Medizin, Gesellschaft und Geschichte 33 3515111123, 9783515111126

Der zeitliche Bogen spannt sich diesmal von der Antike bis in die Zeitgeschichte. Otto Kaiser stellt die Gedanken Philos

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German Pages 282 [286] Year 2015

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Inhalt
Anschriften der Verfasser
Editorial
I. Zur Sozialgeschichte der Medizin
Gesundheit und Krankheit bei Philo von Alexandrien
Etappenliebe: Belgrad, Cetinje und Lublin unter österreichisch-ungarischer Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg
Evangelische Krankenfürsorge? Zur Rolle der Konfession im Berliner Krankenhausbau der Weimarer Republik
Medizin für Alte oder Wissenschaft vom Alter? Der Beitrag Max Bürgers zu Geriatrie und Gerontologie
Die Entwicklung der Krankenpflegeausbildung in der DDR und der Bundesrepublik: Unterschiedliche Wege als Motor einer Akademisierung der Pflege im wiedervereinigten Deutschland?
II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Die Nosoden- und Sarkodentherapie und ihre (Vor)geschichte– ein heikles Erbe
Wie dosiert man richtig, um homöopathisch zu handeln? Ein Überblick über die Debatten in den USA, Großbritannien und Deutschland (ca. 1830-ca. 1970)
Ein »Umschwung des medizinischen Denkens« oder »eine übereifrige literarische Tätigkeit«? August Bier, die Homöopathie und der Nobelpreis 1906-1936
Werbung und Zeitgeist. Die Inserate der Firma Dr. Willmar Schwabe
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte 33
 3515111123, 9783515111126

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG 33

Franz Steiner Verlag Stuttgart

33

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Band 33

Medizin, Gesellschaft und Geschichte

Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 33 (2015) herausgegeben von Robert Jütte

Franz Steiner Verlag

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Robert Jütte Redaktion: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Layout: Arno Michalowski, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart www.steiner-verlag.de/medgg Publikationsrichtlinien unter: www.igm-bosch.de/content/language1/downloads/RICHTL1-neu.pdf www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/medizin-gesellschaft-und-geschichte/publikationsrichtlinien.html Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351X ISBN 978-3-515-11112-6 (Print) ISBN 978-3-515-11115-7 (E-Book)

Inhalt

I.

Anschriften der Verfasser

7

Editorial

8

Zur Sozialgeschichte der Medizin Otto Kaiser Gesundheit und Krankheit bei Philo von Alexandrien

II.

9

Tamara Scheer Etappenliebe: Belgrad, Cetinje und Lublin unter österreichisch-ungarischer Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg

35

Clemens Tangerding Evangelische Krankenfürsorge? Zur Rolle der Konfession im Berliner Krankenhausbau der Weimarer Republik

65

Sandra Blumenthal und Florian Bruns Medizin für Alte oder Wissenschaft vom Alter? Der Beitrag Max Bürgers zu Geriatrie und Gerontologie

91

Simone Moses Die Entwicklung der Krankenpflegeausbildung in der DDR und der Bundesrepublik: Unterschiedliche Wege als Motor einer Akademisierung der Pflege im wiedervereinigten Deutschland?

125

Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen Viktoria Vieracker Die Nosoden- und Sarkodentherapie und ihre (Vor)geschichte – ein heikles Erbe

155

Florian G. Mildenberger Wie dosiert man richtig, um homöopathisch zu handeln? Ein Überblick über die Debatten in den USA, Großbritannien und Deutschland (ca. 1830-ca. 1970)

179

Nils Hansson Ein »Umschwung des medizinischen Denkens« oder »eine übereifrige literarische Tätigkeit«? August Bier, die Homöopathie und der Nobelpreis 1906-1936

217

Cornelia Hofmann und Ortrun Riha Werbung und Zeitgeist. Die Inserate der Firma Dr. Willmar Schwabe

247

Anschriften der Verfasser

Sandra Blumenthal Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstr. 10 91054 Erlangen [email protected] Florian Bruns, Dr. Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Charité – Universitätsmedizin Berlin Thielallee 71 14195 Berlin [email protected] Nils Hansson, Dr. Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Uniklinik Köln Joseph-Stelzmann-Str. 20, Geb. 42 50931 Köln [email protected] Cornelia Hofmann, Dr. Werksärztlicher Dienst InfraLeuna GmbH Rudolf-Breitscheid-Str. 18 06237 Leuna [email protected] Otto Kaiser, Prof. em. Dr. Dr. h. c. Am Krappen 29 35037 Marburg [email protected]

Florian Mildenberger, Prof. Dr. Liverpooler Str. 12 13349 Berlin [email protected] Simone Moses, Dr. Steigäckerstr. 29 73433 Aalen [email protected] Ortrun Riha, Prof. Dr. Dr. Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften Universität Leipzig Medizinische Fakultät Käthe-Kollwitz-Str. 82 04109 Leipzig [email protected] Tamara Scheer, Dr. Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft Universität Wien Campus Altes AKH Spitalgasse 2, Hof 1, Eing. 1.1 A-1090 Wien [email protected] Clemens Tangerding, Dr. Torstr. 141 10119 Berlin [email protected] Viktoria Vieracker, Dr. Johannisberger Str. 4 14197 Berlin [email protected]

Editorial Der zeitliche Bogen spannt sich diesmal von der Antike bis in die Zeitgeschichte. Otto Kaiser stellt die auch heute noch lesenswerten Gedanken Philos von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.-50 n. Chr.) über Gesundheit und Krankheit sowie über die Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Kunst vor. Tamara Scheers Aufsatz bringt einen wenig beachteten Aspekt (die Sexualität von Soldaten) in die Forschung zum Ersten Weltkrieg ein. Dargestellt wird, wie die Heeresverwaltung der Donaumonarchie in den besetzten Gebieten mit dem Prostitutionswesen und der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten im österreichisch-ungarischen Heer umging. Clemens Tangerding fragt nach der Rolle, die Konfession im Berliner Krankenhausbau während der Weimarer Republik gespielt hat, und konzentriert sich dabei auf die evangelische Krankenfürsorge. Sandra Blumenthal und Florian Bruns befassen sich mit einem der Pioniere der Geriatrie: Max Bürger (1885-1966). Angesichts der demographischen Entwicklung gewinnt diese Disziplin immer mehr an Bedeutung. Simone Moses schließlich zeigt die Unterschiede in der Krankenpflegeausbildung der DDR und der Bundesrepublik auf. Die zweite Sektion dieser Zeitschrift, die traditionsgemäß Aufsätzen zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen vorbehalten ist, umfasst diesmal vier Beiträge. Das zeugt von dem Forschungsinteresse, das inzwischen an diesem Themenbereich besteht. Viktoria Vieracker zeichnet die Ursprünge der homöopathischen Arzneimitteltherapie mit Nosoden und Sarkoden, d. h. vorwiegend aus Krankheitsprodukten bzw. menschlichen und tierischen Organen hergestellten Homöopathika, nach. Florian Mildenberger gibt einen Überblick über die Debatten hinsichtlich der »richtigen« Dosierung homöopathischer Mittel im Zeitraum 1830 bis 1970. Die Frage nach der passenden Potenz (niedrig, mittel, hoch) ist auch heute noch aktuell. Zu den wenigen prominenten Schulmedizinern, die sich für die Homöopathie einsetzten, gehört der berühmte Berliner Chirurg August Bier (1861-1949), der, wie Nils Hansson nachweist, mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen war. Den Abschluss bildet eine Untersuchung von Cornelia Hofmann und Ortrun Riha zur Arzneimittelwerbung am Beispiel der Firma Dr. Willmar Schwabe, einer der größten homöopathischen Arzneimittelhersteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart, im März 2015

Robert Jütte

I.

Zur Sozialgeschichte der Medizin

Robert Jütte zum 60. Geburtstag

Gesundheit und Krankheit bei Philo von Alexandrien Otto Kaiser Summary Philo of Alexandria and his views on health and sickness Philo of Alexandria, Torah scholar and philosopher of religion, (c. 20 BC to 50 BCE) is the first Middle Platonic philosopher whom we know through his own works. His thinking was determined by the two antitheses of God and world, and virtue and vice. The Logos (divine reason) mediates between the transcendent God and the earthly world. His thoughts on health and illness and on the possibilities and limitations of medicine are testimony to his comprehensive philosophical education as well as to his belief in God as ruler of the world and of human life. He saw human health as the reward for self-control for which one was best prepared by the classical education programme. Self-control and physical exercise were therefore, in his view, possible guarantors of health, and a coach potentially more important than a physician. Illnesses, if they result from the loss of selfcontrol, may point to the necessity for penitence. Philo therefore saw virtuousness as the safest precondition for a healthy and cheerful life. That the life forces increase during youth and diminish in old age is part of destiny. Similarly, illness can be brought about by strokes of fate. If illness occurred in this or any other way, medicine was there to help and its success or failure depended on divine providence. Like Jesus Sirach, the Jewish scholar who taught around a hundred years earlier, Philo did not think it sinful to use medical help if one was ill, seeing that God himself had made natural remedies available. He compared the importance of physicians for their patients to that other professionals have in people’s lives. Philo did not provide a compendium on the work of the physician, but he gave indications, on nutrition for instance, or on the use of laxatives and fragrances, or that complaints can be necessary stages of recovery. Philo also asked himself whether physicians were always obliged to tell patients the truth. The only case of illness he described in sufficient detail was one of leprosy, which he diagnosed in accordance with Leviticus 13:2. Philo saw physicians as helpers of God, who was the Lord of life and who would therefore decide on the fate of the healthy and sick. Faith in God, Philo thought, was vital if one was to cope with life’s ups and downs. Only the wicked had to fear death, however, while the souls of the righteous returned to heaven after death.

Philos Leben und Familie Obwohl der vermutlich zwischen 20 v. und 50 n. Chr. in Alexandrien lebende und als Lehrer der dortigen jüdischen Gemeinde wirkende Gelehrte Philo der bedeutendste jüdische Religionsphilosoph des hellenistischrömischen Zeitalters gewesen ist, sind seine Lebensdaten und die Umstände seines Wirkens nur durch Rückschlüsse zu gewinnen.1 Den einzigen An1

Zu Philos Familie und Leben vgl. z. B. Borgen (1997), S. 14-29, Schwartz (2009) und

MedGG 33  2015, S. 9-34  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Otto Kaiser

haltspunkt für die Bestimmung seiner Lebenszeit liefert seine Bemerkung, dass er sich bereits als ein alter Mann fühlte, als er im Jahr 39/40 die Delegation der jüdischen Gemeinde Alexandriens anführte, die beim Kaiser Gaius, genannt Caligula, gegen das Verhalten des Statthalters der kaiserlichen Provinz Ägypten, Flaccus, während ihrer blutigen Verfolgung durch den alexandrinischen Pöbel protestierte (Leg.Gai.1 und 182).2 Philo entstammte einer vermutlich mit dem jüdischen Königshaus der Hasmonäer verwandten Familie, die bereits durch Caesar das römische Bürgerrecht erhalten hatte. Der eine Generation nach Philo wirkende jüdische Historiker Flavius Josephus berichtet, dass sein Bruder Alexander Alabarch – und das heißt wohl Verwalter der staatlichen Steuereinnahmen – gewesen sei (Jos.Ant.XVIII.259). Philos Reichtum war jedenfalls so groß, dass er z. B. die goldenen und silbernen Beschläge für die Tore des Tempels in Jerusalem stiften konnte (Jos.Bell.V.201-206). Nachdem ihn Kaiser Gaius gefangen gesetzt hatte, gab ihm dessen Nachfolger Claudius die Freiheit zurück, weil er mit ihm als dem Verwalter der Finanzen seiner Mutter Antonia befreundet war (Jos.Ant.XIX.276). Von seinen drei Kindern war sein Sohn Marcus Julius Alexander mit einer Tochter des jüdischen Königs Agrippa I. verheiratet, während sein zweiter Sohn Tiberius Julius Alexander eine Reihe hoher römischer Staatsämter bekleidete, darunter das des Prokurators der Provinz Judaea (Jos.Bell.II.220) und des Präfekten der kaiserlichen Provinz Ägypten (Jos.Bell.IV.616; Tac.Hist.I.11). Als solcher veranlasste er im Jahr 69 n. Chr. die Ausrufung des römischen Feldherren Vespasian zum Kaiser (Tac.Hist.II.79-80; Jos.Bell.IV.616-618). Als drittes Kind können wir eine in der Überlieferung nicht erwähnte Tochter ansetzen, deren Sohn Lysimachus in Anim.2 Tiberius Alexander als seinen Onkel und Schwiegervater bezeichnet. Er führt in Anim.1-9 und 72-76 ein Gespräch mit »dem ehrwürdigen Philo«. Philos Bildung und Schriften Als Angehörigem der vermutlich wohlhabendsten und einflussreichsten jüdischen Familie Alexandriens hatten Philo alle Möglichkeiten offengestanden, eine breite griechisch-hellenistische Bildung mittels der Absolvierung des klassischen Programms der an den Gymnasien erteilten Enzyklika Paideia zu erwerben, die ebenso die körperliche wie die musische und geistige Bildung vermittelte (vgl. Congr.74-76).3 Von seinen Schriften sind inszur unterschiedlichen Ansetzung seiner Geburt z. B. Zeller (1925/2006), S. 285f. (zwischen 30 und 20 v. Chr.) und Morris (1987), S. 816, sowie Schwartz (2009), S. 10 (zwischen 20 und 10 v. Chr.). 2

Vgl. dazu Smallwood (1981), S. 235-245, und Borgen (1997), S. 33-37.

3

Ob er ein hellenistisches Gymnasium (so Borgen (1997), S. 165), eine entsprechende jüdische Einrichtung (so Kasher (1985), S. 233-261) besucht oder Privatunterricht erhalten hat (so Runia (1986), S. 255-257), ist umstritten; zum hellenistischen Schul- und Bildungswesen vgl. Ueberschaer (2007), S. 123-134.

Gesundheit und Krankheit bei Philo von Alexandrien

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gesamt nur 43 erhalten.4 Abgesehen von den drei nur in armenischer Übersetzung überlieferten sind sie sämtlich in einem eigentümlichen hellenistischen Griechisch verfasst.5 Von ihnen sind die meisten der Auslegung der fünf Bücher Moses gewidmet. Sie weisen ihn zusammen mit seinen philosophischen Abhandlungen und den mit seinem Neffen geführten Dialogen als einen mittelplatonischen Denker aus. Aufgrund einer eigenwilligen Auslegung von Platons »Timaios« löste er das Problem der Vermittlung zwischen dem jenseitigen Gott und der Welt mittels der Einfügung des Logos und das der beiden Schöpfungsberichte in Gen 1 und Gen 2-3 mittels der Annahme, dass der erste die Erschaffung der Welt in Gottes Gedanken und der zweite deren Umsetzung in die irdische Wirklichkeit schilderte.6 Philo als mittelplatonischer Exeget und Religionsphilosoph Da Philo davon überzeugt war, dass die fünf Bücher Moses keine Mythen und d. h., gemäß der von Arist.Poet.1450a3-5 gegebenen Definition des Begriffs, keine dichterischen Erzählungen enthielten, legte er die Ur- und Vätersagen unter dem Einfluss der stoischen Homerauslegung zunächst sämtlich als Allegorien aus, um später deutlicher zwischen ihrer wörtlichen und ihrer allegorischen Bedeutung zu unterscheiden.7 Sein Verständnis des Gesetzes wurde durch die Unterscheidung zwischen dem Gesetz der Natur und dem Gesetz Moses’ bestimmt, die beide in einem harmonischen Verhältnis zueinander stünden (Opif.3).8 Dabei beruhe der Vorrang des Gesetzes der Natur darauf, dass der göttliche Logos die Ordnung des Kosmos bestimme, so dass es ontologisch und zeitlich den Vorrang besitze. Demgemäß hätten es die Patriarchen und die griechischen Weisen befolgen können (Opif.143; Abr.275-276; vgl. auch Prob.62-63).9 Andererseits schrieb Philo dem mosaischen Gesetz den epistemologischen Vorrang zu, weil es allgemein zugänglich und verständlich sei (Prob.63; vgl. auch Abr.61).10 Da Gott der Schöpfer der Welt und zugleich ihr Gesetzgeber ist, lebt, wer sich an das Gesetz hält, zugleich in Übereinstimmung mit der Ordnung des Ganzen (Mos.II.48, vgl. auch 51-52). Da Moses jedenfalls lange vor den ersten griechischen Philosophen gelebt hatte und ihm der Dekalog durch ein Wunder offenbart worden sei (Decal.32-35), ging Philo 4

Vgl. dazu die Liste seiner Werke in der Bibliographie und die Übersichten von Siegert (1996), S. 162-189, Morris (1987), S. 819-870, Koester (1995), S. 265-271, bzw. Royse (2009), S. 32-62.

5

Zu seiner Grammatik, Stilistik und Rhetorik vgl. Conley (1984).

6

Vgl. dazu Dillon (1996), S. 139-183, Kaiser (2012), S. 383f., und aktuell Kaiser (2015), S. 166-182.

7

Vgl. dazu Nordgaard Svendsen (2009), S. 39.

8

Vgl. dazu Anderson (2011), S. 139f., und zu beider Harmonie Mos.II.48.

9

Anderson (2011), S. 140-142.

10 Vgl. dazu Anderson (2011), S. 142f.

12

Otto Kaiser

davon aus, dass alle griechischen Philosophen seit Pythagoras ihre Weisheit von Moses gelernt hätten (vgl. z. B. Her.214, Prob.57 und Mut.167-168). Daher fühlte er sich berechtigt, ihre Lehren zur Auslegung der biblischen Texte heranzuziehen. Blickt man auf seine Werke insgesamt zurück, so zeigt sich, dass er trotz der Übernahme der stoischen scharfen Gegenüberstellung von Arethē und Pathos, von Tugend und Leidenschaft, eine durch platonische Einflüsse bestimmte, überaus menschliche Ethik vertreten hat, deren Pflichten sich nach den sieben Lebensaltern richten (vgl. z. B. Opif.103-104 bzw. zu den ersten vier Her.294-299).11 Seine geistesgeschichtliche Bedeutung beruht erstens darauf, dass Philo das Urbild aller biblischen Theologen ist, die ihr Existenz- und Weltverständnis in einem dem Prinzip von Anknüpfung und Widerspruch unterworfenen Dialog mit philosophischen Lehren abklären, ohne dabei den Glauben an den einen Gott, der Israel zum Heil der Welt erwählt hat, in Frage zu stellen. Zweitens beruht sie darauf, dass seine Schriften die ersten vollständigen Urkunden des Mittelplatonismus sind und sie neben denen des um zwei Generationen älteren Cicero und des um zwei Generationen jüngeren Logographen Diogenes Laertius eine Hauptquelle für die Rekonstruktion der Lehren der hellenistischen und zumal der stoischen Philosophie bilden. Gesundheit als höchstes unter den vergänglichen Gütern12 Wenden wir uns dem im Folgenden im Mittelpunkt stehenden Thema von Philos Beurteilung von Gesundheit und Krankheit und dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient zu, so gilt es zunächst festzustellen, dass das Problem von Gesundheit und Krankheit in Philos Sicht ein spezifisch menschliches bzw. kreatürliches ist. Denn da der unerschaffene Gott weder Körperteile noch Organe besitze, brauche er sich auch nicht um seine Gesundheit zu sorgen (Imm.57). Auch wenn Gesundheit und Krankheit in der Nachfolge von Heraklits Lehre13 zum Lauf und Wesen der realen Welt gehörende Gegensätze sind (Her.207-212), besitze die Gesundheit einen eindeutigen Vorrang gegenüber der Krankheit, der dazu nötigt, sie von allen natürlichen Gütern an die erste Stelle zu setzen und die Krankheit entsprechend als eine Schädigung des Lebens zu betrachten. Daher erklärte er die Gesundheit in Leg.III.177-178 in ihrer einfachen Gestalt als eine Gabe Gottes und in der bis vor wenigen Jahrzehnten als ein fremdes Werk betrachteten, wie eine Sammlung von Entwurfsskizzen anmutenden Schrift »De Aeternitate Mundi« oder »Über die Ewigkeit der Welt« unumwunden für einen natürlichen Zustand. Denn so wie der Kosmos nach der Dauer des Ganzen 11 Vgl. dazu Runia (2001), S. 278f., und Kaiser (2015), S. 238-240. 12 Zu Philos Lehre von den Werten vgl. auch Wolfson (1948), Bd. II, S. 297-303. 13 Diels/Kranz (1951), K 22 B 10; Mansfeld/Primavesi (o. J.), 4.46-61.

Gesundheit und Krankheit bei Philo von Alexandrien

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strebe, gelte das auch für seine Teile, so dass auch beim Menschen Gesundheit gegenüber Krankheit und Zerstörung die natürliche Beschaffenheit des Daseins sei (vgl. Aet.37 mit 116).14 Dass es sich bei der Gesundheit trotzdem um ein relatives Gut handelt, ging nach Philos Überzeugung schon daraus hervor, dass sie kein exklusiver Besitz des Tugendhaften ist, sondern er sie mit fluchbeladenen und sündhaften Menschen teilt (Post.159). Trotzdem beurteilte er alle irdischen Kräfte, denen wir die natürlichen Güter unseres Lebens verdanken, als Mittel der schaffenden Kraft Gottes. Das gelte nicht allein für Wachstum und Gedeihen auf den Feldern, sondern auch für die Kinderzeugung und (was wir weiterhin im Sinn behalten müssen) ebenso für die ärztliche Kunst, die für die Gesundheit der Kranken sorge (Imm.87-88; vgl. auch Mut.221 und Sir 37,1-8). Sie aber käme erst zum Zuge, wenn der Mensch seine ursprüngliche Gesundheit verloren hätte; denn dann überließ Gott die Heilung der ärztlichen Kunst und dem ärztlichen Geschick, obwohl er auch in diesem Fall der eigentliche Helfer bliebe (Leg.III.177-178). Entsprechend meldete Philo im Hinblick auf die Fähigkeit der Ärzte, Leben zu erhalten, den Vorbehalt an, dass die eigentliche Macht über Tod und Leben nicht in ihrer Gewalt, sondern in der Macht Gottes stünde, der sie ihnen gegebenenfalls verliehe (Spec.I.252): Denn die Ärzte sind hinfällige und sterbliche Wesen, die nicht in der Lage sind, ihre eigene Gesundheit zu sichern, und deren Kräfte nicht allen oder auch nur denselben Patienten durchgehend nützen, sondern manchmal sogar sehr schaden, während es einen anderen gibt, der mit der Macht über solche Kräfte und die, die sie ausüben, versehen ist.

Den natürlichen Gütern hat Philo in Conf.21-23 in Übereinstimmung mit der seit Platon geläufigen Dreiteilung der Seele in Geist bzw. Vernunft (nous bzw. logos), Mut (thymos) und Begierde (epithymía) (Plat.Rep.IV.438a; Plat.Phaidr.246a)15 jeweils spezifische Übel zugeordnet: So litte der Geist an den Folgen unvernünftiger Handlungen in Gestalt von Unverstand, Feigheit, Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit, während der Mut zu wütender Tollheit und die Begierde zu unbesonnenen Liebesakten entarten könnte.

14 Um Nähe und Unterschied zum medizinischen Denken zu markieren, seien die beiden Definitionen der Gesundheit nach Galen, »De differentiis morborum«, zit. n. Galen (2011), Bd. 1, S. LXXIX, angeführt: »Gesundheit liegt vor, wenn die Funktionen (energeiai) des Leibes mit der Natur (kata phýsin) übereinstimmen.« bzw. »Gesundheit gibt es, wenn die Konstitution (kataskeuē) der Organe, mittels deren der Leib tätig ist, sich mit der Natur in Übereinstimmung befindet.« Vgl. auch Gal.Meth.Med.I.7.59K. Zu dem griechischen Arzt und Philosophen Galenos (129-ca. 216 n. Chr.) vgl. ausführlich Galen (2011), Bd. 1, S. IX-CLIV, bzw. knapp Nutton/Reppert-Bismarck (1998). 15 Vgl. dazu Irwin (2007), S. 81-84, zur Aufnahme der Vorstellung bei Aristoteles S. 190f., zu der auf ihr beruhenden Oikeiosislehre der Stoiker Forschner (1981), S. 142159.

14

Otto Kaiser

Seien alle drei Teile erkrankt, so komme es zu den schlimmsten Freveltaten, wie es allegorisch in Gen 7,11 beschrieben würde.16 Die enzyklopädische Bildung als Anweisung zu einem tugendhaften und gesunden Leben Philo war davon überzeugt, dass ein tugendhafter Mensch damit rechnen könne, dass ihn Gott vor Krankheiten beschützen würde. Daher betrachtete er ein tugendhaftes und somit Gott wohlgefälliges Leben als unabdingbare Voraussetzung für ein wahres und dauerhaftes Glück. Entsprechend hat er in seiner Abhandlung »De Praemiis et Poenis« 64-65 erklärt, dass eine gut veranlagte, gut unterrichtete und durch gründliche Übungen an die Grundsätze der Tugend gewöhnte Seele infolge ihrer Sittsamkeit Gesundheit, Macht und leibliche Schönheit gewönne. Der Leib würde durch natürliche Anlage, Lernen und fleißige Übung ein vollkommener Wohnsitz der Tugenden.17 Zur vollen Entwicklung der seelischen und leiblichen Anlagen des Menschen führte nach Philos Überzeugung eben die klassische gymnasiale Ausbildung, in der die Jünglinge nicht nur ihren Leib, sondern auch ihre Seele ertüchtigen, so dass sie zu gesunden und urteilsfähigen Männern heranwüchsen (Congr.143-150).18 Indem er Gesundheit und Schönheit des Leibes zu den Gütern rechnete, setzte er sich von der stoischen Ethik ab19, während er sich gleichzeitig Aristoteles und seiner Schule näherte (vgl. Ebr.201-202)20.

16 Zu Philos Kritik an den Gastmählern als Demonstration des Reichtums vgl. Somn.II.60-61, Ebr.217-222 und zu den sich in ihnen spiegelnden homoerotischen Exzessen Spec.III.37-39. Als prominentestes Beispiel für ein dem Laster ergebenes Leben hat Philo den Kaiser Gaius, genannt Caligula, in Leg.Gai.14 vorgestellt: »Schon im achten Monat seiner Herrschaft war er ernstlich erkrankt, denn er hatte seine bisherige Lebensweise, die zu Lebzeiten des Tiberius strenger und darum gesünder war, jetzt mit einem Leben der Ausschweifung vertauscht; schwere Getränke, schwer verdauliche Delikatessen, unersättliche Gier, mochte auch der Bauch noch voll sein, heiße Bäder zu ungewöhnlicher Stunde, künstliches Erbrechen und sofort wieder Saufereien, begleitet von Schlemmereien, Unzucht mit Knaben und Weibern und was sonst noch, Seele und Leib zerstörend, über ihn vereint Macht ergriff. Der Lohn des Maßhaltens aber ist Gesundheit und Kraft, der Maßlosigkeit aber Schwäche und Krankheit, die hart am Rande des Todes verläuft.« Übers.: Friedrich Wilhelm Kohnke. Philo (1962-1964), Bd. VII, S. 179. Zum Genussleben des jungen Herrschers vgl. Winterling (2003), S. 71-79. 17 Vgl. dazu Wolfson (1948), Bd. II, S. 197f. 18 Vgl. dazu auch Kaiser (2015), S. 63f., 241f. 19 Zur ausschließlichen Identifikation des Glücks mit der Tugend bei den Stoikern vgl. Irwin (2007), S. 321-326. 20 Vgl. dazu Sharples (2008), S. 71-73, und zur aristotelischen Lehre vom Glück Irwin (2007), S. 115-140, bzw. Flashar (2013), S. 67-106.

Gesundheit und Krankheit bei Philo von Alexandrien

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Gesundheit als Lohn der Selbstbeherrschung Dass Gesundheit das Ergebnis einer eisernen Selbstdisziplinierung angesichts der lustvollen Versuchungen ist, hat Philo am Beispiel einer Mandel illustriert, deren süßer Kern erst nach dem Knacken der harten Schale erreichbar ist. So wie man sie knacken muss, um an ihren süßen Kern zu gelangen, müsse, wer gesund bleiben wolle, einen harten Kampf mit seinen Gelüsten führen (Mos.II.182-185): 182 Das muschelförmige Äußere einer Nuss ist bitter, die inneren Lagen, welche die Frucht wie einen hölzernen Schutz umgeben, sind außerordentlich fest und hart, und da die Frucht durch beide eingeschlossen ist, ist es nicht einfach, zu ihr zu gelangen. 183 Darin findet (Moses) ein Beispiel für das Handeln der Seele, das er nach seiner Überzeugung zu Recht zur Ermutigung der Seele zur Tugend benutzen kann, indem er lehrt, dass ihrer Erlangung Mühe vorausgehen müsse; denn bitter, abstoßend und hart ist die Mühe, aus der das Gute erwächst, sie darf nicht abgemildert werden. 184 Denn wer die Mühe flieht, flieht auch das Gute; wer aber geduldig und mannhaft die Beschwerden aushält, der eilt zur Seligkeit. Denn die Tugend kann nicht in Weichlingen, seelisch verweichlichten und leiblich durch tagtäglich fortgesetzte Schwelgerei entnervten Menschen wohnen. Daher betreibt sie wegen schlechter Behandlung bei ihrer Herrin, der rechten Vernunft (τὸν ὀρθὸν λόγον), ihre Entlassung und zieht von dannen. 185 Doch um das Wahre zu sagen, die hochheilige Vereinigung der Einsicht, Selbstzucht, Tapferkeit und Gerechtigkeit21 läuft denen nach, die nach einem strengen und harten Leben in Enthaltsamkeit und Standhaftigkeit gepaart mit Einfachheit und Anspruchslosigkeit streben. Denn durch sie schreitet unsere bedeutendste innere Fähigkeit, das vernünftige Denken, zu kräftiger Gesundheit und zum Wohlbefinden fort, indem sie den schweren Widerstand des Leibes niederwirft, den Trunksucht und Verfressenheit und Geilheit und andere unersättliche Gelüste stärken, welche die Üppigkeit des Fleisches erzeugen, die Gegnerin des klaren Denkens.

Dass ein gesundes Leben in der Regel die Folge einer harten und mühevollen Selbstdisziplinierung ist, hat Philo auch in anderem Zusammenhang unterstrichen: Wer nach ihm strebe, der müsse gleichsam die Idee der Selbstbeherrschung (καρτερία/kartería) geschaut haben. Denn gegen die tödlichen Zauber der Lust und die durch sie ausgelöste Zügellosigkeit (ἀκολασία/akolasía) wäre Besonnenheit (σωφροσύνη/sōphrosýnē) das wirksamste Gegengift (Agr.98). Die Notwendigkeit zur Umkehr bei dem seinem Wesen nach sündhaften Menschen als Mittel der Erhaltung von Schönheit und Gesundheit Trotzdem sind Schönheit und Gesundheit vergängliche Güter, da die Menschen für Krankheiten anfällig sind (Jos.130): Währt Schönheit nicht nur einen Tag, die, noch ehe sie erblüht ist, verwelkt? Ist Gesundheit nicht unsicher wegen der Schwächen, die zum Angriff bereit sind? Wird Stärke nicht leicht zu einer Beute der Krankheiten, die aus tausend Gründen entstehen? Oder ist die Untrüglichkeit der Sinne nicht unbeständig, weil sie durch das Eintreten eines kleinen rheumatischen Schmerzes gestört werden kann? 21 Bei ihnen handelt es sich um die vier klassischen Tugenden der griechischen Ethik.

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Mithin stellt sich die Frage, wie man beider Verlust so lange wie möglich hinauszögern kann. Um Philos Antwort zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass Gerechtigkeit und Leben nach biblischer Vorstellung unauflöslich zusammenhängen (vgl. z. B. Spr 12,21, Spr 13,9 und Ps 37,11).22 Aber gleichsam als Zwilling ordnet er ihr die Buße zu, weil allein Gott vollkommen sündlos ist. Der seinem Wesen nach sündhafte Mensch muss sich daher vor dem allein vollkommenen Gott demütigen, indem er ihm seine Sünden bekennt und damit zu Gott umkehrt. Daher hat Philo in seiner Schrift »De Virtutibus« die klassischen vier Tugenden der Besonnenheit, Mannhaftigkeit, Gerechtigkeit und Weisheit nicht nur um die Philanthropia oder Menschenliebe (Virt.51-174)23 und die vornehme Abkunft (Virt.187227)24, sondern auch um die Umkehr oder Buße (Virt.175-186)25 ergänzt. Sie nimmt nach Philos Urteil unter allen Tugenden deshalb eine besondere Stellung ein, weil sie die Menschen daran erinnert, dass allein Gott oder ein Gottesmann ohne Sünde ist, so dass die Buße als Umkehr von einem sündhaften zu einem schuldfreien Leben ein Akt der Weisheit ist. Philo hat ihre Bedeutung in Virt.176-177 mittels eines Vergleichs mit den natürlichen »führenden Werten« erläutert. Sie bestünden für die Leiber in von Krankheit freier Gesundheit, für Schiffsreisende in einer sicheren Überfahrt und für Seelen in einem guten Gedächtnis. Ihnen nachgeordnet stünden die Genesung von Krankheiten und die Rettung aus den Gefahren der Seenot, dann aber ein das Vergessen überwindendes Gedächtnis, das als seinen Bruder und nahen Verwandten die Buße besitzt, die, obwohl sie nicht den ersten und höchsten Rang der Werte besitzt, gleich nach ihm den nächsten und zweiten davonträgt. 177 Denn vollkommene Sündlosigkeit ist nur Gott oder einem göttlichen Menschen eigen, Umkehr vom Sündigen zu einem schuldlosen Leben ist eine Sache des Besonnenen, der im Hinblick auf das ihn Rettende (συμφέρον) nicht gänzlich unwissend ist.26

In Übereinstimmung mit seiner Deutung von Erkrankungen als Erinnerungen an die Notwendigkeit zur Umkehr oder Buße konnte Philo sie auch zu Erinnerungen an die Sterblichkeit erklären (Praem.119): »Sollte sich aber einmal eine gewisse Schwachheit einstellen, so sollte daraus kein Schaden erwachsen, sondern es sollte den Sterblichen daran erinnern, dass er sterblich ist, um den übermütigen Sinn zu zügeln und seinen Charakter (ἠθή) zu verbessern.« Doch über solchen Grundsatzfragen darf nicht vergessen werden, welche Rolle eine gesunde Seele im Leben zu spielen vermag: Sie ist nach Philos

22 Vgl. dazu Kaiser (2013), S. 270-274. 23 Vgl. dazu Wilson (2011), S. 17-20 bzw. 152-358. 24 Vgl. dazu Wilson (2011), S. 21 bzw. 381-415. 25 Vgl. dazu Wilson (2011), S. 20f. bzw. 359-379. 26 Vgl. dazu Wilson (2011), S. 365f.

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Überzeugung dazu in der Lage, dem Menschen über manchen Kummer und Schmerz hinwegzuhelfen, denn (Virt.13-14) Krankheiten der Leiber aber schaden wenig, wenn die Seele gesund ist. Gesundheit der Seele als richtige Mischung der Kräfte besteht in der des Mutes mit dem Begehren und der Vernunft, wobei die Vernunft die beiden anderen wie ein Wagenlenker die durchgehenden Pferde beherrscht [vgl. Plat.Phaidr.253d]. Der besondere Name der Gesundheit ist Besonnenheit, die Heil für die denkenden Kräfte in uns bewirkt, denn oft, wenn sie sich in der Gefahr befindet, von der Heftigkeit der Leidenschaften überschwemmt zu werden, verhindert sie es, dem Strudel nachzugeben, indem sie es emporhebt und belebend und erquickend eine Art von Unsterblichkeit verleiht.27

Ein rechtzeitiges gesundes Leben ist besser als der verspätete Gang zu einem Arzt Philo war nach dem bisher Ausgeführten verständlicherweise davon überzeugt, dass es für die Menschen besser sei, von Jugend an zu einem gesunden und selbstbeherrschten Lebenswandel erzogen zu sein, als verspätet bei Ärzten Rat für eine gesunde Lebensführung einzuholen. So heißt es in seiner Abhandlung »Quod omnis probus liber sit« (Prob.12-15): Es verhält sich so, wie ich sagte, mit den Ausflüchten von Menschen, deren Urteilskraft getrübt ist, Sklaven der Meinung, die sich an die Sinneseindrücke halten, deren wackliger Rat stets von ihren Parteigängern bestochen ist. Wenn sie wirklich die Wahrheit suchten, würden sie sich nicht in ihrem Denken von ihren ermatteten Leibern führen lassen. Denn in ihrem Verlangen nach Gesundheit übergeben sie sich den Ärzten, während sie (gleichzeitig) in ihrer Unerzogenheit zögern, die Krankheit der Seele zu vertreiben, indem sie mit weisen Männern verkehrten, bei denen sie nicht nur ihre Unbildung verlernen, sondern auch den eigentlichen Besitz des Menschen gewinnen könnten. 13 Aber da nach dem hochheiligen Platon »Neid keinen Platz im göttlichen Chor besitzt« [Plat.Phaidr.247a7] und Weisheit das Allergöttlichste und Allergemeinsamste ist, verschließt sie niemals ihre Schule, sondern mit weit geöffneten Türen empfängt sie die, die nach den Strömen ihrer Worte dürsten, indem sie sie neidlos mit dem Nass der reinen Lehre überschüttet und dazu überredet, in Nüchternheit trunken zu sein. 14 Die aber tadeln sich selbst wie die in die Mysterien Eingeweihten, wenn sie mit ihren Geheimnissen erfüllt sind, vielfach wegen ihrer einstigen Geringschätzung, weil sie die Zeit nicht genutzt haben, indem sie ein nicht lebenswertes Leben führten, in dem ihnen die Einsicht fehlte.28 15 Daher ist es angemessen, dass die gesamte Jugend überall die Erstlinge ihrer Jugendblüte nichts anderem als der Bildung darbringt, in der heranzuwachsen und alt zu werden schön ist. Denn so wie es heißt, dass neue Gefäße den Geruch dessen, was zuerst in sie gegossen worden ist, behalten, so verhält es sich auch mit den Seelen der Jungen, die die ersten unauslöschbaren Vorstellungen nicht unter dem Eindruck neuer wegspülen lassen, sondern die ursprüngliche Form (εἶδος) durchscheinen lassen.

Gesundheit des Leibes und der Seele bedürfen mithin von Jugend an einer beständigen Pflege. Was beim körperlichen Training selbstverständlich ist, gilt also auch für die Seele: Auch ihre Tugenden müssen immer wieder ak27 Vgl. dazu Wilson (2011), S. 109f. 28 Zu den Bußakten bei der Einführung in die Isis-Mysterien vgl. Apul.Metam.XI.21.68* und dazu Nilsson (1961), S. 635-637, und Burkert (1990), S. 22, 82.

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tiviert werden, weil die Seele sonst erschlaffen und die Tugend dem Laster weichen würde (vgl. Sacr.39).29 Aber das Leben des Tugendhaften ist keineswegs traurig, sondern wird von echter Freude erfüllt. Sie ist nach Philos Überzeugung eine unentbehrliche Helferin, weil sie den ersehnten und angestrebten Glückszustand vorwegnimmt und begleitet. Sie (Leg.II.86) erheitert sich nicht nur, wenn ein Gut gegenwärtig und wirksam ist, sondern bereits, wenn es noch ein Gegenstand der Hoffnung ist, bewirkt es einen vorwegnehmenden Glanz. Denn sie besitzt gegenüber ihnen [und d. h. den anderen Gütern] einen besonderen Vorzug. Denn während andere gute Dinge dank der ihnen innewohnenden Qualität nur eine partikulare Güte besitzen, handelt es sich bei der Freude sowohl um ein partikulares wie ein universales Gut. Sie aber gesellt sich ihnen allen hinzu. Wir freuen uns über Gesundheit und über Freiheit und über Ehre und über andere Güter, so dass wir mit dem Anspruch auf wörtliche Wahrheit sagen können, dass nichts ein Gut ist, wenn es nicht mit Freude verbunden ist.

Der vom Schicksal geschlagene Mensch Das abschreckende Gegenbild zu dem fröhlich den Weg der Tugend wandelnden Menschen ist der vom Schicksal (τύχη/týchē)30 geschlagene Mensch (Conf.16-19): 16 Wer kennt nicht die Schicksalsschläge, wenn Armut und schlechter Ruf sich mit körperlicher Krankheit und Gebrechen vereinigen und mit seelischen Schwächen wie Melancholie oder Vergreisung verbunden sind? 17 Denn schon ein Anfall eines einzigen der erwähnten (Übel) reicht aus, selbst einen überaus angesehenen Mann umzuwerfen und zu Fall zu bringen. Wenn aber die Übel des Leibes, der Seele und die äußeren wie auf einen Befehl zugleich und gehäuft über jemanden herfallen, könnte dann ein Elend größer sein? Denn wenn die Wächter gefallen sind, fallen notwendig auch die Bewachten. 18 Die Wächter des Leibes aber sind Reichtum, Ruhm und Ehren, die ihn aufrichten, emporheben und ihm Selbstbewusstsein verleihen, so wie im Gegenteil Schande, Ruhmlosigkeit und Armut ihn wie Feinde niederschlagen. 19 Andererseits sind die Kräfte des Hörens, Sehens, Riechens, Schmeckens und Fühlens die Wächter der Seele samt dem ganzen Gefolge der Wahrnehmungen und dazu Gesundheit und Kraft, Ausdauer und Entschlossenheit. Denn sie stehen ihnen wie befestigte Häuser zur Verfügung, in deren Mitte sich der Geist (nous) ergehen und frohlockend aufhalten kann, weil ihn niemand daran hindert, seinen eigenen Trieben zu folgen, weil seine Wege in alle Richtungen ungehindert und frei sind.

Aber die durch Schicksalsschläge verursachten Kalamitäten würden nach Philos Überzeugung durch die durch eigenes Verschulden verursachten voll aufgewogen, wenn Torheit, Feigheit, Verlust der Selbstbeherrschung und Ungerechtigkeit zusammenwirkten, um den Betroffenen zu Fall zu bringen (Conf.20-23).

29 Vgl. auch Arist.Eth.Nic.X.1179b20-35. 30 Zur Tyche als einer irrationalen unheimlichen, die Menschen um ihr Glück beneidenden Macht und ihrer Personifizierung im hellenistischen Zeitalter vgl. Nilsson (1961), S. 204-210; zu Philos Zurückführung des Schicksals auf Gott vgl. Wolfson (1948), Bd. I, S. 329f.

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Das tugendhafte Leben als Basis eines gesunden und fröhlichen Lebens Mithin können wir im Sinne Philos sagen, dass ein tugendhaftes Leben die sicherste Basis für ein wahrhaft gesundes und zugleich hoffnungsvolles und fröhliches Leben ist. Ein glückliches Leben setzt sich im Idealfall nach Her.285-286 aus positiven äußeren und seelischen Gütern zusammen, indem Wohlstand und Ruhm, Gesundheit und Stärke zusammen mit der Tugend ein Leben bestimmen.31 Dabei bilden Ansehen und überquellender Reichtum die Leibwächter des Leibes, Unversehrtheit und vollständiges Wohlbefinden des Leibes die der Seele und die Grundsätze der Wissenschaften die des Geistes. Doch selbst ein solches Glück könne niemals ewig dauern, weil die Kräfte jedes Menschen bis zur Erreichung seiner vollen Reife zunehmen, um dann in einem kraftlosen Alter zu enden, in dem er alles verliert, was er einst gewonnen hat (Aet.85).32 Entsprechend kann es gelegentlich wichtiger sein, sich einem Trainer als einem Arzt anzuvertrauen, der für körperliche Kräftigung sorgt (Somn.I.251). Zur Heilung eines Kranken bedient sich Gott der ärztlichen Kunst Was aber war zu tun, wenn man trotzdem erkrankte? Die ärztliche Wissenschaft (ἰατρολογία/iatrología) erhob damals wie heute den Anspruch, dass sie die Kenntnisse vermittelt, Kranke durch Handlungen zu heilen (Agr.13; vgl. auch Imm.87). Auch wenn die medizinische Wissenschaft umfassender als die Kenntnisse eines Arztes ist (Mut.122), liegt es nahe, sich im Fall einer Erkrankung ärztlicher Hilfe zu bedienen.33 Dass man es auch dann mit Gott zu tun bekommt, geht daraus hervor, dass er nach Philos Überzeugung der eigentliche Helfer sei. Denn dass in Wahrheit Gott bzw. sein Engel den Menschen aus Krankheit errette, sich dabei aber der ärztlichen Kunst und ärztlichen Geschicks bediene, entnahm Philo dem Segen, den Jakob in Gen 48,15-16 (LXX) seinen Enkeln Ephraim und Manasse erteilte, indem er den Gott, der ihn von Jugend auf ernährt, und den Engel, der ihn vor allem Unheil bewahrt hat, darum bat, die beiden Jungen zu segnen. Danach sei Gott der eigentliche Geber der wichtigsten Güter, während der Engel aus Übeln errette. Damit habe Jakob auf echt philosophische Weise 31 Vgl. auch Sobr.61, dazu Plat.Phil.63c-65a und Kenny (2010), S. 210f. 32 Vgl. auch Ebr.140. Hier legt Philo die Verheißung in Lev 10,9, dass die Priester, die vor der Darbringung der Opfer keinen Wein trinken, leben bleiben, dahingehend aus, dass Unbildung (ἀπαιδευσία/apaideusía) den Tod herbeiführe, während Bildung (παιδεία/paideía) zur Unvergänglichkeit (ἀφθαρσία/aphtharsía) verhülfe. Denn so wie Krankheit die Auflösung der Leiber bewirke und Gesundheit sie erhielte, beruhe die Gesundheit der Seele auf der Besonnenheit (φρόνησις/phrónēsis). 33 Vgl. auch die Bestimmung der Aufgabe der Medizin bei Gal.Meth.Med.I.5.42K; Galen (2011), Bd. 1, S. 67: »The Method of Medicine is that health is to be provided for bodies that have become diseased; that is to say, to restore the functions of the parts to normal wherever they should happen to have been damaged.«

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verdeutlicht, dass Gott Gesundheit im einfachen Sinne verleihe, während er sich im Fall einer Erkrankung ärztlichen Wissens und ärztlicher Kunst bediene, wobei er selbst mit und ohne sie zu heilen vermöge (Leg.III.177-178). Einen Abstecher in die Geschichte der Medizin hat Philo in Leg.Gai.106 unternommen, wo er den Gott Apoll in polemischer Gegenüberstellung zum Kaiser Gaius zu einem wichtigen Reformer der Medizin erklärt, sei er doch der Erfinder heilbringender Arzneien gewesen.34 Mithin sei es keine Sünde, sich im Krankheitsfall ärztlicher Hilfe zu bedienen. Erinnert man sich an die Einstellung des vermutlich spätperserzeitlichen Verfassers von II Chr 16,12-13, wird deutlich, welchen Fortschritt das Denken der jüdischen Weisen inzwischen gemacht hat: Denn während jener das Aufsuchen eines Arztes als solches für eine den Tod bewirkende Sünde hielt, hatte bereits der zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. in Jerusalem lebende Weisheitslehrer Jesus Sirach seinen Schülern den ausgewogenen Rat erteilt, sich schon vor ihrer Erkrankung mit einem Arzt anzufreunden, denn auch er habe seine Aufgabe von Gott zugeteilt bekommen, der überdies auch die für die Behandlung nötigen Heilkräuter erschaffen habe (Sir 38,1-8). Aber wenn Gott auch durch den Arzt wirke, sollten seine Schüler im Fall ihrer Erkrankung nicht zögern, Gott um ihre Heilung zu bitten (Sir 39,9-15).35 So sollten nach Ben Siras Überzeugung ärztliches Handeln und göttliches Helfen bei der Genesung eines Kranken zusammenwirken.36 Philo gab dieser liberalen Denkungsart eine philosophische Begründung, indem er die Ansicht vertrat, dass alle irdischen Kräfte, denen wir die positiven Seiten oder »Güter« unseres Lebens verdanken, Mittel der schaffenden Kraft Gottes sind. Das gelte nicht allein für Wachstum und Gedeihen auf den Feldern, sondern auch für die Kinderzeugung und ebenso für die ärztliche, für die Gesundheit der Patienten sorgende Kunst (Imm.87-88). Wenn das Leben seine Schwierigkeiten behielte, gelte es darüber hinaus daran zu denken, dass ein Arzt bei der Behandlung schwerer und gefährlicher Krankheiten manchmal Teile der Leiber abschnitte und ein Steuermann angesichts bevorstehender Winterstürme um der Rettung der Passagiere willen einen Teil der Ladung über Bord würfe, wofür beide dafür gelobt würden, dass sie statt auf das Gefällige auf das Nützliche gesehen und angemessen gehandelt hätten. So müssten wir Menschen stets die alles umfassende Natur ehren und erkennen, dass sie bei ihren Handlungen in der Welt keine schädlichen Ziele verfolge (Praem.33-34): »Denn die Frage lautet

34 Zu Apollon als Heilgott vgl. Burkert (1997), S. 225-229. 35 Vgl. dazu Marböck (1999), S. 154-160, und Kaiser: Krankheit (2008), bes. S. 243-245. 36 Vgl. auch Hippokrt.Dec.V.4: »Denn ein Arzt, der die Weisheit liebt, ist gottgleich.« Hippokrates (1923), Bd. II, S. 286f. Zu dem im 5. Jahrhundert auf der Insel Kos wirkenden Arzt Hippokrates und dem Corpus Hippocraticum vgl. Potter/Gundert (1998).

