den massenmedial präsentierten akuten und schleichenden Katastrophen (Olsen 2001). Damit verbunden ist die zwischenzeitlich – auch angesichts des schwierigen arbeitsmarktes für Ärztinnen und Ärzte in den 1990er Jahren – deutlich gesunkene Bereitschaft zu mehrjährigen auslandseinsätzen. Dies geschah zu-
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gunsten von Kurzeinsätzen, wie insbesondere der aufstieg von „Ärzte ohne Grenzen“ in diesem Zeitraum zeigt. Interessant ist hier nicht zuletzt der Vergleich mit der hoch aktuellen allgemeinen Diskussion um die wachsende Bedeutung der nicht-regierungsorganisationen (nGOs) (heins 2008). Ist auch für das Gesundheitswesen zu beobachten, dass nGOs aufgrund ihrer stärkeren repräsentanz von transnationaler und überparteilicher Universalität (z. B. Menschenrechte), der Zivilgesellschaft und des persönlichen Engagements – bei allen möglichen Schwächen wie Demokratiedefizit, emotionaler Moralismus und „culture of emergency“ – die attraktiveren akteure als staats- und kirchennahe Organisationen sind? haben sie in der Durchsetzung bestimmter gesundheitlicher Ziele Stärken bzw. wie werben sie damit? JÜnGStE EntWIcKlUnGEn SEIt 2000 Eine entscheidende argumentative Wende für die EZ im Gesundheitssektor brachten Berichte von Weltbank 1993 und WhO 2001 (World Development report 1993; WhO/Sachs 2001), die für eine – durchaus schon in der Kolonialzeit gängige – Umkehr der Kausalbeziehung plädierten: Demnach schafft (Investition in) Gesundheit Wirtschaftswachstum, statt der zwischenzeitlich beliebteren argumentation, mit wirtschaftlicher Entwicklung würde sich der allgemeine Gesundheitszustand später mehr oder weniger von selbst bessern. Diesem ansatz einer Finanzierung von bestimmten Gesundheits- und Bildungsmaßnahmen als Voraussetzung für Wachstum kann sich sogar eine wirtschaftsliberale Position anschließen, die in den meisten anderen Sektoren der EZ eine marktbehindernde Umverteilungspolitik sieht (Erlens 2006). Um aber einer möglicherweise zunehmenden abhängigkeit der Gesundheitsversorgung von ökonomischen Interessen und finanzieller Potenz gegenzusteuern, betont gleichzeitig das Sektorkonzept des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Menschenrecht auf Gesundheit (BMZ 2009). neu an der deutschen Politik ist auch die bewusste Schwerpunktbildung mit bestimmten Partnerländern und Sektoren statt eines eher flächendeckenden Engagements in allen Entwicklungsländern. Dies stellt in gewisser Weise eine rückkehr zu den anfangszeiten dar, als auch nur wenige länder deutsche Unterstützung im Gesundheitsbereich erhielten. Ein weiteres charakteristikum der jüngsten Zeit bildet die zunehmende Multilateralisierung in Form zentraler Programme anstelle von bilateralen Kooperationen zwischen nationen. Während die WhO selbst als altes multilaterales Unternehmen chronisch schwach finanziert ist und für die Umsetzung ihrer Programme zumeist auf bilaterale abkommen angewiesen war, stellen die neuen multilateralen Instrumente, allen voran der Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria (GFatM) und die Impfallianz GaVI, aber auch die solche Megaorganisationen fördernde Bill & Melinda Gates Foundation, mit ihren finanziellen Möglichkeiten bilaterale Programme in den Schatten. Die multilateralen, supranationalen „Big Player“ entsprechen einerseits den jüngsten internationalen abkommen zur harmo-
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nisierung der hilfe, widersprechen aber andererseits nationalen Interessen der Geberländer auf Sichtbarkeit Ihres Beitrags im außenpolitischen Geschäft. Die alten Konflikte zwischen Eigennutz, aufgeklärtem Eigeninteresse und humanitärem anspruch leben also weiter. trEnDS DEUtSchEr EZ UnD FÜr DIE DEUtSchE MEDIZInGESchIchtSSchrEIBUnG Für die aktuelle EZ ist die Frage interessant, ob die langfristigen trends sich unverändert so fortsetzen oder ob es im Sinne einer Dialektik auch stärkere Gegenbewegungen gab, gibt und geben muss. Die deutlichste eher unilineare Entwicklung besteht im Weg von den anfänglichen (Einzel-)Projekten (z. B. Unterstützung bestimmter Großkrankenhäuser) über die (häufig landesweiten) Programme (v. a. im Bereich von Phc und bestimmten Gesundheitsproblemen wie aIDS) zur Budgethilfe. letztere ist allerdings alles andere als unumstritten, offenbar ist die realisierbarkeit in verschiedenen ländern, nicht zuletzt abhängig vom Korruptionsindex, äußert gegensätzlich zu bewerten. Diese Verlagerung von der Projekt- über die Programm- zur regierungsebene war auch mit einer Veränderung der transferierten ressourcen verbunden: Statt ausführendem oder planendem europäischem Gesundheitspersonal, seien es Entwicklungshelfer oder Experten, wurden zunehmend nur noch Berater und schließlich hauptsächlich finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Der Professionalisierung deutscher Gesundheitsarbeit in inhaltlichen Fragen folgte die (medizinische) Deprofessionalisierung zugunsten von Verwaltungsabläufen. Ein ähnlich deutlicher, wenngleich eher gegenläufiger trend ist in den zeitlichen Perspektiven für erwartete Veränderungen zu sehen: Wurde am anfang die bessere Gesundheit vom langfristigen Wirtschaftswachstum erwartet, ging es dann im rahmen der Grundbedürfnisbefriedigung auch um mittelfristig verbesserte Gesundheitsversorgung schon vor einer allgemeinen Steigerung der sozioökonomischen Daten und schließlich immer mehr um die Kurzfristigkeit humanitärer nothilfe. Gerade hier sind aber auch deutliche Gegenbewegungen erkennbar. Im Sinne von „Katastrophe als chance“ sollen die oft enormen Mittelflüsse nach naturkatastrophen für das nachholen von schon zuvor anstehendem aufbau im Gesundheitswesen genutzt werden. auch die jüngeren Debatten zum Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Gesundheit lassen sich keinem einlinigen Diskussionsverlauf zuordnen. angesichts dieser starken trends zur regierungsebene, zum Finanztransfer und zur kurzfristigen hilfe sind die immer wieder beschworenen Zielperspektiven der Dezentralisierung, Bevölkerungsbeteiligung und nachhaltigkeit zweifelhaft. Man kann hier auch eine faktische Zentralisierung und neue abhängigkeit trotz des propagierten Gegenteils sehen. Schon diese kurze Skizze zeigt, wie wenig hilfreich die üblichem Selbstverständnis entsprechende Sicht, dass deutsche EZ im Gesundheitsbereich einfach eine – wenngleich bescheidene – Erfolgsgeschichte darstellt, als Grundlage einer
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analyse wäre. Die gängige Kritik ethnomedizinischer, „rechter“ und „linker“ politischer oder populärwissenschaftlicher Provenienz, medizinische Entwicklungshilfe sei eine einzige Kette von Fehlschlägen, alibi-Maßnahmen, neokolonialistischer Bevormundung und Zerstörung traditioneller Gesundheitsversorgung, vermag ebenso wenig zu überzeugen. Es handelt sich vielmehr auch hier um eine Geschichte beständiger lern- und aushandlungsprozesse, in der im Spannungsfeld verschiedener Interessen und größerer Veränderungen von rahmenbedingungen der Stellenwert, die Funktion und die Operationalisierung von Gesundheitsthemen eine Variabilität aufweisen, die der weitaus höheren Stabilität der medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundannahmen kaum entspricht. nicht zuletzt dadurch könnte die EZ ein für die Medizingeschichte interessantes Feld werden. Die Verflechtungen medizinischer Deutungs- und lösungsangebote mit nationalen und internationalen Konjunkturen bestimmter gesellschaftlicher Fragen, die eine Zeitgeschichte der Medizin nach 1945 bestimmen (hofer 2010), könnte so in einer weiteren Perspektive deutlich werden, einer Perspektive, die gegen die gängige aufteilung in „the West and the rest“ den Weg zu einer Globalgeschichte der Medizin weist. Ob sich solche themen in Forschung und lehre von Geschichte, theorie und Ethik der Medizin etablieren können, bleibt allerdings zweifelhaft. In der lehre zeigen die bisherigen Erfahrungen an gut einem halben Dutzend deutscher hochschulorte eher, dass im aufstrebenden Gebiet „Global health“, sei es als Wahlpflichtfach oder als studienbegleitender mehrsemestriger Kurs, die studentische nachfrage nach solchen Perspektiven erfolgreich befriedigt wird. Die grundsätzliche Frage, ob Spezialinteresse für Wenige oder teil der allgemeinbildung, muss sich auch für themen der soziokulturellen Dimension von Gesundheit außerhalb des Westens noch im Einzelnen entscheiden. lItEratUrVErZEIchnIS akademie für Ethik in der Medizin (aEM) (2002) lehrziele „Medizinethik im Medizinstudium“ Url: http://www.aem-online.de/downloadfiles/13vp32u1dt12h106vfki9aq0j2/lehrziele_Medizinethik.pdf. Bastian, rainward (2011) ‚Kirchliche Gesundheitsarbeit auf evangelischer Seite‘, in W. Bruchhausen, h. Görgen & O. razum (hg.), Entwicklungsziel Gesundheit. Zeitzeugen der Entwicklungszusammenarbeit blicken zurück (Frankfurt am Main: Peter lang): 25–38. Bauer, Péter t. (1982) Entwicklungshilfe: Was steht auf dem Spiel? (tübingen: Mohr). Bayly, christopher a. (2006) Die Geburt der modernen Welt: Eine Globalgeschichte 1780–1914 (Frankfurt/Main). Benger, Franziska (2009) ‚Die Entwicklungszusammenarbeit der DDr in Sansibar/tansania‘ in U. van der heyden & F. Benger (hg.), Kalter Krieg in Ostafrika: Die Beziehungen der DDr zu Sansibar und tansania (Münster: lit): 341–389. Bichmann, Wolfgang (1979) Die Problematik der Gesundheitsplanung in Entwicklungsländern: Ein Beitrag zur Geschichte, der Situation und den Perspektiven der Planung des nationalen Gesundheitswesens in den „least Developed countries“ afrikas (Frankfurt/Main: lang). BMZ (2009) Sektorkonzept „Gesundheit in der deutschen Entwicklungspolitik“ = BMZ Konzepte 183 (Bonn: BMZ).
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DEn hIMMEl IM VISIEr: Macht UnD EVIDEnZ DEr BIlDEr In JOhannES ZahnS „OcUlUS artIFIcIalIS“ (1685) Irmgard Müller InStrUMEntalISIErUnG DES BlIcKS IM 17. JahrhUnDErt Mit der Erfindung des teleskops an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert verwandelte sich der endliche, hierarchisch geordnete Kosmos, der haupt-Schauplatz der christlichen heilsgeschichte nach mittelalterlichem Verständnis, in ein unbegrenztes Universum, in dem statt der erwarteten religiösen Instanzen nie zuvor erblickte Massen von himmelskörpern zum Vorschein gelangten, unter denen die Erde, wie Kopernikus mathematisch bewiesen hatte, nur ein Planet unter anderen sein sollte, die sich um die Sonne bewegten. Der Verlust der astronomischen Mitte zusammen mit den neuen Phänomenen, die Galilei mit dem Fernrohr erschlossen hatte, erschütterten die kirchliche lehre von der Zentralstellung der Erde im Kosmos und trugen dazu bei, die aristotelische astronomie zu entmachten. Seither beunruhigte naturwissenschaftler wie theologen in gleicher Weise die neue himmelsphysik, die gegen die Dogmen der Kirche verstieß und in ihrer Verwerfung des anthropozentrismus die Menschen zu tiefst verunsicherte. In diesem Kontext bescherte die akzentuierung der Beobachtung und Instrumentalisierung des Blicks dem Sehsinn und der Dokumentation des Wahrgenommenen neue aufmerksamkeit; wenngleich schon Platon in seinem liniengleichnis1 dargelegt hatte, dass wissenschaftliche Erkenntnisse der bildgebenden Verfahren bedürfen, um das Unvorstellbare im Medium des Bildes anschaulich zu machen, so kam nun der bildlichen Darstellung als Zeuge für die Unbezweifelbarkeit des Gesehenen eine zusätzliche Bedeutung zu. Der Kunsthistoriker horst Bredekamp hat am Beispiel von Galileis Zeichnungen des Mondes überzeugend gezeigt, in welcher Weise der Stil der Darstellung über die Bedeutung des Dargestellten entscheiden und der Darstellungsstil wesentlich dazu beitragen können, einer wissenschaftlichen these Evidenz zu verleihen.2 Die Feststellung von Dieter Mersch, dass für die Phase vom 17. bis frühen 19. Jahrhundert dem Wissenschaftsbild allein eine „repräsentationale Funktion“, ein epistemisch irrelevanter rang also, zuzuord-
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Platon, Politeia 509d-511e; vgl. dazu den Kommentar von Sybille Krämer (2011). Vgl. dazu die Studien des Berliner Kunsthistorikers horst Bredekamp (2007a, 2007b) über die evidenzstiftende Wirkung des Darstellungsstils am Beispiel der teleskopischen Beobachtungen Galileis.
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nen sei (Mersch 2006), läßt sich daher nicht verallgemeinern.3 Vielmehr kommt den graphisch-visuellen hilfsmitteln in Form von tabellen, Diagrammen, figurativen Darstellungen etc. in der auseinandersetzung mit den neuen Sichtbarkeiten eine wichtige Beweiskraft und rechtfertigung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu4, – aufgaben, die weit über die des einfachen Illustrierens hinausgehen, wie in der folgenden Fallstudie am Beispiel des geistlichen Mathematikers und naturforschers Johannes Zahn gezeigt werden soll. DEr MathEMatIKEr UnD thEOlOGE JOhannES Zahn alS VErFaSSEr DES „OcUlUS artIFIcIalIS“ (1685) Das 1685 veröffentlichte lateinische Werk „Oculus artificialis teledioptricus“ (Zahn 1685) [Abb.1] des Mathematikers, Philosophen und Prämonstratenser-chorherrn Johannes Zahn (1641–1707) hat bisher in den Bildwissenschaften kaum Beachtung erfahren, obgleich der Folioband mit Kupfertafeln und Zeichnungen üppig ausgestattet ist und der zweideutige titel auf ein heftig diskutiertes Problem der Erkenntnisgewinnung im 17. Jahrhundert anspielt: die Glaubwürdigkeit und den Geltungsanspruch subjektiver sinnlicher Wahrnehmung in Opposition zur mechanisch hergestellten Sichtbarkeit.
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Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Bogen (2006), der anhand repräsentativer Maschinenzeichnungen der renaissance nachweist, dass diese „einen visuellen Eigenwert (gewinnen), der nicht im Bau effektiv arbeitender Maschinen aufgeht“ und eine „eigene Imaginationskraft“ besitzen. aus der Fülle von Publikationen, die sich dem thema der wissenschaftlichen Bildlichkeit widmen, sei auf das von Bredekamp, Schneider und Dünkel herausgegebene Kompendium „Das technische Bild“ (2008) verwiesen, das eine umfassende Bibliografie enthält. Eine gute Orientierung bietet auch die kritische rezension neuerer Sammelbände zum thema Visualisierung von cornelius Borck (2009). Zum Prinzip der Evidenz von Bildern sowie zur Funktion und Wertigkeit des Sehsinns in Kunst, Wissenschaft und Glauben, existiert eine kaum noch überschaubare Flut von literatur; besonders hervorgehoben sei der von Wimböck, leonhard und Friedrich (2007) herausgegebene Sammelband; er liefert mit seinen Beiträgen aus der Perspektive von Kunst-und Wissenschaftshistorikern, Kulturtheoretikern, Soziologen und Germanisten ein buntes Spektrum, das die divergierenden aspekte der Geltung des im Bild Dargestellten in den verschiedensten Brechungen aufleuchten läßt und reiche hinweise auf weiterführende literatur enthält; über die neubewertung des Sehsinns in der Frühen neuzeit vgl. Jütte (2007); weiterreichende Untersuchungen sind auch claus Zittel (2005a, 2005b, 2008 & 2009) zu verdanken, der im rahmen seiner Studien über die Visualisierung in Descartes Werken das Phänomen der Evidenz von abbildungen eingehend diskutiert. Zur Geschichte des Begriffs vgl. halbfaß (1972) und Kemmann (1992); – zur Evidenz als leitkategorie der Kulturwissenschaft vgl. campe (2004).
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abb. 1
als angehöriger des Prämonstratenserordens und Professor der Mathematik an der Universität Würzburg vereinte Zahn in idealer Weise gleichsam beide von den Innovationen betroffenen Fakultäten in einer Person.5 Seiner tätigkeit entsprechend diente das Kompendium einerseits der enzyklopädischen Unterweisung in den optischen Wissenschaften, andererseits verfolgte Zahn – neben der Befriedigung der barocken Schaulust6 – auch ein aufklärerisches Ziel, indem er sich vornahm, die lange Zeit diskriminierte Wißbegierde7 von dem Verdacht der Vermessenheit zu befreien. Er spornte die Zeitgenossen an, nicht nur durch die Kirche sanktioniertes Wissen in sich aufzunehmen, sondern selbst „Wissen zu wollen“8. Im Bild der her5
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Johannes Zahn, 1641 in Karlstadt am Main geboren, wurde 1665 zum Priester geweiht und war Kanoniker im Prämonstratenserkloster Oberzell; zugleich lehrte er als Professor der Mathematik an der Universität Würzburg, wo er mit dem Professor der Physik und Mathematik caspar Schott (1608–666) bekannt wurde; Schott war zeitweise Mitarbeiter des bewunderten Universalgelehrten athanasius Kircher (1602–1680), als dessen Enkelschüler sich auch Zahn verstand, wenngleich er ihn gelegentlich heftig kritisierte. Zahn starb 1707; zu leben und Werk Zahns vgl. leinsle (2006). Zahn versprach ausdrücklich, die neugierigen Gemüter nicht nur zu unterrichten, sondern auch Dinge zur besonderen Ergötzung einzuflechten: „Plura alia, quae inseremus et subnectemus, talia erunt, quae curiosos animos non tantum erudire, sed et plurimum oblectare valebunt“ (Zahn 1685: teil III, Prooemium, S. 2). nach dem Verständnis der mittelalterlichen theologie zählte die theoretische neugierde, curiositas, zu den Sieben todsünden, in der neuzeit wurde sie zum Signal der Emanzipation von der theologie; vgl. Blumenberg (1973) und Müller (1984). Der Wißbegierde und dem Erkenntniswillen sind nach Zahns Dictum keine Grenzen gezogen: „nihil amplius latere potest: omnia scrutatur curiositas; omnia penetrare, et intimè perlustrare conatur“, vgl. Zahn (1685: teil II, fol. 226). an anderer Stelle verbindet Zahn die Erfindung des Fernrohrs mit der Verheißung: „amplius haud quicquam tectum terraque marique, abditum et in coelo nil remanere potest“, vgl. Zahn (1685: teil III, Prooemium, S. 2).
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kuleischen Säulen, die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Grenze der bekannten Welt markierten, beschwor er die intellektuelle Kraft, die ein jeder nutzen solle, um selbst zum eigentlichen Wissen vorzudringen;9 das lateinische Motto, das er dem Gesamtwerk vorausschickte, endet mit der Ermutigung, ohne Einschränkung grenzenlos zu forschen und die angeborene Wißbegierde zu nutzen, denn es gebe nur eine einfache regel: um zu wissen, müsse man auch wissen wollen: „utque scias brevis est regula scire velis“10. Plan UnD aUFBaU DES WErKES Diesen Wissensanspruch und die unersättliche Erkenntnissuche machte sich Zahn selbst zu eigen, indem er sein augenmerk auf das richtete, was bisher unter den Prämissen der theologie und technik der reichweite menschlicher Erkenntnis entzogen war. Ohne Einschränkung trug er das verfügbare optische Wissen zusammen und studierte dessen mathematisch-physikalischen Grundlagen, um die technischen Innovationen und die Erkundung der himmelskörper über die Grenzen der sichtbaren Welt hinaus zu legitimieren und ihnen Geltung zu verschaffen. Zahn nahm sein Vorhaben in drei Stufen in angriff: Den auftakt bildet das „Fundamentum physicum seu naturale“, der natürliche Bau des Sehapparates samt seinen Funktionen; als nächste Stufe folgte das „Fundamentum mathematicum dioptricum“, die Grundlage der geometrischen Optik; darauf aufbauend umfasste der dritte teil, das Fundamentum mechanicum seu practicum, die praktische Umsetzung, die Konstruktion optischer Instrumente und mechanischer Vorrichtungen wie Fernohre, Spiegel, Mikroskope, Brenngläser, camera obscura, linsenschleifmaschine, horologium etc. Dank der umfassenden Kommentare avancierte das Kompendium im ausgehenden 17. Jahrhundert zu einem Standardwerk der Optik, das 1702 eine zweite, um wenige Zusätze erweiterte auflage erlebte (Zahn 1702). Zahn profitierte von der allgemeinen aufmerksamkeit, die die Erforschung des lichtes und der Sinnesphysiologie als Grundlage der optischen Wahrnehmung und Entwicklung neuer Instrumente im 17. Jahrhundert erlebte, ohne selbst mit vergleichbaren experimentellen Befunden, wie sie fast gleichzeitig Isaac newton (1643– 1728) in seiner neuen bahnbrechenden theorie des lichtes nach und nach veröffentlichte11, aufwarten zu können. 9
auf dem Frontispiz der „Instauratio magna“ des englischen Philosophen und Wegbereiters der modernen naturwissenschaften Francis Bacon (1620) symbolisiert ein Schiff, das mit geschwellten Segeln die Säulen des herkules passiert und zu neuen Ufern aufbricht, die Überschreitung der von der antike und dem Mittelalter gesetzten Wissensgrenzen. 10 herculeas posuit naturae nemo columnas,/ Et si quis studeat ponere vanus erit./ Sic nec et ingeniis discendi meta locata est:/Pluribus indeptis altius ire volunt./ Innatum est cunctis sublimia plurima scire:/ Utque scias brevis est regula scire velis. (Keiner hat der natur herkuleische Säulen gesetzt, und wenn jemand versuchte, sie zu setzen, wird er erfolgslos sein. So ist auch den natürlichen Begabungen keine Grenze gesetzt, um etwas zu erlernen; auch wenn mehreres erreicht ist, wollen sie höher hinausgehen. allen ist sämtlich angeboren, sehr viele erhabene Dinge zu wissen, und damit du weißt, gibt es eine einfache regel, du musst wissen wollen.) 11 Die in den Philosophical transactions zerstreut veröffentlichten optischen abhandlungen new-
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Das titelblatt führt den leser auf die terrasse eines Villengartens [Abb. 2], die mit zahlreichen optischen requisiten dekoriert ist. Die zum teil als architektonische Elemente getarnten optischen apparate versinnbildlichen den ewigen Wettstreit zwischen Kunst und natur, Illusion und realität ebenso wie das reziproke Verhältnis von Schauen und reflexion, Produktion und reproduktion, Bild und abbild: In der Mitte setzt ein steinerner Sockel, gekrönt mit dem Schlangenstab des griechischen Götterboten hermes12, dem künstlichen auge13 als abbild göttlichen lichtes14 ein Denkmal [Abb. 3]; kugelförmige Maueraufbauten erweisen sich bei näherer Betrachtung als reproduktionen des natürlichen Sehorgans, Schildträger präsentieren statt der üblichen Wappen überdimensionierte Spiegel, und laternenähnliche Konstruktionen am Eingang des Schauplatzes entpuppen sich als trinkpokale, vgl. (Zahn 1685), teil III, p. 226, tafel xxIII, Fig. 2–4 mit aufgesetzten Konvexlinsen, sogenannte pocula potoria magico-dioptrica oder Vexiergefäße, die heimlich Bilder auf die Oberfläche des gefüllten Glases eines ahnungslosen trinkers projizieren konnten.
abb. 2/3 tons, beginnend mit dem aufsehenerregenden traktat über die theorie der lichtbrechung und Farbentstehung [„a letter … containing his new theory about light and colors“ [Philosophical transactions Bd.6 (1671/72) 3075–3087], erschienen 1704 gesammelt unter dem titel „Opticks or a treatise of the reflexions, refractions, inflexions and colours of light“. Daß Zahn mit den Schriften und leistungen newtons vertraut war, ist seiner Beschreibung und abbildung des Spiegelteleskops, das newton konstruiert hatte, zu entnehmen (Zahn 1685: teil III, fol. 151, taf. xV). 12 Der Schlangenstab als attribut des griechischen Götterboten hermes (= Mercurius, im römischen Kulturraum) war ein beliebtes Motiv der Emblematik, vgl. henkel (1967: S. 1775ff.). 13 Kopie des in teil II, S. 162 abgebildeten augenmodells, auf dessen Konstruktion durch den autor ausdrücklich hingewiesen wird; das auge trägt die aufschrift: naturam ars aemula prodit: Die Kunst zeigt sich im Wetteifer mit der natur. 14 Das lateinische Zitat, das das göttliche auge umsäumt, lautet: Si fave(a)t aspectu(i): Wenn es dem Blick seine Gunst gewährt.
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Vermutlich wurde mit dieser streng-geometrisch konstruierten, optischen Demonstration auf dem Frontispiz, die den menschlichen Erfindungsgeist verherrlichte, die Erwartung des barocken lesers durchkreuzt, der gewöhnt war, an dieser Stelle einer visuellen huldigung an weltliche oder kirchliche Gönner zu begegnen, die in der regel mit einem großem aufgebot mythologischer und biblischer Figuren inszeniert war.15 Die hier eingenommene provokante Sicht, die vorgab, die neuigkeiten des himmels allein mithilfe mechanischer Künste, ohne mythologische Vermittlungsinstanzen, zu erschließen, wird im Vorwort (Zahn 1685: Praefatio) zwar scheinbar entschärft, indem sich Zahn, der bekannten Maxime „homo naturae minister et interpres“ folgend, ausdrücklich als Diener und Interpret der natur empfahl, doch er legte den Satz dem griechischen Philosophen Pythagoras in den Mund (Zahn 1685: Praefatio) und milderte somit die programmatische Bedeutung des aphorismus.16 WanDEl DEr BErUFUnGSInStanZEn auf dem titelblatt der 2. auflage (1702) des „Oculus artificialis“ (Zahn 1702) hat Zahn die neuen technischen Instrumente, die in Konkurrenz zur natur und theologie traten, noch deutlicher ins Bild gesetzt: Demonstrativ repräsentieren sie die neu erschlossenen Möglichkeiten, den Wahrnehmungshorizont zu erweitern und die natürlich gesetzten Grenzen zu überschreiten. Vergleicht man diese Darstellung mit dem Frontispiz des vorangegangenen Standardwerks der Optik, mit der „ars magna lucis et umbrae“ des Jesuiten athanasius Kircher (Kircher 1646) [Abb. 4], so wird die Differenz Zahns zur zeitgenössischen Inszenierung der neuartigen astronomischen Forschung deutlich. Während Kircher den himmel, der das gesamte tableau ausfüllt, mit neun Engeln dekorierte und eine kunstvolle lichtregie in Gang setzte, findet bei Zahn die Präsentation des Programms nicht mehr im Überirdischen statt, vielmehr vollzieht sich das Geschehen auf dem festen Boden der tatsachen [Abb.5]. Bei Zahn durchkreuzt ein riesiges Fernrohr den Prospekt und steht im Zentrum der aufmerksamkeit; die Verbindung zum himmel, die Kommunikation mit den himmlischen Sphären wird vom Menschen mittels technischer Vorrichtungen hergestellt, die die Distanz zwischen mundus insensibilis und mundus sensibilis überwinden. Ein kleines Mikroskop, ein Modell-auge, die linsenschleifmaschine, ein aufriß des Strahlengangs – die zusätzliche legitimation des Sehaktes durch die geometrische Optik – sowie kleine Fernrohre, mit denen sich spielende Putti im Vordergrund der Schaubühne die Zeit vertreiben, verweisen auf die Eroberung, aneignung und Überschreitung des menschlichen Sehraums dank der technischen Innovationen. auch Kirchers Bild 15 Über die Funktion der titelkupfer im 17. Jh. vgl. remmert (2005, 2006). Zahns Werk wird von remmert nicht berücksichtigt. 16 Das Motto leitet die 1620 erschienene Schrift „novum Organum“ des englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626) ein, in der er die radikale Erneuerung der Forschungsmethoden durch Beobachtung und Experiment forderte. Der aphorismus steht im Kontext des Kapitels über die Beziehung von naturdeutung und naturbeherrschung, vgl. Bacon (1620: Pars II, S. 47).
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zitiert das Fernrohr, doch es schwebt nur als dünnes rohr herrenlos in der luft, es fehlt der Betrachter und eine passende Verwendung. Stattdessen werden als Quellen des Wissens vier autoritäten an den vier Ecken ins Bild gesetzt: links oben empfängt die Bibel „auctoritas sacra“ ihr licht von der göttlichen Gloriole, ihr Gegenstück am linken unteren rand, die „auctoritas profana“, muss sich mit dem schwach schimmernden Kerzenlicht aus einer gewöhnlichen laterne begnügen, rechts versprechen „ratio“, die innere Einsicht und Klugheit, sowie die sinnliche Wahrnehmung, „sensus“, die eigentliche höhere Erkenntnis.
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Die Gegenüberstellung der beiden programmatischen Bilder macht den Wandel der Berufungsinstanzen deutlich: auf dem Frontispiz des „Oculus artificialis“ treten heilige und profane autoritäten, die traditionell als Garanten höherer Einsicht fungierten, in den hintergrund; begeistert verkündete der Ordensmann die Entmythologisierung des himmels durch die technische Erfindung mit der Feststellung: „um zum himmel aufzusteigen, um nahe den Mond, die Sonne und die übrigen Gestirne anzuschauen, bedarf es nicht mehr der Flügel des Daedalus, nicht des Pegasus, nicht des Wagens Phaetons, höher, glücklicher und sicherer führt Dich das teleskop empor“17. Die Stelle der repräsentanten von Mythologie und heiligengeschichte besetzen jetzt optische Instrumente, die die menschliche Sinneswahrnehmung nicht nur zu schärfen, sondern sogar zu überbieten versprechen und den Sehakt selbst, als Mittel der Erkenntnis ins Zentrum rücken. Mit den optischen Instrumenten, so scheint die Botschaft, werden neue autoritäten und neue Perspektiven geschaffen. Die Gegenüberstellung der titelkupfer macht deutlich: weder will Zahn die heils17 „ad coelum conscendendum, intuendam propè lunam, solem reliquaque sidera non jam opus est alis Daedaleis, non Pegaso, non Phaethontis curru: altius et felicius ac securius te evehit telescopium …“, (Zahn 1685: Praefatio ad lectorem, unpagniniert, fol. 4). Das Zitat stammt aus Schott (1657: fol. 489).
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geschichte oder okkulte Geheimnisse vergegenwärtigen, noch beabsichtigte er Ähnliches wie die Physiko-theologen, die die naturforschung als Gottesbeweis instrumentalisierten, sondern er lenkte den Blick auf die natürlichen Bedingungen und künstlichen Erweiterungen des Sehens durch die neuen technischen Erfindungen, und versuchte der rolle und dem Geltungsanspruch des Visuellen auf die Spur zu kommen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Zahn – so scheint es – in der bildlichen Darstellung mehr als nur ein schmückendes Beiwerk gesehen und ihnen eine eigenständige Funktion zugewiesen, die im folgenden näher untersucht werden soll. PErSPEKtIVISMUS DEr DarStEllUnG Die häufigkeit der benutzten Verben „demonstrare, illustrare, confirmare, ostendere“18 läßt keinen Zweifel über das Ziel des autors, visuelle Strategien zu entwickeln, die sich nicht mehr allein darauf beschränkten, heiliges, die auctoritas sacra, oder Glaubensinhalte vorzuführen, sie sollten vielmehr den Blick, das Sehen steuern, das Verhältnis der Wahrnehmung zum wahrgenommenen Objekt analysieren und zugleich dem Dargestellten Plausiblität verleihen. Dabei war sich der chorherr, wie unten gezeigt wird (Das reflexive auge), der problematischen Verflechtung von Dargestelltem und Darstellungsmittel bewußt, wenn er versuchte, die tragfähigkeit des Sehvermögens als Erkenntnisorgan eben mit jenem Instrument prüfen zu wollen, welches das zu untersuchende Objekt selbst liefert. nicht zuletzt spiegelt der große aufwand an geometrisch-optischen Diagrammen, in denen Zahn durch Fragmentierung des Sehens in Einzelprozesse das analysierende auge vom Wahrnehmungsobjekt zu entkoppeln versucht, das unauflösbare Dilemma wider. Versucht man sich diesem, für einen Ordensmann eher untypischen Engagement zu nähern, so sind die im text reichlich zitierten referenzen aufschlussreich. Zu den häufigsten namen, auf die sich Zahn bezieht, gehören neben den Jesuitengelehrten19 Kaspar Schott20, athanasius Kircher21, christoph Scheiner22 und De18 Vgl. unter anderem die Explikation des Vorhabens in der Einleitung „Synopsis totius operis. tractationem Operis praesentis pro Oculo artificiali sive telescopio ordinatius explicando, demonstrando ac etiam practice elaborando tribus libuit stabilire fundamentis quorum fundamentum I.“; hier werden die Verben in lateinischen Wendungen wie „mathematice ostenduntur ac demonstrantur“, „ostendere et explicare naturalem videndi modum“ oder „demonstrata lentium virtute et natura“ besonders häufig verwendet. 19 Da die naturwissenschaften, vor allem Mathematik und Optik, zum bevorzugten Unterrichtsgegenstand des Jesuitenordens zählten, war der Beitrag der Jesuitengelehrten zur Entwicklung der optischen Wissensschaften und Sinnesphysiologie besonders groß, vgl. dazu Jaeger (1981). 20 caspar (Gaspar) Schott (1608–1666) war Jesuit, lehrte zunächst in Palermo Mathematik, Philosophie und theologie, ab 1652 war er Mitarbeiter von athanasius Kircher in rom, bis er 1655 als Professor der Mathematik und Physik nach Würzburg ging. 21 athanasius Kircher (1608–1666), Jesuit, Universalgelehrter, er unterrichtete hauptsächlich am collegium romanum in rom und verfasste ca. 40 Werke, darunter Studien über Mathematik, Optik, Geologie, Medizin, ägyptische hieroglyphen, china und Musik. 22 christoph Scheiner (1573/75–1650), Jesuit, Optiker und astronom in Ingolstadt, er entdeckte gleichzeitig mit Galilei die Sonnenflecken.
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chales23 vor allem der französische Philosoph rené Descartes24 und seine anhänger wie henricus regius25, oder im späteren Werk auch Étienne chauvin26, der ein Speziallexikon zur Erklärung der cartesischen Begriffe verfasst hat. Das offene Bekenntnis eines Ordensgeistlichen zu Descartes, der als anhänger des kopernikanischen Weltsystems und wegen seiner radikalen Erkenntnistheorie in Opposition zur katholischen Kirche geriet, so daß er angesichts des Inquisitonsprozeß Galileis aus Vorsicht vor einem ähnlichen Schicksal teile seiner naturphilosophischen Schriften ungedruckt liess, war keineswegs risikolos, ebensowenig wie die Erwähnung von astronomen, die, wie nikolaus Kopernikus (1473–1543), Galileo Galilei (1564– 1642) oder Johannes Kepler (1571–1630), das neue heliozentrische Weltbild verteidigten, waren doch bis 1757 Werke, die das heliozentrische Weltbild vertraten, mit dem päpstlichen Bann belegt. Die namen der reformatoren des Weltsystems treten daher bei Zahn nur gelegentlich und versteckt in Erscheinung. häufiger wurde hingegen das kirchlich akzeptierte Weltmodell des dänischen astronomen tycho Brahe (1546–1601) ins Feld geführt, wonach sich Sonne und Mond um die Erde, die übrigen Planeten aber um die Sonne drehten, womit ein die Phänomene rettender Kompromiss zwischen dem kopernikanischen und ptolemäischen Erklärungsmodell erzielt wurde. Die lektüre des Gesamtwerkes vermittelt indes den Eindruck, dass Zahn selbst nicht selten mit den kopernikanisch-galileischen Erklärungen der himmelsphysik sympathisierte und sein ganzes Engagement dazu diente, dem heliozentrischen Weltbild Galileis und seinen himmelsbeobachtungen zur Wahrheit zu verhelfen.27 23 claude Francois Milliet Dechales (1621–1678), Jesuit, lehrte zunächst als Professor der hydrographie in Marseille, anschließend als Professor der Philosophie und Mathematik in lyon und turin. als sein wichtigstes Werk gilt die dreibändige Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften (1674). 24 rené Descartes (1596–1650), französischer Philosoph, Mathematiker und naturwissenschaftler, er gilt als der Begründer des frühneuzeitlichen rationalismus. 25 henricus regius (hendrik de roy) (1598–1679), niederländischer Philosoph und Mediziner, lehrte an der Universität Utrecht, war zunächst anhänger der cartesischen lehre bis es 1646 zum Bruch mit Descartes kam, vgl. anm. 39. 26 Étienne (Stephanus) chauvin (1640–1725), französischer Protestant und Vertreter des cartesianismus; er war zunächst Pastor in rotterdam, ab 1695 bis zu seinem tode lebte er als hauptprediger der reformierten Gemeinde sowie als Inspektor und lehrer der Philosophie an der Französischen Schule (athenaeum Gallicum) in Berlin. als sein hauptwerk gilt ein philosophisches lexikon (1692), das vor allem Begriffe der cartesischen Philosophie berücksichtigt. Zahn bezog sich in dem 1696 erschienenen Fortsetzungswerk des „Oculus artificialis“ mehrfach auf chauvin, der seinerseits aus Zahns Werk Illustrationen kopierte, vgl. chauvin (1692: taf. VI: Prismenversuch Zahns, taf. xxIII: augenmodell Zahns). 27 Für den freizügigeren Umgang der Prämonstratenser mit dem päpstlichen Verbot spricht der neuerliche Fund eines Exemplars von Galileis 1610 gedruckter, die astronomie umwälzender Schrift „Sidereus nuncius“, das nachweislich in der 2. hälfte des 17. Jahrhunderts im Besitz des Prämonstratenserklosters Wedinghausen bei arnsberg (Sauerland) war. Das titelblatt trägt den Besitzvermerk: „Frater Sebstianus Menge. Professus Wedinghusanus, confessarius olinchusanus“. Sebastian Menge (1643–1695) lehrte als Prämonstratenser-chorherr im Klostergymnasium und war Beichtvater im nahe gelegenen nonnenkloster in Oelinghausen. Das Exemplar war 2009 in der Kölner ausstellung „Der Mond“ zu besichtigen und gehört heute zu den rara der Universitätsbibliothek Münster (Bredekamp 2009).
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Offenkundiger hingegen zeigt sich die nähe zu Descartes Philosophie; nicht nur kopierte Zahn mehrfach abbildungen aus dessen Werken oder aus den Schriften seines anhängers henricus regius28, sondern auch in der Erklärung des Sehvorgangs29 und der mentalen Verarbeitung des Wahrgenommenen folgte Zahn strikt den cartesischen Vorstellungen30; darüber hinaus übernahm er das cartesische Wahrheitskriterium, nur das als wahr anzuerkennen, was „clare et distincte“, klar und deutlich, feststellbar ist (Descartes 1644b: 16f (§ 45)). Zahn bezog sich häufig auf diese Maxime, die er als richtschnur der Darstellungsverfahren forderte. Weitere Gemeinsamkeiten bestanden vor allem im Perspektivismus ihres Denkens. Ähnlich wie Descartes, der das Subjekt zum ausgangspunkt einer rationalen Konstruktion von Wirklichkeit machte und damit als erster die in der Kunst längst entwickelte Betrachtungsform des Perspektivismus auch auf das Denken anwandte31, beschäftigte den Mathematiker Zahn hauptsächlich der zentralperspektivische Blick des Betrachters auf die Welt oder genauer: die Entstehung des beobachterbezogenen abbildes der realität im auge selbst. Wie Zahn anschaulich vorführte (Zahn 1685: teil I, fol. 192), präsentiert die perspektivische Zeichnung nichts anderes als das Ergebnis einer möglichst genauen Übertragung dessen, was sich im dreidimensionalen auge ereignet, auf die Fläche. am Beispiel eines fliegenden Drachens am himmels, den drei Beobachter aus drei verschiedenen Positionen betrachteten [Abb. 6], konstruierte er die zahllosen, von unendlich vielen Punkten des Objektes ausgehenden Sehstrahlen, die die jeweiligen augen der unterschiedlich positionierten Beobachter treffen (Zahn 1685: fol. 203, Figura xxIII) und verdeutlichte damit anschaulich, dass sich von allen Standorten aus gleichberechtigte an28 Das Diagramm beider augen mit den Verbindungen der Sehnerven zum Gehirn in Zahns Werk (1685: teil I, fol. 194) stellt eine Kopie aus rené Descartes: „Dioptrice“ (1650: fol. 108) dar; vgl. auch die Illustrationen der augapfel-Muskel-Modelle, die Zahn dem Descartes-Plagiat von henricus regius (1646) entnahm, vgl. anm. 30; für die Darstellung der lichtbrechung am Prisma griff Zahn ebenfalls auf Descartes’ Diagramm der prismatischen lichtbrechung einschließlich der visuellen Erklärung des Phänomens mittels der Korpuskulartheorie zurück, vgl. Descartes (1637: les Méteores, S. 255, 258); vgl. auch anm. 39. 29 Unter Berufung auf Descartes und regius nahm Zahn an, dass Muskeln ähnlich wie Venen mit Klappen versehen sind, die den Zu- und abfluss der nervenspiritus in den Muskeln so steuern sollten, dass sie wechselseitig ein an- und abschwellen der agonisten und antagonisten hervorrufen und auf diese Weise eine Kontraktion bzw. Erschlaffung der Muskelfasern mit einer nachfolgenden richtungsänderung auslösten. Die hypothese hat Zahn an einer Serie von vier isolierten augäpfeln in unterschiedlicher Stellung in einem Diagramm anschaulich demonstriert, vgl. Zahn (1685: teil I, fol. 39f); Zahns augen-Muskelmodelle stimmen mit den abbildungen bei regius (1646: S. 233–235, 296f) überein. 30 Zahn zitierte wörtlich ganze Passagen aus Descartes Werken, z. B. Zahn (1685: teil I, fol. 23– 24; II, fol. 77), oder verwies auf seine optischen Schriften, z. B. Zahn (1685: teil I, fol. 27, 63, 137, 139, 196, 241, teil II, fol. 77); mit Descartes teilte Zahn die Vorstellung, dass der Sehakt nur zu einem gewissen Grade rein mechanisch ablaufe, vielmehr hielt er für die Verarbeitung des Wahrgenommenen die Mitwirkung der Seele und Einbildungskraft im Gehirn für notwendig, vgl. Zahn (1685: teil I, 196); – auch übernahm Zahn die cartesische auffassung, dass zwischen äusserem Objekt und innerem Bild keine Ähnlichkeits-, sondern nur Kausalrelationen bestünden, vgl. Zahn (1685: teil I, fol. 139). 31 Vgl. den überzeugenden nachweis von horn (horn 2000); zum perspektivischen Denken Descartes’ vgl. auch (Goldstein 2007: 201f).