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nicht, ob sie uns selbst gefallen, sondern ob das Schiff der Welt wie eine wohlgeordnete Polis gesteuert wird.« Der Arzt als Helfer des Kranken Philo hat die Bedeutung des Arztes für den Patienten mit der des Steuermanns für den Erfolg der Reise, des Landmanns für den Ertrag der Felder, des Hirten für die Vermehrung der Herde und des Strategen für den Sieg in der Schlacht verglichen, denn von ihm hinge seine Gesundheit ab (Mut.221; vgl. aber auch Spec.IV.186), besaß doch nur er die Kenntnis, Drogen und Salben richtig zu mischen (Q.Gen.IV.76).37 Was die ärztliche Therapie betrifft, so hat er beobachtet, dass ein guter Arzt seinen Patienten (bei einer normalen Erkrankung, nicht bei einem Unfall) nicht in jedem Fall sofort behandelt, sondern es erst der Natur erlaubt, den Weg zur Besserung einzuschlagen (Q.Gen.II.41; Q.Ex.II.25). Dass der Arzt wie der Philosoph seinen Befund schriftlich erheben konnte, hielt Philo wohl deshalb für erwähnenswert, weil es den Arzt als gebildeten, zu seiner Diagnose stehenden Mann auswies (Plant.173).38 So wie nach einem deutschen Sprichwort Vorbeugen wichtiger als Heilen ist, konnte der Arzt seinen Patienten das Einlegen von Pausen und Unterbrechungen ihrer Arbeit verordnen, weil eine ständige Belastung ihrer Genesung schade (Hyp.7.16).39 Auch zur richtigen und falschen Ernährung hat sich Philo geäußert.40 Dabei meinte er feststellen zu können, dass von Frauen erzogene Männer einen verweichlichten Geschmack entwickelten, während von Männern erzogene nicht danach fragten, was angenehm, sondern was geeignet sei, sie wie einen Athleten zu kräftigen (Somn.II.9; vgl. auch Somn.II.129 und Spec.I.173-174).41 Dass gesundes Wachstum und ein gesunder Magen die Folgen richtiger Ernährung sind, während es fettleibige Kinder gäbe, denen kein Arzt mehr helfen könne, hat er richtig beobachtet (Q.Gen.IV.200).42 Unter dieser Rubrik können wir auch seine Feststellung 37 Vgl. auch Q.Gen.IV.76.2: »Wer nicht mit der Kunst des Arztes vertraut ist, kann die Drogen nicht richtig mischen.« Zur Schwierigkeit, bei frischen Fällen das richtige Mittel zu finden, und zwar das dem jeweiligen Patienten bekömmliche, vgl. Cels.Med.III.1.5-6 und weiterhin das Verzeichnis der Diäten und Heilmittel in Cels.Med.II.18-33 und die grundsätzlichen Überlegungen in Cels.Med.I.2.8-10. Zu dem enzyklopädistischen Schriftsteller Conelius A. Celsus, der während der Herrschaft des Kaisers Tiberius 14-37 n. Chr. zahlreiche Werke zur Landwirtschaft, Medizin, Kriegskunst, Rhetorik, Philosophie und Jurisprudenz verfasste, vgl. Sallmann (1997). 38 Vgl. dazu Krug (1993), S. 71. 39 Vgl. dazu auch Cels.Med.I.3.3 und 8. 40 Zur antiken Diätlehre vgl. Krug (1993), S. 49-51. 41 Zu der von den Athleten geforderten Selbstbeherrschung vgl. auch Q.Gen.III.20, IV.29 und 129. 42 Zum Problem der Gewichtszunahme eines konstitutionell Mageren bzw. der Abnah-

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einordnen, dass der Arzt gegebenenfalls zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit Abführmittel verordnet (Hyp.7.16/361).43 Andererseits wusste Philo, dass es Menschen gab, die zum Essen zu schwach geworden waren und erst durch die ihnen von ihren Ärzten verabfolgten Mittel wieder dazu befähigt werden mussten (Somn.I.51; vgl. auch Decal.12). In der Zwischenzeit konnten sie ihre Patienten mit Wohlgerüchen behandeln (Q.Gen.IV.147). Dass es im Krankheitsverlauf Beschwerden geben kann, die nicht schädlich sind, sondern notwendige Stadien auf dem Weg zur Genesung darstellen, können Patienten gegebenenfalls von ihren Ärzten erfahren. Es geht den Kranken dann wie Kindern, die von ihren Lehrern nicht immer auf schmerzlose Weise erzogen werden (Q.Gen.III.25). Die Grenzen der medizinischen Kenntnisse Philos Nur ein einziges Mal hat Philo in Post.47 im Anschluss an Lev 13,2 einen Krankheitsfall als solchen beschrieben und diagnostiziert: »Wenn das Aussehen [der Haut] niedriger erscheint und gebrochen im Vergleich mit der gleichmäßigen und wohlgestalteten äußeren Hautfläche, entsteht – sagt der Gesetzgeber –, dass es sich um die schlimme Krankheit der Lepra handelt.« Das hebräische Wort sāracat bezeichnet jedoch ursprünglich nicht die Lepra, den Aussatz, denn dieser ist erst in der Folge des Alexanderzuges aus Indien nach Europa eingeschleppt worden, sondern eine ganze Reihe von Hauterkrankungen, von denen zumal die Schuppenflechte oder Psoriasis bzw. der gefährlichere Favus (»Erbgrind«) oder Vitiligo, die Leukodermie, gemeint sein dürften.44 Um einen eindeutigen Fall handelt es sich auch bei der in Gen 17,9-14 gebotenen Beschneidung aller neugeborenen Knaben. Philo hielt sie für eine hygienische Maßnahme, weil sie eine sommerliche Entzündung des Penis verhindere (Q.Gen.III.48).45 Aus diesen Beispielen geht hervor, dass der Leser bei Philo keine medizinischen Fachkenntnisse voraussetzen darf. Was Philo über das ärztliche Handeln und seine Patienten mitteilt, dürfte dem entsprechen, was ein Gebildeter seiner Tage aufgrund des Verkehrs mit einem Hausarzt oder Gesprächen im Familien- und Bekanntenkreis darüber wusste. Verhielte es sich anders, so wären seine einschlägigen Metaphern und Ratschläge von seinen Lesern kaum verstanden worden. Eine Ausnahme bildet jedoch Philos Mitteilung in Leg.II.6, dass nach den besten Ärzten das Herz vor dem ganzen Körper – gleichsam wie der Kiel vor einem ganzen Schiff – gebildet wird. me eines Beleibten vgl. Cels.Med.II.2.1-2. 43 Zum Stuhlgang vgl. Hippokrt.Progn.XI (Hippokrates (1923), Bd. II, S. 22-25) und zur Verabreichung von Abführmitteln Cels.Med.I.3.25-26. 44 Vgl. dazu Seybold/Müller (1978), S. 55-60, und Gal.Meth.Med.XIV.17.1004K. 45 Vgl. dazu auch Cels.Med.VII.25.1-C3 und zur Beurteilung der Beschneidung durch Philo ausführlich Kaiser (2015), S. 144-148.

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Denn hierbei handelt es sich um eine gelehrte Ansicht, die bereits von Aristoteles (Arist.Gen.An.42b35) und anschließend (nach Galen) auch von den Peripatetikern und Stoikern vertreten worden ist.46 Zur Verlaufsbeschreibung von Krankheiten gehören Philos Mitteilungen, dass Fieberanfälle zu bestimmten Tageszeiten wiederkehren (Conf.151)47 und die Krise bei auf inneren Störungen beruhendem Fieber und anderen schleichenden Krankheiten, die den ganzen Organismus ergriffen haben (Spec.IV.83), in der Regel am siebten Tag eintritt48. Dieser Tag entscheide dann den Kampf, indem er den Betroffenen Genesung oder den Tod bringe (Opif.125; vgl. Leg.I.13).49 Dass das Atmen lebensnotwendig ist und sein längeres Aussetzen tödlich wirkt (Spec.I.338)50, dürfte damals wie heute neben dem Aussetzen des Herzschlags zu den allgemein bekannten Anzeichen des eingetretenen Todes gehört haben. Das medizinethische Problem des Umgangs des Arztes mit der Wahrheit Dass der Arzt sich bei einem entsprechenden Befund zur Amputation einzelner Glieder entschließen muss (Praem.53)51, ist eine überzeitlich gültige 46 Long/Sedley (1987), 53 D. Zu Galenos aus Pergamon (129-ca. 216 n. Chr.) vgl. Nutton/Reppert-Bismarck (1998), zu seiner Bedeutung als Mittelplatoniker Dillon (1996), S. 339f., und zur Embryologie Fasbender (1897), S. 23, und Töply (1898), S. 179, der auch auf den um 300 v. Chr. wirkenden Arzt Chrysipp von Knidos als Vertreter dieser Lehre verweist; vgl. zu ihm Nutton/Reppert-Bismarck (1997) und zur griechischen Medizin zwischen den Hippokratikern und den Alexandrinern Phillips (1973), S. 122138. Für freundschaftliche Literaturhinweise danke ich Herrn Prof. Dr. med. Stefan Ross, Essen. 47 Zur Behandlung periodisch wiederkehrender Fieberanfälle vgl. Cels.Med.III.16.118.18; zu den an bestimmte Jahreszeiten gebundenen epidemischen Erkrankungen schon Hippokrt.Epid.I-III (Hippokrates (1923), Bd. I, S. 146-287) mit zahlreichen Fallbeschreibungen. 48 Zu den Rhythmen der Fieberanfälle vgl. Cels.Med.III.4.11, in ihrem Rahmen wurde dem siebten bzw. 14. und 21. Tag die größte Bedeutung zugeschrieben: »Est autem alia etiam de diebus ipsis dubitatio, quoniam antiqui potissimum impares sequebantur, eosque, tamquam tum de aegris iudicaretur, κρίσιμους (krísimous) nominabant. Hi erant dies tertius, quintus, septimus, nonus, undecimus, quartus decimus, unus et vicesimus, ita ut summa potentia septimo, deinde quarto decimo, deinde uni et vicensimo daretur.« (»Aber es gibt auch eine andere Unsicherheit, welche die Tage selbst betrifft, da die Alten vor allem die ungleichen Tage bevorzugten und sie als die kritischen bezeichneten, an denen sich das Schicksal der Kranken entschied. Dies waren der dritte, vierte, fünfte, siebte, neunte, elfte, vierzehnte, einundzwanzigste, wobei sie dem siebten und weiterhin dem vierzehnten und dann dem einundzwanzigsten eine besondere Bedeutung zuschrieben.«) Vgl. auch Hippokrt.Progn.XX.1-42.ies. 49 Vgl. dazu Runia (2001), S. 293. 50 Vgl. Hippokrt.Resp.IV.3-11 (Hippokrates (1923), Bd. II, S. 232f.) und zu Vorzeichen des nahen Todes Cels.Med.II.6.5-6. 51 Vgl. auch Decal.150. Zu den mit einer Amputation verbundenen Gefahren vgl.

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therapeutische Einsicht. Dass der Arzt in einem Fall, in dem er einen Patienten mit dem Messer oder einem heißen Eisen behandeln will52, ihm die Wahrheit besser vorenthält53, damit er nicht bereits vor Beginn der Behandlung kollabiert, entsprach nach Philos Urteil seiner sittlichen Pflicht (Cher.15; vgl. auch Imm.66-6754 und Q.Gen.III.25). Selbst berühmte Ärzte hätten Schwerkranken nicht immer die Wahrheit gesagt, weil sie dadurch deren Leiden nur vergrößert hätten, während ein ermutigender Zuspruch sie ihnen erträglicher mache (Imm.65-66).55 Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Vollnarkose erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts n. Chr. ist56 und eine Amputation bis dahin unvermeidlich nicht nur eine große seelische Belastung für die Patienten, sondern auch für die Ärzte darstellte57. Von einer Wortmedizin, die den Kranken durch bloßes Zureden heilen wollte, hielt er nichts58: Krankheiten seien durch Medikamente (φάρμακοι/phármakoi)59, chirurgische Eingriffe (χειρουργίαι/cheirourgíai)60 oder Diätvorschriften (δίαιται/díaitai)61, aber nicht mit Worten zu behandeln Cels.Med.VII.xxxiii.1-2 mit dem Hinweis »Verum hic quoque nihil interest, an satus tutum praesidium sit, quod unicum est.« (»Auch spielt es keine Rolle, ob der ganze Eingriff sicher genug ist, denn er ist der einzige.«) Dazu Phillips (1973), S. 102-107. 52 Vgl. dazu Krug (1993), S. 79-83. 53 Vgl. Hippokrt.Dec.XVI (Hippokrates (1923), Bd. II, S. 296-299); Plat.Rep.III.389 sollte der Arzt dem Patienten stets die Wahrheit sagen.

nach

54 Vgl. dazu Winston/Dillon (1983), S. 310. 55 Vgl. dazu Winston/Dillon (1983), S. 39, mit dem Hinweis auf Plat.Rep.III.389b. 56 Vgl. dazu Garrison (1929), S. 505f. 57 Vgl. dazu auch Cels.Med.VII.Prooem.4: »Esse autem chirurgus debet adulescens aut certe adulescentiae propior; manu strenua, stabili, necumquam intremescente; eaque non minus sinistra quam dextra promptus; acie oculorum acri claraque; animo intrepidus; misericors sic, ut sanari velet eum, quem accepit, non ut clamore eius motus vel magis quam res properet, vel minus quam necesse est secet; sed perinde faciat omnia, ac si nullus ex vagitibus alterius afectus oriatur.« (»Ein Chirurg solle ein junger Mann oder jedenfalls der Jugend näher als dem Alter sein; mit einer starken und kräftigen Hand, die niemals zittert; so mitleidig, dass er den, den er als Patienten angenommen hat, zu heilen wünscht; durch dessen Schreien er nicht dazu veranlasst wird, weiter zu gehen, als es die Sache erfordert, oder weniger abzuschneiden, als es nötig ist; sondern er alles ebenso ausführt, gerade als ob das Wimmern kein Mitgefühl in ihm erregte.«) 58 Vgl. Cels.Med.Prooem.39: »Morbos autem non eloquentia sed remediis curari.« (»Kranke aber werden nicht durch Beredsamkeit, sondern durch Medikamente geheilt.«) 59 Vgl. dazu Krug (1993), S. 103. 60 Zum reichlichen Instrumentarium vgl. Krug (1993), S. 76-103. 61 Zu der entsprechenden Dreiteilung der Medizin in Diätetik, Pharmazeutik und Chirurgie vgl. Cels.Med.Prooem.9.

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(Congr.53)62. Allerdings würde ein guter Arzt nicht versuchen, den Kranken an einem Tag zu heilen, weil er ihm damit eher schaden als helfen würde (Q.Ex.II.25).63 Oder anders ausgedrückt: Der Körper braucht für die Heilung seiner Erkrankungen Zeit. Andererseits würde sich ein guter Arzt ähnlich wie Abraham bei dem Fall der zum Untergang verurteilten Sodomiter (Gen 18,16-33), solange auch nur die geringste Aussicht auf Heilung oder Linderung der Beschwerden bestünde, um das Wohl seines Patienten bemühen (Sacr.121-122): So sollten auch wir versuchen, nach unserem besten Vermögen selbst die zu retten, deren innere Verderbnis sie in den sicheren Untergang führt, und auf diese Weise dem Beispiel guter Ärzte folgen, die, obwohl sie wissen, dass es keine Hoffnung für den Patienten gibt, trotzdem gern ihre Dienste erweisen, damit andere im Fall einer unvorhergesehenen Katastrophe nicht denken, dass sie der Nachlässigkeit des Arztes zuzuschreiben sei.

Der Arzt als Begleiter des Kranken auf dem Weg zur Genesung Mit den Ärzten verhält es sich nach Philos Überzeugung ähnlich wie mit den Lehrern: Beide müssen gelegentlich schmerzhaft eingreifen, ohne damit ihren Patienten oder Schülern zu schaden (Q.Gen.III.25). Grundsätzlich war er davon überzeugt, dass der Arzt rechtzeitig eingreifen müsse (Sacr.121; vgl. auch Decal.150).64 Ob dies auch in einem aussichtslosen Fall angebracht wäre, hat er unterschiedlich beurteilt (vgl. Sacr.123 mit Q.Gen.II.79). Wäre es dem Arzt gelungen, den Patienten zu heilen, so sollte er ihm erklären, dass er selbst alles in seiner Kunst Stehende getan hätte, jener aber weiterhin selbst darauf achten müsse, dass er keinen Rückfall erlitte (Q.Gen.IV.45). Der Patient aber sollte, wenn sein Fieber nachließe, Gott seine Sünden bekennen und durch Gelübde und nachfolgende Opfer um Gottes Gnade nachsuchen, denn am Ende wisse nach Dtn 32,39 nur Gott allein, was einem Menschen wirklich guttue (Somn.II.297). Im Hinblick auf die Rolle, die der Arzt im Leben eines Kranken spielte, konnte Philo ihn in Spec.IV.186 mit einem König, der über seinen Staat, einem Vorsteher, der über sein Dorf, einem Hausherrn, der über ein Haus, einem General, der über seine Armee, einem Admiral, der über die Bordmannschaften und Matrosen, und einem Kapitän, der über die Kaufleute und die Fracht verfügte, vergleichen und ihn als den Herrn seiner Patienten 62 Vgl. Cels.Med.Prooem.39: »Quae si quis elinguis usu discreta bene norit, hunc aliquando maiorem medicum futurum, quam si sine usu linguam suam excoluerit.« (»Ein Mann weniger Worte, der es durch die Praxis lernt, wohl zu unterscheiden, würde jedenfalls ein besserer Praktiker sein als einer, der ohne Praxis ist und seine Zunge ausgebildet hat.«) Celsus (1935-1938), Bd. I, S. 21. 63 Zu den erforderlichen Überlegungen zu Beginn der Behandlung eines neuen Patienten vgl. Cels.Med.Prol.51-53. 64 Nach Cels.Med.VII.1.1 sollen nötige Amputationen unverzüglich vorgenommen werden.

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bezeichnen. In der Tat schätzte er Kunst und Geschick der Ärzte grundsätzlich so hoch, dass er ihr Wirken als Akte der Stellvertretung Gottes betrachtete (Leg.III.178).65 Aber er wusste auch, dass es vorkommt, dass ein Patient trotz aller ärztlichen Eingriffe stirbt oder ohne sie gesundet (Leg.III.226; Spec.I.252). Daher sei es wie in anderen vergleichbaren Fällen wie z. B. in der Landwirtschaft das Beste, auf Gott zu vertrauen und nicht auf die menschlichen Künste (Leg.III.228). Für seelischen Kummer freilich sei der beste Arzt die Zeit, denn sie vermöge Kummer, Ärger und Furcht zu lindern (Jos.10). Das Gottvertrauen als unverzichtbare Lebenshilfe Dem Theodizeeproblem als solchem hat sich Philo nicht gestellt.66 Stattdessen hat er an das Gottvertrauen appelliert, das – auch wenn es für die in den Lauf der Welt verstrickten Menschen gleichsam übermenschliche Kräfte erfordere – das einzige Mittel sei, ein endliches Leben mit seinem Auf und Ab zu bestehen (Her.92-94)67: 92 Wenn du genauer darüber nachdenken und dich nicht ganz auf die Oberfläche beschränken würdest, so würdest du deutlich erkennen, dass auf Gott allein zu vertrauen, ohne dabei etwas anderes dazuzunehmen, wegen unserer engen Verbindung mit den Sterblichen keine leichte Sache ist. Denn es verleitet uns dazu, auf Reichtümer, Ruhm, Macht, Freunde, Gesundheit und körperliche Kraft und vieles andere zu vertrauen. 93 Sich von dem allem rein zu halten und allem Erschaffenen als einem durchaus Unzuverlässigen zu misstrauen, um Gott als dem in Wahrheit allein Vertrauenswürdigen allein zu vertrauen, ist das Werk eines olympischen [und d. h. himmlischen] Denkens, das nicht mehr durch irgendetwas Irdisches verlockt wird. 94 Daher heißt es treffend [Gen 15,6]: »Sein Glaube ward ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.«

Philos Bild vom gesunden und kranken Menschen und seine Hoffnung auf das ewige Leben Blicken wir zurück, so zeichnet sich in Philos Äußerungen über den gesunden und kranken Menschen ein innerer Zusammenhang ab, in den auch das ärztliche Handeln einbezogen ist. Gesundheit ist das grundlegende Gut. Wer sie erhalten will, muss ein zuchtvolles Leben führen, wozu man am besten bereits in seiner Jugend erzogen wird. Aber als endliches und daher fehlbares Wesen ist der Mensch trotz der von ihm als sittlichem Wesen geforderten Selbstbeherrschung, der Kardinaltugend unter den klassischen Tugenden, nicht sicher vor selbstverschuldetem Leid, weil er als endliches Wesen nicht vollkommen sündlos zu sein vermag. Zudem ist er auch nicht vor den Schlägen des Zufalls sicher. Sollte er erkranken, steht es ihm frei, 65 Vgl. auch Hippokrt.Dec.V.4 (Hippokrates (1923), Bd. II, S. 286): »Denn ein Arzt, der die Weisheit liebt, ist gottgleich.« 66 Vgl. dazu Runia (2003). 67 Zum Gottvertrauen im Alten Testament vgl. Levin (2014), bes. S. 78, zu dem bei Philo Wolfson (1948), Bd. II, S. 217f.

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sich einem kundigen Arzt anzuvertrauen, ohne darüber zu vergessen, Gott um seinen Beistand zu bitten. Ein guter Arzt wird alles tun, um ihm sein Leiden zu erleichtern und seine Genesung zu befördern. Doch um das Leben mit seinen Höhen und Tiefen und das unentrinnbare Altern und Sterben zu ertragen, bedarf der Mensch des Gottvertrauens, der für den mit seiner Welt verflochtenen Menschen höchsten und zugleich schwersten, mit dem Glauben identischen Kunst. Dabei kann der Mensch wissen, dass im Tod allenfalls das Leben der Lasterhaften endet68, während den Rechtschaffenen die Heimkehr in Gottes himmlische Welt möglich ist, auch wenn sie bis zu ihrer Erlösung wiederholte Male auf diese Erde zurückkehren müssten (Leg.III.6.41; Imm.46; Praem.51; vgl. auch Her.70-74 und Vit.Cont.1012)69. Sollte ein Mensch schon zu seinen Lebzeiten das überirdische Licht Gottes schauen (vgl. Q.Gen.IV.25 mit Q.Ex.II.7)70, so nimmt er damit gleichsam die Heimkehr der Seele zu Gott vorweg (Leg.III.6.41; Imm.4671; Praem.51; vgl. auch Her.70-74 und Vit.Cont.10-12).

68 Vgl. dazu Wasserman (2008), S. 60-67; zu den Dunkelheiten des Konzepts vgl. Wolfson (1948), Bd. I, S. 403-409. 69 Vgl. dazu Noack (2000), S. 180-215, bes. 209-215; zu den Spannungen in Philos Aussagen über das Endgeschick der Bösen Wolfson (1948), Bd. I, S. 403-409, und zur Vorstellung des Eingehens in das ewige Licht Brunn (2007), S. 256. 70 Vgl. dazu Noack (2000), S. 131-145. 71 Vgl. dazu Winston/Dillon (1983), S. 298, mit dem Hinweis auf Plat.Rep.VII.518b.f.

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Bibliographie Übersicht über Philos Werke (überlieferte Schriften und Lücken angegeben)72 Der Allegorische Kommentar zur Genesis Legum Allegoria: Leg.I (Gen 2,1-17); Leg.II (Gen 2,18-3,1a; Gen 3,1b-8a nicht überliefert); Leg.III (Gen 3,8b-19; Gen 3,20-23 nicht überliefert) De Cherubim: Cher. (Gen 3,24-4,1) De Sacrificiis Abelis et Caini: Sacr. (Gen 4,2-3; Gen 4,5-7 nicht überliefert) Quod Deterius Potiori insidiari soleat: Det. (Gen 4,8-15) De Posteritate Caini: Post. (Gen 4,16-25*; Gen 5,1-32 nicht behandelt) De Gigantibus: Gig. (Gen 6,4b) Quod Deus immutabilis sit: Imm. (Gen 6,4-12; Gen 6,13-9,19 nicht behandelt?) De Agricultura: Agr. (Gen 9,20a) De Plantatione: Plant. (Gen 9,20b) De Ebritate: Ebr. (Gen 9,1) De Sobritate: Sobr. (Gen 9,24-27; Gen 9,28-10,32 nicht behandelt) De Confusione Linguarum: Conf. (Gen 11,1-9) De Migratione Abrahami: Migr. (Gen 12,1-6; Gen 12,7-15,1 nicht überliefert) Quis Rerum Divinarum Heres sit: Her. (Gen 15,2-18; Gen 15,19-21 nicht behandelt) De Congressu quaerendae Eruditionis gratia: Congr. (Gen 16,1-6) De Fuga et Inventione: Fug. (Gen 16,6-14*; Gen 16,15-16 ausgespart) De Mutatione Nominum: Mut. (Gen 17,1-22) Lücke von drei Traktaten: De Deo (Fragment) oder Über Gott (Gen 18,2; nur auf Armenisch überliefert) De Somniis I: Somn.I (Gen 28,10-15; Gen 31,11-13) De Somniis II: Somn.II (Gen 37,5-11; Gen 40,9-13; Gen 41,1-7) Außerhalb jeder Einreihung De Opificio Mundi: Opif. (Gen 1,1-9) Expositio Legis De Abrahamo: Abr. (Gen 4,25-26,11*) (De Jacobo/De Isaaco: nicht überliefert) De Josepho: Jos. (Gen 37-50*) De Vita Mosis I: Mos.I (Ex 1-9; Ex 12-17; Num 13-14; Num 20-25; Num 31-32*) De Vita Mosis II: Mos.II (Ex 25-32; Num 16-17; Num 27; Dtn 33*)

72 Vgl. dazu Siegert (1996), S. 166-168 und 177-182.

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De Decalogo: Decal. (Ex 20*) De Specialibus legibus: Spec.I-IV (ohne feste Textfolge) De Virtutibus: Virt. (Texte von Gen 3 bis Dtn 33 ohne feste Textfolge) De Praemiis et Poenis oder Über Belohnungen und Strafen: Praem. (eschatologisches Finale Gen 4,26; Gen 15,6; Num 16 usw.; Dtn 28 und 30) Lehrschriften Quaestiones et Responsiones in Genesim: Q.Gen. (nur in armenischer Übersetzung nebst griechischen Fragmenten überliefert) Quaestiones et Responsiones in Exodum: Q.Ex. (nur in armenischer Übersetzung nebst griechischen Fragmenten überliefert) Thematische Abhandlungen Quod omnis probus liber sit: Prob. De Vita Contemplativa: Vit.Cont. (mit einer Beschreibung der Essener in 75-91) De Aeternitate Mundi: Aet. (ein Skizzenbuch) In Flaccum: Flacc. (polemische Schrift gegen den Prokurator Flaccus) Legatio ad Gaium: Leg.Gai. (Bericht über die 39/40 von Philo geführte Delegation zur Beschwerde über Flaccus beim Kaiser Gaius (Caligula) in Rom) Hypothetica oder Apologia pro Judaeis oder Verteidigungsschrift für die Juden: Hyp. (griechische Fragmente bei Euseb) Späte Dialoge De Animalibus oder Über die Tiere: Anim. (nur auf Armenisch überliefert) De Providentia oder Über die Vorsehung: Prov.I (auf Armenisch überliefert; dialogischer Charakter durch Bearbeiter beschädigt); Prov.II (auf Armenisch überliefert; dialogische Form erhalten)

Antike Autoren außer Philo Apul.Metam.: Apuleius, Metamorphoses Arist.Eth.Nic.: Aristoteles, Ethica Nicomachea Arist.Gen.An.: Aristoteles, De Generatione Animalium Arist.Poet.: Aristoteles, Poetica Cels.Med.: Celsus, De Medicina Gal.Meth.Med.: Galenos, Methodus Medendi Hippokrt.Dec.: Hippokrates, Decorum Hippokrt.Epid.: Hippokrates, Epidemiae Hippokrt.Progn.: Hippokrates, Prognosticum Hippokrt.Resp.: Hippokrates, De Respiratione Jos.Ant.: Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae Jos.Bell.: Flavius Josephus, Bellum Judaicum

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Plat.Phaidr.: Platon, Phaidros Plat.Phil.: Platon, Philebos Plat.Rep.: Platon, De Re Publica Plat.Tim.: Platon, Timaios Tac.Hist.: Tacitus, Historiae

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Etappenliebe: Belgrad, Cetinje und Lublin unter österreichisch-ungarischer Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg Tamara Scheer Summary Love on enemy territory: Belgrade, Cetinje and Lublin under Austro-Hungarian occupation in World War I During World War I, Serbia and Montenegro were under Austro-Hungarian occupation between late 1915/early 1916 and 1918. This article explores the attitude of the occupiers towards prostitution and venereal disease, among the indigenous population as well as among their own soldiers, officers and female support staff. The measures taken were primarily guided by military considerations. For the military, the occupied areas were zones that served particular purposes, such as preserving peace and order behind the front, making use of manpower and resources, and serving as cordon sanitaire. In spite of this, pseudo-peace-like structures evolved in the capitals Belgrade and Cetinje that facilitated the spread of prostitution and venereal disease. In my article, I will look at the scale of the debate and of the proposed countermeasures. It is noticeable that women were usually branded as the perpetrators, while the soldiers were seen as the ones in need of protection. In spite of this, it is apparent how candidly the royal-imperial army dealt with the topic even though it went against the current ideas of morality. The social differentiation that was customary in the imperial and royal army applied here, too. Officers suffering from venereal disease had their own hospitals and brothels and were permitted leave more often (a fact that went against the purpose of these institutions). The topic also received publicity because the military physicians, who were in fact civilians mobilized by the army, chose to publish continuously on the topic. Based on the microcosm of occupied enemy territory, my contribution shows how ideas of morality changed during the war despite traditional gender stereotypes, and the role played by the military in these developments.

Einführung »Mars und Venus sind Bruder und Schwester«, schrieb Ludwig von Thallóczy, seines Zeichens höchster ziviler Beamter des österreichischungarischen Besatzungsregimes in Serbien mit Arbeitsplatz in Belgrad. Seine Aussage war gewissermaßen ein Resümee, da sie nicht erst für die österreichisch-ungarische Etappe des Ersten Weltkriegs Gültigkeit besaß. Im Umfeld von Garnisonen waren stets Bordelle angesiedelt und Feldzüge wurden begleitet von Prostituierten und sexuell übertragbaren Krankheiten. Der Erste Weltkrieg jedoch bedeutete nicht nur für die Kriegsführung eine Totalisierung, sondern auch an der »Sexfront«. Im Jahr 1914 war erstmals ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Österreich-Ungarns als Soldaten eingezogen worden (die allgemeine Wehrpflicht bestand seit 1868). Die lange Dauer des Konflikts brachte ein Festfahren militärischer Strukturen, die für einen kürzeren Zeitraum geplant gewesen waren, mit einer gleichzeitigen Radikalisierung durch den zunehmenden Mangel an Soldaten und Gütern mit sich. MedGG 33  2015, S. 35-63  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Ein internationaler Regelkanon für besetzte Gebiete bestand in seiner gültigen Fassung für die Donaumonarchie seit 1909 in der Haager Landkriegsordnung. Diese hatten allerdings nicht alle kriegführenden Staaten unterzeichnet (so etwa Serbien). Doch nicht nur die internationale, neutrale wie feindliche, Öffentlichkeit wurde aufmerksam auf die Vorgänge im österreichisch-ungarischen Etappengebiet. Das durch die steigende Alphabetisierung in den Jahren seit Ende des 19. Jahrhunderts angewachsene Pressewesen, das eigentlich nach Juli 1914 einer strengen Zensur unterworfen war, verlieh gerade der Diskussion um das eigentlich intime Geschlechtsleben (nicht nur) der Soldaten, besonders in der Etappe, überraschend breite Öffentlichkeit. Im Vergleich zu anderen kriegführenden Staaten, wie Großbritannien oder den USA, war die Diskussion in Österreich-Ungarn recht offen.1 Publiziert wurden Artikel über die Einrichtung von Bordellen, die erschreckend rasche Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten, die Gefahren für daheimgebliebene Ehefrauen und Kinder sowie die hohen Kosten für die Behandlung Erkrankter.2 Noch waren die Moralvorstellungen bei Ausbruch des Weltkrieges relativ unverändert zu den Jahren davor geblieben. Die Wissenschaft hatte aber bahnbrechende Erkenntnisse bei der Behandlung früher tödlich verlaufender Krankheiten erzielt. Gegen Syphilis wurden Heilmittel entdeckt, die Behandlung allerdings war kostspielig und materialintensiv.3

1

Diesen Schluss lassen die Ausführungen Lutz Sauerteigs zu, der sich in erster Linie mit den USA, Großbritannien und dem Deutschen Reich befasst: Sauerteig (1996). Siehe auch Eckart (2014) sowie Michl (2007).

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Regelmäßige Veröffentlichungen zu diesem Thema brachte die Zeitschrift Der Militärarzt (1867-1917), die in Wien als Beilage der Wiener Medizinischen Wochenschrift erschien. Als Beispiel sei auf den folgenden Artikel verwiesen: Guth (1916). Dies ist insofern bemerkenswert, als in der österreichischen Reichshälfte von Juli 1914 an eine strenge Zensur herrschte. Erst im Mai 1917 fasste das Kriegsministerium (KM) zusammen, dass in der letzten Zeit gerade in medizinischen Zeitschriften Bemerkungen veröffentlicht wurden, »welche mit den militärischen Interessen nicht zu vereinbaren waren«. Hatte man die Präventivzensur für Österreich im Laufe des Jahres 1917 abgeschwächt bzw. abgeschafft, wurde sie für die dort erscheinenden medizinischen Zeitungen erst dann explizit verfügt. Von der Drucklegung ausgeschlossen sollten nur solche Aufsätze sein, die auf die Gesundheitsverhältnisse der Truppen ein ungünstiges Licht werfen könnten und die das gehäufte Auftreten von Krankheiten und die verschiedenen Arten der Selbstbeschädigungen behandelten: Reservat MGG Befehl Nr. 27, 2.6.1917, Weitergabe eines KM Erlasses, 12.5.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Ein sogenannter Reservatbefehl ging nur den Offizieren innerhalb der Militärverwaltung zur Kenntnisnahme zu.

3

Die sogenannten chronischen Volkskrankheiten, v. a. die Tuberkulose, die Geschlechtskrankheiten und der Alkoholismus, waren ab der Jahrhundertwende in das Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt. Witzler (1995), S. 113. – Seit der Entdeckung von Salvarsan, später zu Neosalvarsan weiterentwickelt, konnte die Syphilis behandelt werden. Die Behandlungsdauer verkürzte sich rasch. Betrug sie vor 1908 noch an die 30 Tage, waren es 1910 nur noch rund 19 Tage. Vasold (2008), S. 231.

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In den letzten Jahren – v. a. mit der 100. Wiederkehr des Kriegsausbruchs – erblickte die Geschichtswissenschaft immer häufiger im Ersten Weltkrieg und seinen Besatzungsregimen einen lohnenswerten Forschungsgegenstand. Mehrere Arbeiten sind bereits zum Deutschen Reich als Besatzer in Oberost und Frankreich, zu der Besetzung der Ukraine und den Gewalterfahrungen der Länder auf dem Balkan erschienen. Die Autorin dieses Beitrags hat 2009 eine vergleichende Studie zu Österreich-Ungarns Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg sowie eine Studie zur sanitären und medizinischen Organisation vorgelegt.4 Darüber hinaus sind auch vergleichbare Arbeiten zur (geheimen) Prostitution an der Heimatfront Österreich-Ungarns erschienen, etwa jene von Nancy Wingfield zu »The Enemy Within: Regulating Prostitution and Controlling Venereal Disease in Cisleithanian Austria During the War«, die sich mit der Reaktion der Bevölkerung einerseits und jener der zivilen und militärischen Behörden andererseits auseinandersetzt.5 Dieser Beitrag geht der Frage nach militärischen Interessen aufgrund der Notwendigkeiten des Krieges (Ressourcen, Nachschub) und des Zusammenlebens der Repräsentanten der Besatzungsmacht untereinander (inklusive der weiblichen Hilfskräfte) sowie mit der Bevölkerung in den von Österreich-Ungarn besetzten Ländern nach. Das Handeln und die Beurteilung durch das Militär sowie die Vorstellungen, wie man der Probleme Herr werden könne, stehen zunächst im Vordergrund. Der Blick wird auf die Hauptstädte der österreichisch-ungarischen Militärgeneralgouvernements gerichtet, da dort die Verwaltungsstrukturen verdichtet waren und die Bevölkerung die unterschiedlichste Zusammensetzung und die höchste Fluktuationsrate aufwies. Die radikal veränderte Zusammensetzung der jeweiligen Stadtbevölkerung und das relativ friedliche Umfeld bereiteten den Boden für zusätzliche Konflikte und zwischenmenschliche Begegnungen. Letztere fanden zwischen allen sozialen Schichten statt, obwohl gerade die Kommandos für ihre Offiziere und Beamten nur ebenbürtige (der Standesehre entsprechende) Kontakte gelten lassen wollten. Der Kontakt zur einheimischen Elite wurde, insbesondere in Belgrad und Cetinje, noch weniger gerne gesehen. Bestanden sonst die gröbsten Meinungsverschiedenheiten zwischen Reserveund Berufsoffizieren und Ärzten, so reagierten sie alle rasch auf jene Probleme, die sich aus den Beziehungsgeflechten ergaben, darunter vor allem das Prostitutionswesen und die sexuell übertragbaren Krankheiten.6 Die methodische Herausforderung bei der Rekonstruktion von Beziehungsgeflechten liegt dabei in der Nennung derselben in den vorhandenen Quellen. 4

Für die vom Deutschen Reich in Osteuropa besetzten Gebiete: Liulevicius (2002). Zur Besetzung ukrainisch bewohnter Gebiete: Hagen (2007). Zu Österreich-Ungarns Besatzungsregimen siehe Scheer (2009); Scheer (2011). Siehe auch Scheer (2012).

5

Wingfield (2013).

6

Für den Zeitgenossen Exner war die Prostitution eine typische Großstadterscheinung: Exner (1927), S. 161.

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Meist wurden sie nur dann »aktenkundig«, wenn es zu Problemen kam. Sie lassen sich daher hauptsächlich aus Gerichtsakten, Ehrenratsakten oder Tagesbefehlen nachvollziehen. Selten nutzten die Beteiligten, wenn es sich um »Etappenliebe« handelte, in ihrer Schilderung die Ich-Form, sondern berichteten meist von den Erlebnissen anderer.7 Indem der vorliegende Beitrag die Frage nach der »Etappenliebe« mit den von Österreich-Ungarn besetzten Gebieten des Ersten Weltkriegs verknüpft, soll er an Studien wie etwa von Lutz Sauerteig, Nancy M. Wingfield und Jovana Knežević anschließen und um die Perspektive der Donaumonarchie und der Besatzungspolitik und -verwaltung erweitern.8 Strukturen und Organisation: Der Krieg und seine Etappe Nach einigen Misserfolgen war der Donaumonarchie und ihren Verbündeten ab Sommer/Herbst 1915 die Besetzung mehrerer Länder und Gebiete gelungen: Teilen Russisch-Polens mit dem Hauptort Lublin folgten Serbien und Montenegro. In allen drei wurden Militärgeneralgouvernements errichtet, von der Frontarmee organisatorisch ausgegliedert und zivile Verwaltungsaufgaben von Soldaten übernommen. Nach und nach ergänzte man dieses Personal um österreichische und ungarische Zivilbeamte sowie ab 1917 vermehrt weibliche Hilfskräfte aus der Donaumonarchie.9 Die besetzten Gebiete dienten aber weiterhin als Etappenraum. Als Verkehrsknotenpunkt für kriegswichtige Güter zwischen Front und Heimat kümmerten sich die Besatzer insbesondere um die Verwundeten und Erkrankten, etablierten sanitäre Strukturen und stellten Ruhe und Ordnung im Rücken der Front sicher. Bald nach Kriegsausbruch stand fest, dass sexuell übertragbare Krankheiten zu einem echten Problem werden würden, insbesondere was die Kampfkraft und später die militärische Disziplin anbelangte. Nicht nur, dass die Erkrankten behandelt werden mussten und somit dem Frontdienst entzogen wurden, daneben stieg auch die Rate der Selbstbeschädigungen kontinuierlich an. Zwar forderten andere Krankheiten wie Malaria in Südosteuropa weitaus mehr Todesopfer, jedoch bedrohte die steigende Zahl an sexuell übertragbaren Krankheiten die Kampfkraft und Moral in den Militärgeneralgouvernements, die die kämpfende Front mit dem Hinterland verbanden. Die Zahlen waren alarmierend: Allein im ersten Kriegsjahr erkrankten rund 58.585 Soldaten der k. u. k. Armee sowie der beiden Landwehren und

7

Der Schwerpunkt der Recherche lag auf den Quellenbeständen (Militärgerichtsarchiv, Quartiermeisterabteilung – Militärverwaltung, Neue Feldakten) des Österreichischen Staatsarchivs, Abteilung Kriegsarchiv. Als typische Memoirenliteratur: Wallisch (1917).

8

Knežević (2011); Sauerteig (1996).

9

Siehe allgemein zu den weiblichen Hilfskräften: Hois (2012).

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des Landsturms an »Syphilis und Venerie«.10 Unterschiedlichste Erkrankungen waren allerdings bereits vor dem Krieg häufig anzutreffen, wenngleich rückläufig. Dr. Josef Urbach, k. u. k. Regimentsarzt und Abteilungschefarzt im Garnisonsspital Nr. 10 in Innsbruck, sprach von ca. 20.000 Erkrankungen pro Jahr im k. u. k. Heer, davon unter 100 Geschlechtskrankheiten 51 Fälle von Tripper, 17 von Schanker und 32 von Syphilis. Auch gab es Unterschiede nach einzelnen Truppengattungen wie nach geographischer Situierung. Urbach nannte die wenigsten Fälle bei der bosnisch-herzegowinischen Infanterie und Jägertruppe.11 Krankheitsfälle traten an der Front und in der Heimat gleichermaßen auf. Die Aufgabe der Etappe war es, eine gegenseitige Ansteckung zu verhindern, also gleichsam als »Cordon Sanitaire« zu dienen. Gleichzeitig aber wurden die Etappenräume und die Hauptstädte der Gouvernements zu zentralen Orten für weitere Ansteckungen. Ein Bericht aus der Frühzeit der Besatzungsregime zwischen dem 23. September und 10. Dezember 1915 nennt 1456 »venerisch und syphilitische« Kranke in einem Lubliner Spital. Bei Letzteren waren 78 Prozent frische Infektionen. 32 Prozent waren keine Junggesellen, sondern verheiratet.12 Waldemar Fink, Oberarzt im Belgrader Zivilspital, nannte für Januar 1916 43 geschlechtskranke (serbische) Patientinnen, deren Zahl Ende Mai auf 101 und im August auf 335 stieg, bis sie erst im Oktober auf 221 fiel. Er erklärte dies mit dem im Spätherbst 1915 erfolgten Aufeinandertreffen einer großen Zahl in Belgrad anwesender geschlechtsfähiger Besatzungssoldaten und einer relativ kleinen Zahl käuflicher Damen, die in kurzer Zeit venerisch infiziert wurden. »Durch ihre beschränkte Zahl«, so vermutete Fink, hätten sie »einem weiteren Umsichgreifen der Geschlechtskrankheiten ein Ziel« gesetzt.13 Der »Nachschub« durch Prostituierte aus dem Hinterland und die weitverbreitete »Geheimprostitution«14 setzten jeder rückläufigen Tendenz jedoch ein Ende. 10 Pirquet (1926), S. 59. – Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, interner Bericht von Prof. Robert Doerr an den Sanitätschef des AOK, 6.11.1916 (im Folgenden: Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten). ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. Doerr fasste mit Ausnahme der Geschlechtskrankheiten sämtliche anderen Infektionskrankheiten statistisch zusammen: Zunahme im ersten Kriegsjahr 1,41 Prozent bei der Armee im Felde bzw. 4,18 Prozent im Hinterland; im zweiten Kriegsjahr 2,95 Prozent bei der Armee im Felde bzw. 4,47 Prozent im Hinterland; im dritten Kriegsjahr 3,86 Prozent bei der Armee im Felde, 7,57 Prozent im Hinterland. 11 Urbach (1912), S. 19f., 63. Siehe auch Biwald (2002). 12 Guth (1916), S. 48. Guths Ausführungen sind Teil eines Berichtes über einen feldärztlichen Vortragsabend der Militärärzte der Garnison Lublin. 13 Fink (1917), S. 58. 14 »Geheimprostitution« ist ein zeitgenössischer Begriff, der wiederkehrend in den administrativen Akten wie in wissenschaftlichen Artikeln auftauchte und eine ganz bestimmte Verhaltensweise von Frauen beschreibt. Auf die »Geheimprostituierten« wird

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Der Sanitätschef des k. u. k. Armeeoberkommandos, Johann Steiner, wies darauf hin, dass trotz intensivster Bemühungen die Geschlechtskrankheiten nicht wie andere Infektionskrankheiten eingedämmt werden konnten15, sondern sich vielmehr auf wesentlich weitere Bevölkerungskreise ausdehnten, als es vor dem Krieg der Fall gewesen war16. Viele der ihm unterstellten und in der Besatzungsverwaltung tätigen Ärzte führten nach eigenen Angaben einen Sisyphus gleichen »Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten« und stellten ihn so rhetorisch auf eine Ebene mit der kämpfenden Front.17 Die Notwendigkeit für diesen Einsatz war gegeben, denn, so ein Arzt in einer Aufklärungsbroschüre: »Mit Eifer stürzte ich mich an die Arbeit! Von früh bis spät abends war ich da und immer neue Scharen geschlechtskranker Soldaten zogen an mir vorüber.«18 In den drei Städten, die den Gegenstand der Betrachtung bilden, wurden die Zentren der Militärverwaltung etabliert. Hier befanden sich nicht nur die höchsten militärischen Stellen für die Besatzung, sondern waren die größten und meisten Krankenhäuser in Betrieb, arbeiteten zahlreiche geheime wie professionelle Prostituierte und gab es offizielle (von der Militärverwaltung genehmigte, überwachte bzw. selbst geführte) sowie unerlaubte (geheime) Bordelle.19 Organisatorisch unterstanden die besetzten Gebiete dem k. u. k. Armeeoberkommando bzw. dessen Quartiermeisterabteilung und dem Sanitätschef, der für die medizinischen Einrichtungen und das ärztliche und Pflegepersonal zuständig war. Das Armeeoberkommando bzw. das Kriegsministerium in Wien waren ständig bestrebt, durch Erlässe und Befehle der Situation Herr zu werden – viele davon waren eigentlich an die Armee im Felde gerichtet, galten aber auch für die besetzten Gebiete. Meistens wurden sie von den einzelnen Gouvernements entsprechend adaptiert und mit der Situation vor Ort entsprechenden Kommentaren versehen. in diesem Aufsatz im Kapitel »Überlebensstrategie Prostitution« noch detaillierter eingegangen. 15 Sanitätsgeschichte L-Q, Jakob Lochbihler, beiliegender Bericht über die Tätigkeit als Sanitätschef des MGG/S, Juni 1917. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2318. 16 Steiner (1926), S. 103. 17 Bereits 1915 schilderte ein österreichischer Arzt in einem Vortrag vor Militär- und Zivilärzten der Festung Sarajevo »Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Kriege«, der trotz der strengen Zensur zur Publikation gelangte: Glück (1915), S. 408. Zu wenig Engagement machte das k. u. k. Armeeoberkommando für die steigenden Erkrankungszahlen verantwortlich, »des mit vielen AOK Erlässen angeordneten Kampfes gegen die Geschlechtskrankheiten noch immer nicht gebührend gewürdigt wird«: Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 18 Freund (1916), S. 5. 19 Ein Bericht über die »Regelung der Bordell-Frage« bei der k. u. k. Armee, d. h. die Errichtung von Feldbordellen bei der Armee im Felde, findet sich unter Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312.

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Innerhalb der Gouvernements waren mehrere Abteilungen mit der »Etappenliebe« und ihren Auswirkungen befasst. An oberster Stelle sind die Sanitäts- und die Nachrichtenabteilung zu nennen, die beide dem Stabschef, einem Offizier, unterstellt waren. Für polizeiliche Angelegenheiten zeichnete der Zivillandeskommissar verantwortlich, der außerdem für das zivile Personal (darunter fielen die weiblichen Hilfskräfte) zuständig war.20 Für den frühzeitigen Nachweis von Syphilis schufen die Militärverwaltungsbehörden ein immer dichter werdendes Netz von WassermannStationen innerhalb der besetzten Gebiete.21 Allmählich wurden aus Spezialabteilungen innerhalb der Krankenanstalten eigenständige Einrichtungen, die ihre Kapazitäten stetig erweiterten. Das »Reservespital Brünn« in Belgrad adaptierte ein früheres Waisenhaus für die Behandlung Geschlechtskranker. Im April 1917 klagte der Leiter in einem im – von Ärzten der Armee verfassten – Militärarzt veröffentlichten Artikel, dass die Kapazität von 120 Betten bald nicht mehr genügen würde und viele Patienten künftig in das Hinterland abgeschoben werden müssten.22 Als »venerische Zentrale des Bereichs« Belgrad galt für Heeresangehörige beispielsweise das »Reservespital Brčko«.23 Eine Abschiebung in das Hinterland sollte vermieden werden. Der Umgang mit den Prostituierten Jede Stadt unterstand einem Stadtkommando, das unter anderem mit der Gerichtsbarkeit und der Sittenpolizei, somit den ansässigen Prostituierten und Bordellen, befasst war.24 Eine Maßnahme auf dieser Verwaltungsebene war beispielsweise die sittenpolizeiliche Erfassung der Prostituierten.25 Von 20 Scheer (2009), S. 57f. Siehe auch Broucek (2009). 21 Das Wassermann-Verfahren war nach einem Assistenten Robert Kochs, August Wassermann, benannt. Vasold (2008), S. 231; Steiner (1926), S. 103. Steiner berichtete von der Herausforderung, diese Reaktion überall nach einheitlichen Gesichtspunkten durchzuführen. Allein in Montenegro dürfte es mehr als 20 Wassermann-Stationen gegeben haben: Reservat-Verlautbarungen, Verlautbarung Nr. 35, 17.4.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/M, Kt. 1720. Für eine Auflistung sämtlicher WassermannStationen auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie und der besetzten Gebiete siehe Konv. Verzeichnisse über Standorte der Feldsanitätsanstalten und deren Kommandanten, 1914-18. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2321. 22 Zinner (1917). 23 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Die zwangsweise Einweisung in ein Spital bei einer venerischen Erkrankung war in der gesamten Monarchie schon während der Friedenszeit üblich, fand auch wiederkehrend in der Literatur ihren Niederschlag. Kisch (1914). 24 Als zeitgenössischen Tätigkeitsbericht, allerdings für die breite Öffentlichkeit bestimmt, vgl. K. u. k. Militärpolizeikommando (1917). 25 Die im Folgenden beschriebene Maßnahme hatte ihre Entsprechung in den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs wie auch in der Reichshauptstadt Wien. Zu den »Kon-

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jeder, soweit den Behörden bekannt, wurde ein Registrierungsbogen angelegt und ihr Bild in einem Fotografienalbum abgelegt. Die Prostituierten erhielten einen Pass, das sogenannte Gesundheitsbüchel, den sie stets mit sich zu führen hatten und den sie zur zweimal wöchentlich stattfindenden amtsärztlichen Untersuchung mitbringen mussten. Das Gesundheitsbüchel war in zwei Teile gegliedert, umfasste einerseits persönliche Daten sowie andererseits Verhaltensvorgaben und ein Merkblatt zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Die Prostituierten wurden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt (Aufenthaltsverbot vor Schulen und Kirchen) und ihre Ausgangszeit begrenzt. Die Verhaltensvorschriften verboten im Wartezimmer des Amtsarztes »Vordrängen, Lärmen, Zanken, Singen, Rauchen und Trinken, gemeine Redensarten«. Aufgezählt wurden auch jene Gegenstände, die sie stets mitzubringen und vorzuweisen hatten und die für die Ausübung des Berufs vorgeschrieben waren. Der erste Teil – im folgenden Fall zweisprachig, deutsch und polnisch – umfasste auch die Einrichtung des Arbeitsplatzes: Eine »Aufschrift in auffallender Druckschrift in deutscher und polnischer Sprache«, die gut sichtbar angebracht werden musste, sollte die deutliche Warnung enthalten: »Hütet Euch vor Geschlechts-Krankheiten«. Das Merkblatt war in der Wohnung bzw. dem Arbeitsraum der Prostituierten sichtbar anzubringen. Einige der Gegenstände, die schon beim Amtsarzt vorgewiesen werden mussten, wurden darin erneut benannt. Sie sind im Pass unter »Wer sich vor Geschlechtskrankheiten bewahren will, muss besitzen« in zehn Punkten zusammengefasst. Dabei verschwammen die Grenzen zwischen allgemein hygienischen und zur Prophylaxe vor Geschlechtskrankheiten dienenden Maßnahmen. Auch den Besitz von Kondomen mussten die Prostituierten nachweisen.26 Die Ausübung der Prostitution war somit nicht verboten und nach sittenpolizeilicher Unterstellung nurmehr strafbar, wenn den Ordnungsvorschriften zuwidergehandelt wurde.27 In einem Register geführt wurden nicht nur die professionellen Prostituierten, sondern auch andere Frauen, die der geheimen Prostitution verdächtig waren, und jene, die »in sexueller Promiskuität leben«. Diese waren »mit der gebotenen Rücksicht« einer regelmäßigen ärztlichen Untersuchung zuzuführen.28 Von dieser Maßnahme war vor allem die ansässige polnische, serbische und montenegrinische weibliche Bevölkerung betroffen. Denunzierungen waren Tür und Tor geöffnet, wovon auch ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. Frauen konnten zwangsweise dem Amtsarzt vorgeführt und eine Untersuchung vorgenommen werden. Im trollkarten« im Deutschen Reich siehe Sauerteig (1996), S. 217. 26 Konv. k. u. k. Polizeikommissariat Radom an die Nachrichtenabteilung des MGG in Lublin, Schreiben k. u. k. Polizeikommissariat Radom an k. u. k. Gendarmeriezugsund Postenkommanden, 14.11.1916. ÖStA/KA/NFA, Kt. 1613, Nr. 122295. 27 In diesem Fall folgte die Praxis in den besetzten Gebieten jener in der Reichshauptstadt Wien. Exner (1927), S. 161. 28 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629.

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Fall der 13-jährigen Danica unterlief den Behörden ein Irrtum – so befanden es zumindest die Militärrichter. Das Mädchen war wegen einer Namensähnlichkeit mit einer Dame »üblen Rufs« verwechselt worden. Zunächst aber hatte der Vater mit eigenen Nachforschungen und Selbstjustiz gedroht, sollten die Behörden den Denunzianten nicht ausfindig machen und bestrafen. Das Verfahren wurde schließlich eingestellt. Der Anzeigende, ein Agent der Besatzungsbehörden, war genau für diesen Zweck eingesetzt worden.29 »Vormerkblätter« zur Registrierung wurden von der Besatzungsverwaltung nicht ausschließlich für Prostituierte angelegt, sondern über alle »Venerischen«. Der Befehl des k. u. k. Armeeoberkommandos aus dem Jahr 1916 richtete sich allerdings an einen derart umfassenden Personenkreis, dass immer wieder Ermahnungen wegen verspätet abgegebener oder unvollständig ausgefüllter Formulare ausgesprochen wurden. Nicht nur aus diesem Grund meinte man in fixen Sanitätsanstalten, in denen Erkrankte stationär aufgenommen werden sollten, die Lösung des Problems zu erkennen.30 Die Spitäler dienten somit nicht nur der Behandlung, vielmehr verschwammen die Grenzen zwischen Behandlung und Prophylaxe, da die Erkrankten über einen längeren Zeitraum hinweg aufgenommen und somit jedem weiteren Verkehr entzogen wurden. Diese (durchaus öffentlichkeitswirksame) »Wegsperrung« betraf vor allem erkrankte (einheimische) Frauen sowie einfache Soldaten. Die Separierung wurde sowohl in wissenschaftlichen Artikeln gefordert als auch wiederkehrend von der Militärverwaltung befohlen.31 Reservatbefehle und interne Berichte sprachen in diesem Zusammenhang sogar von »Internierungen«32 und stellten die Betroffenen damit in eine Reihe mit politisch gefährlichen Personen an der Heimatfront und in den besetzten Gebieten. Die strikte soziale Differenzierung der Besatzungsgesellschaft wurde auch in der Behandlung venerisch Erkrankter deutlich. Offiziere wurden zumeist 29 Strafsache gegen unbekannten Täter, Schreiben des Montenegriners Vojin Čejovic (griech.-orth., Tischler) aus Podgorica an Stadtkommandant Obstlt. Andreati, 15.6.1917. ÖStA/KA/Militärgerichtsarchiv, Akten des Gerichts des Kreiskommandos Podgorica, Fasz. 5561, K 339/17. – Als geschlechtskrank verdächtigte Personen dem Arzt vorzuführen, auch gegen ihren Willen, war noch im frühen 20. Jahrhundert keine selten geübte polizeiliche Praxis: Vasold (2008), S. 225. 30 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 31 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. Doerr forderte, die »Entfernung der Infektionsquellen, [eine Vorgehensweise,] welche sich bei den anderen Infektionskrankheiten in so außerordentlichem Maße bewährt hat, auch hier zur Anwendung zu bringen«. 32 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Vgl. auch Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. Doerr forderte die »Entfernung d. h. Internierung venerisch infizierter Männer«.

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diskret in separaten Einrichtungen und ambulant behandelt. Eine eigene Einrichtung wurde beispielsweise in zentraler Lage in Belgrad 1917 eröffnet und von Anfang an stark frequentiert. Die meisten Patienten litten an Gonorrhö.33 Die privilegierte Position des Offizierskorps stellte das Krankenhauspersonal vor Probleme. Vielfach erhielten die Offiziere Ausgang, machte die Krankenhausleitung daher eine Ausnahme.34 Sprachen die Erkrankten in der Öffentlichkeit über ihre Krankheit – »erregten damit öffentliches Ärgernis« –, wurde dieses Verhalten vom Kommando zwar kritisiert, aber nicht vehement dagegen eingeschritten. Das Militärgeneralgouvernement ging schließlich so weit, den Spitalskommandos Hilfe anzubieten, sollten erkrankte Offiziere ihnen wegen des Ausgangsverbots Schwierigkeiten bereiten.35 Denn eigentlich galt für alle, dass eine ambulante Behandlung erst nach Ablauf des infektiösen Stadiums möglich war.36 Bei den Prostituierten hingegen warf die Einweisung in eigens etablierte Prostituiertenabteilungen (häufig auch als Prostituiertensammelstellen bezeichnet) neue Probleme auf. Vielfach versuchten die Freier die Geheilten gleich nach ihrer Entlassung noch vor den Spitälern abzupassen.37 Tatsächlich wurden viele Offiziere, dem Personalmangel geschuldet, eher entlassen. Der Reserveleutnant Friedrich Baumgarten erzählt von der Heimatfront, wobei es in den besetzten Gebieten wohl nicht viel anders gewesen ist: Der Tag brachte uns ordentlich Revolutionsgedanken. Früh morgens kam Obst A Dr. Mock, Vorstand der Klinik in Innsbruck zur Visite und bedeutete uns, dass wir hier nicht nach rein ärztlichen, sondern bloß nach militärärztlichen Gutachten als geheilt entlassen werden, d. h. ich könnte getrost noch mit unseren Bacillen und dem Eiterausfluss abgehen und Felddienst machen, da Gesundheitszustand und Kriegstauglich33 Sanitätsgeschichte L-Q, Eugen Lessko, k. u. k. Reservespital »Sanok« in Sterntal an das k. u. k. KM, Abt. 14, 27.5.1918, Bericht über meine Tätigkeit, Erlebnisse und Erfahrungen bei der Armee im Felde. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2318. Wesentlich weniger gefährlich als Syphilis, war in Mitteleuropa eigentlich die Gonorrhö verbreiteter: Vasold (2008), S. 226. 34 Hierbei handelt es sich um eines der wenigen Zeugnisse, in denen ein Offizier in seinem Tagebuch über seine eigene Geschlechtskrankheit schreibt: Heeresgeschichtliches Museum, Manuskripte, Lt. idR Friedrich Baumgarten, IR 17, Nr. Bl 43.761/1, Tagebuch, handschriftl., Eintrag vom 24.4. 35 Konv. MGG/S, Reservat-Befehle, 10.6.-5.10.1918, Reservat Befehl Nr. 35, 5.9.1918. ÖStA/KA/NFA, Kt. 1629. 36 Reservat MGG Befehl Nr. 53, 27.11.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Diese Verfügung sollte, wenn es notwendig werden würde, auf Lehrerinnen und Krankenpflegerinnen ausgedehnt werden: Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/ KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Die Entlassung der Mannschaften dauerte ebenfalls bis zur Erklärung ihrer »Nicht-Infektiösität« und Diensttauglichkeit: Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 37 Brunner (1922), S. 64. Der Autor bezog seine Informationen aus den Schilderungen eines österreichischen Sanitätsoffiziers. Auf die Idee der Prostituiertensammelstellen ging v. a. Doerr ein: Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312.

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keit zwei verschiedene Stadien seien, vor welchen die Ärzte lt. Befehl nur diese anzustreben hätten: »Wir haben sie nicht heiratsfähig zu machen«.38

Das Gesundheitsbüchel hatte noch eine weitere Maßnahme der Besatzungsverwaltung vorweggenommen: die regel- und routinemäßige Untersuchung zur frühzeitigen Erkennung von Erkrankungen. Doch beschränkte sich diese Maßnahme letztlich nicht auf die gewerblichen Prostituierten. Auch Mannschaften wurden regelmäßig untersucht und über Hygienemaßnahmen belehrt.39 Die Einführung der zwangsweisen Untersuchung aber konnte zu einer beschämenden Angelegenheit werden, weshalb sie für weitere Personenkreise in den besetzten Gebieten zwar diskutiert, aber vielfach nicht umgesetzt wurde. Im November 1917 untersagte ein Reservatbefehl den österreichischen, ungarischen und serbischen Ärzten des Gouvernementbereichs gar eine periodische Untersuchung sämtlicher weiblicher Hilfskräfte auf venerische Krankheiten (darunter fielen viele Töchter von Beamten und Offizieren). Das medizinische Personal wurde allerdings verpflichtet, alle bei ihnen Erschienenen mit frischer Infektion der nächsten Sanitätsanstalt zu übergeben.40 Eine bereits mehrfach angedeutete Maßnahme der Besatzungsverwaltung, die ebenfalls auf eine Eindämmung der Infektionen abzielte, war der Versuch, die Infektionsquellen ausfindig zu machen. Ein interner Bericht wies dabei auf das Offensichtliche hin – gewichtete allerdings infizierte Frauen und Männer unterschiedlich und folgte somit wiederum den gängigen Moralvorstellungen: Da die Venerie so gut wie ausschließlich durch den Beischlaf übertragen wird, so ergibt sich von selbst auf diesem Gebiete eine Scheidung der Infektionsquellen in zwei, in manchem Belange, vor allem epidemiologisch und sanitätspolizeilich, differente Kategorien: venerisch infizierte Männer und venerisch infizierte Frauen.41

Die zeitgenössischen Berichte gaben aber sogar den engen Wohn- und Schlafverhältnissen und mangelnder Hygiene, etwa dem Verzicht auf Händewaschen, zumindest eine Teilschuld an der Verbreitung.42

38 Heeresgeschichtliches Museum, Manuskripte, Lt. idR Friedrich Baumgarten, IR 17, Nr. Bl 43.761/1, Tagebuch, handschriftl., Eintrag vom 26.4. 39 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Über den Vorgang in den Kasernen vor dem Krieg: Vorschrift (1911). Die sogenannte »Schwengelparade«, also das Antreten vor versammelter Mannschaft zur ärztlichen Untersuchung, war bereits im 19. Jahrhundert gängige Kasernenpraxis. Siehe Hirschfeld/Gasper (1998) sowie Vorschrift (1911). 40 Reservat MGG Befehl Nr. 53, 27.11.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 41 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 42 Konv. Közlemények 1-86, Verlautbarung Nr. 12, 22.4.1916. Hadtörténelmi Levéltár Budapest, Bestand II. 468, k. u. k. MGG/M, Kt. 1.

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Was bei den professionellen Prostituierten noch eher einfach war – sie wurden einerseits durch »Razzias«, andererseits aufgrund der Aussagen von venerisch infizierten Soldaten ausfindig gemacht –, gestaltete sich bei »den anderen« Frauen komplexer.43 Die Mediziner hatten Befehl erhalten, jeden Infizierten aufzufordern, seine Infektionsquelle beim Namen zu nennen. Aus den nachfolgenden Befehlen geht jedoch deutlich hervor, dass die Befragungen häufig keine Ergebnisse oder absichtliche Falschaussagen erbrachten.44 Manfred Vasold stellte resümierend fest, dass viele der Aufgegriffenen nur angaben, von einer ihnen »unbekannten Frauensperson« angesprochen worden zu sein. Diese Aussage stimmt auch mit der Erfahrung der österreichischen und ungarischen Ärzte überein.45 Im Militärarzt wurden zusätzliche Frauentypen benannt: »privat«, »anständiges Mädchen«, »Bäuerin«, »Jüdin« oder »Witwe«.46 Dem Missstand – dem Missverhalten des eigenen Personals – beizukommen versuchte ein Erlass des Kriegsministeriums. Wer keine oder ungenaue Angaben machte, sollte auf dem Disziplinarwege streng bestraft werden. Die Ärzte waren verpflichtet, die Daten des Infizierten der nächsten Polizeibehörde zu melden, selbst eigene Nachforschungen zur Infektionsquelle anzustellen und ihren Patienten »vorzuhalten, welche Nachteile für die Allgemeinheit erwachsen, wenn sie aus falscher Scham und eingebildeter Ritterlichkeit die Namhaftmachung eines geschlechtskranken Frauenzimmers verweigern«.47 Auch danach dürften die Befragungen kaum konkrete Angaben erbracht haben, die wenigen rudimentären Auskünfte bestätigten den Militärs aber letztlich ihre Vorurteile gegenüber einzelnen Frauenberufen, wie Kellnerin oder auch weibliche Hilfskraft. Neben der Sorge um die Gesundheit der Ehefrauen und Nachkommenschaft sowie moralischen Bedenken bei der Einrichtung von Bordellen, sozusagen also öffentliche »Unterstützung« von außerehelichem Geschlechtsverkehr, fürchteten die Militärs hinter so mancher Erkrankung eine absichtliche Infektion. »Übrigens hat man bei allen diesen Bestrebungen 43 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 44 Reservat-Verlautbarungen, Verlautbarung Nr. 47, 4.6.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/M, Kt. 1720. »Das Reservespital Cetinje meldet, dass trotz aller ergangenen Befehle die mit venerischen Krankheiten in das Spital eingelieferten Patienten fast in keinem Falle Angaben über die Infektionsquellen zu machen in der Lage sind. Auf Befragen geben sie an, keine Weisungen erhalten zu haben, den Namen und die Adresse der Frau festzustellen.« – Festgestellt wurde ebenfalls, dass bei allen diesbezüglichen Anstrengungen die venerisch infizierten männlichen Zivilisten unberücksichtigt blieben: Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 45 Vasold (2008), S. 225. 46 Blumenfeld (1916), S. 248. 47 Reservat MGG Befehl Nr. 55, 8.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629.

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wenigstens im Anfange – immer damit gerechnet, dass jeder Soldat die venerische Infektion vermeiden will und erst in letzter Zeit eingesehen, dass oft das Gegenteil zutrifft«, gestand ein Sanitätsoffizier ein.48 Im Dezember 1917 gab das Militärgeneralgouvernement einen Erlass des Kriegsministeriums weiter, wonach bei allen Fällen, in denen die Umstände auf gewollte Zuziehung einer Geschlechtskrankheit schließen ließen (z. B. Erkrankungen knapp vor dem Abgehen ins Feld), eine strafgerichtliche Verfolgung aufgrund eines Verbrechens der Selbstbeschädigung einzuleiten war.49 Häufig hatte ein fünfminütiger Aufenthalt am Bahnhof ausgereicht, um sich eine Infektion zu »besorgen«.50 Nach ihrer Entlassung aus den Spitälern waren geheilte Geschlechtskranke nicht nur evident zu halten, d. h. zu registrieren, sondern generell zu überwachen. Soldaten, die kurz nach ihrer Entlassung neuerlich als geschlechtskrank auffällig wurden, erhielten sofort eine Strafanzeige wegen Selbstansteckung.51 Maßnahmen zur Verhinderung und Regelung von Geschlechtskrankheiten »Zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«, führten die Militärs gegenüber Erzbischof Achilles Ratti, dem späteren Papst Pius XI., anlässlich seines Besuchs in Lublin aus, »ist eine periodische ärztliche Revision, Behandlung auf eigener Abteilung und volkstümliche Belehrung der Bevölkerung vorgesehen.«52 Über die Bordelle, die entweder unter militärischer Kontrolle standen oder sogar in Eigenregie betrieben wurden, schwieg sich das Militär hingegen aus. Bereits im Sommer 1915 hatte A. Glück, Militärarzt in Bosnien-Herzegowina, öffentlich gefordert, »den allergrößten Teil der Geschlechtsverkehrsuchenden, ohne dass es ihm bewusst wird, dorthin zu lenken, wo es leichter ist, beide Kontrahenten [Frauen wie Männer] vor einer Infektion zu schützen«: in die »reglementierte Prostitution«. Seine Forderungen umfassten militärisch überwachte Bordelle mit hygienischen Anlagen, die insbesondere der »Geheimprostitution« potentielle Kunden entziehen sollten.53 Die Etablissements für Militärpersonen spiegelten dann erneut die Zweiteilung der Etappengesellschaft wider: Jeweils zwei Arten von »Freudenhäusern« wurden geschaffen, »das bessere«, unzweifelhaft für Offiziere, bestand 48 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 49 Reservat MGG Befehl Nr. 55, 8.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 50 Konv. Brückenkopf- und Stadtkommando Belgrad, Befehle Nr. 9-51, AOK Nr. 38, 7.2.1916. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 51 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 52 ÖStA/KA/NFA, MGG/P, Kt. 1591, Präs. Nr. 8355. Die Frage nach der Akzeptanz von Bordellen war schwierig. In manchen kriegführenden Staaten waren sie verboten: Sauerteig (1996), S. 216f. 53 Glück (1915), S. 410.

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aus zehn, das andere aus 17 Zimmern. Allein diese Relation zeigt, dass die Mannschaftszimmer eine weitaus höhere Fluktuation aufwiesen und – damit einhergehend – notgedrungen technischen Vorgaben weniger Augenmerk geschenkt werden konnte. Die in Aussicht genommenen Lokalitäten wurden jeweils vorab im Beisein des Garnisonschefarztes und einer Kommission besichtigt und nach deren Weisungen eingerichtet.54 Im Dezember 1917 wurde erneut darauf hingewiesen, dass Bordelle nur dann »geduldet« werden durften, wenn a. eine exakte sanitäre Kontrolle der Insassinnen, mindestens zweimal wöchentlich durch Militärärzte oder verlässliche Zivilärzte durchgeführt werden kann: b. die Prostituierten und Bordellbesucher die vorgeschriebenen prophylaktischen Vorschriften strenge beachten. Wenn irgend möglich, ist auch die obligatorische Voruntersuchung der das Bordell aufsuchenden Mannschaftspersonen einzuführen.55

Doch selbst bei den überwachten Bordellen war sich die Militärverwaltung bewusst, dass zwei Unsicherheitsfaktoren immer bestehen blieben: die ausreichende Bestückung mit prophylaktischen Mitteln in Zeiten von Rationierung und Materialknappheit sowie die mangelnde Bereitschaft, diese auch tatsächlich zu verwenden. Aus diesem Grund forderte Glück »die Ausführung der der Prophylaxe dienenden Manipulationen nicht dem Gutdünken des ›Sünders‹ oder dem der Prostituierten [zu] überlassen, sondern an Ort und Stelle von geschulten Kräften« durchführen zu lassen. Am Ausgang jener Straßen, an denen die Bordelle lagen, sollten Baracken errichtet werden, in denen Sanitätssoldaten, »ohne sich viel um die Persönlichkeit des Behandelten zu kümmern«, die Besucher desinfizierten. Eine nachträgliche Prophylaxe in der Kaserne, wie bisher vorgesehen, käme vielfach zu spät, schloss der Militärarzt.56 Schutz des Hinterlandes und der Heimatfront Die Besatzungsbehörden kümmerten sich nicht nur um die Erkrankten in ihrem Wirkungskreis. Sie hatten auch Vorkehrungen zu treffen und diesbezügliche Befehle umzusetzen, die eine Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten auf Österreich und Ungarn verhindern sollten. Als prophylaktische Maßnahme wurden beispielsweise Urlaubsverbote vom Armeeoberkommando für infizierte Ehemänner erlassen.57 Erst nachdem sie im Etappen54 Schreiben k. u. k. Polizeikommissariat Radom an k. u. k. Gendarmeriezugs- und Postenkommanden, 14.11.1916. ÖStA/KA/NFA, Kt. 1613. 55 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 56 Glück (1915), S. 412. Zur bereits vor dem Krieg geübten Praxis siehe Vorschrift (1911), Pkt. 206. Davon, dass Schutzmittel zwar verteilt bzw. vorhanden waren, diese aber nicht ausreichend verwendet wurden, berichtete auch ein Sanitätschef – ebenso wie von der »doppelten« Kontrolle der männlichen Besucher und Prostituierten: Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 57 Reservat MGG Befehl Nr. 8, 31.5.1916. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. An sich

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raum urlaubsfähig gemacht worden waren, durften sie weiterreisen. Dies zeigt erneut die Bedeutung des Besatzungsraumes als »Cordon Sanitaire«. Jener Arzt, der die Klausel »infektionsfrei« auf dem Urlaubs-(Reise-) Dokument unterfertigte, haftete persönlich für eine gründliche Untersuchung.58 Die Mannschaftspersonen wurden nach ihrer Rückkehr erneut untersucht.59 Die Abschiebung von Geschlechtskranken in die Heimat wurde für unzulässig erklärt. Sie waren auf dem kürzesten Wege wieder dem zuständigen Fronttruppenkörper zuzuführen.60 Neben den offiziell verordneten Maßnahmen sei abschließend noch auf die Eigeninitiativen hingewiesen. Ein Grazer Arzt veröffentlichte 1916 die Broschüre »Wie bewahrt ihr Euch vor Syphilis? Ein Mahnwort an Soldaten und junge Männer«. Darin wurden Schreckensszenarios sowohl für die infizierten Soldaten wie für die Ehefrauen und ihrer beider Nachkommenschaft gezeichnet. Emanuel Freund schilderte das Aussehen der Infizierten und versuchte die Geschlechtskrankheiten als lebensbedrohlicher darzustellen als den Kampfeinsatz an der Front. Er machte sogar vor der Verwendung biblischer Erzählmuster nicht halt: Unendliches Mitleid erfasste mich, da ich der zahllosen, unschuldigen Opfer gedachte, die von den eigenen Vätern, Brüdern gemordet werden, so wie einst in Bethlehem gemordet wurde [sic!] vom eigenen König die unschuldigen Kinder! Als würde das Kind mit kläglich wimmernder Stimme euch sagen: »Oh Vater, Vater, warum hast du, ach, mich gezeuget?« Blasen, Geschwüre, Beulen bedecken diesen Martyrerleib, dessen einziges Glück nur sein kann: sterben, bald sterben!61

Die Broschüre wurde bald darauf auf Befehl des Gouvernements als »Belehrung für Soldaten, die während des Krieges an Syphilis erkrankt waren«,

wurde zur Hebung der Geburtenrate ein regelmäßiger Urlaub eingeführt: »Aus statistischen Berichten geht hervor, dass die Zahl der Geburten infolge der Kriegsereignisse seit 1915 fortgesetzt und in bedrohlicher Weise abnimmt. Eine Besserung dieses Geburtenrückgangs ist u. a. durch Beurlaubungen erzielbar. Aus diesem Grunde wird der AOK Befehl Pers. Nr. 6576, von 1916, wonach in der Front befindliche Mannschaftspersonen nach einer Frist von 6 Monaten, den nicht an der Front stehenden nach einer Frist von 9 Monaten erneuert kurze Urlaube von 14 Tagen erteilt werden können – in Erinnerung gebracht. Mit Rücksicht auf den beabsichtigten Zweck sind bei der Urlaubserteilung in erster Linie Jungverheiratete, dann solche Leute zu berücksichtigen, die den Urlaub behufs Eheschließung erbitten. Infektiöse Geschlechtskranke sind von der Beurlaubung auszuschließen.« AOK Erlass wiederholt Urlaubsverbot für Mannschaften: Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 58 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 59 Reservat MGG Befehl Nr. 59, 23.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 60 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 61 Freund (1916), S. 7.

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aber auch zur Kenntnisnahme an die übrige Mannschaft in allen Sprachen der Donaumonarchie verteilt.62 Inwieweit die Broschüre eine Wirkung entfaltete, lässt der Umfang von zwölf Seiten ohne Bilder nur erahnen, wenn man bedenkt, dass viele (Besatzungs-)Soldaten schlecht lesen konnten. Die übliche Information waren hingegen Merkblätter, die sowohl verteilt wie auch in den Bordellen – ebenfalls in allen Sprachen – angebracht wurden. Ein Sanitätschef berichtete über seine Erfahrungen zum Erfolg dieser Merkblätter: Der Erfolg war gleich Null; das hätte man voraussehen können, da man unmöglich bei der Masse einen Grad von Bildung, Willensstärke, sozialem Denken und ethischem Empfinden annehmen kann, wie er sich nur bei ganz wenigen Menschen findet, sobald es sich darum handelt, dem mächtigsten aller Triebe Widerstand zu leisten.63

Ein anderer Arzt berichtete an das Armeeoberkommando im Frühling 1918 über seine persönlichen Errungenschaften. Er habe viele Ansteckungen verhindern können, indem er »seinen« Soldaten angedroht habe, jeden Erkrankten namentlich in den Zeitungen in der Heimat veröffentlichen zu lassen. Er nannte es den »geschlechtlichen Pranger«. Seine vorgesetzte Militärbehörde war anderer Ansicht: Neben seinen internen Bericht wurde vom Sanitätschef im Armeeoberkommando die handschriftliche Bemerkung »Möchte zur Verheimlichung führen!« gesetzt.64 Je länger der Krieg dauerte, desto mehr brachten gesammeltes Datenmaterial und die Auswertung von Statistiken Klarheit. Die Gouvernementverwaltung in Cetinje ging schließlich davon aus, dass das Verhältnis der in Montenegro erworbenen zu den im Hinterlande akquirierten venerischen Infektionen bei 2:1 lag. Dabei stellte die Zahl der Tripperfälle das Doppelte der Infektionen mit Syphilis und dem Geschwür weicher Schanker (ulcus molle) dar.65 Zu Beginn des Jahres 1918 begann das k. u. k. Armeeoberkommando mit der systematischen Sammlung der Berichte von Ärzten über ihre Fronterfahrungen. Für die Zeit davor kann als Ausweis zeitgenössischer Beurteilung auf die Inspektionsberichte des Sanitätschefs und wiederkehrende Zeitungsartikel zurückgegriffen werden. Bereits Ende 1917 hatte man innerhalb der Gouvernements damit begonnen, die Spitalskom62 Abt. 4 MGG/S an Abt. 10 MGG/S, 29.3.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1645, 11/29. 63 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 64 Sanitätsgeschichte L-Q, Bericht von Oberarzt Karl Moser, Sarajevo, 13.6.1918. ÖStA/ KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2318. 65 Reservat-Verlautbarungen, Verlautbarung Nr. 38, 29.4.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/M, Kt. 1720. – Diese Daten stehen im Gegensatz zu den Befürchtungen, wie sie noch 1915 geäußert wurden, nämlich dass die Verheirateten für ihre Ehefrauen und auch Nachkommen eine große Gefahr bedeuteten – ohne Nennung der Möglichkeit, sich eine Infektion in der Heimat zu holen. Glück (1915), S. 409.

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mandanten und Kreisärzte systematisch zu befragen.66 Aus allen Berichten ging eindeutig hervor, dass dem Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten ein hoher Stellenwert beigemessen und ihm die dringende Notwendigkeit, effektivere Maßnahmen zu ergreifen, bescheinigt wurde. Auch die Komplexität der Thematik zwischen Kriegsnotwendigkeit und Moral wurde deutlich. Im Falle der »Etappenliebe« schufen die Gouvernements weit umfangreichere medizinische Einrichtungen als geplant und bauten sie im Verlauf des Krieges schwerpunktmäßig aus. Gegen eine Ausbreitung der Ansteckungen wurden strikt nach sozialer Herkunft getrennte Bordelle etabliert, Verwaltungsmaßnahmen aus Österreich adaptiert und zwangsweise amtsärztliche Untersuchungen durchgesetzt. »Etappenliebe«: Personen, Vorstellungen und Vorurteile Die bisherigen Ausführungen schilderten die Verwaltungsstrukturen und Maßnahmen, die aus militärischer Notwendigkeit in den Etappenstädten etabliert worden waren. Personen fanden lediglich in ihrer Gruppenzugehörigkeit Beachtung, die es zu verwalten galt. Die (halb)öffentliche Diskussion um die »Etappenliebe« und ihre Auswirkungen zeichnete sich aber gerade wegen der Einbeziehung unterschiedlichster Personenkreise, Handlungsmuster und Lösungsvorschläge aus. Schließlich spiegelt sie zeitgenössische Moralvorstellungen, Vorurteile und medizinische Praxis wider. Neben den Verwaltungsstrukturen und -maßnahmen gilt es daher nach den Handelnden zu fragen, ebenso wie nach der Zusammensetzung der Bevölkerung in den Hauptstädten. Die Belgrader, Lubliner und Cetinjer Gesellschaft in den Hauptstädten der von Österreich-Ungarn besetzten Gebiete waren geprägt durch ihre radikale Veränderung nach Beendigung der Kampfhandlungen: Besatzungssoldaten, Kriegsgefangene, Internierte, zivile Beamte, weibliche Hilfskräfte aus der Donaumonarchie, verwundete und erkrankte Soldaten von der Front, durchziehende Truppen, Familienmitglieder der Offiziere und Beamte »ersetzten« den geschlagenen Feind, Ehemänner und Söhne, Beamte und Soldaten. Wer war geblieben? Frauen, Kinder und Ältere. Die Nachfrage bedingte, dass zu den Neuankömmlingen noch etliche professionelle Liebesdienerinnen aus der Donaumonarchie und anderen Teilen der besetzten Gebiete zu zählen waren, die sich ein einträgliches Geschäft in der Etappe erhofften.67 Tatsächlich gestaltet sich, gerade in einer Zeit bürgerlicher Etikette und einzementierter sozialer Rangvorstellungen, das Beziehungsgeflecht in der Etappe in einer Komplexität, die anders als in der Heimat ist. Da die Offiziere, Beamten und betuchteren weiblichen Hilfskräfte meist privat einquartiert waren bzw. in Hotels logierten, war es für sie einfacher, intime Bezie66 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 67 Exner (1927), S. 104.

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hungen einzugehen. Kamen diese allerdings ans Tageslicht, mussten sie sich in peinlicherer Weise verantworten als beispielsweise der einfache Soldat. Offiziere wurden aufgrund Damenbesuchs häufig zu meist mehrtägigen Zimmerarresten verurteilt – unter den Blicken der mehrheitlich einheimischen Quartiergeber. Der einfache Soldat hingegen teilte sich mit seinen Kameraden meist eine geheime Prostituierte und verkehrte mit ihr in ihrem Zuhause. Sie waren auf den Besuch bei ihr angewiesen, da sie und viel weibliches Personal in Mannschaftsbaracken und Heimen untergebracht waren, unter militärischer Beobachtung standen und der strikten abendlichen Ausgangssperre unterlagen. Womit sich die Mediziner zwangsläufig auseinandersetzen mussten, wollten sie weitere Ansteckungen verhüten, war die Einstellung der Beteiligten zum Geschlechtsverkehr. Die Berichte der Ärzte geben Aufschluss darüber, dass das Predigen der Enthaltsamkeit nicht nur deswegen von vornherein zum Scheitern verurteilt war, weil die an die Front gehenden Soldaten unter der Devise »jetzt oder nie« handelten, sondern weil sie »der weitverbreiteten Meinung entgegenwirken« mussten, dass die Enthaltung vom Geschlechtsverkehr gesundheitliche Probleme nach sich ziehe. Wiederkehrende Schilderungen der Mediziner lassen darauf schließen, dass es sich nicht um eine reine Ausrede, sondern eine festgefahrene und weitverbreitete Überzeugung handelte.68 In den Kinos und in den Bibliotheken verbot das Armeeoberkommando, um die Soldaten nicht auf eindeutige Gedanken zu bringen, »laszive oder gar pornographische« Inhalte.69 Das Kinoprogramm, das von der Cetinjer Zeitung veröffentlicht wurde, zeigt aber, dass zumindest Filme präsentiert wurden, die auf Intimitäten und Liebesbeziehungen anspielten. Titel wie »Brennende Triebe (Drama)« und »Augustin auf Brautschau (Lustspiel)« sind immer wieder zu lesen.70 Die gängigen Verhütungsmethoden variierten. Insbesondere bei der Anwendung von Methoden, die mit Kosten (Kondom) verbunden waren oder einer gewissen Technik (Pessare und ähnliche Mittel) bedurften, gab es signifikante soziale Unterschiede. Arbeiter und Bauern (also die Masse an Besatzungssoldaten) dürften demnach den mechanischen Hilfen weniger abgewonnen haben, während sie in der Ober- und Mittelschicht (Offiziere und Beamte) bei mehr als der Hälfte die bevorzugte Methode waren.71 68 Diese Überzeugung kann wohl als Ausfluss der wissenschaftlichen Auffassung bis Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Doch noch für den Beginn des 20. Jahrhunderts machte Lutz Sauerteig zwei Strömungen fest: jene, für die Enthaltsamkeit keine gesundheitlichen Schäden nach sich zog, und jene, die an der alten Überlieferung festhielt. Sauerteig (1996), S. 202-204. 69 Reservat-Verlautbarungen, MGG/M, Kt. 1720.

Verlautbarung Nr. 34, 12.4.1917. ÖStA/KA/NFA,

70 Cetinjer Zeitung vom 28.3.1918. Der Begriff »Lustspiel« diente als Synonym für die Komödie. 71 Jütte (2003), S. 221.

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Kondome waren allerdings bereits vor dem Krieg ein kostspieliges Gut gewesen. Im besetzten Belgrad konnten sie dann von Angestellten der Militärverwaltung in ausgewählten Zivilapotheken zu einem Stückpreis von 46 Hellern bezogen werden.72 Sie wurden allerdings nicht in ausreichender Menge systematisch an Soldaten verteilt.73 Häufiger wurde daher vor bzw. nach dem Akt mit Hilfe unterschiedlichster Substanzen desinfiziert. Die Offiziere verwendeten als Aufbewahrungsort meist ein kleines Holzkästchen74, häufig auch als »Gentlemenkästchen« bezeichnet. Keine Frage des Preises, sondern eine Frage der Ehre und des gesellschaftlichen Standes war die Auswahl der Beziehungspartner in der Etappenstadt. Eine für die Berufsoffiziere der k. u. k. Armee alltägliche Praxis war die strenge Reglementierung des täglichen Lebens. In den besetzten Gebieten aber dienten hauptsächlich Reserveoffiziere, denen die Regeln nicht in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die sogenannten Ehrenratsakten, von denen sich einige wenige für das Militärgeneralgouvernement in Belgrad im Wiener Kriegsarchiv erhalten haben, beschäftigen sich mit Fehlverhalten und damit, ob bestimmte Damen ein standesgemäßer Umgang waren.75 Besonders die weiblichen Hilfskräfte aus der Monarchie standen häufig zur Debatte. Diese konnten nicht einheitlich als standesgemäß dekla72 Reservatbefehl des Brückenkopf- und Stadtkommandos Belgrad Nr. 18 vom 2.3.1916. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Zum Vergleich: Der Lohn eines einheimischen Arbeiters für einen Zehn-Stunden-Tag lag in Montenegro im selben Zeitraum bei etwa drei Kronen. Verlautbarung Nr. 6, 20.3.1916. ÖStA/KA/NFA, MGG/M, Kt. 1689. 73 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 74 Vorschrift (1911), S. 207. 75 Unkameradschaftliches Verhalten von Offizieren, Reservat MGG Befehl Nr. 43, 29.9.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. Allgemein zur Geschichte, Entwicklung und zum Ablauf der Ehrenratsverfahren: Mader (1983). – Ehrenratsakten, Konv. Ehrenrätlicher Ausschuss in Belgrad, Aktenverzeichnis in der ehrenrätlichen Behandlung wider den Oberarzt i. d. R. Dr. Robert Lacina und den Leutnant Rechghf. Kraus, beide des Reservespitals »Brčko« in Belgrad: »Im Sinne des § 13 des Db A-46 ordne ich die ehr. Voruntersuchung wider den OA Dr. Robert Lacina und Lt. Rfr. Hermann Kraus, beide des Res. Spitals Brčko in Belgrad, wegen scheinbar unwahrer protokollarischer Angaben, unstandesgemäßen Verkehrs und unoffiziersmäßigen Benehmens an. Rechtfertigung Robert Lacina: Wir wurden den Damen von einem Oberleutnant und einem Akzessisten vorgestellt und die militärische Stellung dieser beiden Herren musste uns zunächst eine Gewähr sein, dass es nicht unstandesgemäß ist, mit diesen Damen an einem Tische zu sitzen. Es wäre eine Beleidigung für die Herren gewesen, die uns mit den Damen bekannt gemacht haben, wenn wir es unter unserer Würde gefunden hätten, uns mit den Damen zu unterhalten. Schon nach wenigen Minuten stellte es sich heraus, dass die Damen Manipulantinnen beim MGG sind. Nun hatten wir gar keine Veranlassung mehr, diese Bekanntschaft als nicht standesgemäß zu erachten, da uns bekannt war, dass sich unter ihnen Offiziersfrauen und Offizierstöchter befinden, dass das MGG für eine besondere standesgemäße Haltung der Damen gesorgt hat, und dass die Manipulantinnen im allgemeinen den Angehörigen der Offiziere in gesellschaftlicher Beziehung gleichgestellt sind.« ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1677.

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riert werden, da sich unter ihnen sowohl einfache Bauern- wie auch Offiziers- und Beamtentöchter befanden. Den Verkehr mit jenen, die »nicht [zu] jener gesellschaftlichen Schicht, die der Offizier zu seinem Umgang wählen kann«, gehörten, beschränkte ein Armeekommandobefehl auf die Zeit während des Dienstes.76 Die Anwesenheit von weiblichen Hilfskräften höheren sozialen Ranges grenzte die Problematik nicht ein – im Gegenteil. Die Kontakte und Beziehungen, die gemeinsame Abendgestaltung führten zu weitreichenden disziplinären Übertretungen. Es lassen sich Einladungen in Privatwohnungen von Offizieren ebenso finden wie Alkoholexzesse und Rückkehr in die Wohnheime nach der Ausgangssperre. Die Gerichtsakten, Tagesbefehle und Ehrenratsakten legen umfangreich Zeugnis davon ab. Für die weiblichen Hilfskräfte reichten die Strafen von disziplinären Verwarnungen bis zum Abschieben aus den besetzten Gebieten unter Polizeieskorte. Dass ihre Arbeitskraft in der Verwaltung dringend benötigt wurde, reichte dennoch häufig aus, um einer Strafe zu entgehen.77 Wiederkehrend warnten Befehle vor einer Gefährdung der Standesehre des Offizierskorps und vor einem Ansehensverlust der Besatzungsverwaltung bei der Bevölkerung. Insbesondere wurde hiermit argumentiert, wenn sich das Fehlverhalten nicht auf Frauen aus Österreich und Ungarn bezog, sondern auf »Frauenspersonen zweifelhaften Rufs an öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Lokalen«. Besonders ermahnt (bzw. auch ehrenrätlich belangt) wurden jene Offiziere und Beamte, die Zeugen eines (Ehren-)Vergehens wurden, aber nicht unverzüglich dagegen eingeschritten waren.78 Überlebensstrategie Prostitution Dienten die Beziehungen zwischen weiblichen Hilfskräften und Soldaten bzw. Offizieren häufig dem Zeitvertreib, so brachten die Kontakte zu den Besatzern vielen einheimischen Frauen Vorteile. Die Historikerin Jovana Knežević beschäftigt sich mit der Situation von Belgrader Frauen. Sie fasst zusammen: For instance, when Natalija’s younger sister, Rajka, wanted to obtain authorization to go to Switzerland, she handed her request to a member of the Militärgeneralgouvernement, who was the boyfriend of their friend. […] Among such women was Na76 Hirschfeld/Gasper (1998), S. 290. Der Autor zitiert eine Verlautbarung des k. u. k. VI. Armeekommandos von 1918. 77 Als typisches Beispiel sei auf folgendes Verfahren verwiesen: Ehrenratsakten, Konv. Ehrenrätlicher Ausschuss in Belgrad, Aktenverzeichnis in der ehrenrätlichen Behandlung wider den Oberarzt i. d. R. Dr. Robert Lacina und den Leutnant Rechghf. Kraus, beide des Reservespitals »Brčko« in Belgrad. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1677. Die Anschuldigung lautete: »Im Interesse des Ansehens der Institution hauptsächlich aber des Offiziers Ansehens wegen, bitte ich dass genannte Herrn, welche sich in der vornehmen Maske des Ehrenmanns, des Offiziers nähern, die Mädeln zu inkorrekten Handlungen verleiten, sich aber dann absolut nicht offiziersmäßig benehmen, das Handwerk zu legen und zu Verantwortung zu ziehen.« 78 Reservat MGG Befehl Nr. 43, 29.9.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629.

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talija’s sister-in-law, Anka, the wife of her brother, a lieutenant colonel in the Serbian army. Due to her relationship with an Austrian officer, Anka was able to live quite comfortably under occupation. With a friend she opened an atelier for photography; had a passport to travel to Novi Sad; received extra rations of sugar; frequented beauty salons; went to concerts and the theater; stayed out past curfew, and in June 1918 even travelled to Carlsbad and Vienna.79

Ob es sich bei dem Genannten um ernsthafte Liebesbeziehungen, amouröse Abenteuer oder »rational relationships« als Überlebensstrategie handelte, lässt sich wohl selbst für den Einzelfall nur schwer festmachen.80 Der Offizier jedenfalls bot andere Vorteile als der gewöhnliche Soldat. Er brachte nicht »nur« ein Kännchen Öl oder einen Sack Mehl aus Heeresvorräten. Manchmal wurde nur ein »Kommissbrot« als Bezahlung verlangt, schrieb ein Arzt.81 Ein Erlass des Armeeoberkommandos hingegen erzählte von der Ausstellung einer Reisebewilligung für die »persönliche« Prostituierte eines Offiziers, die, als Köchin getarnt, vom besetzten Polen nach Wien mitreisen sollte. Der Versuch wurde erst bei der Passanforderung in der Wiener Polizeidirektion entdeckt.82 Die Durchsicht der Gerichtsakten belegt, dass neben den Offizieren und Beamten viele niedere Beamte und Unteroffiziere, seltener einfache Soldaten (länger dauernde) weibliche Bekannt- und Liebschaften unterhielten. Vielfach waren diese gar nicht Gegenstand einer Verhandlung, zogen sich aber wie alltäglich durch die Schilderungen. Sicherlich spielte eine psychologische Komponente in diese Beziehungen mit hinein. Ein Sanitätsbericht bescheinigte ihnen, gegenüber den Besuchen bei professionellen Prostituierten eine »Illusionen schonende Prostitution« zu sein.83 Verfolgte die Prostituierte im Bordell eindeutig ein Geschäft, so unterhielten viele eheähnliche Verhältnisse mit einer geheimen Prostituierten – obwohl diese oft mehr als eine Beziehung dieser Art unterhielt. Vielfach wechselten rationierte Güter dabei den Besitzer. Sowohl die Militärverwaltung wie die jeweilige Bevölkerung beäugten diese Beziehungen argwöhnisch, sahen sie aber als »inevitable« an, so Knežević.84 Die Abneigung gegenüber solchen Frauen – dies geht aus den Zeugenbefragungen in den k. u. k. Militärgerichtsakten hervor – war meist stärker als das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl. Bereitwillig 79 Knežević (2011), S. 312f. 80 Die Historikerin Anna Hájková beschreibt unter dem Begriff »rational relationships« Sex als Tauschgut und Teil des Wirtschaftslebens, in dem so vieles für lange Zeit rationalisiert oder gar nicht vorhanden war, im Konzentrationslager Theresienstadt. Im Kern lässt sich ihr Konzept auf die Beziehungsstrukturen in den besetzten Gebieten anwenden. Hájková (2005), S. 206. 81 Blumenfeld (1916), S. 248. 82 Reservat MGG Befehl Nr. 44, 1.10.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 83 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. 84 Knežević (2011), S. 312f.