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sichten des Flugobjektes ergeben, aber keine die einzig gültige darstellte. anders als athanasius Kircher, der die Sicht vom himmel auf die Erde imaginierte, oder der französische Kapuzinerpater chérubin d’Orléans (bürgerlich François lasséré, 1613–1697), der auf dem Frontispiz seines traktats über die Optik die Engel mit Fernrohren ausrüstete, um vom himmel auf die Erde zu blicken (cherubin 1671: Frontispiz), wählte Zahn den Standpunkt des irdischen Beobachters, der durch das Fernrohr die himmelsphysik in augenschein nimmt.
abb. 6
tYPEn UnD MEthODEn DEr VEranSchaUlIchUnG Wenn Zahn die Beobachtungstradition durchbrach und dem Zweifel an der Gewißheit des mit dem Oculus naturalis oder artificialis Wahrgenommenen entgegenwirken wollte, musste die Überzeugungskraft des in Bild und text ausgesagten besonders groß sein. Die reiche ausstattung des voluminösen Werkes ist fraglos ein Zeichen, dass Zahn auf die Macht und Suggestionskraft von bildlichen Darstellungen, Diagrammen und tabellen baute. Er schlug bei ihrem Gebrauch drei Wege ein, um den Betrachter selbst zu einem sicheren Urteil zu befähigen: zum einen erläuterte er detailliert und Schritt für Schritt die physikalisch-mathematischen Prozesse der Bilderzeugung im natürlichen wie künstlichen auge, zum anderen demonstrierte er in immer neuen Varianten die komplexen Bedingungen, unter denen Sehen in seiner Multiperspektivität überhaupt erst ermöglicht und Sehen in Wissen überführt wird; schließlich legte er drittens anhand von Konstruktionszeichnungen illusionistische Verfahren (z. B. der laterna magica) offen und beglaubigte damit, dass die vorge-
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stellten mechanischen Innovationen keine Blendwerke darstellten, sondern nach rationalen Prinzipien funktionierten. Formal läßt sich sich die Vielfalt von Bildelementen, die Zahn seinen texten zur Seite stellte und die auf dem Wege der Veranschaulichung zur unmittelbaren Einsicht und Evidenz führen sollten (vgl. die Einleitung zum Band „Evidentia“ von Wimböck, leonhard und Friedrich (Wimböck 2007), auf vier typen reduzieren: 1. tabellen, 2. Geometrisch-optische Diagramme, 3. naturalistische, figürliche Darstellungsformate, 4. hybridbildungen aus der zweiten und dritten Kategorie. Im folgenden sollen anhand einiger Beispiele ihre unterschiedlichen anwendungen und Funktionen erläutert werden. 1. tabellen neben ganzseitigen Kupferstichen setzte Zahn in vielfältiger Weise tabellen ein, etwa zur Berechnung besonderer Parameter von linsen- und linsenkombinationen oder des künstlichen auges, zur Bestimmung der Sehweite von Fernrohren in abhängigkeit von der Variabilität der Okular- und Objektivlinsen oder zur Feststellung der Brechungswinkel für unterschiedliche Medien32. Zahn verwendete tabellen aber auch, wie er selbst ausdrücklich hervorhob, damit komplexe Wissenszusammenhänge auf einen Blick hin schneller erfasst werden könnten33, zur ausschöpfung weiterer Denkmöglichkeiten durch beliebige Kombination der Zeilenfelder und Spalten34 oder zur Verdichtung umfangreicher Informationen35 [Abb.7]. tabellen dienten ihm als eigenständige aufzeichnungsform zur unmittelbaren Einsicht und Zusammenschau komplexer Informationen sowie zur leichteren Erfassung des Inhalts als es Worte vermochten; Zahn betrachtete demnach tabellen als eigenständige Informationseinheiten, die zusätzlich zum text Wissen vermittelten36. Dem32 als Beispiele seien genannt: tabula proportionum, Magnitudinis partium Oculi juxta dimensionem Sceineri (teil I, fol. 20); tabula I-II combinationes duarum convexitatum aut concavitatum aequalium vel inaequalium in diametris (teil II, nach fol. 88); tabula effectus telescopium in cognoscenda objecti diametro apparente ex suppositione rationis lentis objectivae convexae ad specillam oculare (teil III, nach fol. 248); – tabula refractionum ex aere in vitrum ad singulos inclinationum gradus … – tabula II refractionum a vitro in aerem ad Gradus inclinationum adscriptos … – tabula III refractionum ab aere in Vitrum ex Dechales … (teil II, fol. 10–14). 33 als Beispiel: tabula rerum naturalium quae in specie comprimis visum acuunt, roborant ac confortant, aut eundem debilitant … (teil I, fol. 59). 34 als Beispiel: tabula exhibens colores juxta ponendos pro differentiis luminis et umbrae in quovis colore (teil I, fol. 120). 35 als Beispiel: tabula ophthalmoscopica ex inspectione oculorum visus et temperamenti eorum, animi quoque passionum […] (teil I, nach fol. 45). 36 Vgl. Zahns eigene Kommentare zur Verwendung der tabellen: „ecce tabulam, in qua proportiones hactenus allatae unico intuitu pervideri posssunt“ (teil I, fol. 18); – „curioso lectori tabulam in qua plura, quae visum acuunt … dicto citius videri poterunt, … subjicere placuit“ (teil I, fol. 58); – „ut porro facile cognosci possit … sequentes tabellae inspici possunt“ (teil I, fol. 99); – „sed melius ad unicum intuitum ordo simplicium quam compositorum patet in sequenti Figura et tabella … (teil I, fol. 111).
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entsprechend nahmen tabellen einen autonomen Status gegenüber dem text ein und förderten die unmittelbare Sichtbarmachung von Korrespondenzen und die Erkennbarkeit von Strukturen, die der erzählende text nur umständlich und weniger deutlich nachzubilden vermochte.
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2. Geometrisch-optische Diagramme Weitaus häufiger als tabellen begleiten Diagramme den text. Sie dienen zum größten teil zur Demonstration und Erklärung optischer Phänomene, des Strahlengangs im auge [Abb. 8], der Brechung der lichtstrahlen in unterschiedlichen Medien, in Wasser, Prismen oder sphärischen, konvexen und konkaven linsen. anders als das Schaubild bieten sie eine abstrakte Darstellung von Prinzipien, relationen und Gesetzmäßigkeiten, die in der sinnlichen Wahrnehmung in Erscheinung treten, sie spiegeln empirisch feststellbare realitäten wieder. Im Gegensatz zu den geometrischen Diagrammen und Begriffsschemata des Mittelalters, die sich weniger an den Erscheinungen der Welt, als vielmehr an den Vorstellungen über sie orientierten und eine bildhafte rekonstruktion des Unsichtbaren präsentierten (Gormans 2000)37, stellen die geometrischen Diagramme in Zahns Werk Sichtbares dar, das 37 nach Steffen Bogen (2011) besteht das grundlegende Prinzip diagrammatischer Darstellung darin, „in der graphischen Einschreibung … die Einpassung von Vorstellungen in materielle Vorgaben“ zu modellieren.
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mit dem natürlichen oder teleskopisch gestützten auge beobachtet werden kann. Zu den wesentlichen Funktionen von Diagrammen gehört aber auch, wie Steffen Bogen gezeigt hat, dass das „herstellen und auswerten der graphischen Form das nachdenken über ein bestimmtes thema unterstützen kann“ und dieser Prozess das Diagramm zu einem Experiment des Denkens macht (Bogen 2011), ein aspekt, der auch die bevorzugte Stellung des Diagramms in Zahns Werk erklärt.
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Durch den Kunstgriff der seriellen Darstellung versuchte Zahn den Bildeindruck zu steigern, indem er kontinuierliche abfolgen und Vervielfältigungen eines einzigen Prinzips in kunstvoll aufgebauten Diagrammen aneinanderreihte38. Ein anschauliches Beispiel liefern die Konstruktionszeichnungen von elf teleskopen, die entsprechend der aufsteigenden linsenzahl nebeneinander angeordnet sind [Abb. 9]. Durch die Kombination horizontaler reihen und vertikaler Spalten kann der leser das für den gesuchten Zweck passende Fernrohr mit der entsprechenden linsenanordnung herausfinden, je nach dem, ob ein Instrument mit umgekehrtem oder aufrechtem im tubus entstehenden Bild gewünscht ist. Indem Zahn das „gesamte Potential der Setzungen“ (Bogen 2011) im Bild veranschaulichte, entstand ein kunstvoll geordnetes und vernetztes linienwerk, das die relationen und möglichen linsenanordnungen auf einen Blick klar vor augen führte39.
38 Zum Effekt serieller Darstellung in Diagrammen vgl. (hopwood 2010) 39 „tabula combinatoria compositionis et ordinationis partium telescopicarum ad construenda varia ac diversa compluribus lentibus telescopia“, in: Zahn (1685: teil II, taf. xI, fol. 198– 203); Zahn, der vier Folioseiten lateinischentextes benötigt, um den Inhalt des Diagramms zu entfalten, hebt den Vorzug der visuellen Darstellung hervor: „… ex qua facillime addisci potest, quomodo varii, iique semper diversi tubi per plures lentes construi possint …“ (Zahn 1685: teil II, fol. 198.)
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3. naturalistische, figürliche Darstellungsformate Die tabellen und Diagramme werden ergänzt durch zahlreiche Konstruktionszeichnungen optischer apparate, die dem Betrachter Bau und Funktion der bis in ihre elementaren teile zerlegten, mechanischen Instrumente anschaulich vor augen führen; durch die transparenz des herstellungsprozess verleihen sie dem fertigen technischen Gebilde eine grössere Glaubwürdigkeit [Abb.10]. Mithilfe der Diagramme wird ein technischer Blick eingeübt, der die Objekte gedanklich zerlegt und die Komposition des Ganzen aus der Konstitution der Einzelteile herleitet, so dass in der eigenen Imagination bestimmte abläufe kontrolliert und nachvollziehbar werden können (Bogen 2006). Besonders der dritte teil, „Fundamentum practico-mechanicum“, enthält ausführliche bildliche Erklärungen über die Konstruktion von Fernohren und Mikroskopen zu den verschiedensten Zwecken, über die Mechanik von linsenschleifmaschinen und Projektionsvorrichtungen zur Wiedergabe illusionistischer Bilder wie der Laterna magica oder Pocula potatoria, mit deren hilfe sich Wunder künstlich reproduzieren lassen. Besondere Sorgfalt und aufmerksamkeit widmete Zahn dem Bau eines Modells des Sehorgans; durch künstliche Zusammensetzung sämtlicher Einzelteile des auges [Abb. 3] simulierte er die materiellen Bedingungen des Sehaktes und machte die Entstehung des plastischen Bildes durch die Wahrnehmung des natürlichen auges einsichtig (Zahn 1685: teil II, fol. 162, Iconismus IV: Modell des auges: Structura Oculi Materialis secundum authorem).
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4. hybridbildungen aus figurativen und nicht-figurativen Bildtypen Der überwiegende teil der Darstellungen zählt zur vierten Gruppe. Die meist ganzseitigen Kupfertafeln enthalten die verblüffendsten Bilderfindungen, die den traditionellen Sehstil rücksichtslos durchkreuzten. auf den ersten Blick erinnern die landschaftlichen Idyllen mit ruinen, türmen, Felsen, Flüssen, Brücken, architektonischen Versatzstücken etc. an Elemente des emblematischen Bildtypus, doch bis auf wenige ausnahmen40 fehlen die üblichen komplementären Sinnsprüche, die in der Emblematik zur Entschlüsselung des Sinnbildes und seiner geheimen Botschaft dienen. Stattdessen hat Zahn demonstrativ und überdimensional große Konstruktionszeichnungen optischer apparate und ihrer Funktionsweisen in die malerischen landschaften oder architektonischen relikte plaziert, ohne dass irgendein Bezug zwischen hintergrund und Vordergrund zu erkennen wäre [Abb.11]. Die meist opulent gerahmten Diagramme und Graphiken versperren unübersehbar die Sicht auf die emblematisch figurierte natur, sie steuern stattdessen den Blick unausweichlich in eine richtung: auf die Darstellungen der optischen Strahlengänge zwischen Beobachter und Beobachtetem, die je nach Standort des Betrachters variieren. So sind an die Stelle emblematischer textbausteine optische Fakten getreten, die suggerieren, bar jeder sinnbildlichen Bedeutung oder Verweisfunktion zu sein. Zahns abbildungen möchten stattdessen die sichtbare Wirklichkeit und ihre naturgesetzlichen Strukturen verkörpern, sie präsentieren keine unsichtbaren Korrespondenzen oder 40 relikte der Emblematik in Form lateinischer Überschriften (Motti) oder lateinischer Zitate unter den Bildern (Pictura, Subscriptio) sind auf folgenden abbildungen zu finden: Zahn (1685: teil I, Fig. xx, fol. 176; Figura xxIII, fol. 203; teil II, Iconismus xVIII, fol. 245).
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optische Illusionen, sondern legen die Bildentstehung im Sehorgan des Betrachters offen und führen im Detail die Konstruktion und Funktion mechanischer apparate vor, mit deren hilfe sich das natürliche Sehvermögen künstlich steigern und immer weitere teile des Unsichtbaren enthüllen lassen. Im text wendet sich Zahn regelmäßig an den leser mit der aufforderung, die Demonstrationen selbst auszuführen, um sich von der Wahrhaftigkeit des Dargestellten und den Möglichkeiten der horizontüberschreitung ins Mikroskopische wie teleskopische selbst zu überzeugen; er gibt nicht auf, den wissbegierigen Betrachter zu ermutigen, ohne leitung eines anderen sich seines Sehorgans zu bedienen und eine eigene Perspektive im Blick auf die natur zu wagen.
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DEPOtEnZIErUnG DEr analOGIE Im Gegensatz zu Descartes, der reichlich analogien einsetzte, um natürliche, aber unsichtbare Phänomene dem geistigen auge vorstellbar zu machen (Galison 1984), verzichtete Zahn weitgehend auf analogien als indirektes Erkenntnismittel zur Erhellung von Strukturähnlichkeiten oder Sinnesobjekten. Eine ausnahme bildete der Exkurs über Entstehung und Wesen der Farben unter dem titel: „conceptus Mystagogus quo per analogiam variarum rerum cum coloribus hactenus dicta comparantur, illustrantur et confirmantur“ (Zahn 1685: teil I, fol. 113–117). Das Kapitel ist zwischen zwei optische Versuche eingeschoben, die die Demonstration der lichtbrechung mithilfe von Prismen zum Ziel hatten. Die Experimente entstammten der
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Schrift von Descartes’ Schüler, dem Utrechter Philosophen und Mediziner henricus regius (regius 1646: S. 266ff), der sowohl die Diagramme als auch die Erklärungen über die lichtbrechung und Entstehung der Farben aus Descartes abhandlung über die Meteore kopiert hatte [Abb.12; 12a,b], allerdings ohne die Quelle zu nennen41. Wie in den vorangegangen Demonstrationen plazierte Zahn die abbildungen unvermittelt in die emblematisch figurierte landschaft, die von den optischen linienschemata überformt und verfremdet wird (Zahn 1685: teil I, fol. 106). Dargestellt ist die Farbenreihe von rot über Gelb und Grün zu Blau, die nach Durchtritt der Sonnenstrahlen durch ein Prisma als Projektion auf einer weißen Wand erscheint und deren Entstehung mithilfe der cartesischen Korpuskulartheorie erklärt wird42. Im zweiten Experiment wurde der Prismenversuch unter Variation der Einfallswinkel der lichtstrahlen wiederholt (Zahn 1685: teil I, fol. 124) [Abb.13].
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41 regius übernahm die Zeichnung und Erklärung der lichtbrechung aus Descartes’ traktat über die Meteore, vgl. Descartes (1644a: 295, 298). Es war nicht das einzige Plagiat, dessen sich der in Utrecht lehrende Professor für Medizin und Botanik schuldig machte; regius gab in den Fundamenta (1646) nicht nur zahlreiche theorien Descartes’ als die seinigen aus, sondern er modifizierte sie teilweise so, dass sie Descartes’ Denken widersprachen. Descartes, tief verstimmt und verärgert, brach daraufhin jeden weiteren Kontakt mit regius ab. 42 Wie Descartes annahm (Meteora, vgl. anm. 39), drehen sich die unsichtbaren teilchen der lichtmaterie während der geradlinigen Fortbewegung gleichzeitig um ihre eigene axe. Die Überlagerung der unterschiedlichen rotationsgeschwindigkeiten der Korpuskeln mit der Geschwindigkeit ihrer geradlinigen ausbreitung, wurden für die Entstehung ungleicher Farben verantwortlich gemacht.
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In dem eingeschobenen Exkurs versuchte Zahn, die bei der lichtrefraktion am Prisma erzeugten Farben mittels geometrischer Figuren wie Dreiecken, Vierecken, pyramidalen und eiförmigen Kompositionen unter Beachtung der Farb-typisierung43 in eine Ordnung zu bringen (Zahn 1685: teil I, fol. 113, Figura xIV) 43 Zahns typisierung der Farben geht auf den in antwerpen tätigen Jesuitenpater Francois aguilon (1566–1617) zurück. Er unterschied die wahren, materiell-körperlichen Farben (colores reales), von den nur in durchsichtigen Medien wie Prisma oder luft (regenbogen) auftreten-
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[Abb.14]. Die graphischen Elemente, in die er das numerisch gegliederte Farbsystem einschrieb, suggerieren, dass es einen verborgenen Schlüssel zu einer geheimnisvollen, aber noch verborgeneren Weltordnung geben müsse. an diese Vorstellung anknüpfend, stellte Zahn subtile analogien zwischen dem Farbsystem und moralischen Wertbegriffen her: das Weiß als abglanz des reinen lichtes korrespondiert mit der Einheit, Monas, dem Guten und Schönen; die Schwärze hingegen tritt als Dyas, als Zweiheit und ausdruck des Dunklen und Bösen, Undurchsichtigen und Untergangs, in Konkurrenz zum strahlenden licht; in der Dreiheit, trias, schließlich, der Summe von Eins und Zwei, der Vereinigung der räumlichen Dimensionen, heben sich die Polaritäten wieder auf; die trias verbindet so das Wesen des lichtes und des Schattens, das Gute mit dem Schlechten, leben und tod mit dem dritten akteur, dem Menschen in der Mitte, der sich bald zum einen bald zum anderen Gegensatz hingezogen fühlt. Die Spitzen der Farbpyramide berühren drei eiförmige, optischen linsen verwandte Figuren; sie sind jeweils in 10 Zonen unterteilt, in denen dieses Verhältnis zwischen anfang, Ende und Mitte, zwischen Monas (principium) links, Dyas (finis) rechts und trias (medium) an der oberen Spitze, anschaulich präsentiert wird.
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den Farbphänomenen (colores intentionales) und jenen Farben, die erst im auge entstehen (colores notionales), vgl. aguilon (1613: 40ff).
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Die naheliegende analogie mit der christlichen trinitätslehre brachte Zahn nicht ins Spiel, stattdessen setzte er unter die Farbpyramide eine aus anderen Quellen zusammengetragene tabelle44, die eine Zuordnung der Farben zu lichtarten, Geschmacksqualitäten, Elementen, lebensaltern, Geisteszuständen, kosmischen und irdischen Seinsstufen sowie Saiten der lyra sinnfällig machte. Der analogie-Exkurs endet mit der skeptischen Bemerkung Zahns, diese Einführung in die geheimnisvollen Farbanalogien habe er dem leser nicht vorenthalten wollen, aber der leser möge sich selbst ein Urteil darüber bilden: „judica ut vis“. Wie ein aufatmen von der lästigen Beschäftigung mit nutzlosen Dingen klingt die anschließende aufforderung: „sed nunc ad rectum instituti nostri tramitem revertamur“ (Zahn 1685:teil I, fol. 117) – aber nun laßt uns zum richtigen Gang unseres Vorhabens zurückkehren. Für Zahn war das aufspüren von analogien nicht mehr die adäquate Methode der naturerschließung und hatte eher mystisch-spekulativen als erkenntniserweiternden charakter. DaS rEFlExIVE aUGE Die bereits erwähnte Konstruktion eines mechanischen augenmodells zum Studium der optischen Details des Sehaktes sind ein deutliches Indiz dafür, dass Zahns Bildkompositionen nicht nur illustrativen charakter haben, sondern aus einer intensiven reflexion über den Wahrnehmungsvorgang und der Bildverarbeitung im auge resultieren; diese Vermutung verdichtet sich, wenn man die eigentümliche abbildung in Figur I betrachtet, die das Gesamtwerk eröffnet (Zahn 1685: teil I, fol. 16) [Abb.15]: hier hat Zahn in eine kunstvoll arrangierte landschaft unvermittelt ein isoliertes, frei schwebendes auge montiert, das auf ein überdimensioniertes Schema des augapfels schaut, gleichsam distanziert seine eigenen Konstruktionsverhältnisse in den Blick nehmend. Das betrachtende auge wird selbst zum Gegenstand der Betrachtung und reflexion, bespiegelt das eigene Sehen, ist Subjekt und Objekt des Wahrnehmungsvorgangs zugleich. Die Erfindung dieser Komposition mutet seltsam modern an, indem die optischen Bedingungen des Sehens hier selbst thematisiert werden; das Bild als Bild, als etwas im auge des Betrachters Entstandenes, mechanisch hergestelltes, tritt unmittelbar in Erscheinung und die Dissoziation zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem offenbart sich selbst. hier gerät nicht allein die subjektive Bedingheit der Wahrnehmung ins Blickfeld, sondern die auf der Kupfertafel angewandte Montagetechnik spiegelte eben jenes Verfahren wieder, das beim Sehvorgang im auge auf ähnliche Weise abläuft.
44 Das analogieschema, welches nach Zahn die geheimnisvollen Korrespondenzen mit den Farben bestens zeige (hic est conceptus ille Mystagogus res analogas coloribus optimè ostendens), stammt von Kircher (1646: fol. 67).
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DEr SEhaKt alS GEOMEtrISchE OPtIK Zahns doppelte Sicht auf das auge als Subjekt und Objekt der Wahrnehmung resultierte aus seiner intensiven Beschäftigung mit den allgemeinen geometrisch-mathematischen Strukturen, die dem Sehen zugrunde liegen; ihre Kenntnis hielt er für unabdingbar, um einerseits die Sehfähigkeit zur erweitern und zu präzisieren und andererseits um sich des Scheinbaren,Wahrscheinlichen und Wahren der Wahrnehmung zu vergewissern. Einen großen teil seines Werkes widmete Zahn dem Problem, möglichst scharfe und deutliche Bilder zu erhalten. Unter anderem versuchte er zu beweisen, dass das Sehen mit zwei augen erfolgreicher und deutlicher gelinge als mit einem [Abb. 16; 16a]. Mangels eigener anatomischer Präparate griff er zur Demonstration auf eine Zeichnung aus Descartes’ Dioptrik zurück, die er nach seiner gewohnten Darstellungsweise in eine felsige ruinenlandschaft projizierte (Zahn 1685: teil I, fol. 194)45. Das bizarre Bild versperrt auch hier den Blick auf die Berge und täler im hintergrund und erscheint wie eine collage, die durch das sinnlose nebeneinander disparater Objekte und die Durchbrechung der gewohnten Blickeinstellung irritiert. Während Descartes mithilfe der Zeichnung illustrierte, auf welche Weise die auf der netzhaut erzeugten Bilder ins Gehirn gelangen, wobei er allerdings die lange bekannte tatsache der Sehnervenkreuzung nicht beachtete, demonstrierte Zahn anhand des Diagramms die Stelle des schärfsten Sehens in der optischen achse des auges und machte sinnfällig, dass mit zunehmender Entfernung des Einfalls der Sehstrahlen vom Sehzentrum die Unschärfe des Sehens zunahm. Die Erklärung binokularen Sehens bereitete Zahn wegen der unklaren anatomischen Verhältnisse allerdings einige Schwierigkeiten, er entschied sich schließlich zu der annahme, dass das beidäugige Sehen eine Effizienzsteigerung des Sehvermögens 45 Die Bildvorlage hat Zahn Descartes’ Werk la „Dioptrique“ (1637: p.49) entnommen.
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bewirke, indem sich durch die addition der Seheindrücke jedes einzelnen auges die Sehkraft insgesamt verstärke.
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Besondere aufmerksamkeit lenkte Zahn auf die Camera obscura, die ihm als Modell der Wahrnehmung diente, nachdem Johannes Kepler (lindberg 1987: 350ff) ebenso wie Descartes (Descartes 1637: 35ff) nachgewiesen hatten, dass die Bildproduktion in der Camera obscura nach denselben optischen Gesetzen abläuft wie im auge. Zahn verwendete daher die Camera obscura zur Veranschaulichung der unsichtbaren Strahlengänge, die vom ausserhalb gelegenen Gegenstand im Dunkel der augenkammer ein verborgenes umgekehrtes netzhautbild erzeugen (Zahn 1685: teil I, fol. 184–186). In der mechanischen apparatur, die ein vom referenzobjekt zwar ausgelöstes, aber zugleich abgelöstes, isoliertes abbild hervorbringt, sah Zahn einen Garanten für die Möglichkeit eines objektiven Blickes auf die Welt46. Zur weiteren Erkundung der Bedingungen der optischen Wahrnehmung beschäftigte sich Zahn ausgiebig mit der Spiegelprojektion in Gestalt der Laterna magica, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in Deutschland in Gebrauch kam47; diese Blendlaternen, wie sie auch hießen, versetzten nicht nur durch die Projektion 46 Zur revolution des Sehens durch die technische Erfindung der camera Obscura vgl. crary (1996), Stoichita (1998), Zittel (2005a). 47 Der Erfinder des Projektionsgerätes ist nicht eindeutig zu bestimmen. Bereits in einem um 1420–1430 entstandenen Manuskript des venezianischen arztes Johannes de Fontana ist eine den teufel an die Wand projizierende laterna magica abgebildet [BayerischeStaatsbibliothek cod. Icon.242, fol.70r]. Im 17. Jahrhundert wurde die Erfindung christian huyghens und dem Dänen thomas Walgenstein zugeschrieben, auch athanasius Kircher befasste sich eingehend mit der Konstruktion und dem Gebrauch des Projektionsgerätes in seiner Schrift über Optik, vgl. Kircher (1671: fol. 767f); – zur Geschichte vgl. auch hick (1999: 119ff).
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von Geistern oder Gespenstern das Publikum auf Jahrmärkten in höllen-Schrecken, sondern auch die Jesuiten nutzten die suggestive technik für propagandistische und illusionäre Zwecke zur Zeit der Gegenreformation (Kircher 1671: fol. 769ff)48. Bereits im 15. Jahrhundert hatte der venezianische arzt und Erfinder eines Vorläufermodells, Johannes de Fontana, den hauptzweck einer derartigen Vorrichtung darin gesehen, durch nächtliche Spukgestalten angst und Schrecken zu verbreiten49. Zahn hingegen interessierte weniger die praktische anwendung des apparates, er versuchte vielmehr die mathematischen Gesetzmäßigkeiten der SpiegelProjektionen zu ergründen und die passende adaption von linse und Spiegel sowie die sachgerechte Präparation der Glasplatten als träger des Bildmaterials, das auf der weißen Wand erscheinen sollte, herauszufinden (Zahn 1685: teil II, fol. 234ff, fol.257f (Erläuterung der mathematisch-optischen Grundlagen); teil III, fol. 251ff (verschiedene Modelle); teil III, taf. xxVII (Bildprojektion)). ausgehend von der ersten gedruckten Konstruktion einer Laterna magica, die der dänische Mathematiker thomas r. Walgenstein (1627–1681) entworfen hatte50 [Abb. 17], ersann Zahn selbst unterschiedliche Modelle und empfahl die technische Erfindung auch als hilfsmittel zur Vergrößerung anatomischer Darstellungen aus lehrbüchern zu Unterrichtszwecken im auditorium (Zahn 1685: teil III, fol. 259); auch schlug er vor, den apparat zur Vergrößerung mikroskopisch kleiner Objekte einzusetzen und beschrieb den faszinierenden anblick der winzigen Organismen, die als riesige Monster auf der Projektionsfläche erschienen; um den Effekt zu steigern, hatte Zahn in die Objektträger kleine Vertiefungen eingelassen, in die er noch lebende „animalcula“ einbrachte, so dass sie sich auf der Wand bewegten (Zahn 1685: teil III, fol. 255f). Ebenso einfallsreich war Zahns Versuch, mithilfe einer vor dem tubus rotierenden Scheibe, auf der einzelne Phasen eines Bewegungsablaufs aufgetragen waren, eine bewegte Szene auf der Projektionsfläche zu erzeugen (Zahn 1685: teil III, fol. 253) [Abb. 18].
48 Über den Einsatz von Illusionstechniken seitens der Jesuiten im Dienste der Gegenreformation vgl. Gronemeyer (2004: S. 187ff). 49 Fontana [wie anm. 45] fügte der abbildung den eigenhändigen Kommentar hinzu: „apparentia nocturna ad terrorem videntium, habes modum cum lanterna quam propriis oculis vidisti ex mea manu fabricatam et proprio ingenio“ (fol. 70r). 50 Zahn gibt keine Quelle an; das von ihm abgebildete Diagramm der „Zauberlaterne“ ist indes in der Enzyklopädie des von Dechales (1674: Bd. 2, fol. 666) nachweisbar; einen hinweis auf Wagenstein und seine laterne veröffentlichte als erster Kircher (1671: fol. 767f).
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Für den gelehrten Ordensmann bedeuteten Camera obscura wie Laterna magica überzeugende Beweise für die Faktizität des optischen Vorgangs, der allein auf der neutralen Projektion des abbildes eines äußeren referenzobjektes im Betrachterauge mithilfe des Strahlengangs von licht beruhte, das heißt, nach diesem Modell sollte die außenwelt, unabhängig von der körperlichen Physis des wahrnehmenden Subjekts, die visuelle Wahrnehmung evozieren51. Den Band beschließt, gleichsam als Essenz aller optischen Innovationen, die Beschreibung eines Panscopium Naturae Teledioptricum [Abb. 19], das die Erweiterung des Sehorgans in einer Vereinigung von teleskop, Mikroskop, militärischem Beobachtungsinstrument, helioskop, camera obscura etc. bieten sollte (Zahn 1685: teil III, fol. 269ff). Selbst überwältigt von den grenzenlosen Erweiterungen der Sinneswahrnehmung führte Zahn seitenweise die bereits erzielten Ergebnisse und Entdeckungen auf (Zahn 1685: teil II, 259ff) und war fest davon überzeugt, durch 51 Entsprechend definierte Zahn Sehen als passive aufnahme von Bildern, die der retina durch die von außen eindringenden Strahlenbündel des lichtes eingeprägt werden, vgl. Zahn (1685: teil III, fol. 187f).
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die wahrnehmungsverstärkende technologie das bisher dem natürlichen auge Vorenthaltene und Verborgene im reich der natur, am himmel und auf der Erde, aufzudecken52.
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Diesem konkreten, polyvalenten Instrumentarium stellte Zahn ein zweites, aber abstraktes Panscopium Naturae encyclicum hinzu53 zur Seite, das unter der Überschrift „Memento rerum omnium circulum esse“ (Zahn 1685: teil III, taf. zwischen fol. 276 und fol. 277) nach art der mittelalterlichen Kreisschemata ein Schaubild zyklischer Weltbewegungen wie die der Jahreszeiten, lebenskreise, himmels- und Planetenbewegungen darstellt [Abb. 20]. Im Gegensatz zum Panscopium Naturae Teledioptricum, das die räumlichen Dimensionen der optischen Möglichkeiten, den unendlich ausgedehnten himmelsraum, ins Visier nehmen sollte, rückte das Panscopium Naturae encyclicum den aspekt der Zeit und ihrer aufhebung in der zeitlosen, unwandelbaren Ewigkeit ins Zentrum der Betrachtung. Das symbolische Schema präsentiert sich als radförmiges „lettered diagram“54, das, wie die Inschrift im inneren Kreis bezeugt, die eigentümliche mathematische Metapher von Gott als allmittelpunkt eines Kreises von unendlichem Umfang veran52 In voller Überzeugung versprach Zahn ein „Panscopium naturae“ zu liefern, „quo abdita quamplurima et arcana tam in microcosmo, quam megacosmo per oculos utiliter curiosos indagari posse docetur“, vgl. Zahn (1685: teil I, Synopsis totius operis, unpaginiert fol. 3). 53 In seinem zweitem großen Werk „Specula Physico-Mathematico-historia“ (1696) hat Zahn das pansophische Konzept näher ausgeführt. 54 Zum graphischen typus des „lettered diagram“ vgl. Bogen (2006).
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schaulicht55, um die allgegegenwart des Einen in der Vielheit seiner Wirkung zum ausdruck zu bringen. Zahn hat die geometrische Figur mit einem modifizierten Modell der himmelskörperbewegungen nach den Vorstellungen tycho Brahes56 kombiniert, – jedoch mit der abweichung, dass nicht die Erde, sondern der alles in sich vereinigende Schöpfergott57 im Zentrum steht, um das die irdischen und himmlischen Sphären mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten rastlos gegeneinander kreisen. Die Demonstration der ewigen rotation der himmelskörper, die nicht endende „perikyklosis“ alles Geschaffenen, wird hier nicht nur an die verschiedenen zyklischen Prozesse der Welt, ihrer Vergänglichkeit und steten Erneuerung, geknüpft, sondern sie schließt auch das ruhelose Durchstreifen des himmels und aufsuchen des letzten Winkels mithilfe des teleskops ein, das erst in Gott, dem eigentlichen Ziel und einzigen ruhe- wie Stabilitätspunkt seine Erfüllung findet58.
abb. 20 55 Siehe Zahn (1685: teil III, fol. 277): „Deus veluti circulus, cujus centrum ubique, circumferentia nusquam“; eine ausführliche Erklärung der Symbolik gibt Zahn in der 2. aufl. (Zahn 1702: III, fol. 772); über den Ursprung und die tradierung der auf Plotin zurückgehenden mystischen Metapher informiert grundlegend Mahnke (1937). 56 Während tycho Brahe in seinem geozentrischen System Sonne, Mond und die Fixsterne um die Erde, und die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn um die Sonne rotieren ließ, drehen sich in Zahns Entwurf nur Merkur und Venus um die Sonne. 57 Die göttliche Einheit wird durch ein gleichseitiges Dreieck symbolisiert mit der aufschrift: OMnIa – a QUO – Ex QUO – PEr QUEM. 58 „[Deus], qui est vere beata quies, centrum, meta, finis et scopus naturae universae“. (Zahn 1685: teil III, fol. 278) – Jenseits dieses Bezugs zur tradierten geometrischen Symbolik könnte die starke Betonung der ewigen Perizyklosis der irdischen wie himmlischen Sphären und himmelskörper auch eine versteckte anspielung auf die Gültigkeit der neuen lehre von der Kreisbewegung der Erde sein und als ein indirektes Plädoyer für das kopernikanische Weltbild verstanden werden.
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Überdies läßt sich das Panscopium Naturae encyclicum als antwort auf die Verunsicherung lesen, die aus dem Verlust der kosmologisch-astronomischen Mitte der Erde resultierte und hier mit theologischen argumenten und mit der aktivierung der Imaginationskräfte kompensiert werden soll; das symbolische Schema bildete dann die mentale Ergänzung zum materiellen Panscopium Naturae Teledioptricum, dem durch Schärfung der Sinne und Wahrnehmungsorgane die Überleitung vom Sichtbaren zum Unsichtbaren zukäme59. SchlUSSBEtrachtUnG Zahns Werk bietet ein aufschlussreiches Beispiel zum einen für den Bedeutungszuwachs des Visuellen im 17. Jahrhundert, zum anderen für die Frage, welche Funktion Bilder und graphische Elemente in der repräsentation und Plausibilisierung neuer Erkenntnisse einnehmen. Wie gezeigt wurde, haben die Darstellungen in Zahns „Oculus artificialis“ weder einen bloß illustrativen charakter noch dienten sie im Sinne der ars-memorativa-tradition einer von Bildern gestützten Gedächtniskunst (Gormanns 1999), sie hatten vielmehr das Ziel, das neue astronomische Wissen transparenter zu machen und den optischen Vorgängen wie den perspektivisch hervorgebrachten Bildern Überzeugungskraft zu verleihen. Zu diesem Zweck entwickelte er mithilfe von tabellen, geometrisch-optischen Diagrammen und figurativen Bildtypen wirkmächtige visuelle Strategien, die sowohl die Evidenz des Dargestellten als auch die Konstruiertheit der Bilderzeugung plausibel machen sollten. anders als die Diagramme der mittelalterlichen Enzyklopädien, die im Dienst der Visualisierung einer unsichtbaren heilsordnung aus göttlicher Perspektive standen und Glaubenswissen rekonstruierten60, analysierte Zahn anhand seiner graphischen Darstellungen die perspektivische Sicht des aus allen Beziehungen losgelösten, oft nur auf ein sehendes auge reduzierten Beobachters. Er durchleuchtete dabei, wie später der Physiker und Philosoph Johann heinrich lambert in seiner theorie des Sehens beschrieb, mittels der regeln der Perspektive die „transcendte Optik … so fern sie … aus dem Wahren den Schein, und hinwiederum aus dem Schein das Wahre bestimmt“ (lambert 1764: 421), Sechstes hauptstück: „Von der Zeichnung des Scheins“ (vgl. dazu den aufschlußreichen Kommentar von (campe 2004). Somit hatten die eindringlichen Bilder in Zahns Werk nicht zuletzt die aufgabe, ebenso den Schein der Sache wie die Sache selbst evident zu machen. Gegenüber dem text waren die tabellen und Diagramme, wie Zahn selbst häufig betonte, autonom, sie generierten Wissen und machten auf einen Blick das Wis59 Im Epilog der zweiten auflage unterscheidet Zahn zwischen drei Sehorganen mit unterschiedlichen Sichtbarkeitsgrenzen: a) oculus naturalis, es bedarf des natürlichen lichtes und ist leicht der täuschung ausgesetzt; b) oculus artificialis, ein technisch aufgerüstetes auge, welches das natürliche auge an reichweite und Unterscheidungskraft überbietet; c) oculus humanus elevatus, ein durch göttliches licht erhöhtes auge, das die Dinge so sieht wie sie sind und keiner täuschung unterliegt (Zahn 1702: III, fol. 771ff); in der ersten auflage fehlte das nachwort aufgrund von arbeitsüberlastung des autors und Druckers (Zahn 1685: m III, fol. 281). 60 Zum Gebrauch mittelalterlicher Diagramme vgl. auch (Kemp 2000) und (Eastwood 2003).
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sen transparent, das im text erst in umständlichen Beschreibungen entfaltet werden musste (Zittel 2008). Durch die Verwendung eines zu seiner Zeit eher selten eingesetzten, bildnerischen Gestaltungsprinzips, der Montage, hat Zahn zugleich den limitierenden charakter perspektivischen Sehens, die ambivalenz zwischen Wirklichkeitsgewinn und totalitätsverlust, deutlich vor augen geführt: mit den konstruktivistischen Diagrammen, die er provokativ und illusionsdurchbrechend in die emblematisch figurierte landschaft plazierte, zerstörte er die tradierte emblematische, auf analogisierendem Denken basierende Sicht auf die natur als Ganzheit, und überformte sie mit geometrisch-optischen Zeichnungen, die die neue himmelsphysik erklärten und legitimierten, die durch ihre rahmung aber auch das ausschnitthafte des Dargestellten betonten. Zahn gab damit jene besondere Betrachtungsweise auf, die die natur vorrangig als einen Komplex unsichtbarer Ähnlichkeiten, Verweise und Sympathien auffasste. Der Wissenschaftshistoriker William B. ashworth hat sie „the emblematic world view“ genannt und ihre ablösung als wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen revolution des 17. Jahrhunderts diagnostiziert (ashworth 2003: 131–156). In Zahns Werk spiegelt sich dieser Prozess beispielhaft wieder: zwar bediente er sich noch der Bildpraxis der emblematischen Kunst, er überblendete sie jedoch mit den neu erschlossenen Bereichen der Sichtbarkeit. Somit beabsichtigte Zahn nicht mehr, das Unsichtbare, das verborgene Verweissystem der analogien zwischen Mikro- und Makrokosmos diagrammatisch ins Bild zu setzen, sondern sein Ziel war, der Sichtbarkeit als letzter Instanz von Wahrheit Glaubwürdigkeit zu verleihen. auch sein Panscopium Naturae encyclicum, das auf den ersten Blick als rückfall in emblematische Denkweisen erscheinen könnte, stellte er in den Dienst der neuen aufgabe der Sichtbarmachung und aufklärung. Die abstrakte Konstruktion sollte gemäß der dreifachen Staffelung und Steigerung des Wahrnehmungssinnes vom oculus naturalis zum oculus artificialis und schließlich zum schärfsten Sehen mit dem oculus elevatus61 zu einer neuen Dimension von Sichtbarkeit überleiten, insofern es die höchste Stufe des Sehvermögens, die Imaginationskraft, aktivierte62. Für konstruktive Kritik und wichtige hinweise danke ich herrn Professor Dr. heiner Fangerau und herrn Dr. Igor Polianski (Universität Ulm).
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Brechung der lichtstrahlen beim Übergang von einem dünneren in ein dichteres Medium, aus Zahn (1685) teil. I, fol. 81,figura VII. abb. 12 Brechung der Sonnenstrahlen an einem Prisma und Erklärung der Farbentstehung mithilfe der cartesischen Korpuskulartheorie, aus Zahn (1685) teil I, fol.81, figura VII; Vorlage sind Diagramme aus Descartes’ Schrift „les Meteores“, in: Descartes (1637) p. p. 255, 257,259 (vgl. abb. 12a, 12b). abb. 13 Diagramm der lichtbrechung am Prisma, aus Zahn (1685) teil I, fol. 124, figura xV. abb. 14 Farbdreieck mit Zuordnung der Farben zu moralischen Werten (eiförmige Figuren) und lichtarten, Geschmacksqualitäten, Elementen, lebensaltern, Geisteszuständen, kosmischen und irdischen Seinsstufen sowie Saiten der lyra (untere tabelle), aus Zahn (1685) teil I, fol. 113, figura xIV. abb. 15 Das auge als Subjekt und Objekt des Wahrnehmungsvorgangs zugleich, aus Zahn (1685), teil I, fol. 16 figura I. abb.16, Geometrisch-optisches Diagramm des binokulären Sehens, aus Zahn (1685) teil I, fol. (abb.16a) 194, figura xxII; das Diagramm hat Zahn Descartes’ Schrift „la Dioptrique“ entnommen, in: Descartes (1637) p. 49. abb. 17 laterna magica nach dem Entwurf von thomas r. Walgenstein (1627–1681), aus Zahn (1685) teil II, fol. 258. abb. 18 Verschiedene Modelle der laterna magica, entworfen von Johannes Zahn, aus Zahn (1685) teil III, fol. 253; die vor den tubus plazierte rotierende Scheibe (c) auf Figur 3 dient der herstellung bewegter Bilder auf der Projektionsfläche. abb. 19 Panscopium teledioptricum: ein von Zahn konstruiertes Beobachtungsinstrument, das teleskop, Mikroskop, Polemoskop, helioskop, camera obscura etc. in einem einzigen apparat vereinigt, aus Zahn (1685) teil III, fol. 270. abb. 20 Entwurf eines Panscopium naturae Encyclicum, einer pansophischen Schau zyklischer Weltbewegungen (Jahreszeiten, lebenskreise, himmels- und Planetenbewegungen) mit der göttlichen allmacht im Zentrum, aus Zahn (1685) teil III, tafel nach fol. 276.