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erteilten die z. B. serbischen Nachbarinnen den Militärbehörden Auskunft über den Lebenswandel und den männlichen Besuch.85 Auf das oben erwähnte Verhalten bezogen sich viele Mediziner und Offiziere der Militärverwaltung, wenn sie über »Geheimprostituierte« schrieben – wobei sie durchaus nach Motiven differenzierten. Für am »bedauerlichsten« hielt man die Mütter, die versuchten, ihre Familien durchzubringen. Diese wären daran zu erkennen, so die Annahme der Militärärzte, dass sie sich in den Veneriespitälern stets freiwillig für bezahlte Lohnarbeit zur Verfügung stellen würden. Die »anderen« kämen meist vom Land, wobei sie in der Stadt »vor der Wahl stehen, entweder durch schwere anstrengende Beschäftigung eine durch die Teuerung kärgliche Existenz zu fristen oder aber durch leibliche Hingabe ein relativ angenehmes bequemes Leben zu führen«.86 Solche Vorurteile des Besatzungspersonals, auch der Ärzte, gegenüber den Frauen lassen sich auf mehreren Ebenen feststellen. Sie sind kultureller, sozialer und nationaler Natur. Die Prostituiertenheime wurden daher zum Teil auch als Besserungsanstalten bezeichnet, welche neben einer ärztlichen Behandlung für Arbeitsgelegenheiten Sorge trugen.87 Nationale Vorurteile hatten durch den Kriegsverlauf und die Negativpropaganda, insbesondere im Fall Serbiens, einen entscheidenden Impuls erhalten. Der Sanitätschef des Militärgeneralgouvernements Belgrad, Jakob Lochbihler, schrieb über das »serbische Volke«: Von Natur aus heißblütig, im allgemeinen geschlechtlich veranlagt, durch den Zustrom französischer und englischer Offiziere verpestet, dazu noch die scheinbaren Erfolge nach dem Rückzuge unserer Truppen aus Serbien im Dezember 1914, gaben Veranlassung, dass in Belgrad und anderen größeren Orten Serbiens Orgien gefeiert wurden.

Da beim Einmarsch der österreichisch-ungarischen Truppen Serbien »verarmt« war, schien ihm Prostitution als logische Konsequenz: »Ist es daher ein Wunder, wenn sich in Serbien ein großer Teil der Frauen und Mädchen der öffentlichen oder geheimen Prostitution hingibt.«88 Durch die Auszahlung der Gehälter und Pensionen an serbische Staatsangehörige meinte man 85 Strafsache des Lst. Sappeur Josef Sevegyarto [Sövegyarto] der Mil. Bauabteilung des MGG/S wegen Verbrechens des Einbruchdiebstahls. ÖStA/KA/Militärgerichtsarchiv, Gericht des k. u. k. Brückenkopf- und Stadtkommandos Belgrad, Fasz. 5422b, E 1157/17. Beispielsweise Frau Anka Pavlovic, Mieterin im selben Haus wie die Angeklagte, 46 Jahre alt: »Ich kenne die Ruža schon seit drei Monaten, seitdem ich mit ihr im selben Hause wohne. Sie ist ein verdorbenes Frauenzimmer, Tag und Nacht verkehren bei ihr Zivilisten und Soldaten. Auch der Verdächtige.« 86 Fink (1917), S. 58. 87 Doerr, Bericht über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2312. Zentrale Sammelstellen mit bis zu 200 Betten wurden zwar wiederkehrend gefordert, aber nicht umgesetzt. 88 Sanitätsgeschichte L-Q, Jakob Lochbihler, beiliegender Bericht über die Tätigkeit als Sanitätschef des MGG/S, Juni 1917. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2318.

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nicht nur weitere Kreise vor der Verarmung zu bewahren, sondern auch der Prostitution entgegenzuwirken.89 Bestimmte Frauenberufe wurden allerdings wiederkehrend als prädestiniert für die »Geheimprostitution« angeführt, darunter vor allem Kellnerinnen und Dienstmädchen.90 »Die Dienstmädchen«, führte der bereits zitierte Militärarzt aus Sarajevo aus, lieferten ja bekanntermaßen das Hauptkontingent zur Geheimprostitution, müssen unbedingt in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, die Ausgangszeit geregelt und die Dienstgeber für die Einhaltung solcher Verordnungen verantwortlich gemacht oder zur Anzeige der Übertretungen angehalten werden.91

Die Informationsbroschüre »Wie bewahrt ihr Euch vor Syphilis« warnte vor »allen diesen Dirnen […] mögen sie euch nun nahen im schimmernden Gewande städtisch geputzter Dämchen oder im einfachen Werktagskleide der Kellnerin oder des Dienstmädchens oder in der bunten Tracht unserer Landmädchen«.92 Ein Befehl vom Dezember 1917 verordnete schließlich für sämtliche weibliche Bedienstete in Hotels, Fremdenherbergen, Kaffeeund Wirtshäusern, »soweit nicht der Dienstgeber durch ein Revers für einen anständigen Lebenswandel seines weiblichen Personals haftet«, eine ärztliche Untersuchungspflicht. Frauen, die sich diesem Befehl widersetzten, waren in ihre Heimatgemeinde abzuschieben. Gleiches galt für Arbeiterinnen in militärischen Betrieben, mit Ausnahme jener, die von ihrem Betriebsleiter oder Betriebsarzt einen »guten Leumund« erhielten.93 Als weiterer Gefahrenherd für unkontrollierte Prostitution wurden wiederkehrend »Zigeunerinnen« genannt: Diese zum größten Teile mit Syphilis behafteten Weiber ziehen von Ort zu Ort, nähern sich bald da bald dort allen möglichen Arbeitsstätten unter dem Vorwande, etwas zu kaufen oder zu verkaufen, verdingen sich oft als Wäscherinnen, etc. alles in der Absicht, sich unseren Soldaten zu nähern, um sich der Prostitution zu ergeben.94

89 Kerchnawe (1928), S. 224. 90 Bedenkt man, dass es in den bürgerlichen Familien jener Zeit immer noch üblich war, dass die Söhne des Hauses ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit den Dienstboten hatten, verwundert diese Einstellung nicht. Auch diese Praxis fand wiederkehrend Erwähnung in der Literatur, u. a. bei Márai (2001). 91 Glück (1915), S. 410. 92 Freund (1916), S. 11. 93 Reservat MGG Befehl Nr. 57, 17.12.1917. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629. 94 Sanitätsgeschichte L-Q, Jakob Lochbihler, beiliegender Bericht über die Tätigkeit als Sanitätschef des MGG/S, Juni 1917. ÖStA/KA/AOK, Qu. Abt., San. Chef, Kt. 2318. Bei Hirschfeld/Gasper finden sich Erzählungen darüber, dass den Besuchern wohl bewusst war, dass viele dieser Frauen mit sexuellen Krankheiten infiziert waren: Hirschfeld/Gasper (1998), S. 266.

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Nach Kriegsende schilderte eine Ärztin, die in einer Heilanstalt in Klosterneuburg tätig war, die Situation ihrer Patientinnen während des Ersten Weltkriegs: Mit der Lockerung der Familienbande mit der oft brutalen Trennung von Kindern und Eltern beim Verlassen der Heimat, sind viele Frauen schutz- und wehrlos geworden gegenüber dem Drängen des Mannes. […] Viele Mädchen strömten auch hinaus in die Etappe – ins Feld als sogenannte »Hilfskraft«. Sie suchten. Unter ihnen gab es Unausgeglichene, Abenteuerliche, Sensationslustige, und Unerfahrene, Frauen die einen Lebensinhalt brauchten oder eine Vergangenheit vergessen wollten. Das wirbelte alles bunt durcheinander. Freiheit und Ungebundenheit wurden von vielen schwer ertragen, sie kamen ganz aus dem Geleise und verfielen der Prostitution. Ihrer ist eine Legion. Je länger der Krieg andauerte, desto größer war die Nachfrage auch in den Städten, wo Nachtlokale, Kaffeehäuser mit Musik und Stundenhotels wie die Pilze aus dem Boden sprossen.95

Zu zentralen Orten für Begegnungen waren die Hauptstädte der Besatzungsregime geworden. Die Verdienstmöglichkeiten, für Professionelle wie für Geheime, stiegen in den besetzten Städten kontinuierlich an. Viele Soldaten verbrachten ihren Urlaub nämlich nicht mehr in der Heimat, sondern im Etappenraum.96 Teilweise waren die Veranstaltungen und Vergnügungslokalitäten von den Militärverwaltungsbehörden organisiert und wurden von Agenten der Nachrichtenabteilung überwacht. Vielfach wurde sogar die Ausgangssperre gelockert, um von dem einen oder anderen Konzert rechtzeitig nach Hause kommen zu können bzw. waren die k. u. k. Straßenbahnunternehmen angewiesen, ihre Züge länger fahren zu lassen. Die Belgrader Nachrichten, die einzige Zeitschrift, die in Serbien während der Besatzungszeit gedruckt werden durfte, und die montenegrinische Cetinjer Zeitung annoncierten diese Freizeitbeschäftigungen. Der Korso, ein Spaziergang meist am frühen Abend, an dem weite Teile der Belgrader Einwohnerschaft teilnahmen, war ein Ort des Kennenlernens für sämtliche Bevölkerungsschichten.97 Auch die öffentlichen Bäder ließen im Sommer einsame Herzen höher schlagen, die Veranstaltungen in den Offizierskasinos blieben hingegen den privilegierten Familien vorbehalten.98 Rücksichtsloses Verhalten gegenüber Frauen in der Öffentlichkeit, ob es sich nun um weibliche Hilfskräfte oder Einheimische handelte, wurde gesetzlich geahndet und vor die Militärgerichte gebracht. Manchmal wurde 95 Zit. n. Exner (1927), S. 165. 96 Ende 1917 war es bereits vielfach üblich, dass Frontoffiziere nicht mehr nach Hause auf Urlaub fuhren, sondern in einen größeren Etappenort, da es dort mehr Ausschweifungsmöglichkeiten gab als selbst im legendären Budapest. Hirschfeld/Gasper (1998), S. 292. 97 Alscher (2006), »Korso« vom 29.3.1917. In der Cetinjer Zeitung und den Belgrader Nachrichten lassen sich fast wöchentlich weitere Beispiele finden. 98 Beispielsweise die Ankündigung von Offiziersgartenfesten und Frühlingsfesten: K. u. k. Militärstations- und Kreiskommando Belgrad, Tagesbefehl Nr. 123, 3.5.1918. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629.

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selbst dann im Sinne der Beleidigten Recht gesprochen, wenn ihr ein die Monarchie schädigendes Verhalten vorgeworfen worden war.99 In einem anderen Fall wurde Friedrich Binder, weil er »durch sein taktloses Benehmen das Mädchen Bosilka Gavrilović provozierte, wodurch dieses sich zu einer dem [sic!] Tatbestand eines schweren Verbrechens beinhaltenden Äußerung hinreißen ließ, und sich deshalb vor dem Standgerichte zu verantworten hatte, mit dem 30-tägigen Zimmerarrest« bestraft.100 Leider ist nicht überliefert, wie ihr Verfahren vor dem Standgericht ausging. Resümee Der Etappenraum als das Gebiet zwischen der Heimat und der Front besaß spezielle Aufgaben im Hinblick auf die Kriegserfordernisse. Im Falle der drei von Österreich-Ungarn errichteten Militärgeneralgouvernements in Polen, Montenegro und Serbien übernahmen die Soldaten auch die Zivilverwaltung. Von besonderer Bedeutung waren die jeweiligen Hauptstädte, Lublin, Cetinje und Belgrad, als Sitz der Gouvernements und als Verkehrsknotenpunkte. Die bunt zusammengewürfelte Bevölkerung und die Absenz von körperlicher Unversehrtheit angesichts bedrohlicher Umstände führten zu einem regen Beziehungsgeflecht innerhalb der so unterschiedlichen Bewohner. Die strengen konventionellen Ketten jener Zeit wurden aber nur gelockert, nicht zerbrochen. Beziehungen ergaben sich meist innerhalb sozialer Schichten und Ehrenräte wachten über das Freizeitleben der Offiziere. Dennoch läuteten die Verhältnisse die Situation in der Zwischenkriegszeit 99 ÖStA/KA/Militärgerichtsarchiv, Gericht des k. u. k. Brückenkopf- und Stadtkommandos Belgrad, Fasz. 5422a, E 1740/17: »Mihailovic Dragoljub gewesener serbischer Steuerbeamter aus Grocka wegen Verleumdung meiner Mädchenehre, da er sich vor den Zeugen: Petkovic Laza gewesener serbischer Beamter aus Grocka und Mica Ruskovic aus Grocka er mich gehen sah und ausdrückte: ›Da geht die Hündin welche sich fegelt‹. […] Justizreferent des k. u. k. Brückenkopf- und Stadtkommandos Belgrad: Ich beantrag die Bestrafung des Mannes wegen Ehrenbeleidigung mit 30 Tagen Arrest. […] K. u. k. Bezirkskommando Grocka an k. u. k. Brückenkopfkommando Belgrad, 23.7.1917: Hierzu wird gemeldet: Dragoljub Mihailovic ist seit einem Jahre bei der hiesigen k. u. k. Übernahmsstelle als Kontrollorgan beschäftigt, wo er sich durch besonderen Fleiß und umsichtiger [sic!] Arbeiten sehr bewährt. Nachdem jetzt die Hauptarbeit der Übernahmsstelle beginnt, wird gebeten dem Genannten die Strafe zu erlassen, da die Ehrenbeleidigung an einer Person begangen wurde, welche hier einen üblen Leumund besessen hat, und die wegen Verweigerung einer Zeugenaussage gegen einen radikalen Serben, also wegen offenkundiger Sympathie-Kundgebung für diesen, aus dem Dienste des Bezirkskommandos plötzlich entlassen wurde. […] Justizreferent Bemerkung: Eine Begnadigung kann nicht befürwortet werden. Die inkriminierenden Worte wären selbst einer Prostituierten gegenüber als Ehrenbeleidigung höheren Grades zu betrachten, mehr gegen ein Mädchen, welches nach ärztlichem Gutachten vollkommen unberührt erscheint. Alle anderen Umstände sind für die Bemessung der Strafe irrelevant. 24.7.1917 […] August Ansuchen um Begnadigung abgewiesen! […] Danach wird Strafaufschub angesucht – und am 25.9.1917 bewilligt.« 100 Konv. Brückenkopf- und Stadtkommando Belgrad, Reservat-Befehle (9.2.-11.12.1916), Befehl Nr. 39, 5.7.1916. ÖStA/KA/NFA, MGG/S, Kt. 1629.

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bereits ein.101 Für das Militär war die Besatzungsgesellschaft der Hauptstädte ein besonderer Mikrokosmos, in dem es die Disziplin aufrechtzuerhalten und die militärischen Etappenaufgaben zu erfüllen galt. Das Freizeitverhalten der Besatzungsgesellschaft stellte die Militärverwaltung vor große Probleme, vor allem dessen Auswirkungen: Geschlechtskrankheiten sowie das geheime und die Organisation des professionellen Prostitutionswesens. Beleuchtet man die Studien, die nach Kriegsende veröffentlicht wurden, wird daraus deutlich, dass die Anstrengungen des Militärs gerechtfertigt, aber bei weitem nicht ausreichend waren. Vor allem die Geschlechtskrankheiten ebbten im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten niemals ab – im Gegenteil. Es hieß rasch und pragmatisch, moralische Bedenken hinter sich lassend, zu handeln. Die relativ öffentliche Diskussion über diese Thematik ist ebenso markant wie das Aufbrechen alter Handlungsmuster und Eingestehen neuer Erkenntnisse: etwa, dass die Ansteckung zwischen Front- und Etappengebiet einerseits und der Heimat andererseits keiner Einbahnstraße entsprach. Für das Militär bedeutete der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten nichts weniger, als dass es erkrankte Soldaten von der Front fernhielt und die Besatzungsverwaltung vor die Tatsache stellte, mehr medizinische Einrichtungen schaffen und Medikamente zur Heilung in Zeiten der Einfuhrverbote und des Materialmangels beschaffen zu müssen. Zu einigen Begriffen, die ebenfalls unter »Etappenliebe« fallen können, wie Homosexualität, Schwangerschaften und Vergewaltigungen, findet sich kaum etwas in den Akten oder Memoiren. Letztere tauchen lediglich in den Gerichtsakten zwischen Einheimischen auf. Kontakte zwischen den Einwohnern der Städte fanden auf mehreren Ebenen statt, auch wurden Beziehungen aus unterschiedlichen Motiven eingegangen: Freizeitvergnügen, »rational relationships« und Zuverdienst. Gerade die geheime Prostitution hatte zur Folge, dass viele Frauenberufe stigmatisiert wurden.

101 Exner (1927), S. 163f. Zur Stigmatisierung jener Frauen, die sich mit den ehemaligen Besatzern eingelassen hatten, siehe Knežević (2011).

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Danksagung Ich danke Prof. Robert Jütte, Prof. Nancy Wingfield und DI Georg Dorfner für ihre hilfreichen Anmerkungen.

Evangelische Krankenfürsorge? Zur Rolle der Konfession im Berliner Krankenhausbau der Weimarer Republik Clemens Tangerding Summary Protestant healthcare? The building of denominational hospitals in Berlin during the Weimar Republic This essay tries to show that, in the Berlin of the Weimar Republic, Protestant hospitals were built not only to relieve the suffering of the population, but also out of a sense of inferiority to a reinvigorated Catholicism. Hospitals were consequently not only places of care and healing but also of denominational self-assertion. Based on Olaf Blaschke’s thesis of a “second denominational age,” this contribution tries to demonstrate that the responsible Protestant agents did not make anti-Catholic proclamations at every occasion and in all the media. The founders of the “Protestant Hospital Building Association,” which this essay investigates, made deliberate use of anti-Catholic resentment, expressing it boldly when approaching the Protestant elites, while playing it down deliberately when addressing the people of Berlin. With a view to the severe economic crisis and mass unemployment prevailing from 1930, they justified the building of new hospitals with the need to create work places, without making recourse to the denomination argument. The political situation, the addressees and the hope for economic success seem to have informed the representation of denominational resentments decisively. Confessionalism therefore seemed to have been not as much a question of ideology as one of strategy.

Einleitung Die Fürsorge für die Armen und Kranken stellt eine weitestgehend unangefochtene Daseinsberechtigung der Kirchen dar. Selbst die schärfsten Kritiker erkennen an, dass der Bereich der sozialen Arbeit von der Kinderkrippe bis hin zum Pflegeheim ohne die Kirchen nur schwer vorstellbar wäre. Sie bekommen für ihr praktisches soziales Engagement viel Anerkennung, wahrscheinlich inzwischen deutlich mehr als für ihr Angebot an Sinnstiftung. Zwar ernten ihre Organisationen teils heftige Kritik, konkret etwa für die Ablehnung von Tarifverträgen oder für die Verpflichtung des medizinischen Führungspersonals in Krankenhäusern zur Kirchenmitgliedschaft. Diese Konfliktpunkte verhindern aber nicht, dass die Wertschätzung kirchlicher Wohlfahrt eine Selbstverständlichkeit auch unserer hochgradig säkularisierten deutschen Gesellschaft ist. Zu diesem Bild tragen die konfessionellen Träger in erheblichem Maße selbst bei. Sie stellen ihr soziales Engagement gemeinhin als Antwort auf das Leiden von Menschen dar, die sie aus ihrem diakonischen bzw. karitativen Selbstverständnis herleiten. Ökonomische Motive werden von den Akteuren der kirchlichen Wohlfahrt demgegenüber um einiges diskreter geäußert. Gerade weil es offensichtlich ist, dass die christlichen Kirchen und ihre Verbände im Gesundheitssektor inzwischen zu den größten Unternehmern zählen, legen ihre Autoritäten Wert darauf, ihr Engagement im Sozialbereich theologisch zu begründen. Diese Legitimierungsstrategie wird zwar heute in einer Vielzahl neuer mediMedGG 33  2015, S. 65-90  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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aler Formen repräsentiert, an sich verfolgen die Verantwortlichen kirchlicher Wohlfahrt diese Linie aber schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Zeitalter der sozialen Fragen etablierten die beiden großen Konfessionen zum ersten Mal innerhalb fester Organisationsstrukturen und relativ flächendeckend Wohlfahrtseinrichtungen und mussten dafür Sorge tragen, deren Finanzierung zu sichern und damit den Fortbestand zu gewährleisten. Nach der Einführung des Bismarckschen Versicherungswesens in den 1880er Jahren war sicher der Umbruch von der Monarchie zur Republik die schwerwiegendste Zäsur für die Träger kirchlicher Wohlfahrt. Dies gilt weniger für kirchliche Hilfsvereine als für Krankenhäuser, um die es im Folgenden gehen soll. Mit dem Wegfall der patriarchalischen Beziehung zwischen dem Monarchen und den kirchlichen Trägern von Sozialeinrichtungen bildete sich der Gesundheitssektor vollends als Markt aus. Auf diesen wirkte die Politik zwar immer noch stark regulierend ein. Doch er gestaltete sich freier und damit unsicherer als jemals zuvor. Bislang ging es den Häusern in erster Linie darum, an der »Verteilung des vorgegebenen Vorhandenen«1 beteiligt zu werden, wie Johannes Burkhardt es in einem anderen Zusammenhang formuliert hat. Mit dem Beginn der Weimarer Republik mussten sich die Einrichtungen gegen ihresgleichen behaupten. Gelang dies nicht, konnten Häuser wegen Unterbelegung geschlossen oder zu einem Trägerwechsel gedrängt werden, was oft genug auch geschah. Auf diesem neuen Gesundheitsmarkt der Weimarer Republik standen sich evangelische und kommunale, katholische und staatliche sowie protestantische und katholische Krankenhäuser als Konkurrenten gegenüber. Die kirchlichen Würdenträger begannen damit, als Wohlfahrtsökonomen aufzutreten. Hierbei gilt es regionale Unterschiede zu beachten. Für evangelische Krankenhäuser in Preußen, die direkt vom König oder einem seiner Familienmitglieder abhängig waren, hatten die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung sicherlich weitreichendere Folgen als für ein katholisches Krankenhaus in Bayern wie das Juliusspital in Würzburg. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass die Konkurrenz und der Kampf um Ressourcen, auch um die Ressource Patient, in vielen Städten bereits weit vor 1918 ausgebrochen und damit bereits vor der Zeit ein wichtiges Marktkriterium erfüllt war. Alfons Labisch hat eine beeindruckende Liste von Orten vorgestellt, in denen ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts katholische Häuser neben evangelische oder evangelische neben katholische gesetzt wurden.2 Fritz Dross hat das Städtchen Kaiserswerth mit seinen beiden konfessionellen Krankenhäusern und dem daraus resultierenden Bettenüberhang als eine »ausgesprochene ›Krankenhaus-Stadt‹«3 bezeichnet. 1

Burkhardt (1990), S. 379.

2

Labisch (1996), S. 282f.

3

Dross (2008), S. 156.

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Anhand des Berliner »Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser e. V.«, dessen Entstehung im Jahr 1929 und frühes Wirken hier Gegenstand der Betrachtung sind, soll gefragt werden, inwiefern die Hauptakteure des Krankenhausbaus von einer konfessionellen Gegnerschaft gelenkt waren und inwieweit sich beim Betrieb von Krankenhäusern wirtschaftliche und religiöse Motive miteinander verschränkten. Dieser Sachverhalt ist Teil einer größeren Diskussion um eine Oppositionshaltung der Kirchen und ihrer Mitglieder untereinander, die Thomas Nipperdey einmal als »Grundtatsache des deutschen Lebens«4 bezeichnet hat. Die Zeit der Weimarer Republik, auf die sich die folgende Untersuchung bezieht, fällt für Olaf Blaschke gar in eine Zeit des »zweiten konfessionellen Zeitalters«.5 Der Vorschlag, diese Epochenbezeichnung für die Jahrzehnte zwischen der Restauration und dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils einzuführen, hat sowohl Zustimmung als auch Vorbehalte hervorgerufen.6 Die allermeisten Historiker, so lassen sich die Reaktionen bündeln, stimmen Blaschke darin zu, dass die Spaltung der Konfessionen von der Forschung zu wenig Berücksichtigung gefunden habe. Allerdings äußern viele Diskutanten auch Vorbehalte gegen die Allgemeingültigkeit, die dieser für die Trennung der Konfessionen annimmt und die seine Epochensignatur suggeriert. Michael Geyer etwa wirft Blaschke eine »verwegene Verallgemeinerung des Partikularen«7 vor. An Olaf Blaschkes umstrittenem Epochenbegriff soll sich auch dieser Beitrag orientieren. Es steht außer Frage, dass die Untersuchung eines eng begrenzten historischen Phänomens eine Epochensignatur weder bestätigen noch widerlegen kann. Sehr wohl ist es jedoch möglich, zu untersuchen, ob auch im vorliegenden historischen Kontext die Konfessionszugehörigkeit als »entscheidende Triebkraft«8 wirkte, wie Blaschke meint. Der Großthese Blaschkes so viele Mikrostudien wie möglich gegenüberzustellen, scheint mir letztlich der beste Weg zu sein, um zu bestätigen oder zu widerlegen, ob es sich dabei um eine Generalisierung handelt. Meine erste These lautet, dass im Berlin der Weimarer Republik evangelische Krankenhäuser nicht nur gebaut wurden, um die Not der Berliner Bevölkerung zu lindern, sondern auch aus einem Unterlegenheitsgefühl dem erstarkten Katholizismus gegenüber. Krankenhäuser waren folglich nicht nur Orte des Helfens und Heilens, sondern auch Räume konfessioneller Selbstbehauptung. Meine zweite These ist jedoch, dass antikatholische bzw. antiultramontane Äußerungen von den verantwortlichen protestantischen 4

Nipperdey (1988), S. 155.

5

Blaschke (2000); Blaschke (2002).

6

Zur Kritik vgl. Blaschke (2006), S. 4 (mit weiterer Literatur).

7

Geyer (2004), S. 13.

8

Blaschke (2002), S. 66.

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Akteuren keinesfalls zu jeder Gelegenheit und in allen Medien hervorgebracht wurden. Die Gründer des »Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser« setzten das antikatholische Ressentiment in bestimmten Situationen bewusst ein, ließen es bei anderer Gelegenheit jedoch ebenso wohlüberlegt beiseite. Gegenüber evangelischen Eliten brachten die Hauptakteure des evangelischen Krankenhausbaus konfessionelles Konkurrenzdenken in aller Schärfe hervor, gegenüber der Berliner Bevölkerung milderte man es ab. In der Zeit der relativen Stabilität der jungen Republik herrschten weltanschauliche Argumente vor, angesichts der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit ab 1930 legitimierte man den Neubau von Krankenhäusern deutlich stärker mit der Schaffung von Arbeitsplätzen. Der politische Kontext einerseits, der Adressat andererseits, die Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg drittens haben die Repräsentation von konfessionellen Ressentiments wohl entscheidend beeinflusst. Der Konfessionalismus scheint folglich weniger Ideologie als Strategie gewesen zu sein. Der Krankenhausbau und das evangelische Inferioritätsgefühl Der Protestantismus in Preußen befand sich nach 1918 in einer schwierigen Lage.9 Der bislang selbstverständliche Schutz der Kirche durch die Krone war aufgehoben. Das Summepiskopat hörte auf zu existieren. Preußen war kein Land mehr, in dem der Protestantismus eine Art Staatskirche darstellte, sondern ein säkularer Staat, der den Kirchen gewisse Rechte zugestand. Die evangelische Kirche reagierte auf die neue Entwicklung in vielen entscheidenden Bereichen anders als die katholische.10 Während die Katholiken sich mit dem Zentrum eine eigene Partei schufen, existierte keine politische Organisation, welche die Interessen der evangelischen Kirche in ähnlicher Weise bündelte. Dies hatte historische, »aber noch mehr theologische Gründe«11, wie Klaus Scholder schreibt. Die dem Protestantismus am nächsten stehende Partei DNVP war, ganz im Gegensatz zum Zentrum, nur an wenigen Regierungen auf Reichs- und Länderebene beteiligt. Neben dem Fehlen eines organisierten politischen Protestantismus erschwerte die Ablehnung der Weimarer Reichsverfassung die Lage für die evangelischen Eliten zusätzlich. Statt mit dem neuen Staat und seinen Organen zu kooperieren, wie es mehrheitlich die Katholiken taten, trauerten viele protestantische Amts- und Würdenträger der untergegangenen Monarchie nach und grenzten sich gegen die republikanischen Staatsprinzipien ab, nicht selten gegen die Reichsverfassung von Weimar selbst. Die vielzitierte Eröffnungsrede auf dem Dresdener Kirchentag ist nur ein Beispiel von vielen für die Zerrissenheit der Evangelischen zu Beginn der Republik von Weimar: 9

Zum Folgenden vgl. Scholder (2000); Nowak (1981); Gailus (2001), S. 52ff.; Schweikardt (2008), S. 282.

10 Vgl. hierzu Aschoff (1990); Gatz (1990). 11 Scholder (2000), S. 15.

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»Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin.«12 Die Trägerschicht der lutherischen Kirche blieb auch nach 1918 einer Haltung verpflichtet, die Kurt Nowak als Kaiserreichsprotestantismus bezeichnet hat.13 Die Verantwortlichen des protestantischen Dachverbands der Wohlfahrtspflege, der Centralverband der Inneren Mission, distanzierten sich von der Weimarer Verfassung – übrigens ebenso wie das konfessionell neutrale Deutsche Rote Kreuz, wohingegen der paritätische Verband, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und die Caritas dem neuen Staatssystem eher positiv gegenüberstanden.14 Diese Faktoren führten dazu, dass die Katholiken weitaus mehr strategisch wichtige Ämter besetzten als die Protestanten. Das für das Sozialwesen und damit auch für Krankenhäuser zuständige Reichsarbeitsministerium wurde zwischen 1920 und 1928 von Heinrich Brauns als Minister geleitet.15 Dieser war nicht nur Mitglied der Zentrumspartei, sondern auch katholischer Priester. Auch die Aufwertung der Delegatur Berlin zum Bistum verlieh dem organisierten Katholizismus zusätzliches Gewicht. Den Katholiken kam daneben die starke Zuwanderung zugute. Hans-Georg Aschoff konstatiert, der »Anstieg der Bevölkerung schloß ein überproportionales Wachstum der katholischen Bevölkerung ein. Die Zahl der Katholiken stieg von 40000 im Jahre 1860 über 248000 im Jahr 1900 auf 400000 im Jahr 1920 und 440000 im Jahr 1930.«16 Nur in Köln lebten auf preußischem Boden mehr Katholiken als in Berlin. Bei der Reichspräsidentenwahl von 1925 gewann der Protestant und Vertreter des Wahlbündnisses »Reichsblock«, Paul von Hindenburg, nur einige bürgerliche Stadtbezirke wie Wilmersdorf, Steglitz und Zehlendorf. In den meisten Wahlbezirken konnte der katholische Rheinländer und »Volksblock«-Vertreter Wilhelm Marx die Mehrzahl der Stimmen auf sich vereinigen.17 Es lässt sich nicht überprüfen, wie stark die Konfession das Wahlverhalten beeinflusst hat. Marx wurde wohl eher als Republikaner denn als Katholik gewählt und mit Hindenburg weniger ein Protestant als der »Held von Tannenberg« abgelehnt. Wie stark aber das Votum von den Verantwortlichen der Kirchen als Entscheidung für die Konfession des einen bzw. gegen die Kirchenzugehörigkeit des anderen Politikers gewertet wurde, mag ein Kommentar zur Wahl aus einer Ausgabe der Evangelischen KirchenZeitung des Jahres 1925 belegen. Darin heißt es: 12 Zit. n. Scholder (2000), S. 15. 13 Nowak (1995), S. 149. 14 Kaiser (2008), S. 79. 15 Zu Brauns s. Lingen (2000). 16 Aschoff (1990), S. 225. 17 Köhler (2002), S. 848.

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Ein Lichtbild in dunkler Zeit ist die Wahl unseres großen Heerführers Hindenburg zum Reichspräsidenten gewesen. Noch nie sind die Gegensätze, die unser Volk zerklüften, so klar zutage getreten, wie bei dieser Wahl. Auf der einen Seite die alten Feinde einer kraftvollen vaterländischen und evangelischen Leitung unseres Volkes unter Führung des mit der internationalen Sozialdemokratie und Demokratie verbündeten Zentrums, auf der anderen Seite alles, was unser Volk zur alten Größe, Freiheit und Ordnung führen will. Ganz besonders hat sich der skrupellose Jesuitismus des Zentrums, dem jedes Mittel zur Erlangung der Herrschaft recht ist, so deutlich offenbart, daß selbst vielen katholischen Wählern die Augen aufgegangen sind. Sein Repräsentant ist Marx, der es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, als Vertreter römisch-katholischen Glaubens ein Bündnis mit der christentumsfeindlichen, vom Papst aufs schärfste verworfenen Sozialdemokratie zu schließen, während deutsches und evangelisches Wesen in Hindenburg den würdigsten Vertreter gefunden hat.18

Begrenzte Kooperationen von Katholiken und Protestanten Die öffentlich ausgetragene Gegnerschaft hielt die Kirchenoberen nicht davon ab, mit der anderen Seite für gemeinsame Ziele zu streiten. Sowohl die Caritas als auch der Centralverband der Inneren Mission kämpften nach 1918 auf Reichs- als auch auf lokaler Ebene um den Schutz ihrer Einrichtungen. Die rechtliche Anerkennung erhielten die Verbände in der Fürsorgepflichtverordnung von 1924.19 Dieses Gesetz bestimmte die Bildung von Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege, zu denen die folgenden Verbände gehörten: Caritas, Innere Mission, Deutsches Rotes Kreuz, Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband. Sie alle zusammen firmierten unter dem Namen »Deutsche Liga der freien Wohlfahrtsverbände«. Die Fürsorgepflichtverordnung stellte die freien Träger auf eine Stufe mit den öffentlichen Trägern und legte zudem fest, dass keine kommunale Fürsorge dort aufgebaut werden dürfe, wo bereits freie Fürsorge in ausreichendem Maße vorhanden sei. Der rechtliche Rahmen war also gegeben. Was den Kampf um die Fortexistenz der einzelnen Krankenhäuser in Berlin angeht, war die Lage zwar nicht so eindeutig. Doch, ohne hier ins Detail zu gehen, kann man auch hier bis etwa 1930 von einer relativen Sicherheit der freien Träger und ihrer Häuser sprechen. Der Magistrat konnte den großen Versorgungsbedarf der Kranken allein mit den kommunalen Häusern schlicht nicht decken und war so auf die Mitarbeit der kirchlichen Häuser angewiesen. Das paternalistische Verhältnis zwischen Monarchen und den Einrichtungen der Kirche war allerdings einer politisch gefärbten Kosten-Nutzen-Rechnung gewichen. Der Ton zwischen den Behörden und den Verbänden und Trägern hatte sich merklich abgekühlt. Vor den Augen der Öffentlichkeit entbrannte im Jahr 1928 darüber hinaus ein Streit um die Befugnisse der Seelsorger in den Berliner Krankenhäusern, 18 Anonym: Hindenburg und die Religionsgesellschaften. In: Evangelische Kirchen-Zeitung 5 (1925), S. 36. 19 Siehe Kaiser (2008), S. 60ff.

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in dem die katholische und evangelische Kirchenführung ebenfalls an einem Strang zogen. Die Auseinandersetzung, die an dieser Stelle nur in groben Zügen skizziert werden kann, schwelte ab 1926 und spitzte sich im Bezirk Neukölln zu. Der dortige Gesundheitsdezernent Richard Schmincke, Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, hatte sich dafür eingesetzt, die Rechte der Seelsorger an städtischen Kliniken zu beschränken.20 Die Seelsorger sollten die Genehmigung zur Einsicht in die Aufnahmebücher verlieren, um die Konfession der Patienten zu erfahren. Sie sollten künftig die Klinikleitung um Erlaubnis für ihre Besuche bitten und ohnehin nur noch dann die Krankenzimmer betreten, wenn die Patienten bei der Aufnahme der Betreuung durch einen Seelsorger zugestimmt hatten. Auch die von einem Geistlichen für alle Patienten gesprochenen Tischgebete und Gottesdienste sowie religiöse Feiern auf den Stationen sollten verboten werden. Schmincke brachte seine Vorschläge in Form eines Antrags seiner Partei in den Magistrat von Groß-Berlin ein. Bei der Debatte im Abgeordnetenhaus machten sich Befürworter und Gegner gegenseitig schwere Vorwürfe. Je ein Abgeordneter des Zentrums und der DNVP warf Schmincke vor, dass er »den Patienten geistlichen Zuspruch verweigern«21 würde. Oberbürgermeister Gustav Böß unterstellte den Abgeordneten daraufhin plumpe Wahltaktik und entgegnete, »die Zentrumsfraktion sei wohl schlecht informiert«, denn »anders sei ihre Erregung, die doch wohl nicht mit der bevorstehenden Wahl zusammenhänge, kaum zu verstehen«.22 Bei der Abstimmung am 26. April 1928 votierte die Mehrheit der Parlamentarier für den Antrag der Kommunisten. Die Seelsorger erhielten nun keine Einsicht in Patientendaten mehr und mussten ihre Besuche anmelden. Tischgebete, Gottesdienste und Weihnachtsfeiern waren ab sofort freiwillig und mussten zum Teil an gesonderten Orten abgehalten werden. Nach wie vor konnten Patienten jedoch Andachten und Gottesdienste besuchen, Gespräche mit Pastoren am Krankenbett führen und die Letzte Ölung erhalten: »Die Seelsorge soll aber auf Wunsch jedem Patienten gewährt werden«23, beschloss die Magistratsmehrheit. Die Regelungen galten somit für alle kommunalen Häuser. Die Reaktionen aus der evangelischen Kirche legen ein eindrückliches Zeugnis ab von der Verhärtung politischer Konflikte in der Weimarer Republik. Das Organ der Inneren Mission beklagte den »Neuköllner Terror«.24 Die Neue Preußische Kronen-Zeitung titelte am Tag nach der Entscheidung im Magistrat: »Schminckes Wüten gegen das Christentum«.25 Nicht

20 Zu Schmincke s. Fölster/Jentzsch (1996), S. 199ff. 21 Vossische Zeitung vom 27.4.1928. 22 Vossische Zeitung vom 27.4.1928. 23 Vossische Zeitung vom 27.4.1928. 24 Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 23 (1928), H. 6, S. 276. 25 Neue Preußische Kronen-Zeitung vom 27.4.1928.

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weniger kämpferisch gab sich ein Journalist der Zeitung Das evangelische Berlin: Verhinderung der Krankenhausseelsorge überhaupt, das ist die allzudeutliche Tendenz jenes Antrags, und alle Beteuerungen der Linken können nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier mit allen Mitteln einer intoleranten Machtpolitik der Versuch gemacht wird, einen neuen Kulturkampf heraufzubeschwören.26

Nicht nur die evangelische, auch die katholische Presse verurteilte die Entscheidung scharf. Die Germania kommentierte: Im Roten Haus herrscht die sozialistisch-kommunistische Majorität und als eine Verbeugung vor dem Willen dieser Majorität, die man sich auf diese Weise für andere Fälle gefügiger zu machen sucht, erfüllt man ihren Willen, obwohl dadurch, wie wir in unserer Zeitung wiederholt nachgewiesen haben, das bestehende Recht gröblich verletzt wird.27

Vor dem Magistratsbeschluss war es in Neukölln zu einer großen Kundgebung gekommen. Am Palmsonntag 1928, der auf den 1. April fiel, demonstrierten Tausende von Katholiken gegen die vom dortigen Gesundheitsdezernenten Schmincke bereits für die Neuköllner Krankenhäuser durchgesetzte Beschränkung der Krankenhausseelsorge. Die Germania sprach wie das wichtigste Berliner Presseorgan der Inneren Mission sogar von 15.000 katholischen Demonstranten.28 Die Vorwürfe der christlichen Kirchen konzentrierten sich dabei auf Richard Schmincke, obwohl auch der Berliner Oberbürgermeister, der Stadtmedizinalrat, eine Reihe Senatoren und nicht zuletzt die Mehrheit der Abgeordneten für die Neuregelung gestimmt hatten. Die Fronten zwischen den Befürwortern uneingeschränkter Rechte der Seelsorger und den Gegnern kirchlicher Riten und Rituale in kommunalen Häusern waren verhärtet. Beide Seiten stellten die jeweils andere als zivilisatorische Bedrohung dar. Die Kirchen reagierten auf den Beschluss, indem sie bei der preußischen Regierung intervenierten. Sie gründeten ihren Protest auf zwei Artikel der Weimarer Reichsverfassung: Artikel 118 garantierte das Recht auf freie Meinungsäußerung und verbot die Zensur, während Artikel 135 das Recht auf »ungestörte Religions[aus]übung«29 festsetzte. Das preußische Staatsministerium hob schließlich am 16. September 1930 den Magistratsbeschluss auf.30 Die Seelsorger erhielten alle ihre Privilegien zurück, auf die sie gut zwei Jahre lang hatten verzichten müssen.

26 Das evangelische Berlin vom 6.5.1928. 27 Germania vom 27.4.1928. 28 Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 23 (1928), H. 6, S. 276; Germania vom 2.4.1928. 29 Die Verfassung des Deutschen Reichs. Vom 11. August 1919. In: Reichs-Gesetzblatt (1919), Nr. 152, S. 1383-1418, hier Art. 135, S. 1408. 30 Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 16. September 1930. In: Acta Borussica (2004), S. 262.

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Die Gründung des »Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser« Etwa ein Jahr nach dem Magistratsbeschluss von 1928 gründete eine Gruppe von Berliner Protestanten einen Verein, der den Zweck bereits im Namen trägt, den »Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser« (VzE). Der Gründungsvorstand setzte sich fast ausschließlich aus Pastoren zusammen. Sieben von zehn Vorstandsmitgliedern waren Pfarrer, darunter auch Generalsuperintendent Otto Dibelius, der spätere Bischof von BerlinBrandenburg und Ratsvorsitzende der EKD.31 Mit dem Vorsitz betraute man den Laien Eduard Dietrich, der seit 1924 als Ministerialdirektor die Leitung der Abteilung Volkswohlfahrt im preußischen Wohlfahrtsministerium innehatte und selbst Mediziner war.32 Einen Sitz im Leitungsgremium hatten auch die Direktoren des Centralverbands der Inneren Mission und des Kaiserswerther Verbands. Der neue Verein war also seit der Gründung sowohl mit dem diakonischen Dachverband als auch mit dem bedeutendsten Zusammenschluss von Diakonissenmutterhäusern vernetzt. Die evangelischen Pfarrer als Gründer des Vereins waren eine Gruppe, der der Kirchensoziologe Karl-Wilhelm Dahm nach 1918 eine »Krisenmentalität« diagnostizierte.33 Laut Dahm entstand diese aus verschiedenen Faktoren kürzerer und längerer Dauer. Zum einen gerieten die Gemeinden, zumal nach der Gründung von Groß-Berlin 1920, zu unübersichtlichen, riesigen Einheiten. Das Selbstempfinden als Seelsorger wich einem Gefühl der Überlastung in einer immer größer und dadurch auch anonymer werdenden Gemeinde. Zum zweiten, dies ist für die Konfessionskonflikte besonders beachtenswert, litten die Pfarrer unter der zunehmenden Säkularisierung. Viele von ihnen empfanden sich selbst mehr und mehr als gesellschaftliche Randfiguren. Hinzu kam, dass ihre herausgehobene Stellung in den Gemeinden abnahm, in denen sie lange Zeit nicht nur als Seelsorger, sondern auch als gebildete ethisch-moralische Vorbilder gegolten hatten. Die Jahre 1918 bis 1933 waren also für die evangelischen Pfarrer von Verlusterfahrungen geprägt. Zur Motivation für die Gründung des Bauvereins äußerte sich der Vorstand auf verschiedene Weise. In einem Schreiben des Vorsitzenden Eduard Dietrich an den Evangelischen Oberkirchenrat aus dem Gründungsjahr 1929 heißt es: Der Verein verfolgt den Zweck, der für die Evangelischen immer fühlbarer werdenden Krankenhausnot in Berlin entgegenzuarbeiten. Auf der einen Seite verfügen die Katholiken in Berlin, die nur 10 % der Bevölkerung ausmachen, in ihren Krankenhäusern über fast doppelt so viel Betten als die Evangelischen.34

31 Eduard Dietrich an den Evangelischen Oberkirchenrat am 12.3.1929. EZAB, 7/4162. 32 Schadewaldt (1957); s. auch Stürzbecher (1992). 33 Siehe Dahm (1965); vgl. Gailus (2001), S. 52ff. 34 Eduard Dietrich an den Evangelischen Oberkirchenrat am 12.3.1929. EZAB, 7/4162.

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Gegenüber dem Vorsteher des Evangelischen Diakonievereins Zehlendorf, Paul Pilgram, erläuterte der Geschäftsführer des Vereins, Wilhelm Siegert, 1932: Mir insbesondere ist in dieser Zeit, in der es Deutschland so schlecht wie noch nie geht, die Aufgabe zuteil geworden, […] Krankenhäuser zu errichten, um das Vordringen der katholischen Kirche und den Angriffen aus den Reihen der Freidenker entgegen zu treten.35

Das Inferioritätsgefühl gegenüber den Katholiken war ein zentrales Motiv für die Gründung. Die kämpferische Haltung ging in diesem Fall auf sehr konkrete Vorgänge im Berliner Krankenhaussektor zurück. Katholische Träger hatten nach 1918 in relativ kurzer Zeit eine stattliche Zahl an Krankenhäusern in Berlin errichtet oder übernommen. Schon allein ihre Namen wiesen sie nicht nur als katholische Häuser, sondern auch als Stätten der von den Katholiken so geschätzten Marien- und Heiligenverehrung aus: 1920 war mit dem Dominikusstift in Hermsdorf eine Einrichtung der Dominikanerinnen zum Allgemeinkrankenhaus erklärt worden.36 Das St. Hildegard-Krankenhaus öffnete 1926 (1997 geschlossen)37, das St. JosephsKrankenhaus der St. Elisabeth-Schwestern 1928. Im selben Jahr ging die Caritas-Entbindungsanstalt Maria Heimsuchung in Betrieb. Im Gründungsjahr des »Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser« entstanden noch zwei weitere katholische Häuser, nämlich das St. Antonius-Hospital der Marienschwestern und das St. Gertrauden-Krankenhaus der Katharinenschwestern. Beide wurden 1930 eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt gehörten zum Katholischen Caritas-Verband Groß-Berlin unter anderem zwölf Krankenhäuser, zwölf Altenheime und -stationen sowie 20 Hospize, Mädchen- und Männerheime.38 Die katholischen Gründungen empfanden die genannten Vorstandsmitglieder des »Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser« in erster Linie als Machtmittel. Unverblümt kommt dies in einer Sitzung des Ehrenausschusses des VzE im März 1930 zum Ausdruck: »Diese besondere Aufgabe rechtfertigt sich angesichts des bekannten Eifers mit dem die katholische Kirche bzw. katholische Verbände sich des Baus katholischer Krankenhäuser angenommen haben.«39 In abgeschwächter Weise bringt der Vorstand des Vereins dies auch in einem Spendenaufruf hervor: Die letzte Grippe-Epidemie hat gezeigt, daß die Bettenzahl der Groß-Berliner Krankenhäuser weit hinter dem Bedürfnis zurückbleibt. Es ist eine unabweisbare Notwendigkeit geworden, vorhandene Krankenhäuser zu erweitern und neue zu errichten. 35 Wilhelm Siegert an Paul Pilgram am 28.5.1932. ArchPGD, 1.56. 36 Goldberg (1994), S. 20ff. 37 Wirth (1961), S. 192. 38 Aschoff (1990), S. 229. 39 Das Protokoll der Sitzung liegt dem Schreiben des Konsistorialpräsidenten August Gensen an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 3.3.1930 bei. EZAB, 7/4162.

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Von verschiedenen Seiten ist damit begonnen worden, hier einzugreifen und Abhilfe zu schaffen. In einer solchen Lage darf auch das evangelische Berlin nicht untätig bleiben. Christlicher Glaube muß sich lebendig erweisen in Taten der Liebe!40

Neben dem Wunsch, zur katholischen Konkurrenz aufzuschließen, motivierte den Vorstand auch der Streit um die Krankenhausseelsorge zum Bau evangelischer Krankenhäuser. Eine veröffentlichte Rückschau auf die Vereinsgründung aus dem Jahr 1935 spricht von der »marxistischen Krankenhauspolitik in Berlin, wie sie in jenen unglückseligen Zeiten durch den Namen des berüchtigten kommunistischen Stadtrats Schminke [sic!] repräsentiert wurde«.41 Auch intern zeigten sich die Verantwortlichen des VzE empört. Wie in dem oben angeführten Brief von Wilhelm Siegert an Paul Pilgram übernahm auch Hans Harmsen, ein weiterer Gründungsvater des Vereins, in einem Schreiben die Sprachregelung der evangelischen Presse und bezeichnete die neue Krankenhausordnung als »Terror, der von sozialer Seite gegen die Ausübung der Seelsorge«42 verbreitet werde. Otto Dibelius sah in der Errichtung evangelischer Krankenhäuser in Berlin gar eine direkte Abwehrmaßnahme gegen den sowjetrussischen Bolschewismus, indem er 1930 vor einer Gruppe von Unternehmern erklärte: In Rußland soll der Mensch nur ein Faktor in dem großen Produktionsprozeß sein. Wichtig ist nur der Intellekt und damit die Arbeitskraft, die er in den Dienst der Masse zu stellen hat. Dieser Kollektivismus macht nicht nur Halt vor den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Jeder Einzelne ist genau wie der andere ein Faktor bei dem Aufbau dessen, was Sowjetrußland will. Gegenüber diesem absoluten Unterdrücken jeder Individualität hat das Christentum Stellung zu nehmen und besonders den Kranken in den Krankenhäusern im Sinne des Christentums Freiheit zu bieten.43

Bei derselben Versammlung berichtete der Geschäftsführer des VzE von Plänen der Stadtverwaltung, ein »Freidenker-Kinderkrankenhaus« in der Landsberger Allee zu errichten. Möglicherweise war damit eine Erweiterung des städtischen Krankenhauses am Friedrichshain gemeint. Um dies zu verhindern, müsse an eben jenem Ort ein evangelisches Krankenhaus errichtet werden, forderte Wilhelm Siegert, zu dessen Zuhörern der ehemalige Reichskanzler und amtierende Reichsbankpräsident Hans Luther, ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, ein Aufsichtsratsmitglied der Commerz- und Privatbank sowie ein »Geheimrat von Borsig«, wahrscheinlich Ernst August Paul von Borsig, zählten. Um die Gäste zu Spenden zu bewegen, appellierte Wilhelm Siegert: »Das Christentum steht hier im Kampf gegen den Bolschewismus.«44 Der Kampf gegen den Katholizismus blieb 40 Eduard Dietrich, Spendenaufruf vom 29.3.1929. EZAB, 7/4162. 41 Das evangelische Berlin vom 20.1.1935. 42 Hans Harmsen an den Vorstand des Evangelischen Diakonievereins am 4.5.1928, zit. n. Katscher (1990), S. 26. 43 Zit. n. Wilhelm Siegert: »Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth«. Ps. 84, 2 (1930). ADV, H 322 A. 44 Zit. n. Wilhelm Siegert: »Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth«. Ps. 84,

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dagegen an diesem Abend in den Empfangsräumen der Reichsbank unerwähnt. Die weltanschaulichen Motive scheinen sich folglich ganz erheblich an den vom VzE vermuteten Positionen der Adressaten zu orientieren. Medizinische Notwendigkeiten und der Umschwung von der Unterversorgung zur Überversorgung Ein weiteres, für einen Krankenhausneubau naheliegendes Argument ist das der medizinischen Notwendigkeit. Diesen Grund nannten die Verantwortlichen des VzE – anders als die weltanschaulichen Motive – durchgängig bei jeder Gelegenheit. Auf die Frage, ob es 1929 tatsächlich medizinisch notwendig war, neue Krankenhäuser in Berlin zu bauen, muss die Antwort sehr genau zwischen den Jahren 1918 bis 1929/30 und den Jahren danach unterscheiden. Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs berichtete die Presse immer wieder über einen eklatanten Bettenmangel in den Berliner Krankenhäusern. Allein im Februar 1928, so das Berliner Wohlfahrtsblatt vom 27. April 1928, mussten die Berliner Krankenhäuser 872 Patienten wegen Überfüllung abweisen.45 Die Lage wurde dadurch erschwert, dass Tausende von Flüchtlingen in die Stadt strömten46, die deutlich häufiger als die sesshafte Berliner Bevölkerung wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes in Krankenhäusern versorgt werden mussten. Hinzu kam noch ein weiterer Grund für die Überbelegung, wie die Zeitschrift Gesundheitsfürsorge 1932 analysierte: Die wesentlichen Fortschritte der medizinischen Technik und die allgemeine Wohnungsnot ließen auch Leichtkranke eine Aufnahme im Krankenhaus wünschen. Die Folge war eine allgemeine Krankenhausbettennot, die sich besonders während der Grippeepidemien verhängnisvoll auswirkte. Kommunen, Versicherungsträger und die Organe der freien Wohlfahrtspflege versuchten, den Bettenmangel durch umfangreiche Erweiterungsbauten und zahlreiche Neubauten von Krankenhäusern zu beheben. […] Die Zahl der Krankenhausbetten stieg von 1925 bis 1928 in Deutschland von 335 840 auf 374 260, in Preußen von 220 184 auf 253 790, in Berlin von 5 auf 7 v. T. der Bevölkerung. Es ist in der Errichtung von Krankenhäusern und ihrer Ausstattung mit zahlreichen Fachabteilungen in vielen Städten mehr geschehen als unbedingt erforderlich war.47

Die Werte erscheinen in der Analyse der evangelischen Zeitschrift zu gering. Auch der Vorsitzende des Bauvereins, Medizinalrat Eduard Dietrich, schrieb in einer Sonderausgabe dieser Publikation, die anlässlich der Eröffnung des ersten VzE-Krankenhauses erschien, zu den Berliner Bettenzahlen: »In vielen Bezirken, so auch z. B. in Groß-Berlin, sind aber noch nicht 7 Krankenhausbetten je Tausend der Gesamtbevölkerung vorhanden.«48 Tat2 (1930). ADV, H 322 A. 45 Berliner Wohlfahrtsblatt vom 27.4.1928. 46 Koinzer (2002), S. 270. 47 Anonym: Unterbelegung (1932), S. 69f. 48 Dietrich (1931), S. 1.

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sächlich lag der Wert in Berlin 1926 bei 86 Betten pro 10.000 Einwohner und erhöhte sich bis 1931 auf 92. 1926 lag der Prozentsatz für die Hauptstadt deutlich über dem reichsweiten Wert (79), vier Jahre später entsprach die Berliner Bettenzahl pro 10.000 Einwohner exakt der des Reichsgebiets (92,1).49 Allerdings nannte der Niederländer Willem Hendrik Mansholt, auf den sich der Vorstand des VzE bezog, auf dem Ersten Internationalen Krankenhauskongress 1929 tatsächlich die Zahl 56,9 und damit ein deutlich schlechteres Verhältnis als in der Reichsstatistik.50 Wie dem auch sei, es waren sicherlich nicht nur medizinische Indikationen, weshalb Menschen zu Krankenhauspatienten wurden. Die mangelnde Qualität von Wohnungen führte dazu, dass gerade ärmere Menschen sich über lange Wochen hinweg in sauberen, trockenen Krankenhäusern einquartieren ließen. In aller Deutlichkeit formulierte diesen Zusammenhang 1928 ebenfalls für Groß-Berlin der Sozialmediziner Alfred Korach: Nur allzu viele dieser Kranken und krankheitsbedrohten Menschen landen in den Krankenanstalten und bevölkern sie während längerer Zeiträume. Aber auch viele andere Bettlägerige, die dann, wenn sie bessere Wohnungen innehätten, zu Hause bleiben könnten, suchen die Krankenhäuser auf, weil eben die Wohnungsschäden die entscheidende Veranlassung dazu geben.51

Korach stellte weiterhin fest, dass die Berliner Bevölkerung inzwischen häufiger Krankenhäuser als niedergelassene Ärzte aufsuchte, und erklärte dies mit der gestiegenen Akzeptanz der »in den Krankenhäusern vorhandenen Apparate und Instrumente, deren Wert für die Diagnose und die Therapie von großen Schichten des Publikums recht hoch geschätzt wird«.52 Diese Faktoren müssen beim Befund des Bettenmangels berücksichtigt werden, der ohnehin 1930 ein jähes Ende fand. In der Gesundheitsfürsorge heißt es dazu: Seit Juni 1930 machte sich in der Krankenhausbelegung eine entgegengesetzte Bewegung bemerkbar; aus einer Überbelegung wurde eine Unterbelegung. […] Der Rückgang der Belegung hat verschiedene Ursachen. Der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung in den Jahren 1930 und 1931 konnte als gut bezeichnet werden; ansteckende Krankheiten, wie Scharlach, Masern und Diphtherie, hielten sich in mäßigen Grenzen. Einen wesentlicheren Anteil an dem Rückgang der Belegung hat jedoch die Verringerung der Zahl der Leichtkranken, die jetzt unter dem Einfluß der wirtschaftlichen Not und der erlassenen Notverordnungen [Krankenschein, schärfere Kontrolle durch Vertrauensärzte] ihrem Erwerb solange wie möglich nachgehen. Das Nachlassen der Wohnungsnot hat ebenfalls zu einem Rückgang der Belegung beigetragen.53

49 Rausch (1984), S. 107. 50 Mansholt (1929), S. 135. 51 Vorwärts vom 14.9.1928. 52 Vorwärts vom 14.9.1928. 53 Anonym: Unterbelegung (1932), S. 69f.

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Als Hauptgrund nennt der Artikel allerdings das Spardiktat infolge der Weltwirtschaftskrise. Als Konsequenz zwangen die Regierungen die Wohlfahrtsämter und Kassenverbände, strengere Anforderungen an die Aufnahme in ein Krankenhaus zu stellen. Selbstzahler, die bislang den Komfort einer Krankenhausbehandlung einer Betreuung zu Hause vorzogen, ließen sich nun häufiger daheim versorgen. Neubauten und Erweiterungen sollten nach Möglichkeit verhindert werden. Um die Kosten für die Krankenhäuser zu senken, beschloss der Preußische Landesgesundheitsrat 1931: »Was den Neubau und Umbau betrifft, so bedarf es, ausgenommen vereinzelte, besonders begründete Fälle, für einen längeren Zeitraum der Schaffung neuer Krankenanstalten nicht.«54 Die Gründung des VzE fiel nun jedoch genau in diese Übergangszeit von der Bettennot zum Bettenüberschuss. Der erste Krankenhausneubau des Vereins wurde 1931 eingeweiht, also just in dem Jahr, in dem der Umschwung offensichtlich wurde. Der Vorstand hatte längere Zeit darüber beraten, wo er sein erstes Krankenhaus errichten sollte. Die Mitglieder des Leitungsgremiums wussten, dass der Bedarf an Krankenhausbetten in den Ost-Bezirken höher war als im Westen, weil dort die Epidemien stärker grassierten. Wir befinden uns 1930 noch in der Zeit des sogenannten epidemiologischen Übergangs, des Übergangs von überwiegend epidemisch oder endemisch auftretenden Infektionskrankheiten wie Grippe und Tuberkulose hin zu degenerativen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.55 Infektionskrankheiten waren jedoch die Folge unhygienischer Lebensumstände oder von Mangelernährung. Diese Krankheiten traten daher häufiger in ärmeren Bezirken auf als in wohlhabenderen. Die Statistik zur ansteckenden Lungen- und Kehlkopftuberkulose der Stadt Berlin aus dem Jahr 1930 mag dies belegen. 1097 Neumeldungen dieser Krankheit gingen im Bezirk Friedrichshain ein, 938 im Prenzlauer Berg, 819 in Mitte, 648 im Wedding. In den wohlhabenderen Bezirken im Westen waren es deutlich weniger: in Charlottenburg immerhin noch 538, in Wilmersdorf aber nur 301, in Schöneberg 323. In Friedrichshain mit seinen über 1000 Meldungen lebten etwa ebenso viele Menschen wie in Charlottenburg mit gut 500 Neuerkrankungen. Der Prenzlauer Berg hatte zwar etwa 50 Prozent mehr Einwohner als Schöneberg, aber etwa dreimal so viele Fälle von Lungen- und Kehlkopftuberkulose.56 In einem Spendenaufruf von 1929 hatte der Vorstand des VzE noch die jüngste Grippewelle, also eine epidemische Krankheit, als einen der Hauptgründe für den Bau neuer evangelischer Krankenhäuser angegeben. Der Bau hätte, wäre er der Argumentationslinie gefolgt, in einem Teil der Stadt erfolgen müssen, in dem die Bevölkerung zu einem besonders hohen Anteil an epidemischen Krankheiten litt. Bei der internen Verhandlung über den 54 Anonym: Unterbelegung (1932), S. 69f. 55 Bähr/Jentsch/Kuls (1992), S. 350ff. 56 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 8 (1932), S. 165.

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geplanten Standort allerdings kamen finanzielle Erwägungen viel stärker zum Tragen. In einem Protokoll des Ehrenausschusses heißt es: Die Entscheidung, zuerst im Westen ein Krankenhaus zu bauen, ist dem Vorstand nicht leicht geworden. Aber die Frage der Rentabilität musste den Ausschlag geben. Der Plan, auch im Osten einen Krankenhausbau in Angriff zu nehmen, sobald es die Mittel erlauben, besteht fort.57

Der Beschluss zeigt, dass den Verantwortlichen des Vereins der größere Mangel an Krankenhausbetten in den Ostbezirken durchaus klar vor Augen stand. Hinzu kommt, dass man dort, wie oben gezeigt, ohnehin den Bau eines nichtkirchlichen Kinderkrankenhauses befürchtete. Damit der neue Krankenhausträger ökonomische Sicherheit erlangte, sollte das erste Haus jedoch in Wilmersdorf entstehen. Denn dort lebten deutlich mehr besser versicherte Patienten und Privatpatienten als im Ostteil der Stadt. Ziel war es laut Geschäftsführer Siegert, den ursprünglich geplanten Standort in einem zweiten Schritt zu verwirklichen: Als wir vor der Entscheidung standen, ob wir das Krankenhaus im Osten oder im Westen zuerst bauen sollten, entschieden wir uns, meiner Ansicht nach sehr richtig, für den Westen, und zwar hatten wir hierbei die feste Erwartung, dass wir aus dem Krankenhaus im Westen noch Ueberschüsse heraus wirtschaften würden, die wir für den Osten verwenden würden.58

Einige Teilnehmer der Verhandlung schlugen als Kompromiss vor, in dem neuen Wilmersdorfer Krankenhaus eine Abteilung für Infektionskrankheiten sowie eine Poliklinik einzurichten. Doch auch diese Vorschläge wurden wegen der zu erwartenden fehlenden Rentabilität nicht in die Tat umgesetzt. Das Martin-Luther-Krankenhaus in Wilmersdorf eröffnete 1931 ausschließlich mit einer Inneren, einer Chirurgischen und einer Gynäkologischen Abteilung. Werbung für das neue Krankenhaus Die intensivste Werbung für das neue Krankenhaus fand in den evangelischen Gemeinden Berlins und des Umlands statt. Sie oblag ausschließlich Pastor Wilhelm Siegert. Es ist keine andere Person aktenkundig, die das neue Haus vor der evangelischen Öffentlichkeit Berlins bekannt gemacht hat. Der Ablauf folgte einem festen Muster. Siegert nahm im Vorhinein Kontakt zu den Gemeindepfarrern auf und instruierte diese, die Gemeinde zu einem Vortragsabend einzuladen. Dieser fand in der Regel in einem Gemeindesaal statt. Dort hielt er nicht nur einen Vortrag, sondern zeigte auch einen Film, der die Arbeit des VzE dokumentierte. Der Pastor warb dabei nicht nur für die Unterstützung des Martin-Luther-Krankenhauses, sondern nannte auch eine ganze Reihe weiterer Städte im Reichsgebiet, in denen evangelische Krankenhäuser geplant oder bereits verwirklicht waren. 57 Protokoll der Sitzung des Ehrenausschusses des VzE vom 19.6.1929. EZAB, 7/4162. 58 Siegert an Dietrich am 3.1.1930. ArchPGD, 1.56.

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Anschließend stellte er die Fördermöglichkeiten vor. Dies waren die Vereinsmitgliedschaft, für die ein regelmäßiger Beitrag zu entrichten war, sogenannte Bausteine mit einer Abbildung des Martin-Luther-Krankenhauses zum Preis von 1 Reichsmark, festverzinsliche Darlehen an den Verein, deren Wert im Krankheitsfall bei der Behandlung in einem VzE-Krankenhaus angerechnet werden konnte, und Geldspenden. Die Kollekten führte Siegert während seiner Vorträge durch, von denen er nach eigenen Angaben insgesamt 215 hielt.59 Die höchste Summe erhielt er nach eigenen Angaben in einer Arbeitergemeinde im Bezirk Prenzlauer Berg, der Gethsemanegemeinde. Dort habe er an einem Abend 2700 Mark erhalten. Siegert erwähnte bei diesen Vorträgen nicht die Mitgliedschaft im Ehrenausschuss des VzE. In dieses beratende Gremium trat man nur über Kooptation durch den Vorstand ein. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen, dass die in den Ausschuss berufenen Mitglieder, die allesamt hohe Führungspositionen innehatten, einen namhaften Geldbetrag spendeten. Im Juni 1929 und damit nur wenige Wochen nach der offiziellen Gründung des VzE im April hatte der Ehrenausschuss bereits 47 Mitglieder.60 Neben den Vorträgen Siegerts, welche die evangelische Öffentlichkeit im Blick hatten, bemühte sich der Vereinsvorstand auch darum, noch vor der Inbetriebnahme einen festen Patientenstamm an das Haus zu binden. Dies sollte gelingen, indem man 1930 mit insgesamt acht Berufsgenossenschaften Darlehensverträge abschloss. Zu ihnen zählten mitgliederstarke Organisationen wie die Berufsgenossenschaften der Feinmechanik und Elektrotechnik, der chemischen Industrie und des Tiefbaus. Die Genossenschaften unterstützten das evangelische Krankenhaus, weil sie planten, Unfallverletzte in der dortigen chirurgischen Station behandeln zu lassen. Diese entsprach nicht nur dem neuesten Stand der Technik, sondern war im Westen der Stadt und damit in der Nähe der großen Industriewerke relativ verkehrsgünstig gelegen. Außerdem bemühte man sich auch um die Aufmerksamkeit der medizinischen Fachwelt. Neben den bei allen Krankenhausgründungen üblichen Führungen für Mediziner nutzten die Verantwortlichen des VzE auch die Auslandskontakte der im Krankenhaus angestellten Ärzte. Über besonders hochrangige Bekanntschaften verfügte der künftige Chefarzt der Inneren Abteilung, Fritz Munk. Ihm gelang es, den geistlichen Führer einer ägyptischen Wohlfahrtsorganisation namens »Al Moassat« einzuladen, der im Jahr 1932 kurz nach Inbetriebnahme mit einer Delegation von sechs Medizinern im Haus erschien. Der muslimische Geistliche war von der Einrichtung des Hauses so angetan, dass er den Architekten beauftragte, ein ähnliches Haus in Ägypten zu errichten, und auch die am Martin-Luther-Krankenhaus beschäftigte Schwesternschaft des Evangelischen

59 Wilhelm Siegert: »Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth«. Ps. 84, 2 (1930). ADV, H 322 A. 60 Protokoll der Sitzung des Ehrenausschusses vom 19.6.1929. EZAB, 7/4162.

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Diakonievereins Berlin-Zehlendorf zu einer Tätigkeit in dem neuen Krankenhaus »Al Moassat« bewegen konnte.61 Um alle Interessenslagen zu bündeln, ging man bei der Namenswahl für das neue Haus sehr behutsam zu Werke. Generalsuperintendent Otto Dibelius hatte bei einer der ersten Sitzungen des VzE-Vorstands 1929 angemahnt, »den Krankenhäusern Namen zu geben, die nicht so betont zum Ausdruck bringen, dass es sich um ev. Krankenhäuser handelt«.62 Bei der entscheidenden Debatte im Vorstand um die Benennung des neuen Wilmersdorfer Hauses wurde zunächst der Name Wichern-Krankenhaus diskutiert. Diese Bezeichnung verwarf das Leitungsgremium des VzE jedoch, da »Wichern an und für sich unbekannt sei und man gerade mit diesem Krankenhause etwas sagen wolle«.63 Daraufhin entschied man sich für den Reformator als Namenspatron. Nach Inbetriebnahme des Hauses bemühte sich auch der Evangelische Diakonieverein Zehlendorf um Patienten. Oberin Lina Lingner empfing im Gründungsjahr zum Beispiel »Hunderte Vertreterinnen der Frauenhilfe aus Berlin und den umliegenden Gemeinden«.64 Außerdem brach laut der Diakonieschwester eine »Invasion von Ausländern« über das Krankenhaus herein, da sich Experten aus der Schweiz, der Türkei, Griechenland, Ungarn, Lettland, Estland, Japan und Brasilien das neue Haus ansahen, welches schon allein wegen seiner neuartigen Bauweise als sechsgeschossiges Hochhaus viele Interessenten anzog.65 Auswahl der Ärzte Die Wahl der Chefärzte lag in der Entscheidungsgewalt des VzEVorstands, die Einstellung der Assistenten und Oberärzte sowie des Pflegeund Hilfspersonals war Aufgabe des Betriebsführers und damit des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf. Der Verein achtete bei der Wahl darauf, einerseits renommierte Mediziner zu finden, die andererseits aber dazu bereit waren, sich für das neue Krankenhaus nach Kräften einzusetzen. Dazu zählte selbstverständlich, den evangelischen Geist des Hauses nach außen zu vertreten. Als ersten Chefarzt berief der Vorstand den künftigen Leiter der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Prof. Dr. August Martin. Dieser war spätestens im Juni 1929 dem Ehrenausschuss beigetre61 Lina Lingner: Chronik des Martin-Luther-Krankenhauses (1947), S. 22. ADV, W 5660. 62 Protokoll der Vorstandssitzung vom 13.4.1929. ArchPGD, 1.6. 63 Protokoll der Vorstandssitzung vom 17.10.1930. ArchPGD, 1.6. 64 Lina Lingner: Chronik des Martin-Luther-Krankenhauses (1947), S. 23. ADV, W 5660. 65 Lina Lingner: Chronik des Martin-Luther-Krankenhauses (1947), S. 30. ADV, W 5660.

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ten. Im selben Monat erfolgte seine Einstellung. Der Gynäkologe evangelischen Glaubens bedankte sich daraufhin nicht nur für das in ihn gesetzte Vertrauen, sondern versprach auch, »sich für die Sache einzusetzen«.66 Nur einen Monat später jedoch wurde er vom Vorstand wieder entlassen. Grund hierfür war, dass man in Erfahrung gebracht hatte, Martin lasse seine Kinder katholisch erziehen. Die Aussprache im Vorstand machte deutlich, dass man zwar evangelisches Profil zeigen, dabei auf der anderen Seite aber nicht kämpferisch wirken wollte. Der Vorstand mutmaßte, die evangelische Bevölkerung Berlins würde kein Verständnis dafür haben, wenn ein Chefarzt gewählt würde, der seine Kinder katholisch erziehen lässt. Diesem Gesichtspunkt stimmt schließlich der gesamte Vorstand zu, und zwar entscheidet man sich für einen sofortigen durchgreifenden Beschluss.67

Dieser besteht erstens darin, den Vertrag mit August Martin wieder aufzulösen. Zweitens aber sollte bei Martin mit Hilfe einer üppigen Entschädigung Verständnis für diese Entscheidung geweckt werden: »Als Ausdruck des Dankes für seine Bemühungen sollen Herrn Prof. Martin 5000 Mark überwiesen werden.«68 Abgesehen von diesem Fall brachte der Vorstand keinerlei Bedenken gegen einen der Kandidaten vor. Laut Aktenlage scheint das Krankenhaus bei recht vielen, auch angesehenen Medizinern in gut dotierten Positionen auf Interesse gestoßen zu sein. Das lag sicher auch daran, dass sie hier in einem Neubau mit neuen Instrumenten eine eigene Abteilung aufbauen konnten. Maßnahmen gegen die Unterbelegung In den ersten Jahren war dieses Haus deutlich unterbelegt. Der Vorstand des Evangelischen Diakonievereins Zehlendorf, deren Schwestern für die Krankenpflege und die Verwaltung des Krankenhauses verantwortlich waren, klagte im Oktober 1931 über die »Inflation an Betten« in Berlin, »zur Zeit ständen derer über 4.000 leer«.69 Bereits gut zwei Monate nach der Inbetriebnahme des Krankenhauses rechnete man mit einem Fehlbetrag von 150.000 bis 200.000 Reichsmark für das laufende Jahr.70 Übrigens klagten auch andere Krankenhausleitungen über die geringe Auslastung ihrer Stationen. Im Jahresbericht des evangelischen Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses, das nur etwa sechs Kilometer vom neuen Martin-LutherKrankenhaus entfernt lag, heißt es bezeichnenderweise: »Einen der Gründe 66 Protokoll der Vorstandssitzung vom 4.6.1929. ArchPGD, 1.6. 67 Protokoll der Vorstandssitzung vom 12.7.1929. ArchPGD, 1.6. 68 Protokoll der Vorstandssitzung vom 12.7.1929. ArchPGD, 1.6. 69 Protokoll der Sitzung von Finanzausschuss und Kuratorium vom 5.10.1931. ArchPGD, 1.6. 70 Erfolgs- und Vermögensbilanz des Martin-Luther-Krankenhauses vom 30.6.1931. ADW, CA/G 720.

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für diese Unterbelegung sehen wir in der Tatsache, dass in den allerletzten Jahren in nicht weiter Entfernung von uns mehrere neue Krankenhäuser und Kliniken entstanden sind.«71 Im neuen Wilmersdorfer Martin-Luther-Krankenhaus mit seinen 450 Betten erreichte die Auslastung am 31. Mai 1931 mit 294 Patienten ihren Höhepunkt. Den niedrigsten Stand verzeichnete man am 1. Weihnachtsfeiertag mit 176 stationär Verpflegten. Die durchschnittliche Belegung lag folglich bei knapp über 50 Prozent. Es war klar, dass die Schuldsumme von insgesamt 3,5 Millionen Reichsmark nur bei einer Auslastung von 75 Prozent zu tilgen war.72 Eine der Gegenmaßnahmen bestand darin, Pauschalkuren in der dritten und damit untersten Klasse der selbstzahlenden Patienten einzuführen. Für jeden Tag im Haus mussten diese fortan zehn bis zwölf Reichsmark zahlen.73 Darin enthalten waren Aufenthalt und Verpflegung, Untersuchung, Behandlung und Medikamente. Zwar erhöhte sich die Auslastung durch die Neuregelung etwas, zu der die Ärzte ihre Zustimmung gegeben hatten. Nur waren die Pauschalkuren wenig dazu geeignet, das Haus dauerhaft aus seiner wirtschaftlichen Notlage zu befreien. Dazu waren die hieraus erzielten Einnahmen zu gering. Deshalb fragte man sich intern, ob es nicht besser sei, die Pauschalangebote wieder abzuschaffen und dafür den höheren Leerstand in Kauf zu nehmen. Doch das Angebot blieb bestehen. Kurz darauf senkte man den Tagessatz gar auf sieben Reichsmark.74 Wegen der geringen Auslastung machte der Krankenhausleitung der hohe Personalstand zu schaffen. 192 Personen waren im Haus angestellt.75 Die Lage besserte sich auch bis Ende 1931 nicht, so dass der Bauverein das Haus mit 29.000 Reichsmark unterstützen musste. Im Februar 1932 zahlte der Verein erneut 11.000 Reichsmark, um den Betrieb überhaupt aufrechterhalten zu können.76 Nach wie vor ließen sich nicht genug Patienten in dem neuen Haus behandeln, um kostendeckend wirtschaften zu können. Der Vorstand beriet daher im Dezember 1931 darüber, ob er nicht das evangelische Profil des Hauses stärker in den Vordergrund rücken sollte. Diese Haltung setzte sich in der Diskussion durch. Also veröffentlichten der Bauverein und der für die Betriebsführung zuständige Diakonieverein Annoncen in den Berliner Zeitungen. Der Titel lautete »Evangelische, besucht

71 Kuratorium (1931), S. 5. 72 Lina Lingner: Chronik des Martin-Luther-Krankenhauses (1947), S. 25. ADV, W 5660. 73 Protokoll der Vorstandssitzung vom 21.9.1931. ArchPGD, 1.6. 74 Protokoll der Mitgliederversammlung vom 3.5.1933. ArchPGD, 1.6. 75 Protokoll der Vorstandssitzung vom 5.10.1931. ArchPGD, 1.6. 76 Finanzbericht über den Betrieb des Martin-Luther-Krankenhauses im Januar 1932. ADW, CA/G 720.

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nur evangelische Krankenhäuser!«77 und rief die Bevölkerung dazu auf, im Krankheitsfalle auf die Einlieferung in ein evangelisches Haus zu drängen. Der Ton des Beitrags war eher gemäßigt. In schärferem Ton mahnte ein Artikel aus der evangelischen Zeitschrift Gesundheitsfürsorge an, evangelische Patienten in evangelische Krankenhäuser zu lenken und sie auf die Gegnerschaft zum Katholizismus einzuschwören. Die Überschrift lautete »Mehr evangelische Disziplin«: In besonderer Weise versucht der Katholizismus durch Errichtung von katholischen Krankenhäusern in vorwiegend evangelischen Gebietsteilen gewissermaßen auf kaltem Wege Gegenreformation zu betreiben und ganz allmählich evangelisches Gemeinschaftsgefühl zu lockern. Durch etwas mehr Selbstbewusstsein und Selbstdisziplin in evangelischen Kreisen dürfte es ohne weiteres gelingen, der katholischen Aktion auf diesem Gebiet des Krankenhauswesens einen hemmenden Riegel vorzuschieben. Für Katholiken bleibt es eine Selbstverständlichkeit, daß Erkrankte, wenn nur irgend möglich, in ein katholisches Krankenhaus überführt werden. Bei den Evangelischen hingegen finden sich sehr viele immer wieder bereit, sich unbedenklich auch in ein katholisches Krankenhaus aufnehmen zu lassen. Ja, es kommt sogar vor, dass Evangelische das katholische Krankenhaus geradezu bevorzugen und den Hinweis auf das evangelische Krankenhaus ablehnen. Gedankenlos fördern auch manche evangelische Ärzte den Katholizismus, indem sie bei der Einweisung ihrer Patienten in Krankenanstalten auch die katholischen Häuser berücksichtigen. Was bewußt evangelischen Menschen eine Selbstverständlichkeit sein sollte, muß einmal deutlich betont werden: Unsre evangelischen Kranken gehören vor allem in unsre evangelischen Krankenhäuser! Die Forderung: Mehr evangelische Selbstzucht und Selbstachtung! sollten wir uns auch sonst ernstlich zu Herzen nehmen. […] Schweigen oder »Neutralität« kann zu schwerster Gewissenslast werden. Wir wollen uns Bekennermut und Herzenstakt erbitten!78

Inwieweit sich die Berliner Bevölkerung vorher und inwieweit sie sich nachher von solchen Aufrufen leiten ließ, ist nicht mehr zu ermitteln. Laut der ersten Oberin war das Haus im ersten Betriebsjahr mit 86,3 Prozent evangelischen Patienten belegt. Damit lag der Anteil zwar etwa zehn Prozent höher als der der evangelischen Bevölkerung an der Gesamtzahl der Berliner Einwohner.79 Da für die weiteren Jahre jedoch bislang keine Zahlen vorliegen, fällt eine Interpretation schwer. Die anderen wurden von der Oberin als »nicht evangelische Kranke«80 tituliert und sind somit nicht weiter differenzierbar. Die Konfession weicht der Arbeitslosigkeit Es spricht angesichts der bisherigen Überlegungen einiges dagegen, dass die Verantwortlichen des VzE und des Diakonievereins die von Manfred Kittel 77 Protokoll der Vorstandssitzung vom 15.12.1931. ArchPGD, 1.6. 78 Anonym: Disziplin (1932), S. 204f. 79 Büsch/Haus (1987), S. 60. 80 Lina Lingner: Chronik des Martin-Luther-Krankenhauses (1947), S. 26. ADV, W 5660.

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so bezeichnete konfessionelle »Strategie der Distanzierung«81 verfolgten, um gegen die Unterbelegung vorzugehen. Bei den politischen Entscheidungsträgern, auf deren Unterstützung und Förderung der Vereinsvorstand angewiesen war, verfing das Konfessionsargument angesichts der schweren Wirtschaftskrise in der Endphase der Weimarer Republik ohnehin nicht mehr. Viel entscheidender war nun, die öffentlichen Kassen zu entlasten und etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu unternehmen. Die Kirchenzugehörigkeit als Argument geriet im medialen Diskurs der Hauptstadt deutlich in den Hintergrund. Dies mussten auch die Vorstandsmitglieder des VzE zur Kenntnis nehmen und entsprechend reagieren. 1934 veröffentlichte der Vorstand eine großformatige Zeitungsannonce, in der die Krankenhäuser des Vereins beworben wurden: Weshalb brauchen wir evangelische Krankenhäuser? 1. Wir brauchen die Volksmission im evangelischen Krankenhaus. 2. Wir helfen mit bei der Arbeitsbeschaffung. 3. Wir gehen mit den Behörden Hand in Hand.82

Zwar wird hier die Konfession noch genannt, nun jedoch in Verbindung mit dem Begriff der Volksmission, also einem institutionalisierten Einsatz für die Armen und Schwachen gleich welcher konfessionellen Couleur. Die Mission des gesamten Volkes, so ließe sich die neue Strategie des Vorstands auf den Punkt bringen, ersetzte die Seelsorge für die evangelische Bevölkerung. Als zweiten Grund nennt die Anzeige die Arbeitsbeschaffung, ein Argument, das nicht nur hier, sondern auch in anderen Veröffentlichungen auftaucht. In der Hauptversammlung des Vereins 1938 stellte Wilhelm Siegert in seinem Bericht über das Martin-Luther-Krankenhaus heraus, »wieviel Firmen durch die Aufträge glücklich gemacht worden sind«.83 Unerwähnt ließen die Hauptakteure des Vereins, dass im Martin-LutherKrankenhaus und den anderen Häusern deutlich weniger Menschen beschäftigt waren als in kommunalen Krankenhäusern. Schließlich arbeiteten in den evangelischen Einrichtungen anstelle von weltlichen Pflegekräften Diakonieschwestern mit weitaus geringerem Einkommen und wegen der hohen Arbeitsbelastung der einzelnen Pflegekraft in deutlich kleinerer Zahl als in städtischen Krankenhäusern. Der dritte Punkt, die Zusammenarbeit mit den Behörden, ist zweifellos eine Reaktion auf die Fälle von Korruption und Vetternwirtschaft, welche das politische Berlin in den Jahren zuvor erschüttert hatten.84 Die Aussage ist m. E. weniger als Bekenntnis zum politischen System des Nationalsozialismus zu verstehen. Dass sich die VzE81 Kittel (2002), S. 261. 82 Was jedermann vom Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser wissen muß! (1934). EZAB, 7/4162. 83 Protokoll der Ordentlichen Hauptversammlung vom 18.6.1938. ArchPGD, 1.6. 84 Vgl. Klein (2014).

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Verantwortlichen in der Mehrheit mit großer Selbstverständlichkeit auf die neue politische Führung einließen und mit vielen anderen Protestanten das »Erlebnis 1933«85 teilten, wie Manfred Gailus es formuliert, steht auf einem anderen Blatt. Zusammenfassung Sowohl die intern ausgesprochenen als auch die veröffentlichten Motive lassen keinen Zweifel daran bestehen, dass für den »Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser« tatsächlich die Konkurrenz zu katholischen Einrichtungen eine Hauptmotivation für den Bau neuer Häuser darstellte. Das Inferioritätsgefühl gegenüber dem Katholizismus und das Bedürfnis, dem Vordringen der römischen Kirche entgegenzuwirken, bestimmten das Vorgehen der wichtigsten Akteure. Allerdings wurde der Kampf gegen den erstarkenden Katholizismus viel deutlicher gegenüber den Kirchenbehörden als Legitimation ins Feld geführt als in der Öffentlichkeit. Coram publico beschworen die Hauptakteure stärker die eigene evangelische Identität als die Konkurrenz zu den Katholiken. Im weiteren Verlauf der Planung, Errichtung und Inbetriebnahme des ersten Krankenhauses hing es sehr stark vom Adressaten und den an diesen gerichteten Erwartungen ab, ob der Vorstand des VzE den konfessionellen Konflikt überhaupt thematisierte. Je nach Kontext und Konfliktfeld zählten die Katholiken bald zu den Gegnern der eigenen evangelischen Position, bald stritt man Seite an Seite gegen den Sozialismus, den Magistrat von Berlin oder den Bolschewismus. Die Strategie der konfessionellen Abgrenzung verlor mit dem Aufkommen der Weltwirtschaftskrise und dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit ohnehin an Gewicht. Nun schlossen sich die öffentlichen Verlautbarungen des Vereinsvorstands der bedeutendsten politischen Forderung der späten Weimarer Politik an: Der Krankenhausbau diente nun in erster Linie dazu, Arbeitern zu Anstellungen und Firmen zu Aufträgen zu verhelfen. Der Patient im Krankenhaus, sei er nun evangelisch oder nicht, trat gegenüber dem Arbeiter am Krankenhaus in den Hintergrund. Daran lässt sich auch ablesen, dass der Vorstand konfessionelle Selbst- und Fremdbeschreibungen sehr bewusst und strategisch einsetzte. Die Kirchenzugehörigkeit erscheint in dem hier untersuchten Fall eben nicht als eine Ideologie, die alle Kommunikationsformen prägte, wie es der Begriff vom »zweiten konfessionellen Zeitalter« suggeriert. Die Aufwertung der eigenen als auch die Abwertung der anderen Konfession war eine Strategie und damit ein kontrolliert eingesetztes Mittel. Die Vertreter der evangelischen Kirche konnten die tiefe Kluft zwischen ihrer und der katholischen Kirche ebenso gut beschwören wie diesen Graben fast vollständig verschwinden lassen. Allerdings gingen die Vorstandsmitglieder des VzE nie so weit, die Zusammenarbeit mit den Katholiken explizit zu loben und wertzuschätzen, 85 Gailus (2003).

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wie Arne Thomsen dies für das Ruhrgebiet in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg diagnostiziert hat.86 Das bedeutet auch, dass der Besuch eines evangelischen Krankenhauses mitunter als Akt des Evangelischseins und der Kirchenbindung betrachtet wurde, mitunter jedoch auch als Repräsentation christlicher Werte gegenüber den Weltanschauungen von Kommunisten oder Sozialdemokraten. Daraus ergibt sich weiterhin, dass die Errichtung evangelischer Krankenhäuser im Berlin der Weimarer Republik offenbar kaum der Mission oder der Seelsorge diente, auch wenn über Letztere ein heftiger Streit entbrannte. Die Hauptakteure des Bauvereins erwähnten nicht in einem einzigen Schreiben, nicht in einer einzigen Verlautbarung, dass man mit dem Bau evangelischer Krankenhäuser die Entkirchlichung der Berliner Bevölkerung aufhalten oder die Verbleibenden an der Entfremdung von ihrer Kirche hindern wolle. Die Verantwortlichen des evangelischen Krankenhausbaus beklagten zwar den Mangel an evangelischen Krankenhäusern und an evangelischen Patienten in ihren Häusern, nicht aber die geringe Teilnahme derselben Personen am Abendmahl in ihren Gemeinden. Ihr Ziel war, den Anteil evangelischer Patienten zu erhöhen, nicht den Anteil aktiver evangelischer Christen. Ihnen ging es darum, den Einfluss der evangelischen Kirche zu erhöhen, und nicht etwa darum, die religiösen Bindungen der Bevölkerung zu stärken. Dieser Wunsch korrespondiert mit der Sprache der öffentlichen Verlautbarungen. Zwar sind die Flugblätter, Zeitungsanzeigen oder Vereinspublikationen mit Versen aus dem Neuen Testament versehen, doch der Appellcharakter der Aufrufe orientiert sich eindeutig an Organisationen wie Hilfswerken oder auch politischen Parteien. Der Vorstand rief seine Zuhörer in seinen Bekanntmachungen letztlich zur Solidarität auf, als würde es sich bei evangelischen Krankenhäusern um Hilfsorganisationen handeln oder um eine politische Partei, deren Ziele man unterstützen solle. Demgegenüber trat das Krankenhaus als Ort des Heilens, in dem die Leser der Verlautbarungen im Krankheitsfall Hilfe erfahren konnten, deutlich in den Hintergrund.

86 Thomsen (2012), S. 75ff.

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Bibliographie Archivalien Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZAB) 7/4162 Archiv der Paul Gerhardt Diakonie, Berlin (ArchPGD) 1.56, 1.6 Archiv des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf e. V. (ADV) H 322 A W 5660 Archiv des Diakonischen Werkes der EKD Berlin (ADW) CA/G 720

Literatur Acta Borussica, Neue Folge, 1. Reihe. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Jürgen Kocka und Wolfgang Neugebauer. Bd. 12/I: 04. April 1925 bis 10. Mai 1938, bearb. v. Reinhold Zilch. Hildesheim; Zürich; New York 2004. Anonym: Die Unterbelegung der Krankenhäuser. In: Gesundheitsfürsorge 6 (1932), H. 4, S. 69f. Anonym: Mehr evangelische Disziplin. In: Gesundheitsfürsorge 6 (1932), H. 10, S. 204f. Aschoff, Hans-Georg: Berlin als katholische Diaspora. In: Elm, Kaspar; Loock, HansDietrich (Hg.): Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Berlin u. a. 1990, S. 223-232. Bähr, Jürgen; Jentsch, Christoph; Kuls, Wolfgang (Hg.): Bevölkerungsgeographie. Berlin; New York 1992. Blaschke, Olaf: Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter? In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38-75. Blaschke, Olaf: Der ›Dämon des Konfessionalismus‹. Einführende Überlegungen. In: Blaschke, Olaf (Hg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002, S. 13-69. Blaschke, Olaf: Abschied von der Säkularisierungslegende. Daten zur Karrierekurve der Religion (1800-1970) im zweiten konfessionellen Zeitalter: eine Parabel. In: Zeitenblicke 5 (2006), S. 1-20, online unter http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Blaschke (letzter Zugriff: 14.1.2015). Büsch, Otto; Haus, Wolfgang: Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik: 1919-1933. Berlin 1987. Burkhardt, Johannes: Frühe Neuzeit. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Geschichte. Frankfurt/Main 1990, S. 364-385. Dahm, Karl-Wilhelm: Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933. Köln; Opladen 1965.

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Medizin für Alte oder Wissenschaft vom Alter? Der Beitrag Max Bürgers zu Geriatrie und Gerontologie Sandra Blumenthal und Florian Bruns Summary Medicine for the elderly or science of old age? Max Bürger’s contribution to geriatric medicine and gerontology The fact that, due to demographic changes, gerontology and geriatrics are gaining ever more importance gives rise to more questions regarding the history of the science of aging. Based on unpublished sources and relevant publications by Max Bürger, the doyen of gerontological research in Germany, our contributions trace the beginnings of age research in Germany. Our results confirm Bürger as the dominant expert in this field in the first decades of its emergence. Bürger was primarily interested in basic medical-scientific research, and less in clinical geriatrics. His scientific goal was not to establish a medicine for the elderly but a theory of life changes (“biomorphosis”). From the start, he saw aging as a physiological process – a view that is still valid today. His concept of “biomorphosis”, however, did not catch on and reveals a constriction in Bürger’s thinking, which was to some extent influenced by Hans Driesch’s vitalism. Interdisciplinary approaches are noticeable in the natural sciences rather than the humanities or social sciences. Bürger’s research was also influenced by the political system he lived in. During National Socialism, which Bürger joined – at least formally – in 1937, his research into labour economics and aging met with considerable interest in connection with the general mobilisation of resources. East Germany also had an interest in questions of labour productivity in old age and the extension of the working life, which meant that Bürger remained a sought-after physician and scientist up into the 1960s. As he grew older himself, Bürger’s initially deficit-oriented view of old age gave way to a more positive presentation that attached greater weight to the resources of old age.

Einführung Die Gerontologie ist eine noch relativ junge Wissenschaft, die sich erst im 20. Jahrhundert herausgebildet und allmählich institutionalisiert hat. An den Beginn ihrer Entwicklung wird oft die erstmalige Erwähnung des Begriffs »Gerontologie« im Jahr 1903 durch den russischen Forscher und späteren Nobelpreisträger Ilja Iljitsch Metschnikow (1845-1916) gestellt.1 Mit dem Bedeutungszuwachs, den die Wissenschaft des Alters und Alterns nicht zuletzt angesichts des demographischen Wandels bis heute erfährt, stellen sich vermehrt Fragen an die Geschichte dieser Fachdisziplin.2 Unter Be1

Vgl., in französischer Schreibweise, Metchnikoff (1903). Siehe dazu auch Baltes/Baltes (1992). Nicht immer scharf von der Alter(n)swissenschaft zu trennen ist die Altersheilkunde, deren Ursprung meist auf das Jahr 1909 datiert wird, als der in die USA emigrierte österreichische Arzt Ignatz L. Nascher den Begriff »Geriatrie« prägte, vgl. Nascher (1909) sowie Gstettner (2005). Siehe auch Steudel (1942); Ackerknecht (1961); Lüth (1965); Schmorrte (1990). Speziell zur Begriffsgeschichte Schäfer/Moog (2005).

2

Siehe u. a. die Arbeiten von Schäfer (2004), Wahl/Heyl (2004), Blessing (2011) und Stambler (2012). Im Gegensatz zur Fülle an Literatur zu den Schlagwörtern »Altern«

MedGG 33  2015, S. 91-123  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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rücksichtigung bereits vorhandener Arbeiten zu ihren Ursprüngen möchten wir im vorliegenden Beitrag anhand ungedruckter Quellen sowie einschlägiger Publikationen des Leipziger Internisten Max Bürger (1885-1966) die Anfänge der gerontologischen Forschung in Deutschland nachzeichnen. Zwar wird Bürgers Name im Zusammenhang mit der Geschichte der deutschen Altersforschung stets an prominenter Stelle genannt, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinem umfangreichen Schrifttum hat jedoch erst in Ansätzen stattgefunden. Insbesondere möchten wir Bürgers Werk auf seine methodische Interdisziplinarität hin untersuchen und damit gleichzeitig die These überprüfen, die frühe gerontologische Forschung in Deutschland sei unter seiner Ägide überwiegend medizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichtet gewesen.3 Zudem gehen wir der Frage nach, ob Bürgers Ideen und Konzepte, auf denen seine Forschungen zu den biologischen Alternsvorgängen aufbauen, über die Jahre hinweg konstant bleiben oder ob in seinen Grundannahmen Wandlungen erkennbar sind. Eingeleitet werden unsere Analysen durch zwei Abschnitte zur historischen Entwicklung der Gerontologie und zur Biographie Max Bürgers. Ausgehend von Bürgers ersten Publikationen zur Alternsforschung Mitte der 1920er Jahre erstreckt sich der Zeitraum unserer Analyse bis in die Nachkriegszeit und bezieht hier vor allem Bürgers 1947 erschienenes Opus magnum »Altern und Krankheit« mit ein. Bürgers 1926 publizierter, erster Aufsatz zur Erforschung des Alterns und sein voluminöses Werk von 1947, in dem er seine Erkenntnisse aus 20 Jahren intensiver Forschungstätigkeit bündelt, markieren die produktivste Schaffensperiode. Da ein wesentlicher Teil von Bürgers Wirken mit der Zeit des Nationalsozialismus zusammenfällt, verdienen die zeithistorischen Umstände und die sich daraus ergebenden Wechselwirkungen mit Bürgers Forschungen besondere Berücksichtigung. Als Quellen dienen uns neben einschlägigen Veröffentlichungen Bürgers aus den Jahren 1926 bis 1957 auch Archivmaterialien, die über biographische und wissenschaftspolitische Hintergründe, etwa bei der Gründung der Zeitschrift für Altersforschung, Auskunft geben. Angesichts der Fokussierung auf Bürgers Beiträge zur Alternsforschung müssen seine Publikationen zu anderen Bereichen der Inneren Medizin unberücksichtigt bleiben.4 Gemessen an Bürgers Verdiensten für die Medizin, wozu neben der Etablierung der Alternsforschung in Deutschland vor allem die Erforschung des Glukagons und wichtige Arbeiten zur Diabetologie und Infektiologie gehöbzw. »Aging« ist die Disziplingeschichte der Gerontologie noch unterentwickelt, siehe als Einstieg Verzár (1973); Achenbaum (1995). 3

So Lehr (1972), S. 31, Baltes/Baltes (1992), S. 4, und Blessing (2011), S. 125. Anders dagegen Wahl/Heyl (2004), S. 87.

4

Einen Eindruck von der Bandbreite seiner Arbeitsgebiete bereits während der Kieler Zeit vermittelt die Zusammenstellung von Büttner/Bruhn (2007).

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ren, ist das medizinhistorische Interesse an seiner Person bislang vergleichsweise gering. Zwar besteht nicht »an almost complete lack of interest in his person by recent historical studies«, wie Stambler es in seiner Studie zur Geschichte der Alternsforschung formuliert5, jedoch ist die Zahl der Arbeiten zu Bürger in der Tat auffallend gering, sieht man von den Nachrufen und Würdigungen seiner Schüler ab, die zwar einigen Informationswert besitzen, jedoch naturgemäß nicht immer einen wissenschaftlichen Anspruch erheben. Wie andere Autoren auch sieht Stambler in Bürger den Pionier und Nestor der deutschsprachigen Alternsforschung. Ries gibt in seiner 1985 erschienenen Monographie einen Überblick zu Biographie und Werk seines prominenten Lehrers.6 Er liefert wertvolle persönliche Einblicke in Bürgers Leben; im Anhang finden sich zudem ausgewählte und kommentierte Texte seines Mentors. Zu einer kritisch-objektiven Beurteilung von Person und Werk fehlt ihm aber die Distanz, es handelt sich in der Tat eher um eine »Ehrenbezeigung«.7 Zudem liefert Ries nur sehr wenige Belegstellen für seine Aussagen. Thiene konzentriert sich in seiner Dissertation, teilweise unter Heranziehung von unveröffentlichtem Quellenmaterial, auf den beruflichen Werdegang Bürgers sowie auf dessen Kreislaufund Hepatitis-Forschungen während des Zweiten Weltkriegs. Die Bürgersche Alternsforschung betrachtet er vorwiegend unter dem Aspekt ihrer Nähe zur nationalsozialistischen Leistungsmedizin und dementsprechend kritisch.8 Thienes Versuch, in Bürgers Untersuchungen und Publikationen rassenhygienische und leistungsmedizinische Denkweisen zu identifizieren, fördert keine eindeutigen Belegstellen oder sonstigen Nachweise zutage.9 Das Fazit, Bürger sei ein Protagonist nationalsozialistischer Leistungsmedizin gewesen, überzeugt dementsprechend nicht vollends. Forsbach zeichnet ein fundiertes Bild von Bürgers beruflichem und politischem Werdegang während seiner Bonner Zeit (1931-1937).10 Auf Bürgers wissenschaftliches Œuvre geht er nur im Hinblick auf dessen Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein. Mit Böhlau und Seige haben weitere Schüler Bürgers eine kurze Darstellung von dessen Lebenswerk geliefert; die jeweils auf Vorträgen basierenden Texte tragen jedoch apologetische Züge und verzichten zudem gänzlich auf Quellenangaben.11 Marginale Erwähnung 5

Stambler (2012), S. 116.