DIE „natÜrlIchE MaGIE“ UnD IhrE BEDEUtUnG FÜr DIE MEDIZInGESchIchtE Heinz Schott Der Begriff der natur (lat. natura) spielt in der heutigen medizinischen terminologie kaum eine rolle mehr, sehen wir einmal von der „natur-heilkunde“ ab, der in der hochschulmedizin allenfalls eine marginale Bedeutung zukommt. an seine Stelle ist der Begriff des lebens (griech. bios) getreten. Dementsprechend wird die wissenschaftliche Medizin heute schlechthin als Bio-Medizin bezeichnet, die man den so genannten lebenswissenschaften, den life sciences, zurechnet. Deren Grundlage wiederum ist die molekulare Biologie, insbesondere die molekulare Genetik. Wenn natura in der frühen neuzeit in erster linie noch eine kosmologische Instanz darstellte und bios im Kontext der aufstrebenden biologischen Disziplinen einschließlich der Medizin im 19. Jahrhundert noch den einzelnen Organismus und sein Organsystem meinte, geraten in der molekularen Biologie kosmologische und organologische Zusammenhänge weitgehend aus dem Blickfeld. an ihrer Stelle taucht ein virtuelles netzwerk eines hochkomplexen molekularen Wechselspiels auf, das nach heutigem Glauben die biologische Welt im Innersten zusammenhält. Dieses entzieht sich zwar der sinnlichen anschauung, scheint aber umso sicherer mit hilfe elektronischer Datenverarbeitung erfasst und interpretiert werden zu können. Wer sich habilitationskolloquien an medizinischen Fakultäten anhört, dem wird sofort auffallen, dass von einem einzelnen Patienten kaum mehr die rede ist, geschweige denn von seinem aktuellen leidenszustand, seiner mentalen Verfassung, seiner physischen und sozialen Umwelt. Vielmehr verschwindet das Individuum in einem hermetisch erscheinenden Datenmaterial, in einer abstraktion von Formeln, Zahlen, Grafiken. Doch nicht die Kritik der gegenwärtigen molekularen Biomedizin ist das thema dieses Beitrages. Vielmehr möchte ich in einer rückbesinnung auf den frühneuzeitlichen naturbegriff gleichsam eine historische Kontrastfolie ausbreiten, die vielleicht dazu beitragen kann, den gegenwärtigen geistigen Zustand der wissenschaftlichen Medizin mit dem fast gänzlich erloschenen Glanz vergessener historischer leitbilder in Beziehung zu setzen. „NATURA“: DIE hEIlKraFt DEr natUr UnD IhrE VISUalISIErUnGEn Die „heilkraft der natur“ (vis medicatrix naturae) ist seit der (griechischen) antike ein Schlüsselbegriff der Medizin. hierbei erscheint die natur selbst (griech. physis) als die ursprüngliche heilkraft. So heißt es im Corpus hippocraticum: „Die naturen
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sind der Krankheiten aerzte [nouson physies iatroi] – die natur findet von selbst die Bahnen, nicht infolge von Ueberlegung“ (Epidemien, 6. Buch, V 1); (hippokrates 1897: 273). hier stoßen wir bereits auf die wichtigste Metapher für die heilkraft der natur, nämlich den arzt. Die Wirkung der natur wird mit der therapeutischen tätigkeit des arztes analogisiert. Gerade diese Vorstellung von einem „inneren arzt“ sollte für Paraceslsus (d. i. theophrastus von hohenheim; 1493/94–1541) und dessen anthropologie entscheidende Bedeutung erlangen. Doch eine solche metaphorische charakterisierung der heilkraft der natur als arzt oder im Sinne der frühneuzeitlichen naturphilosophie als Ärztin legt zugleich eine unaufhebbare hierarchie fest: Die natur erscheint als übergeordnete, alles regierende Ärztin, von deren Weisungen der menschliche arzt abhängig ist. Die sich – wörtlich nicht ganz korrekt – auf hippokrates (um 460– um 370 v. chr.) berufende Spruchweisheit „medicus curat, natura sanat“ (zumeist übersetzt als „Der arzt hilft, die natur heilt“) beschreibt das Verhältnis der beiden ärztlichen Instanzen. Der (menschliche) arzt kann nur insofern heilen, als er die natur kennt, ihre heilweisen nachahmt und sich insofern als Diener der natur betätigt. Freilich erscheint diese natur nicht als die ursprüngliche Quelle, nicht als die höchste Instanz. Schon in der griechischen Mythologie treten die heilgöttinnen hygieia und Panakeia als töchter des asklepios in Erscheinung, gewissermaßen als abkömmlinge und Vermittlerinnen seiner Macht. Das Geschehen spielt sich hier in der horizontalen ab, im Unterschied zu den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen, bei denen die Vertikale – vom himmel zur Erde – bestimmend wird. In letztgenannter Perspektive gewinnt Natura – nach oben – anschluss an die Strahlkräfte Gottes, die sie – nach unten – an den irdischen adepten weiter leitet. Inwieweit wir eine Miniatur über die göttlichen Offenbarungen bzw. Visionen der hildegard von Bingen in diesem Sinne interpretieren können, sei dahingestellt: Ein von oben kommender Feuerstrom ergießt sich auf hildegards Kopf und symbolisiert so den heiligen Geist (Schipperges 1996: 154 §). analog zu bestimmten ikonographischen und emblematischen Darstellungen der frühen neuzeit, auf die wir noch im einzelnen zurückkommen werden, nimmt hildegard hier in der Position der Natura in Gestalt der gelehrten Sophia, der Weisheit, ein, die als Medium zwischen Gott und Mensch fungiert [abb.1]. MarIa UnD „NATURA“: EInE MISchFIGUr In rEnaISSancE UnD FrÜhEr nEUZEIt? Die Bedeutung des Christus medicus als leitfigur der abendländischen heilkunde ist hinlänglich bekannt. Die Bedeutung der Maria, der so genannten Gottesmutter, dagegen wurde durch reformation und Säkularisierung eher verdrängt, wenngleich in der katholischen Kirche bis heute die Marienverehrung weiterlebt und Maria als wichtigste nothelferin der armen und Schwachen fungiert. Maria wird jedoch nicht als selbständige Göttin, sondern als Vermittlerin zwischen Mensch und Gott angerufen. Sie erscheint vielfach als die Personifikation der göttlichen heilkraft und übernimmt die rolle der heilkräftigen Natura, wie zum Beispiel bei der so
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genannten „wundertätigen Medaille“, die durch die Marienerscheinung der Katharina labouré 1830 inauguriert wurde. In ihrem aufschlussreichen Buch Natura als Göttin im Mittelalter konnte Mechthild Modersohn zeigen, wie die natur im 12. Jahrhundert als personifizierte Gottheit auf den Plan trat: „Durch Bernardus Silvestris tritt die personifizierte Natura um 1144 aus spätantike Umrissen in das volle licht einer Gottheit. […] Das Interesse an der natur nahm in allen Bereichen zu, in der Grammatik, dem recht, der theologie und der Wissenschaft. Bernhards Göttin Natura ist deshalb als Personifikation im breitesten Kontext dieser Wechselbeziehung des frühen 12. Jahrhunderts zu verstehen. […] Natura ist zugleich Göttin und lehrfigur.“ (Modersohn 1997: 14f.) Der romanist Ernst robert curtius hatte bereits 1928 eine Klassifikation der Natura – insbesondere im Kontext der Spätantike – entworfen und dabei 14 unterschiedliche Funktionen ausfindig machen können, von der Natura artifex mundi (1) bis hin zur Natura dei serva (13) und Natura altrix hominum (14) (Modersohn 1997: 17f.; curtius, 1928: 180–197). Wie kunsthistorisch nachweisbar, wird Natura
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im hohen Mittelalter zur lehrmeisterin der tugenden und der artes liberales. Sie wird somit ohne Prudentia als Vermittlungsinstanz „zur Mutter der Wissenschaft“. Wie an dem so genannten londoner „artes-liberales-Kästchen“, einem EmailleKästchen, dargestellt, hält die gekrönte Philosophia Zepter und reichsapfel in händen. Natura ist ungekrönt, sitzt nach vorn gebeugt und reicht der Scientia die Brust. an den längsseiten des Kästchens sind die artes liberales zu sehen. „Der festgeschriebene Kreis der Artes liberales wird erweitert und angeführt von Philosophia, Natura und Scientia, die den freien Künsten vorzustehen und eine trinitarische Einheit zu bilden scheinen.“ (Modersohn 1997: 301) Obwohl Modersohn die Gestalt der Maria als mögliche Grundlage für Imagines der natura nicht thematisierte, gibt es doch in der Kunstgeschichte entsprechende hinweise. In einer frühen Periode der Marienverehrung erschien sie als Gottesmutter, die auf einem himmlischen thron sitzt, als himmelsgöttin (regina coeli), als Engelskönigin (regina angelorum), als Sitz der Weisheit (sedes sapientiae) (Kecks: 16). Später tauchte das Idealbild der mütterlichen Madonna auf, die dann in der renaissance als „Mutter der Barmherzigkeit“ (mater misericordiae) oder als heilerin (medicatrix) dominant wurde. Eine solche Madonnenverehrung, so meine Vermutung, beeinflusste die emotionale hinwendung zur natur als göttlicher Offenbarung zutiefst. Es sei hier an den bekannten holzschnitt von albrecht Dürer erinnert, der um 1511 entstand: „Maria auf der Mondsichel“ [abb.2]. Ein göttliches licht leuchtet vom hintergrund her, das ihr offenbar Kraft verleiht, sowohl auf die Sterne auszustrahlen als auch ihr Kind mit der Brust zu säugen, das christuskind, das hier
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gleichsam die rolle des irdischen Menschen übernimmt. Im Kontext von alchemie und Paracelsismus erschien ein Jahrhundert später explizit Natura in Gestalt einer nährmutter und säugenden Jungfrau. Besonders deutlich trat dies bei dem englischen arzt und rosenkreuzer-anhänger robert Fludd (1574–1637) in Erscheinung. In dem Emblem „Integrae Naturae speculum Artisque imago“ wird die dreifache Funktion der natura sinnbildlich dargestellt (Fludd 1617): (1) Zunächst ist sie die Vermittlerin zwischen Gott im himmel (symbolisiert mit der hand Gottes, die aus der lichtwolke mit dem tetragramm herausschaut) und dem irdischen Menschen (symbolisiert als affe, der auf der Erde sitzt); Gott und Natura sowie Natura und Mensch sind jeweils durch eine Kette miteinander verbunden, mit der Natura als zentralem Bindeglied. (2) Natura ernährt mit ihrer Milch den Makrokosmos („Milchstraße“) und stellt insofern sonnengleich eine Energiequelle für diesen dar. (3) Natura ist die lehrerin, leiterin des Menschen, der nur soweit kommen kann, wie er ihr folgt, sie imitiert, sie gewissermaßen nachäfft [abb.3]. Zwischen albrecht Dürer und robert Fludd liegen nur auf den ersten Blick Welten. nach meinem Dafürhalten kommt es jedoch in beiden Fällen zu einer gewissen Verschmelzung von Maria und Natura: Bei Dürer wird Maria naturalisiert: Diese erscheint als eine kosmische, bildlich gesprochen: supra-lunare Mutter. Bei Fludd wird Natura deifiziert: Sie nimmt die Gestalt der Jungfrau Maria an und erhält göttlichen rang.
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DIE natUr alS SElBStÄnDIGE FÜhrErIn, hIMMElSKÖnIGIn, SchMIEDIn Natura erscheint in der Ikonographie nicht nur in der soeben beleuchteten hierarchischen Mittelposition zwischen oben und unten. Sie kann auch als selbständige leitfigur auftauchen, was beispielhaft zu zeigen ist. In diesem Falle bleibt das göttliche licht unsichtbar, und wir sind, um mit Paracelsus zu sprechen, nur mit dem „licht der natur“ konfrontiert, das dem Menschen den Weg weist. So zeigt der holzstich von Matthäus Merian d. Ä. in Michael Maiers Atalanta fugiens (1618) die natur als eine junge Frau, die mit köstlichen Früchten in händen voranschreitet (Maier 1618) [abb.4]. Im beigefügten Motto und Epigramm wird dieses Emblem (nr. 42) unmissverständlich erläutert: Die natur tritt hier als Führerin des suchenden Menschen in Erscheinung, der dieser zu folgen hat: „Dux Natura tibi“, wie es im Epigramm heißt, gemäß dem (ins Englische übersetzten) Motto: May Nature, Reason, Exercise and Literature bet he guide, staff, spectacles and lamp for him who participates in chemistry“ (de Jong 1966: 266–268). In ihren Fußspuren (quasi Wegweiser) läuft ihr ein naturforscher mit Gehstock (Symbol der Vernunft), Brille (Symbol der Erfahrung) und einer laterne (Symbol der chemischen Forschung) hinterher – der gelehrte Mensch als natursucher. In anderer Gestalt tritt die natur im Frontispiz einer französischen handschrift von 1516 auf, die den titel trägt: La Complainte de nature à l’alchimiste errant (Modersohn 1997: 173ff.). Diese Miniatur des bedeutenden französischen hofmalers Jean Perréal stellt eine direkte Begegnung zwischen der natur (einer Mischung aus verführerischer Frau, Königin und Engel) und dem alchemisten dar [abb.5]. Die Krone der natur zeigt die Zeichen der sieben Metalle, die Äste des Baumes symbolisieren die vier Elemente, die sich in der Mitte kreuzen (mixtio), die drei Baumwurzeln repräsentieren die drei reiche der natur (mineralia, vegetative, sensitiva), im Baumstamm befindet sich der Ofen der natur. Dieses OPUS NATURAE steht im Gegensatz zum OPUS MECHANICE. Der alchimist soll sein laboratorium verlassen und in ihrem reich lernen, dem ursprünglichen reich der alchimie, symbolisiert durch den Baum. Die natürliche Scheidekunst, das opus naturae, führt zur obersten Blüte des Elixiers, das als „vegetabiles Gold“ sublimiert wird. Diese Darstellung der natur als der wahrhaften alchemistin hat ihre Wurzeln im Mittelalter, insbesondere im rosenroman (Roman de la Rose). Dieses hauptwerk der mittelalterlichen französischen literatur – im 13. Jahrhundert zum größten teil von Jean de Meung verfasst – stellt die natur in ihrer Schmiede dar. Wir können diesen roman hier nur flüchtig streifen. Die natur wird darin als lebensquelle gegenüber dem allgegenwärtigen tod verstanden. So heißt es im text: „Doch wenn die milde und barmherzige natur / sieht, wie der neidische tod / und gemeinsam mit ihm Verwesung / alles vernichten kommen, / was sie in ihrer Schmiede vorfinden, / dann hämmert, dann schmiedet sie immer wieder / und unablässig erneuert sie ihre Einzelwesen / durch neue Erzeugung …“ (V. 15893–16012; zit. n. Modersohn, 1997: 127). Die natur als Schmiedekünstlerin wurde in der Überlieferung des rosenromans ikonographisch in zahlreichen Variationen dargestellt. Dabei finden sich unterschiedliche, alchemistisch anmutende Szenerien: in einem
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holzschnitt, verschiedenen handschriften, auch mit Gottvater über ihr und schließlich als göttliche autorität für die Kunst, die vor ihr kniet. hier wird die Ars der Erde, die Natura dem himmel zugeordnet. Im text heißt es: „[…] aber mit sehr beflissener aufmerksamkeit / liegt sie [Ars] auf den Knien vor der natur / und bittet sie, erfleht und verlangt / wie eine Bettlerin und Bittstellerin, / […] wie sie durch ihr Geschick / in ihren Gebilden alle Geschöpfe / genau erfassen könne. / Und beobachtet, wie die natur wirkt, / […] und imitiert sie wie ein affe […]“ (zit. n. Modersohn 1997: 154) Ars steht hier für menschliche Kunst und Wissenschaft, welche Natura als Quelle göttlicher Weisheit anbetet.
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WaS BEDEUtEt „MaGISchE hEIlKUnDE“? Magie wird traditionell auch als Zauberei oder als Kunst bezeichnet, was auf den antiken terminus ars magica (häufig auch im Plural: artes magicae) verweist. Diese ars ist durchaus auch im Sinne von „Wissenschaft“ zu verstehen, wenngleich sie, wie wir aus der Kulturgeschichte wissen, als solche immer umstritten war. Denn sie stand im Verdacht, als „schwarze Magie“ mit dem teufel oder den Dämonen in Verbindung zu stehen. Den „Schwarzkünstlern“ wurde vor allem die nigromantie (necromantia) vorgeworfen, insbesondere die Beschwörung der totengeister (d. h. Geister Verstorbener). Demgegenüber besagt der Begriff „weiße Magie“ (auch Weißkunst, magia alba), dass sie göttlichen Ursprungs sei und über die guten Engel wirke (handwörterbuch, Bd. 5: Sp. 817ff.). Diese „weiße Magie“ fiel in der frühen neuzeit mit der „natürlichen Magie“ (magia naturalis) zusammen, wie sie vor allem Paracelsus und agrippa von nettesheim vertraten. als magische heilkunde wollen wir jene Denktradition und Praxis bezeichnen, die von dieser natürlichen Magie (magia naturalis) ausging, um deren subtilen und geheimen Wirkungen zu therapeutischen Zwecken einzusetzen. Diese historische Verwobenheit von therapie- und Magievorstellungen lässt sich insbesondere am Beispiel des medizinischen Magnetismus beobachten. Die anziehungskräfte des Magneten auf Eisen faszinierten von jeher Ärzte und naturforscher, die hierin eine wunderbare Wirkung der verborgenen natur zu tage treten sahen. Durch Paracelsus erlangte der Magnet paradigmatische Bedeutung für die Medizin der neuzeit: Er empfahl ihn nicht nur als heilinstrument, um z. B. die lage der „verrückten“ Gebärmutter zu korrigieren, sondern – was für die Ideengeschichte wichtiger wurde – erblickte in ihm das Modell für die sympathetischen Kräfte der natur schlechthin. So wurde die heilwirkung „magnetischer arzneimittel“, wie z. B. die der sog. Waffensalbe, worauf wir noch zurückkommen werden, als ausdruck der natürlichen Magie erklärt (Schott [hg.] 1998: 210). Vorab ist festzuhalten, dass die magische heilkunde sowohl in der Volksmedizin als auch in der Gelehrtenmedizin einen wichtigen Bereich darstellte. Ebenso möchte ich vorausschicken, dass wir von einer Wechselwirkung der beiden Bereiche ausgehen müssen: nicht nur magische heilpraktiken der Volksmedizin beeinflussten die gelehrte Medizin, sondern auch umgekehrt: Die lehren der wissenschaftlichen Medizin beeinflussten die Volksmedizin. Dies ist eine arbeitshypothese, die durch systematische Forschung zu belegen wäre. Magische heilkunde ist also kein charakteristikum der sog. Volksmedizin als teil der Popularkultur schlechthin. Vielmehr müssen wir zwischen einzelnen Konzepten der magischen heilkunde innerhalb einer gemeinsamen, gelehrte und populäre heilkunde umfassenden medikalen Kultur differenzieren. So ist die religiöse heilkunde, etwa die Gebetsheilung oder die Geistheilung, sicherlich jenseits der Gelehrten- bzw. naturwissenschaftlichen Medizin anzusiedeln, während die akupunktur als Methode der traditionellen chinesischen Medizin heute als durchaus kompatibel mit der Schulmedizin wahrgenommen und die homöopathie in beiden Bereichen, also von medizinischen laien wie von approbierten Ärzten praktiziert wird. Freilich ist es eine Frage der Interpretation, inwieweit
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wir akupunktur und homöopathie überhaupt zur „magischen heilkunde“ zählen dürfen. homöopathen wie akupunkteure würden an dieser Stelle heftig protestieren, da sie ihre jeweiligen Methoden als ausdruck einer empirisch-rationalen heilkunde verstehen, die nichts mit „Zauberei“ gemein hat. Der Magiebegriff wird heute weitgehend pejorativ gebraucht: „Magie“ wird mit Scharlatanerie und Betrug, bestenfalls mit reiner Suggestion oder dem PlaceboEffekt gleichgesetzt. Dagegen behaupteten naturforscher und Ärzte der frühen neuzeit, welche sich für eine magische heilkunde einsetzten, höchst plausibel und emphatisch, dass es sich bei der Magie um reine naturvorgänge handele, die im Einzelnen erklärbar, erforschbar und nachweisbar seien. Wenden wir uns zunächst dieser magia naturalis in der Medizin zu, wie sie am wirkungsvollsten von Paracelsus im frühen 16. Jahrhundert vertreten wurde. MaGIa natUralIS: MaGnEtISch-SYMPathEtISchE KUrEn Die „magischen Kräfte“ der natur können auf zweierlei Weise heilsam wirken: Zum einen können sie auf den kranken Körper übertragen werden und ihn somit direkt kräftigen bzw. heilen; zum anderen können die Kräfte der natur auch schäd-
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liche Einflüsse, nicht zuletzt die dämonischer art, abwehren und den betreffenden Menschen vor Krankheit schützen. Grundlegend ist dabei die annahme einer subtilen sympathetischen Wechselwirkung zwischen ähnlichen, miteinander verwandten Körpern in der natur, die durch spezifische techniken miteinander in Korrespondenz gebracht werden können. (Man könnte hier in analogie zur homöopathie von einem Simile-Prinzip sprechen.) an zwei Beispielen des Paracelsus, die durchaus volksmedizinischen traditionen entsprechen, soll der Mechanismus der magischen heilwirkung erläutert werden. Im Herbarius, einer Schrift, die um 1527 entstand, schildert Paracelsus die anwendung der Persicaria (Flöhkraut). Wie der Magnet das Eisen an sich ziehe, so verhalte sich die Persicaria gegenüber dem Fleisch, das verletzt wurde: „Damit und ir den brauch des krauts verstanden, so sollent ir wissen, das in der gestalt gebraucht wird, nemlich man nimpt das kraut und zeuchts durch ein frischen bach, demnach so legt mans auf das selbig, das man heilen will, als lang als einer möchte ein halb ei essen. Darnach so vergrabt mans an ein feucht ort, domit das faul werde, so wird der schad gesunt in der selbigen zeit … das etlich ein kreuz uber die scheden machen, etlich beten darzu; solchs alles ist von unnöten, gehört nit darzu, dan es ist ein natürliche wirkung do, die das natürlich tut, nit superstitiosisch und zauberisch.“ (Paracelsus, SW 2: 18) Paracelsus betont hier das „natürliche Wirken“, um hervorzuheben, dass es sich bei dieser Methode sozusagen um eine reine naturheilkunde handele. In derselben Schrift empfiehlt er die roten Korallen als abwehrmittel gegen die (verführerische) Phantasie, gegen phantasma („nachtgeist, die von der natur komen“), spectrum (ätherische Körper, d. h. Geister Verstorbener) sowie melancholia. Gegen diese vier Krankheiten „sind die krallen eins aus den natürlichen secreten deren dan noch mer sind. also ist natur gegen der natur, das ist wider die natur und mit der natur; dan die roten vertreibens, die braunen behaltens und das alles aus den natürlichen kreften und in der natur“. Die dunkel roten Korallen („uf braunfarb oder uf schwerze“) seien schädlich und würden die betreffenden Krankheiten verschlimmern. Dies entspricht der traditionellen Zuordnung der dunklen bzw. schwarzen Farbe zum Bösen, teuflischen. Die hellen roten Korallen dagegen würden – über die abwehr der Dämonen hinaus – auch gegen Unwetter und hagelschlag wirken sowie die „wilden monstra“ vertreiben: „solche monstra tilgent sie auch aus.“ (Paracelsus, SW 2: 43) Ebenso würden sie den teufel vertreiben und auch vor Schädlingen und Ungeziefer auf dem acker und im Garten bewahren. Die schwangeren Frauen und Wöchnerinnen sollten ebenfalls zum Schutz vor Betrübnis und anfechtung Korallen tragen. Paracelsus führt die liste der möglichen Indikationen noch sehr viel weiter. Man hat den Eindruck, dass er hier alle möglichen Überlieferungen aus der Gelehrtenmedizin ebenso wie die aus der Volksmedizin – selbstverständlich in seinem typischen Stil ohne jede Quellenangabe – zusammengetragen hat. Paradigmatisch für die im 17. Jahrhundert aufkommenden magnetisch-sympathetischen Kuren ist die „Waffensalbe“. Deren heilwirkung wurde vor allem von den Paracelsisten gepriesen, während deren Kritiker sie als teufelswerk verdammten. Johann Baptist van helmont, der wohl bedeutendste Paracelsist des 17. Jahrhunderts, verfasste gegen den belgischen Jesuiten Jean roberti eine Schrift über die
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magnetische heilwirkung der Waffensalbe, die wahrscheinlich ohne sein Wissen 1621 in Paris veröffentlicht wurde, was ihm einen langjährigen Inquisitionsprozess eintrug. Van helmont wies die Behauptung robertis zurück, dass die Wirkung der Waffensalbe auf teuflischem oder dämonischem Einfluss beruhe und bezeichnete sie stattdessen als ein „magnetisches heilmittel“ (remedium magneticum), das nichts mit aberglauben und Zauberei zu tun habe (Müller-Jahncke 1993: 50). Van helmont beruft sich auf Paracelsus, wenn er eine „Wunden-Salbe“ beschreibt, die aus den merkwürdigsten Ingredienzien besteht, wobei vor allem das Moos einer menschlichen hirnschale nötig sei: „Wenn dir nun eine Wunde vorkommet / so benetze mit deren Blut ein hölzlein / und stecke solches also blutig in die Salbe / nach dem das Blut vorher an dem hölzlein getrocknet ist. Die Wunde aber verbinde man alle tage mit einer neuen Binde / welche zuvor mit dem Urin des Verwundeten angefeuchtet worden: So wird die Wunde / sie mag so groß seyn als sie will / ohne Pflaster und ohne Schmerzen heilen. auf solche Weise kanst du auch die jenigen heilen / die wohl zwanzig Meilen weit von dir sind; wenn du nur Blut von dem Verwundeten zur hand bekommen kanst.“ (Van helmont, 1683, S. 1008) Wenn man zu dieser Wundensalbe noch honig hinzugebe, habe man eine Waffensalbe und könne damit heilen „wenn du nur das Waffen / damit einer verwundet worden / mit dieser Salbe bestreichest.“ Um das Moos von einer menschlichen hirnschale als Zutat der Waffensalbe entspann sich innerhalb des paracelsistischen lagers eine besonders bizarr anmutende Debatte. So empfahl der Marburger Medizinprofessor und Paracelsus-anhänger Goclenius (1672–1621) nur das hirnschalenmoos von erhängten Missetätern, wogegen van helmont polemisierte: Die Erfahrung lehre „das der Mooß von der hirn-Schale / der auf das rad gelegten nicht minder dienlich sey / als von denen so am Strick erwurget.“ (Van helmont 1683:1012) Ja, bemerkt helmont zynisch, auch auf dem haupt eines Jesuiten, der am Galgen oder durch einen anderen Märtyrertod gestorben sei, wachse Moos „nicht anders als auf dem Schedel eines Diebes“, das für die Waffensalbe ebenso brauchbar sei (a. a. O.: 1019). Die angenommene Fernwirkung dieser Waffensalbe wurde damit erklärt, dass die Salbe das Blut so verändere, dass feine ausdünstungen (effluvia) natürlicherweise zu ihrem Ursprung zurückkehrten und dort eine heilung bewirkten. Gegenüber dem klerikalen Vorwurf, dass es sich hierbei um Schwarzkunst oder teufelswerk handele, entgegneten die anhänger der magischen heilkunde mit der vehement vorgetragenen Behauptung, alles sei natürlich erklärbar. Van helmont schilderte auch ein Beispiel für eine magische abwehr, die sicherlich eine Portion Ironie enthielt, aber den vorgestellten Wirkmechanismus magischer Praktiken sehr plastisch illustriert. Er griff wohl auf eine volkstümliche magische Praktik zurück, als er hausbesitzern erklärte, wie jemand, der ihnen seine Exkremente vor die türe setze, zu vertreiben sei: „Wenn jemand ein hof-recht vor Deine thür gemacht, und du solches gerne verhindern woltest, so halt eine glüende Schauffel auf den selben Koth; da wird durch eine Magnetische Krafft dem Unfläther sein hintern also vald von Blattern auffahren. Denn weil das Feuer den Koth ausdörret, so wird dadurch die von dieser röstung entstehende Schärffe als gleich-
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sam durch den rucken des Magnetens, dem unverschämten Gesellen in seinen hintern getrieben.“ (Zit. n. Schott 1996: 206). Die vier genannten Beispiele magischer heilpraktiken – die anwendung der Persicaria, der roten Korallen, der Waffensalbe sowie die Vertreibung eines Feindes – wurden von akademisch ausgebildeten Ärzten verfasst, die sich kritisch im Selbstverständnis ihrer naturphilosophie gegen die tradierte scholastische tradition stellten. Die magische heilkunde wurde in der frühen neuzeit vor allem von der alchemischen richtung in der Medizin gepflegt und weiter entwickelt. Gerade die genannten Beispiele zeigen die nähe zu volkskundlichen und volksmedizinischen Überlieferungen. Ohne Zweifel wurden hier bekannte volksmedizinische Bräuche neu interpretiert und naturphilosophisch aufgewertet. Es wäre eigens zu untersuchen, inwieweit nun die stark beachteten Schriften eines Paracelsus oder eines van helmont ihrerseits auf die Volksmedizin zurückgewirkt und magische Elemente regelrecht verstärkt haben. Soweit ich sehe, wurde diese Fragestellung medizinhistorisch bislang kaum erforscht. DEr „anIMalISchE MaGnEtISMUS“ ZWISchEn aUFKlÄrUnG UnD rOMantIK Im 18. Jahrhundert, dem so genannten Jahrhundert der aufklärung, ergab sich auch für die Medizin eine grundlegende Wende. Die Fortschritte in anatomie, Embryologie und Physiologie, der pädagogische und sozialmedizinische ansatz im Sinne der Medizinalreform („medizinische Polizei“), schließlich die Umwälzungen durch die Französische revolution bedeuteten einen großen Schritt in richtung auf die naturwissenschaftliche Begründung der Medizin, wie sie sich dann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Doch kaum ein Ereignis markierte einen so gewaltigen Einschnitt wie die Erfindung der künstlichen Elektrizität und ihre anwendung in der Medizin ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Wichtiger noch als die Möglichkeiten der elektrotherapeutischen Behandlung war die Einführung der Elektrizität in das Verständnis der neurophysiologie, insbesondere in Form des Galvanismus. hier wurde die Grundlage für das medizinische Menschenbild der Moderne gelegt. Es ist nun sehr interessant, wie sich die magische heilkunde im rahmen der aufklärung und der physikalischen Organismusvorstellung fortentwickelte. Der Wiener arzt Franz anton Mesmer (1734–1815) begründete um 1775 unter dem Eindruck der Elektrotherapie, der therapeutischen anwendung von Elektrizität und Stahlmagneten in seiner ärztlichen Praxis in Wien ein neues heilsystem, den so genannten tierischen oder animalischen Magnetismus, ab 1814 auch Mesmerismus genannt. Er behauptete, dass diese heilmethode auf der quasi „magnetischen“ Wirkung eines äußerst feinen „Fluidum“ beruhe, das als eine kosmische Kraft mit bestimmten techniken akkumuliert und über das nervensystem auf den Kranken übertragen werden könne. Ich möchte hier nicht näher auf Mesmers berühmte Inszenierungen seiner magnetischen Kur, zunächst in Wien und später in Paris, eingehen, die in den Jahren vor der Französischen revolution eine Weltsensation darstellten.
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1784 untersuchte eine Kommission der Pariser akademie der Wissenschaften im auftrag des Königs den „thierischen Magnetismus“. Vorsitzender der Kommission war Benjamin Franklin, weitere Mitglieder u. a. der chemiker antoine-laurent lavoisier und der arzt Joseph-Ignaz Guillotine, der spätere Erfinder der Enthauptungsmaschine. Die Kommission kam durch eingehende Untersuchungen zum Schluss, dass die Manipulationen des Magnetiseurs die Einbildungskraft der Patienten lenkten und so die dem Magnetismus zugerechneten Phänomene produzierten: „nachdem also die Kommissionäre […] überzeugt sind, das das Drücken und Berühren […] widrige Erschütterungen in der Einbildungskraft hervorbringt, und nachdem sie endlich durch entscheidende Versuche dargethan, das diese Einbildungskraft, ohne allen Magnetismus, Konvulsionen verursacht und das dieser ohne jene [Einbildungskraft] gar nichts zum Vorschein bringe, so haben sie die Frage, ob der beschriebene thierische Magnetismus wirklich existiere und auch nützlich sey, einhellig beschloßen und anerkannt, daß die Existenz dieses Magnetismus durch nichts bewiesen werden kann; das dieses Flüssige da es nicht existieret, auch folglich ohne nutzen ist.“ (Zit. n. Florey 1995: 150). Der Mesmerismus war nun nicht nur Gegenstand gelehrter Debatten und wissenschaftlicher Experimente bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und danach – man denke nur an charcots sogenannte Schule von Paris -, er regte darüber hinaus auch Ärzte zu Experimenten und heilversuchen in ihrer Praxis an. Daneben verbreitete sich der Mesmerismus in der laienmedizin und wurde in vielfältiger Weise als ein probates hausmittel propagiert, vorzugsweise zur Schmerzlinderung (z. B. Zahnschmerzen) sowie zur allgemeinen nervenberuhigung (z. B. bei unruhigen schreienden Kleinkindern). Ähnlich wie bei den magnetisch-sympathetischen Kuren der frühen neuzeit sind im hinblick auf den Mesmerismus die Grenzen zwischen Volksmedizin und gelehrter Medizin nicht klar zu ziehen. Gerade unter dem Einfluss der romantischen naturphilosophie im frühen 19. Jahrhundert interessierten sich die Ärzte und naturforscher vermehrt für volksmedizinische Überlieferungen und rezepte. Ärzte waren nun offen und bereit, auf ihre Patienten zu hören, auch wenn diese Ideen und Erlebnisse von sich gaben, die mit anatomischen und physiologischen Begriffen nicht zu fassen waren bzw. den Konzepten der aufgeklärten Medizin widersprachen. als Beispiel lässt sich hier der so genannte Somnambulismus anführen, der zu einem verbreiteten Gegenstand der medizinischen Debatte wurde. Die außerordentlichen Fähigkeiten von Personen im „magnetischen Schlaf“ – wie hellsehen und Präkognition, intuitive Diagnostik und Fernheilung, lesen mit der „herzgrube“ (durch die Bauchdecke hindurch) und automatisches Schreiben in der „Ursprache“ etc. – vor allem aber das so genannte „Geistersehen“ faszinierten viele Ärzte und naturforscher der romantik. Die Frage, ob die wunderbaren Wahrnehmungen ausdruck des veränderten und verstörten Seelenlebens waren, also Krankheitssymptome, oder doch Offenbarungen einer dem normalen Menschen verborgenen natur, mit der die Somnambulen sympathetisch verbunden schienen, konnte nicht eindeutig beantwortet werden. Der schwäbische arztdichter Justinus Kerner (1786–1862), Oberamtsarzt von Weinsberg bei heilbronn, dokumentierte in seiner epochalen Krankengeschichte Die Seherin von Prevorst (1829) das erstaunliche Panoptikum einer somnambulen
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Geisterseherin. Im Grunde werden hier Erlebnisse und Fähigkeiten einer Patientin beschrieben und im Einzelnen experimentell untersucht, welche weniger der Gelehrtenmedizin als vielmehr der Volksmedizin, dem damals sog. „Volksaberglauben“ zugeordnet werden können. Es wäre eine eigene Forschungsaufgabe, die volksmedizinischen Implikationen solcher Krankengeschichten, allen voran die „Seherin von Prevorst“, eingehender zu studieren, von den sensitiven Fähigkeiten wie Metallfühlen, über die Fähigkeit der intuitiven Diagnostik und der Fernheilung, bis hin zum Geistersehen und zu kosmischen Visionen. „rOMantISchES“ IntErESSE an VOlKSMEDIZInISchEn PraKtIKEn Gerade an der Geschichte des Mesmerismus lässt sich beobachten, wie laienmedizinische traditionen vom wissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen und in ein entsprechendes Konzept eingepasst wurden, um wiederum von hier aus auf die Sphäre jenseits der Gelehrtenmedizin einzuwirken. als der Mesmerismus Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin letztlich als obsoleter „Okkultismus“ von der wissenschaftlichen Medizin abgetan wurde, erlebte er in laienkreisen einen beachtlichen aufschwung. Im Zusammenhang mit der naturheilkundebewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienen auch zahlreiche Publikationen zum sog. „heilmagnetismus“, die größtenteils als Gesundheitsratgeber zum Selbermachen volkstümlich verfasst waren und zum teil in sehr hohen auflagen verkauft wurden. Im 20. Jahrhundert erschienen hier eine große anzahl einschlägiger titel (Schott 1985). Die tief greifende kulturelle Bewegung der romantik bedeutete in der Medizin auch eine bewusste hinwendung zu traditionen der Volksmedizin und der magischen heilkunde. Diese wollte man nun ernst nehmen und entsprechend wissenschaftlich bearbeiten. häufig wird der Begriff der romantik mit Verinnerlichung, rückzug ins Individuelle, abkehr vom gesellschaftlichen leben assoziiert. Dabei wird vergessen, dass gerade mit der romantischen Bewegung eine hinwendung zu den lebensäußerungen des „Volkes“, zum Gemeinschaftsgefühl der Gruppe, zur Popularisierung wissenschaftlicher theorien stattfand. So propagierte die so genannte romantische Medizin keineswegs eine Esoterik in sozialer abgeschiedenheit, sondern vielmehr die hinwendung der Universitätsmedizin zu den traditionellen heilweisen der „einfachen leute“. Dies soll wiederum am Beispiel von Justinus Kerner gezeigt werden. Er begriff die magischen bzw. magnetisch-sympathetischen heilweisen als Ergänzung der „rationellen Medicin“. In seiner rede vor der Versammlung der Oberamtsärzte und chirurgen zu heilbronn über die „heilung durch Sympathie“ wird seine Einstellung besonders deutlich. Zunächst beklagt er die Ignoranz der „rationellen Medicin“: „Sympathetische heilmittel haben sich durch tradition von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt, auch in Büchern bewahrt, während die rationelle Medizin sich zu vornehm denkend, sie nicht beachtete, aber doch hie und da erleben musste, daß Gebrechen, die auf ihre Weisen nicht zu heilen waren, auf die jenen sympathe-
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tischen Einwirkungen wichen.“ (Kerner 1843: 187) Er forderte die ärztlichen Kollegen dazu auf, die heilung durch Sympathie vorurteilslos zu erforschen und praktische Erfahrungen zu sammeln: „Die Zeit ist offenbar vorüber, wo man sich schämte, vom Katheder zum Volk hinabzusteigen und unter ihm Perlen für die Wissenschaft zu suchen.“ (a. a. O.: 188) „Magnetische Erscheinungen“ seien naturphänomene, „weder als ausgeburten des aberglaubens, noch als Wunder zu nehmen“. In einem historischen Exkurs referiert Kerner die verschiedenen sympathetischen heilweisen: das „anblasen“ entzündeter Körperstellen, das „magnetisierte“ Wasser, die Krankheitsübertragung (transplantatio morborum), handauflegen, sympathetische Blutstillung, Berücksichtigung des Mondeinflusses. Er betont die Bedeutung der Person des arztes, „das dieser zugleich da heilmittel seyn muß, daß also von der Kraft, die von ihm ausgeht, auch sehr das Gelingen solcher heilungen ausgeht“. So meint er schließlich „daß die nähere Erforschung und Erprobung sympathetischer heilmittel auch gewiß ein Gegenstand des rationellen arztes ist, besonders desjenigen, der so nahe beim Volke lebt, wie die hh. landärzte“ (a. a. O.: 193f.). Der wohl bekannteste deutschsprachige autor, der sich seinerzeit mit der tradition der magnetisch-sympathetischen Kuren auseinandersetzte, war der rostocker arzt Georg Friedrich Most. In seiner Enzyclopädie der gesammten Volksmedicin (1843) beklagte er das „Kastenwesen“ der deutschen Universitäten, wodurch die „haus- und Volksarzneimittel theils ignoriert, theils verachtet“ würden. „Jedes Volk, jede nation hat seine eigene [sic] Mittel und curarten. Sie wurden nach den verschiedenen Bedürfnissen mehr durch Zufall und Instinkt, mehr durch die Stimme der natur als durch nachdenken gefunden. Diesem Instinkte, als einer überaus reichen Erkenntnisquelle, verdankt die heilkunst ihren Ursprung und noch täglich einen großen teil ihrer Bereicherungen.“ (Most 1843: xI) Er plädierte in diesem Zusammenhang emphatisch für eine Kooperation der Gelehrtenmedizin mit der Volksmedizin: „arzt und Volk sollen nicht, wie zwei verschiedene indische Kasten, abgesondert leben; der Eine kann und soll vom andern lernen! Der arzt kann seine Kenntnisse durch die Volksmedicin durch die richtige anwendung der Volksarzneimittel bereichern, und der nichtarzt darf nicht in gänzlicher Unwissenheit über ärztliche Gegenstände bleiben.“ Most möchte die natürliche trennung zwischen Schule und leben in der Medizin nicht anerkennen, da er überzeugt sei, „dass aus dem leben des Volks die Schule der Medicin noch forthin viel lernen und verbessert werden könne, sobald sie nur den unnützen Ballast des todten Wissens über Bord geworfen und die Sucht, alles systematisch zu klassifizieren und zu deuten, alles mit neuem namen zu benennen, abgelegt hat.“ (a. a. O.: xx) Mosts Enzyklopädie ist eine Fundgrube von heilweisen, die teils außerhalb der Gelehrtenmedizin, teils innerhalb derselben, teils in beiden Bereichen gleichermaßen praktiziert wurden. Gerade wenn wir seine ausführlichen artikel über „Diät“ (d. h. Diätetik), „Wasser“ (d. h. hydrotherapie) oder „thierischen Magnetismus“ (d. h. Mesmerismus) betrachten, so bemerken wir wiederum, wie wenig sich umfassende Konzepte der heilkunde eindeutig entweder der Popularkultur oder der akademischen Ärzteschaft zuordnen lassen. noch ergiebiger als diese eben erwähnte Enzyklopädie ist Mosts Schrift Die sympathetischen Mittel und Curmethoden
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(1842). Die „sympathetischen Volksmittel“ wirkten dadurch, „daß sie die oft schlummernde oder zu schwache naturautokratie, d. i. den wahren arzt im Menschen selbst, von der psychischen Seite aus wecken und ihr die nöthige Kraft und Stärke geben, wodurch die heilung rascher, angenehmer und vollkommener zustande gebracht werden kann.“ (Most, 1842, S. xIII) auch in diesem Kontext plädierte Most für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den volksmedizinischen traditionen, letztlich für eine Kooperation: „Es ist bestimmt ein großer Irrthum, wenn aerzte die haus- und Volksmittel, das Fundament der gesammten practischen arzneimittellehre älterer Zeit, verachten, statt sie zu untersuchen und zu prüfen, um inne zu werden, das die gütige Mutter natur oft den ungelehrten und einfachen naturkindern: landbewohnern, hirten, Jägern, Schäfern, Schmieden etc. mit leichter Mühe, mehr durch Instinkt, als durch klare Sinnenanschauung und davon abgeleiteten Verstandesbegriffen, einen neuen und für den arzneischatz wichtigen Fund thun läßt, den wir Gelehrte nur mit großer anstrengung aus den tiefen, labyrinthischen Stollen der Schulweisheit hervorzuziehen vermögen.“ (Ebd.) In diesem Sinne versammelte Most alle möglichen sympathetischen Methoden aus allen Epochen der Medizingeschichte. Dabei diente ihm der Mesmerismus als theoretische und empirische Orientierung, was insofern nahe lag, als dessen Konzept um 1840 noch relativ unangefochten existierte (Der Begriff des hypnotismus wurde erst 1843 von James Braid als kritisches Gegenkonzept zum animalischen Magnetismus eingeführt.). Interessant ist Mosts hinweis auf die Person des arztes als heilkraft, auf dessen „heilkraft des Geistes“. Dabei bezieht er sich auf hufelands Würdigung des vertrauensvollen arzt-Patienten-Verhältnisses, das heute unter Paternalismus-Verdacht geraten würde. Es ist bemerkenswert, dass bei der magischen heilkunde nicht nur der heilmethode oder dem arzneimittel eine heilkraft zugeschrieben wird, sondern auch der Person des heilers bzw. arztes selbst. Dies finden wir bereits im Begriff der Virtus, der tugend des arztes bei Paracelsus, in Mesmers charakterisierung des Magnetiseurs als Kraftüberträger und auch bei Most, wenn dieser feststellt: „an den tagen, wo man sympathetische curen vornimmt, darf der Mensch, gleich viel Mann oder Frau, sich nicht der physischen liebe hingegeben haben. Ueberhaupt muß Jeder, der solche curen in anwendung bringt, sich völlig wohl befinden.“ (a. a. O.: 42) DIE „KrISE DEr MEDIZIn“ IM 20. JahrhUnDErt In der zweiten hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltete sich die so genannte naturwissenschaftliche Medizin im Zusammenhang mit den aufstrebenden naturwissenschaften, insbesondere der Physik, chemie und Biologie. Bakteriologie und Darwinismus wurden zu leitbildern für die medizinische theoriebildung. Der Siegeszug dieser naturwissenschaftlichen Medizin ging einher mit einem ausschluss bzw. einer abwertung bisheriger heilkonzepte: So verschwanden Begriffe wie Sympathie, lebenskraft, Magnetismus, Seele und Geist innerhalb kurzer Zeit aus der medizinischen terminologie. Medizinische Konzepte, die weiterhin mit solchen Begriffen
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arbeiteten, erschienen nun obsolet und wurden als „aberglauben“ oder „Okkultismus“ gebrandmarkt. Der Okkultismus wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der naturwissenschaftlichen Medizin zu einem Sammelbegriff für all jene ansätze und Bewegungen, die nicht auf dem Boden des herrschenden neuen Paradigmas standen. „Okkultismus“ wurde nun in der regel assoziiert mit den abergläubischen lehren, obskuren Geheimwissenschaften und Geheimgesellschaften, Mystizismus, Scharlatanerie und Kurpfuscherei, kurzum: mit einem Bereich, der mit der modernen medizinischen Wissenschaft nichts mehr gemein habe. Der Begriff Okkultismus sollte somit eine trennungslinie zwischen seriöser Wissenschaft und inakzeptablem, unwissenschaftlichem Gebaren ziehen. Es braucht nun nicht eigens hervorgehoben zu werden, dass die Volksmedizin und namentlich die magische heilkunde dem „Okkultismus“ zugerechnet wurden. allerdings machte sich im frühen 20. Jahrhundert ein Unbehagen an der naturwissenschaftlichen Medizin breit, die psychologische und soziale Dimensionen aus ihrem wissenschaftlichen Blickfeld weitgehend ausgeklammert hatte. Verstärkt durch die laien- und volksmedizinischen Impulse, die in der naturheil- und lebensreformbewegung höchst wirksame akzente setzten, kam es im frühen 20. Jahrhundert zu einer Kritik an der naturwissenschaftlichen Medizin. Diese gipfelte in der Diskussion über die „Krise der Medizin“ in den 1920er Jahren. Der ausgang des Ersten Weltkrieges und seine kulturellen Erschütterungen spielten hierbei eine besondere rolle.1 1928 veröffentliche Bernhard aschner (1883–1960), der österreichische Gynäkologe und Begründer der humoralpathologischen Konstitutionstherapie, sein programmatisches Buch Krise der Medizin. Dieser titel verweist auf ein Spannungsfeld zwischen der sog. Schulmedizin – auch als Universitäts- oder wissenschaftliche Medizin bezeichnet – und der heute sog. alternativen, komplementären, unkonventionellen Medizin – traditionell auch als Quacksalberei oder Kurpfuschertum bezeichnet. letzterer Bereich wurde damals generell dem so genannten Okkultismus zugeordnet. In seinem artikel „Konstitutionstherapie als ausweg aus der Krise der Medizin“ (1933) meinte aschner: „Es ist leicht zu behaupten, die abwanderung des Publikums zur inoffiziellen Medizin sei ein Problem, sie hänge mit Suggestion, Wunderglauben und dergleichen zusammen. Das ist Vogel-StraußPolitik. Die wahre Wunde, auf welche ich den Finger gelegt und deren heilung ich angegeben habe, [ist] nämlich die Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit der heutigen Universitätsmedizin […]. Man muss auch die zahlreichen heute inoffiziellen richtungen auf ihren guten Kern hin untersuchen und das Gute übernehmen […] ganz anders [als die Universitätskliniker] stellen sich die praktischen aerzte dazu ein. Sie greifen begierig und wie ausgehungert nach allem, was ihre heilresultate verbessern kann, und tun es, wenn sie überhaupt erst einmal soweit sind, mit überraschendem Erfolg.“ (Zit. n. Schott 2000: S. 78) In solch einer Stellungnahme drückte sich das Unbehagen an und in einer naturwissenschaftlichen Medizin aus, welche sich auf ein reduktionistisches Menschenbild stützte und traditionelle heilweisen ausklammerte. 1
auf die Entwicklung der Freudschen Psychoanalyse soll hier nicht näher eingegangen werden. Man kann die Psychoanalyse als letzten ausläufer der magischen heilkunde verstehen, insbesondere wenn man den Begriff des Unbewussten berücksichtigt.