6

Ries (1985). Zuvor bereits Ries (1982).

7

Thiene (2010), S. 9.

8

Thiene (2010), S. 50-61. Das von den Nationalsozialisten verfolgte Konzept der Leistungsmedizin sollte der Steigerung der industriellen Produktion durch Hebung und stärkere Ausschöpfung der individuellen Arbeitskraft dienen, vgl. Eckart (2012), S. 171-181.

9

Vgl. Thiene (2010), S. 54-61.

10 Vgl. Forsbach (2006). 11 Böhlau (1970); Seige (2006).

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finden Bürger und die Alternsforschung in Irmaks Untersuchung zur Altenhilfe in Deutschland.12 Weitere, meist eher knappe Arbeiten zu Bürgers Leben und Werk werden in den Studien von Ries und Thiene aufgelistet. Max Bürger und die Frühphase der Alternsforschung Anfang des 20. Jahrhunderts Die menschlichen Alternsvorgänge beschäftigten bereits die Ärzte und Denker der Antike. Galens »Gerokomia« beeinflusste bis ins 19. Jahrhundert die Ansichten über die Merkmale und Symptome des Alterns.13 Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang die angemessene Lebensgestaltung: Mit Hilfe einer gesunden Lebensweise (Diätetik) sollte der Mensch den Prozess des Älterwerdens mitgestalten – und nicht als gottgegeben hinnehmen. Christoph Wilhelm Hufelands 1796 veröffentlichtes und in der Folge mehrfach neuaufgelegtes Werk »Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern« bringt diesen Anspruch bereits im Titel zum Ausdruck. Als erste lehrbuchähnliche Darstellung von Alterskrankheiten kann die 1839 von Carl Canstatt herausgebrachte Abhandlung über »Die Krankheiten des höheren Lebensalters und ihre Heilung« gelten. Weitere Arbeiten aus dieser Zeit stammen unter anderem von Jean Martin Charcot, Francis Galton und Lorenz Geist.14 Einige Jahrzehnte später, 1928, errichtete die Stanford University eines der ersten gerontologischen Forschungsinstitute weltweit. Das zunehmende Interesse an der Alternsforschung lässt sich als eine Reaktion auf den wachsenden Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung deuten. Dieses Resultat verbesserter Lebensbedingungen machte es erforderlich, dass die Medizin sich stärker als bisher mit den Erkrankungen speziell des höheren Lebensalters auseinandersetzte. Der steigende Bedarf an Therapieangeboten für sogenannte »Greisenkrankheiten« stimulierte Anfang des 20. Jahrhunderts die Bildung einer eigenen medizinischen Subdisziplin, der Geriatrie.15 Nach der Begriffsprägung durch Nascher, die in Anlehnung an die Bezeichnung »Pädiatrie« erfolgte, und der Gründung einer Fachgesellschaft 1912 erschien zwei Jahre später das erste einschlägige amerikanische Lehrbuch zur Geriatrie. Nascher postulierte darin seine Grundannahme, wonach der Alterungsprozess eine eigene, physiologische Lebensphase und keine Krankheit sei.16 12 Vgl. Irmak (2002). 13 Siehe u. a. Steudel (1942); Horstmanshoff (2005). 14 Vgl. u. a. Wahl/Heyl (2004), S. 79-83. Siehe auch Hungenbach (2012). 15 Vgl. Moses (2005), S. 37-39, Moses (2012) sowie Anmerkung 1. Die endgültige Anerkennung als eigenes Fach erlangte die Geriatrie jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg; ihr Pionier Ignatz Nascher erlebte dies nicht mehr, vgl. Gstettner (2005), S. 108. 16 Vgl. Clarfield (1990) sowie Gstettner (2005). Bereits 1909 hatte Julius Schwalbe ein »Lehrbuch der Greisenkrankheiten« veröffentlicht: Schwalbe (1909). Kurze Zeit nach Naschers Buch erschien im deutschen Sprachraum Schlesingers zweibändiges Werk

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An dieses Konzept knüpfte in den 1920er Jahren auch der seit 1918 für Innere Medizin habilitierte Arzt Max Bürger an, als er das noch junge Spezialgebiet der Alternsforschung für sich entdeckte. Er debütierte in dem Feld 1926 mit dem Aufsatz »Über den quantitativen Cholesterin- und Stickstoffgehalt des Knorpels in den verschiedenen Lebensaltern und seine Bedeutung in der Physiologie des Alterns«.17 In diesem naturwissenschaftlich orientierten Beitrag beschrieb Bürger die Altersveränderungen am Modell des menschlichen Knorpelgewebes. Dieses hatte er bereits einige Jahre zuvor als bradytrophes, d. h. überwiegend durch Diffusion ernährtes Gewebe mit vermindertem Stoffwechsel definiert.18 Die von ihm 1926 publizierten Untersuchungen führte Bürger nicht nur an älteren Menschen, sondern an Personen aller Altersstufen vom ersten bis zum siebten Lebensjahrzehnt durch. »Sie entsprachen somit bereits der Grundkonzeption Bürgers, den Alternsprozeß von ›der Wiege bis zur Bahre‹ zu studieren« – so zumindest die rückblickende Einordnung dieser frühen Arbeiten durch seinen Schüler Ries.19 Dass Bürgers Thesen, Forschungen und Erkenntnisse jedoch durchaus nicht immer einer von Beginn an zielgerichteten und linearen Konzeption folgten, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Max Bürger – Biographisches Max Theodor Ferdinand Bürger wurde am 16. November 1885 in Hamburg als Sohn eines Studienrates geboren und evangelisch getauft. Nach dem Abitur an der Gelehrtenschule des Johanneums studierte er Medizin an den Universitäten in Würzburg, Kiel, Berlin und München. Auf die Approbation 1910 folgte die obligate Zeit als Medizinalpraktikant im Pathologischen Institut des Krankenhauses St. Georg in Hamburg.20 Ein Jahr später legte Bürger seine dort entstandene und in Würzburg eingereichte Dissertation »Über Herzfleischveränderungen bei Diphtherie« vor.21 Kenntnisse auf dem Gebiet der Grundlagenforschung erwarb er in den folgenden Jahren unter anderem am Pharmakologischen Institut in Würzburg und am Institut für Hygiene und Bakteriologie in Straßburg, dem zu dieser Zeit Paul

»Die Krankheiten des höheren Lebensalters«: Schlesinger (1914/15), deutlich später dann »Die inneren Erkrankungen im Alter« des österreichischen Geriaters MüllerDeham (1937). 17 Vgl. Bürger (1926). 18 Vgl. Bürger/Müller (1921), S. 359f. 19 Ries (1985), S. 91. 20 Vgl. UAL, PA 1103, Bl. 1v, sowie den Lebenslauf, Bl. 261f. Siehe auch Forsbach (2006), S. 152, der sich auf Akten des Bundesarchivs stützt. Ries (1985) verzichtet in seiner Lebensbeschreibung Bürgers weitgehend auf Quellenangaben. 21 Bürger (1911). Siehe auch Bürgers rückblickende Notizen in ABBAW, NL Bürger, Nr. 75.

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Uhlenhut vorstand.22 Seine klinische Laufbahn begann Bürger 1914 an der Medizinischen Klinik in Königsberg bei Alfred Schittenhelm (1874-1954), der zu seinem Mentor wurde. Verzögert durch die Tätigkeit als Truppenarzt im Ersten Weltkrieg habilitierte sich Bürger während eines längeren Heimaturlaubes 1918 unter Schittenhelm in Kiel.23 Vier Jahre später erfolgte dort Bürgers Ernennung zum außerplanmäßigen Professor.24 Zu seinen Doktoranden in Kiel gehörte der spätere Nobelpreisträger Gerhard Domagk. 1921 hatte Bürger die Ärztin Hedwig Gertrud Maria Zeiss (18951937) geheiratet, eine Enkelin von Carl Zeiss, dem Gründer der Optischen Werke in Jena. Aus der Ehe gingen drei Söhne und eine Tochter hervor. 1929 wechselte Bürger nach Osnabrück, um dort das Direktorat der Inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses zu übernehmen, bis er 1931 einen Ruf an die Universität Bonn erhielt. Dort wirkte er bis zu seinem Weggang nach Leipzig sechs Jahre lang als persönlicher Ordinarius und Direktor der Medizinischen Poliklinik. Während seiner Bonner Zeit beschäftigte sich Bürger intensiv mit der Diabetologie, insbesondere den Blutzuckerschwankungen nach Insulingabe. Seine Arbeiten, finanziell durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt, trugen dazu bei, die Rolle des damals noch weitgehend unbekannten zweiten Hormons der Bauchspeicheldrüse, des Glukagons, aufzuklären.25 Im Herbst 1937 ernannte der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bürger zum Direktor der Medizinischen Klinik an der Universität Leipzig – seinerzeit die größte internistische Klinik in Deutschland.26 Im Vorfeld seiner Berufung diente sich Bürger dem Nationalsozialismus und dessen Gliederungen an. Hatte er anfangs 22 Siehe hierzu und im Folgenden UAL, PA 1103, Bl. 1v, sowie Hauss (1992). 23 Da sich die Habilitationsschrift mit Hungererkrankungen wie etwa dem Hungerödem befasste, fiel sie unter die Militärzensur und durfte nicht gedruckt erscheinen, vgl. Bürger an Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel, 27.2.1918. UAL, PA 1103, Bl. 13. 24 Vgl. Schittenhelm an Medizinische Fakultät Kiel, 9.9.1922 (UAL, PA 1103, Bl. 21v+r) sowie Ernennungsschreiben des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Bürger vom 24.10.1922 (UAL, PA 1103, Bl. 22f.). 25 Vgl. Bürger/Brandt (1935). Gleichwohl hat Bürger das Glukagon nicht entdeckt, wie damals behauptet wurde (und heute noch vielfach wird), vgl. Anonymus (1936). Das Hormon wurde bereits 1923 von den amerikanischen Forschern Kimball und Murlin identifiziert und als »glucagon« bezeichnet. Die entsprechenden Publikationen wurden auch von Bürger und seinem Co-Autor in ihrer Arbeit korrekt zitiert; beide schlugen vor, im Deutschen den Namen »Glukagon« zu verwenden, vgl. Bürger/Brandt (1935), S. 376. Siehe auch die rückblickenden Notizen Bürgers in ABBAW, NL Bürger, Nr. 75. 26 Vgl. das Ernennungsschreiben vom 29.10.1937. UAL, PA 1103, Bl. 117. Die komplexen, zum Teil auch politischen Hintergründe dieser Berufung, bei der Bürger erst nach Ausschöpfen der gesamten Dreierliste als Vierter zum Zuge kam, schildert Thiene (2010), S. 22f.

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den neuen Machthabern noch ablehnend gegenübergestanden und auch eine Denunziation durch einen ehemaligen Assistenten erleben müssen, so intensivierten sich die Kontakte zu NS-Organisationen Mitte der 1930er Jahre.27 Aufgrund der bis dahin geltenden Aufnahmesperre gelang ihm der Eintritt in die NSDAP erst 1937.28 Zweifellos erleichterte dieser Schritt, der wohl eher Opportunismus denn ideologischer Überzeugung geschuldet war, die Berufung nach Leipzig. Den Parteibeitritt in diesem Zusammenhang jedoch als »nicht freiwillig« zu bezeichnen, erscheint unangemessen.29 Bürger selbst benutzte nach dem Krieg in einem Fragebogen gar den Begriff »Zwangsmitgliedschaft«, was als Schutzbehauptung zu werten ist, da es keine Zwangsmitgliedschaft in der NSDAP gab.30 1938 gründete Bürger in Leipzig die Deutsche Gesellschaft für Altersforschung; zur gleichen Zeit rief er zusammen mit dem Hallenser Physiologen Emil Abderhalden (1877-1950) die Zeitschrift für Altersforschung ins Leben, deren erstes Heft im Juli 1938 erschien. Bemerkenswerterweise entstand unter Bürgers Ägide im selben Jahr mit der Deutschen Zeitschrift für Verdauungsund Stoffwechselkrankheiten eine weitere Fachzeitschrift auf dem Gebiet der Inneren Medizin. Anhaltende Auseinandersetzungen mit dem Direktor der Medizinischen Poliklinik und zeitweiligen Dekan der Medizinischen Fakultät, Max Hochrein, überschatteten Bürgers Wirken in Leipzig. Der ehrgeizige Hochrein, seit 1933 Mitglied der NSDAP, drängte auf die Gründung einer zweiten Medizinischen Klinik in Leipzig, die unter seiner Leitung stehen sollte. Unterstützung erhielt er vom sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann, zu dem er enge Kontakte pflegte und den er auch als Arzt behandelte. Doch Mutschmanns Intervention bei Reichsminister Bernhard Rust, Hochrein die Leitung einer »Zweite[n] Medizinische[n] Klinik und Poliklinik« anzuvertrauen, hatte keinen Erfolg. Bürger blieb als Klinikchef unangefochten, obwohl der Gauleiter ihm mit Entlassung gedroht hatte,

27 Bürgers Entwicklung vom Oppositionellen zum Parteigenossen ist dargestellt bei Forsbach (2006), S. 152-155. 28 Vgl. Aufnahmeantrag und Auszug aus NSDAP-Zentralkartei, BArch, Bestand R 9361/II 135246 Max Bürger. Eine Auflistung weiterer Mitgliedschaften (u. a. NSÄrzte- und Dozentenbund) findet sich bei Thiene (2010), S. 62f. 29 So Höpfner (1999), S. 294. Thiene billigt Bürger nicht einmal den Status eines Angepassten zu, sondern sieht ihn als »Teil des Establishments des Dritten Reiches« (Thiene (2010), S. 106), ohne jedoch zu erläutern, ob dieser Begriff auf die politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder gleich mehrere Ebenen abzielt. Siehe auch Bürgers nachträgliche Selbsteinschätzung seiner Stellung zum Nationalsozialismus vom 25.3.1946. UAL, PA 1103, Bl. 138f., sowie die zahlreichen dort archivierten Persilscheine, u. a. Bl. 125, 128, 149, 156. 30 Fragebogen für das Personalamt der Landesverwaltung Sachsen, 13.7.1947. UAL, PA 1103, Bl. 257f. Zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP siehe Benz (2009) sowie http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index.html. de (letzter Zugriff: 28.1.2015).

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sollte er die Teilung der Medizinischen Klinik nicht akzeptieren.31 Während des Krieges verlor Bürger zwei seiner Söhne an der Front. Bereits 1937 war seine Ehefrau gestorben. Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 wurde Bürger am 15. Oktober desselben Jahres aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP vom Direktorat der Leipziger Klinik entbunden. Zuvor hatte er sich erfolgreich dem Abtransport durch die nach Westen abziehenden amerikanischen Truppen widersetzt.32 Von Lehre und Krankenversorgung vorerst ausgeschlossen, durfte Bürger jedoch weiter seinen Forschungen nachgehen, die durch Aufträge etwa der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen und der sächsischen Landesregierung unterstützt wurden.33 Die verbleibende Zeit nutzte er zur Fertigstellung seines umfassenden Kompendiums zur Alternsforschung »Altern und Krankheit«, das 1947 im Leipziger Thieme-Verlag erschien.34 Sein wissenschaftliches Renommee, die katastrophale medizinische Versorgungslage in den ersten Nachkriegsjahren und der nachlassende Elan der Entnazifizierung trugen dazu bei, dass die sowjetische Besatzungsmacht Bürger zusammen mit anderen Leipziger Medizinprofessoren im Sommer 1947 rehabilitierte.35 Bürger war es zuvor gelungen, lokale SED-Funktionäre auf seinen »Fall« aufmerksam zu machen und in eigener Sache für sich zu werben.36 In der Tat konnte auf seine Tätigkeit angesichts der Notwendigkeit eines raschen Wiederaufbaus der Kli31 Mutschmann an Rust, 30.1.1941. BArch, Bestand R 4901/1939, unpag. Rust beschied seinem Duzfreund Mutschmann, Hochrein sei zwar »ein anerkannt tüchtiger Arzt, Lehrer und Wissenschaftler, der damit rechnen kann, dass er einmal zur Leitung einer Medizinischen Universitätsklinik berufen wird. Er ist jedoch nicht von solch überragender Bedeutung, dass sich allein seinetwillen die Errichtung einer 2. Medizinischen Klinik an der Universität Leipzig rechtfertigen ließe.« Rust an Mutschmann, 4.3.1941. BArch, Bestand R 4901/1939, unpag. Siehe auch die Erklärung des Nachkriegsdekans Werner Hueck vom 11.11.1945. UAL, PA 1103, Bl. 130. Bürger sprach nach dem Krieg von einem regelrechten »Kampf« zwischen ihm und Gauleiter Mutschmann, vgl. Bürger an Rechtsanwalt Blume, 25.6.1946. UAL, PA 1103, Bl. 161. 32 Seinem Kollegen Abderhalden in Halle war dies nicht gelungen, er verlor in der Folge des Abtransports, der für ihn erst in der Schweiz endete, neben seinem persönlichen Besitz und seiner beruflichen Stellung auch die damit verbundenen Pensionsansprüche, vgl. Abderhalden an Brugsch, 15.9.1947. UAH, Rep. 11, PA 3826. 33 Vgl. UAL, PA 1103, Bl. 241v+r. 34 Siehe Bürger (1947). 35 Vgl. UAL, PA 1103, Bl. 280. Zur Entnazifizierung und Rehabilitierung ehemaliger Nationalsozialisten an der Universität Leipzig nach 1945 siehe Feige (1994), zu Bürger S. 804f. Zum Mangel an qualifizierten Hochschullehrern siehe auch Kästner/Thom (1990), S. 207f. 36 Vgl. die Korrespondenz mit dem Leipziger SED-Parteisekretär und Stadtverordneten Curt Kaulfuß. UAL, PA 1103, Bl. 164-167. Der Kontakt kam über einen Patienten Bürgers zustande, vgl. Bürger an Rektor Gadamer, 21.4.1947. UAL, PA 1103, Bl. 295v+r.

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nik und des Mangels an qualifizierten Ärzten nicht verzichtet werden.37 Es war sogar von einem regelrechten »Auftrieb« die Rede, den die Medizinische Fakultät durch Bürgers Wiedereinsetzung bekommen habe.38 In der Tat engagierte er sich nach seiner Wiedereinsetzung als Klinikdirektor intensiv für den Wiederaufbau der baulich und personell zerstörten Klinikstruktur.39 1951 war dieser Wiederaufbau im Wesentlichen abgeschlossen. Nachteile aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Gliederungen musste Bürger nicht mehr fürchten. Mit dem Befehl Nr. 35 der Sowjetischen Militäradministration vom 26. Februar 1948, der die Auflösung der Entnazifizierungskommissionen anordnete, endete offiziell die Phase der Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone. In der Folgezeit verlängerte das Staatssekretariat für Hochschulwesen Bürgers Amtszeit als Professor in jährlichen Abständen über dessen 65. Lebensjahr hinaus. Auch Kongressreisen in die Bundesrepublik, so etwa 1952 nach Wiesbaden, wurden ihm genehmigt. Anlässlich seines 70. Geburtstags brachten Mitarbeiter und Schüler 1955 im Leipziger Thieme-Verlag eine umfangreiche Festschrift heraus.40 Anders als die meisten seiner Fakultätskollegen pflegte Bürger offenbar ein recht gutes Verhältnis zum 1949 nach Leipzig berufenen Felix Boenheim, der bis 1955 der Medizinischen Poliklinik vorstand.41 Boenheim hatte bis 1949 im New Yorker Exil gelebt und war als Jude und Marxist den mehrheitlich konservativen Professoren der Fakultät suspekt. Bürgers erfolgreiches Wirken als Internist und Nestor der Alternsforschung setzte sich bis zu seiner Emeritierung 1957 fort, zum Teil auch noch darüber hinaus. Einige seiner Aufsätze wurden international rezipiert.42 1951 gelang es ihm, die Zeitschrift für Altersforschung (ab 1956 Zeitschrift für Alternsforschung) wieder zu reaktivieren. Bürgers 1947 veröffentlichtes Standardwerk »Altern und Krankheit« erlebte bis 1960 vier Auflagen. Zwar erreichte die Bettenzahl seiner Leipziger Klinik nicht mehr das Niveau der Zeit vor 37 »Ein auch nur annährend [sic!] gleichwertiger Ersatz für B.[ürger] ist bis heute von keiner Seite der Fakultät namhaft gemacht worden. Insbesondere ist das augenblickliche Unterrichts-Provisorium nicht mehr lange tragbar, weil jeder fachlich ausreichende Unterricht in der grundlegenden pathologischen Physiologie fehlt. Für dieses Fach ist überhaupt kein Prüfer vorhanden.« Stellungnahme des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 16.4.1946. UAL, PA 1103, Bl. 149v+r. 38 Vgl. Simon an Abderhalden, 6.11.1947. UAH, Rep. 11, PA 3826. 39 So war 1946 beispielsweise keiner der fünf früheren Oberärzte mehr an der Klinik tätig, entweder weil sie politisch belastet oder inzwischen in Westdeutschland tätig waren, vgl. Bürger an Rektor der Universität Leipzig, 4.7.1946. UAL, PA 1103, Bl. 174v+r. Siehe auch ABBAW, NL Bürger, Nr. 69. Generell zu Bürgers Aktivitäten in der frühen Nachkriegszeit siehe Thiene (2010), S. 62-73 und passim. 40 Vgl. Nöcker (1955). 41 Vgl. Ruprecht (1992), S. 317. 42 Vgl. u. a. die 16 Einträge bei Shock (1951).

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1945, als sie mit über 800 Betten als größte Medizinische Klinik Deutschlands galt, doch ihre wissenschaftliche Produktivität konnte sich weiterhin sehen lassen. Allein Bürger veröffentlichte neben »Altern und Krankheit« und einer Neuauflage seiner »Einführung in die pathologische Physiologie« zwischen 1951 und 1958 sieben Monographien zu unterschiedlichen Themen der Inneren Medizin. Darunter finden sich Titel wie »Klinische Fehldiagnosen« (1953), »Angiopathia Diabetica« (1954), »Die Hand des Kranken« (1956) oder »Geschlecht und Krankheit« (1958). 1950 wurde Bürger in die Sächsische Akademie der Wissenschaften und ein Jahr später in die Leopoldina aufgenommen. Das Staatssekretariat für Hochschulwesen billigte ihm einen gut dotierten Einzelvertrag mit weiteren Privilegien zu.43 1952 verlieh ihm die DDR den Nationalpreis II. Klasse »für seine bedeutenden wissenschaftlichen Verdienste um die Altersforschung und die Arbeitsphysiologie der verschiedenen Altersstufen«.44 Im gleichen Jahr erfolgte die Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sein Leipziger Kollege Alexander Bittorf hatte ihn bereits 1948 zur Zuwahl vorgeschlagen.45 1956 erhielt Bürger die vom westdeutschen Ärztetag gestiftete Paracelsus-Medaille. Insbesondere die deutsche Teilung und die zunehmenden Reisebeschränkungen boten Bürger, dessen verbliebene Kinder in der Bundesrepublik lebten, mehrfach Anlass, die Politik und die Situation in der DDR zu kritisieren.46 Mit öffentlichen Äußerungen hielt er sich jedoch zurück. Abgesehen vom Direktorat der Klinik übernahm er weder in der Fakultät noch an der seit 1953 nach Karl Marx benannten Universität irgendwelche Ämter. Seinem Schüler Ries zufolge habe sich dennoch »eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen dem bürgerlichen Wissenschaftler und den Vertretern des sozialistischen Staates« entwickelt.47 Zweifellos war Bürger ein Aushängeschild für die medizinische Wissenschaft in der DDR, auch wenn er vom Werdegang her nicht das Ideal des sozialistischen Hochschullehrers verkörperte.48 Die Regelung seiner Nachfolge gestaltete sich schwierig. Nach der Emeritierung Bürgers 1957 stand die Klinik zwei Jahre lang unter kommissarischer Leitung. Im Oktober 1959 wurde schließlich Rolf Emmrich aus Magdeburg 43 Vgl. den ab 1.9.1951 gültigen Einzelvertrag sowie die zugehörige Korrespondenz zwischen Bürger, dem Rektor der Universität Leipzig und dem Staatssekretariat für Hochschulwesen. UAL, PA 1103, Bl. 307-312. 44 Handel/Schwendler (1959), S. 63. 45 Vgl. ABBAW, NL Bürger, Nr. 75, sowie UAL, PA 1103, Bl. 246. 46 »Damit Sie sich überzeugen, wie es uns hier im ›Rest-Deutschland‹ geht, sende ich Ihnen anbei die [abschlägige – S. B. & F. B.] Antwort meines höchsten Vorgesetzten, des Staatssekretärs G., auf meine Bitte, mir als dem Herausgeber zweier Zeitschriften den Kongreßbesuch zu ermöglichen.« Bürger an Büchner (Freiburg/Brsg.), 29.1.1962. ABBAW, NL Bürger, Nr. 90. 47 Ries (1982), S. 34. 48 Vgl. Thiene (2010), S. 109.

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nach Leipzig berufen. Mit dem Wechsel an der Spitze änderten sich in den Folgejahren auch die Forschungsschwerpunkte der Medizinischen Klinik und die lange, allein auf Bürger zugeschnittene Phase der Alternsforschung ging zu Ende.49 Hochgeehrt starb Max Bürger 1966 an den Folgen eines Schlaganfalls. Seine zahlreichen Schüler erlangten, in der DDR mehr noch als in der Bundesrepublik, einflussreiche akademische Positionen. Werner Ries (19212007), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Alternsforschung der DDR, erhielt 1969 einen Ruf auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Gerontologie in Leipzig und setzte damit die dortige Tradition der Alternsforschung fort.50 Anlässlich des 100. Geburtstages von Bürger fand 1985 in Leipzig ein Gedenksymposium statt. Die Suche nach Begriffen: Gerontologie, Geriatrie oder »Biomorphose«? In der Literatur wird Max Bürger sowohl als Nestor der Gerontologie als auch der Geriatrie bezeichnet. Ist hiermit das Gleiche gemeint? Vor dem Hintergrund der Frage nach der Interdisziplinarität Bürgers lohnt sich eine differenzierte Betrachtung der beiden Begriffe. Die Geriatrie beschäftigt sich mit den Erkrankungen des alten oder alternden Menschen und ist somit eine rein medizinische Fachrichtung; Ärzten ist die Spezialisierung zum Geriater möglich. Die Gerontologie dagegen versteht sich spätestens seit den Forschungen Paul und Margret Baltes’ sowie Ursula Lehrs in den 1970er und 1980er Jahren als interdisziplinäre Wissenschaft, die sich »mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns und des Alters, einschließlich der Analyse von alternsrelevanten und alternskonstituierenden Umwelten und sozialen Institutionen« beschäftigt.51 Dieser Klassifikation folgend wäre die Geriatrie der Gerontologie konzeptionell untergeordnet. Bürger wurde mit beiden Begriffen nicht recht glücklich, dementsprechend fällt es schwer, ihn nachträglich ausschließlich der Geriatrie oder der Gerontologie zuzuordnen. Zum einen wehrte sich Bürger lebenslang gegen einen rein geriatrischen Ansatz der Alternsforschung, da deren Ergebnisse nicht nur alten Menschen zugutekommen sollten.52 Zum anderen 49 Vgl. Köhler (1986). 50 Vgl. http://www.dggg-online.de/wir/geschichte.php und http://www.dggg-online.de/ aktuelles/pdf/Nachruf_Ries.pdf (letzter Zugriff: 28.1.2015). Eine unvollständige Liste von Schülern, in der Adolf Heinrich und Georg Schlomka fehlen, findet sich bei Seige (2006), S. 58. Siehe auch Ries (1985), S. 41-43, der Heinrich und Schlomka ebenfalls nicht erwähnt. 51 Baltes/Baltes (1992), S. 8. 52 »Viele glauben, der Inhalt der Alternsforschung sei im wesentlichen die Beschreibung greisenhafter Zustände oder von Krankheiten des Greisenalters. […] Das Anliegen des vorliegenden Werkes geht dahin: den physiologischen Wandlungen unseres Körpers

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lehnte er es stets ab, die Alternswissenschaft unter dem Begriff der Gerontologie zu fassen, da Alternsprozesse nicht allein Greise (griech. geron) beträfen, sondern als »Lebenswandlungen« bereits das Kleinkind. Vor diesem Hintergrund plädierte Bürger anfangs für die Bezeichnung »Biorheuse« (»Lebensfluss« oder »Lebensablauf«), die er 1937 von dem Physiologen Rudolf Ehrenberg (1884-1969) übernommen hatte.53 In den 1950er Jahren ersetzte Bürger diesen Begriff durch den der »Biomorphose«.54 In diesem Terminus fand er seine Vorstellung der Alternsforschung als »Lebenswandlungskunde« besser repräsentiert: »Unter Biomorphose verstehe ich alle materiellen und funktionellen Lebenswandlungen, welche der menschliche Körper und seine Organe von der Konzeption bis zum Tode physiologischerweise durchmachen.«55 Dieser Wandlungsprozess zum Alter sei überdies genetisch (»keimplasmatisch«) determiniert, die »Biomorphose« also »ein schicksalsmäßig ablaufender Vorgang«.56 Unübersehbar kommt in den Begriffsbildungen Bürgers naturwissenschaftlicher Zugriff zum Ausdruck. Dementsprechend wäre es auch verfehlt, seine Erforschung des »Lebensablaufes« mit der heutigen, eher soziologisch orientierten Lebenslaufforschung in Verbindung bringen zu wollen. Bürgers Vorstellung des »Lebensflusses« bezog sich vorwiegend auf chemisch-biologische Phänomene – erst spät und auch dann nur vereinzelt widmete er sich der demographischen und sozialen Dimension des Alter(n)s.57 Im wissenschaftlichen Diskurs haben sich weder »Biomorphose« noch der anfangs von Bürger und anderen benutzte Begriff der »Biorheuse« durchgesetzt, insbesondere nicht, wie von Bürger intendiert, als Bezeichnung einer wissenschaftlichen Disziplin. Im Folgenden werden wir daher von »Alternsforschung« sprechen, was Bürgers disziplinärem Selbstverständnis am ehesten gerecht werden dürfte.

im Laufe des ganzen Lebens in ihren Beziehungen zu den Krankheiten nachzugehen.« Bürger (1947), S. IV (Hervorhebung im Original). 53 Vgl. Bürger (1947), S. 42, sowie Ehrenberg (1923). Siehe u. a. auch Bürger (1939), S. 34, wo er das »Trägerwerden« der »Biorheuse« als den Kern des Alternsprozesses beschrieb. 54 Vgl. Vortrag Bürgers auf dem 4. Kongress der International Association of Gerontology 1957 in Meran, abgedruckt bei Ries (1985), S. 95-102, hier S. 100. 55 Zit. n. Ries (1985), S. 96. 56 Zit. n. Ries (1985), S. 96. 57 So etwa in den Folgeauflagen von »Altern und Krankheit«, siehe dazu Thiene (2010), S. 58. Diese Erweiterung des Blickfeldes mag auch den Wünschen und Vorgaben der stärker sozialmedizinisch ausgerichteten Gesundheitspolitik der DDR geschuldet gewesen sein. Thiene zufolge habe Bürger diese thematische Anpassung bereits früher vollzogen, als er sich nämlich während des Nationalsozialismus arbeits- und sozialmedizinischen Fragestellungen zuwandte, vgl. Thiene (2010), S. 108.

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Grundlagenforschung als Leitmotiv – Altersmedizin als Randaspekt Der Beginn der Beschäftigung Max Bürgers mit dem Problem des Alterns war durch naturwissenschaftliche Grundlagenforschung geprägt.58 Nach seiner bereits erwähnten Studie über die biochemische Zusammensetzung menschlichen Knorpelgewebes veröffentlichte er mit seinem Mitarbeiter und späteren stellvertretenden Klinikleiter in Bonn, Georg Schlomka, in den Folgejahren vier weitere Arbeiten in der Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin.59 Sie behandeln allesamt Alternsprozesse auf histologischer und physiologischer Ebene, zum Teil am Tiermodell. Wieder spielen die von Bürger als solche identifizierten bradytrophen Gewebe (Knorpel, Augenlinse und -hornhaut, Gefäßwände) eine zentrale Rolle, die aufgrund fehlender Blutversorgung vergleichsweise wenig Kontakt zum Organismus besitzen und daher von Krankheits- und Umwelteinflüssen wenig berührt werden. An ihnen hoffte Bürger altersbedingte Strukturveränderungen möglichst isoliert betrachten zu können. Sein Kieler Chef Schittenhelm konnte diesem speziellen Arbeitsgebiet seines Schülers nicht viel abgewinnen. Die Erforschung von Alterungsprozessen hielt er für wenig ertragreich, »denn dass man älter werde, merke man auch so«.60 Bürger focht das nicht an, zumal er daneben auch andere Forschungsinteressen pflegte, die sich unter anderem in seinem 1924 erschienenen Lehrbuch »PathologischPhysiologische Propädeutik« niederschlugen, zu dem Schittenhelm das Geleitwort schrieb. Ein eigenes Kapitel zum Thema Altern existiert in der ersten Auflage des Buches noch nicht. Bürgers Untersuchungen zum Alter kreisten stets auch um die Frage der Grenzziehung zwischen Gesundheit und Krankheit im älter werdenden Organismus. Im Gegensatz zu anderen Alternsforschern seiner Zeit bestand Bürgers Anliegen nicht in der Verhinderung oder im Hinauszögern des Alterns. Vielmehr entpathologisierte er das Alter und deutete es als einen physiologischen, ja »harmonischen« Lebenswandlungsprozess.61 Der biochemische Kern dieses Prozesses, so glaubte Bürger bewiesen zu haben, sei die zunehmende Wasserverarmung sowohl des bradytrophen Gewebes als auch des menschlichen Körpers insgesamt. Die Vorstellung einer Austrocknung des Gewebes bei gleichzeitiger Einlagerung von »Schlackensubstanzen« (vor allem Cholesterin und Stickstoff) erinnert in gewisser Weise an das antike Alterungskonzept Galens, das von einem zunehmenden Verlust angeborener Wärme und Feuchtigkeit ausgeht.62 Bürger argumentierte je58 Möglicherweise ist Bürger während seiner frühen Studien zum Cholesterin auf altersabhängige Schwankungen gestoßen und hat daraufhin ein weitergehendes Interesse an Alterungsvorgängen im menschlichen Organismus entwickelt. 59 Eine Zusammenfassung der Erkenntnisse dieser Arbeiten findet sich in Bürger (1934). 60 Rückblickende Notiz Bürgers. ABBAW, NL Bürger, Nr. 75. 61 Vgl. Bürger (1934). 62 Vgl. Ackerknecht (1961); Horstmanshoff (2005).

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doch auf der Basis der Zellularpathologie – es ist die menschliche Zelle, die entwässert – und befand sich damit wissenschaftlich durchaus auf Höhe der Zeit, wie ein Vergleich mit dem Stand der Forschung in den USA zeigt.63 In der zweiten Auflage seines Lehrbuchs, 1936 unter dem Titel »Einführung in die pathologische Physiologie« erschienen, möchte Bürger seine Leser für die Betrachtung des Menschen als Ganzes gewinnen. Bereits im Vorwort spricht er sich gegen die wachsende Dominanz einer organzentrierten Medizin aus, die nicht mehr die physiologischen und pathophysiologischen Prozesse des ganzen Menschen sieht, sondern sich durch zunehmende Spezialisierung nur noch bestimmten Teilbereichen des menschlichen Körpers, etwa dem Herzkreislaufsystem oder dem Magen-Darm-Trakt, widmet.64 Offenbar sah Bürger gerade in der Alternsforschung die Möglichkeit, sich dem Gesamtorganismus Mensch und seinen altersabhängigen Umwandlungsprozessen zu widmen, anstatt sich als Experte für ein isoliertes Organ oder Organsystem zu spezialisieren. Die Alternsforschung erhält nun auch ein eigenes Kapitel in Bürgers Lehrbuch; die Überschrift dieses Abschnitts (»Altern und Krankheit«) wird er elf Jahre später auch als Titel für seine Monographie zur Alternsforschung wählen. Im ersten Satz dieses neuen Kapitels bezieht Bürger nochmals Stellung zugunsten einer Deutung des Alterns als physiologischer Vorgang: Sehr viele im Laufe des Lebens im menschlichen Körper eintretende Veränderungen, welche seine Funktionen mehr oder weniger beeinträchtigen, sind nicht die Folge pathologischer, sondern physiologischer Vorgänge. Sie sind aufs engste verknüpft mit den Erscheinungen des Alterns, welche schicksalsmäßig eintreten und irreversibel sind.65

Durch explizite Erwähnung der Irreversibilität des Alternsvorgangs grenzte sich Bürger von den Verjüngungsversuchen ab, die Mediziner wie Benno Romeis, Eugen Steinach, Serge Voronoff und andere in den 1920er Jahren unter anderem durch Verpflanzung von Keimdrüsen unternahmen.66 Während Voronoff vorschlug, »gegen das Alter vorzugehen wie gegen eine Krankheit«67, betrachtete Bürger das Alter nicht als Feind, den es zu besiegen galt, sondern bemühte sich um eine deskriptive Analyse dieses aus seiner Sicht natürlichen und unausweichlichen Vorgangs. Den Verjüngungsversuchen lag die Vorstellung eines zweiphasigen Alternsprozesses zugrunde: Auf die Alterung von Keimdrüsen, Gefäßen und Organen folge sekun63 »Modern science has confirmed the early views that senescence is characterized by losses of water from various parts of the body. Today this is a well established phenomenon because it is one of the most marked changes and because the determination is a simple measurement.« McCay (1939), S. 592. 64 Bürger (1936), S. III. 65 Bürger (1936), S. 434 (Hervorhebungen im Original). 66 Siehe beispielhaft Romeis (1931). Zu den Verjüngungsexperimenten und ihren Anhängern siehe Stoff (2004) und Stambler (2012). 67 Voronoff (1928), S. 32.

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där die Alterung des gesamten Körpers. Gelänge es, den primären Alternsprozess aufzuhalten, etwa durch Hodentransplantationen, könnte man den Gesamtorganismus vor der Vergreisung bewahren, so die Hoffnung der Wissenschaftler. Bürger lehnte diese Theorie ab und vertrat die Ansicht, dass sich das Altern von Organismus und Organen synchron vollziehe. Eine Beeinflussung dieses Prozesses sei auf keiner Ebene möglich und das Altern nicht reversibel.68 In den Abschnitten, die der klinischen Altersmedizin gewidmet sind, vertritt Bürger eine eher defizitorientierte Sicht. Die Wundheilung verlaufe langsamer, die allgemeine Muskelkraft schwinde und die Vitalkapazität der Lunge verringere sich – all dies führe letztlich zu einer abnehmenden Gestaltungskraft des alten Menschen.69 Allerdings gehe die verminderte Vitalität mit einer Steigerung des Intellekts einher, Geist und Seele drängten beim alten Menschen auseinander. Darüber hinaus lasse die »hormonale Warmtönung« der Seele nach, was sich unter anderem in einem nachlassenden Genesungswillen älterer Patienten äußere.70 Die Betonung eines vermeintlich schwächer werdenden Genesungswillens lässt insofern aufhorchen, als Gesundheit und Arbeitsfähigkeit im Nationalsozialismus geradezu als »sittliche Pflicht« galten und somit dem Willen zur Genesung eine erhebliche, auch moralisch aufgeladene Bedeutung zukam.71 Abgesehen von solchen moralisierenden Andeutungen zum Krankheitsverhalten älterer Menschen stieg Bürger jedoch nicht tiefer in den Diskurs über die von den Nationalsozialisten propagierte Pflicht zur Gesundheit ein. Alles in allem deutet sich in Bürgers Lehrbuch von 1936 eine vorsichtige Abkehr von einer rein materialistischen Denkweise in Bezug auf die Erklärung von Alternsvorgängen an. So stellt Bürger etwa fest, dass sich das Phänomen des Alterns keinesfalls allein auf chemische oder histologische Veränderungen reduzieren lasse.72 Neben philosophischen Überlegungen findet sich in dem Buch auch eine unübersehbare Skepsis gegenüber der Medikalisierung des Alterungsprozesses, etwa in Form einer unkritischen Pharmakotherapie: Eine Ehrfurcht vor dem feinen Spiel der korrelativen Verknüpfungen, vor der Tatsache, daß auch die Krankheit in den allermeisten Fällen ein Akt der Selbsthilfe des Organismus gegen die krankmachende Ursache ist, wird den zukünftigen Arzt davor bewahren, mit rauher und ungeschickter Hand und durch Verordnung unnötig vieler und störend großer Drogenmengen in das natürliche Heilgeschehen einzugreifen.73

68 Vgl. Bürger (1936), S. 439. 69 Bürger (1936), S. 436-438. 70 Bürger (1936), S. 435, 438. 71 Eckart (2012), S. 171. Siehe übergreifend Bruns (2009). 72 Vgl. Bürger (1936), S. 434. 73 Bürger (1936), S. IV.

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Zu diskutieren wäre, ob Bürger mit der Betonung des »natürlichen Heilgeschehens« eine bewusste Anleihe bei der von den Nationalsozialisten geförderten, naturheilkundlich ausgerichteten »Neuen deutschen Heilkunde« machte. Gerade dem Schulmediziner Bürger dürfte der Mitte der 1930er Jahre seinem Höhepunkt zustrebende Kult um die Alternativmedizin keineswegs verborgen geblieben sein. Einem vor allem naturwissenschaftlich ausgerichteten Forscher wie ihm war diese Entwicklung, die vom einflussreichen »Reichsärzteführer« Gerhard Wagner persönlich gefördert wurde, sicher nicht zuträglich, sowohl im Hinblick auf Bürgers Auffassung von Wissenschaft als auch hinsichtlich seiner Karriere. Die vorsichtige Öffnung zur von den Nationalsozialisten geforderten ganzheitlich-biologischen Medizin ließe sich vor diesem Hintergrund, ähnlich wie der in dieser Zeit erfolgte Eintritt in die NSDAP, durchaus auch als karrierefördernde Maßnahme interpretieren. Meilenstein der Institutionalisierung: Die Zeitschrift für Altersforschung Am Ende eines wissenschaftlich äußerst fruchtbaren Jahrzehnts, das ihm 1937 den Ruf auf den renommierten Lehrstuhl für Innere Medizin an der Universität Leipzig eingebracht hatte, unternahm Bürger zwei für die Institutionalisierung der Alternsforschung zentrale Schritte: 1938 gründete er die Deutsche Gesellschaft für Altersforschung74 sowie (zusammen mit dem Leopoldina-Präsidenten Emil Abderhalden) die Zeitschrift für Altersforschung75. Mit Bürger und dem international renommierten Abderhalden wurde die Zeitschrift von zwei prominenten Wissenschaftlern herausgegeben und erwies sich als nachhaltiger Erfolg.76 Es handelte sich jedoch nicht, wie mit74 1939 erfolgte die Umbenennung in Deutsche Gesellschaft für Alternsforschung. Auch nach mehrfachen Anfragen an deren Nachfolgeorganisation, die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, erhielten die Verfasser nur hinhaltende Antworten und letztlich keinen Zugang zu Archivmaterialien aus der Gründungszeit. 75 Der Untertitel lautete »Organ für Erforschung der Physiologie und Pathologie der Erscheinungen des Alterns«. Abderhalden hatte bis 1938 die Zeitschrift Ethik herausgegeben. Nachdem ein offener Diskurs über medizinethische Fragen unter den Nationalsozialisten immer schwieriger geworden war und zudem die Zahl der Abonnenten immer weiter sank, stellte Abderhalden die Zeitschrift ein. Nicht zuletzt sah er auch viele seiner darin erhobenen Forderungen durch die nationalsozialistische Gesundheitspolitik als erfüllt an. Vgl. Abderhalden an Kurator der Universität Halle, 26.9.1935. UAH, Rep. 11, PA 3826. Siehe auch Frewer (2000), S. 108-111. Nach Einstellung der Ethik schien Abderhalden bereit zu sein, die entsprechende Arbeit in ein rein medizinisches, politisch unverdächtigeres Blatt zu investieren. Über die Beziehung zwischen Bürger und Abderhalden ist wenig bekannt. Leider befindet sich nach Aussage des Archivs der Leopoldina der Nachlass des 1950 verstorbenen Abderhalden für längere Zeit in Bearbeitung und ist nicht einsehbar. Briefe zwischen Bürger und Abderhalden befänden sich dort jedoch mutmaßlich nicht, so die schriftliche Auskunft des Archivs der Leopoldina an die Verfasser vom 19.5.2014. 76 Bürger selbst erklärte den Erfolg der Zeitschrift mit dem »Weltruf« seines Mitherausgebers Abderhalden, vgl. Bürger (1944/51), S. 140. Verzár zufolge gab jedoch Bürger

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unter behauptet wird, um das weltweit erste Journal auf diesem Fachgebiet. Mit der von Josef Kluger edierten Zeitschrift Alters-Forschung und dem Periodikum Altersprobleme. Zeitschrift für internationale Altersforschung und Altersbekämpfung des Institutes für Altersforschung und Altersbekämpfung im damals rumänischen Chisinau gab es zwei Vorgänger. Beide trafen jedoch auf keinen nennenswerten Widerhall in der Fachwelt, fanden nur wenige Abonnenten und blieben daher kurzlebige Projekte.77 Die von Bürger und Abderhalden betreute Zeitschrift für Altersforschung konnte hingegen trotz des Krieges bis ins Jahr 1944 erscheinen. Nach einer kriegsbedingten Unterbrechung führte Bürger sie 1951 fort – nun ohne den 1950 verstorbenen Mitherausgeber Abderhalden. Im Geleitwort zum ersten Nachkriegsheft dankte Bürger ausdrücklich »den entscheidenden Ministerien der DDR« für die Möglichkeit, seine Forschungen fortzusetzen und die Zeitschrift wieder erscheinen zu lassen.78 1956 erhielt sie den leicht geänderten Titel Zeitschrift für Alternsforschung. Aus dem verschlungenen Prozess der Spaltung und Wiedervereinigung der Fachgesellschaft im Zuge der deutschen Teilung ging 1995 die noch heute existierende Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie hervor; die Zeitschrift für Alternsforschung wurde 1991 eingestellt.79 In ihrer einführenden Stellungnahme im ersten Heft der neuen Zeitschrift betonten Abderhalden und Bürger einmal mehr ihre Auffassung vom Al-

der Zeitschrift »den eigentlichen Charakter«: Verzár (1973), S. 146. 77 Klugers Zeitschrift bestand von 1935 bis 1937, vgl. Schmorrte (1990), S. 16. Die Zeitschrift Altersprobleme, erstmals 1937 erschienen, kam ebenfalls über einige wenige Hefte nicht hinaus. Ihr Herausgeber war der Alternsforscher Anatolie Dimitrievici Kotsovsky (1864-1937), gefolgt von seinem Sohn Dimu Kotsovsky (1896-1965). Über das von ihnen geleitete Institut für Altersforschung und Altersbekämpfung gibt ein Bericht der deutschen Gesandtschaft in Bukarest an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung aus dem Jahr 1935 Auskunft: »Das Institut für Altersforschung in Kischineff [Chisinau – S. B. & F. B.] ist ein Unternehmen, mit dem sich der junge Dr. Kotsovsky eine gewisse Stellung und vielleicht künftig einen bescheidenen Verdienst zu verschaffen hofft. Er lebt im Hause seines Vaters, der als Leiter der Irrenanstalt in Kischineff sein Auskommen findet und da er selber ohne festen Beruf ist, wendet er seine Zeit dieser wissenschaftlichen Forschung zu. […] Der Versuch, dem sogenannten Institut durch eine Reihe korrespondierender Ehrenmitglieder eine gewisse Bedeutung zu verleihen, hat Erfolg gehabt […]. Ein wissenschaftliches Urteil konnte nicht beschafft werden. Ein deutscher Arzt, den ich fragte, meinte, daß Vater und Sohn ernsthafte Leute wären.« UAH, Rep. 11, PA 3826. 78 Bürger/Steinkopff (1944/51), S. 138. 79 Seit 1968 fungierte die Zeitschrift für Alternsforschung als Organ der gleichnamigen Fachgesellschaft in der DDR. 1977 erfolgte die Umbenennung in Gesellschaft für Gerontologie der DDR, die Zeitschrift behielt ihren traditionsreichen Namen dagegen bis zu ihrer Einstellung 1991 bei. Zwischen 1968 und 1994 erschien in der Bundesrepublik die Zeitschrift für Gerontologie als Organ der westdeutschen Fachgesellschaft. Der Zusammenschluss beider Fachgesellschaften 1991 führte 1995 zur Gründung der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie.

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tern als einem physiologischen, »normalen« Vorgang.80 Im Hinblick auf die Ziele der Zeitschrift und der Alternsforschung allgemein offenbarten sie jedoch eine gewisse programmatische Unentschlossenheit. War Bürger bis dato vor allem an Grundlagenforschung und in zweiter Linie auch an der Vermittlung klinisch relevanten Wissens gelegen, so wurde jetzt die Anwendbarkeit der Alternsforschung in bevölkerungspolitischen und leistungsmedizinischen Zusammenhängen propagiert. Das Credo der Unumkehrbarkeit des Alterns behielt Bürger zwar bei, erklärte nun aber das Hinausschieben der Alterserscheinungen zugunsten einer längeren Arbeitsfähigkeit des alten Menschen zum Ziel seiner Alternsforschung.81 Sogenannte Verjüngungsversuche lehnte Bürger zwar weiterhin als »Trugbild einer widernatürlichen Renaissance des gealterten Einzelindividuums« ab.82 Bemühungen, das Altern hinauszuzögern, die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen möglichst lange zu erhalten und damit »einen Baustein zu liefern für eine physiologische Arbeitsökonomie der gesamten Volkskraft«, gehörten aber seit 1934 zu den von Bürger formulierten Aufgaben der Alternsforschung.83 Weniger das Alter selbst stand damit im Zentrum des Forschungsinteresses als vielmehr der Gesundheitszustand und der Grad der Leistungsfähigkeit des alten Menschen bzw. des »Volkskörpers«. Die Ankündigung, der nationalsozialistischen Leistungsmedizin zuzuarbeiten, wurde von der Zeitschrift jedoch nur zum Teil eingelöst. In den abgedruckten Beiträgen dominieren experimentelle Zugänge, die den Alternsprozess vorwiegend unter biologischen und weniger unter sozialen oder arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten zu erfassen suchen.84 Bürgers Sicht auf das Alter blieb grundsätzlich defizitorientiert. In seinem ersten Aufsatz für die neue Zeitschrift nahm die Schilderung körperlicher Abbauprozesse im Alter breiten Raum ein.85 Eine 1943 von Bürger veröffentlichte Originalarbeit (»Über die Ökonomie körperlicher Arbeit in den verschiedenen Altersstufen«) vermag zwar eine Abnahme der Leistungsfähigkeit im Alter nachzuweisen, brachte darüber hinaus aber kein eindeutiges Ergebnis hervor, da die Versuche auch im jugendlichen Organismus arbeitsökonomische Effizienzdefizite zeigten.86 Für den leistungsmedizinischen Diskurs verwertbare Aussagen ließen sich aus den Experimenten nicht ableiten. Die Formulierung einer in diese Richtung zie80 Abderhalden/Bürger (1938/39), S. 1. 81 Abderhalden/Bürger (1938/39), S. 2. 82 Bürger (1934), S. 1291. 83 Bürger (1934), S. 1291. 84 Siehe beispielsweise Bürgers Aufsatz zur »Bedeutung des Alternsvorgangs für die Klinik«, mit dem er die neugegründete Zeitschrift 1938 eröffnete. Darin spielen erneut die bradytrophen Gewebe, die Austrocknung des alternden Organismus sowie die Einlagerung von Stoffwechselabbauprodukten eine zentrale Rolle, vgl. Bürger (1938/39). 85 Vgl. Bürger (1938/39). 86 Bürger/Hauß (1942/44), S. 235f.

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lenden Fragestellung brachte Bürger jedoch eine Projektförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein.87 Neben der dominierenden Grundlagenforschung bot die Zeitschrift für Altersforschung von Anfang an auch der Altersmedizin, der Geriatrie, ein Forum. Fragestellungen, die auf Erkrankungen und die entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten des alten Menschen abzielten, richteten sich an klinisch tätige Ärzte – neben Biologen das zweite Zielpublikum des Fachorgans. Eine Auszählung aller zwischen 1938 und 1944 in der Zeitschrift erschienenen Originalarbeiten ergibt, dass sich 20 der 87 publizierten Arbeiten mit Fragen zur Altersheilkunde beschäftigen.88 Den Blick nicht nur isoliert auf die Alterserscheinungen und ihr pathophysiologisches Korrelat, sondern auch auf das Krankheitsspektrum alter Menschen zu richten, stärkte den gesellschaftspolitischen Bezug der Zeitschrift, der für ihr Bestehen während der Kriegsjahre sicher nicht unwichtig war. Diesen Anwendungsbezug hatte auch ein Mitarbeiter Bürgers vor Augen, als er die künftige Relevanz der Altersmedizin vor dem Hintergrund der demographischen Folgen des Krieges thematisierte. Das Fach könne von den kriegsbedingten Verlusten innerhalb der jüngeren Bevölkerung profitieren: Man denke nur daran, daß infolge dieses zweiten Weltkriegs durch die Reduzierung jüngerer Jahrgänge der alternde Bevölkerungsanteil prozentual wiederum einen Zuwachs erhält. Der Arzt wird also in der Nachkriegszeit weit mehr alte Patienten zu behandeln haben, als das bisher der Fall war.89

Bürgers Eintreten für die Etablierung der Alternsforschung als neue Fachdisziplin war nicht frei von Widersprüchen. Einerseits diente ihm die Entstehung der Pädiatrie als Vorbild der Institutionalisierung90, andererseits 87 Vgl. Bürger/Hauß (1942/44), S. 229. Thiene zufolge habe sich Bürger mit seiner Studie zur Arbeitsökonomie der leistungsmedizinisch geprägten Denkweise – und damit auch der Ideologie – der Nationalsozialisten zugewandt, vgl. Thiene (2010), S. 56f. Ähnlich auch Hahn (1994). Wir vermuten dagegen, dass Bürger eher pragmatisch handelte und bei der Konzeption von Studien und Fragestellungen dem forschungspolitischen Zeitgeist folgte. Auch das zeugt gleichwohl von einer mindestens fahrlässigen Bedenkenlosigkeit gegenüber den Zielen der NS-Gesundheitspolitik. 88 Beispielhaft seien nur folgende Titel genannt: »Narkosefragen in der Alterschirurgie«, »Über die Herzschwäche im Alter und ihre Behandlung«, »Der Verlauf der Leukämien in Abhängigkeit vom Lebensalter«, »Klinik und Verlauf der Pneumonie in höheren Lebensaltern«, »Selbstmord und Alter«. 89 Müller (1942/44), S. 315. 90 »Einen großen Ansporn für das Bestreben, die Erforschung des alternden Organismus vorwärts zu treiben zum Segen der Menschheit liefert die gewaltige Entwicklung der Säuglings- und Kinderheilkunde. Die Zeiten liegen nicht weit zurück, in denen die Schaffung der Sonderdisziplin ›Kinderheilkunde‹ auf starken Widerstand stieß. Seit jener Zeit sind Forschungen und Lehre auf dem Gebiet des wachsenden Individuums unaufhaltsam vorwärts geschritten. […] Ohne Zweifel wird nach einigen Jahren es als ebenso selbstverständlich betrachtet werden, daß dem alternden Organismus besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.« Abderhalden/Bürger (1938/39), S. 2.

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hatte er sich zuletzt mehrfach gegen die fortschreitende Spezialisierung der Inneren Medizin und für die Renaissance einer möglichst ganzheitlichen Sichtweise auf den Patienten ausgesprochen. Entgegen dem allgemeinen Tenor, wonach einer weiteren Spezialisierung der Medizin vorgebeugt werden müsse, setzte er sich jetzt selbst für die Gründung einer neuen Subdisziplin ein. Fragt man nach der Interdisziplinarität des neuen Publikationsorgans, das der gerontologischen Forschung ab 1938 zur Verfügung stand, so fällt der Blick zunächst auf die Reihe der weiteren Herausgeber der Zeitschrift für Altersforschung. Hier finden sich der Internist Alfred Schittenhelm (München), der Pharmakologe Adolf Jarisch (Innsbruck) und der Pathologe und Anatom Albert Dietrich (Tübingen). Ein gewisser fachübergreifender Anspruch ist somit bereits erkennbar. Die Tatsache, dass alle Herausgeber von Hause aus Mediziner waren, lässt gleichzeitig erkennen, dass Bürger die Erforschung des Alters und des Alterns vornehmlich als medizinische Aufgabe begriff und sich, etwa gegenüber der Psychologie, die entsprechende Deutungshoheit sichern wollte.91 Als Zielpublikum der Zeitschrift für Altersforschung bezeichnete Bürger »den Kliniker wie den auf diesem Gebiete interessierten Biologen«.92 Tatsächlich erschienen in der Zeitschrift in den Folgejahren auch zahlreiche Beiträge anderer klinischer Fächer, wie etwa Aufsätze des Psychiaters Hans Walter Gruhle zu psychologischen und psychiatrischen Aspekten des Alterns, daneben Abhandlungen aus dem Bereich der Chirurgie oder Kinderheilkunde. Vereinzelt ging der Blick auch über die Medizin hinaus und Vertreter anderer Wissenschaftsdisziplinen kamen zu Wort, etwa der Biologe und Philosoph Hans Driesch (1867-1941) mit einem Beitrag »Zur Problematik des Alterns« oder der Psychologe Karl Marbe mit zwei Studien zur Dauer des menschlichen Lebens.93 Trotz der zahlreichen Anknüpfungspunkte, die sich zwischen der Alternsforschung und der nationalsozialistischen Leistungsmedizin ergaben, blieb die Zeitschrift für Altersforschung nach Ansicht von Susanne Hahn »weitgehend ideologiefrei«.94 In der Tat finden sich in den Aufsätzen, Rezensionen 91 Psychologen hatten sich bereits in den 1920er Jahren mit dem Altern beschäftigt und konnten deshalb am ehesten von Medizinern als »Konkurrenten« wahrgenommen werden. Siehe etwa Fritz Gieses Untersuchung des subjektiven Alterserlebens: Giese (1928). Mit ihrem 1933 erschienenen Werk »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem« reklamierte auch die Psychologin Charlotte Bühler (1893-1974) die Erforschung verschiedener Altersphasen für ihr Fach, vgl. Bühler (1933). Auf diesem Weg wurde sie unter anderem zur Mitbegründerin der Gerontopsychologie. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurde Bühler 1938 in die Emigration getrieben. 92 Bürger (1938/39), S. 3. 93 Siehe Driesch (1941/42), Marbe: Geburtstage (1942/44) und Marbe: Lebensdauer (1942/44). 94 Hahn (1994), S. 221.

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und Sammelreferaten nur selten Anleihen beim Nationalsozialismus. Eine Ausnahme stellt ein Beitrag des Innsbrucker Pädiaters Richard Priesel über den Diabetes mellitus bei Jugendlichen dar, in dem dieser seinen eugenischen und teils auch antisemitischen Überzeugungen freien Lauf ließ.95 Bürger selbst enthielt sich in seinen Beiträgen für die Zeitschrift politisch gefärbter Äußerungen völlig. Zur gleichen Zeit fanden seine Forschungen auch international Anerkennung. Mehrfach wird er in dem 1939 von Edmund Vincent Cowdry herausgegebenen Standardwerk der amerikanischen Alternsforschung »Problems of Ageing« zitiert.96 Nathan Shocks »Classified Bibliography of Gerontology and Geriatrics« listet immerhin 16 seiner ausnahmslos deutschsprachigen Publikationen auf.97 »Nascentes morimur« – Das Buch »Altern und Krankheit« Im Oktober 1945 wurde Max Bürger infolge seiner NSDAP-Mitgliedschaft als Klinikdirektor entlassen, jedoch blieb er anschließend nicht beschäftigungslos. So stellte er unter anderem sein umfassendes Lehrbuch zur Alternsforschung fertig, in das die Erkenntnisse seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit und der seiner Schüler einflossen. Als das über 400 Seiten starke Buch »Altern und Krankheit« 1947 trotz Papiermangels und anderer zeitbedingter Schwierigkeiten erschien, war Bürger bereits wieder in sein Amt als Klinikdirektor eingesetzt worden. Das Anliegen des Werkes sei, so der Autor, »den physiologischen Wandlungen unseres Körpers im Laufe des ganzen Lebens in ihren Beziehungen zu den Krankheiten nachzugehen«.98 In einer der zahlreich erschienenen Rezensionen nannte der Pathologe Walther Fischer das Buch die »Zusammenfassung einer ganzen Lebensarbeit«.99 Bis 1960 erschienen vier Auflagen, in deren Verlauf das Buch auf über 700 Seiten anwuchs. Bis heute zählt es zu den Standardwerken der Gerontologie.100 Anschließend an die zu Beginn dieses Beitrags formulierten Fragestellungen soll das Buch im Folgenden vornehmlich auf zwei Aspekte hin untersucht werden. Erstens: Lassen sich interdisziplinäre Ansätze darin ausmachen? Zweitens: Hat sich Bürgers Perspektive auf das Alter und seine Erforschung geändert? Wenn ja, an welchen Überlegungen und Erkenntnissen lässt sich dies ablesen? 95 Vgl. Priesel (1938/39). 96 In den Kapiteln »Chemical aspects of ageing« und »Ageing of homeostatic mechanisms« werden fünf von Bürgers Studien angeführt, vgl. Cowdry (1939). Zur Bedeutung dieses Buches siehe Wahl/Heyl (2004), S. 92f. Zu Cowdry: Park (2008). 97 Vgl. Shock (1951). 98 Bürger (1947), S. IV. Im Folgenden beziehen wir uns auf diese erste Auflage von 1947. 99 Fischer (1949), S. 234. 100 Zu dieser Einschätzung kommen u. a. Ries (1985), S. 31, Hauss (1992), S. 276, und Stambler (2012), S. 111.

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Wie oben dargelegt, verrät bereits die Auswahl der in der Zeitschrift für Altersforschung erschienenen Originalarbeiten eine gewisse Offenheit der Herausgeber für Forschungsansätze anderer Fachrichtungen, teils auch jenseits der Medizin. Im Rezensions- und Referateteil der Zeitschrift wurden ebenfalls nicht nur natur-, sondern auch geisteswissenschaftliche Arbeiten besprochen.101 In seinem Spätwerk »Altern und Krankheit« von 1947 zog Bürger ebenfalls Erkenntnisse anderer Fachdisziplinen zur Untermauerung seiner eigenen Forschungen heran. Neben Ergebnissen aus der Pathologie, Kreislaufphysiologie und Kardiologie, die er beispielsweise im Kapitel »Die Alternswandlungen der Herzfunktion« ausführlich berücksichtigte102, wendete er sich auch psychosomatischen Erklärungsmodellen zu, etwa für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Damit griff er eine Strömung auf, die seit den frühen 1930er Jahren im Bereich der Inneren Medizin zunehmend an Bedeutung gewonnen hatte. Bürger vermutete bei der Entstehung diverser Erkrankungen eine Beteiligung psychischer oder psychosozialer Faktoren. So spielten »seelische Erregungen, Schrecken, Angst und Sorge« etwa bei der akuten Herzinsuffizienz eine wichtige Rolle.103 Das gehäufte Auftreten von Magengeschwüren und akuten Herzbeschwerden während des Krieges führte er auf die seelische Belastung bzw. psychische Traumatisierung durch die Kriegsereignisse sowie auf die allgemein »gesteigerte Hast und Ruhelosigkeit« zurück.104 Auch die im Krieg gegenüber der Friedenszeit stark gestiegene Zahl an Patienten mit Angina pectoris konnte Bürger statistisch nachweisen.105 Die Entstehung einer typischen Alterserscheinung wie der Arteriosklerose betrachtete Bürger nicht mehr, wie noch in den 1930er Jahren, vorwiegend unter dem Aspekt der Ablagerung von Stoffwechselabbauprodukten, sondern brachte psychosoziale Aspekte ins Spiel. So empfahl er zur Behandlung der Angina pectoris: Wichtig ist die Ausschaltung schädlicher Umweltsreize [sic!]. Unerquickliche Familienverhältnisse, Ärger oder überbelasteter Beruf, unzureichende Ruhepausen, mangelnder Schlaf müssen bekämpft werden, wenn irgend möglich, durch einen Wechsel des Milieus auf längere Zeit.106

Neben den üblichen Nitraten kämen demnach, so Bürger, auch Beruhigungsmittel – vom Baldrian bis zum Barbiturat – in Betracht.107 Die Ver101 Siehe etwa die Besprechung von Paul Herres Buch »Schöpferisches Alter. Geschichtliche Spätaltersleistungen in Überschau und Deutung« durch Abderhalden in Zeitschrift für Altersforschung 2 (1940), H. 1, S. 48f. 102 Bürger (1947), S. 147-154. 103 Bürger (1947), S. 253. 104 Bürger (1947), S. 244. Vgl. auch S. 255f., 273. 105 Vgl. Bürger (1947), S. 254. Überdies kann Bürger zeigen, dass neben der Inzidenz auch die Letalität der Angina pectoris während des Krieges deutlich erhöht war. 106 Bürger (1947), S. 256. 107 Bürger (1947), S. 256.

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wendung des Milieubegriffs deutet auf die Rezeption multifaktorieller – und damit auch interdisziplinärer – Krankheitskonzepte durch Bürger hin. In die Beschreibung einzelner geriatrischer Fallbeispiele ließ er auch Zeitumstände wie etwa die kriegsbedingte Reaktivierung berenteter Arbeitnehmer und die daraus folgenden gesundheitlichen Probleme einfließen.108 Exogene Stressoren (Krieg, überfordernder Beruf, schwierige Familiensituation, beschleunigte Lebensweise) sah er auch bei der Entstehung von Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren am Werk und führte als therapeutische Option eine entsprechende Veränderung des sozialen Umfelds an.109 Neben psychosomatischen Überlegungen ließ Bürger auch philosophische Fragen in sein Buch »Altern und Krankheit« einfließen. Relativ breit setzte er sich mit den vitalistischen Anschauungen des Biologen und Philosophen Hans Driesch auseinander, der noch kurz vor seinem Tod 1941 in der Zeitschrift für Altersforschung einen Aufsatz »Zur Problematik des Alterns« publiziert hatte. Bürgers Auffassung zufolge könne kein Alternsforscher der »Frage nach dem Wesen des Lebendigen« ausweichen. Er selbst, so Bürger, sei von der »Eigengesetzlichkeit oder Autonomie alles Lebendigen zutiefst überzeugt. Das Leben wird von einem übermechanischen Prinzip beherrscht. Ob man dieses Prinzip Entelechie oder Vitalfaktor nennt, ist bedeutungslos.«110 Bürgers Nähe zu den Positionen Drieschs tritt hier deutlich hervor.111 Zudem berief er sich auf Arbeiten des Biologen Jakob Johann von Uexküll. Alles in allem lässt sich somit durchaus von einem interdisziplinären Denken in Bürgers Spätwerk sprechen, das auch außermedizinische Wissensbereiche berücksichtigt. Blickt man auf den Gesamtumfang von »Altern und Krankheit«, so nehmen die entsprechenden Passagen jedoch weniger als fünf Prozent des Buches ein; der Anteil medizinischbiologischer Erkenntnisse dominiert in Bürgers Kompendium also bei weitem. Zudem dürfen Bürgers Überlegungen nicht mit einem interdisziplinären Wissenschaftsverständnis moderner Prägung verwechselt werden, das Ergebnisse anderer Fachrichtungen nicht nur rezipiert, sondern deren Vertreter auch aktiv in Forschungsprojekte einbezieht. Ein solches Vorgehen, für das nach dem Zweiten Weltkrieg die Vereinigten Staaten Pate standen, scheint sich in der deutschsprachigen Alternsforschung tatsächlich erst ab den 1960er Jahren durchgesetzt zu haben.112 Als altgedientem Ordinarius, 108 Bürger (1947), S. 253. 109 Vgl. Bürger (1947), S. 273. 110 Bürger (1947), S. 31f. 111 Für Stamblers Behauptung, Bürger sei Drieschs engagiertester Anhänger (»his most dedicated proponent«) gewesen, sehen wir jedoch keine ausreichenden Belege. Vgl. Stambler (2012), S. 113. 112 Vgl. Blessing (2011), S. 124-127, u. a. mit Verweis auf Ursula Lehr. Inwieweit Bürger über die Bildung von Forschungsverbünden und speziellen Instituten zur Alternsforschung in den USA informiert war, lässt sich schwer abschätzen. Immerhin zitiert er in »Altern und Krankheit« 47 englischsprachige Arbeiten, die jedoch bis auf eine

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der für sich in Anspruch nahm, neben der Altersforschung auch die gesamte Innere Medizin in einer Person zu vertreten, wäre für Bürger die Idee eines kooperativen Forschungsverbunds nur schwer vorstellbar gewesen. Ihm kam es primär auf die Deutungshoheit der Medizin, wenn nicht gar seiner eigenen Klinik an; am häufigsten zitiert er in »Altern und Krankheit« sich selbst und seine Schüler – Letztere meist mit der Bemerkung, er selbst habe diese Arbeiten angeregt.113 Abgesehen von den vorhandenen, wenn auch eher dezenten interdisziplinären Ansätzen im Kompendium »Altern und Krankheit« stellt sich die Frage, ob sich Bürgers Sicht auf den Alternsvorgang im Vergleich zu früheren Arbeiten im Laufe der Zeit verändert hat. Beginnt man mit Bürgers Definition von Altern, so präsentiert sich diese als relativ konsistent. Bereits in seinen frühen Schriften hatte er den Alternsprozess als natürlichen, physiologischen Vorgang bezeichnet. 1947 stellte er ergänzend fest: »Das Altern gehört wie Geburt und Tod zu den Urphänomenen des Lebens. […] Das Altern ist ein Vorgang, der mit der Geburt beginnt: ›nascentes morimur‹.« An gleicher Stelle folgte seine klassische Definition: »Altern bedeutet […] jede irreversible Veränderung der lebenden Substanz als Funktion der Zeit.«114 Bürgers Schüler Werner Ries erweiterte später diese Benennung mit Blick auf das soziale Gefüge, in dem sich das Altern vollzieht, um eine weitere Dimension: »Altern ist jede irreversible Veränderung der lebenden Substanz als Funktion von Zeit und Raum.«115 Erst mit dieser Ergänzung wird Bürgers Definition vom Altern der dynamischen Beziehung von Mensch und Umwelt im Sinne einer sozialen Gerontologie vollständig gerecht. Stärker als zuvor bemüht sich Bürger in »Altern und Krankheit«, den Alterungsprozess als Ausdruck der permanenten Veränderung eines jeden Individuums darzustellen. Der menschliche Organismus ist seiner Ansicht nach einem ständigen Wandel unterworfen, so dass man nicht von der Existenz einer lebenslang gleichbleibenden materiellen Identität des Menschen ausgehen dürfe. Niemals kann die gleiche Krankheit denselben Menschen zweimal befallen. Denn wie wir niemals zweimal in denselben Fluß steigen können, so fällt die Krankheit in den Fluß des lebendigen Geschehens – die Biorheuse – und trifft den Organismus notwendig zu verschiedenen Zeiten […].116

Weiterhin fällt auf, dass Bürger seine in den 1930er Jahren stark defizitorientierte Sicht auf das Alter 1947 verlässt und in eine die Ressourcen und Ausnahme bereits vor 1939 erschienen sind. Dies könnte darauf hindeuten, dass Bürger durch Krieg und Nachkriegszeit die internationale Entwicklung in seinem Fach nicht mehr verfolgen konnte. 113 Vgl. exemplarisch Bürger (1947), S. 11, 134, 141. 114 Bürger (1947), S. 1. 115 Pickenhain/Ries (1988), S. 41. 116 Bürger (1947), S. 130.

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Potentiale des höheren Lebensalters stärker betonende Deutung überführt. Besonders deutlich wird dies im letzten Kapitel, das sich mit dem »Altern und Reifen des Arztes« auseinandersetzt. Bemerkenswert ist der Perspektivwechsel, den der inzwischen selbst alt gewordene Bürger hier vollzieht. Im Zentrum dieses Kapitels steht weniger der alternde Patient als der zum Greis werdende Arzt. Diesem schreibt Bürger zwar ein Nachlassen der technischhandwerklichen Leistungsfähigkeit zu, gleichzeitig gewänne er aber an Erfahrung und Einfühlungsvermögen.117 Über die Figur des Arztes nähert sich Bürger nun auch der bis dato von ihm kaum erwähnten Patient-ArztBeziehung an und kommt so auf die soziale Dimension des Alterns zu sprechen. Beinahe – sich selbst? – tröstend postuliert er, dass Patienten ihr Vertrauen grundsätzlich eher einem älteren Arzt schenken würden und »daß auf geistigem Gebiet die klassischen Höchstleistungen bei vielen in die höheren Lebensalter fallen«.118 Sich explizit an Erich Rothackers Überlegungen zum Thema »Altern und Reifen« anlehnend, sieht Bürger das altersbedingte Nachlassen körperlicher Fähigkeiten durch den Zugewinn geistiger Kräfte kompensiert.119 Mit dem Historiker Paul Herre und dessen These vom »schöpferischen Alter« argumentierend, verwirft Bürger das Urteil seines berühmten ärztlichen Kollegen William Osler (1849-1919), der allen Männern über 60 weitgehende Nutzlosigkeit attestiert und die in diesem Alter noch Berufstätigen gar als Gefahr für die Allgemeinheit bezeichnet hatte.120 Zusammenfassung und Schlussüberlegungen Die Anfänge der gerontologischen Forschung in Deutschland sind eng mit der Person Max Bürger verbunden. Nach Stationen unter anderem in Kiel und Bonn wirkte der Internist von 1937 bis 1957 als Lehrstuhlinhaber und Direktor der Medizinischen Klinik in Leipzig, von wo aus er die Alternsforschung vorantrieb und entscheidend zu ihrer Institutionalisierung beitrug. Die vorstehende Analyse seiner wichtigsten Schriften zur Erforschung des Alterns erfolgte im Wesentlichen unter zwei Prämissen: Lässt sich in Bürgers Werk eine interdisziplinäre Herangehensweise an das Phänomen des Alterns erkennen? Und: Welche konzeptionellen Wandlungen – und welche Konstanten – kennzeichneten seinen Forschungsansatz, nicht zuletzt angesichts der den äußeren Rahmen bildenden verschiedenen politischen Systeme?

117 »Wenn der alternde Arzt auch das physiologische Nachlassen seiner diagnostischen Fähigkeiten mit den Jahren feststellt, so hat er auf der anderen Seite den Gewinn seiner zunehmenden Erfahrung.« Bürger (1947), S. 385. 118 Vgl. Bürger (1947), S. 382, 385 (Zitat). 119 Vgl. Bürger (1947), S. 385, sowie Rothacker (1939). 120 Vgl. Bürger (1947), S. 384, sowie Herre (1939).

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Hinsichtlich der Interdisziplinarität zeigt sich ein heterogenes Bild. Bürger ist zunächst vornehmlich an experimenteller Grundlagenforschung interessiert, die er sowohl an menschlichen als auch an tierischen Geweben durchführt. In dieser frühen Phase, etwa bis zum Erscheinen seiner überarbeiteten »Einführung in die pathologische Physiologie« im Jahr 1936, dominieren naturwissenschaftliche Fragestellungen und Untersuchungen. Mitte der 1930er Jahre, auch bedingt durch die Erwartungen und Konzepte der Medizin im Nationalsozialismus, rückt die demographische und soziale Dimension des Alterns etwas stärker in sein Blickfeld. Strategische Erwägungen zur Akzentuierung seines Forschungsgebietes in Medizin, Öffentlichkeit und Politik scheinen hierbei eine größere Rolle gespielt zu haben als inhaltliches Interesse. Dies zeigt das Spektrum der Beiträge in der 1938 von Bürger und dem Hallenser Physiologen Emil Abderhalden gegründeten Zeitschrift für Altersforschung. Hier finden sich zwar mitunter auch geisteswissenschaftliche Untersuchungen in Form von Originalarbeiten oder Referaten, es überwiegen aber naturwissenschaftlich-experimentelle Aufsätze, die sich bevölkerungspolitischer Anklänge weitgehend enthalten. Die Interdisziplinarität beschränkt sich auf medizinische Fächer wie Physiologie, Biochemie, Pathologie, Psychiatrie und andere. Auffällig ist, dass die Altersheilkunde – als Medizin für den alten Menschen – in der Zeitschrift ebenfalls unterrepräsentiert ist. Damit lässt sich die These von der relativ engen, medizinisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Forschungen Bürgers, wie sie beispielsweise Lehr und Baltes vertreten haben, einerseits bestätigen, andererseits aber auch differenzieren. Immerhin gab es vereinzelte Vorstöße in außermedizinische Fachgebiete, die nicht zuletzt auch von der entsprechenden Bereitschaft abhängig waren, sich thematisch der Erforschung des Alterns zuzuwenden. Innerhalb des medizinischen Fächerkanons ließen sich die Disziplinen leichter überschreiten, und diesbezüglich ist eine erstaunliche Themenvielfalt festzustellen. Diese Bewertung lässt sich im Wesentlichen auch auf Bürgers 1947 erschienenes Standardwerk »Altern und Krankheit« übertragen. Grundlagenforschung und klinische Medizin fungieren in dem Buch eindeutig als Leitwissenschaften. Allerdings erhalten psychosomatische und teils auch sozialmedizinische Konzepte nun erstmals ein stärkeres Gewicht. Daneben lässt Bürger zudem philosophische, meist in Richtung des Vitalismus zielende Überlegungen in das Buch einfließen. In der Gesamtschau kann in Bürgers Spätwerk somit durchaus von einem interdisziplinären Denken, das auch nichtmedizinische Wissensbereiche berücksichtigt, gesprochen werden. Bürger ein Defizit hinsichtlich aktiver, fächerübergreifender Forschungskooperationen vorzuhalten, ließe sich nur vordergründig rechtfertigen, da eine solche Kritik weder dem zeitgenössischen, eher monolithischen Wissenschaftsverständnis noch Bürgers generationeller Prägung gerecht würde. Ausgehend von seinem Selbstverständnis als Ordinarius alter Schule sah er sich als ein im Zentrum seines Fachgebietes stehender Ideengeber, der untergebene Mitarbeiter zur Bearbeitung seiner Forschungsfragen anleitete und

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sich, gelegentlich und eher unsystematisch, gedankliche Ausflüge in Nachbardisziplinen gestattete. Auch international blieb die Alternswissenschaft lange Zeit medizinisch ausgerichtet. Selbst Cowdrys wirkmächtiges Handbuch »Problems of Ageing« von 1939, das als früher Ausweis interdisziplinärer Alternsforschung gilt, war zunächst als biologisch-medizinisch orientiertes Werk konzipiert worden. Erst eine Intervention der finanzierenden Macy Foundation öffnete es für soziale und psychologische Aspekte.121 Unsere Analyse konnte außerdem zeigen, dass Bürgers Sicht auf das Alter nicht einer von Beginn an feststehenden und zielgerichteten Konzeption folgte122, sondern zwischen 1926 und 1947 durchaus Wandlungen unterworfen war, die sich auch in seinen Thesen und Forschungsansätzen niederschlugen. Die Untersuchung der Alternsvorgänge auf biochemischer Ebene und in allen Lebensaltersstufen bildete in den 1920er Jahren den Ausgangspunkt. Etwa ein Jahrzehnt später richtete sich Bürgers wissenschaftliches Interesse verstärkt auf arbeits- bzw. leistungsmedizinische Themen. Seine anwendungsbezogenen Forschungen zur Arbeitsökonomie des alternden Menschen, die Suche nach Normwerten und Leistungsgrenzen, wurden unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und orientierten sich an den Gegebenheiten und Erwartungen nationalsozialistischer Gesundheits- und Forschungspolitik. Zu den Zielen dieser Politik gehörten, insbesondere während des Krieges, die Erhöhung der Arbeitsproduktivität sowie die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit.123 Dieser Ressourcenmobilisierung arbeitet Bürger ein Stück weit entgegen. Zudem nimmt er klinisch-geriatrische Fragestellungen, die er bis dato eher am Rande behandelt hatte, vorübergehend stärker in den Blick. Dem NSRegime dient Bürger sich zumindest in formaler Hinsicht als Mitglied diverser Parteiorganisationen an. 1937 tritt er zur Förderung der eigenen Karriere auch der NSDAP bei. In der Sowjetischen Besatzungszone arrangiert er sich rasch mit den dortigen Verhältnissen. Auch hier greift er das Interesse des Staates an der Arbeitskraft der Älteren auf und bemüht sich einmal mehr um »perfekte Harmonie« mit den Herrschenden.124 Dies wurde ihm insofern erleichtert, als die politische Zäsur von 1945 – zumindest in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR – nicht zu einer Abnahme des staatlichen Interesses an der Alternsforschung führte. Im Hinblick auf das dort vertretene Leitbild des »aktiven älteren Bürgers« sowie angesichts der für die ostdeutsche Wirtschaft wichtigen Ressourcenmobilisierung blieb die Erforschung des Alterns weiterhin ein förderungswürdiger 121 Vgl. Karl (1999), S. 32. Bis heute ist echte interdisziplinäre Forschung, die ja überdies keinen Selbstzweck darstellt, in der Gerontologie nicht selbstverständlich, vgl. Karl (1999), S. 27-31. 122 So dargestellt bei Ries (1985), S. 91. 123 Vgl. zeitgenössisch u. a. Herre (1939), S. 355, auf den sich Bürger noch 1947 berief. 124 Stambler (2012), S. 117.

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Wissenschaftsbereich.125 Bürgers Forschungen lieferten jedoch auch in den 1950er Jahren nur wenig anwendungsbezogenes Wissen für die klinische Altersmedizin. Stattdessen verfolgte er immer stärker sein Konzept einer allgemeinen, altersunabhängigen Lebenswandlungskunde, der sogenannten »Biomorphose«. Die Deutsche Gesellschaft für Alternsforschung, die sich 1956 neu konstituierte und Bürger mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden wählte, nahm dieses Konzept sogar in ihre Satzung auf. In Artikel 1 hieß es dort: Die Deutsche Gesellschaft für Alternsforschung verfolgt den Zweck, die während des Lebenslaufes (Biorheuse) ständig eintretenden Wandlungen unseres Organismus (Biomorphose) zu erörtern und wissenschaftlich zu bearbeiten. Diese Wandlungen sind sowohl für physiologische wie pathologische Vorgänge von allergrößter Bedeutung. Sie betreffen nicht nur das Individuum, sondern auch die soziale Gemeinschaft. Die Gesellschaft dient mit diesen Zielen der Volksgesundheit und der Wissenschaft und damit dem Wohle der Allgemeinheit.126

Dieser Vorgang deutet zum einen auf Bürgers beherrschende Stellung im Fach hin, zum anderen aber auch auf eine gewisse Verengung der Alternsforschung durch den von Bürger abgesteckten Rahmen. 1956 nahm er den »Biomorphose«-Begriff zusätzlich in den Titel der Fachzeitschrift auf, die fortan unter dem modifizierten Namen Zeitschrift für Alternsforschung. Organ zur Erforschung der Physiologie und Pathologie der Erscheinungen des Alterns (Biomorphose) erschien.127 Damit formulierten weder Fachgesellschaft noch Fachzeitschrift ein besonderes Interesse an altersmedizinischen Fragestellungen, sondern legten den Schwerpunkt auf die von Bürger als solche bezeichnete und sowohl von Gerontologie als auch von Geriatrie abgegrenzte »Biomorphose«.128 Hoben Bürgers Publikationen der 1930er Jahre noch vermeintliche Defizite des Alters – Abnahme der Leistungsfähigkeit und fehlender Genesungswille bei auftretenden Erkrankungen – stark hervor, so ist diese Darstellung in den Nachkriegsjahren einer positiveren Sicht gewichen. Parallel zum eigenen Älterwerden beschäftigt sich Bürger intensiver mit den Potentialen des Alters, vorerst jedoch lediglich am Beispiel des alternden, an Erfahrung gewinnenden Arztes. Seine Perspektive auf das Alter wird somit in mehrfacher Hinsicht durch den ärztlichen Blickwinkel dominiert. Die von Bürger betriebene Alternsforschung lässt insgesamt erkennen, dass die Sicht auf das Alter auch in der Vergangenheit selten zweck- und vorurteilsfrei war, sondern historischen, politischen und nicht zuletzt persönlichen Prägungen unterlag und durch diese bestimmt wurde.

125 Vgl. Schmidt/Schwitzer/Runge (1982), Zitat S. 92. 126 Zit. n. Schulz (1956/57), S. 277. 127 Vgl. zur Begründung Bürger: Vorwort (1956/57). 128 Vgl. Bürger: Biomorphose (1956/57).

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Bibliographie Archivalien Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) Nachlass (NL) Max Bürger: Nr. 69, 75, 90 Bundesarchiv Berlin (BArch) Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung: Bestände R 4901/1920, R 4901/1939 NSDAP-Parteikorrespondenz (ehem. BDC PK): Bestand R 9361/II 135246 Max Bürger Universitätsarchiv Halle (UAH) Rep. 11, PA 3826 Emil Abderhalden Universitätsarchiv Leipzig (UAL) PA 1103 Max Bürger

Internetquellen http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index.html. de (letzter Zugriff: 28.1.2015) http://www.dggg-online.de/aktuelles/pdf/Nachruf_Ries.pdf (letzter Zugriff: 28.1.2015) http://www.dggg-online.de/wir/geschichte.php (letzter Zugriff: 28.1.2015)

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Die Entwicklung der Krankenpflegeausbildung in der DDR und der Bundesrepublik: Unterschiedliche Wege als Motor einer Akademisierung der Pflege im wiedervereinigten Deutschland? Simone Moses Summary The development of nursing schools in East and West Germany This study compares the various nursing schools in East and West Germany. In the 1980s and early 1990s the professionalization of nursing was still in its infancy there compared with Anglo-America. There were attempts to professionalize nursing that were meant to enhance the quality of nursing as well as lead to improved working conditions. As part of the political debates in the field after German reunification, the nursing schools in the former east were also affected by reform efforts. From the 1960s, diploma courses in nursing studies and in the teaching of medicine had been offered in the east and, up into the 1990s, these courses were repeatedly modified and adapted to educational requirements. The study also tries to establish the extent to which the academization of nursing in the reunified Germany was driven by the concurrence of the different training routes in West and East. It analyses above all the diverse study syllabi and lengths of training. What also emerged was that, despite all the positive impulses arising from the East German training models, the continuous changes in training in the GDR not only served to improve the nursing qualifications but also to promote identification with the socialist system and its political ideology. In addition, the teaching of theory was never prominent in East German nursing, while, in the west, theory was increasingly asked for and eventually also implemented. The possibility, in the former east, to study the teaching of medicine definitely made an impact on the nursing training in the west after the reunification and the subject is now offered at universities there, too. Despite all that, the concept of “professional nursing,” which needs to be practised in a practical, patient-oriented way, and on a scientific basis, is again being discussed since the introduction of Bachelor and Master study courses. The process of professionalizing and academizing the nursing schools and further training courses clearly continues despite the impulses received from the former East Germany.

Einführung: Die Besonderheiten der Krankenpflegeausbildung in Deutschland Bis heute ist die Krankenpflegeausbildung in Deutschland nicht in eines der bestehenden Ausbildungssysteme eingebunden. Die dreijährige Ausbildung erfolgt an einer staatlich anerkannten Krankenpflegeschule, die mit einem Krankenhaus verbunden sein muss, und wird durch Bundesgesetz geregelt. Das Berufsbildungsgesetz findet jedoch laut Krankenpflegegesetz keine Anwendung. Deshalb werden Krankenhäuser nicht als »Betriebe« betrachtet und Krankenpflegeschülerinnen und -schüler gelten nicht als Auszubildende.1 Obwohl praxisorientiert strukturiert, ist die Krankenpflegeausbildung also keine duale Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz, aber auch 1

Vgl. z. B. Schmidbaur (2002), S. 204f. Ausführlicher: Kruse (1978).

MedGG 33  2015, S. 125-154  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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keine eindeutige Berufsfachausbildung. Während der Bund die übergeordnete Gesetzgebungskompetenz wahrnimmt, haben die Länder eine Aufsichtsfunktion und können rahmengebenden Einfluss auf die curriculare Entwicklung nehmen. Hierfür ist jedoch nicht, wie im sonstigen schulischen Bereich, das Kultusministerium zuständig, sondern die jeweilige oberste Gesundheitsbehörde und die ihr nachgeordneten Behörden.2 Außerdem müssen die Schulleiter und Lehrkräfte an Krankenpflegeschulen keine Lehramtsprüfung nachweisen, die Kosten der Ausbildung werden im Wesentlichen von den Krankenhäusern getragen, an die die Schulen angeschlossen sind, und für die »Schülerinnen und Schüler« gelten tarifvertragliche Vereinbarungen.3 Eine weitere Besonderheit in der Geschichte der deutschen Krankenpflege ist die jahrhundertelange enge Verbindung zwischen Krankenpflege und christlich-religiösen Gemeinschaften. Deshalb wurden Ausbildungsfragen auch immer im Zusammenhang mit der christlichen Verpflichtung zur Nächstenliebe gesehen.4 Die Pflegetätigkeit war mit einem religiösen Auftrag verbunden, so dass sich eine gute Krankenschwester weniger durch ihre Ausbildung als vielmehr durch ihre Berufung zum Dienst am Nächsten auszeichnete. Als gegen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeitnehmerorganisationen begannen, die Interessen des weltlichen Krankenpflegepersonals zu vertreten, führte vor allem die religiös motivierte Auffassung der Krankenpflege als »Liebesdienst« zu konträren Forderungen. So legten die konfessionellen Schwesternschaften größten Wert auf die berufsethischen Wertvorstellungen und Normen, während die Arbeitnehmerorganisationen hauptsächlich professionspolitische und/oder tarifliche Forderungen stellten. Dazu trat eine weitere Ambivalenz. Vorschläge zur Ausbildungsverbesserung wurden immer wieder mit der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen verbunden, wodurch dem Personalmangel entgegengesteuert werden sollte, während gleichzeitig erhöhte Ausbildungsanforderungen oft mit dem Hinweis auf den Schwesternmangel abgewehrt wurden.5 Ein religiös begründeter Gehorsam und die damit verbundene berufliche Bescheidenheit begünstigten die Fremdbestimmung durch die Medizin; Pflege wurde als eigenständige, gesellschaftlich wichtige Aufgabe erstmals kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert6 wahrgenommen.

2

Siehe Schmidbaur (2002), S. 205. Dies gilt jedoch nicht für Bayern.

3

Kruse (1978), S. 1f.

4

Vgl. Kruse (1995).

5

Siehe Kruse (1995), S. 10.

6

Zu den in dieser Zeit gefallenen entscheidenden gesetzlichen Normierungen siehe ausführlich Schweikardt (2008).

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Obwohl im Krankenpflegegesetz von 1985 als Ausbildungsziel die »verantwortliche Mitwirkung bei der Verhütung, Erkennung und Heilung von Krankheiten« genannt wurde7, durften Pflegekräfte bis zur Gesetzesnovellierung im Jahr 2004 weiterhin nur auf ärztliche Anordnung hin tätig werden und trugen lediglich die Verantwortung für deren fachkundige Umsetzung. Durch seine Entstehungsgeschichte und -bedingungen ist der Pflegeberuf in Deutschland in spezifischer Weise geprägt. Im Vergleich zum angloamerikanischen Raum war die Professionalisierung der Pflege in Deutschland verzögert und gehemmt.8 Mit Blick auf die Regelungen anderer Staaten bemühten sich die deutschen Vertreter der Pflege jahrzehntelang um eine Ausbildungsreform. Professionalisierungsbestrebungen sollen zum einen zu einer Verbesserung der Pflegequalität durch wissenschaftliche Fundierung führen und zum anderen konkrete Probleme der Berufsgruppe, wie beispielsweise die Arbeitsbedingungen, lösen helfen. Im Zuge der berufspolitischen Diskussionen geriet auch die Pflegeausbildung in der ehemaligen DDR in den Blickwinkel der Reformbestrebungen. Obwohl selbst im sozialistisch geprägten Teil Deutschlands eine religiöse Bindung der Krankenpflegeausbildung teilweise erhalten blieb – die konfessionelle Krankenpflegeausbildung war die einzige konfessionelle Berufsausbildung mit staatlicher Anerkennung in der DDR9 –, bestand dort schon in den 1950er Jahren die Möglichkeit, sich durch ein »Fachschulfernstudium« zur Fachkraft im Ausbildungs- oder Leitungsbereich weiterzubilden. Ebenso gab es in der DDR seit 1963 die Möglichkeit, an der Humboldt-Universität zu Berlin ein fünfjähriges Studium zu absolvieren, das mit dem akademischen Grad eines Diplommedizinpädagogen abgeschlossen werden konnte.10 Bis in die 1990er Jahre hinein wurde der Studiengang vielfach modifiziert und den bildungspolitischen Anforderungen angepasst, wie auch die im selben Zeitraum entstandenen Studiengänge der Diplomkrankenpflege. Es scheint, dass es den gesundheitspolitischen Akteuren in der DDR weitaus besser gelungen ist, den spezifischen Anforderungen im Pflegebereich gerecht zu werden, als dies in der Bundesrepublik der Fall war. Nicht von ungefähr erhofften sich die Vertreter der bundesdeutschen Krankenpflege nach 1990, von den Strukturen in der ehemaligen DDR zu profitieren und neue Impulse für eine Qualifizierung der Pflege zu erhalten.11 Ob diese Hoffnungen berechtigt waren, wird im Folgenden anhand eines vergleichenden Überblicks zur Entwicklung der Krankenpflegeausbildung in der 7

Siehe Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege vom 4. Juni 1985, § 4, Absatz 1, online unter http://www.bgbl.de/banzxaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_ BGBl&jumpTo=bgbl185s0893.pdf (letzter Zugriff: 21.1.2015).

8

Vgl. Hähner-Rombach (2012).

9

Siehe Ropers (2009), S. 71.

10 Vgl. Thiekötter (2006), S. 227. 11 Siehe dazu Krampe (2009), S. 84f., sowie Thiekötter (2006), S. 150ff.

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DDR und der Bundesrepublik zumindest ansatzweise untersucht. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich das Zusammentreffen der unterschiedlichen Wege im geteilten Deutschland als Motor einer Akademisierung der Pflege in der Bundesrepublik nach 1990 erwies. Die Krankenpflegeausbildung in der DDR und in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Krankenpflegeausbildung durch das reichseinheitliche Krankenpflegegesetz von 1938 geregelt.12 So mussten die Schwesternschülerinnen das 18. Lebensjahr vollendet und die Schule mit dem Volksschulabschluss beendet haben. Zudem wurde der Nachweis über eine einjährige hauswirtschaftliche Tätigkeit verlangt. Während der eineinhalbjährigen Ausbildung waren lediglich 200 Stunden theoretischer Unterricht vorgesehen, der zur Hälfte von Ärzten erteilt werden musste.13 In der Sowjetischen Besatzungszone trat zum 1. Juli 1946 die Verordnung über die berufsmäßige Ausübung der Krankenpflege in Kraft, wonach die Ausbildung nur noch in öffentlichen Krankenpflegeschulen stattfinden durfte, die von den Landes- oder Provinzialverwaltungen anerkannt waren. Neben dem vollendeten 18. Lebensjahr und einem Volksschulabschluss mussten die Bewerber auch mit den Richtlinien der entstehenden DDR politisch konform gehen.14 Zuvor war die Deutsche Zentralverwaltung für Gesundheitswesen von der sowjetischen Militäradministration in Deutschland aufgefordert worden, ein einheitliches Lehrprogramm für die Krankenpflegeausbildung zu entwickeln, das bereits seit Januar 1946 galt. Die jetzt zweijährige Ausbildung umfasste 400 Theoriestunden und fand größtenteils an öffentlichen, staatlich-kommunalen Krankenhäusern statt.15 Nach der Genehmigung durch die von der Regierung beauftragten Stellen konnten auch die sieben ausbildenden katholischen Krankenhäuser auf sowjetisch besetztem Boden mit der Ausbildung von Krankenschwestern und Pflegern fortfahren. Allerdings behielten sich die zuständigen Stellen das Kontrollrecht vor und die katholische Kirche bekam weniger Ausbildungsplätze bewilligt, als die Krankenhäuser benötigt hätten.16 In der Bundesrepublik war das Berufsbild der Krankenpflege bis zum Beginn der 1950er Jahre noch stark religiös geprägt und basierte auf dem christlichen Gebot der Barmherzigkeit und Nächstenliebe.17 Neben medizi12 Vgl. Schweikardt (2008). 13 Siehe Kreutzer (2005), S. 231f. 14 Thiekötter (2006), S. 93. 15 Thiekötter (2006), S. 94. 16 Ropers (2009), S. 73. 17 Vgl. Kreutzer (2005), S. 17.