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Eine reihe von mehr oder weniger bekannten autoren meldete sich in jener Epoche zu Wort, um die postulierte Unzulänglichkeit der naturwissenschaftlichen Medizin zu kritisieren. Ihnen ging es jedoch, ähnlich wie Freud, nicht um eine reMystifizierung, eine Übertragung magischer, okkulter heilpraktiken z. B. in die aktuelle Schulmedizin, als vielmehr um die Frage, wie diese ein verlorenes terrain wissenschaftlich seriös wiedergewinnen könne. Ich nenne hier nur so unterschiedliche autoren wie Eugen Bleuler, august Bier, Erwin liek, Viktor von Weizsäcker (1886–1957). So meinte Erwin liek in seinem bekannten Buch Der Arzt und seine Sendung – Gedanken eines Ketzers (1926): „Der Kranke sucht im arzt die Persönlichkeit, den Seltenheitswert, heute noch, kann man sagen, den Zauberer. auf Zauber ist ein großer teil unserer heilerfolge, selbst in der chirurgie zurückzuführen.“ (liek 1926: 106) Der Diskurs über diesen Zauber-Faktor der Medizin, den sog. Placebo-Effekt, wie er ab der Mitte des 20. Jahrhunderts genannt wurde, durchzieht die Kritik der naturwissenschaftlichen Medizin bzw. Biomedizin bis heute. Die reduktion der Medizin auf ihre naturwissenschaftlich-organische Grundlage wird also begleitet von einer Forderung nach ihrer psychologisch-geistigen Ergänzung. So schlug Erwin liek z. B. die rückkehr zum „Priesterarzt“ vor, bekämpfte als Ursache der Krise der Medizin energisch das Sozialversicherungssystem, das angeblich die Verweichlichung des Volkes und das Simulantentum fördere und die Ärzte zur Massenabfertigung von Patienten zwinge. Zugleich forderte er ein Wiederaufleben der Volksmedizin und der naturheilkunde. Wie sehr Okkultismus und völkisch-nationale ansätze zusammenpassten, insbesondere durch eine bestimmte Indienstnahme naturphilosophischer traditionen, zeigt die sog. „neue Deutsche heilkunde“, wie sie im nS-Staat – freilich auch hier nicht auf Dauer erfolgreich – installiert wurde (Karrasch 1998). Ich möchte hier nicht näher auf die Verhältnisse im nationalsozialismus eingehen. Eines scheint jedoch klar: Obwohl die nS-Ideologie das Völkische ins Zentrum des kulturhistorischen Selbstverständnisses gerückt hatte und auch in der Medizin die Volksheilkunde gepriesen und Paracelsus zum „ur-deutschen“ arzt stilisiert wurde, folgte die Medizin der naturwissenschaftlichen bzw. biologischen (biologistischen) Begründung und rassenhygienischen ausrichtung. Dem nS-Staat ging es in erster linie um eine effiziente Gesundheitskontrolle der Volksgenossen, ihre physiologische leistungsmaximierung und die präventiv-medizinische ausschaltung von Infektionskrankheiten sowie politische Instrumentalisierung der Medizin für die Beseitigung der sogenannten „Volksschädlinge“.romantische anwandlungen im Sinne der magischen heilkunde hatten allenfalls dekorativen charakter. Demgegenüber gab es seit der romantik vereinzelt ernsthafte Versuche, durch eine historische aufarbeitung der „magischen heilkunde“, die im 20. Jahrhundert generell unter Okkultismus-Verdacht geriet, eine kritische Selbstreflexion der naturwissenschaftlichen Medizin einzuleiten. In dieser Perspektive erschienen die heilpraktiken der Volksmedizin, laienmedizin oder esoterische Medizin nicht als „Firlefanz“, sondern als heilrituale, die tatsächlich Wirkungen entfalten könnten. Diese Einstellung war von einer gewissen wissenschaftlichen neugierde geprägt und kannte keine Berührungsängste. Ich möchte hier vor allem auf Eugen Bleulers
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bekannte Schrift Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung (1922) verweisen, in welcher es heißt: „Warum konnte der Pfuscher durch Suggestion soviel ausrichten, lange bevor es die Mehrzahl der Ärzte vermochte, und warum kann er jetzt noch seine ganze Praxis darauf gründen? Weil er eben ein geborener Psychologe ist, und weil die gelehrte Medizin die Psychologie verschmäht und sich aktiv vom leibe gehalten hat […] und die Moral dieser Blamage der Medizin ist eben die: Wir sollen den Pfuscher nicht fürchten und nicht hassen und auch nicht unsere augen vor ihm schließen, sondern wir sollen ihn studieren, so wie der naturforscher die Wolfsmilch und die rose erforscht, und wir sollen von ihm lernen, teils wie man es machen könnte, teils wie man es nicht machen soll.“ (Bleuler 1922: 150f.) In neo-romantischem ton schrieb der Medizinhistoriker richard Koch in seinem Buch Der Zauber der Heilquellen (1933) über die wunderbare Wirkung des „Magischen“ der Quellen als einem Prinzip der heilkunde schlechthin. Er betonte, „dass es in der Medizin nicht nur eine Magie der Mineralquellen gibt, dass alle Medizin heute noch von magischen Kräften unterströmt ist, wie das immer so war.“ (Koch 1933: 71) aUSBlIcK: MaGIE In DEr MODErnEn MEDIZIn? Wenn wir die heutige Biomedizin und ihre molekulare Grundlage betrachten, so scheinen wir mit einer wissenschaftlichen Medizin konfrontiert zu sein, welche magische heilkunde und Okkultismus erklärtermaßen endgültig überwunden hat. Es ist an der Zeit, hier kritisch nachzufragen: Inwieweit stecken in der modernen Biomedizin und ihren apparaturen und techniken nicht doch verborgene magische Momente? Ja, kann die Medizin überhaupt auf solche Momente verzichten, wenn sie Patienten behandeln will? Ich muss gestehen, dass mich diese Fragestellung stärker fasziniert als z. B. ethnomedizinische Studien zum Schamanismus. Es geht um eine kritische auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Biomedizin, die weitgehend ihre eigenen wissenschafts- und kulturhistorischen Voraussetzungen ausgeblendet hat. Wir sollten „Magie und Zauber in der modernen Medizin“ (Jores 1955) systematisch erforschen, nicht jenseits der wissenschaftlichen Medizin, sondern mitten in ihrem klinischen alltagsleben. Die Suggestion als heilfaktor, wie sie Bernheim in den 1880er Jahren definierte, der sog. Placebo-Effekt, die „Droge arzt“ (Balint) – dieses schwer fassbare Moment jeder ärztlichen therapie ist nach wie vor weitgehend rätselhaft. Die historische Betrachtung der magischen heilkunde diesseits und jenseits der Gelehrtenmedizin kann uns vor allem Eines lehren: Das arzt-Patienten-Verhältnis ist für den heilerfolg entscheidend und die Person des arztes oder heilers kann diesen Erfolg fördern oder blockieren. Eine wissenschaftliche reflexion dieses tatbestandes wäre durch eine neu einzuführende medizinische anthropologie (medical anthropology) zu leisten, von der wir noch weit entfernt sind. Die diesbezüglichen Defizite in der ärztlichen ausbildung, denken wir an die Unterrichtsfächer wie Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie oder Psychosomatik, sind evident. So möchte ich mit Viktor von Weizsäcker, dem Promotor einer medizinischen
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anthropologie, schließen, der davon überzeugt war, dass auch inmitten der naturwissenschaftlichen Medizin traditionelle magische bzw. dämonische ansätze verborgen seien: „Unbewusster ist die tatsache, dass gerade hier, wo die natur unabänderlich objektiviert, materialisiert, mechanisiert, funktionalisiert und entlebendigt schien, sich die Dämonen nur als verdrängt aus dem Bewusstsein, in Wirklichkeit aber wirksam in neuer Form erhalten haben. […] Die anerkennung einer magisch-dämonischen natur erfasst hier also nicht einen Bereich neben, unter, hinter oder über der naturwissenschaftlich erforschten natur, sondern geradezu diese selbst.“ (Weizsäcker, GS 9: 574) In der Pathosophie (1956), seinem bislang weithin unverstandenen alterswerk, hob Weizsäcker die aktualität der (scheinbar) vergangenen Magie für die gegenwärtige Medizin hervor. Er wolle „bestimmte aschenbrödel der modernen Wissenschaft wieder zu Ehren bringen, nämlich Mystik, Magie, Mythos, Psyche, Dämon. Wir werden nicht verlangen zu glauben, daß ein Blitzstrahl, der eine adelsburg in Brand setzt, vom heiligen antonius gesandt sei […]; wir werden auch nicht empfehlen, ein typhusepidemie mit dem Schleim von Kröten oder ein carcinom mit Gebeten zu heilen. aber wir werden auch nicht übersehen oder verkennen, daß jeder moderne Mensch angefärbt ist von magischen, mythischen und mystischen Färbungen, daß also irgendeine magisch-mythische Welt koexistent mit der rationalhumanen, rational-diesseitigen Welt geblieben ist – trotz naturwissenschaft, aufklärung und Geschichtsforschung.“ (Weizsäcker, GS 10: 188) lItEratUrVErZEIchnIS aschner, Bernhard (1928) Die Krise der Medizin. Konstitutionstherapie als ausweg (Stuttgart: hippokrates). Bleuler, Eugen (1922) Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung. 3. aufl. (Berlin: Springer). curtius, Ernst robert (1928) ‚Zur literaturästhetik des Mittelalters‘, Zeitschrift für romanische Philologie 38: 129–232. Florey, Ernst (1995) ars magnetica. Franz anton Mesmer 1734 – 1815, Magier vom Bodensee (Konstanz: Univ.-Verl.). Fludd, robert (1617) Utriusque cosmi majoris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica historia in duo volumina secundum cosmi differentiam divisa. tomus primus de macrocosmi historia in duos tractatus divisa […] (Oppenheim: de Bry). Gehrts, h. (1982) ‚Der Oberamtsarzt unter Verdacht. Eine Veröffentlichung aus den akten des Medizinalkollegiums‘, in Margot Buchholz & h. Froeschle (hg.) Beiträge zur schwäbischen literatur- und Geistesgeschichte (Weinsberg: Justinus-Kerner-Verein und Frauenverein) 2: S. 44 – 60. handwörterbuch = handwörterbuch des deutschen aberglaubens (1927–1942), hg. von hanns Bächtold-Stäubli, 10 Bde (Berlin; leipzig: de Gruyter). [helmont; J. B. van =] christian Knorr von rosenroth (1683) aufgang der artzney-Kunst (Sulzbach: Endter, holst). Jong, h. M. E. de (1966) Michael Maier’s atalanta Fugiens. Sources of an alchemical book of emblems (leiden: Brill Janus, Suppléments, vol. 8). Jores, arthur (1955) ‚Magie und Zauber in der modernen Medizin‘, Deutsche Medizinische Wochenschrift 80: 1915–20.
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VErZEIchnIS DEr aBBIlDUnGEn abb. 1 Göttliche Offenbarungen der hildegard von Bingen, Miniatur. Quelle: Schipperges 1996: 154 §). abb. 2 Maria auf der Mondsichel (1511), albrecht Dürer, holzschnitt, titelblatt der Folge: „Das Marienleben“. abb. 3 Integrae naturae speculum artisque imago, Emblem, in: robert Fludd (1617) Utriusque cosmi majoris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica historia in duo volumina secundum cosmi differentiam divisa. tomus primus de macrocosmi historia in duos tractatus divisa […] (Oppenheim: de Bry). abb. 4 natur, Matthäus Merian d. Ä., holzstich in: Michael Maier (1618) atalanta fugiens (Frankfurt a. M.). abb.5. natur und alchemist, Jean Perréal, Frontispiz zu „la complainte de nature à l’alchimiste errant“ (1516).
KranKhEIt alS StIGMa – MEtaPhErn UnD MOral aM BEISPIEl SExUEll ÜBErtraGBarEr KranKhEItEn Gisela Badura-Lotter1 1. EInlEItUnG Die sozialen und ethischen Dimensionen von Krankheit, insofern es um die statusverleihende Funktion der anerkennung der Betroffenen „als Kranke“ geht, sind vielschichtig, zeit- und kulturabhängig und für jede Krankheit (oder Krankheitsgruppe) potentiell unterschiedlich. Die anerkennung als Kranker entlastet in vielen, wenn nicht gar den meisten, Fällen von Pflichten oder Verantwortlichkeiten, die zu erfüllen durch die Krankheit erschwert oder unmöglich wurde. Die Betroffenen werden von ‚normalen‘ Erwartungshaltungen und ansprüchen befreit, dabei wird Ihnen ein erweiterter Schutzraum zugesprochen – sie müssen z. B. nicht zur arbeit und haben anspruch auf besondere Fürsorge. Ihr (temporäres) anderssein bekommt – häufig – eine rationale legitimation, die sie von jeglicher Schuld bezüglich der nicht erbrachten leistungen freispricht.2 In diesem artikel soll es jedoch um die andere, häufig vernachlässigte Dimension des statusverleihenden Effekts von Krankheit gehen: den der Stigmatisierung und ausgrenzung. Stigmatisierung und ausgrenzung benötigt Kriterien, die es ermöglichen, eine Person als anders zu kennzeichnen. Krankheit kann ein solches Kriterium sein. Das Pathologische stellt eine der vielen möglichen Gegenkategorien zum ‚normalen‘ dar. Ein Verständnis von Krankheit und Gesundheit kann, folgt man George canguilhems’ zentraler these in seinem einflussreichen Werk ‚le normal et le pathologique‘3, nur angemessen als ein Diskurs über normalität, normen und Werte erreicht werden (canguilhem 2005). Die sogenannten Geschlechtskrankheiten sind, neben psychischen Störungen, wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie vielgestaltig 1 2
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Die wesentlichen Gedanken dieses aufsatzes sind erschienen unter: Badura-lotter (2012). In abgrenzung zu Parsons charakterisierung der Krankenrolle, die im Wesentlichen eine vierteilige Funktionsgliederung vornimmt (Pflichtenbefreiung, keine Schuldzuschreibung, Pflicht zur aktiven Wiederherstellung der Gesundheit und Pflicht zur Inanspruchnahme professioneller hilfe), soll in diesem aufsatz ein Bereich hervorgehoben werden, in dem sehr wohl eine Schuldzuschreibung bzgl. der Entstehung der Krankheit an den Kranken stattfindet, was gravierende auswirkungen auf seinen sozialen Status haben kann, da er – um in Parsons strukturfunktionalistischem Modell zu bleiben – in diesem Moment eben nicht mehr die Voraussetzung zur vollumfänglichen anerkennung seiner rolle erhält und die Funktion des Kranken dann auch im weiteren nicht ausfüllen kann (Parsons 1951). ‚le normale et le pathologique‘ wurde 1943 als Doktorarbeit akzeptiert, das Buch später reeditiert und vielfach aufgelegt und übersetzt.
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Krankheiten und Kranke im Geflecht der Zuschreibungen von normal – unnormal (verschärft: abartig), eigen und fremd, Freund – Feind eingewoben sind. Dabei ist klar: das krankheitsbedingte leid entsteht zu einem wesentlichen teil durch eben jene Veränderungen im sozialen und moralischen Status, die durch die Krankheit verursacht werden. Ohne die Berücksichtigung dieser ‚nebeneffekte‘, so die these, können Krankheiten nicht angemessen behandelt werden, das mit ihnen verbundene leid wird nicht nachhaltig gemildert. als Beispiel sollen in diesem aufsatz sexuell übertragbare Krankheiten, insbesondere aIDS herangezogen werden. Die nachfolgenden reflektionen über Metaphern und realitäten im Kontext sexuell übertragbarer Krankheiten sollen als anregung dienen, auch in Bezug auf weniger ‚auffällige‘ Krankheiten über diese im medizinischen Kontext eher verborgenen Seiten von Krankheit und Kranksein nachzudenken.4 2. SExUEll ÜBErtraGBarE KranKhEItEn Sexuell übertragbare Krankheiten sind ein Knotenpunkt für viele normativ geprägte Felder: Gesundheit, natur, Moral und andere. Das enorme politische Potential der Debatten über Geschlechtskrankheiten liegt unter anderem in der verführerischen Möglichkeit, die verschiedenen hier zusammenlaufenden Konzepte von normalität zu vermischen bzw. nicht deutlich auszuweisen, worüber man gerade spricht: über ‚normales‘ Sexualverhalten in biologischer, politischer, moralischer oder epidemiologischer hinsicht, über Krankheit oder über die conditio humana allgemein. Die besondere Bedeutung von Metaphern in der Kommunikation von unterschwellig in anschlag gebrachten nomen und Werturteilen im Kontext von Krankheit und Gesundheit wurde eindrucksvoll von Susan Sonntag in ihren aufsätzen „Illness as metaphor“ und „aIDS and its metaphors“ dargelegt (Sontag 1991). Sie zeigt, dass im scharfen Gegensatz zu einem rein körperbasierten oder wissenschaftlichen Verständnis, unsere haltungen gegenüber Krankheiten, insbesondere gegenüber Geschlechtskrankheiten, hochgradig von Mythen und Metaphern geprägt sind, die nicht nur unsere früheren sondern auch unsere aktuellen Verständnisse der Krankheiten, ihr ‚Image‘, prägen. Menschen, die wissen, dass sie eine sexuell übertragbare Krankheit haben, leiden an der weitgehenden tabuisierung, der immensen moralischen und metaphorischen Überfrachtung ihrer Krankheit und der daran ge-
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Die assoziation von Krankheit und Stigma ist spätestens seit Erving Goffmans’ einflussreichen Studien zur Entstehung, Bedeutung und Bewältigung von Stigma fester Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Forschung (Goffman 1963). Wesentliche Impulse aus der sog. labelingtheorie, insbesondere von thomas Scheff in Bezug auf psychische Störungen weiter entwickelt, erweiterten die sozialwissenschaftlichen Methoden der Stigmaforschung (s. z. B. link et al. 1989). aIDS und andere sexuell übertragbare Krankheiten sind für die Stigmaforschung insbesondere interessant, da mehrere stigmatisierende Merkmale vereint sind – physische (Krankheit) und charakterliche/moralische abweichung (homosexualität), Minderheiten und Kriminalität (Drogenkonsum). Entsprechend zahlreich sind Studien zu Stigma und aIDS (s. z. B. Stürmer und Salewksi 2009; Mahajan et al. 2008)
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bundenen Stigmatisierung, Diskriminierung und ausgrenzung die – auch heute, auch in Europa – existentielle ausmaße annehmen können.5 Die Folgenden, an Susan Sontags’ Essays angelehnten Überlegungen, sollen ein Bild der dominantesten Metaphern und tabus sowie ihrer Bedeutung für die heutige soziale und medizinische Praxis mit ihren jeweiligen ethischen Problemen zeichnen. Mit canguilhems’ Konzept des normalen und Pathologischen als unterliegendem Differenzkriterium, soll darin die komplexe Genese von Stigmata und deren Folgen für betroffene Personen, Versorgungskonzepte und Forschungsansätze sichtbar werden. Vielleicht wird dadurch verständlicher, warum es nachwievor so schwer ist, wirksame Strategien zu entwickeln und umzusetzen, die das leiden der von diesen Krankheiten Betroffenen oder Bedrohten mindern oder beseitigen können. 3. WIchtIGE MEtaPhErn 3.1 Krieg Eine der dominantesten und am intensivsten analysierten Metaphern in Bezug auf Krankheit ist die des Krieges, dies gilt insbesondere in Bezug auf Infektionskrankheiten (s. z. B. hänseler 2009; Schiefer 2006).6 Krankheiten werden bekämpft, wir sprechen über abwehr, über die Invasion gefährlicher Viren oder Bakterien in den Körper – der wiederum als Metapher für die Gesellschaft oder den Staat dienen kann. Die Kriegsmetaphorik wird auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen verwendet, mit dem Effekt, eine art notstandssituation zu bestätigen oder auszurufen, die ihrerseits wiederum sowohl eine außergewöhnliche Mobilisierung von ressourcen als auch dramatische politische Prioritätenwechsel legitimieren soll.7 Es würde jedoch zu kurz greifen, die allgegenwärtige Kriegsrhetorik lediglich als bewusst eingesetztes Mittel zur Beschaffung von Fördergeldern für Forschung und Gesundheitsversorgung anzusehen. Wie Susan Sontag betont: „the metaphor implements the way particularly dreaded diseases are envisaged as an alien ‚other‘, as enemies are in modern war; and the move from the demonization of the illness to the attribution of fault to the patient is an inevitable one, no matter if patients are thought of as victims.“ (Sontag 1991: 97). Diese generelle Überlegung ist insbesondere für den Bereich der sexuell übertragbaren Krankheiten einschlägig, denn die militärischen Metaphern tragen nicht nur zum Stigma der Krankheiten als ‚Entitäten‘ bei, sondern auch zur Stigmatisierung der mit diesen Krankheiten identifizierten Personen: sie werden nicht nur zu trägern gefährlicher, die Gesellschaft als 5 6 7
Zu Krankheit und tabu s. z. B. lomas (1969). So titelte der Wissenschaftsnachrichtendienst wissenschaft.de am 22.5.2012: „attacke mit Injektionsnadeln – Forscher machen die Struktur bakterieller Waffen sichtbar“ http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/315545.html. auch der ‚Drogenkrieg‘ legitimiert besondere Maßnahmen gegen ein angeblich volksschädigendes Faktum. In diesem ‚Krieg‘ sind auch träger von Krankheiten wie aIDS eine spezielle Zielgruppe.
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Ganze bedrohender Erreger, sie werden selbst zur Bedrohung.8 Dies trifft bis heute insbesondere träger des hI-Virus, da die Krankheit immer noch potentiell tödlich verläuft – auch in regionen, in denen Medikamente zugänglich sind. In den Medien werden aIDS, aber auch Personen und Gruppen wie hIV-träger, bestimmte soziale Gruppen, Orte oder ganze nationen immer wieder mit starken Metaphern als Bedrohung gekennzeichnet – tickende Zeitbombe ist eine solche, gerne verwendete Metapher (nicholas 2008).9 In der Debatte über hIV wurde die Krankheit, wie schon andere Geschlechtskrankheiten zuvor (z. B. Syphilis), zur ‚skandalisierten Krankheit‘. Die beschriebenen Stigmatisierungsmechanismen führten im Fall von aIDS in den späten 1980er Jahren dazu, dass Infizierte oder möglicherweise Infizierte von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden und nachwievor werden. Im militärischen Diskurs wird über die spezifischen Konzeptualisierungen des anderen im Gegenzug das Eigene bestätigt und gestärkt – der Freund, der Mitbürger oder der Gesunde. Diese Zuschreibungen definieren nicht nur den rahmen der normalität sondern auch den des Guten. Die von einer sexuellen Krankheit betroffenen sind „schädlich“ für die eigene Gesellschaft – sie werden als Feinde identifiziert (im Fall der Syphilis) oder als gefährliche andere (aIDS). Mit dieser Strategie der staatlichen Bedrohungsszenarien erscheinen drastische politische Maßnahmen auf den ersten Blick plausibel. Dies ist deutlich zu beobachten im Diskurs über hIV und aIDS. Unglücklicherweise ließen sich die Symptome dieser Immunschwäche recht schnell – und lange vor der Entschlüsselung der Ätiologie und der Entwicklung erster therapien – mit Personen in Zusammenhang bringen, die ohnehin schon zu den sogenannten randgruppen der westlichen Gesellschaften zählten: homosexuelle, Drogenkonsumenten, Immigranten10, Schwarze. Dass diese Gruppen jetzt noch das label ‚hochrisikogruppe‘ bekamen, verschärfte noch die Bemühungen, sie aus der Gruppe der ‚normalen‘ Bürger, dem Wir-Pool, auszuschließen. So forderte in der Zeit der ersten großen aIDS-Panik z. B. der damalige US amerikanische Präsident ronald reagan einen verpflichtenden aIDS-test für alle ausländer die einen Einreiseantrag in die USa gestellt hatten (s. Gray 1988). Die ersten Ideen, wie man dieser nationalen Bedrohung zu begegnen habe, reichten von der Einrichtung von Konzentrati8 9
Siehe beispielhaft zur Geschichte der Bakteriologie Goschler (2002) und Sarasin et al. (2007). Siehe z. B.: http://www.thezimbabwean.co.uk/news/35203/prisons-ticking-time-bomb-for-hivpositive-inmates.html, hier wird allerdings interessanterweise das Gefängnis als Zeitbombe für hIV infizierte Gefangene bezeichnet. http://edinburghnews.scotsman.com/hivandaids/city39s-ticking-timebomb-of-100.6558410.jp, letzter Zugriff 19.4.2012. 10 Die assoziation mit Immigranten bestimmter herkunftsländer ist durchaus noch präsent und wird von entsprechend ausgerichteten Medien immer noch strapaziert. So titelte die tageszeitung BIlD am 23.12.2006:“ Ein Opfer des aIDS-afrikaners spricht“. In ihrer online ausgabe Bild.de vom 11.1.2007 wird derselbe Mann als ‚unheimlicher aIDS-Mann‘ bezeichnet. Die britische Daily Mail vom 8. november 2008, titelte „hIV illegal immigrant may have infected more than 400 women“ es ging im weiteren um eine detaillierte Beschreibung eines aus Jamaica stammenden Immigranten, der nicht nur mehrere „britische“ Frauen sondern auch Insassen einer psychiatrischen anstalt infiziert haben sollte. Diese Verbindung erscheint nicht ganz zufällig, s. zur Beziehung zwischen Geschlechtskrankheit und psychischen Krankheiten weiter unten.
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onslagern und lebenslanger Quarantäne bis hin zur zwangsweisen tätowierung von positiv getesteten – um potentielle Geschlechtspartner zu warnen (Gray 1988).11 regierungen waren durch die Geschichte hindurch meist geneigt, Epidemien mit drastischen Maßnahmen zu begegnen: aussonderung, lebenslange Quarantäne und auch tötung von gefährlichen Kranken (Gerabek et al. 2007; Gray 1988). Dass diese sehr drastischen Maßnahmen in vielen ländern heute nicht mehr so ohne weiteres umgesetzt werden können, soll nicht darüber hinweg täuschen, dass Personen mit (vermutet oder tatsächlich) ansteckenden Krankheiten auch heute noch als Bedrohung wahrgenommen werden. Sobald es sich dann noch um tödliche, entstellende oder anderweitig als gravierend empfundene Krankheiten handelt, die das Potential haben, große Epidemien auszulösen, ist uns der reflexhafte Gedanke an aussperrung durchaus vertraut. Konkrete realisierungsvorschläge in dieser richtung können jedoch heute, insbesondere in Deutschland, kaum mehr kritiklos öffentlich ausgesprochen werden. Dennoch werden Menschen, die einem hoch-medialisierten ‚Krieg‘ oder ‚Kampf‘ gegen ihre Krankheit ausgesetzt sind, nicht nur von anderen als Gefährdung betrachtet, sie können auch dazu gebracht werden, sich selbst so wahrzunehmen. Je drastischer die Bedrohungsszenarien, desto größer die last – im Fall von aIDS spricht man sogar von einer „globalen Bedrohung“, einem Feind der Menschheit. Eine direkte praktische auswirkung dieser öffentlichen Meinungsbildung ist, dass Betroffene häufig ihre Krankheit vor ihrem sozialen Umfeld verstecken und sich nicht behandeln lassen – anstatt umfassende hilfe zu suchen. Diese Geheimhaltung ist nach wie vor eines der größten Probleme in der Behandlung von Geschlechtskrankheiten, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Fielden et al. 2011). 3.2 Verschmutzung und das heilige Die Wahrnehmung von Kranken (und Krankheiten) als anders, fremd oder feindlich wird noch verstärkt durch eine ebenfalls alte assoziation: die des Unreinen oder Beschmutzten. Personen, die das attribut des Unreinen erhalten, haben keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Die anthropologin Mary Douglas hat in ihren arbeiten die these aufgestellt, dass in traditionellen Gesellschaften Krankheit als etwas Unreines gilt, dessen Erscheinen häufig als das resultat moralischen Fehlverhaltens gedeutet wurde (Douglas 1966, 1975). Der zuvor ‚heilige‘ oder ‚reine‘ Status der Person ist dadurch zerstört, sie selbst wird zugleich zu einer nicht-kategorisierbaren Entität, die andere moralisch wie physisch beschmutzen kann. Der Betroffene wird ‚unberührbar‘. Jonathan Elford fragte 1987, angesichts chaotischer und hysterischer reaktionen auf die gerade massiv ins öffentliche Bewusstsein rückende ‚Seuche aIDS‘, ob in einer chaotischen Situation scheinbar größter Bedro11 In Deutschland sorgte 1987 insbesondere der cDU-Politiker Peter Gauweiler mit einer bayrischen Bundesratsinitiative, die drastische Maßnahmen zur Erfassung und Behandlung hIVInfizierter forderte, für Schlagzeilen (Spiegel nr. 22 1987, titelgeschichte; Die Zeit 02. Oktober 1987, Susanne Mayer).
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hung, Menschen solche archaischen Kulturmuster wieder reaktivieren und entsprechende ‚Gesundheitsrituale‘ entwickeln (z. B. das andauernde, fast meditativ anmutende Besprechen möglicher ansteckung durch bloßen Körperkontakt). Personen, die mit einem Virus, Bakterium oder einer anderen als mysteriös erlebten Entität ‚kontaminiert‘ sind, werden nicht berührt, man spricht nicht mit ihnen oder über sie und schaut sie am besten nicht einmal an. Elford mutmaßt, dass, solange keine medizinische Erklärung und keine therapie zur hand sind, Menschen auf dieses alte Wissen über das heilige und das Profane zurückgreifen und ihre eigene ‚Gesundheitsvorsorge‘ entwickeln, die unter Umständen einer wissenschaftlich-medizinischen aufklärung und Prophylaxe im Wege stehen kann (Elford 1987). auf den ersten Blick scheinen solche vormodernen Modelle heute nicht mehr relevant zu sein, wenn es um die Wahrnehmung und die daran gebundene Versorgung kranker Menschen geht. Einige Studien der letzten Jahre zeigten aber durchaus, dass sogar nach 20 Jahren intensiver Forschung, Kommunikation und gezielter Gesundheitspolitik in den meisten ländern der Welt, das Wissen um die Entstehung und Übertragung z. B. von hIV oder Syphilis sehr unterschiedlich ist und nicht nur von land und tradition abhängig ist, sondern auch von anderen sozialen Faktoren. traditionelle Verständnisse in Bezug auf diese Krankheiten sind durchaus auffindbar und gesundheitspolitisch relevant. Von dem jeweiligen Wissen und Verständnis hängt elementar ab, welche Maßnahmen zur Vermeidung oder heilung der Krankheiten eingesetzt werden.12 Dass Menschen sich von naturwissenschaftlich-medizinischen ansätzen abwenden oder sie gar nicht zur Kenntnis nehmen, scheint sehr vielfältige Ursachen haben zu können: es sind nicht nur die bekannten Einflussfaktoren wie ethnischer Kontext oder sozio-ökonomische Stellung, sondern auch die tatsache, dass z. B. homosexuelle Jugendliche nur ausgesprochen selten eine adäquate sexuelle aufklärung erhalten (Beltran et al. 2011; Kubicek et al. 2008; Kuznetsov et al. 2011). Darüber hinaus scheinen Mythen und Fehlvorstellungen auch jenseits verfügbaren wissenschaftlichen Wissens fortzubestehen (Bogart et al. 2011). Ein Effekt dieser Krankheitsvorstellungen ist, dass Menschen sich ‚kontaminiert‘ oder ‚unrein‘ fühlen. Sie erleben, dass sie außerhalb der ‚normalen‘ Gesellschaft stehen und befürchten, häufig nicht zu Unrecht, aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. So lässt sich also auch über diesen Gedankengang partiell erklären, warum viele Menschen ihre Krankheit verschweigen oder verstecken bzw. lieber gar nicht von ihr erfahren wollen. Es sollte auch an dieser Stelle deutlich werden, dass in einer solchen Situation rein wissenschaftlich orientierte ansätze zur Prävention und Behandlung von manchen Krankheiten, wie z. B. Geschlechtskrankheiten, nie zu 100% erfolgreich sein können. auch scheinbar irrationale Verhaltensweisen im Umgang mit Krankheit müssen als Faktum anerkannt werden – sie zeigen uns die Grenzen der wissenschaftlichen Weltwahrnehmung auf und sollten anlass sein, nicht ausschließlich auf die Verbesserung der ‚aufklärung‘ zu setzen, sondern auch nach Wegen zu suchen, die lücken (oder Gräben) zwischen den 12 legen wir die Idee des heiligen versus Profanen/Beschmutzen zugrunde, wird es z. B. nachvollziehbar, warum der Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau in einigen regionen als therapie (der reinigung) praktiziert wird, oder spirituelle reinigung gesucht wird.
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bestehenden Paradigmen zu finden und sie zu überbrücken. Damit ist insbesondere gemeint, Konflikte und Vorurteile dort zu adressieren, wo sie verortet sind – also z. B. religiöse Motive mit religiösen argumenten zu beantworten, und nicht darauf zu vertrauen, dass naturwissenschaftliche Vorstellungen immer die schlagkräftigeren seien. 2.3 Sexualität Die bisher erwähnten Faktoren, die zur Stigmatisierung und Diskriminierung von Krankheit und Kranken führen können, werden im Fall sexuell übertragbarer Krankheiten noch durch ein starkes und altes tabu verschärft. Das menschliche Sexualverhalten wird in den meisten Kulturen der Welt durch meist rigide soziale normen gelenkt und durch vielfältige Instanzen kontrolliert. Die oben in Bezug auf Krankheit erläuterten Metaphern rein, heilig oder schmutzig, gelten selbstverständlich in besonderem Maße auch für die (insbesondere weibliche) Sexualität. Das auftreten sexuell übertragbarer Krankheiten stärkt, z. B. in ländern, in denen durchaus unterschiedliche auffassungen über das ‚richtige‘ Sexualverhalten erlaubt und gelebt werden, in der regel die Position derer, die Monogamie und abstinenz als die einzigen ‚normalen‘ und daher erwünschten sexuellen lebensvollzüge ansehen. Diese haltung kann zur Konsequenz haben, dass soziale und politische Entscheidungsträger häufig davor zurückschrecken, prophylaktische Maßnahmen wie z. B. ‚safer Sex‘ (oder auch Impfungen gegen Gebärmutterhalskrebs, s. u.) zu unterstützen. Sie befürchten, als Befürworter von Promiskuität und damit ‚Unmoral‘ angesehen zu werden. Die monogame Ehe darf in ihrem (heiligen) Status nicht durch die Verteilung von Kondomen etc. insbesondere an Jugendliche relativiert werden. Ein solcher Effekt ließ sich beispielsweise während der amtszeit von US Präsident ronald reagan beobachten, der die Finanzierung einer der ersten wissenschaftlichen Broschüren über aIDS und Methoden zu dessen Verhütung aus öffentlichen Mitteln verweigerte, da die offizielle linie die sexuelle Enthaltsamkeit ins Zentrum stellte (Gray 1988). heute, knapp dreißig Jahre später, ist eine solche haltung nicht mehr ohne weiteres im politischen mainstream populär zu platzieren (u. a. da sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe als ‚normalverhalten‘ öffentlich anerkannt sind). Stattdessen sehen wir im öffentlichen Diskurs vornehmlich medizinische Gründe für die regulierung des Sexualverhaltens. Die argumentation wird medikalisiert und konsequenzen-orientiert, fokussiert aber im Grunde auf das gleiche Sexualverhalten. Diese Vermischung von moralischen mit scheinbar neutralen medizinischen Diskursen wird in einer editorischen Stellungnahme im 1993 erschienenen australian and new Zealand Journal of Obstetrics and Gynecology zu einer Studie über genitale chlamydieninfektionen anschaulich auf den Punkt gebracht: „regardless of moral considerations, a life-long unshared partnership looks a better proposition than ever before.“ (Editorial 1993). Diese eher unverhohlene aussage provozierte eine hitzige Debatte in der vor allem die oben beschriebenen negativen auswirkungen ‚konservativer‘ politischer Maßgaben auf die offene, ‚ra-
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tionale‘ Diskussion und damit die Praxis der Prophylaxe und therapie von sexuell übertragbaren Krankheiten kritisch konstatiert wurde (nielsen und Donovan 1993). allerdings sind auch unter Wissenschaftlern die Meinungen darüber nicht ungeteilt, inwiefern moralische anschauungen und medizinische notwendigkeiten ineinandergreifen können bzw. dürfen. In einer Studie über die sexuellen aktivitäten afrikanisch-stämmiger amerikaner – die als ‚hochrisikogruppe‘ für aids und andere sexuell übertragbare Krankheiten gelten – fanden Doherty und Kollegen soziale netzwerke mit sehr ungleichem Sexualverhalten vor, die insbesondere schwarze Frauen einer hohen Gefahr aussetzten, auf heterosexuellem Weg mit hIV infiziert zu werden (Doherty et al. 2009). Und obwohl die autoren durchaus einige der vielen Gründe für die Vulnerabilität der von ihnen identifizierten Gruppe auflisten, kommen sie zu einem überraschend einfachen Schluss bezüglich der sozialen Implikationen ihrer Studie: „hIV prevention strategies in the US should extend beyond individual-level interventions to include policies concerning income support, education, and sentencing inequity and other criminal justice issues to foster long-term monogamous sexual relationships, which are the bulwark13 against transmission of hIV.“ (Doherty et al. 2009). heutige öffentliche Gesundheitsfürsorge muss konzedieren, dass Monogamie für einen Großteil der Bevölkerungen nicht die erstrebenswerteste lebensform darstellt. Da es sich nicht mehr um Minderheiten handelt, kann keine Gruppe mehr konstruiert und diskriminiert werden. Daher gibt es seit längerem schon Strategien öffentlicher Gesundheitserziehung, die Promiskuität als normal darstellen – jedoch nur unter der Maßgabe konsequenten (gesundheitlichen) Selbstschutzes (z. B. Kondome). Vernünftig ist dann der, der zwar „seine Freiheit lebt“ aber keine Krankheiten dabei riskiert.14 Unter der hand wird dabei das Bild des unbekannten Sexualpartners (der Fremde) als potentielle Bedrohung weiter bemüht. Vernünftig ist der, der diese Bedrohung nicht vergisst und sich (gegen das Eindringen des Schädlichen) schützt. So wird auch in der intimsten aller Beziehungen auf individueller Ebene eine haltung des Verdachts propagiert, die bereits weiter oben unter der Kriegsmetapher für die Gesellschaft identifiziert wurde und die durchaus xenophobe Züge trägt.
13 Man beachte die Metaphorik in diesem wissenschaftlichen artikel. 14 Die deutsche Gesundheitskampagne „Gib aIDS keine chance“, die u. a. in großformatigen Plakaten für den Gebrauch von Kondomen wirbt („mach’s mit“), spielt bewusst mit einer romantischen, Sehnsüchte ansprechenden Bildsprache: Dargestellt werden Szenerien, die eindeutig mit sexuellen aktivitäten verbunden sind – „liebesorte“ (z. B. ein aufgewühltes Bett mit verstreuter männlicher und weiblicher Unterwäsche (es wird immer nur auf heterosexuellen Verkehr angespielt!). Zwei Fragen, von denen eine im Modus des multiple choice Verfahrens als ‚die richtige‘ angekreuzt ist, lassen ganz klar nur eine, rationale antwort auf freizügige liebesabenteuer zu: Gefühle entdecken (ja, aber nur ‚mit‘ Kondom) oder aIDS riskieren (nein)? http://www.gib-aids-keine-chance.de/kampagnen/liebesorte.php. (Seite zuletzt besucht: Mai 2012)
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2.3.1 Sexualerziehung Die oben erwähnte Zurückhaltung mancher Politiker und anderer Entscheidungsträger in Bezug auf themen, die im Zusammenhang mit Sexualität stehen, ist insbesondere im hinblick auf Jugendliche ein relevanter Faktor für die Umsetzung gesundheitspolitischer Maßnahmen. So wird seitens vieler Ärzte und Wissenschaftler beklagt, dass ein nachwievor tabuisierender Umgang mit Sexualität eines der größten Probleme bei der Prophylaxe und Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten bei Jugendlichen darstellt, wie z. B. in der Diskussion um Pflichtimpfungen gegen Gebärmutterhalskrebs (Benítez-Bribiesca 2009). Werden wissenschaftlich orientierte argumente vorgebracht, etwa die Zweifel an der Sicherheit und Effektivität der verfügbaren Impfstoffe, dann steht offenbar häufig die haltung dahinter, dass jugendliche ohnehin keinen Geschlechtsverkehr haben sollten. Schwierig ist für Ärzte, die sich in der Prophylaxe und therapie sexuell übertragbarer Krankheiten engagieren, auch immer wieder die haltung von Eltern, die keine präventiven Maßnahmen für ihre Kinder wünschen – insbesondere bei Mädchen – und diese oft auch nicht über risiken und Möglichkeiten aufklären wollen, weil sie sie von jeder Form sexuellen Verhaltens, meist aus moralischen Gründen, möglichst weit entfernt halten möchten (ceballos 2009). Zwar ist, wie oben gezeigt wurde, Monogamie (in der Ehe) und sexuelle Enthaltsamkeit auch ein aktives Dispositiv für Erwachsene, aber es scheint so, als ließen sich diese normen für Jugendliche doch leichter öffentlich einfordern. 2.3.2 Sexualverhalten und Privatheit Im Umgang mit gesundheitsbezogenen Fragen bei ‚delikaten‘ Krankheitsaspekten gibt es fast immer Schwierigkeiten in der Kommunikation. Jemanden, der sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert hat, nach seinen Intimpartnern zu fragen, überschreitet den sonst üblichen diskursiven rahmen im arzt-Patientenverhältnis. aus diesem Grund sind insbesondere Strategien wie das ‚contact tracing‘ bei hIV infizierten Patienten nicht nur moralisch und rechtlich heikel, sondern stehen auch vor massiven Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung. Fragt man einen Patienten, der in einer festen Partnerschaft lebt danach, mögliche andere Sexualpartner kontaktieren zu dürfen, kann dies weitreichende Konsequenzen für dessen Privatleben und in manchen Fällen auch für seine gesamte Zukunft haben – z. B. in den nicht seltenen Fällen, in denen Immigranten von dem Fortbestehen ihrer Partnerschaft auch politisch, rechtlich und sozial abhängig sind oder zu sein glauben. hinzu kommt, dass die Offenbarung bestimmter (z. B. homosexueller) Sexualpraktiken auch dem arzt gegenüber den meisten Menschen wohl schwer fällt, aus Scham und aus angst, als ‚nicht normal‘ angesehen und diskriminiert zu werden. Wenn wir an die oben erwähnte deutschlandweite Gesundheitskampagne denken, erfordert es schon eine gewisse courage beispielsweise dem arzt gegenüber zuzugeben, lieber das risiko einer ansteckung in Kauf zu nehmen, als bei seinen Sexualkontakten ständig ein Gefühl des Misstrauens und der angst zu evozieren, indem man auf präventive Maßnahmen besteht. Vernünftig, nach den Maßgaben der der-
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zeit vorherrschenden, medizinisch orientierten ratio einer Gesellschaft, die vor allem auf Selbstkontrolle setzt, ist ein solches Verhalten nicht, und man läuft im Fall Gefahr, mindestens moralisch getadelt oder als vernunftwidrig handelnder verurteilt zu werden.15 2.3.3 Homosexualität homosexualität, insbesondere männliche homosexualität, ist innerhalb der verschiedenen Diskurse zu Sexualität noch einmal ein Sonderfall – nicht nur, weil homosexualität und aIDS so eng verknüpft werden, sondern auch deshalb, weil homosexualität selbst sowohl als Krankheit, als Verbrechen oder schlicht widernatürlich angesehen wurde bzw. wird. Dass aIDS so überzeugend mit homosexuellen Männern in Verbindung gebracht werden konnte, gab all jenen Strömungen auftrieb und ‚salonfähige‘ argumente, die homosexualität auch aus moralischen Gründen ablehnen. Durch die assoziation einer tödlichen Krankheit mit einer moralisch diskriminierten Gruppe werden beide wechselseitig zusätzlich stigmatisiert – Die Krankheit durch die stigmatisierte Gruppe und alle von der Krankheit betroffenen durch die stigmatisierte Krankheit. „that anal intercourse is the major mode of [hIV] transmission in gay men places it further beyond the boundaries of ‚normality‘, as does a multiplicity of partners which has been identified as a risk factor.“ (Elford 1987).16 Mit homosexualität werden, je nach kulturellem hintergrund, selbstverständlich Begriffe wie unnormal (bezogen auf eine natürliche Ordnung), unmoralisch (bezogen auf eine moralische Ordnung) oder verbrecherisch (bezogen auf eine rechtliche Ordnung) assoziiert.17 15 an dieser Stelle ist vielleicht ein Seitenblick auf die Verbindung von sexuell übertragbaren Krankheiten und psychischen Störungen, als weiterer Punkt in Bezug auf das stigmatisierende Potential bestimmter Krankheiten erhellend. Einige psychische Störungen werden assoziiert mit ‚unnormalem‘ Sexualverhalten (gesteigerte, ‚fehlgeleitete‘, oder verminderte sexuelle appetenz) und einige sexuell übertragbare Krankheiten, wie Syphilis und aIDS, können dementielle und andere psychische Störungen auslösen. Mit nur einer dieser Krankheitsgruppen in Verbindung gebracht zu werden, ist bereits stigmatisierend und mag das schlechte Image der jeweils anderen noch belastend hinzufügen. Dabei gibt es jedoch Unterschiede in der Wahrnehmung der spezifischen Krankheiten. So galt zum Beispiel für Syphilis (zumindest Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts), dass sie, trotz aller sicher im Vordergrund stehenden negativen Ursachen und Effekte, den ruf genoss, den Geist in einen Zustand erhöhter Sensibilität und Kreativität zu versetzen, was sicherlich an den vielen prominenten Künstlern lag, wie Schubert, Van Gogh, Baudelaire oder Maupassant, die an Syphilis erkrankten (Sontag 1991). Ein solches positives ‚nebenbild‘ gibt es für aIDS nicht. 16 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass auch die wissenschaftliche Forschung neue Gruppen kreiert, die dann in der sozialen realität Stigmatisierungen ausgesetzt sein können, wie z. B. die MSM („men who have sex with men“) in der aIDS-Forschung. 17 Mit den verschiedenen Formen und Ursprüngen der sog. Heteronormativität setzen sich seit den 1990er Jahren insbesondere die Queer Studies auseinander. ausgehend von theorien über die Zusammenhänge von Körper/Geschlecht/Sexualität/Macht insbesondere in Foucault’s Schriften zur Sexualität und in Judith Butler’s Werken zur sozialen Konstruktion des Geschlechts (z. B. Bodies that matters, Butler 1993), beschäftigt sich z. B. der Sammelband von hartmann et al. (2007) mit dem Konzept der heteronormativität u. a. auch in wissenschaftstheoretischer hinsicht.
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Die Urteile über homosexualität (und homosexuelle) sind darüber hinaus auch politisch motiviert und wirksam. So wurde aIDS von Mitte der 1980er Jahre bis weit in die 1990er Jahre zur legitimation teilweise drastischer Maßnahmen gegen homosexuelle verwendet. So beschreibt ein anonymer autorenartikel der national Institutes of health in der Zeitschrift East European Politics and Societies die Zustände in Polen während der Umbruchszeit als unzumutbar für homosexuelle: „[…] the „myth of universal heterosexuality and patriotic sexual restraint“ in the late Soviet period suggested that to be „queer“ meant that one was not a patriot.“ (anonymus 2009). Wie auch in anderen ländern war das Sexualverhalten in dieser Zeit nicht mehr allein Privatsache, sondern wurde zur öffentlichen angelegenheit. In dieser Studie über die auswirkungen politischer Entwicklungen auf die Wahrnehmung und Behandlung homosexueller, zeigt der autor, wie in Polen und teilen der damaligen Sowjetunion homosexuelle in dieser Periode mit themen wie Gewalt, Missbrauch und Degeneration in Zusammenhang gebracht und systematischer Unterdrückung ausgesetzt wurden (anonymus 2009). Wie in anderen ländern auch wurden homosexuelle Männer vor allem als Bedrohung inszeniert und ihr eigenes Bedrohtsein durch die Krankheit aIDS ebenso wie ihre hilfsbedürftigkeit im Fall einer Erkrankung geriet zunächst aus dem Blick.18 Die Diskriminierung und rechtlichen Schwierigkeiten, wie sie sowohl aktuell als auch historisch in verschiedenen Staaten stattfinden und stattfanden, sowie ihre jeweiligen Begründungen, prägen den Zugang zum gesamten thema homosexualität und sind als Faktor bei der Entwicklung von gesundheitspolitischen Strategien nicht außer acht zu lassen.19 Kampagnen für routinetests in den bezeichneten ‚hochrisikogruppen‘ oder das oben erwähnte ‚contact tracing‘ geraten leicht in den Verdacht, vor allem eine diskriminierende Funktion inne zu haben. Es war erst im Jahr 1992, dass die WhO homosexualität von der IcD-liste der anerkannten Krankheiten strich20 und als ‚normales‘ Sexualverhalten anerkannte. nicht alle teile der Gesellschaft (und nicht alle Gesellschaften) folgen dieser auffassung. Es ist daher eine grobe und – beispielsweise bei der Konzeption von Präventionsmaßnahmen in Bezug auf aIDS und Syphilis nicht ungefährliche – Illusion, von einer homogenen (aufgeklärten, liberalen, rein gesundheitsorientierten) haltung in Bezug auf aIDS und homosexuelle auszugehen. auch wenn seit anfang des 21. Jahrhunderts durch die verschiedenen Bewegungen zur Öffentlichmachung und Enttabuisierung von homosexualität, 18 Die tatsache, dass insbesondere in Polen homosexualität eher geheim gehalten wird, hat seine Wurzeln neben dem starken Einfluss des katholischen Glaubens vermutlich auch in diesen politischen Inszenierungen. Die auswirkungen dieser Geheimhaltung wurden sichtbar, als die Krankheit sich in der zweiten hälfte der 1980er Jahre auch in Polen langsam ausbreitete: Im Visier der öffentlichen Debatten waren dort vor allem Drogenkonsumenten, da die registrierten Fälle von infizierten homosexuellen auffallend niedrig ausfielen, s. z. B. Goodwin et al. (2003). 19 Wie es auch jetzt wieder aktuell in der Debatte um die St. Petersburger Gesetzesinitiative gegen homosexuelle ‚Propaganda‘ deutlich wird s. z. B. http://www.tagesschau.de/ausland/homosexuellerussland100.html (letzter Zugriff Mai 2012). 20 Entgegen dieser Vorgabe, listet der Bund katholischer Ärzte unter der rubrik homosexualität immer noch verschiedene therapieoptionen auf (http://www.bkae.org/index.php?id=439&l=0) und provozierte damit einige Diskussionen (Seidler 2011). allerdings wird eine re-Medikalisierung der homosexualität durchaus thematisiert (conrad & angell 2004).
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unterstützt durch das ‚coming out‘ prominenter Persönlichkeiten, das politische und soziale Klima eindeutig im Wandel ist, ist dieser Prozess weder als abgeschlossen, noch als unumkehrbar ‚abzuhaken‘. Die soziale, rechtliche und politische aufwertung der homosexualität in einigen ländern sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle erwähnten haltungen ihr gegenüber auch lebendig sind und durch die vielfältigen auswirkungen von Stigma und Diskriminierung eine reihe ethischer Probleme im Kontext der medizinischen Betreuung der Kranken und ‚Gefährdeten‘ verursachen. Die Diskriminierung homosexueller stellt z. B. einen weiteren Grund dafür dar, dass Patienten mit ihren gesundheitlichen Problemen keine medizinische hilfe aufsuchen – trotz weiter entwickelter Standards zum Datenschutz (s. u.). Dieses Problem ist durchaus bekannt und führte u. a. dazu, dass z. B. für hIV sogenannte ‚home kits‘ zum Selbsttesten im privaten raum entwickelt wurden, die offenbar weitgehend verlässliche Ergebnisse liefern (Spielberg et al. 2003), jedoch aufgrund der in diesen Settings meist fehlenden ärztlichen Kompetenz, sowohl die Interpretation der Ergebnisse als auch die weiteren Möglichkeiten der Versorgung im Fall positiver testergebnisse betreffend, durchaus kritisch gesehen werden. Es bleibt als zentrales Problem auch in diesem Punkt die immense normative Überfrachtung einer Krankheit als Ursache dafür, dass die lösung basaler Probleme in der Gesundheitsversorgung (Datenerhebung, Prophylaxe, Zugang zur Krankenversorgung, Datenschutz etc.) erschwert wird. Dabei besteht die herausforderung an die Gesundheitspolitik (auf Makro-, Meso- und Mikroebene) darin, diese außerhalb des naturwissenschaftlich-medizinischen codes (im Sinne niklas luhmann’s) angesiedelten Faktoren zu erkennen und anzuerkennen, ohne gleichzeitig zu resignieren und die Probleme als unlösbar abzuschieben. 2.4 tod Krankheiten, die unausweichlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zum tode führen, sind von diesem großen tabu dahingehend betroffen, dass der diskursive, d. h. offene Umgang mit ihnen bzw. den vom tode bedrohten Menschen erschwert wird. In der alltäglichen klinischen Praxis hat man hier vor allen Dingen mit Problemen der Wahrheit am Krankenbett zu tun, die mitzuteilen dem medizinischen Personal häufig so schwer fällt, dass sie die Patienten lieber im Unklaren lassen und in Kauf nehmen, dass diese sich weder von ihren Familien angemessen verabschieden noch ihre ‚letzten Dinge‘ regeln können. Die Schwierigkeit, infauste Prognosen wahrheitsgemäß und wahrhaftig mittzuteilen, wird in unzähligen Fachartikeln, insbesondere im Kontext von Krebserkrankungen, nachwievor diskutiert (annas2004, Deschepper et al. 2008; Srivastava 2011; the lancet 2011; chattopadhyay 2012). Dabei sind nicht nur kulturelle Unterschiede im Umgang mit Sterbenskranken wirksam, sondern auch grundsätzliche Schwierigkeiten, dieses tabu auszusprechen, die eigene Machtlosigkeit zuzugeben und die angst vor der emotionalen reaktion der Patienten und angehörigen sowie evtl. vor negativen gesundheitlichen Effekten für den Patienten.
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Susan Sontag hat in ihren beiden Essays vor knapp 23 Jahren bereits herausgestellt, dass Krankheiten wie Krebs und aIDS wie Synonyme für tod wahrgenommen werden (Sontag 1991). Mit diesem mächtigen tabu gleichgesetzt zu werden, zieht einen weiteren ring des Schweigens um diese Krankheiten. aIDS wurde in den ersten Jahren der ausbreitung der Krankheit zur Metapher für den tod, als noch keine Behandlung vorhanden und die Ätiologie und Pathologie der Symptome unklar waren. Doch selbst die prinzipielle Verfügbarkeit von therapien wie haart (highly active antiretroviral therapy) hat diese Wahrnehmung nicht völlig verändert. Die ‚Diagnose aIDS‘ wird, in abhängigkeit von land, sozio-ökonomischem Status, kulturellem, politischem und rechtlichem rahmen, immer noch wie ein todesurteil wahrgenommen.21 So liegt die Mortalitätsrate bei aIDS in den USa höher als in Zentral- und Westeuropa und am höchsten in verschiedenen afrikanischen ländern. außerdem wird auch ein ‚sozialer tod‘ – abhängig von den politischen und rechtlichen rahmenbedingungen (vgl. den abschnitt über homosexualität) von vielen als ähnlich bedrohlich erlebt wie der physische tod. Denn selbst wenn Personen das Privileg haben, moderne therapien zu bekommen und diese auch konsequent durchzuführen, werden sie doch nicht ‚geheilt‘, denn sie bleiben ein leben lang träger des gefährlichen Virus, mit einer hoffnungslosen Prognose (unheilbar im Sinne der Wiederherstellung des status quo ante), mit der Gefahr lebend, die Krankheit könne immer noch ihr tödliches Potential entfalten. Sie bleiben selbst eine Gefahr für ihre Mitmenschen insbesondere für die, die ihnen am nächsten stehen, und solange die stigmatisierenden Faktoren wirksam bleiben, sind sie von ausgrenzung, arbeitslosigkeit und Einsamkeit bedroht sobald ihre Erkrankung öffentlich wird. Und dies gilt nicht nur für den privaten raum: wer von seiner sexuell übertragbaren Erkrankung weiß, und andere mutwillig oder leichtfertig, z. B. durch ungeschützten Geschlechtsverkehr, infiziert, kann dafür mit dem recht in Konflikt geraten – mehrere Fälle wurden bereits vor Gericht gebracht (Bennet et al. 2000). In den meisten dieser Fälle ging es um Gewaltakte (Vergewaltigung, Bisse u. ä.) und die täter wurden gemäß der bestehenden Gesetze für diese Verbrechen verurteilt (Bennet et al. 2000). 1987 wurde ein wissentlich hIV positiver Mann nach einer Vergewaltigung wegen versuchten Mordes angeklagt; weitere Fälle der ansteckung nach freiwilligem Geschlechtsverkehr wurden seither u. a. in den USa und Europa verhandelt (Bennet et al. 2000; Gray 1988).22 Unter diesen Bedingungen 21 Vgl. Die Stellungnahme der Deutschen aIDS hilfe (Dah) im Fokus artikel vom 26.8.2010: „„Es gab durchaus inzwischen eine differenzierte, gute Berichterstattung über hIV und aids in Deutschland, die dazu beigetragen hat, neue Bilder über hIV zu zeichnen“, sagte ein DahSprecher. Etwa, dass hIV nicht gleichbedeutend mit dem tod sei, sondern dass hIV-Infizierte gut therapiert werden könnten, wenn sie von ihrer Infektion wissen.“ http://www.focus.de/panorama/boulevard/nadja-benaissa-aids-hilfe-kritisiert-urteil-gegen-no-angels-saengerin_aid_ 545666.html 22 In der regel stehen in dieser wie auch den anderen o. a. Diskursen Männer als aggressoren und Bedrohung eher im Fokus als Frauen (s. z. B. Urteil und Berichterstattung im Fall Kennedy O. (aIDS-afrikaner s. o.), Urteil vom Würzburger ladesgericht am 17. Januar 2007 sowie am 22.7.2009). allerdings wurden auch Frauen bereits wegen ungeschützter sexueller aktivitäten verurteilt, wie in dem prominenten Fall der deutschen Sängerin nadja Benassai 2010 (cnn news vom 26 august http://articles.cnn.com/2010–08–26/world/germany.hiv.case_1_hiv-posi-
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wird das ‚recht auf nichtwissen‘, das üblicherweise gilt, sowohl moralisch als auch rechtlich heikel. 3. aKtUEllE PrOBlEME DEr MEDIZInISchEn EthIK 3.1 Das recht auf nichtwissen Üblicherweise hat in der allgemeinen medizinischen Praxis das recht auf nichtwissen den gleichen Status wie das recht auf aufklärung. Bei gefährlichen ansteckenden Krankheiten gerät dieses recht jedoch an seine moralischen und rechtlichen Grenzen. angesichts der stigmatisierenden Effekte der Diagnose einer sexuell übertragbaren Krankheit, und natürlich aufgrund der fundamentalen rechte eines Individuums auf körperliche Integrität und Souveränität, sind die oben erwähnten Strategien von Pflichtuntersuchungen oder Impfungen in den meisten ländern jedoch nicht umgesetzt worden. Öffentliche Gesundheitsmaßnahmen fokussierten zumindest bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts fast ausschließlich auf die Gesamtbevölkerung, um weitere Stigmatisierung und die damit einhergehende Belastung für die Betroffenen nicht noch weiter zu verschärfen (O’leary und Wolitski 2009). Seit einigen Jahren schon haben sich die Strategien dahingehend gewandelt, das hIVinfizierte aktiv einbezogen werden und zwar vermuten O’leary und Wolitski, dass dies mit den Entwicklungen in den Bereichen Prophylaxe und vor allem von therapien und deren auswirkungen auf das Sexualverhalten auch in den risikogruppen zusammenhängt (O’leary und Wolitski 2009). Es konnte durch verschiedene Studien gezeigt werden, dass Personen, die um ihren Infektionsstatus wissen, signifikant weniger risiken eingehen als solche, die nicht wissen dass sie infiziert sind (O’leary und Wolitski 2009). Damit wäre die Gefährdung Dritter erheblich reduziert. Durch diese Erkenntnisse kamen Ideen bezüglich routinemäßiger hIV-tests wieder auf die politische agenda verschiedener Staaten. So veröffentlichte das center for Disease control (cDc, USa) 2006 eine neuauflage ihrer Empfehlungen zum routinemäßigen screening auf hIV. Es handelt sich dabei um rechtlich nicht bindende, generelle Empfehlungen im klinischen Kontext bei jedem Patienten, der medizinische Versorgung in anspruch nimmt, auch einen hIV-test durchzuführen, worauf der Patient schriftlich oder mündlich hingewiesen werden muss; dabei wurden frühere anforderungen wie z. B. eine Beratung vor dem test und eine ausdrückliche Zustimmung zum test herausgenommen zu Gunsten einer opt-out lötive-sexual-partners-youth-court?_s=PM:WOrlD). Dennoch sollte auch dieser Geschlechterbias, der unmittelbar auswirkungen auf die Versorgung hIV positiver Männer hat, nicht vergessen werden, wenn unter der Genderperspektive Frauen üblicherweise (und nicht ungerechtfertigt) als Opfer in Erscheinung treten: als die, die Opfer von Gewalt werden, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung in vielen ländern haben, auf denen der größte soziale Druck lastet (Schande) und die sich aufgrund der sozialen und rechtlichen Ungleichheit von Männern und Frauen nicht wehren können, wenn z. B. der Mann ungeschützten Verkehr verlangt (s. z. B. UnaIDS 2010; oder http://www.avert.org/women-hiv-aids.htm; letzter Zugriff auf beide Seiten april 2012).
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sung, was die anzahl der getesteten Personen erhöhen soll (Pierce et al. 2011). Pierce und Kollegen kritisieren diese Änderungen, da sie ihrer Meinung nach gegen das Prinzip der achtung vor der autonomie und gegen das Prinzip des ‚least infringement‘ (nach childress et al. 2002) verstoßen. Danach ist eine gesundheitspolitische Maßnahme (zuzüglich zu anderen Kriterien) nur dann ethisch zulässig, wenn keine andere geeignete Maßnahme, die die rechte der Patienten weniger verletzt oder einschränkt, realisierbar ist. Ein test auf hIV ohne vorhergehende ausführliche aufklärung kann massive auswirkungen auf das gesamte leben der Patienten haben. Die autoren bezweifeln aufgrund der mangelnden Datenlage, dass diese Maßnahmen tatsächlich die öffentliche Gesundheit verbessern und halten sie im Gegenzug für einen gravierenden Eingriff in die Patientenautonomie. Dieser Eingriff wäre auch dann noch rechtfertigungsbedürftig, wenn die Maßnahmen nachweislich effektiv wären. Das recht auf nichtwissen ist auch im Fall des o. a. contact tracing relevant. neben den erwähnten Problemen (Gefährdung der Partnerschaft, Stigmatisierung durch Offenbarung der Sexualpraktiken etc.) setzt die Kontaktaufnahme mit einer Person aufgrund des hIV-Status ihres Sexualpartners mehrere Schritte voraus, in denen private, d. h. intime Informationen an öffentliche Stellen weitergegeben werden müssen. Dies stellt bereits einen massiven Eingriff in das recht auf Privatheit dar. Daher sollten entsprechende Gesetze zur regelung dieser Maßnahmen vorhanden sein, was nicht in allen Staaten und nicht innerhalb der Staaten notwendig einheitlich der Fall ist (lunny und Shearer 2011). Das recht auf nichtwissen ist insbesondere dann wichtig, wenn es sich um Krankheiten handelt, die vor dem auftreten erster Symptome diagnostizierbar sind. Mit hIV infiziert zu sein sagt z. B. nicht automatisch etwas darüber aus, ob, wann und wie schwer die Symptome sich manifestieren werden. hingegen manifestieren sich die Ängste der Patienten sofort, und es müssen auch sofort Entscheidungen bzgl. einer evtl. Behandlung und für das private leben getroffen werden. Der leidensdruck, den die Mitteilung einer schweren, in der Zukunft wahrscheinlich auftretenden Krankheit hervorruft, wurde und wird im Kontext von genetischer Diagnostik umfassend diskutiert (Porz und Widdershoven 2011). Wehling und Viehöver haben dieses Phänomen „Entzeitlichung von Krankheit“ genannt und als eine Form der Medikalisierung klassifiziert (Viehöfer und Wehling 2011): eine Person, die sich nicht krank fühlt, wird mit der Diagnose konfrontiert, träger von Faktoren zu sein, die in der Zukunft vermutlich eine schwere Krankheit auslösen werden (wie z. B. bei chorea huntington). So wird er zum Patienten durch den reinen akt der aufklärung über eine Disposition. Im Fall von hIV/aIDS gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen subjektiv erlebter Entzeitlichung (die Diagnose kann lange vor dem auftreten erster Symptome gestellt werden, bzw. letztere treten möglicherweise nie auf) und realer Veränderung des med. und sozialen Status (durch ansteckungsgefahr, zu treffende Entscheidungen über sofortige therapeutische Maßnahmen etc.). Das recht auf nichtwissen wird grundsätzlich deutlich eingeschränkt für schwangere Frauen. routinemäßige tests auf alle möglichen Indikatoren (wie z. B. hIV) sind in den meisten ländern eingeführt und verbreitet. Die rechtfertigung für die Pflichtuntersuchung auf hIV wurde in den letzten Jahren vor allem dadurch
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gestärkt, dass das risiko der Übertragung einer nachweisbaren Virenlast von der Mutter auf das Kind inzwischen auf 1–2% gesenkt werden kann, wenn adäquate Maßnahmen ergriffen werden – im Wesentlichen die Behandlung von Mutter und Kind mit haart, Kaiserschnitt und Verzicht auf Stillen (Siegfried et al. 2001). Vor diesen Behandlungsoptionen wurden Schwangere auch auf hIV getestet – und in die Situation gebracht, entweder abzutreiben oder mit der last zu leben, ein wahrscheinlich hIV-infiziertes Kind mit allen daran hängenden Konsequenzen zur Welt zu bringen. Die damit verbundenen moralischen Probleme sind in den umfassenden Debatten zur pränatalen Diagnostik in extenso dargelegt (s. z. B. Düwell und Mieth 1999; Kollek 2000). Im Fall von aids kommen neben der Ungewissheit über den Krankheitsverlauf von Mutter und Kind noch die immense Stigmatisierung beider als Spezifikum hinzu. abgesehen von der tatsache, dass die Behandlungsoptionen nicht in allen ländern zur Verfügung stehen (Siegfried et al. 2011), ist die automatische Überprüfung des hIV-Status grundsätzlich nicht selbstverständlich. Denn ohne die vorhandenen therapeutischen Maßnahmen liegt das Übertragungsrisiko, abhängig von verschiedenen Faktoren, zwischen 12–45 % (Van Dyke 2011). Da die kombinierte antiretrovirale therapie nicht ohne risiken und nebenwirkungen ist, ist das Ergebnis einer abwägung aller Faktoren für die jeweils Betroffene durchaus offen. hier ist wieder zu beachten, dass es nicht nur um die abwägung der rein medizinischen aspekte im Einzelfall geht, sondern um die Frage, ob es gerechtfertigt ist, die last der Diagnose allen Frauen aufzubürden, auch solchen, die aufgrund ihrer persönlichen Überzeugungen und lebensumstände lieber darauf verzichten würden. Es scheint essentiell, dass auch bei der Schwangerschaftsvorsorge keine Untersuchung gemacht wird, ohne die Frauen/Paare vorher darüber angemessen zu informieren und ihre Zustimmung einzuholen – ein anspruch, der in der realität nur selten erfüllt wird. Simple opt-out Verfahren ohne angemessene Beratung und Zustimmung sind problematisch.23 abschließend soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass das recht des Patienten auf nichtwissen im Fall ansteckender Krankheiten sowohl mit dem recht auf Wissen möglicherweise betroffener Dritter als auch mit dem recht auf medizinische Versorgung kollidiert. Viele Faktoren beeinflussen die realität der Umsetzung dieses rechtes (Genderfragen, die Gefahr stigmatisierender Konsequenzen etc.), insbesondere, aber nicht ausschließlich, in den ländern mit schlechterer bzw. nicht-westlicher Gesundheitsversorgung (rennie und Behets 2006). routinetests werden von vielen als bestes Mittel gegen die ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten angesehen. Die bisherigen ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass es sich dabei um ein ausgesprochen schwieriges und nicht evidentermaßen wirksames Mittel handelt, dass einige gravierende ethische Probleme mit sich bringt die eine sorgfältige Evaluation verschiedenster Faktoren – auch des stigmatisierenden Potentials – notwendig erscheinen lassen. Dabei müs23 Die ethische Frage nach dem Kindeswohl ist in diesem Fall einschlägig, sie kann, ähnlich wie in anderen Fällen eines Dissens zwischen Eltern und Ärzten, nur unter abwägung der verschiedenen Vorstellungen zum Kindeswohl entschieden werden. Bis auf einige ausnahmen haben die Eltern in diesen Fällen die Entscheidungsgewalt.
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sen die individuellen rechte der Betroffenen besonders im Blick gehalten werden (Jensen 2007; Kamya et al. 2007). 3.2 Datenschutz Datenschutzfragen stehen, wie oben bereits angedeutet, bei Krankheiten mit einem hohen Stigmatisierungspotential besonders im Mittelpunkt des medizinethischen Interesses. Dies gilt für psychische Krankheiten in besonderem Maße, aber natürlich auch für ansteckende Krankheiten und alle anderen, die z. B. beruflich oder privat diskriminierende Konsequenzen nach sich ziehen können. Wie oben ausgeführt, ändert die Verfügbarkeit von therapien nicht grundsätzlich etwas an den wesentlichen stigmatisierenden Faktoren von Krankheiten wie aIDS oder Syphilis. Datenschutzfragen betreffen vor allem den arbeits- und Versicherungssektor, aber auch die wissenschaftliche Forschung am Menschen ist grundsätzlich mit Datenschutzproblemen konfrontiert. Im Folgenden sollen einige aspekte, die direkt mit den stigmatisierenden Effekten von Krankheiten zusammenhängen, am Beispiel von hIV/aIDS kurz erwähnt werden. Bereits zu Beginn der ‚aIDS-Epidemie‘ in den 1980er Jahren waren haftungsfragen im Zentrum der Ängste von arbeitgebern: Waren sie verantwortlich, wenn ein angestellter ihres Betriebes andere Mitarbeiter ansteckte? (Elford 1987). Grundsätzlich gilt als anerkannt, dass arbeitgeber dann ein recht haben, über den Gesundheitsstatus von Bewerbern auskunft zu erhalten, wenn dieser für die Erfüllung der beruflichen Pflichten ausschlaggebend ist (z. B. bei Piloten von Passagierflugzeugen). arbeitgeber möchten auch gerne wissen, ob Ihre angestellten zuverlässig und vertrauenswürdig sind, sie einen ‚sauberen‘ charakter haben. Wie oben gezeigt wurde, werden Personen mit sexuell übertragbaren Krankheiten („lustseuchen“) mit moralisch fragwürdigem Verhalten assoziiert – wie Promiskuität, homosexualität oder ‚abnormen‘ sexuellen Praktiken. Medizinische Daten über derartige Krankheiten vermitteln also ein Bild des Sexuallebens der Betroffenen Person und damit – für viele – über ihren moralischen charakter.24 Es bestehen immer noch rechtliche Probleme, wenn es um die Erlaubnis für arbeitgeber geht, bei der Einstellung neuer Mitarbeiter einen test für sexuell übertragbare Krankheiten verlangen zu dürfen oder erkrankten Mitarbeitern zu kündigen.25 regelungen sind national unterschiedlich und oft vage gehalten, für Deutschland hat der nationale Ethikrat 2005 in seiner „Stellungnahme zu prädiktiven Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen“ durchaus einige Grauzonen ausgemacht. allerdings wird bei Einstellung von Beamten auf ein Urteil des VGh München von 1989 24 auch wenn es natürlich ‚unschuldige Opfer‘ gibt (z. B. nach Bluttransfusionen), ist es bereits unangenehm, diese Umstände erklären zu müssen, abgesehen davon, dass ein Verdacht bestehen bleiben kann. 25 S. das Urteil des landes-arbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Januar 2012 – 6 Sa 2159/1. Sowie den online artikel des focus: http://www.focus.de/finanzen/karriere/arbeitsrecht/beruf-urteil-kuendigung-wegen-hiv-infektion-rechtens_aid_702477.html (letzter Zugriff april 2012).
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verwiesen, und der Schluss gezogen: „Jedenfalls soll beispielsweise die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer hIV-hauptbetroffenengruppe sowie zu den sexuellen Vorlieben durchaus zulässig sein, um eine Entscheidung darüber treffen zu können, ob die Durchführung eines hIV-antikörper-tests erforderlich ist.“ (nationaler Ethikrat 2005).26 Im privaten Sektor gibt es darüber hinaus offenbar zusätzliche Mittel, um die finanziellen und sozialen Kosten von hIV-infizierten Mitarbeitern zu vermeiden – vom ‚outsourcing‘ bestimmter Produktionssparten, der reduktion bestimmter Privilegien bis hin zu umfassenden Einstellungsuntersuchungen, wo immer rechtlich möglich, wie beispielsweise in Südafrika (rosen und Simon 2003). Datenschutzfragen stellen sich auch im Zusammenhang mit Versicherungen – insbesondere bei privaten Krankenversicherungen. Die auswahlfreiheit bezüglich ‚kostengünstiger‘ Klienten, sowie die möglicherweise höheren Beiträge bei Vorliegen von Gesundheitsrisiken, können unüberwindbare hindernisse für den Zugang zu basaler Gesundheitsversorgung darstellen, zumindest in solchen ländern, in denen es keine Pflichtversicherung gibt. In Großbritannien war es anbietern bislang erlaubt, nach der sexuellen Orientierung der Versicherten zu fragen (‚gay question‘). nach massiven Protesten wurde diese Formulierung abgeschafft – allerdings dürfen Versicherer immer noch in allgemeinerer Form nach risiken fragen, worunter z. B. Bluttransfusionen, Operationen außerhalb der EU, ungeschützter Geschlechtsverkehr, Drogenkonsum etc. fallen (cobb 2010). Dies ist nicht nur allgemein eine Zumutung, sondern bedeutet für eventuell betroffene Personen einen weiteren diskriminierenden Schritt mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für Gesundheit, Beruf, Partnerschaft und Familie. als dritter Sektor, der von Datenschutzfragen betroffen ist, soll hier abschließend die wissenschaftliche Forschung erwähnt werden. Die anonymität und Souveränität von Probanden und Patienten zu wahren, die an wissenschaftlichen Studien teilnehmen oder deren Daten für andere Studien zugänglich gemacht werden, ist offenbar nicht einfach.27 Im Kontext sexuell übertragbarer Krankheiten sind klinische Studien besonders schwierig, da die Patienten häufig nach ihren intimsten lebensführungspraktiken gefragt werden. angesichts des dargelegten hohen stigmatisierenden Effektes, der persönlichen Konsequenzen im Fall einer Offenlegung oder der Scham vieler Betroffener, stehen Forscher und Kliniker hier auch vor sehr praktischen Schwierigkeiten der Datenerhebung, wenn z. B. männliche Patienten oder Probanden, die vielleicht verheiratet sind, nicht mitteilen, dass sie auch homosexuellen Geschlechtsverkehr haben. Dies kann zu verzerrten Untersuchungsergebnissen und damit zu falschen epidemiologischen oder ätiologischen Schlussfolgerungen führen. Darüber hinaus wird die o. a. ‚Erfindung‘ sozialer Gruppen durch 26 Der nationale Ethikrat verweist hier auf das Urteil des VGh München nJW 1989, 790, 792; Vorinstanz: VG ansbach nJW 1988, 1540, 1541. Die Stellungnahmen des nationalen Deutschen Ethikrates selbst sind nicht rechtlich verbindlich, sie haben lediglich allgemein orientierenden charakter. 27 So geriet das Kompetenznetz hIV/aIDS (http://www.kompetenznetz-hiv.de/) in Kritik, da es angeblich Patientendaten in internationalen Forschungskooperationen benutzt hatte, ohne die Patienten vorher zu informieren. (http://www.ondamaris.de/?p=142; letzter Zugriff auf beide Seiten: april 2012)
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clusterbildung in der wissenschaftlichen Forschung nicht nur als artifiziell sondern auch im hinblick auf ihre sozialen auswirkungen kritisch diskutiert (Young und Meyer 2005). Der scheinbar abstrakte und damit ‚neutrale‘ Begriff MSM, der mittlerweile breite Verwendung in der wissenschaftlichen literatur über sexuell übertragbare Krankheiten findet, fasst beispielsweise eine Gruppe zusammen, die sich in der lebenswirklichkeit als ausgesprochen heterogen darstellt. aber durch die Einführung dieser Gruppe in medizinischen Kontexten sehen sich, über gesundheitspolitische Programme, Medien u. a. Faktoren, inzwischen Menschen mit anderen assoziiert, mit denen sie ansonsten nichts gemeinsam haben. Dies kann sowohl auf die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmung der Betroffenen gravierende auswirkungen haben. Denn durch diesen einzigen wissenschaftlich reduzierten aspekt werden sie mit hoch stigmatisierten anderen Gruppen assoziiert (‚homos‘, ‚Drogenabhängige‘, ‚Perverse‘). Es muss also bei der Forschung an sexuell übertragbaren Krankheiten (wie anderen stigmatisierten Krankheiten auch) dem Umstand rechnung getragen werden, dass man mit einer vulnerablen Personengruppe arbeitet, die eine besondere aufmerksamkeit im hinblick auf den Schutz und die Behandlung der Patienten/Probanden erfordert.28 5. aBSchlUSS Viele der wichtigsten ethischen Probleme im Zusammenhang mit der Forschung an und der Behandlung von sexuell übertragbaren Krankheiten hängen, wie deutlich geworden sein sollte, mit den komplexen auswirkungen ihrer hochgradigen, historisch bedingten, moralischen Stigmatisierung zusammen. Infizierte oder der Infektion Verdächtige Personen (-gruppen) werden aus der Gesellschaft in unterschiedlichem ausmaß als ‚anders‘, fremd oder gefährlich ausgeschlossen. Dabei werden Kategorien wie normal/unnormal/pathologisch sowohl auf Personen als auch auf ihr (Sexual-)Verhalten angewandt und mit ihrem Gesundheitsstatus in meist unterkomplexer Weise assoziiert. Metaphern wie Krieg, Bedrohung, reinheit (Unreinheit), tod u. a. werden mit diesen Krankheiten evoziert und ihr immer wiederkehrender Gebrauch schafft ein Klima, in welchem Betroffene über ihren Gesundheitsstatus entweder gar nicht erst Bescheid wissen möchten, ihn geheim halten oder trotz gesundheitlicher Beschwerden keine medizinische hilfe in anspruch nehmen. Diese Mechanismen der ausgrenzung dienen allerdings auf der anderen Seite dazu, diejenigen zu beruhigen, die angesichts inszenierter oder tatsächlicher Bedrohungen besorgt oder desorientiert sind: als Versicherung, dass sie noch in den Kreis ihrer Gemeinschaft integriert sind, der tod nicht bereits ‚vor der tür steht‘ und sie physisch und mental ‚sauber‘ sind. auch für andere Krankheiten, wie z. B. psychische Störungen, alkoholbedingte Organschädigungen u. a., sind solche Mechanismen wirksam. In diesem Zusammenhang stellt das recht auf nichtwissen eine besondere herausforderung für gesundheitspolitische Programme, klinische Versorgung und rechtsprechung dar. 28 Siehe z. B. die Forschungsrichtlinie von UnaIDS 2002.
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Der medizinische Diskurs über sexuell übertragbare Krankheiten wird, wie gezeigt wurde, von verschiedenen Gruppen dafür benutzt, Einfluss auf moralische und soziale normen auszuüben, die medizinische, politische, gesellschaftliche und andere lebensbereiche umfassen können. Eine durchaus verwandte, wenn auch vielleicht weniger gravierende Entwicklung kann im Zusammenhang mit der Politisierung des rauchens beschrieben werden. Die Grenzen der Sphären der privaten lebensführung werden eingeschränkt und das Verhalten öffentlich reguliert, Menschen aufgrund ihres Verhaltens diskriminiert. Diskurse über den Zusammenhang von Fettleibigkeit und gewünschtem, ‚normalen‘ Verhalten können hier sicher ebenfalls Parallelen aufweisen, die Entwicklung ist offen. Durch die auswirkungen von Stigmatisierungen sind im Zusammenhang mit sexuell übertragbaren Krankheiten Fragen des Patienten- und Datenschutzes besonders relevant, da der Staat über verschiedene Institutionen, ebenso wie arbeitgeber und Versicherungen, auf intime Informationen zugreifen kann, was weitreichende und diskriminierende Konsequenzen haben kann. Das hier besonders zu schützende recht auf nichtwissen muss jedoch auf der anderen Seite mit dem recht auf Information und dem Zugang zu Gesundheitsversorgung abgewogen werden. Es scheint notwendig, bei der Suche nach hilfsangeboten für kranke Menschen den Blick nicht ausschließlich auf die medizinisch-wissenschaftliche Forschung zu fokussieren, sondern die komplexen lebenswirklichkeiten der Betroffenen in ihren jeweiligen sozialen und politischen Umfeldern in den Blick zu nehmen, die eben auch von anderen Werten und normen bestimmt sind, als gesundheitsbezogenen. Scheinbar irrationale Überzeugungen und Verhaltensweisen sind häufig tief verwurzelt in Kultur und Geschichte und sollten anerkannt werden, um sie, beispielsweise in gesundheitspolitischen aufklärungskampagnen, angemessen zu berücksichtigen. lItEratUrVErZEIchnIS annas, George J. (2004) ‚legal Issues in Medicine: Informed consent, cancer, and truth in prognosis‘, new England Journal of Medicine 330(3): 223–225. anonym (2009) ‚Defining Democracy and the terms of Engagement with the Postsocialist Polish State: Insights from hIV/aIDS‘, East European Politics and Societies 23(3): 421–445. Badura-lotter, Gisela (2012) ‚Sexually transmitted diseases – reflections on metaphors and ethics‘, in MacKenzie, c. & B. henrich (hg.), Diagnosis of Sexually transmitted Diseases – Methods and Protocols (new York: humana press: im Druck). Beltran, Victoria M.; McDavid harrison, Kathleen; hall, h. Irene et al: (2011) ‚collection of Social Determinant of health Measures in U.S. national Surveillance Systems for hIV, Viral hepatitis, StDs, and tB‘, Public health reports 126(3): 41–53. Benítez-Bribiesca, luis (2009) ‚Ethical dilemmas and great expectations for human papilloma virus vaccination‘, archives of Medical research 40(6): 499–502. Bennett, rebecca; Draper, heather; Frith, lucy (2000) ‚Ignorance is bliss? hIV and moral duties and legal duties to forewarn‘, Journal of Medical Ethics 26(1): 9–15. Bogart, laura M.; Skinner, Donald; Weinhardt, lance S. et al (2011) ‚hIV misconceptions associated with condom use among black South africans: an exploratory study‘, african Journal of aIDS research 10(2): 181–187. canguilhem, George (2005) le normal et le Pathologique (Paris: PUF/Quadrige, 9. auflage).
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MEDIZIn UnD BEhInDErUnG – ZUr „GEhÖrlOSEnPrOBlEMatIK“ SEIt DEM 18. JahrhUnDErt Eva Brinkschulte 1. DISaBIlItY hIStOrY EIn anSatZ FÜr DIE MEDIZInGESchIchtE Die Disability Studies, die sich in Deutschland erst in den letzten beiden Jahrzehnten als interdisziplinäre Forschungsrichtung etabliert haben, behandeln die gesellschaftliche ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen, die als ‚behindert‘ gelten und dadurch zu sozialen randgruppen degradiert werden. Sie thematisieren die gesellschaftspolitischen hintergründe, kulturellen Kontexte und historischen Entwicklungsbedingungen, die zur sozialen Konstruktion von Behinderung führen bzw. geführt haben. Gegenüber der Behindertenpädagogik und den rehabilitationswissenschaften unterscheiden sich die Disability Studies dadurch, dass ihnen der „interventionistische Impuls“ fehlt (Waldschmidt 2010). Das „medizinische Modell“ reduziert Behinderungen tendenziell auf Schädigungen des Körpers und damit auf objektiv beschreibbare Vorgänge. Schädigungen werden hier unabhängig von ihrer Ätiologie und Entwicklung betrachtet. So kann z. B. der Verlust des Sehvermögens oder der Verlust einer Extremität von einer genetischen anomalie oder einer Verletzung herrühren. Das Vorhandensein einer Schädigung impliziert zwar notwendigerweise eine Ursache, transportiert aber an und für sich noch keine hinreichende Erklärung der entstandenen Schädigung. Die WhO unterscheidet drei Begrifflichkeiten: 1. Erkrankungen, die aufgrund von angeborenen Schädigungen oder aufgrund eines Unfalls als Ursache entstehen und zu einem dauerhaften gesundheitlichen Schaden führen. 2. Der Schaden führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung der Fähigkeiten und aktivitäten des Betroffenen. 3. Die soziale Beeinträchtigung (handicap) ist Folge des Schadens und äußert sich in persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Konsequenzen. (hirschberg 2003). Das von den Disability Studies favorisierte „soziale Modell“ versteht Behinderung als historisch und gesellschaftlich bedingt und in diesem Sinne als (veränderliche) Konstruktion (Waldschmidt 2003). Dieses seit anfang der 1980er Jahre entwickelte Modell unterscheidet die Ebene der Beeinträchtigung (impairment) als klinische auffälligkeit und der Behinderung (disability) als soziale Benachteiligung. Demzufolge entsteht Behinderung durch systematische ausgrenzung und ist nicht einfach das Ergebnis medizinischer Pathologien (Waldschmidt 2010: 17). Das anliegen der Disability history ist es, Behinderung als analysekategorie wie Geschlecht oder Ethnizität zu etablieren. Behinderung wird historisiert und als soziohistorische Konstruktion gedacht. Die Geschichtsschreibung soll differenzierte Bil-
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der von der Konstruktion von Behinderung und vom Umgang damit entstehen lassen (Poore 2007). ausgangspunkt ist die these, dass Behinderung im Gesellschaftssystem über wissenschaftliche- und alltagsdiskurse, politische und bürokratische Verfahren sowie subjektive Sichtweisen hergestellt wird (Waldschmidt 2010: 17). In der Disability history wird unter dem Begriff Behinderung zunächst ganz allgemein eine Vielzahl heterogener (auch unsichtbarer) Erscheinungsformen von gesundheitsrelevanter Differenz subsumiert. Behinderung soll zudem als „erkenntnisleitendes Moment“ für die analyse der Mehrheitsgesellschaft genutzt werden (Waldschmidt 2003: 16). 2. DEr BlIcK ZUrÜcK – taUBStUMME ZWISchEn PÄDaGOGEn, PhIlOSOPhEn UnD ÄrZtEn Dieser ansatz soll im Folgenden für die medizinhistorische analyse berücksichtigt werden, um die unterschiedlichen Diskurse über Gehörlose, die sich in der Pädagogik, der Philosophie und der Medizin seit dem 18. Jahrhundert finden, miteinander zu vergleichen bzw. deren Verschränkungen offen zu legen. Der akademischen Beschäftigung mit Gehörlosen, die zeitgenössisch als „taubstummenproblem“ bezeichnet wurde, lag die erkenntnistheoretische leitfrage zugrunde, inwieweit die lautbasierte Sprache und der Erwerb der Fähigkeit des Sprechens Menschen als Menschen in abgrenzung zu tieren auszeichneten. In der Quintessenz ging es um die Frage ob „taubstumme“ Menschen sind? nach aristotelischer auffassung galt Sprache als „conditio sine qua non“ für das Menschsein. nach römischem recht waren taubstumme nicht erbberechtigt und nicht heiratsfähig, sie konnten kein Zeugnis ablegen und durften keine juristischen akte vornehmen. Kirche und Staat sprachen ihnen somit als bloße „tierische Wesen“ eine zivilrechtliche Stellung ab und stellten sie den „infans“, den Kindern gleich. höheres Denken sei eng an Zeichengebrauch und sozialen austausch gebunden (Küster 1991). historisch betrachtet umfasst das taubstummenproblem zwei unterschiedliche aspekte: Das medizinische Problem der Ursachen der taubheit und das pädagogische der Stummheit. Wo Ärzte sich mit der taubheit befassten, fragten sie nach den Ursachen, dem anatomischen Substrat, den Symptomen und den möglichen heilungsmethoden – die Pädagogen ließen die taubheit auf sich beruhen und suchten nach Wegen, den taubstummen auf andere Weise, als durch das Gehör zu erziehen und ihn von seiner Stummheit zu „erlösen“. Wie und auf welche art und Weise sich die entstehenden pädagogischen Einrichtungen für taubstumme der Sprachphilosophie bedienten, soll im Folgenden an zwei konkurrierenden Bildungssystemen dargestellt werden.
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2.1 Die Methoden im Widerstreit: lautsprache versus Zeichen- bzw. Gebärdensprache In der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte nahezu zeitgleich in England, Frankreich, Deutschland und in den USa eine systematische Fürsorge für Gehörlose ein. Dies führte über private Initiativen zur herausbildung spezialisierter Institutionen, verschiedener Gebärdensprachsysteme und einer eigenen Gehörlosenpädagogik. Beinahe zeitgleich begannen – in Paris und hamburg – Michel de l’Épée (1712–1789) und Samuel heinicke (1727–1790) zunächst eine kleine anzahl von taubstummen Kindern zu unterrichten und entwickelten in mehr als zwei Jahrzehnten ihrer praktischen arbeit jeder eine eigene Methode des taubstummenunterrichts. Beide publizierten ihre Methode: l’Épée 1776 und heinicke 1778. 2. 2 Die „deutsche Methode“ heinickes Methode wird als die lautsprachliche bzw. „orale Methode“ charakterisiert; ihr Urheber galt als einer der herausragenden Vertreter der Gehörlosenpädagogik, was dazu führte, dass diese Methode auch als „deutsche Methode“ bezeichnet wurde. Samuel heinicke, war seit 1768 Kantor, lehrer und Organist an der Johanniskirche in Eppendorf, wo er seine lernmethode, die sogenannte „lautiermethode“ zuerst an Dorfkindern ausprobierte. Beim Militär soll er 1755 seine ersten Erfahrungen im Unterricht von taubstummen gemacht haben (Gessinger 1994: 314; Groschek 1998; Schumann 1927). heinicke selbst thematisierte die Problematik „Gehörlose und lautsprache“ in mehreren Publikationen, 1778 erschienen – wie bereits erwähnt – seine „Beobachtungen über Stumme und über die menschliche Sprache“ (heinicke 1778). Es folgten weitere Beiträge „Ueber die Denkart der taubstummen, und die Misshandlungen, welche sie durch unsinnige Kuren und lehrarten ausgesetzt sind“ (heinicke 1780) und „Wichtige Entdeckungen und Beiträge zur Seelenlehre und zur menschlichen Sprache“ (heinicke 1784). Seine programmatischen Schriften waren aber nicht rein pädagogisch-didaktischer natur, sondern vor allem auch Werbeschriften, die zum Ziel hatten, einerseits möglichst finanzkräftige Eltern von hörgeschädigten Kindern für die ausbildung in seiner anstalt zu gewinnen und andererseits seine Unterrichtsmethode zu popularisieren. heinicke charakterisierte verschiedene Grade der taubheit und stellte in abhängigkeit davon bessere heilungschancen in aussicht, er gab ratschläge für die Eltern um rechtzeitig Beeinträchtigungen des hörvermögens zu erkennen. Er unterscheidet „zweyerlei hauptarten“ von Stummen oder Sprachlosen, „nämlich die hörenden und die tauben Stummen“ (heinicke 1778). Die hörenden Stummen unterteilte er dann wiederum in verschiedene arten z. B. jene, denen die Zunge fehlte (auch durch Verstümmelung) oder deren Zunge gelähmt ist und jene Stumme, bei denen andere Fehler in den Sprachwerkzeugen vorliegen. „nun ist es freylich bey denjenigen von der ersten art unmöglich, ihnen die Sprache zu verschaffen; man kann sie aber doch, (wenn man voraussetzt, dass es mit ihren übrigen Sinnen und Seelenkräften seine richtigkeit habe) durch mündliche und schriftliche Unterwei-
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sung dahin bringen, dass sie nicht allein durchs Gehör von allen Dingen, die zur menschlichen Erkenntnis gehören, richtige Begriffe für sich selbst bekommen; sondern sie auch andern wieder mitteilen können. Und dieses wären denn also einige arten von hörenden Stummen, die nebst dem Gehör auch den völligen Gebrauch ihrer Seelenkräfte haben, und nur wegen fehlender Sprachwerkzeuge sprachlos sind“ (heinicke 1778: 39). neben dem lippenlesen setzte er anfangs auch die Pantomime ein, um mit seinen „tauben lehrlingen“, wie er sie nannte zu kommunizieren; die Schüler selbst sollten sich mit ihren Mitschülern ausschließlich in gesprochener und geschriebener Sprache unterhalten, sie durften „sich niemals durch Gebärden ausdrücken“ (heinicke 1778: 73). nicht Buchstabieren und auswendig lernen, sondern das lippenlesen und die artikulation, verbunden mit der Schriftsprache sollten zum Erkennen von Silben und darauf von Wörtern führen und somit das Begreifen als propagiertes Ziel seines Unterrichts erreicht werden (heinicke 1778; Ders. 1779). Die art des Denkens bei taubstummen, die nicht hören können – damit thematisierte heinicke auch mentale Prozesse – sei von den „normalsinnige[n] Menschen grundverschieden“, ihre Vorstellungskraft sei durch das Gesicht bestimmt, denn sie denken nur das, was sie vorher gesehen haben. (zit. n. Gessinger 1994: 308) „Wir mit Gehör begabte Menschen denken (…) durch töne (…)“ (heinicke 1778: 47). Dieses Denken sei dem Menschen nicht angeboren, sondern müsse erlernt werden. Die unterschiedliche kognitive Funktion von Gesichts- und Gehörsinn war der hintergrund für die hinwendung heinickes zum Oralismus (Gessinger 1994: 309). Die „tönenden Worte“ oder namen der Dinge waren nach heinicke die Formen in denen Vorstellungen erinnert werden, und allein die „articulation“ der Sprachlaute mache sprachliche Formen erinnerbar und damit Sprechen, lesen und Schreiben überhaupt erst möglich. artikulation und lautsprache seien für abstrakte Gedanken notwendig. Die Gehörlosen sollten nicht nur Sprache sprechen, sondern sie auch denken. Sprechen war mit Denken verbunden und nur der sprechende Mensch wurde als denkfähig erachtet. artikulation erlangte sowohl als Benennung als auch als „Sprech-akt“ Bedeutung (Gessinger 1994: 312). heinicke ging noch einen Schritt weiter, denn die körperliche Wahrnehmung des Sprechens sollte unmittelbar spürbar sein, die taubstummen sollten Sprache fühlen. analog zur Ontogenese des Sprechens bei normalsinnigen formulierte heinicke ein Vierstufenmodell: „1. die Empfindung der töne im Gehör, 2. die Empfindung bei der anerkenntnis der töne, 3. die Empfindung bei der nachahmen der töne, und 4. die Empfindung im Sprachwerkzeug beim tonzwang“ (heinicke 1778: 62). Dabei glaubte er, das fehlende Gehör durch den Geschmackssinn ersetzen zu können. Beim taubstummen sollte der Geschmack jene triebfeder sein, die den „Menschen auf der Stufenleiter vom sinnlichen Eindruck zum Gedanken emporsteigen“ lasse (Gessinger 1994: 315). Das Eppendorfer Institut war eine Sehenswürdigkeit in hamburg. In öffentlichen Vorführungen demonstrierten seine Schüler ihre lernerfolge und rezitierten aus dem Katechismus. heinicke erntete jedoch nicht nur Beifall: Die sogenannte Entstummung bedeutete für gläubige Menschen einen Eingriff in die göttliche Weltordnung. 1778 folgte heinicke einem ruf des Kurfürsten von Sachsen und wechselte von hamburg nach leipzig, denn hier erhielt er die angestrebte materi-
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elle absicherung und öffentliche Unterstützung mit der Gründung des „chursächsischen Instituts für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen“ (reich 1828; Stötzner 1870). Mit dem leipziger Institut wurde heinicke endgültig zum führenden Vertreter der deutschen Gehörlosenpädagogik, die das Erlernen der laut- bzw. tonsprache in den Vordergrund der ausbildung stellte. Sein credo lautete: dass „klares Denken (…) nur in articulierten (gesprochenen) Worten möglich sei“, erst durch Sprache werde der taubstumme zum wahren Menschen gebildet (Groschek 1998: 348). heinicke versuchte mit seiner Methode den nachweis der Bildungsfähigkeit von taubstummen zu erbringen. Sein Insistieren auf den Erwerb der lautsprache besaß sowohl eine moralische, als auch soziale Komponente. Voraussetzung für ein vernunftgemäßes und moralisches handeln war für ihn an die Fähigkeit des Sprechens geknüpft, zudem sollte der Erwerb der lautsprache auch die gesellschaftliche ausgrenzung der taubstummen verhindern; ein argument, das immer wieder vorgebracht wurde und auch im heutigen Diskurs über Gehörlose noch eine rolle spielt. 2.3 Die „französische Methode“ Eine vollkommen konträre herangehensweise praktizierte abbé Michel l’Épée. Im Gegensatz zu heinicke versuchte er, den Gehörlosen Bildung über die Gebärdensprache zu vermitteln. l’Épée hatte 1760 die erste taubstummenanstalt in Paris gegründet, anfangs bot er den Unterricht unentgeltlich an, aber auch er strebte nach staatlicher Unterstützung, die der anstalt 1771 zuteil wurde und die fortan zur „Institution national des Sourds-Muets“ wurde und weltweit als erste Schule für taubstumme angesehen werden kann. Für l’Épée war die Gebärdensprache, gewissermaßen die Muttersprache der Gehörlosen. Er berief sich auf die Vorstellung Descartes (1596–1650), der in seiner auffassung über die Wechselwirkung von Geist und Materie Sprache als ein Zeichensystem verstand, das außerhalb des Menschen existiert. Es sei daher möglich, Sachen und Zeichen in jeder Weise (willkürlich) miteinander zu verbinden, daher auch Dinge mit Gebärden zu bezeichnen. auch die theorien seines Zeitgenossen, des französischen Geistlichen Etienne Bonnot de condillac (1714–1780) bemühte l’Épée, der die sinnliche Erfahrung als die erste Quelle der Erkenntnis ansah. In anlehnung an das Buchstabieren in den normalen Elementarschulen benutzte er das Fingeralphabet, um lesen und Schreiben zu vermitteln. Durch pantomimische Gebärden wurde ein lexikon von Grundbegriffen aufgebaut, binnen eines Monats wurden 3000 Wörter erlernt und durch ständige Wiederholung geübt. als seine originäre Erfindung fügte er die grammatikalische Struktur „signes méthodiques“ hinzu (Gessinger 1994: 292f.). aus diesem Gedanken entwickelte er aus den von ihm beobachteten „natürlicher Gestenzeichen“ mit zusätzlichen Erweiterungen durch grammatische Zeichen ein System „methodischer Gebärden“. Während die Gebärde von der natur des tauben ausgeht, sollte das Erlernen der Schrift zur Kultursprache der hörenden hinführen. Die Schüler dachten in der
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Gebärdensprache und drückten sich in derselben aus. Dadurch erreichten sie einen hohen Wissensstand, waren aber im Verkehr mit hörenden weiterhin auf Vermittler angewiesen. 1776 gab de l’Épée wie erwähnt die „Institution des sourds-muets par la voie des signes méthodiques“ heraus, 1784 folgte „la véritable manière d’instruire les sourds et muets, confirmée par une longue expériences“ und er begann ein allgemeines lexikon der Gebärdenzeichen, das von seinem nachfolger, abbé Sicard (1742–1822), als Wörterbuch der Gebärden vollendet und publiziert wurde. Ebenso wie heinicke stellte l’Épée und später auch Sicard in wöchentlichen Demonstrationen die taubstummen Schüler öffentlich zur Schau, von drei- bis vierhundert Zuschauern wird berichtet. Pädagogen und Mediziner aus der ganzen Welt waren sein interessiertes Publikum. Zahlreiche taubstummenlehrer wurden in der anstalt ausgebildet. Den taubstummen wurden abstrakte Fragen gestellt, die sie in geschriebenem Französisch auch in latein, Italienisch, Spanisch, Deutsch oder Englisch beantworteten (Davis 1995: 54). l’Épée und heinicke wurden zu großen Widersachern, sie stritten öffentlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und erhoben jeweils den anspruch auf die alleingültigkeit ihrer Methode. Sie publizierten ihre pädagogischen Konzepte, erstellten Gutachten und stellten die taubstummen in Vorführungen öffentlich zur Schau, ihre auseinandersetzung besaß den charakter eines „Glaubenskampfes“ – heinicke unterstellte l’Épée „unnütze, gar schädliche Methoden“ während l’Épee heineckes Vorgehen „schlichtweg als Betrügerei“ bezeichnete (Gessinger: 288). Doch so gegensätzlich die beiden Unterrichtsmethoden auf den ersten Blick sein mögen, so zeigen sie doch auch bedeutende Gemeinsamkeiten. In ihrer herangehensweise standen sie ganz im Zeichen eines aufgeklärten nützlichkeitsdenkens, denn beide stellten zunächst einmal die Bildungsfähigkeit der taubstummen heraus, wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen – dem Erwerb der lautsprache oder der akzeptanz der Gebärdensprache. an beiden wird deutlich, dass die Pädagogen bzw. Geistlichen sich zur Untermauerung ihrer Methoden der hypothesen der gängigen Sprachtheorien der Philosophie über den Zusammenhang von Sehen, hören, Sprechen und Denken bedienten. Die Philosophen hatten für genügend argumente gesorgt, die von Beiden zur rechtfertigung ihrer jeweiligen Methode genutzt werden konnten. 2.4 Der Einfluß der philosophischen Sprachtheorien Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts angefangen bei Diderots „lettres sur les aveugles“ von 1749 (Diderot 1749) und den „lettres sur les sourds et muets“ (Diderot 1751) bis hin zu herders abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ (herder 1772) spielte die Bewertung der Sinne bzw. die „hierarchie der Sinne“ und hier insbesondere die Stellung, die dem Gehörsinn (Ohr) für die Denk- und Erkenntnisleistung des Menschen beigemessen wurde, eine herausragende rolle im philosophischen Diskurs. als aus den philosophischen Gedankenexperimenten Beobachtungen über das Sprachverhalten und Unterrichtsmethoden für wirkliche taubstumme wurden, war damit aber keineswegs eine „empirische Überprüfung“ inten-
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diert. Joachim Gessinger, der die verschiedenen philosophischen Versatzstücke, deren sich heinicke und l’Épée bedienten, detailliert analysiert hat, kommt zu dem Schluss, daß dies eher im Sinne einer „eklektischen Indienstnahme“ interpretiert werden muss (Gessinger 1994: 276). heinicke nahm Kant in anspruch, während abbé l’Épée sich auf Descartes und condillac berief, letztlich bestand jede Methode aus verschiedenen theoretischen Facetten, die schon irgendwann einmal von anderen propagiert worden waren und stellten eine Kombination verschiedener, zum teil gegensätzlicher theorien zum thema „Zeichengebrauch und Denken“ dar. Beide nutzten dies, um der eigenen praktischen tätigkeit einen theoretischen anstrich zu geben (Gessinger 1994: 276) heinicke und l’Épée trugen durch ihre Publikationen zur Popularisierung ihrer jeweiligen Methode bei und für das gebildete Publikum erschienen ihre abhandlungen wie der empirische teil der erkenntnistheoretischen, philosophischen hypothesen, das machte die attraktivität und Faszination ihrer Demonstrationen aus. Ihr öffentlicher, in Briefform ausgetragener Streit wurde in dem von dem Berliner aufklärer Karl Philipp Moritz (1752–1793) seit 1783 herausgegebenen „Magazin für Erfahrungsseelenheilkunde“ publiziert, das als einer der ersten psychologischen Zeitschriften angesehen werden kann. Die rückwirkung auf die Berichte aus der Praxis verdeutlichen ihren Erfolg. Beide trugen durch Fallgeschichten zum Verständnis der lebensumstände von Gehörlosen bei – allerdings geschah dies nicht uneigennützig. Selbstverständlich diente dies auch Werbezwecken, da ihre Institutionen auf wohlhabende Förderer und staatliche Unterstützung angewiesen waren. Beide Unterrichtsmethoden bestanden in den folgenden Jahrzehnten fort, in Frankreich und den USa wurde primär der gebärdensprachliche Unterricht praktiziert, in Großbritannien und Deutschland hingegen die lautsprachliche Methode. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verdichtete sich der Streit über das Erlernen der lautsprache wieder. Im philosophischen Diskurs der (Spät-)aufklärung war die Figur des Gehörlosen als ein Gedankenexperiment sichtbar geworden, keine andere Beeinträchtigung der sinnlichen Wahrnehmung (Sehen, hören, riechen, Fühlen) wurde in dieser Zeit so häufig diskutiert wie die taubstummheit, die Deprivation des Gehörsinns. aber erst mit der Gründung von speziellen Einrichtungen wurden die taubstummen als homogene, soziale Gruppe gewissermaßen kreiert und taubstummheit wurde zu einem öffentlichen thema (Davis 1995: 51). Der Grund für ihre vorherige nichtexistenz, war der, dass die meisten Gehörlosen in hörenden Familien geboren wurden und daher ein in ihre taubheit eingeschlossenes, isoliertes leben führten, ihre Erziehung und Unterrichtung war Privatsache. Erst als sich ein öffentliches Interesse am Schicksal von taubstummen entwickelte und sie in Einrichtungen in Gruppen unterrichtet wurden, manifestierte sich ihre Differenz. Zugleich erlangte ihre „andersartigkeit“ eine publikumswirksame Existenz. Ohne die Vorstellung einer Gruppenidentität und Gruppensolidarität und ohne diese soziale Kategorie von Behinderung wurden sie hauptsächlich als isolierte abweichung von der norm gesehen (Davis 1995: 57). Bis 1789 gab es in Europa lediglich 12 Schulen, 1822 – dreißig Jahre später – waren es bereits 60 Einrichtungen. nun existierten taubstummenanstalten beinahe
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in allen ländern Europas (Davis 1995: 52). Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wandte man sich der Erziehung und der ausbildung von Gehörlosen zu. Erst in dieser Zeit entstand, was wir heute als Sonderpädagogik bezeichnen. nahezu zeitgleich setzte diese systematische Fürsorge Gehörloser ein und führte zur herausbildung spezialisierter Institutionen, die man im Foucaultschen Sinne als heterotopie bezeichnen kann. Diese „anderen Orte“ sind Orte, an denen sich von der norm abweichendes Verhalten ritualisiert und lokalisiert, es sind institutionelle Orte mit bestimmten regeln und strenger Kontrolle. Die anderen Orte sind für Foucault die „Keimzellen“, sie sind Bedingung und zugleich Katalysator für die Differenz (Foucault 2005). 2.5 Jean Marc Itard – Der arzt der taubstummenanstalt Während die Erforschung der Sprache am Menschen in den sprachphilosophischen Schriften des 18. Jahrhunderts insbesondere durch die literaturwissenschaft und die Philosophie eine breite Behandlung erfahren hat (Gessinger 1980; Ders. 1989; ricken 2000; ree 1999) und auch der pädagogische Entwicklungsstrang im rahmen der historischen Bildungsforschung bzw. Erziehungswissenschaften relativ gut aufgearbeitet ist, sind hingegen die (Quer-) Verbindungen zur zeitgenössischen medizinischen auffassung über den Sitz, Bildung und Produktion von Sprache sowie medizinisch-therapeutische Behandlungskonzepte kaum untersucht (Politzer 1907/1967; Stichnoth 1985). Für die Beschäftigung der Medizin mit der taubstummenproblematik in der Zeit um 1800 gibt es bislang nur wenige Beispiele. Eine Sonderrolle nimmt Jean Marc Itard (1782–1838) ein, der zu den bekanntesten Schülern des französischen Psychiaters Philippe Pinel (1745–1826) gehört. Itard hatte sich nach Beendigung seines Medizinstudiums 1796 zunächst der chirurgie zugewandt. 1800, im alter von 25 Jahren, übernahm er die Stelle des chefarztes an dem nun „Königlichen taubstummen Institut“ in Paris, das nach dem tode l’Épées unter der leitung von abbé Sicard stand. Seine tätigkeit als arzt in der taubstummenanstalt ermöglichte Itard Einblicke in die Unterrichtsmethoden, er nutzte die taubstummen Kinder und Jugendlichen aber auch für seine Beobachtungen und Studien und er führte verschiedene Versuche und medizinische Experimente durch. als 1799 ein „wilder“ Junge dem Institut übergeben wurde, übernahm Itard seine Erziehung. Victor, der sogenannte „Wilde von aveyron“, war ein Kind von elf oder zwölf Jahren und war im Wald von caune (aveyron), völlig nackt und verwildert aufgegriffen worden und sein Schicksal sorgte für großes öffentliches aufsehen. Die „enfants sauvages“ waren wie die taubstummen lebendige Beispiele für einen von der Zivilisation unberührten Geist. auch sie prägten den wissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts und besaßen Bedeutung für die Genese der frühneuzeitlichen anthropologie (Beetz et al 2007; Bruland 2008). Itard publizierte 1801 ein erstes Gutachten über seinen „seltsamen Schüler“ Victor, durch das er in ganz Europa berühmt wurde (Malson et al. 1972). auch Pinel, der das Pariser Irrenasyl Bicêtre seit 1792 leitete, hatte ein Gutachten über den
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Jungen erstellt und war zu dem Schluss gekommen, dass der Knabe nicht auf Grund der Umstände, unter denen er aufgewachsen war, mangelnde geistige Fähigkeiten aufwies, sondern von Geburt an „schwachsinnig“ war. Itard hingegen vertrat auch gegen die autorität Pinels die auffassung, dass der „Wilde von aveyron weniger ein schwachsinniger Jüngling, als ein Kind (…), das durch asoziale(n) Gewohnheiten, eine beharrliche Unaufmerksamkeit, wenig angepasste Organe und eine durch die Ereignisse abgestumpfte Sensibilität behindert war“ (Itard 1801:124; tenorth 2007: 123). In seinen Gutachten aus den Jahren 1801 und 1806 dokumentierte Itard seine mehrjährige Behandlung, die für ihn in den Bereich der „moralischen Medizin“ fiel und in der die psychiatrische Behandlung, vor allem als psychische Erziehung zu verstehen ist. Er beschränkte sich dabei auf fünf Gesichtspunkte: 1. Ihn für das leben in Gemeinschaft gewinnen; 2. Die Sensibilität seiner nerven wecken; 3. Seinen Gedankenkreis erweitern; 4. Ihn zum Gebrauch der Sprache führen und 5. Die einfachsten Geistestätigkeiten zu üben und den Bildungsstoff auszudehnen (Itard 1801: 124). Die leitgedanken seiner Unterrichts- und Erziehungsversuche gingen von den philosophischen auffassungen seiner Zeit aus, insbesondere war auch er durch condillac (1714–1780) beeinflusst, der eine sensualistische Erkenntnistheorie vertrat; das Modell, das von verschiedenen geistigen Stufen ausging ermöglichte sowohl l’Èpée mit der Betonung der „sinnlichen Erfahrung“ als erste Quelle der Erkenntnis die Indienstnahme – wie auch Itard, der sich allerdings, um sein Eintreten für den Spracherwerb der taubstummen zu legitimieren, auf condillacs Setzung berief, dass zur Erkenntnis wie gleichermaßen für das Gedächtnis und höherer Denkvorgänge die menschliche Sprache notwendig sei. trotz einer „spürbaren Entfaltung der Gehörorgane“ gelang es Itard nicht, den Jungen, dem er aufgrund seiner Vorliebe für den Vokal o den namen Victor gegeben hatte und der ihm als Stummer übergeben wurde, zum Sprechen zu bringen. Victor bekundete seine Wünsche mit den „ausdruckvollsten Zeichen“ und Itard konstatiert, dass die „pantomimische Sprache“ durchaus abstufungen und Synonyme habe (Itard 1801: 148). Itard wusste vermutlich, dass es sich bei Victor um ein anderes Problem, als bei den tauben handelt, da er nicht nur in der „Stille“, sondern auch in der Einsamkeit gelebt hatte (Malson et al. 1972: 226). 1821 wurde Itard Mitglied der Académie de Médicine. Im gleichen Jahr veröffentlichte er seine „Traité des maladies de l’oreille et de l’audition“, die ihn zum anerkannten Wegbereiter der hals-nasen-Ohrenheilkunde (Oto-rhino-laryngologie) machte. Bereits ein Jahr später erschien die deutsche Übersetzung unter dem titel „Die Krankheiten des Ohres und des Gehörs“ (Itard 1822). Einleitend stellt er hier fest: „Man kann behaupten, dass wir über die Funktion der verschiedenen theile des Ohres weniger wissen, als die alten Physiologen darüber zu wissen sich einbildeten“ (Itard 1822: IV). Er ist enttäuscht über das medizinische Desinteresse vieler Kollegen, die alles was mit dem Gehörorganen zu tun hat, mit Geringschätzung behandeln. In seinem traité stellt er Klassifikationen auf, berichtet über therapeutische techniken u. a. über die Katheterisierung der Eustachischen röhre und die Perforation des tympanum. Entgegen der damals weitverbreiteten Meinung ist er der auffassung, dass die Ursache der taubheit nicht allein in der lähmung des Gehörnervs zu suchen sei, und dass die Stummheit nicht nur organische Ursachen
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in den Sprachorganen habe: Die Sprache könne nicht in Erscheinung treten „wenn die aufmerksamkeit kein hören, das Gedächtnis kein Behalten, die Stimmbildung keine Wiederholung gestattet“ (Malson 1972: 109). Selten sei die taubheit zudem total, denn bei den meisten taubstummen, die er in seiner zwanzigjährigen Praxis am „Institute des Muets et Sourds“ behandelt hatte, ließen sich reste vom Gehör, die er mittels audiometer – eine seiner Erfindungen – nachweisen konnte, feststellen. Er führte akustische Versuche mit den Zöglingen der anstalt durch, um die Gehörorgane der Kinder durch regelmäßige Übung und Verstärkung der reizbarkeit zu sensibilisieren (Itard 1822: 523). angesichts vieler erfolgloser heilversuche und dem Eingeständnis, dass die taubheit zu heilen doch meist unmöglich sei, versuchte er trotzdem die taubstummen Sprechen zu lehren. Im Gegensatz zu der am Institut vorherrschenden Gebärdensprache, entschied Itard sich für die „demutisation“, die aufhebung der Stummheit und setzte das lippenlesen und den mündlichen ausdruck durch (Malson et al. 1972: 109). In seinem „traité“ äußert er, dass wenn er (…) ganz frei zu verfügen gehabt hätte, seine Schüler von den übrigen taubstummen gänzlich getrennt, „ihnen alle Zeichen untereinander verboten, und sie so genötigt (…), ihre Bedürfnisse und jeden Gedanken ausschließlich mündlich erkennen zu geben“ (Itard 1822: 553). trotz dieses Eintretens für das Erlernen der lautsprache äußert er an anderer Stelle, dass seine Unterrichtsmethode nur wenig von der des abbé Sicard abweiche und „nur eine Übersetzung des äußerlichen Zeichen in Worte“ darstelle. Die Widersprüche werden hier an unterschiedlichen Punkten deutlich. Obwohl Itard wie auch l’Épée sich auf condillac beriefen, griffen sie – wenn man dies für l’Épée, wie bereits dargelegt, überhaupt als eine ernsthafte Inanspruchnahme bezeichnen kann – auf unterschiedliche aspekte zurück. l’Épée setzte die Pantomime kurzerhand mit einer Form vorsprachlichem Denkens gleich, während für Itard Denken und Kommunikation nicht ohne Sprache existierte. Damit stimmte er mit den Erziehungsprinzipien heinickes überein. Wenn er in der Praxis trotzdem auf die Pantomime setzte, dann dürfte es der tatsache geschuldet sein, dass in den Klassen der anstalt, die bereits 1785 mehr als 70 Schüler und Zöglinge zählte, ein lautsprachlicher Unterricht nicht umsetzbar gewesen wäre (Gessinger 1994: 274). Dass das Erlernen der lautsprache hier aber nicht gänzlich abgelehnt wurde, sondern bereits zu l’Épées lebzeiten praktiziert wurde, ist belegt. Um der Begeisterung des Publikums für „redende taubstumme“ rechnung zu tragen, hatte schon l’Épée einigen „vielversprechenden Schülern“ artikulationsunterricht erteilt, obwohl er selbst dies für eine „ekelhafte und lästige arbeit“ hielt (lane 1988: 35f.). Die Zeichensprache, „die die natur den taubstummen angewiesen“ hatte, besaß nach Itard den großen Vorteil, dass die taubstummen durch sie „mit einander verkehren“ konnten (Itard 1822: 554). „Wenngleich aber die Erziehung, die sich auf Gehör und rede gründet, mehr aufwand an Zeit erfordert, und doch nicht zu gleicher Vollkommenheit gebracht werden kann, so ist doch das dadurch erlangte resultat weit befriedigender; es entsteht eine leichtere und angenehmere art des Verkehrs taubstummer mit der Gesellschaft“ (Itard 1822: 554). Für seine medizinische Behandlung bot die taubstummenanstalt Itard reichhaltige Gelegenheiten für Beobachtungen und Experimente. Durch den Einsatz von
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Elektrizität, durch das Durchstechen des trommelfells oder durch ausspülung zur aussonderung der „lymphatischer Exkremente“ mittels einer silbernen Sonde (sonde d’Itard), selbst unter Einsatz des Brenneisens, versuchte er die gehörlosen Kinder der anstalt zu behandeln (Itard 1822: 510). In einhundertzweiundsiebzig Beobachtungen schildert er Krankengeschichten über erfolgreiche Behandlungen, die ihm zugetragen worden waren und er berichtet über seine Wiederholung und Überprüfung der therapeutischen Versuche, die aber meist die kolportierten Behandlungserfolge widerlegten. So beschreibt er u. a. den Fall des 15jährigen Zöglings christian Dietz, der im Juni 1811 an einem „schleichende(n) nervenfieber“ erkrankt in das Krankenzimmer der anstalt gebracht wurde. Während der langen Behandlung so berichtet Itard „faßte mein Patient ein solches Zutrauen zu mir, dass ich ihm den Vorschlag thun konnte, sich einer Operation zu unterziehen, die ich schon lange im Sinne hatte; die frohe aussicht auf ein nahes Gut, und nicht Gehorsam, bewogen ihn einzuwilligen“ (Itard: 1822: 512). Im Juli durchbohrte er das trommelfell beider Ohren mit einem Stilet, durch Wassereinspritzungen gelang es ihm schließlich, dass die Flüssigkeit sowohl durch den Gehörgang und schließlich auch durch die Eustachische röhre in den Mund des Jungen lief und die „Empfindsamkeit des Gehörorgans zurückkehrte“ und „… mit der taubheit war auch die Stummheit verschwunden. Doch konnte die ausbildung der Sprache nicht so schleunige Fortschritte machen, als die des Gehörs“ (Itard 1822: 514). Zwar konnte Itard in diesem Fall die taubheit des Jungen kurieren, aber ein Vierteljahr nach dem man ihn nach hause entlassen hatte, erlag er dem „nervenfieber“. Itard nahm die Durchbohrung des trommelfells noch an sieben anderen Zöglingen und sechs taubstummen vor, die man ihm z. t. aus dem ausland zugeschickt hatte, doch konnte er sich in keinem der Fälle eines „glücklichen Erfolges rühmen“ (Itard 1822: 516). Die taubstummenanstalt bot Itard die Möglichkeiten Personen für seine z. t. riskanten Versuche zu rekrutieren und auch die Beobachtungen und Studien, die er in seinen Gutachten publizierte, können als ein groß angelegtes humanexperiment angesehen werden, das allerdings noch einer eingehenden analyse bedarf. Diese Erfahrungen machten ihn aber auch zu einem anerkannten Spezialisten auf dem Gebiet der Behandlung und Erziehung von taubstummen. Durch seine pädagogische arbeit mit Viktor sowie zahlreiche abhandlungen zur Spracherziehung und Unterrichtung Gehörloser galt Itard zugleich als ein Vertreter der Gehörlosenpädagogik und der Geistigbehindertenpädagogik. Die von Itard entwickelten Methoden und didaktischen Materialien wurden später von seinem Schüler Édouard Séguin (1812–1880) zu einer vollständigen Erziehungslehre ausgearbeitet (Séguin 1846). Für die Mediziner seiner Zeit war Itard eine ausnahmeerscheinung, die in Deutschland kein Pendant hatte; er war ein Grenzgänger zwischen der Medizin und der Pädagogik. Die Beispiele aus der Pädagogik und der Medizin um 1800 zeigen, wie stark der Umgang und die Behandlung der taubstummen durch die zeitgenössischen philosophischen Spekulationen und hypothesen geprägt wurden. Die im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Westeuropa entstandenen philosophisch begründeten Sprachtheorien, die im Kernbereich – wir würden heute sagen – neurobiologische Fragen
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thematisierten, können als ein teil der spekulativen wie auch empirischen „Wissenschaft vom Menschen“ angesehen werden. Die Entwicklung verlief teils parallel, teils in wechselseitiger abhängigkeit zwischen der analytischen Philosophie und der empirischen Medizin bzw. Pädagogik. an der Behandlung der Gehörlosen wird dies besonders deutlich. Damit wurde nicht nur der Zusammenhang von Sprechen und Denken thematisiert, sondern auch auf das Defizit hingewiesen, das in der Erforschung dieses Zusammenhangs lag. Im wissenschaftlichen Kontext wurde über die Fähigkeit des Sprechens die Kausalkette Sprache, Kognition, Vernunft, Moral hergestellt und untersucht, ob taubstumme zu moralischem handeln befähigt seien. Mit den taubstummenanstalten war ein Ort bzw. ein raum geschaffen, der vielschichtig aufgeladen war. Einerseits umgrenze die anstalt den raum, in dem taubstumme überhaupt erst aufeinandertrafen und durch Gebärden miteinander kommunizieren konnten. Diese Grenzziehung besaß historisch betrachtet für eine Identitätsbildung über die Gebärdensprache eine besondere Bedeutung, sie brauchte diesen raum. Zugleich wurden anderenorts durch die Orientierung auf den Erwerb der lautsprache, die Gebärdenzeichen unterdrückt und mit Verboten belegt, damit waren es Orte, an denen die abweichung von der norm (der Gesellschaft) aufgehoben und anpassung eingeübt werden sollte. Es war zudem der Ort, an dem die Phänomene der Gehörlosigkeit und der Stummheit, in ihrer Differenziertheit erst offenkundig wurden und beobachtet und erforscht werden konnten. 3. GrahaM BEll UnD DIE GEhÖrlOSEn – raSSE Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist es vor allem der Diskurs über die neuorganisation des taubstummenunterrichts in den USa, der eine weitere Konstruktion von Behinderung deutlich werden lässt. Die Geschichte der institutionalisierten taubstummenfürsorge in den USa ist eng mit dem namen thomas hopkins Gallaudet (1787–1851) verknüpft. Gallaudet hatte in den 1810er Jahren Europa bereist, um die Methoden des Unterrichts für Gehörlose zu studieren, er sah sich die lautsprachlich orientierte Braidwood akademy in England an und besuchte abbé Sicard in Paris. aber nicht die lautsprachlich orientierte Methode wurde in der 1817 gegründeten hartford Schule eingeführt, was aufgrund der herkunft der Kolonisten new Englands zu vermuten gewesen wäre. Stattdessen setzte der selbst taubstumme und an der Sicardschen anstalt ausgebildete lehrer laurent clerc (1785–1869) auf den französischen, gebärdensprachlich orientierten Unterricht. Die hartford Schule wurde bekannt als „american School for the Deaf“. Gallaudets Sohn, Edward Miner Gallaudet, gründete ein college, aus dem die heutige Gallaudet University hervorging. Bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts dominierte in den USa an den bis dahin etwa 15 bestehenden taubstummenschulen die Gebärdensprache (Groce 1985). alexander Graham Bell (1847–1922) – weit mehr bekannt als der Erfinder des telefons – war es, der sich in den 1870er Jahren lautstark für ein lautsprachlich orientiertes Erziehungsprinzip der taubstummen in den USa einsetzte. Er war seit 1871 als taubstummenlehrer an der „clarke School“ in Massachusetts tätig, leitete
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dann eine „Schule für Vokalphysiologie“ und war zwischen 1873 und 1877 Professor für „Sprachphilosophie und Psychologie der Stimme“ an der Universität in Boston. Bell war ein prominenter Vertreter der Eugenik-Bewegung und publizierte eine reihe von arbeiten, die sich vor allem mit der erblich bedingten Gehörlosigkeit befassten (Bell 1886; 1888; 1898a; 1889b). Seine Ergebnisse basierten auf genealogischen Studien, die er in Martha’s Vineyard (Massachusetts) in den frühen 1880er Jahren durchführte. Die seit dem 17. Jahrhundert durch englische Kolonisten besiedelte Insel erscheint – was die gesellschaftliche akzeptanz und Integration Gehörloser betraf – als eine art „realer Utopie“. Dort lebten im 18. und 19. Jahrhundert überdurchschnittlich viele „taubstumme“ Menschen. Schon l’Épées nachfolger ambroise Sicard hatte sich ein solches Gemeinwesen vorgestellt: „Könnte es nicht in einem Winkel der Welt eine ganze Gesellschaft gehörloser Menschen geben? Wohl an! Würden wir diese Menschen für minderwertig halten, würden wir glauben, es mangele ihnen an Intelligenz und Verständigung? Gewiss hätten sie eine Gebärdensprache, vielleicht gar eine Sprache, die an ausdrucksmitteln reicher wäre als unsere. Diese Sprache wäre wenigstens eindeutig und gäbe immer ein genaues Bild der Gemütsregungen. Warum also sollte dieses Volk als unzivilisiert gelten? Warum sollte es nicht über Gesetze, eine Verwaltung, eine Polizei verfügen, die sich weniger argwöhnisch zu den Menschen verhielten als die unsere“ (Sacks 1989: 59; lane 1984: 89). Einige der ersten Siedler trugen vermutlich eine rezessive Mutation, die eine erblich bedingte Gehörlosigkeit hervorrief (Groce 1985: 44). In manchen Städten der region war noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts jeder vierte Einwohner gehörlos, „jeder sprach hier Gebärdensprache“ (Groce 1985: 49). Die abgeschiedenheit und relative Isolation war sicherlich ein Grund dafür, dass sich die Gebärdensprache hier bis in das beginnende 21. Jahrhundert erhalten hat. Es gab keinen förmlichen Unterricht in der Gebärdensprache und es ist auch nicht belegt, ob die gehörlosen Vineyarder im 17. und 18 Jahrhundert lesen und schreiben konnten. Im 19. Jahrhundert lernten sie Englisch als zweite Sprache in der Schule. Praktisch alle Gehörlosen von Martha’s Vineyard wurden auf die 1817 gegründete Schule in hartford geschickt. 1952 starb der letzte der Gehörlosen der Insel (Sacks: 62). Bell verstand Gebärden nicht als Sprache, sondern als eine art Dialekt, der die Integration der Gehörlosen in die Gesellschaft behinderte. Seiner maßgeblichen Initiative war es geschuldet, dass bereits bis 1880 etwa ein Dutzend lautsprachlich orientierter Schulen entstanden. Bell hatte zudem großen anteil daran, dass auf dem Mailänder taubstummenlehrer-Kongress 1880 die sogenannte „deutsche Methode“ auch international als die wichtigste gehörlosenpädagogische Methode anerkannt wurde. Durch Mehrheitsbeschluss wurde festgestellt, dass dem lautsprachlichen ansatz vor der Zeichensprache der Vorzug zu geben sei. Die Beschlüsse des Mailänder Kongresses, die zur Durchsetzung der „oralen Methode“ auf der ganzen Welt führten, wurden allerdings nur von einer Versammlung gefällt, auf der die Befürworter der Gebärdensprache und lehrer, die selbst gehörlos waren, kein Stimmrecht bekamen. In der Folge traten die „Oralisten“ auf der ganzen Welt ihren „Siegeszug“ an, was vor allem in den USa wo trotz Bemühungen Bells primär die „französische Methode“ benutzt wurde, starke Veränderungen bewirkte.
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1883 wies Bell in seinem Eröffnungsvortrag der „american national academy of Sciences“ auf die vermeintliche Gefahr hin, die durch das heiratsverhalten der Gehörlosen in den USa entstünde: „I desire to draw attention to the fact that in this country deaf-mutes marry deaf-mutes“ (1883). Durch seine wiederholte Warnung vor der Entstehung einer sogenannten „Gehörlosen-rasse“ (deaf-mute-race) erlangten die Gehörlosen allgemeine aufmerksamkeit. nun waren sie die „ideale Population“, um eine breite Öffentlichkeit für die Idee der „reinhaltung der nation“ und der „Verhinderung von Erbkrankheiten“ zu sensibilisieren. Die kollektive angst vor der Formation einer „taubstummen Variante der menschlichen rasse“, die der Eugeniker Bell durch seine Schriften und auftritte verbreitete, löste eine mehrere Jahrzehnte währende internationale Debatte in den taub- und Gehörlosen– communities aus und führte in den 1890er Jahren in einzelnen Bundesstaaten zur gesetzlichen Durchsetzung von heiratsverboten. Bells Position war ambivalent, er war teil des internationalen Gehörlosen-netzwerks und vertrat als taubstummenlehrer die auffassung, dass eine Integration nur über die lautsprache möglich sei, als anhänger der amerikanischen Eugenikbewegung („american Breeder’s association“) gehörte er zu den lautstarken Wortführern des heiratsverbotes. Diese Debatte und das heiratsverbot stellte gleichsam einen Vorgriff auf die Bestimmungen zur Zwangssterilisation, die durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken nachwuchses“ von 1933 in Deutschland umgesetzt wurde und unter die auch taubstumme fielen. auch im Diskurs über Erbkrankheiten kam den Gehörlosen – noch vor der Wiederentdeckung der mendelschen Erbregeln – somit eine Sonderrolle zu. SchlUSSBEtrachtUnG: In der jüngsten Zeit hat die neurolinguistik der Bewegung der Gehörlosen zu Erfolg verholfen. Sie hat mittels der neuen seit 1970 eingeführten bildgebenden Verfahren Mrt und fMrt den neurowissenschaftlichen nachweis erbracht – zu nennen sind hier vor allem die arbeiten von Ursula Bellugi – dass bei der Gebärdensprache die gleichen hirnareale und hirnaktivitäten wie bei hörgesunden angeregt sind – sie lieferte somit den Beleg für die Gleichwertigkeit hinsichtlich der cerebralen aktivitäten und repräsentation von laut- und Gebärdensprache (Bellugi et al. 1988). Während Gehörlosigkeit in der Medizin und im Sozialrecht eindeutig als schwere Behinderung gilt, versteht die „Deaf community“ Gehörlosigkeit, nicht als Behinderung, sondern als Merkmal ihrer kulturellen Identität. Die Gehörlosenbewegung und deren anhänger definieren Gehörlosigkeit als „andere Kultur“ mit eigener Sprache (lane 1984; Sachs 1989). anhand der Gehörlosenproblematik und ihrer Behandlung in den zurückliegenden Jahrhunderten wurde das Verhältnis der Medizin zur Gehörlosen-Population deutlich: Der Umgang mit taubstummen fokussiert die zentrale philosophische Frage: Was macht den Menschen zum Mensch? Bei der historischen Betrachtung der Gehörlosenproblematik wird aber auch der gesellschaftliche ausschluss aufgrund ei-
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nes Defekts sichtbar und es zeigt sich, wie der medizinische ausfall zu einem pathologischen Problem konstruiert wird. Die Inklusion in grundlegende Fragestellungen menschlicher Existenz, wie gleichermaßen die soziale Exklusion, ist an den Beispielen deutlich geworden. Die zentrale medizinethische Frage ist die nach dem Umgang der Medizin mit Defekten bzw. mit Behinderungen, mit abweichungen. Die ansätze in den Disability Studies und eine „Ethik der Behinderung“ zeigen auf, dass körperliches anders Sein (körperliche Differenz) eine weit verbreitete lebenserfahrung darstellt. Sie verweisen darauf, dass die Skala zwischen norm und Defekt sich eher als ein Kontinuum mit extremen Variationen und graduellen abstufungen darstellt, über die die andersartigkeit in den Fokus der aufmerksamkeiten rückt. abweichungen geben aufschluss über das Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Kultur. Sicherlich gibt es heute eine weithin anerkannte und international verknüpfte Gehörlosen-Gemeinschaft – eine Gehörlosenkultur also, die sich als (sprachliche) Minderheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft versteht. taubheit als Kulturzustand ist die Kunst des intersubjektiven Umgangs mit einer Beeinträchtigung. taubheit für sich genommen ist die Beeinträchtigung selbst. Menschen mit Behinderungen zur Kinderlosigkeit zu verurteilen, wäre diskriminierend und entspräche dem Bereich der nationalsozialistischen Praxis, bei der geglaubt wurde, Behinderungen „ausmerzen“ zu können. Das medizinische und medizinethische Dilemma aber ist, dass die moderne Medizin nicht nur die Möglichkeiten eröffnet, Krankheiten auszusondern bzw. zu behandeln (z. B. Präimplantationsdiagnostik, cochlea Implantate), sondern neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten stellen neue herausforderungen dar und erfordern die Überprüfung von Konzepten, Wertvorstellungen und Zielen der (modernen) Medizin. Diese handlungsmöglichkeiten der Medizin betreffen aber nicht nur das Phänomen der Gehörlosen, sondern sie sind paradigmatisch für die Medizin und den medizinischen Fortschritt. lItEratUrVErZEIchnIS Bellugi, Ursula & howard Poizner & Edward S.Klima (1988) ‚Sign language‘, in G. adelmann & J. Doran (eds), neuroscience year: the Encyclopedia of neurocience. Bell, alexander Graham (1883) Memoir Upon the Formation of a Deaf Variety of the human race (Washington: alexander Graham Bell association for the Deaf). Bell, alexander Graham (1886) ‚the Deaf-Mutes of Martha’s Vineyard‘, american annals of the Deaf 31: 282–284. – Ders. (1888) Facts and opinions relating to the deaf (london: Spottiswoode & co). – Ders. (1898a) Methods of instructing the deaf in the United States (Washington: Gibson Bros. Pr.). – Ders. (1898b) Marriage an address to the deaf (Washington, D.c.: Sanders). Bruland, hansjörg (2008) Die wilden Kinder in der Frühen neuzeit. Geschichten von der natur des Menschen (Stuttgart: Franz Steiner Verlag). Dahm, M. c. (1998) ‚taubheit: Das recht auf Gehörlosigkeit oder die chance mit einem „cochlear implant“ zu hören? Menschenbilder und die Medizin in der Welt der Gehörlosen und in der Welt der hörenden‘, hnO 46: 524–528.
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anErKannt ODEr aUSGEGrEnZt. DIE DISKUrSIVE KOnStrUKtIOn VOn SOZIalEr UnGlEIchhEIt UnD KranKhEIt In DEUtSchlanD Sebastian Kessler Einleitung Bereits rousseau stellt einen Zusammenhang zwischen politischer Ungleichheit und Krankheit her (rousseau 1995: 99–101; Ohl 2006: 70) und auch der Psychiater carl Friedrich Flemming macht sich in der zweiten hälfte des 19. Jahrhunderts Gedanken darüber, ob es einen Zusammenhang zwischen der civilisation und Krankheit gibt (Flemming 1859: 167–168; Shorter 2004: 62). Die allgemeine Fragestellung über die soziale Konstruktion von Krankheit hat die historische wie theoretische reflektion über die Medizin bis heute nicht wieder losgelassen (labisch & Spree 1989; Sandweg 2004; Siegrist 1996). Im Gegenteil, Begriffe wie Krankheit und Gesundheit sind sowohl Zentral für sozialkonstruktivistische analysen medikalen Wissens, (Jordanova 1995; lachmund & Stollberg 1992) als auch grundlegende Dimensionen bei der Untersuchung von Prozessen der Medikalisierung.1 Während bei rousseau allerdings noch die reichen und besonders Zivilisierten am stärksten von Krankheit bedroht waren, sind heute arme und unter sozialer Ungleichheit leidende Menschen in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt. Dieser Beitrag untersucht, diesem Verständnis folgend, das Verhältnis zwischen armut und Krankheit in der tradition des Erkenntnisinteresses um die sozialen Einflüsse auf das Verständnis von Krankheit. Er stellt die Frage nach diskursiven Prozessen sozialer ausgrenzung von armen Menschen, die akut krank werden oder chronisch krank sind. Solche Prozesse der Medikalisierung und gleichzeitigen Entpolitisierung von Krankheit werden auf den kommenden Seiten exemplarisch anhand des Umganges mit sozialer Ungleichheit im Kontext von Krankheit mit den begriffsgeschichtlichen Mitteln der Vokabularanalyse untersucht. Den empirischen Gegenstand der analyse stellt der politische und politikberatende Gebrauch des Begriffs der ‚sozialen Ungleichheit‘ im Kontext von Krankheit dar. Im folgenden wird zunächst der theoretische rahmen dieses Beitrags abgesteckt, in dem aufbauend auf axel honneths theorie um den „Kampf um anerkennung“ die auswahl der empirischen Quellen erklärt, die besondere Perspektive auf psychisch Kranke Menschen herausgestellt, welche unterhalb der armutsgrenze leben und die methodische herangehensweise der Vokabularanalyse vorgestellt wird (hellmann, Weber, 1
Ich verstehe in diesem Beitrag mit Wehling et al. unter Medikalisierung die „Wahrnehmung sozialer Probleme in medizinischen termini“ (Wehling, Viehöver, Keller & lau 2007: 552). Siehe zur Medikalisierung exemplarisch auch: conrad (1992, 2007), Illich (1977).
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Sauer & Schirmbeck 2007; hellmann, Weber, Sauer & Schirmbeck 2008). an diesen theoretischen abschnitt schließt die Darstellung der empirischen auswertung des politikberatenden und des gesundheitspolitischen Gebrauchs des Schlüsselbegriffs der ‚sozialen Ungleichheit‘ an. abschließend werde ich auf die Entpolitisierung sozialer Ungleichheit im Kontext von Krankheit zu sprechen kommen, die auf qualitative Unterschiede in der Medikalisierung von thematiken hinweist. Die Beschäftigung mit dem thema armutsgeprägte lebenslagen im Kontext von Krankheit erfordert zuallererst eine begriffliche Präzisierung und empirische Eingrenzung. Dies fällt nicht leicht angesichts vielfacher semantischer Verschiebungen und Konnotationen auf diesem Gebiet. nähert man sich dem thema, sieht man sich mit Schlagwörtern wie ‚Bildungsferne‘, ‚Sozialpathologie‘, ‚biologische Disposition‘, ‚langzeitarbeitslosigkeit‘ oder ‚Depression‘ konfrontiert. Die Schwierig keiten der begrifflichen Eingrenzung beruhen daher auf der andauernden neu Formulierung und Deutung der Problematik über den Verlauf der Zeit. So trafen etwa französische Ärzte während der Französischen revolution aussagen über die familiäre transmission von Wahnsinn im Kontext von armut (Foucault 1969: 387). auch später findet der Zusammenhang von armut und Krankheit Eingang in den Diskurs. Die Geschichte des wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und öffentlichen Umgangs mit chronischen Krankheiten des herzkreislaufsystems in den Jahren von 1918 bis 1945 zeigt beispielsweise andererseits eine Politisierung des themas Prävention (Madarász 2010).2 nach dem Ersten Weltkrieg wird in Deutschland eine Pflicht zur Gesundheit diskursiv etabliert, wobei bereits während der Weimarer republik chronische herzkreislaufkrankheiten als Zivilisationskrankheiten gedeutet wurden und dem einzelnen Bürger somit die Eigenverantwortung für seine Gesundheit zugesprochen wurde. Dennoch wird erst 1933 ein kausaler Zusammenhang zwischen Massenarbeitslosigkeit und dysthymen Stimmungen wie resignation, Verzweiflung oder apathischen Verhalten in der soziographischen und sozialpsychologischen Studie über die „arbeitslosen von Marienthal“ hergestellt (Jahoda, lazarsfeld & Zeisel 1933).3 Obwohl in dieser Forschungsrichtung inzwischen eine Vielzahl von Studien über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit publiziert wurden, existiert bis heute dennoch kein umfassendes Bild über das Verhältnis von Krankheit, armut und sozialer ausgrenzung geprägte lebenslagen. Insbesondere wird ein übergreifender theorierahmen eingefordert, der den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit zu erklären hilft (Winkler 2000: 45).4 Dabei hat sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem thema seit der Veröffentlichung des für Großbritannien sehr einflussreich gewordenen Black reports im Jahr 1982 verdichtet (townsend 1982). heute existiert eine Fülle von Detailstudien, die sich mit den einzelnen aspekten von sozialer 2 3 4
Madarász zeigt ihn Ihrer arbeit darüber hinaus die Pervertierung des Grundgedankens der Prävention im nationalsozialismus. Während Jahoda et al. gravierende psychische Veränderungen feststellen, sprechen sie allerdings zum teil auch von einer verbesserten physischen Gesundheit aufgrund der wegfallenden gesundheitlichen Belastung am vorherigen arbeitsplatz. Siehe für Versuche integrierende Mehrebenenmodelle zu etablieren auch: Sperlich & Mielck (2000), Pfaff, Ernstmann, Driller, Jung, Karbach, Kowalski, nitzsche & Ommen (2011).
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Ungleichheit und Krankheit befassen wie etwa mit dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und koronaren herzerkrankungen bei arbeitenden Männern im mittleren lebensalter, (Siegrist 1996) oder mit dem Zusammenhang von arbeit und psychischer Krankheit (Peter 2002; Peter 2009), beziehungsweise mit arbeitslosigkeit und psychischer Krankheit (Geyer & Peter 2003). aktuelle Studien befassen sich mit dem Zusammenhang von sozialer Stellung und Krankheit (Geyer, Peter & nielsen 2004; Peter, Gässler & Geyer 2007), stellen die Frage einer erhöhten Mortalität bei sozioökonomisch ärmeren Personen (helmert, Bammann, Voges & Müller 2000) und finden sogar anzeichen für sozial ungleiche Gesundheitsrisiken in der akutmedizin (Siegrist 2009). aufgrund der Datenlage ist es kaum überraschend, dass sich auch immer wieder kritische Stimmen über die gesellschaftliche Dimension von sozialer Ungleichheit und Krankheit finden. Prominent hat allen in einem Science-artikel vor einer neuen Eugenik gewarnt (allen 2001), es wurden aber auch bereits politische Strategien analysiert (Behrens 2000) und die Medikalisierung von arbeitslosigkeit und armut zur Debatte gestellt.5 In der bundesdeutschen Öffentlichkeit findet sich der Zusammenhang von prekären lebenswelten und Krankheit im Diskurs um die Frage der sozialen Ungleichheit wieder. Der Diskurs hat dabei einen Schwerpunkt auf dem thema der Prävention und reiht sich so medizinhistorisch in das sozialhygienische Denken des 19. Jahrhunderts ein, in dessen rahmen sich medikaler und politischer Diskurs eng verknüpften.6 aUSWahl DEr EMPIrISchEn QUEllEn Zur Begründung der Quellenauswahl und der Eingrenzung des Diskurses bietet es sich an auf intersubjektive anerkennungsverhältnisse zu achten. Diese eröffnen und begrenzen den diskursiven raum, indem sich der Einzelne in seinem ständigen ringen um anerkennung, achtung und Wertschätzung als moralische Person durch das soziale Umfeld befindet. anerkennungsverhältnisse spielen daher eine große rolle bei der diskursiven Konstitution des Selbst von Individuen.7, 8 In der theorie um den ‚Kampf um anerkennung‘ wird dazu laut honneth zwischen drei Formen von anerkennungsverhältnissen unterschieden: die anerkennung als eigenständiges Subjekt in der liebe, insbesondere in der Beziehung der Mutter zum Kind, die achtung als rechtssubjekt und die soziale Wertschätzung als moralische Person. Das ‚Selbst‘ eines Individuums gilt dabei erst dann als vollständig, wenn es mit seiner intersubjektiven Umwelt auf allen drei Ebenen um anerkennung ringt und solche erfährt. Im Folgenden sind das zweite und das dritte anerkennungsverhältnisse für die auswahl meiner empirischen Daten und die daran anschließende analyse relevant. 5 6 7 8
Vgl. exemplarisch: holmqvist (2009), Estroff, lachicotte, Illingworth & Johnston (1991). Siehe z. B.: Ferdinand (2010). Siehe: honneth (1990, 2000, 2000a, 2000b, 2008), Fraser, honneth & Wolf (2003). Siehe auch: habermas (2004: 376, 2009).
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Für die Untersuchung der Frage, ob und inwiefern die lebensverhältnisse kranker Menschen in verarmten und sozial ausgegrenzten lebenslagen einen gesellschaftlichen Bezug haben, ob sie also soziale anerkennung oder Missachtung erfahren, wird im Folgenden eine diskursive analyse der Debatte um soziale Ungleichheit und Krankheit durchgeführt. Um die Debatte sinnvoll eingrenzen zu können, ist hier der ausschnitt der politischen Debatte um das thema im deutschen Bundestag der Berliner republik ausgewählt worden. Die Empirie beginnt mit dem Zeitpunkt des Umzugs der hauptstadt im Jahr 1998. Ergänzt wird diese Debatte durch den unterfütternden, das Parlament beratenden Diskurs um das thema der sozialen Ungleichheit und Krankheit. anerkennungstheoretisch bietet sich die Debatte im Bundestag aus zwei Gründen an: Erstens ist zu erwarten, dass sich hier die gesellschaftlich und politisch relevantesten argumente abbilden. Zweitens ist hier der Ort, an dem das ringen um soziale Wertschätzung über die Gesetzgebung in rechtliche achtung überführt wird oder eben nicht. Die Debatte im Bundestag wird anhand der redeprotokolle der Plenartagungen analysiert. Diese stenografischen Berichte werden vom Bundestag herausgegeben und sind frei erhältlich. Die Diskursethik weist darüber hinaus auf eine besondere Position von psychisch Kranken hin. Gerechtigkeit müsse prinzipiell zwischen all denen verhandelt werden, die potentiell von ungerechten handlungen betroffen sind. habermas formuliert dafür den kategorischen Imperativ Kants um, dass nur jene norm eine gute norm sein kann, wenn sie von allen potentiell Betroffenen eine rational motivierte Zustimmung finden würde (habermas 2009).9 Damit wird psychische Erkrankung allerdings zum Sonderfall, da davon ausgegangen werden muss, dass psychisch erkrankte Menschen eine eingeschränkte Persönlichkeitsentwicklung haben und somit ihre Fähigkeit zu rationalen Urteilen zumindest eingeschränkt ist.10 Obwohl potentiell betroffen, sind sie somit nicht in der lage die Konsequenzen einer norm, welche ihre Persönlichkeit betrifft zu erfassen, Schlüsse daraus zu ziehen und ihre darauf aufbauende Position in den Diskurs einzubringen. Psychische kranke Menschen, die von sozialer Ungleichheit betroffen sind, können daher ihre rechte nicht uneingeschränkt im Diskurs verteidigen. habermas führt an dieser Stelle den Begriff der Solidarität ein als das ‚andere der Gerechtigkeit‘ ein (habermas 1991; honneth 2000: 167–168) und verlässt damit diskursethisch den Gerechtigkeitsdiskurs. hier liegt eine diskursethische Begründung dafür vor, wieso sich die Politik dezidiert mit dem Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und sozialer Ungleichheit beschäftigen sollte. Im Folgenden wird daher bei den Quellen der Solidarität gegenüber psychisch kranken Patienten ein besonderes augenmerk geschenkt.
9 Vgl. auch habermas (1991: 96, 2001: 97–100). 10 honneth bindet Selbstverwirklichung und Freiheit, also die Möglichkeit, sich seiner Eigenen Bedürfnisse, Wünsche und rechte bewusst zu werden unter anderem an das Fehlen von psychischen hemmungen, vgl. honneth (1990: 278).
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MEthODE Mit der Vokabularanalyse des Begriffes soziale Ungleichheit wird im Folgenden eine begriffsgeschichtliche herangehensweise an das Quellenmaterial gewählt. Gesundheitspolitische Debatten im Bundestag fokussieren sich auf zentrale politische Schlüsselbegriffe, wie dem der ‚sozialen Ungleichheit‘. Deren Bedeutung ist fluide und abhängig von dem jeweiligen Kontext, in dem er im Verlauf der rede gestellt wird. Die Bedeutung wichtiger Begriffe wird daher im Bundestag laufend in Frage gestellt, ausgehandelt und geschärft. Das im laufe dieses Prozesses ausgehandelte Verständnis setzt über die Gesetzgebung den gesellschaftlichen handlungsrahmen. Dieser prozesshafte charakter von Sprache wird bei Wittgenstein mit dem Bild von Sprachspielen gefasst.11 Ziele und Mittel in der Politik lassen sich daher durch die Interpretation der vollzogenen Sprechakte rekonstruieren.12 Dabei gelten nicht nur einzelne Wörter sondern auch Wortkombinationen und Kollokationen als ‚Schlüsselbegriffe‘, also „phraseologische Einheiten, die nicht als vollständige syntaktische Struktur oder teilstruktur verwendet werden können und die daher nicht über das Merkmal der (relativen) syntaktischen Selbständigkeit verfügen“ (Busse 2002: 408) und zusammen auftretende Wörter bzw. Wortpaare, die mitunter zu festen syntaktischen Verbindungen werden.13 Ziel des Beitrages ist es mit den begriffsgeschichtlichen Mitteln der Vokabularanalyse (hellmann, Weber, Sauer & Schirmbeck 2007; hellmann, Weber, Sauer & Schirmbeck 2008) die semantischen Felder um den Schlüsselbegriff ‚soziale Ungleichheit‘ sowohl im politikberatenden, als auch im politischen teildiskurs nachzuzeichnen und die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung am Ende gegenüberzustellen.14 In einem ersten Schritt wird ein textkorpus vergleichbarer Sprechakte aus den beiden bereits genannten teildiskursen, dem gesundheitspolitischen und dem politikberatenden erstellt. anschließend wird in einem zweiten Schritt analysiert, wie der Schlüsselbegriff der ‚sozialen Ungleichheit‘ mit Bedeutung ‚gefüllt‘ wird. Sprache wird hierfür, im Sinne Gadamers, als Mittel zur Verständigung aufgefasst und unter Berücksichtigung des eigenen Vorwissens lässt sich der jeweils untersuchte text analysieren, einordnen und verstehen.(Gadamer 1999[1987]) SOZIalE UnGlEIchhEIt IM GESUnDhEItSPOlItISchEn DISKUrS In DEUtSchlanD Der Begriff der sozialen Ungleichheit nimmt im gesundheitspolitischen Diskurs die rolle eines politischen Schlüsselworts ein. Er erweckt den anschein eine bestimmte Bedeutung mit sich zu tragen, ist aber für sich genommen unpräzise in seiner aus11 Siehe zur Sprachphilosophie nach Wittgenstein: Wittgenstein (1984), Wittgenstein (1984a). 12 Siehe zur Sprechakttheorie: austin (2007). 13 Siehe: teubert (1999: 299–301, 2006: 49), reder (2006: 158–161); siehe auch: hellmann, Weber, Sauer & Schirmbeck (2007: 652). 14 Siehe für eine Begriffsgeschichtliche analyse des Politikvokabulars in der deutschen Medizin von 1848 bis zur Bundesrepublik: Weidner (2007).
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sage. Die Idee der sozialen Ungleichheit ließe sich sowohl durch ein sozialdemokratisches Konzept füllen, nach dem benachteiligte gesellschaftliche Schichten zu Unrecht systematisch ungleich behandelt werden. Die Idee ließe sich aber auch – um hier nur zwei der vielen möglichen alternativen zu skizzieren – auf eine liberale Position beziehen, nach der soziale Ungleichheit eine notwendige Systembedingung ist, um eine Motivation zu eigenverantwortlichem handeln herzustellen. Der Schlüsselbegriff der sozialen Ungleichheit stellt m. E. einen empty bzw. floating signifyer dar.15 Sein Inhalt muss erst noch durch die Semantik der ihn umgebenden Worte gefüllt werden. Im Folgenden werden daher die Debatten um die Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit als Kampf um anerkennung in der Politik aufgefasst und dieses ringen an einigen Beispielen exemplarisch nachgezeichnet. Die Korrelation zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit spielt eine große rolle, solange der das Parlament beratende Diskurs betrachtet wird. Sie findet sich in den drei armutsberichten, in den Kinder- und Jugendberichten, aber auch in den Publikationen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Im Ersten armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001 gilt der „abbau sozialbedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen“ (Deutscher Bundestag 2001: 175) als hervorgehobenes Ziel. hier steht zunächst die Prävention im Vordergrund. Die lage der „von armut, arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffenen chronisch psychisch Kranken“ (Deutscher Bundestag 2001: 176), wird in der reihung der Problembereiche allerdings gleich an zweiter Stelle genannt. Das Verständnis dieser Korrelation hat sich vier Jahre später für die rot/grüne Bundesregierung kaum geändert. Im Zweiten armutsbericht stellt sie wiederum einen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit fest. Dieses Mal insbesondere mit Blick auf Menschen im sogenannten mittleren lebensalter (Deutscher Bundestag 2005: 116). Im Zusammenhang mit psychischer Krankheit spricht der Bericht in 2005 lediglich von einer höheren Prävalenz bei den unteren sozialen Schichten und erklärt, dass die Datenlage nicht ausreiche. Ein expliziter Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und dem Schlüsselbegriff soziale Ungleichheit wird nicht hergestellt (Deutscher Bundestag 2005: 116). Im dritten armutsbericht der schwarz/roten Bundesregierung in 2008 existiert der Bezug zum Schlüsselwort soziale Ungleichheit im Kontext von Krankheit nur noch über den Bezug auf literaturverweise in zwei Fußnoten. Stattdessen stellt dieser Bericht vermehrt gesundheitliche Ungleichheiten fest. (Deutscher Bundestag 2008: 110; Deutscher Bundestag 2008: 148) Man könnte hier eine abnahme in der relevanz der sozialen Ungleichheit im Kontext von Krankheit vermuten. Dieser tendenz wiedersprechen aber die anderen politikberatenden texte, wie die Kinder- und Jugendberichte. Der elfte Kinder- und Jugendbericht aus dem Jahr 2002 stellt eine klare Korrelation zwischen sozialer Ungleichheit auf der einen Seite und Mortalität und Morbidität auf der anderen 15 Siehe zum Begriff des empty signifyer: lévi-Strauss 1987 [1950]. Siehe zur rolle von empty signifyer im politischen Diskurs: laclau (1996: 44).
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Seite her (Deutscher Bundestag 2002: 222–224). In der Schlussfolgerung bemerkt die Gutachterkommission: „Familien in sozial benachteiligten lagen brauchen […] gezielte Unterstützung. Bildungsinstitutionen, allen voran die Schule, müssen sich ändern und zu gesundheitsfördernden Einrichtungen werden.“ (Deutscher Bundestag 2002: 226)
Der 11. Kinder- und Jugendbericht ruft so zur Sozialisierung und Politisierung auf, um dem Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit entgegenzuwirken. anerkennungstheoretisch verlangt dieser Sprechakt wahrzunehmen, dass sozial benachteiligte Familien hilfe aus der Gesellschaft benötigen, um aus ihrer schwierigen lage heraus gerechte chancen zu haben. auch der folgende Kinder- und Jugendbericht stellt in 2005 fest, dass soziale Ungleichheit die Gesundheit von Menschen mitbestimme (Deutscher Bundestag 2005: 111). Der 13. Kinder- und Jugendbericht schließlich, der in 2009 noch zur regierungszeit der großen Koalition erschienen ist, widmet sich dezidiert der Problematik zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit. Die oben angenommene tendenz, der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit verliere im politikberatenden Diskurs über den Verlauf der Zeit an Wichtigkeit kann somit also nicht stehen bleiben. Die Gutachterkommission setzt sich für eine Sichtweise ein, nach der soziale Ungleichheit als Ursache für gesundheitliche Ungleichheit zu sehen sei (Deutscher Bundestag 2009: 40), nach der soziale und gesundheitliche Ungleichheiten sich gegenseitig verstärkten, (Deutscher Bundestag 2009: 161) und bedauert, dass der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit heute nicht mehr aus „ihre[r] psychosozialen, gesellschaftlichen und materiellen“ (Deutscher Bundestag 2009: 43) Perspektive heraus gesehen werde mit den Worten: „Ein Bewusstsein für die biopsychosoziale Einheit der Gesundheit und Krankheit, wie es noch Virchow oder Grotjahn im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten, ist dem Medizinsystem zunehmend abhandengekommen (vgl. Göckenjan 1985; labisch 1991). Die immer wieder unternommenen Versuche einer integrativen Sicht, wie sie in der Sozialmedizin, Medizinsoziologie oder Psychosomatik gestartet wurden, konnten zu keiner Korrektur des medizinischen Mainstreams führen.“ (Deutscher Bundestag 2009: 43)
Im resümee ruft der Bericht schließlich dazu auf, den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit als Querschnittsthema zu sehen, dem sich sowohl die „Bildungs-, arbeits- und Sozialpolitik, Familien-, Kinder- und Jugendpolitik sowie Finanz- und Wirtschaftspolitik“(Deutscher Bundestag 2009: 260) widmen müssten. Die hier behandelte Frage ist im politikberatenden Diskurs also über den gesamten Zeitraum existent. Im politischen Diskurs der Berliner republik spielt die soziale Ungleichheit im Zusammenhang mit Krankheit hingegen praktisch keine rolle. In den etwa 400 Plenarprotokollen des deutschen Bundestages, die seit 1998 die politische Diskussion über das thema Gesundheit in der Bundesrepublik nachvollziehbar machen, fällt der Begriff 14 mal. Das bedeutet nicht, dass der Begriff im gesamten politischen Diskurs vollkommen ausgeblendet wird. Er hat einen relativ hohen Stellenwert in der Debatte über Bildung und in Diskussionen um Migration. Er taucht auch vereinzelt im Bereich der rentenversicherung auf. Die Frage der sozialen Un-
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gleichheit ist im politischen Diskurs präsent. allein im Zusammenhang mit Krankheit wirkt der Begriff, der in der Politikberatung einen derart hohen Stellenwert einnimmt, fast wie ausgeblendet. Soweit eine explizite Erläuterung dieses Zusammenhangs im Bundestag dennoch stattfindet, so geschieht dies insbesondere in Bezug auf die Präventionsproblematik. Götz-Peter lohmann von der SPD begrüßt im Jahr 2000 eine angestrebte Gesetzesänderung in hinsicht auf Primärprävention, die „einen Beitrag zur Verhinderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen“ (Deutscher Bundestag 2000: 10498) werde. rosel neuhäuser (PDS) bedauert in 2002 den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und fehlender Gesundheitsprävention für Kinder (Deutscher Bundestag 2002: 21937). In 2005 bedauert Birgitt Bender von den Grünen, dass Menschen abseits der Mittelschicht zwar besonders häufig und schwer erkrankten, diese Menschen von den Präventionsmaßnahmen dennoch nicht in ihrer lebenswirklichkeit erreicht würden (Deutscher Bundestag 2005: 14801), worauf ihr Detlef Parr aus der FDP-Fraktion heraus entgegnet, dass das, was sie als sozial gerecht empfindet, eine Entmündigung des Bürgers darstelle (Deutscher Bundestag 2005: 14803). Vereinzelt werden auch aspekte der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen. So beispielsweise Karl lauterbach (SPD) im Jahr 2006, wenn er erklärt, nur der risikostrukturausgeleich des Morbi-rSa könne unabhängig von sozialer Ungleichheit vor der finanziellen Bedrohung durch Krankheitskosten schützen (Deutscher Bundestag 2006). Martina Bunge (linke) ist mit ihrem Sprechakt aus dem Jahr 2008 schließlich die einzige, die argumentiert, ungleiche Gesundheitschancen müssten als Symptom sozialer Ungleichheit angesehen werden, und man müsse sich eigentlich mit der Ursache und nicht mit ihren medikalen auswirkungen beschäftigen, bevor auch sie sich in Ihrem redebeitrag stärker der Präventionspolitik zuwendet: „Wer die Gesundheit befördern will, muss aber zuallererst die sozialbedingte Ungleichheit der Gesundheitschancen verringern. Gesundheits-, arbeitsmarkt-, Sozial-, Familien- und Bildungspolitik müssen hierfür hand in hand gehen; aber leider passiert das nicht. Wenn Sie nun schon nichts dagegen tun, dass sich die Schere immer weiter auseinanderspreizt, dann wäre es zumindest geboten, gegen die auswirkungen dieses auseinanderspreizens auf die Gesundheit vorzugehen.“ (Deutscher Bundestag 2008: 20552)
Der Sprechakt von Martina Bunge aus dem Jahr 2008 ist der einzige in dem Untersuchungszeitraum, in dem Gesundheit als Querschnittsaufgabe verschiedener Politikfelder dargestellt wird. Zwar spricht sich beispielsweise Götz-Peter lohmann im Jahr 2000 ebenfalls dafür aus, etwas gegen die „sozial bedingte[r] Ungleichheit von Gesundheitschancen“ (Deutscher Bundestag 2000: 10498) zu tun, während er diese aufgabe jedoch in den Präventionsprogrammen der Krankenkassen verortet, werden bei Martina Bunge auch arbeitsmarkts-, Sozial-, Familien- und Bildungspolitische Maßnahmen in den Möglichkeitsraum präventionspolitischer handlungen mit aufgenommen. Setzt man die hier dargestellten Sprechakte in das Verhältnis zu den im Untersuchungszeitraum insgesamt geführten über 400 Debatten über Gesundheit muss ihr anteil im Wertestreit als auffällig gering beurteilt werden. Die Diskussion im Bundestag über das thema der sozialen Ungleichheit im Kontext von
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Krankheit bewegt sich am rande von dem, was sich überhaupt als Diskurs bezeichnen lässt. SYnthESE: DIE EntPOlItISIErUnG SOZIalEr UnGlEIchhEIt IM KOntExt VOn KranKhEIt Der Vergleich der Bedeutungszuschreibungen zu dem Schlüsselwort „soziale Ungleichheit“ in der Gesundheitspolitik und der Politikberatung spricht sowohl für eine Entpolitisierung des Problems der sozialen Ungleichheit auf diesem Gebiet, als auch für eine Medikalisierung von Menschen, die in armut leben und mittelbar an ihr erkranken.16 Bevor jedoch weiter auf die Schlussfolgerungen eingegangen wird, ist an dieser Stelle klarzustellen, dass ausschließlich aussagen über die diskursive Bedeutung des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und Krankheit getroffen werden, die analyse also quer zu jenen Debatten steht, die beispielsweise fragen, ob arbeitslosigkeit psychisch krank macht, oder ob psychisch Kranke schneller arbeitslos werden. Die Ergebnisse sind wie einleitend erklärt begrenzt auf das semantische Feld des Schlüsselbegriffs der sozialen Ungleichheit. Die oben vorgestellte analyse der beiden teildiskurse macht deutlich, dass der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit in der Politikberatung thematisiert wird, er findet jedoch beinahe keinen Eingang in die politische Debatte, obwohl die Semantik des Schlüsselbegriffes aktiv an die Politik herangetragen wird. Begriff und Zusammenhang, die ganze Semantik des Konzeptes scheinen daher entpolitisiert. Mit rekurs auf das sozialphilosophische Konzept des Kampfes um anerkennung ist jedenfalls festzuhalten, dass dieser Kampf wenn, dann nur sehr leise ausgefochten wird. Ein expliziter Bezug zu psychischer Krankheit wird nur in den ersten beiden armutsberichten der Bundesregierung hergestellt. Zwar missachtet der politische Diskurs im Bundestag psychisch kranke Menschen in prekären lebenslagen nicht, er lässt ihnen jedoch auch keine anerkennung zukommen. Ihre Situation wird vielmehr, wie in der analyse gezeigt wurde, an diesem Ort ausgeblendet. Es finden sich über die letzten zwölf Jahre hinweg nur wenige argumentative Begründungen für die Wertschätzung von sozial depravierten Kranken, bzw. Sprechakte, in denen eine solche Wertschätzung eingefordert wird. Wird der Schlüsselbegriff verwendet, dann geschieht dies zumeist im Kontext der Präventionsgesetzgebung. aus den unterschiedlichen lagern wird der Schlüsselbegriff dabei verschieden in die Sprachspiele im Bundestag eingebracht und mit teils divergierenden Bedeutungsinhalten gefüllt. Das zeigt sich einerseits dann, wenn auf Seiten der Grünen bedauert wird, dass Präventionsmaßnahmen, die lebenswirklichkeiten von sozioökonomisch armen Menschen nicht erreichen würde. Es zeigt sich aber andererseits auch wenn in der FDP die politischen lösungsvorstellungen, die vom politischen Gegner an das Konzept von Prävention und sozialer Ungleichheit gekoppelt werden, mit der Me16 Mit Medikalisierung ist hier im engeren Sinne die ausblendung der sozialpolitischen Dimension bei den Krankheitsursachen gemeint, was die soziale Schieflage auf ein rein ärztlich zu behandelndes und damit unpolitisches Problem reduziert.
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tapher einer Entmündigung des Bürgers abgelehnt werden. Das hat nicht zuletzt deshalb eine auswirkung auf die lebenswelten von Menschen in prekären lebenslagen, weil die Präventionsgesetzgebung als gescheitert angesehen werden kann und nach aussage der Bundesregierung auch nicht weiterverfolgt wird (Deutscher Bundestag 2010: 3). Eine gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Situation, die sich in den Sprachspielen im Bundestag noch wiederfindet, kann so durch die Gesetzgebung nicht in rechtliche achtung überführt werden. Eine politische Problemlösung bleibt daher undenkbar, denn für die Problemlösung bietet sich als einzig übrig gebliebene alternative nur noch die Medikalisierung des Zusammenhangs an, in der der betrübte arbeitslose zum „depressiven“ Patienten wird und beim arzt einen ausweg aus seiner Situation sucht. Diese Entpolitisierung des Schlüsselbegriffs soziale Ungleichheit geht mit einer Medikalisierung des Problemzusammenhangs einher. Über die Medikalisierung prekärer lebenswelten wird das normgeflecht um die soziale anerkennung in eine art und Weise beeinflusst wird, dass das thema aus dem politischen Diskurs herausfällt. Der Zusammenhang wird so geprägt, dass eine ergänzende oder konkurrierende Einbettung in das politische normgeflecht und die politische art und Weise anerkennung zu verteilen und um sie zu streiten undenkbar wird oder aber er wird, wie von harald terpe (Grüne) im Jahr 2008 als allgemeinplatz dargestellt (Deutscher Bundestag 2008: 14517).17 Es kann vermutet werden, dass die Entpolitisierung, die sich in der obigen analyse des gesundheitspolitischen Gebrauchs des Schlüsselwortes soziale Ungleichheit zeigt, teil einer gesundheitspolitischen Konjunkturflaute ist. Es liegt hier eine Entpolitisierung vor, die sich ist auf einen zeitlichen und semantischen rahmen begrenzt und hier nur für die Semantiken der Sprachspiele um das Schlüsselwort in den Jahren von 1998 bis 2009 gezeigt werden konnte. Die Geschichte des wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und öffentlichen Umgang mit chronischen Krankheiten des herzkreislaufsystems zeigt demgegenüber eine Politisierung des themas Prävention (Madarász 2010). Beispielsweise in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und während der Weimarer republik wurde öffentlich eine individuelle Verantwortung für die eigene Gesundheit konstruiert, die jeder Bürger zu erfüllen habe. In der modernen gesundheitspolitischen Geschichte in Deutschland unterliegt das thema der Prävention offensichtlich unterschiedlichen diskursiven Konjunkturen. Wobei sich möglicherweise Phasen von starker öffentlicher thematisierung und Politisierung mit Phasen von Entpolitisierung der Prävention abwechseln. Fragt man nach den Ursachen von Politisierung und Entpolitisierung medikaler thematiken, dann müssen allerdings qualitative Unterschiede in der art und Weise der Medikalisierung von Sachverhalten festgestellt werden, die in der Folge auch die Politisierung und Entpolitisierung beeinflussen. als einen Grund sehe ich hier, dass auf die jeweiligen themen bezogene Diagnosen einen Unterschied machen. Im Bezug auf Prävention ist die offensichtliche Schlussfolgerung, auch jene in den medikalen Diskurs mit einzubeziehen, die noch gesund sind. Der Diskurs wird da17 harald terpe relativiert im nachsatz allerdings seine aussage, indem er feststellt, dass trotz geteilter Diagnose die Wahl der darauffolgenden politischen handlung umstritten sei.
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her sozialisiert und findet damit als medikales thema Eingang in die Politik. Demgegenüber wird im Bezug auf psychische Krankheiten der Schluss gezogen, dass der einzelne Kranke behandelt werden muss, was zu der Individualisierung des medikalen Diskurses führt (conrad 2007: 7–8). Für die diskursive Konstruktion von sozialer Ungleichheit und Krankheit bedeutet diese Individualisierung, einen tendenziellen ausschluss aus der sozialen und politischen Wirklichkeit. Damit ist auch die Debatte um alternative, nicht-medikale Wege zur aufhebung sozialer Ungleichheit wenn nicht von Beginn an verhindert so doch zumindest erschwert. lItEratUrVErZEIchnIS allen, G. E. (2001) ‚Essays on science and society. Is a new eugenics afoot? ‚, Science (new York, n.Y.) 294(5540): 59–61. austin, John l. (2007) Zur theorie der Sprechakte (Stuttgart: reclam). Behrens, Johann (2000) ‚Schicksal, leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit: Ungleichheit in der Gesundheit und die trennbarkeit von Geltungsphären politischer Strategien‘, in U. helmert, K. Bammann, W. Voges & r. Müller (hg.), Müssen arme früher sterben?: Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland (Weinheim: Juventa-Verl.): 59–69. Busse, Dietrich (2002) ‚Wortkombinationen‘, in D. a. cruse, F. hundsnurscher, M. Job & P. r. lutzeier (hg.), lexikologie: Ein internationales handbuch zur natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen: handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Berlin, new York): 408–415. conrad, Peter (1992) ‚Medicalization and Social control‘, annual review of Sociology 18(1): 209– 232. conrad, Peter (2007) the medicalization of society: On the transformation of human conditions into treatable disorders (Baltimore, Md.: Johns hopkins Univ. Press). Deutscher Bundestag (2000) Plenarprotokoll 14/111. Deutscher Bundestag (2001) lebenslagen in Deutschland: Drucksache 14/5990: Erster armuts- und reichtumsbericht. Deutscher Bundestag (2002) Elfter Kinder- und Jugendbericht: Drucksache 14/8181: Bericht über die lebenssituation junger Menschen und die leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag (2002) Plenarprotokoll 14/221. Deutscher Bundestag (2005) lebenslagen in Deutschland: Drucksache 15/5015: Zweiter armuts- und reichtumsberricht. Deutscher Bundestag (2005) Plenarprotokoll 15/158. Deutscher Bundestag (2005) Zwölfter Kinder- und Jugendbericht: Drucksache 15/6014: Bericht über die lebenssituation junger Menschen und die leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag (2006) Plenarprotokoll 16/37. Deutscher Bundestag (2008) lebenslagen in Deutschland: Drucksache 16/9915: Dritter armuts- und reichtumsbericht. Deutscher Bundestag (2008) Plenarprotokoll 16/137. Deutscher Bundestag (2008) Plenarprotokoll 16/190. Deutscher Bundestag (2009) 13. Kinder- und Jugendbericht: Drucksache 16/12860: Bericht über die lebenssituation junger Menschen und die leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag (2010) antwort der Bundesregierung auf die Kleine anfrage der abgeordneten angelika Graf (rosenheim), Bärbel Bas, Dr. Edgar Franke, weiterer abgeordneter und der Fraktion der SPD.: Drucksache 17/845.
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EInE GraMMatIK DES rIchtIGEn GEWIchtS: DEr BODY-MaSS-InDEx (BMI) alS BIOPOlItISchES InStrUMEnt Debora Lea Frommeld 1. EInFÜhrUnG „ampelfarben“, eine „nationale Verzehrstudie“ und ein „nationaler aktionsplan Ernährung und Bewegung In FOrM“ stellen aktuelle Strategien der deutschen Politik dar, Übergewicht als Problem zu formulieren (BMElV a,b; BMElV/BMG 2008; Künast 2006)1. Immer dann, wenn es in diesen Kontexten um die in der Öffentlichkeit diskutierte Frage des Gewichts geht (Unter-/Übergewicht, normal- oder Idealgewicht, Wohlfühlgewicht) oder aber einfach nur um den ästhetischen Körper, sticht ein besonderes Instrument hervor – der so genannte Body-Mass-Index (BMI). Mithilfe des BMI wurde bereits 2004 der „dicke deutsche Körper“ und jüngst dessen antipode, der dünne „hungerhaken“, in die Diskussion gebracht. So hat beispielsweise die vormalige Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und landwirtschaft, renate Künast im selben Jahr in ihrer regierungserklärung und ihrem Buch „Die Dickmacher“ dargelegt, „warum die Deutschen immer dicker werden und was wir dagegen tun müssen“ (Künast 2006). Ein BMI von über 25 wurde darin als Indiz für Übergewicht aufgeführt, Übergewicht zum Problem erklärt und der „Kampf gegen das Fett“ in Deutschland eingeläutet. Doch nicht nur um die „Dicken“ dreht sich die Debatte. auch Untergewicht gelangt nicht erst durch Initiativen wie die des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), („leben hat Gewicht“) oder der Frauenzeitschrift Brigitte („Ohne Models“) in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Beide Kampagnen richten sich gegen die mediale Inszenierung von Schlankheit, die durch einen niedrigen BMI-Wert symbolisiert wird und weit über die laufstege der Modeindustrie hinaus als Kriterium für Schönheit dient. Fahndet man nach dem „normalen“ oder „idealen“ Körper, fällt auf, dass sich BMI-Werte inzwischen zum obligatorischen Maßstab etablieren konnten. Wie aus der (historischen) analyse deutlich wird, verbinden sich damit vier charakteristi1
Bei allen drei genannten Initiativen geht es um die hohe anzahl übergewichtiger deutscher Bürger (BMElV a,b; BMElV/BMG 2008; Künast 2006). Die „ampelfarben“ sind ein Kennzeichnungssystem für lebensmittel. Die Signalfarben sollen auf den Verpackungen angebracht werden, um zur schnellen Erkennung von „gesunden“ und potenziell „ungesunden“ nahrungsmitteln beizutragen. Die „nationale Verzehrstudie II“ untersuchte von 2005 bis 2007 das Ernährungsverhalten der deutschen Bevölkerung. Der aktionsplan „In FOrM“ soll deutsche Bürger erreichen und formuliert „besser essen und mehr bewegen“ als Ziel (BMG 2007).
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sche Dichotomien (normal/nicht-normal, gesund/krank, schön/nicht-schön sowie dünn/dick). Daraus lässt sich die Existenz eines spezifischen BMI bezogenen Körperwissens ableiten. Doch wie entsteht das diskursive Wissen um den BMI? Und wie kommt es dazu, dass der BMI auch von der (Gesundheits-)Politik entdeckt und zum biopolitischen Instrument werden konnte? 2. DaS KOnZEPt DEr BIOPOlItIK Im Folgenden wird von der hypothese ausgegangen, dass der BMI ein biopolitisches Instrument ist. Foucaults Konzept der Biopolitik eignet sich deshalb besonders gut, weil die zentrale annahme ist, dass durch eine bestimmte art der Machtausübung, die hier in Vermittlung eines normativen Körperwissens besteht, Individuen und Gesellschaften „regiert“ werden können (Foucault 1992, Foucault 1994: 254 V, 2005a). Mit diesem Machtbegriff analysiert Foucault (1992: 166ff.) ein gesellschaftliches Phänomen, das er als Biomacht/Biopolitik bezeichnet. Im anschluss an ein solches Verständnis von Macht und Biopolitik soll im Folgenden die Frage gestellt werden, ob und in welcher Weise der Quetelets Index – oder wie man heute sagt, der BMI – ein biopolitisches Instrument ist, durch das heute gesellschaftliche Machtverhältnisse in den Körper übergehen können2. Wie zu zeigen sein wird, spielt dabei eine Grenzziehung, deren Maßstab die Gaußsche normalverteilung ist und die über den BMI gelenkt wird, eine besondere rolle. Dazu folgt zunächst die historische rekonstruktion des BMI, die den Bogen vom 19. Jahrhundert bis heute, dem Zeitalter des „Schlankheitskultes“ spannt. 3. aDOlPhE QUEtElEt UnD DIE GEBUrt DES BMI adolphe Quetelet3 (1796–1874), Mathematiker und Statistiker, stieß bei der Erfassung zentraler Körpermerkmale von knapp 6000 Soldaten (u. a. Körpergröße und -gewicht) auf gewisse regelmäßigkeiten (Encyclopædia Britannica; link 1999: 205; Quetelet 1914: 42f.; SPF Economie 1998/2008; reichesberg 1893a: 496). Wie für das 19. Jahrhundert typisch, verwendete Quetelet als zentrales Prinzip die Wahrscheinlichkeitsrechnung und Gaußsche normalverteilung (Desrosières 2005: 74; hacking 1999: 106f.). Im anschluss an seine Messungen vermutete Quetelet „(…) die Wirklichkeit einer typischen Form, von der jede abweichung als eine Unregelmäßigkeit betrachtet werden muß“ (Quetelet 1914: 45). Die Werte unterhalb des „Bauches“ der normalverteilung stellten für Quetelet durch die natur bedingte Körpermaße dar und streuten sich hauptsächlich um den mittleren Wert (Quetelet 1914: 46ff., 1921; reichesberg 1893a: 493). Die Beobachtung dieser Werte ließ ihn schließlich auf die berühmte Formel stoßen. Er beschrieb, dass: 2 3
auf diesen Zusammenhang komme ich in Kapitel 5 zu sprechen. Die Schreibweise von Quetelet variiert (Quetelet, Quételet). Ich halte mich an die in den meisten Quellen (Monografien und Sekundärliteratur) zitierte Form „Quetelet“.
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„(…) die Gewichte bei den ausgewachsenen Personen von verschiedener Größe ungefähr wie die Quadrate der Größe sich verhalten“ (Quetelet: 1921: 90, herv. i. O.)4.
Das Ziel Quetelets war es, die Wesensstruktur einer Masse mit statistischen Mittel zu beschreiben, den Idealtypus herauszufiltern und abweichungen („Extreme“) deutlich zu machen (Quetelet 1921). Diese Verknüpfungen mündeten damit in eine Formel, die für jede Gruppe und jede nation eine bestimmte durchschnittliche Körperproportion beschreibt und somit den spezifischen mittleren Menschen definitiv greifbar macht. Das Konzept des „homme moyen“ führte Quetelet schließlich als abstrakten repräsentanten der Gattung Mensch sowie als ästhetisches und moralisches leitbild ein (Quetelet 1914). Es verkörpert den durchschnittlichen Menschen als träger dieser Eigenschaften. Für die regelmäßigen Körper(maße) setzte Quetelet in beide richtungen Grenzen (Quetelet 1914: 46ff., 1921). alle Werte jenseits davon sollten als gesundheitsgefährdende abweichungen betrachtet werden (Quetelet 1914: 46, 1921; reichesberg 1893a: 496)5. Das Wissen über diese so definierten Gesetzmäßigkeiten implizierte später sozialpolitische Maßnahmen. Welche aktuelle Brisanz das von Quetelet beschriebene Verhältnis zwischen Körpergröße und Körpergewicht bis heute besitzt, soll nachstehend, vor allem in Bezug auf Übergewicht, ausgeführt werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass der Quotient in der zweiten hälfte des 20. Jahrhunderts als BMI bekannt wird. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stark frequentiert, nehmen rezensenten die Methoden Quetelets und dessen anspruch, den typus des Durchschnittsmenschen geklärt zu haben, in die Kritik. Schon kurz vor Quetelets tod erscheinen Besprechungen, die die Einseitigkeit der argumentation und die geringe (methodische) haltbarkeit des Konstrukts des homme moyen kritisieren. So verlieren sich die Spuren der Moralstatistik und mit ihr auch die des BMI weitestgehend im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 4. DrEI DISKUrSE ODEr DIE SOZIalE GESchIchtE DES BMI Ein enges Gefüge aus Statistik, Medizin und soziokulturell begründbaren Komponenten bilden die cluster, aus denen aus einer Beschreibung sozialer Zusammenhänge die wissenschaftlich geprägte Ursprungsgeschichte des BMI erwächst. 4.1 Politik, Gesellschaft und die Zahlen: Der Zugang über den „Generator“ Statistik Für die anfänge der Statistik zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert erweist sich das Bemühen als typisch, soziale Vorgänge zu beschreiben und diese dann mithilfe von Zahlen zu messen, um allgemeingültige aussagen treffen zu können (Bonß, 4 5
Zu einer generell feststehenden Formel führt Quetelet diese Überlegungen nicht aus (vgl. Keys et al. 1971: 340). Dieser Zusammenhang wird sich im weiteren Verlauf des vorliegenden aufsatzes verdeutlichen.
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1982: 64). Der Frage, ob es allgemeine Gesetze gibt, nach denen sich die Gesellschaft richtet, steht hierbei im Fokus (reichesberg 1893b: 6)6. Somit bildet die Schnittmenge der frühen Statistik erstens eine Melange aus mathematischem und theologischem Zugang7, zweitens konstituieren sich daraus administrative und politische sowie ökonomische Fragestellungen (Bonß 1982: 62f.; Stigler 1986: 4)8. aus dem Bestreben heraus, den Staat beschreiben, verwalten und kontrollieren zu können, entstand so die amtliche Statistik, welche im Zusammenhang mit dem BMI und Biopolitik von besonderem Interesse ist (Schneider 2007a, b). Diese Form der Statistik gründete auf dem Gedanken, herrschaft zu vereinfachen, indem Verwaltung und Kontrolle der bestehenden Verhältnisse wichtige Instrumente wurden (Desrosières 2005). Vor allem in Frankreich wurde dieses Prinzip der regulierung, Maßgabe und lenkung vorangetrieben, damit die absolutistische Macht besser die gesellschaftliche Entwicklung voraussehen konnte – dies im hinblick auf eine stetig wachsende Bevölkerung, die als ressource betrachtet wurde (Bonß 1982: 70f.). Vor dem hintergrund der politischen Veränderungen – im Zuge der Vorboten der französischen und industriellen revolution in Frankreich und England – entwickelte abraham de Moivre (1667–1754) die Prinzipien der normalverteilung9 inklusive ihrer graphischen Darstellung. Für die folgende Periode ist festzustellen, dass die Statistik auf dem Weg war, das Soziale zu quantifizieren und Gesellschaft „be-greifbar“ zu machen (Stigler 1986: 70ff.). Erstens etablierten sich zunehmend statistische Methoden und deren Prinzipien und wurden demzufolge immer mehr Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Die Wissenschaftsgeschichte lässt sich deshalb als Verdichtung des Interesses an der anwendung mathematischer bzw. statistischer Methoden interpretieren, die sich auf soziale und ökonomische Zusammenhänge konzentrierte. Zweitens wurde die Möglichkeit einer „Messbarkeit“ solcher Fragen von den jeweiligen regierungen wahrgenommen und bildete die Basis einer beginnenden, von akteuren gelenkten sozialen Ordnung (Böhme 1971: 16; Köhler 2008: 75). So wie der Gedanke einer natürlichen, gottgegebenen Ordnung grundsätzlich im Fundament des wissenschaftlichen Diskurses eingegossen zu sein schien, begannen im 18. Jahrhundert Pierre-Simon laplace (1749–1827) und Johann carl Friedrich Gauß (1777–1855) diese „tatsache“ mathematisch zu fundieren, also objektiv messbar zu machen (Desrosières: 2005: 70ff.). Die laplaceschen als auch gaußschen arbeiten gelten heute als Meilensteine für die Weiterentwicklung der statistischen und mathematischen Methoden und übten die nachhaltigsten auswirkungen auf das Konzept des homme moyen aus. Die normalverteilung, definiert durch Durchschnitt und Standardabweichung, erweist sich als Grundbaustein für 6 7 8 9
Vgl. Kapitel 3. Zu diesem historischen Zeitpunkt ist die wissenschaftliche Wahrnehmung theistisch geprägt (Desrosières 2005: 127ff., 145). Der Komplex bezieht aspekte aus Mathematik, astronomie, Philosophie, Geographie/Geodäsie und nationalökonomie/Ökonometrie mit ein. Karl Pearson formuliert 1894 den Begriff „normalverteilung“, de Moivre (1667–1754) begründet diese aber wesentlich früher (Desrosières 2005: 86; Stigler 1986: 70ff.).
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die Statistik des 19. Jahrhunderts und war gleichzeitig für die Entwicklung des homme moyen und des BMI entscheidend (Desrosières 2005: 74; hacking 1999: 106f). Dieses „ausgangsmaterial“ ließ Quetelet10 gewissermaßen auf den BMI „stoßen“ und bildet heute einen weiteren historischen hinweis. Das Auftauchen des „Normalen“ im 19. Jahrhundert: Normalverteilung Unmittelbar greifbar wird der ausdruck „normal“ im Kompositum „normalverteilung“ und gilt dort als Synonym für eine „gaußoid“ verlaufende, glockenförmige Kurve (link 1999, 2006). In diesem Kontext spricht Quetelet von einer „normalgröße“ oder „typischen Größe“11 die der mittlere Mensch aufweist. Mitte des 19. Jahrhunderts greifen Enzyklopädien einen daran gekoppelten Eintrag auf, die notiz verweist auf „norm“12: „(v. lat. „norma“) 1) richtmaß, Winkelmaß; – 2) richtschnur, regel, Vorschrift, Muster; daher normal, was regelrichtig, einem gegebenen Muster oder einer gefassten Idee von Vollkommenheit entsprechend ist.“ (Meyer’s conversations-lexikon 1853: 1093)13. „normalistische“ tendenzen zeigen sich grundsätzlich auch im Prozess der „normung“ innerhalb eines Diskurses, der für den Zeitraum kurz vor und während der Industrialisierung typisch ist, als Quetelet mit seinen Untersuchungen begann (vgl. link 1999: 193). nach und nach etablierten sich auch standardisierte Maß- und Gewichtseinheiten sowie geeichte Einheiten (O’connor/robertson 1999; link 1999: 190ff.). auf diese Weise zeigt sich, wie der diskursive Komplex „normal“ in den vielfältigen Strukturen der Gesellschaft nach und nach zu einer grundlegenden, etablierten Bemessungskategorie wird. Für Quetelet ergab sich während seiner arbeiten folgende „logische“ Verknüpfung14: Die statistische Semantik von „normal“ kommt dem „Durchschnitt“ gleich. Daraus entspringt wiederum die Deutung „normal-ideal“ (bzw. der Schluss von normal auf ideal) – kurz, die Gleichung normal = Durchschnitt = ideal. auf die graphische Darstellung der Gaußschen normalverteilung bezogen, formiert diese aussage sich im mittleren Bereich, wie die folgende abbildung [abb.1] zeigt.
10 Es schließen sich die von Quetelet getätigten Untersuchungen im auftrag der lebensversicherungen und seine eigenen Untersuchungen ein (Quetelet 1914; Weigley 1989). 11 Vgl. Kapitel 3. 12 Ich folge hier den argumentationen hackings (1999: 160ff.) und links (1999: 183ff.). 13 Die Begriffe „vorgeschriebene regel“ und „Gesetz“ finden sich auch zuvor mit dem Zusatz „(…) welches man genau zu beobachten und nicht darwider zu handeln hat“ in Zedlers Universallexikon (1740: 1311), ergänzt durch den Verweis „richtschnur“. 14 auf der einen Seite figuriert der BMI nach Quetelet den mathematischen bzw. statistischen Durchschnitt, und auf der anderen Seite den vollkommenen, ästhetischen Idealtypus. Daran lässt sich die Doppelwertigkeit von normalität und normativität insoweit ablesen, als dass sich normalität eher der ersten Interpretation entsprechend mit „Skala“, „Standard“ oder „Durchschnitt“ begreifen lässt, während normativität ethisch und auch juristisch einen Idealtyp bestimmt (von Stechow: 2004: 24).
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abbildung 1: typische Gaußsche normalverteilung im Protonormalismus15
nach Quetelets analyse scheint ein dem Durchschnitt entsprechender mittlerer Mensch mit ebenso durchschnittlichem Verhältnis von Körpergröße und Körpergewicht (also einem durchschnittlichem BMI) in einem normalen Bereich zu liegen und stellt deshalb den Idealtypus dar, den möglichst das gesamte Volk verkörpern solle (link 2006: 57f; Quetelet 1921: 42, 66ff., 408f.). Zudem fällt die these auf, dass nur der mittlere Mensch den Fortschritt vorantreiben würde und demzufolge möglichst das gesamte Volk diesen typus verkörpern sollte. So könne das Wohlergehen einer nation gesichert werden – ein Gedanke, den zuvor schon andere Statistiker vertreten hatten. In der Folgezeit setzte sich im Bewusstsein der Menschen zunehmend durch, die Jenseitigkeit der Grenzen von „normal“ wahrzunehmen, auf diese zu achten und gleichzeitig zu vermeiden (link 1999: 220). Gleichzeitig erhob sich die normalität zur norm und das politische Bestreben, das gesellschaftliche Wohl zu schützen, rechtfertigte sozialhygienische Maßnahmen, die sich gegen abweichungen von der norm (z. B. Kriminalität) richteten (canguilhem 1992: 162; Ewald 1993: 205f.; link 1999: 127). Die historischen hintergründe, die sich mit der ersten Dichotomie „normal“ und „nicht-normal“ bzw. „a-normal“ verbinden, wurde in diesem abschnitt in Bezug auf die Wissenschaftsgeschichte der Statistik geklärt. Bei dem nun folgenden Blick auf die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Medizin in der neuzeit wird diese Dichotomie durch eine weitere ergänzt (vgl. labisch 1992).
15 Pränormalismus benennt nach link (1999: 190ff., 2006: 176ff.) die Zeit vor 1800, während Protonormalismus die nachfolgende Phase bezeichnet.
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4.2 MEDIZIn: hYGIEnE UnD ErnÄhrUnG IM FOKUS Den medizingeschichtlichen ausgangspunkt bilden diätetische lehren, die sich zunächst ausschließlich an die Spitze der mittelalterlichen Gesellschaft richteten, an adelige und Großbürger (labisch 1992: 42ff.). Parallel dazu sorgte die Kirche für eine breite ausdehnung einer „religiös-moralisch-gesundheitlichen Erziehung“ (Pastoralmedizin; labisch 1992: 92f.). Individuell bedeutsam waren nun neben hygienischen anweisungen (haus und hof, Wohnung und Kleidung betreffend) präzise Verhaltensmaßregeln, die sich mehr und mehr zur norm etablierten und am Gemeinwohl ausrichteten. Sie betrafen die Ernährung16, die Zubereitung und art des Essens und wirkten sozial kontrollierend wie mäßigend ein (anstandsbücher, Kochbücher) (Kleinspehn 1987: 63ff.; labisch 1992: 82ff.). Skizziert man im historischen Verlauf vom späten Mittelalter17 über die renaissance bis kurz vor Beginn der aufklärung auch den Bezug von Krankheit und Gesundheit zueinander, fällt auf, dass aus dem eher passiven charakter des Vermeidens von Krankheit und einem starken Jenseitsbezug das aktive Bekämpfen und heilen von Krankheit wurde, woraus schließlich über die Wiederherstellung der Gesundheit hinaus die Verbesserung von Gesundheit resultierte (Eckart 1998: 114; Kleinspehn 1987: 43; labisch 1992: 42ff.). Indem der Organismus so stimuliert wurde, dass die „individuelle lebenskraft“18 gestärkt wird, verstand man Krankheit als Störfaktor in einem geschlossenen System. Einer der Wege, die lebenskraft zu mindern, bestand dieser auffassung zufolge in einer Unmäßigkeit im Essen und trinken, die das leben verkürzt (Kleinspehn 1987: 261; Sarasin 2001: 68ff.). Im Kontext dieser programmatischen und fundamentalen Metapher ergeben sich Dynamiken auf mehreren Ebenen: Die an den individuellen akteur sich richtende handlungsanleitung zeigt sich in der Verinnerlichung eines Körperwissens, welches den direkten anweisungen konform Gesundheit und langes bzw. verlängertes leben verspricht (labisch 1992: 98f.). hier kündigt sich bereits ein reiz-reaktions-Muster an, das mit link (1999: 200, 2006: 251) als eine art gefühlte Denormaliserungsangst19 begriffen werden kann. Dem Einzelnen wird zudem nicht nur die Sorge um sich, sondern auch die Sorge um das Gemeinwohl in Form einer „Gemeinpflicht“ aufgebunden. Die enge 16 Versteht man Zedlers Universallexikon (1735: 1306) als Spiegel der Zeit, ist dieser Gedanke bereits angedeutet. Das lemma „Gesund“ kann demnach mit gesunden Speisen und Getränken assoziiert werden; ebenfalls existieren aber auch ungesunde Speisen und Getränke, diese können davon abstrahiert werden, weil sie die Gesundheit nicht „(…) erhalten und zu befördern helffen (…)“. Gleichzeitig setzt sich die „gesunde Ernährung“ durch, diese kommt einer „richtigen“ Ernährung gleich (Kleinspehn 1987: 115). 17 Gewählt wird dieser Beginn der analyse (ca. 14. Jahrhundert), weil dieser Zeitpunkt als ausgangspunkt der abendländischen Kultur gilt. 18 Diese, auf christoph Wilhelm hufelands (1762–1836) zurück gehende theorie „Makrobiotik oder die Kunst das menschliche leben zu verlängern“ (1875) war im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert populär (vgl. auch Bergdolt 1999: 277ff.; Eckart 1998: 224ff.; Kleinspehn 1987: 261; labisch 1992: 99ff.). 19 Der Begriff bezeichnet die Sorge und Befürchtungen vor jedem Prozess, der sich von der normalität weg bewegt (link 2006: 40).
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Verknüpfung zwischen Medizin und Ernährung wird immer spürbarer, so dass es nahe liegend ist, davon zu sprechen, dass der medizinische Diskurs den Diskurs über die („richtige“) Ernährung quasi einverleibend übernimmt20. aus dieser Verbindung geht die Gastrosophie hervor, eine Ernährungslehre, die anfang des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung hat und „medizinisches Wissen und Kochkunst zusammenbringt“ (Barlösius 1999: 53). Der normierende Druck, der von nun an von der Medizin ausgeht, läuft auf eine zunehmende Standardisierung (im gesamten Wissenschaftsbereich) hinaus – sozusagen treten „harte“ Fakten wie Kurven, Graphen und Zahlen an die Stelle von „weichen“ ratschlägen zur Gesundheitsfürsorge (Eckart 1998; noack et al. 2007). Eine solche Beschreibung macht Gesundheit wie Krankheit messbar. Weil der persönliche Gesundheitszustand über den eigenen Körper sichtbar und messbar wird, wächst die Bedrohung von außen – das Individuum wird also zur Projektionsfläche biopolitischer Erwartungshaltungen. Deshalb lassen sich die Maßnahmen der sich bildenden nationalstaaten als (aufgeklärte) Gesundheitspolitik beschreiben, die Interesse an gesunden, lang lebenden sowie leistungsfähigen Bürgern haben (labisch 1986, 1992; Sarasin 2001). In der Folgezeit erhält die Medizin in der Organisation des Staates einen grundsätzlichen Stellenwert (labisch 1992: 104). Dieser Prozess trägt dazu bei, dass im aufkommenden Selbstverständnis der Ärzte Gesundheit allmählich als „konstruierbar“ begriffen wird (Bergdolt 1999: 278; Kleinspehn 1987: 276; labisch 1992: 75). Professionalisierung, Medikalisierung21 und Disziplinierung sind in diesem Zusammenhang die bestimmenden Elemente für die analyse des weiteren gesellschaftlichen Prozesses (Eckart 1998: 256; Kleinspehn 1987: 45; labisch 1986: 266; thoms 2000: 295). an dieser Stelle machen sich interessierende soziale Momente in dreierlei Hinsicht bemerkbar: 1. Zunächst zeigt sich die Institutionalisierung einer öffentlichen Gesundheitspflege in einer wissenschaftlichen Verortung der Hygiene. hier wird ein Programm wirksam, das sich „von außen“ dem Körper annähert, dabei bestimmte Gegebenheiten (Umweltbedingungen, Verhaltensweisen, nahrungsmittel) analysiert und zu einem „richtigen“ hygienischen Verhalten – reinlichkeit, Sittlichkeit und Moral – umdeutet und damit in den alltag eingreift (labisch 1986: 271ff., 1992: 118; Sarasin 2001: 101ff.). 2. Die Verwendung statistischer Methoden und deren Ausweitung auf sämtliche, den Körper betreffenden aspekte, führt zum zweiten, hier relevanten Punkt (Eckart 1998: 288ff). Die interdisziplinär arbeitende Medizinalstatistik widmet sich hingegen der Beschreibung und Erfassung gesellschaftlicher Zusammenhänge und bringt mit der sozialen Physik Quetelets den Durchschnitt als „normale“ Kategorie in den medizinischen Diskurs hinein (labisch/Woelk 2006: 20 Detailliert hierzu Kleinspehn (1987: 111ff., 118, 129). 21 Der (kritische) Begriff geht auf Ivan Illich zurück und integriert die vorrangige Stellung der Medizin bei gesundheits- und krankheitsrelevanten aspekten in modernen Gesellschaften (vgl. Fuchs-heinritz et al. 2007: 420). labisch (1992: 295f.) erwähnt in diesem Zusammenhang Irving K. Zola, Eliot Freidson und Michel Foucault, die zur Entwicklung des Begriffs und des Konzepts beigetragen haben.
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60; link 1999: 129; noack et al. 2007: 146). Das normale und der Durchschnitt setzen sich dabei als Vergegenständlichung des idealtypischen Gesundheitszustands (z. B. Blutdruck, normalgewicht) durch. 3. Weit über die medizinische Diagnose hinaus sind nun die auswirkungen dieser Konzeption zu spüren22. In diesem Sinne erfährt auch die Ernährung grundlegende Bemessungskriterien (link 2006: 181). als nachfolger von hufeland beschäftigen sich Justus liebig (1803–1873) und Julius robert von Mayer (1814–1878) mit der Erforschung des Zusammenhangs von Muskelkraft bzw. menschlicher Kraft und deren leistungsfähigkeit (Barlösius 1999: 60ff.; Bergdolt 1999). Zentral ist hierbei die Einführung der Kalorie Mitte des 19. Jahrhunderts, die zur physikalischen Berechnungsgrundlage der täglichen nahrungszufuhr wird. Die „Kalorienverbrennungsmaschine Mensch“ (teuteberg)23 wird unter energetischen Gesichtspunkten betrachtet und der „mittlere Mensch“ kommt mit dem durchschnittlichen nahrungsmittelbedarf eines arbeiters, dessen Produktivität24 wesentlichen Bestand hat, in den normalistischen Diskurs (Barlösius 1999: 60ff.). Parallel dazu wird die nahrungsmittelversorgung immer sicherer, während sich die Meinung durchsetzt, dass „(…) die Wahl der nahrung auf charakter, Intelligenz und Gesundheit eines Volkes auswirkungen haben muß (…)“ (Bergdolt 1999: 311). So schreibt Karl Friedrich von rumohr (1785–1843)25 in „Geist der Kochkunst“ im Jahr 1822: „Stumpfsinnige, für sich hinbrütende Völker lieben mit schwerverdaulicher, häufiger nahrung gleich den Masttieren sich auszustopfen. Geistreiche, aufsprudelnde nationen lieben nahrungsmittel, welche die Geschmacksnerven reizen ohne sie zu beschweren.“
Medizinische Methoden der Diät (Bade-, Diät- und Wasserkuren) und die pädagogische Esserziehung bei Kindern (Verbote, regulierung) finden vor allem in der zweiten hälfte des Jahrhunderts weite Verbreitung und tragen zur neuen Orientierung an starken, schlanken und leistungsfähigen Körpern26 bei (Kleinspehn 1987: 281, 357; thoms 2000: 302). angesichts explodierender Bevölkerungszahlen und teilweise knapper ressourcen in den Städten wird zur Mitte des 19. Jahrhunderts Gesundheit zum idealisierten, distinguierenden, Krankheit dagegen zum diskriminierenden Element in der bürgerlichen realität (labisch 1992: 111ff., 134; 254ff., 278; link 1999: 129). Die Medizin hat mittlerweile alle den Körper betreffende aspekte in die ärztliche „Fürsorgepflicht“ aufgenommen, die teil des gesellschaftlichen Diskurses wird (labisch 1992: 134f.). Ein Deutungsschema, das Gesundheit als Voraussetzung zur gesellschaftlichen teilhabe formuliert und Krankheit quasi extrahiert, setzt sich damit zunehmend durch (labisch 1992: 107, 257; Winau 1983: 221). 22 Bei allen genannten aspekten geht es um das „Messen“, Kontrollieren und Bewerten von alltagsweltlichen Zusammenhängen. 23 Begriff nach teuteberg, hans-Jürgen. Vgl. teuteberg et al. (1997). 24 Das aufrechterhalten der Energie der arbeiter bedeutet auch, was die „Kraftgewinnung“ angeht, ein „internationales Wettrüsten“. Deshalb ist das Interesse an langlebigen, starken arbeitskräften hoch (Bergdolt 1999: 312). 25 rumohr 1994: 19, zitiert nach Bergdolt 1999: 311f. 26 Vgl. hierzu das folgende Kapitel 4.3.
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4.3 „Schlank macht jung und schön!“ – Schönheitsideale im Fokus einer kulturhistorischen Betrachtung Der dritte historisch begründbare Komplex der Genealogie des BMI greift am direktesten auf den Körper zu. Die bis hierher erwähnten Dichotomien „normal/nichtnormal bzw. a-normal“ (erste Dichotomie) und „gesund/nicht-gesund bzw. krank“ (zweite Dichotomie) signalisieren schon einen bestimmten Zustand des Körpers nach außen und vermitteln bestimmte, bereits angedeutete Wertigkeiten. als Brücke zum heutigen Schönheitsideal des schlanken, fitten Körpers soll im Folgenden nachgewiesen werden, wie Körperwissen sukzessive produziert wurde und wie dieses aktuell gültige Ideal als logische Folge des sozialgeschichtlichen Prozesses dargestellt werden kann. Es deutet sich bereits früh die enge Verknüpfung zwischen äußerer, körperlicher Schönheit und gewissen attributen an, die auf charakter und Gesundheit schließen lassen. Bereits im Ideal der kalokagathía27 angelegt, das von griechischen Ärzten und Philosophen praktiziert wurde, klingen Wertvorstellungen und Ideen (Ästhetik) an, die auf die dritte Dichotomie „schön/nicht-schön“ hinweisen (Bergdolt 2006: 118; Eco 2004: 39). Das Mittelalter als ausgangspunkt der abendländischen Kultur erzeugte auch spezifische Vorstellungen von Schönheit und idealem Körper, die sich durch eine starke, sowohl moralische als auch mystisch kodierte Jenseitsausrichtung auszeichneten (Eco 2004: 121). Bis zum 15. Jahrhundert zeigten sich schmale männliche wie weibliche Körper als konstituierendes leitbild, hinzu kommt eine rosige haut als Zeichen der Gesundheit – Schönheit fungierte deshalb als Spiegel der Gesundheit (Bergdolt 2006: 119; Eco 2004: 113, Posch 1999: 37; renz 2006: 21). Mit Bergdolt (2006: 121f.) finden sich im 16. Jahrhundert bereits klar formuliert Zeugnisse einer durchaus „rigiden“ Schönheitskultur. Es galt das Motto „wer seine Schönheit pflegt, pflegt auch seine Gesundheit“, womit sich bereits wiederum abzeichnet, dass ein Bemühen um Schönheit positiv gewertet, während das Versäumnis zunehmend geächtet wird (Bergdolt 2006: 122). Daneben schob sich aber auch ein Komplex in den Vordergrund, der im historischen Verlauf quasi als Unterbrechung einer Geschichte der Schlankheit fungiert (absolutismus, Frühromantik) und in allgemeinen Mangelzeiten Opulenz und Üppigkeit als Desiderat hervorbringt, womit – übersetzt durch den Körper – Macht, reichtum und Status einer geringen anzahl von akteuren vor augen geführt wurden (Posch 1999: 37f.). tendenziell lässt sich beobachten, wie sich der schlanke Körper über den auf die Kultur bezogenen Diskurs hinaus als überdauerndes und zunehmend stabilisierendes leitbild wird, bis er gegen Ende des 19. Jahrhunderts eindeutig „schön“ kodifiziert ist – eine anschauung, die sich mit geringen ausnahmen28 bis heute hält (Posch 1999: 38ff.; Prahl/Setzwein 1999). 27 ausführlich dazu Bergdolt (2006: 115ff), Eco (2004: 45), Joch (1983: 198) sowie Menninghaus (2007: 17). Demnach lassen sich das seelische und moralische Gute als „innere Schönheit“ umdeuten und von außen am Körper ablesen, „harmonie“, „Gleichgewicht“ und das „rechte Maß“ versinnbildlichen die Idealvorstellung. 28 Die „kurvenreiche“, sinusförmige soziale Kulturgeschichte der Schönheitsideale in Bezug auf Körperformen liest sich wie erwähnt als stetes auf und ab. ausnahmen, die rundere, weibliche
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Begrifflichkeiten, die sich vom heutigen Standpunkt aus als Gegensatzpaar des BMI illustrieren lassen, hielten parallel dazu Einzug in den historischen, medizinischen Diskurs: Die „Freßsucht“ (Boulimie/Bulimus/Bulimia) oder Fettsucht und die Magersucht (Kleinspehn 1987: 185ff.). Schon ab dem 17. Jahrhundert zeigten sich nachweise der damit implizierten Extreme eines Essverhaltens, welches sich über den Körper nach außen kommunizierte. Im historischen Verlauf erfuhren die dichotomen Merkmale „dick“/„schlank“ bzw. „dünn“ (vierte Dichotomie) ab circa 1900 öffentliche Wirksamkeit. Zudem bewegte sich Ernährung nun in einem politischen Feld der Einflussnahme von außen, das kontrollierende als auch disziplinierende Maßnahmen von staatlicher Seite möglich machte („Kontrolle der nahrung“)29. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, zeigt sich der Körper als Identitätsmedium, das rückschlüsse auf die Eigenschaften seines trägers erlaubt und sich in appellativer Form ausdrückt: Moral, leistungsbereitschaft, Disziplin und Ordnung als Pflichtenbündel, die distinktiv Zugehörigkeit verschafften. Davon zeugt ein schlanker, ergo „kraftvoll gestraffter, gesunder Körper“ (alkemeyer 2007: 7). Die drei Elemente Diäten, Kuren und Sport wurden zum populären Mittel, Körperformen zu disziplinieren und diese „im Zaum zu halten“. Wie alkemeyer (2007) und Merta (2002, 2003) ausführen, sind es besonders die Ende des 19. Jahrhunderts in Mode gekommenen lebensreformbewegungen, die diese aspekte als programmatische Forderung implizit miteinander verbinden. Merta (2003: 518) kennzeichnet diese als „(…) erste hersteller und Vertreiber moderner Diätwaren und Fitnessgeräte“, die vegetarische Spezialnahrung, Schlankheitsratgeber und -kochbücher30, Fitnessgeräte (Expander, Schwungkeulen, hanteln) und elastische Sportkleidung unter anderem in neuen reformhäusern vertrieben. Das Kontrastpaar „dick“ und „schlank“ steht in diesem Verlauf stellvertretend für die benannten dichotomen Körper- und charaktereigenschaften und integriert diese als Basis; in Massenmedien und dem Konsumverhalten zeigt sich ab den 1960er Jahren die Prägnanz des schlanken Körpers (Klotter 2008: 27f.). Inwieweit sich hier die rolle des BMI einfügt und wie drei diskursive Felder Statistik, Medizin und soziokultureller hintergrund den BMI in die Gegenwart transportieren, soll im nachfolgenden abschnitt aufgezeigt werden.
Formen betonen, werden vor allem im vorigen Jahrhundert propagiert; in den 30er Jahren und im Zuge des Wirtschaftwunderjahrzents der 50er Jahre sind diese wiederum als Zeugnis von Wohlstand und Konsumverhalten zu sehen. 29 Dadurch, dass Proletarier und arbeit eine symbiotische Einheit geworden sind, in der beide miteinander verschmelzen, rücken in zweiter Instanz vormals private Elemente wie die Ernährung in den öffentlichen raum (Kleinspehn 1987: 315). 30 Vgl. Mar/Wolf (o. J. [1928]). Vgl. hierzu Merta (2003: 102).
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5. DEr BMI alS BIOPOlItISchES InStrUMEnt Um zu prüfen, ob und inwiefern der BMI als ein biopolitisches Instrument betrachtet werden kann, muss zunächst geklärt werden, wie es dazu kommt, dass sich der BMI als Methode zur Bestimmung von normal-, Unter- als auch Übergewicht durchsetzte. Die Implementierung des BMI verläuft in zwei Stufen. 1972 erfolgte durch Keys et al. seine Festlegung als mathematische Formel, die in ihrer ursprünglichen Form (kurz W/h2) bis heute bestehen bleibt. Zudem verdrängte der BMI weitgehend andere Formeln zur Festlegung des angemessenen Körpergewichts, so dass der BMI nach 1972 als zentrales Messinstrument für Übergewicht und zur Gewichtskontrolle betrachtet werden kann (Eknoyan 2007; Du Florey 1970; Garrow/ Webster 1985; Weigley 1989). Die 1990er Jahre können als Wendepunkt in der Geschichte der Popularisierung des BMI bezeichnet werden. ab 1997 wird der BMI in die allgemeine Diskussion eingebracht, wobei die WhO eine VorreiterStellung einnimmt, indem sie in diesem Jahr den BMI und die dazugehörigen Gewichtsklassifizierungen offiziell einführte [abb.2], mit der Intention in Zukunft die anzahl übergewichtiger (adipöser) Menschen weltweit zu verringern (Kuczmarski/ Flegal 2000)31:
abbildung 2: BMI-tabelle der WhO
Im selben Jahr wurde durch die WhO eine weltweite Fettepidemie ausgerufen, leitendes Instrument war dabei der BMI. Der BMI dringt seither in den lebensweltlichen alltag ein, misst den Körper und zementiert „Schlankheitswahn“ und „Fettepidemie“ in Zahlen (Pollmer 2007). Dieses Körperwissen regelt, dass „zu dick“ oder „zu dünn“ als ungesund begriffen wird und die normalkurve als erstrebenswert gilt. Der durch den BMI vermittelte biopolitische Zugriff auf den Körper scheint Ernährung, lebensstil und Körperwahrnehmung zu beeinflussen und unter anderem Gesundheit, Glück, Erfolg wie auch Sicherheit zu versprechen.
31 Die tabelle der WhO geht auf eine Konferenz der WhO im Jahr 1997 in Genf zurück.
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5.1. Macht und (Körper-)Wissen Biopolitik setzt Wissen voraus. Dieses Wissen macht sich am Körper fest und wird durch statistische Methoden verfügbar gemacht. Die Gegenwartsdebatte um den BMI findet ihren anfang in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, indem er als Formel wiederaufgegriffen und als „Body-Mass-Index“ festgelegt wurde. Biopolitische Praktiken sind mit einem Wahrheitsregime verwoben, das Körperwissen selektiv besetzt (lemke 2007: 149f.). So entstehen dualistische, polarisierende Deutungen, die sich als Dichotomien herausschälen. Innerhalb dieser wertenden Gegengewichte manifestiert sich eine so genannte „normalistische Urangst vor Denormalisierung“ (link 2006: 245, 442). Wie Foucault (2005c: 245) ausführt, wird das Subjekt durch biopolitische Macht greifbar, abhängig und unterworfen. Es erkennt sich im Verhältnis zu dieser Macht und wird sich seiner Identität bewusst. Subjektivierungsweisen bezeichnen dann das Einwirken von Machttechniken auf den Körper und das leben an sich (Foucault 1992, 2005a). als typische leitdiskurse figurieren hierbei diejenigen, die sich um die „Wissensform“ der hygiene aufstellen und die Dispositive im Bereich von Ernährung, Sauberkeit, Sitte, Moral, Sexualität sowie Gesundheits- bzw. Krankheitsversorgung einschließen – wie sie unter anderem bei der Darstellung der Genealogie des Diskurses aufgeführt wurden. So ist eine art „Selbstformierung des Subjekts“ geschehen, die sich durch eine beständige „Sorge um sich“ auszeichnet (Foucault 2005d: 274f.). normalität, normalitätsgrenzen und Denormalisierung beschreiben sich nach link (2006: 39ff.) als zentrale Momente, die verwendet werden sollen, um den biopolitischen „Zugriff“ des BMI in der Gegenwart erklären zu können. Dadurch, dass durch den BMI die norm ausgedrückt wird, legitimiert sich die (medizinische) Diagnose. Diese lautet im „Idealfall“ normalgewicht (BMI 18,5–24,9), im „idealsten Fall“ Idealgewicht (BMI 22–23)32 und im „schlechtesten Fall“ Übergewicht (BMI≥25) – abb. 3 führt die gängigen medizinisch-psychologischen, juristischen und gesundheitspolitischen Definitionen verschiedener akteure zusammen33. Die aufgeführten BMI-Werte weisen die entsprechende medizinische Diagnose und mögliche medizinische Indikationen auf.
32 Der „Idealfall“ ist je nach Diskurs verschieden. Im medizinischen Diskurs kann eine überlappende Berichterstattung zu den argumenten der WhO (2004) festgestellt werden (vgl. abbildung 2). Zum Idealgewicht vgl. auch achtner-theiß (2005). Bezogen auf die normalverteilung, befindet sich ein BMI von 22–23 an der höchsten Stelle der Kurve. 33 Kovács 1989, Wannagat 2002, Wechsler 2003, WhO 2002, zitiert nach hebebrand et al. 2004: a2469.
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abbildung 3: BMI-tabelle mit möglichen medizinischen Indikationen
Diesem Komplex können die Effekte der alarmierenden Diagnose der „Fettepidemie“ zugeschrieben werden. Deutlich kristallisieren sich nun die „Extremzonen“ heraus, durch die sich a-normalität (BMI