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nischen und pflegerischen Kenntnissen wurde vor allem Wert auf eine entsprechende Persönlichkeitsbildung gelegt. Der theoretische Unterricht hatte eine nachrangige Bedeutung. Selbst leitende Schwestern hatten ihre berufliche Position in der Regel ihrer langjährigen Erfahrung zu verdanken und sich keineswegs entsprechend fortgebildet.18 Erst elf Jahre, nachdem in der DDR ein einheitliches Lehrprogramm für die Krankenpflegeausbildung entwickelt worden war, kam es zu einer ersten bundeseinheitlichen Regelung. Mit dem Krankenpflegegesetz von 1957 veränderte sich die Ausbildung jedoch nur wenig. Wie bisher sollte die Krankenpflege überwiegend praktisch erlernt werden. Neu war, dass die Schulen jetzt nicht mehr nur von einem Arzt geleitet werden konnten, sondern auch von einer leitenden Schwester oder von einem Arzt und einer leitenden Schwester zusammen.19 Die Berufsbezeichnung der Krankenpflege war weiterhin nicht gesetzlich geschützt, da sich die Mutterhausverbände und deren parlamentarische Vertreter dagegen sperrten, nur examinierte Schwestern zu beschäftigen. Zudem setzten sich die Gewerkschaften für ein möglichst niedriges Zulassungsniveau ein, um den Beruf für die unteren Bildungsschichten offenzuhalten. Wie in der DDR in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre musste jetzt ein zweijähriger Lehrgang mit mindestens 400 Stunden Unterricht besucht werden, dem eine einjährige praktische Ausbildung folgte.20 Währenddessen hatte die DDR die Pflegeausbildung erneut reformiert. In Anlehnung an das sowjetische Ausbildungsmodell waren die bestehenden staatlichen Schulen in staatliche Fachschulen umgewandelt worden. Seit dem 23. März 1950 galt jetzt die Neuordnung des Fachschulwesens in der DDR, die am 11. Januar 1951 zur »Anordnung über die Neuordnung der Ausbildung in der Krankenpflege« führte und diese in drei Stufen (Unter-, Mittel- und Oberstufe) gliederte.21 Die Schülerinnen der Unterstufe absolvierten eine Grundausbildung in den Fachrichtungen Kranken-, Säuglings-, Kleinkinder- und Geisteskrankenpflege, wofür im ersten Jahr 1038 Theoriestunden vorgesehen waren. Die Ausbildung in der Mittelstufe qualifizierte die Pflegekräfte berufsbegleitend für spezielle Fachrichtungen, wie Operations- oder Orthopädieschwestern, zu Stationsleitungskräften sowie zu Gemeinde- oder Betriebsschwestern. Ebenfalls berufsbegleitend fand die Ausbildung in der Oberstufe statt, die lehrende und leitende Pflegekräfte hervorbringen sollte. Jede Stufe der Weiterqualifikation umfasste ein Jahr in der theoretischen und ein Jahr in der praktischen Ausbildung.22 Um auch das in der Pflege bereits tätige Hilfspersonal zu erreichen, wurden neben den Fachschulen auch Abendschulen der Krankenpflege eingerichtet, an 18 Kreutzer (2005), S. 230. 19 Vgl. Kreutzer (2005), S. 246f. 20 Schmidbaur (2002), S. 154. 21 Siehe Wolff/Wolff (2002), S. 231. 22 Vgl. Thiekötter (2006), S. 97.

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denen die Ausbildung eineinhalb Jahre dauerte und an die sich ebenfalls ein praktisches Jahr anschloss.23 Berufstätigen bot man zudem die Möglichkeit, ein Fachschulfernstudium zu absolvieren, wobei sich dieses zunächst nur auf die Realisierung der Mittelstufenausbildung beschränkte. 1954 wurde die Ausbildung an den Abendschulen durch ein zweijähriges Fachschulabendstudium ersetzt.24 Finanziert wurden die Fach- und Abendschulen der DDR von den jeweiligen Ländern, deren Fachministerien die Schulen verwalteten, während die Gesundheitsämter der Kreise und Städte diese leiteten. Die Verantwortung oblag dabei dem Ministerium für Gesundheitswesen im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern. Eine Ausbildungsvergütung erhielten die Schülerinnen und Schüler nicht, allerdings wurden – mit Ausnahme der Abendschulen – generell Stipendien vergeben.25 Auf bundesdeutschem Gebiet war die Weiterbildung in der Krankenpflege nicht gesetzlich geregelt, so dass die Schwesternschaftsvertretungen die Fortbildung ihrer Mitglieder und damit deren Qualifizierung zur Übernahme von Leitungsfunktionen in Eigenregie organisierten. 1953 gründete beispielsweise der Agnes-Karll-Verband in Westberlin die »Agnes-KarllSchule für Schwesternvorbildung und Schwesternfortbildung«, die 1960 nach Frankfurt am Main verlegt wurde.26 Finanziert wurde die Weiterbildung in der Regel von den Kursteilnehmern selbst. Karin Wittneben weist in ihrer Untersuchung zur Entwicklung von Weiterbildungsmöglichkeiten für Pflegekräfte darauf hin, dass der Verband als Nachfolger der von Agnes Karll mitbegründeten Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands im Gegensatz zur Diakonie und zum Roten Kreuz – die »als ›freie‹ Träger wohl kein ausgeprägtes Interesse an einer Einflussnahme auf die Weiterbildungsgestaltung von Seiten des Staates hatten« – wahrscheinlich durchaus mit einer Weiterbildungseinrichtung in öffentlicher Trägerschaft einverstanden gewesen wäre.27 Da aber die Gründung der Schule nur mit einer einmaligen Finanzhilfe des Bundesinnenministeriums und der Unterstützung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gefördert wurde, musste der laufende Schulbetrieb kostendeckend sein. Dem Agnes-Karll-Verband wurde so das Finanzierungs- und Berufsbildungsproblem überlassen und der Staat von seinen Bildungsaufgaben entlastet.28 Ab dem Ende der 1950er Jahre begannen die westdeutschen Schwesternschulen, die Lehrgänge für Unterrichtsschwestern deutlich auszubauen, und auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft legte größeren Wert auf eine 23 Thiekötter (2006), S. 99. 24 Vgl. Thiekötter (2006), S. 103f. 25 Thiekötter (2006), S. 99. 26 Schmidbaur (2002), S. 154, und Elster (2000), S. 136. 27 Wittneben (1995), S. 268. 28 Siehe Wittneben (1995), S. 269.

Die Entwicklung der Krankenpflegeausbildung

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theoretisch fundiertere Aus- und Fortbildung. Die von der Gesellschaft im Mai 1963 veröffentlichten Empfehlungen für die Aus- und Fortbildung von Krankenschwestern gingen in ihren Richtlinien weit über die Anforderungen des Krankenpflegegesetzes von 1957 hinaus.29 Durch die »Neuordnung der Ausbildung in der Krankenpflege« von 1951 wollten die Verantwortlichen in der DDR zum einen das Ausbildungsniveau und damit die berufliche Qualifikation der Pflegekräfte erhöhen und zum anderen einem sich immer stärker bemerkbar machenden Personalmangel im Pflegebereich entgegenwirken.30 Auch in der Bundesrepublik gab es Personalengpässe, denen zunächst mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen entgegengesteuert werden sollte. Um den Schwesternberuf attraktiver zu gestalten, blieb den Krankenpflegeanstalten nichts anderes übrig, als die Arbeitszeiten nach und nach zu senken. Von 1956 an verringerte sich die Wochenarbeitszeit von zuvor 60 Stunden auf 54 Stunden; 1958 waren 51 Stunden erreicht, die 1960 auf 48 Stunden reduziert wurden, bis man schließlich 1974 die 40-Stunden-Woche einführte. Die Arbeitszeitverkürzung ließ jedoch den Personalbedarf weiter ansteigen.31 Rationalisierungsmaßnahmen innerhalb der Krankenpflege sollten jetzt Abhilfe schaffen und die Schwestern von sogenannten berufsfremden Tätigkeiten, wie Reinigungs- und Aufräumarbeiten, entlastet werden.32 Die bisher nach dem Prinzip der »Ganzheitspflege« organisierte Tätigkeit, in der jede Schwester ihre Patienten persönlich rund um die Uhr betreute und auch für sämtliche Reinigungsarbeiten im Krankenzimmer zuständig war, begann sich mehr und mehr auf die medizinnahe Behandlungspflege zu konzentrieren, was jedoch den Bedarf an Hilfskräften steigen ließ. In der Folge beschäftigten die Krankenhäuser zunehmend Pflegehilfskräfte, die sich als neue Berufsgruppe zwischen dem Haus- und Küchenpersonal und den ausgebildeten Krankenschwestern zu etablieren begannen.33 Auf ostdeutschem Gebiet wurde ebenfalls mit der Ausbildung von Hilfsschwestern begonnen. Diese dauerte 13 Wochen mit insgesamt 195 Unterrichtsstunden und umfasste auch einen praktischen Teil. Zuständig waren nicht die medizinischen Fachschulen, sondern staatliche Gesundheitseinrichtungen, die spezielle Lehrgänge anbieten konnten. Daneben etablierte sich eine zweieinhalbjährige Ausbildungsmöglichkeit zur Hilfsschwester bzw. zum Hilfspfleger und zur Säuglingspflegerin. Die Ausbildungen waren in einen hauswirtschaftlichen – hier lernten die zukünftigen Hilfspflegekräfte unter anderem Kochen und Hauswirtschaft – und einen pflegerischen Teil 29 Kreutzer (2005), S. 250f. 30 Siehe Thiekötter (2006), S. 103. 31 Vgl. Schmidbaur (2002), S. 152, und Kreutzer (2005), S. 24ff. 32 Kreutzer (2005), S. 23; Schmidbaur (2002), S. 152. 33 Siehe Kreutzer (2005), S. 26f.

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gegliedert, wobei der hauswirtschaftliche wichtiger war.34 Die Ausbildungsgänge entsprachen einer Lehre und wurden dementsprechend 1958 in die Systematik der Facharbeiterberufe integriert.35 Mit der »Verordnung über die Berufserlaubnis und Berufsausübung in den mittleren medizinischen Berufen sowie medizinischen Hilfsberufen« von 1955 war zuvor erstmals durch Gesetz den mittleren medizinischen Berufen die Berufserlaubnis erteilt worden. Fortan war die Berufsausübung in diesem Bereich als staatliche Fachschulausbildung gesetzlich geschützt.36 Auf der Grundlage des bundesdeutschen Krankenpflegegesetzes von 1965 wurde im August 1966 in Westdeutschland eine neue Ausbildungs- und Prüfungsverordnung erlassen, nach der die Zugangsvoraussetzung ein Realschulabschluss war und die Lehrgangsdauer auf drei Jahre festgelegt wurde, in denen mindestens 1200 Stunden theoretischer Unterricht erteilt werden mussten. Die anschließende praktische Ausbildung dauerte nunmehr eineinhalb Jahre.37 Vor allem gegen die Anhebung des Zulassungsniveaus waren zuvor starke Bedenken geäußert worden, da bei den Befürwortern der Volksschulbildung die Sorge im Vordergrund stand, dass durch den geforderten Realschulabschluss wertvolle Pflegekräfte verlorengehen könnten.38 Die Befürworter der mittleren Reife argumentierten dagegen mit den Veränderungen im Krankenhauswesen und in der Medizin sowie den sozialen Gegebenheiten.39 Tatsächlich erteilten nach Inkrafttreten des Gesetzes die meisten Krankenpflegeschulen schon bald freiwillig bis zu 1800 Unterrichtsstunden. Die Ausbildungsinhalte betreffend ließen die gesetzlichen Bestimmungen den Schulen einen weiten Spielraum, der je nach Träger unterschiedlich ausgeschöpft wurde.40 Erstmals mussten jetzt allerdings die Unterrichtsschwestern und -pfleger entsprechend vorgebildet sein.41 Ende der 1960er Jahre existierten in der Bundesrepublik aber lediglich neun Weiterbildungseinrichtungen, zumeist in konfessioneller Trägerschaft, an denen sich Krankenschwestern zu Unterrichtsschwestern ausbilden lassen konnten. Die Länder blieben bei ihrer passiven und abwartenden Haltung gegenüber einer Pflegelehrerbildung in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft42,

34 Thiekötter (2006), S. 106. 35 Thiekötter (2006), S. 112. 36 Vgl. Thiekötter (2006), S. 107, 112. 37 Siehe Adams (1967), S. 8. 38 Adams (1967), S. 11. 39 Wie beispielsweise die Krankenschwester Marie-Elisabeth Adams in einer Analyse von 1967: Adams (1967), S. 14. 40 Wanner (1993), S. 85. 41 Vgl. Kreutzer (2005), S. 253. 42 Wittneben (1995), S. 280.

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während im Osten die lehrenden Pflegekräfte schon seit 1951 an den Fachschulen ausgebildet wurden. Mit dem im Februar 1965 in Kraft getretenen »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem« wurde die Aus- und Weiterbildung der ostdeutschen Pflegelehrkräfte neu geregelt. Dabei sollte nicht nur das Ausbildungsniveau angehoben werden, sondern auch die sozialistische Ideologie bei den in der Berufsausbildung stehenden Jugendlichen verankert werden. So stand insbesondere im theoretischen Unterricht die Vermittlung marxistisch-leninistischen Gedankenguts im Vordergrund.43 In der Krankenpflege Tätige konnten sich nach dem neuen Gesetz nur weiterbilden, wenn ihre jeweilige Einrichtung sie dafür vorschlug, sie also auch politisch geeignet erschienen. Für die Durchführung von Weiterbildungslehrgängen und Spezialkursen im Gesundheitsbereich waren die medizinischen Fachschulen zuständig, die bereits 1961 im Zuge weiterer Modifizierungsmaßnahmen in medizinische Schulen umbenannt worden waren.44 Die Einführung eines einheitlichen sozialistischen Bildungssystems bezweckte also einerseits eine Verbesserung der Ausbildung, andererseits sollte eine erhöhte »Identifikation mit der sozialistischen Gesellschaft« erreicht werden.45 1963 wurde die Humboldt-Universität in Ostberlin zur Gründung einer Fachabteilung für die Ausbildung von Diplomlehrern für das Gesundheitswesen verpflichtet. Abiturienten, die außerdem eine Ausbildung in Krankenpflege oder einem anderen mittleren medizinischen Beruf absolviert hatten, konnten nun dort das fünfjährige Studium zum Diplommedizinpädagogen beginnen.46 1969 löste das »Fachschulstudium« Medizinpädagogik das bisherige fünfjährige Studium ab. Es bestand nun die Möglichkeit, entweder in Potsdam, an der dortigen Fachschule für Gesundheits- und Sozialwesen, in einem dreijährigen Direkt- oder in einem vierjährigen Fernstudium oder an der Humboldt-Universität zu Berlin innerhalb von viereinhalb Jahren zu einem Abschluss als Diplommedizinpädagoge zu gelangen.47 Eine solch spezielle Ausbildung für Lehrkräfte in der Pflege gab es in der Bundesrepublik nicht. Auch die Krankenpflegeausbildung selbst hatte sich nicht wirklich weiterentwickelt. Während in der DDR die mittleren medizinischen Berufe seit 1955 gesetzlich geschützt waren und die Ausbildungen im Pflegebereich an staatlichen Fachschulen oder medizinischen Schulen stattfanden, ließ sich in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren und bis 1966 weder ein gesetzlicher Schutz der Berufsausübung durchsetzen noch 43 Vgl. Thiekötter (2006), S. 118f. 44 Siehe Wolff/Wolff (1994), S. 251. 45 Siehe Thiekötter (2006), S. 124. 46 Siehe Wolff/Wolff (2002), S. 247f. 47 Siehe Thiekötter (2006), S. 159f.

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gelang es, die schulischen Eingangsvoraussetzungen, die Ausbildungsdauer sowie den theoretischen Anteil der Ausbildung auf ein höheres Niveau festzuschreiben. Die besondere Zuordnung der Ausbildungsstätten, die zu einer Ausbildung »besonderer Art« führte, die weder im dualen System noch in der Fachschulausbildung anzusiedeln war, führte lediglich zu entsprechenden Nachteilen für die berufliche Karriere.48 Emanzipation und Reformwille im Westen – Etablierung als Facharbeiterberuf im Osten: Die Krankenpflegeausbildung in den 1970er Jahren Eingebettet in ein politisch günstiges Klima, das durch Debatten über soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Reformen bestimmt wurde, lassen sich in der Bundesrepublik während der 1970er Jahre deutliche Parallelen zwischen der Emanzipation vom bürgerlichen Frauenbild und der Emanzipation des Schwesternberufes vom Status des reinen Heilhilfsberufes finden. Westdeutsche Beiträge zur Entwicklung der Krankenpflege waren geprägt von den Themen »Reformen« und »Emanzipation«.49 Innerhalb der Berufsgruppe der Krankenpflege wurde ab demselben Zeitpunkt vermehrt die Notwendigkeit einer stärkeren Patientenorientierung der Pflege diskutiert und die dafür notwendige Eigenständigkeit gefordert, was einen entsprechenden Handlungsspielraum mit einschloss.50 In der DDR war bereits 1950 mit dem Gesetz über die Rechte der Frau ein emanzipatorischer Weg beschritten worden.51 Dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Frauen- und Familienpolitik der DDR einen Schwerpunkt bildete, hatte weniger ideologisch-emanzipatorische als vielmehr ökonomische und demographische Gründe. Dabei war die Tatsache, dass 1949 in der DDR über 25 Prozent mehr Frauen als Männer lebten, nur einer der Gründe.52 Ab 1967 wurden Frauensonderklassen an Fachschulen eingerichtet, um vor allem berufstätigen Frauen und Müttern ein Direkt- oder Abendstudium zu erleichtern. Die »Schülerinnen« dieser Klassen wurden für die Zeit ihres Studiums von der Arbeit freigestellt und erhielten einen finanziellen Ausgleich. Von 1970 an konnten speziell Mütter ein Sonderstudium an Hochschulen aufnehmen, wobei den Studentinnen eines Direktstudiums ein Stipendium gewährt wurde und den Teilnehmerinnen eines Fern- oder Abendstudiums eine anteilige Arbeitsfreistellung unter Fortzahlung ihres Gehalts. Voraussetzung für die Aufnahme eines 48 Vgl. Schmidbaur (2002), S. 180ff. 49 Vgl. Schmidbaur (2002), S. 184. 50 Vgl. Taubert (1994), S. 117. 51 Siehe http://www.verfassungen.de/de/ddr/mutterkindgesetz50.htm (letzter Zugriff: 21.1.2015). 52 Dazu ausführlich: Obertreis (1986), vor allem S. 48ff.

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Sonderstudiums war allerdings abermals neben der Abordnung durch den jeweiligen Betrieb eine Beteiligung am »Aufbau der sozialistischen Gesellschaft«.53 Währenddessen hatte die Bundesregierung 1967 ein europäisches Übereinkommen über die theoretische und praktische Ausbildung von Krankenschwestern und -pflegern unterzeichnet, so dass das Krankenpflegegesetz von 1965 an dieses Übereinkommen angepasst werden musste. Die Revision wurde 1972 von Bundestag und Bundesrat beschlossen und der Regierung der Auftrag zu einer Neuregelung der Krankenpflegeausbildung unter Berücksichtigung der von den Schwesternverbänden und Berufsorganisationen vorgetragenen Bedenken und Forderungen erteilt. Die Debatte sollte bis 1985 dauern und wurde auch von der allgemeinen Diskussion über die Reform des Bildungssystems beeinflusst.54 Diese forderte seit Beginn der 1960er Jahre eine allgemeine Bildungsexpansion und zielte auf eine Öffnung der westdeutschen Hochschulen für mittlere Bildungsabschlüsse und den Ausbau praxisorientierter Studiengänge ab.55 Entsprechend den Ingenieursschulen und Höheren Fachschulen, die seit 1968 systematisch zu Fachhochschulen zusammengeschlossen worden waren, sollten nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrates auch Pflegekräfte Zugang zu einer Hochschulausbildung in praxisorientierten Studiengängen erhalten.56 Im Juli 1973 legte der Wissenschaftsrat eine Ausarbeitung seiner Vorschläge zur Durchführung von dreijährigen Modellstudiengängen im Gesundheitswesen vor, die die bisherigen Ausbildungsgänge im Pflegebereich jedoch nicht ablösen, sondern lediglich ergänzen sollten.57 Dabei ging der Wissenschaftsrat davon aus, dass etwa fünf bis zehn Prozent des Krankenpflegepersonals im Hochschulbereich ausgebildet werden müssten. Dazu zog er entsprechende Erfahrungen anderer Länder heran und stützte sich auf die Empfehlungen einer Sachverständigengruppe des Europa-Büros der Weltgesundheitsorganisation.58 Einer »höheren Ausbildung« begegnete man jedoch auch in den eigenen Reihen mit Skepsis. Zumeist wurde angeführt, dass es im Falle einer Ver53 Siehe Thiekötter (2006), S. 122. 54 Mischo-Kelling (1995), S. 242f. Obwohl die Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaft vom Juni 1977 über die gegenseitige Anerkennung der Befähigungsnachweise noch vehementer eine Anpassung der Pflegeausbildung an internationale Maßstäbe mit höheren Standards forderte, kam es zu keiner Einigung. Erst mit dem Krankenpflegegesetz vom Juni 1985 setzte die Bundesregierung als letzter Staat der Europäischen Gemeinschaft die oben genannte EG-Richtlinie um. Vgl. Schmidbaur (2002), S. 185, 205. 55 Vgl. dazu Picht (1964). 56 Wissenschaftsrat (1970). 57 Wissenschaftsrat (1973), S. 11. 58 Wissenschaftsrat (1973), S. 10, 22.

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wissenschaftlichung der Ausbildung zukünftig »an Kräften fehlen würde, die die eigentliche, diesen Berufen originär zugewachsene Arbeit ausführen«.59 In der weiteren Debatte um eine neue Ausbildungs- und Prüfungsordnung traten die »traditionellen« Gegensätzlichkeiten der beruflichen Interessenvertretungen deutlich zutage. So setzte sich der DBfK (Deutscher Bund für Krankenpflege) für die Einrichtung von Berufsfachschulen mit einer Öffnung zum tertiären Bildungsbereich ein, während die Gewerkschaften sich für eine Eingliederung in das duale System aussprachen.60 Die regierende SPD/FDP-Koalition orientierte sich zunächst an den Regelungen des Berufsbildungsgesetzes und wollte die Krankenpflegeausbildung mit den anderen danach geregelten Berufsausbildungen gleichsetzen. Am 1. August 1974 und am 1. Juli 1975 legte das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit die Referentenentwürfe vor.61 In keiner der darauf folgenden Stellungnahmen von Verbänden und Organisationen, die entweder die Interessen der Pflegekräfte vertraten oder an der Krankenpflegeausbildung beteiligt waren, wurden die Entwürfe bejaht.62 Vor allem die Frage nach der Finanzierung beeinflusste die Debatte maßgebend. So bestand Dissens über den Status und die Ausbildung der Unterrichtsschwestern und -pfleger, die im Falle einer Änderung der Krankenpflegeausbildung den Lehrern der allgemeinen und berufsbildenden Schulen hätten gleichgestellt werden müssen. Für die Finanzierung der Ausbildung wäre dann in jedem Fall die öffentliche Hand zuständig gewesen.63 Aufgrund des »Gemeinsamen Beschlusses des Politbüros des ZK der SED, des Ministerrats der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB zur Verbesserung der medizinischen Betreuung der Bevölkerung und der Arbeitsund Lebensbedingungen für die Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialwesens vom 25. September 1973« wurde in der DDR zum 1. September 1974 die bisherige Berufsausbildung in der Kranken- und Kinderkrankenpflege abermals in das System der medizinischen Fachschulausbildung integriert.64 Ein Grund für die Ausbildungsumstellung war eine Auseinandersetzung zwischen dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – das allen an Universitäten und medizinische Akademien angeschlossenen Fachschulen übergeordnet war – und dem für alle übrigen medizinischen Fachschulen zuständigen Ministerium für Gesundheitswesen, die sich auf die Zuständigkeiten und den Rang der Ausbildungsstätten bezog. Nach der jetzigen Um59 So ein Vertreter des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit in einem Referat, gehalten auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Zentrale für Volksgesundheit im Dezember 1972, zit. n. Dittrich (1974), S. 3. 60 Schmidbaur (2002), S. 185. 61 Siehe dazu Femmer/Haesler (1977), S. 3ff. 62 Siehe Kruse (1978), S. 37f. 63 Vgl. Elster (2000), S. 108. 64 Wolff/Wolff (2002), S. 252.

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strukturierung waren die medizinischen Fachschulen wieder an Einrichtungen des Gesundheitswesens angegliedert, denen die Direktoren der Fachschulen jeweils untergeordnet waren.65 Der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigte man diesen Schritt mit den höheren Anforderungen an die Krankenpflege und einer Würdigung des Berufs, was konfliktmindernd und motivierend wirken sollte. Gleichzeitig wurde der Krankenpflege jedoch ein Qualitätsmangel unterstellt, dem jetzt durch ein höheres Ausbildungsniveau entgegengesteuert wurde. Bei lehrenden und leitenden mittleren Pflegekräften stieß dies auf Unverständnis, da die Ausbildungspläne sich keineswegs wesentlich unterschieden.66 Demnach galten die Berufe der Krankenschwester und des Krankenpflegers sowie der Kinderkrankenschwester jetzt als Fachschulberufe, die in einem dreijährigen Direktstudium erworben werden konnten. Zugangsvoraussetzung war der Abschluss der zehnten Klasse und damit verbunden das Erreichen des 16. Lebensjahres. Die Ausbildung war in 2857 Stunden praktischen und 1769 Stunden theoretischen Unterricht aufgeteilt, wovon sich 216 Stunden mit dem Marxismus-Leninismus beschäftigten.67 Beide Fachschulabschlüsse konnten auch durch ein dreieinhalb- bis vierjähriges berufsbegleitendes Fachschulfernstudium sowie durch ein Abendstudium erworben werden. Dafür stellte man die Studentinnen zur Teilnahme an Lehrveranstaltungen und zur Anfertigung von »Belegarbeiten« 36 Tage je Studienjahr von der Arbeit frei.68 Daneben wurden weiterhin wie in den 1960er Jahren Facharbeiterinnen und Facharbeiter für Krankenpflege ausgebildet. Voraussetzung für diese dreijährige Lehrausbildung waren der Abschluss der achten Klasse und das 14. Lebensjahr. Die Facharbeiterinnen für Krankenpflege sollten die Krankenschwestern unterstützen und waren in der Hauptsache für die Grundpflege verantwortlich. Das Qualifikationsniveau der Facharbeiterinnen war also geringer als das der medizinischen Fachschulberufe in der Krankenund Kinderkrankenpflege und vergleichbar mit der Qualifikation einer Schwesternhelferin oder eines Hilfspflegers.69 In der Bundesrepublik wurden parallel zur politischen Debatte erste Modellstudiengänge eingerichtet und zwischen 1970 und 1979 sieben neue Weiterbildungseinrichtungen gegründet.70 Ende der 1970er Jahre existierten bundesweit 14 Weiterbildungsstätten, von denen die meisten einen konfessionellen Träger hatten. Diese wie auch die unter gewerkschaftlicher und anthroposophischer Leitung stehenden Einrichtungen konnten aufgrund 65 Siehe Thiekötter (2006), S. 125f. 66 Siehe Wolff/Wolff (1994), S. 254. 67 Thiekötter (2006), S. 127ff. 68 Thiekötter (2006), S. 130f. 69 Siehe Thiekötter (2006), S. 131f. 70 Vgl. Wittneben (1995), S. 280.

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ihrer weiterhin gültigen Sonderstellung ohne staatlichen Einfluss außerhalb des Bildungssystems agieren.71 Die ersten Studiengänge standen dagegen von Anfang an unter dem Einfluss von bildungs- und hochschulpolitischen Überlegungen und griffen die Vorschläge des Wissenschaftsrates auf. Sie waren nicht auf Initiative der Pflegevertretungen entstanden und können somit nicht als Ausdruck des Wunsches nach einer akademischen Ausbildung durch die Krankenpflegeverbände selbst gedeutet werden.72 An der Freien Universität Berlin (West) gab es beispielsweise von 1978 bis 1981 den Versuch eines sechssemestrigen Diplomstudienganges für Lehrende im Krankenpflegebereich. Mit der Einführung dieses Modellstudiengangs wurde die Krankenpflege in der Bundesrepublik erstmals als eigenständiges, von der Medizin unabhängiges Fach betrachtet und zum Gegenstand wissenschaftlichen Lehrens und Lernens. Studieren konnte jedoch nur, wer eine dreijährige Ausbildung in der Kranken- oder Kinderkrankenpflege abgeschlossen hatte und eine anschließende zweijährige Berufserfahrung nachweisen konnte. Geschuldet waren diese berufsständischen Voraussetzungen den Forderungen der Krankenpflegeschulen, deren Träger einmütig die Auffassung vertraten, dass Pflegelehrkräfte aus dem Beruf selbst kommen und über Berufspraxis verfügen sollten. Die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung erachteten sie in diesem Zusammenhang für nicht notwendig. Selbst die Fachhochschulreife als Zugangsvoraussetzung wurde kritisiert, weil dadurch ein Großteil der Pflegekräfte nicht zum Studium zugelassen werden konnte. Der Studiengang folgte damit wieder einem Sonderweg, da er kein Lehramtsprofil anstrebte und sich nicht an der Struktur der Lehramtsstudiengänge orientierte. Vielmehr war er als »pflegerisch orientiertes, berufsständisches Modell konzipiert«.73 Am Ende dieses Versuchs, den sowohl die Mitarbeiter als auch die externen Gutachter als erfolgreich betrachteten, waren viele Schwierigkeiten deutlich geworden. Um als Studienfach unterrichtet zu werden, musste die Krankenpflege als wissenschaftliches Fach erst entwickelt werden. Es hatte sich gezeigt, wie groß der Mangel an wissenschaftlicher und systematischer Beschäftigung mit der Pflege war. Obwohl sich die zuständigen Gremien innerhalb der Freien Universität in Berlin zunächst für eine Einbindung des Modellstudiengangs in das Regelstudienangebot aussprachen, wurde er nach dem politischen Machtwechsel in Berlin 1981 von der neuen Regierung unter der Führung der CDU aus dem Haushalt gestrichen.74 Der Modellversuch scheiterte zum einen daran, sich nicht als Lehramtsstudium präsentiert zu haben, sondern als pflegerische Weiterbildung. Von der erziehungswissenschaftlichen und von der universitären Seite erhielt er des71 Wittneben (1995), S. 281. 72 Vgl. Wanner (1993), S. 221. 73 Wanner (1993), S. 225. 74 Wanner (1993), S. 227f.

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halb nur wenig Unterstützung. Zum anderen setzten sich aber auch weder die Krankenpflegeverbände noch die Vertreter der Unterrichtsschwestern und -pfleger für den Studiengang ein. Zwischen Weiterentwicklung und Stagnation: die Pflege in den beiden deutschen Staaten während der 1980er Jahre In der DDR konnte dem Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal trotz der staatlichen Bemühungen um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung des Pflegepersonals durch die Umwandlung der Berufsausbildung in eine medizinische Fachschulausbildung auch während der 1980er Jahre nicht entgegengewirkt werden.75 Bis 1985 wies die Ausbildung eine deutliche Praxisorientierung mit dem Schwerpunkt auf ärztlichen Verordnungsund Assistenztätigkeiten auf, so dass die Krankenpflege neben der ärztlichen Tätigkeit nicht als gleichwertige Disziplin gesehen werden konnte. Die sozialistische Ideologie und die Bedeutung der Krankenpflege im Sozialismus besaßen weiterhin einen hohen Stellenwert im Ausbildungscurriculum.76 Mit der Änderung des Ausbildungsprogramms für die Lehrgebiete Krankenpflege und weitere medizinische Berufe durch das Ministerium für Gesundheitswesen 1985 wurden sowohl die Praxisorientierung als auch die Orientierung an ärztlichen Assistenz- und Verordnungstätigkeiten weiter ausgebaut. Auch das Thema der Weiterbildung als Voraussetzung für eine erhöhte Pflegequalität rückte in den Fokus der Überlegungen.77 Das seit 1963 bestehende und mehrfach modifizierte Studienangebot zur Ausbildung zum Diplommedizinpädagogen wurde 1988 durch einen Diplomstudiengang an der Martin-Luther-Universität in Halle erweitert.78 Zur selben Zeit wurden in der Bundesrepublik die im Jahrzehnt zuvor begonnenen gesellschaftlichen Reformprozesse im Zuge der Diskussionen über Sparmaßnahmen und Wirtschaftlichkeit weitgehend zurückgestellt. Auch im Gesundheitswesen gab es Forderungen nach einer stärkeren Markt- und Wettbewerbsorientierung.79 Die Krankenpflege wurde mehr und mehr als professionell betriebener Beruf wahrgenommen, dem es gelungen sei, sich zwischen beruflicher Lohnarbeit und »traditionell gewachsenen Formen« zu etablieren. Erkennbar sei dies an der Angleichung von Arbeitszeit und Vergütung an andere Berufe, an der Anerkennung eines autonomen Arbeitsfeldes sowie an dem fachspezifischen, auf wissenschaftlicher Grundlage erstellten Wissen, das sich nicht nur in der Erweiterung medizinischer Ausbildungsinhalte, sondern ebenso in der Vermittlung pa75 Vgl. Thiekötter (2006), S. 136f. 76 Siehe Thiekötter (2006), S. 172ff. 77 Siehe Thiekötter (2006), S. 192ff. 78 Vgl. Thiekötter (2006), S. 227. 79 Vgl. Schmidbaur (2002), S. 187.

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tientenbezogener, nichtmedizinischer Kenntnisse und Fertigkeiten auf theoretischer Basis bemerkbar machen würde.80 Dies stand im Zusammenhang mit einem Wandel der Arbeitsinhalte, pflegerischen Tätigkeiten und Aufgabengebiete der Pflegekräfte. Bisherige zusätzliche organisatorische Aufgaben wie Reinigung, Bettendienst und Botengänge sowie Tätigkeiten in der Grundpflege wurden von zentralen Krankenhausdiensten, Hilfskräften oder Krankenpflegehelfern übernommen. Gleichzeitig führten die Fortschritte in der medizinischen Diagnostik und Technik zu neuen Anforderungen im pflegerischen und rehabilitativen Bereich, und auch die Dokumentationsund Verwaltungsarbeiten wurden intensiviert.81 Im Juni 1985 wurde nach langer Debatte das bundesdeutsche Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (KrPflG) verkündet. Kurz darauf, im Oktober 1985, trat die Ausbildungs- und Prüfungsordnung in Kraft, in der erstmals ein Ausbildungsziel für die Kranken- und Kinderkrankenpflege sowie für die Krankenpflegehilfe definiert wurde. Aus den im Gesetz aufgezeigten Ausbildungszielen ließ sich jedoch weder ein klar umrissenes Berufsbild noch eine berufliche Fachrichtung ableiten. Weiterhin fehlte eine rechtsverbindliche Definition professioneller Pflege.82 Ein gesetzlicher Schutz der Berufsausübung war also abermals nicht gegeben. Nur die Berufsbezeichnung war jetzt rechtlich geschützt.83 Ebenso wurden durch das Gesetz und die Ausbildungsverordnung die Krankenpflegeschulen wieder zu Berufsfachschulen »besonderer Art« institutionalisiert, die irgendwo zwischen dualer und schulischer Ausbildung angesiedelt waren. Allerdings konnten jetzt Unterrichtsschwestern und -pfleger alleine die Verantwortung für eine Krankenpflegeschule übernehmen und mussten sich diese nicht mehr mit einem Arzt teilen.84 Im tertiären Bildungsbereich hatte mit dem Modellstudiengang für Lehrende in der Pflege in Westberlin Ende der 1970er Jahre eine stärker wissenschaftlich orientierte Diskussion eingesetzt, die durch erste Forschungsprojekte und die Rezeption der Pflegetheorien aus dem angloamerikanischen Raum geschulter wurde. Die fachliche Debatte über Pflegeprozesse, patientenorientierte Pflege, Pflegemodelle und -theorien führte dazu, dass sich die einzelnen Pflegeorganisationen immer mehr zu Befürwortern einer akademischen Qualifikationsmöglichkeit entwickelten.85 Der Fachkräftemangel innerhalb der Pflege, der sich Ende der 1980er Jahre wieder verstärkt bemerkbar machte, trug ebenfalls zu diesem Gesinnungswandel bei. Ange80 Vgl. Gizycki/Gärtner (1982), S. 72. 81 Vgl. Gizycki/Gärtner (1982), S. 73f. 82 Vgl. Mischo-Kelling (1995), S. 244. 83 Schmidbaur (2002), S. 206. 84 Schmidbaur (2002), S. 187, 205f. 85 Vgl. Krampe (2009), S. 84.

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sichts der immer knapper werdenden Personalressourcen und Sparmaßnahmen forderten Pflegevertreter vehement, die inhaltlichen und qualitativen Notwendigkeiten sowie den Wert und die Bedeutung professioneller Pflege noch deutlicher herauszustellen.86 Dabei wiesen sie vor allem auf die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen hin, die eine Umstrukturierung des Gesundheitswesens nach sich zögen. Besonders hervorgehoben wurde die Veränderung des Krankheitsspektrums mit der Zunahme chronischer Erkrankungen angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft, was wiederum die Bedeutung präventiver und rehabilitativer Maßnahmen deutlich erhöhe.87 Die Weltgesundheitsorganisation hatte in ihrem Programm »Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000« aus dem Jahr 1977 diese Veränderungen bereits berücksichtigt und auf eine Umstrukturierung des Gesundheitswesens hin zum Ausbau der primären Gesundheitsförderung gedrängt. Das Programm zielte auf einen Wandel von der »Krankenpflege« zur »Gesundheitspflege« ab und setzte sich für eine entsprechende Aufgabenerweiterung der Pflegeberufe ein.88 Die öffentlichen Diskussionen und die wachsende mediale Berichterstattung über die Situation der Pflege im Zusammenhang mit der Beobachtung des Pflegenotstandes gegen Ende der 1980er Jahre spielten eine nicht unerhebliche Rolle im wachsenden Selbstbewusstsein der Pflegekräfte und in der Etablierung von Qualifizierungsmöglichkeiten. In der öffentlichen Berichterstattung ging es nicht nur um den Fachkräftemangel an sich, sondern um die allgemeinen Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals. Die Pflegenden selbst organisierten Protestaktionen in verschiedenen Städten, wobei sich die Forderungen in der Hauptsache auf den Arbeitsplatz Krankenhaus beschränkten. Neben leistungsgerechten Löhnen, pflegebezogener Arbeitsorganisation und einem analytischen Verfahren zur Personalbesetzung forderten die Berufsverbände in diesem Zusammenhang auch eine qualifizierende Fort- und Weiterbildung sowie den Ausbau der Pflegeforschung.89 Um den Pflegeberuf für den Nachwuchs interessanter zu machen, leiteten Gesundheitspolitiker und Krankenhausträger verschiedene Maßnahmen ein. Dazu gehörten ein deutlich höherer Tariflohn, eine verbesserte Personalberechnung und der Ausbau von Qualifizierungsmaßnahmen.90 Schließlich hatte auch das Gesundheitsreformgesetz, das in der Bundesrepublik zum 1. Januar 1989 in Kraft trat, Auswirkungen auf die Pflegeberufe. Erstmals wurde in den Leistungsbereich der Krankenkassen die Bezahlung einer häuslichen Pflegehilfe bei Pflegebedürftigkeit mit aufgenommen. Bisher fand pflegerische Versorgung in der Regel in Krankenhäusern statt, 86 Siehe z. B. Steppe (1989), S. 212. 87 Vgl. Steppe (1989), S. 213. 88 Schmidbaur (2002), S. 189. 89 Siehe Hackmann (2011), S. 501. 90 Krampe (2009), S. 86.

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wobei man die Kosten durch die zwischen Kassen- und Krankenhausverbänden ausgehandelten Pflegesätze deckte. Wurde häusliche, meist von Verwandten durchgeführte Pflege professionell unterstützt, musste dies selbst finanziert werden. Im Notfall waren die Sozialämter zuständig.91 Nun konnte die familiäre Pflegeperson neben Geld- und Sachleistungen auch bei Ausfall für maximal vier Wochen im Jahr die Bezahlung einer Ersatzpflegekraft beantragen. Dieser Umstand führte dazu, dass sich für Pflegekräfte ein neues Berufsfeld auftat und sie eigene gewerbliche Pflegeunternehmen gründen konnten. Die Pflege erhielt dadurch und im Zusammenhang mit dem immer noch im öffentlichen Bewusstsein stehenden Bild des Pflegenotstandes ein neues Gewicht.92 Dass Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre vor allem Fachhochschulen vermehrt Pflegestudiengänge einrichteten, wurde auch durch andere Einflüsse begünstigt. Im Zuge der Neustrukturierungen der Fachhochschulen und der Abnahme der Studentenzahlen, vornehmlich der Sozialpädagogik, lag es im Eigeninteresse der Fachhochschulen, neue Studiengänge einzuführen. Als entscheidender Impuls erwies sich jetzt die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. So konnten die jeweiligen Gesundheitssysteme mit ihren eigenen Ausbildungsformen einander gegenübergestellt werden. Vor allem der seit den 1960er Jahren in der DDR existierende Fachschulstudiengang für Medizinpädagogen führte zu einer Intensivierung der Forderungen nach einer Akademisierung der Pflege in den alten Bundesländern.93 Die insgesamt gute Durchlässigkeit in den tertiären Ausbildungssektor, die die Qualifizierungsstrukturen in der ehemaligen DDR zu gewährleisten schienen, und die scheinbar permanent an die gesellschaftlichen Bedingungen angepassten Pflegeinhalte ergaben ein positives Bild der ostdeutschen Ausbildungsbedingungen im Pflegebereich. Dass dabei die Studienbedingungen zugleich einen Zwang zur Weiterqualifikation umfassten, der sowohl die fachliche als auch die politische Fort- und Weiterbildung für das Lehrpersonal betraf, blieb dagegen weitgehend unbeachtet.94 Während in der Bundesrepublik mit Beginn der 1980er Jahre Soziologen begannen, die Krankenpflege als Forschungsgebiet zu entdecken, und hinterfragten, inwiefern es sich bei der Krankenpflege schon um eine Profession handelt bzw. was getan werden muss, um die Krankenpflege in den Stand einer Profession zu erheben, wurde diese Diskussion in der DDR nicht geführt. In ihrer Untersuchung zur »Pflegeausbildung in der Deutschen Demokratischen Republik« aus dem Jahr 2006 hat Andrea Thiekötter nachgewiesen, dass die Krankenpflege in der DDR nie als eigenständige, 91 Krampe (2009), S. 45. 92 Krampe (2009), S. 54. 93 Krampe (2009), S. 84f.; siehe auch Thiekötter (2006), S. 150ff. 94 Vgl. Thiekötter (2006), S. 280.

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wissenschaftliche Disziplin betrachtet, sondern immer als ein Teilgebiet der Medizin begriffen wurde. Die von ihr analysierten Lehrinhalte zeigen eine deutliche Zunahme an medizinischen Assistenz- und Verordnungstätigkeiten bis zum Jahr 1985. Zudem existierte im Vergleich zur Bundesrepublik, wo sich seit Ende der 1970er Jahre angloamerikanische Pflegetheorien zu verbreiten begannen, im Prinzip nicht einmal eine pflegespezifische Fachliteratur.95 Die Soziologen auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs versuchten, die struktur-, funktions- oder merkmalsorientierten Professionalisierungstheorien, die sich in den 1970er Jahren hauptsächlich auf den Arztberuf bezogen hatten96, auf die Krankenpflege zu übertragen. So wurde beispielsweise in einer Untersuchung zu den »Professionalisierungstendenzen in den Krankenpflegeberufen« nachgewiesen, dass einige der für den Arztberuf entwickelten Variablen auch auf die Krankenpflege zutreffen.97 Der Verfasser führte aus, wie sich aus der Rolle und der Position des Personals im Pflegebereich ein großer Anteil an eigenständiger sozialer Verantwortung für den Patienten ableiten ließe und wie sich daraus die Möglichkeit zur Übernahme einer neuen, sich von der ärztlichen Tätigkeit abgrenzenden Rolle ergebe. Dadurch könnten neue Bereiche autonomer Verantwortung erreicht werden und die Grundlage für eine Professionalisierung des Pflegeberufs auf einer anderen Ebene als derjenigen der Ärzte wäre gegeben.98 Da aber die Ausbildung konkrete Mängel aufweise und das Wissen um berufsspezifische Organisationen sowie die Bereitschaft, sich selbst zu organisieren, gering seien, könne man den Krankenpflegeberuf nicht zu den klassischen Professionen rechnen.99 Zu dieser These passt auch eine Untersuchung, die sich der Professionalisierung des Lehrens im Berufsfeld Gesundheit widmete. Thomas Bals bemängelte dabei konkret, dass die Lehrkräfte teilweise nicht einmal »die Vorstufe der Professionalisierung, das heißt die Verberuflichung der Tätigkeit« erreicht hätten. Für die überwiegende Zahl der Gesundheitsfachberufe gelte, »daß der Unterricht bisher von pädagogisch-didaktischen Dilettanten und Autodidakten erteilt« werde. Selbst die hauptberuflichen Lehrkräfte seien »oft ungenügend oder gar nicht für ihre Aufgabe qualifiziert«.100 Das Fehlen einer professionsadäquaten theoretischwissenschaftlichen Ausbildung der Lehrkräfte bedinge wiederum die unbe95 Siehe Thiekötter (2006), vor allem S. 282f. 96 Wie zum Beispiel in den Arbeiten von Eliot Freidson (Freidson (1979), vor allem S. 66f.: »Die formalen Kriterien der Profession«) und Magali Sarfatti-Larson (SarfattiLarson (1977)). Zur Situation in Deutschland beispielsweise Huercamp (1980) und Drees (1988). 97 Hampel (1983), S. 102f. 98 Hampel (1983), S. 104ff. 99 Hampel (1983), S. 268ff. 100 Bals (1990), S. 324.

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friedigende Berufsbildungssituation der Gesundheitsfachberufe.101 Nur eine adäquate, erziehungswissenschaftliche Ausbildung der Lehrer mit entsprechendem Standard an professionellem Wissen könne endlich Bewegung in die überholten Strukturen der Aus- und Weiterbildung im Gesundheitsbereich bringen.102 Dagegen war die Ausbildung des Lehrpersonals in der DDR einem ständigen Akademisierungsprozess unterworfen. Andrea Thiekötter stellt dies in ihrer oben erwähnten Studie sehr differenziert dar. Die Qualifizierungsmöglichkeiten des Lehrpersonals für die mittleren medizinischen Berufe entwickelten sich seit den 1960er Jahren zügig weiter, so dass sich die Medizinpädagogik an den Universitäten und Fachschulen als eigenständige Disziplin etablieren konnte. Während pflegespezifische Theorien nie als Wissenschaft wahrgenommen wurden, kam es im Bereich der Medizinpädagogik zu ausgiebigen Forschungen und der Veröffentlichung zahlreicher Dissertations- und Habilitationsschriften.103 Die Weiterbildung zur Pflegelehrkraft beschränkte sich in der Bundesrepublik auch in den 1980er Jahren auf das Angebot von konfessionellen Verbänden und Gewerkschaften.104 Da beide eigene Strategien verfolgten, stagnierte das Weiterbildungssystem in den alten Strukturen. Die Mehrheit der Lehrkräfte in der Pflege lehnte eine akademische Lehrerausbildung ab und hielt an der pflegerischen Praxis als Bezugsgröße der Lehrerweiterbildung fest. Erziehungswissenschaftliche und berufspädagogische Begründungsund Diskussionszusammenhänge schienen völlig zu fehlen. Erst Ende der 1980er Jahre begann sich die Situation zu ändern. Im Zusammenhang mit dem immer deutlicher vorgetragenen Wunsch nach Zugang zum tertiären Bildungsbereich und mehr Autonomie rückte die Akademisierung der Pflegelehrerausbildung in den Mittelpunkt der Diskussionen.105 Pflege nach der »Wende«: Diskussion und Praxis zu Beginn der 1990er Jahre Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten führte zunächst im ostdeutschen Gesundheitswesen zu einschneidenden Veränderungen. In der ehemaligen DDR gab es 63 staatliche medizinische Fachschulen, die an ein Krankenhaus angeschlossen waren und an denen acht verschiedene dreijährige medizinische Fachausbildungen absolviert werden konnten. Im Gegensatz zu den Lehrkräften in den alten Bundesländern, für die keine verbindlichen Regelungen bestanden, mussten die hauptamtlichen Lehrkräfte an 101 Bals (1990), S. 325. 102 Bals (1990), S. 326f. 103 Siehe Thiekötter (2006), kurz zusammenfassend S. 284f. 104 Wittneben (1995), S. 282. 105 Vgl. Wanner (1993), S. 251.

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medizinischen Fachschulen der DDR einen nichtärztlichen Beruf abgeschlossen haben, eine mindestens zweijährige Berufserfahrung und einen pädagogischen Hochschulabschluss oder einen Fachschulabschluss als Diplommediziner oder Medizinpädagoge vorweisen. Die Medizinpädagogen übernahmen den Hauptanteil des theoretischen und praktischen Unterrichts, während daneben wenige Ärzte auf Honorarbasis zu ausgewählten Themen unterrichteten. Für jede Facheinrichtung gab es einen für alle medizinischen Fachschulen verbindlichen Lehrplan, die Lehrkräfte waren bildungs- und berufspolitisch als Lehrer anerkannt und die Schulen wurden staatlich finanziert.106 Nach der Wiedervereinigung entzog man den medizinischen Fachschulen finanzielle Mittel und Kompetenzbereiche und strich auch Lehrinhalte. Einige Schulen konnten unter freier Trägerschaft erhalten bleiben und weiter vor allem in den Fachrichtungen Krankenpflege und Kinderkrankenpflege ausbilden.107 In den alten Bundesländern wurde durch die Auseinandersetzung mit dem berufsbildenden System im Gesundheitswesen der DDR die Diskussion um die Etablierung von Pflegestudiengängen weiter angeregt. Wenn auch die Inhalte der Ausbildung im Einzelnen zu hinterfragen waren, gewährleistete doch das Ausbildungswesen in der DDR eine Durchlässigkeit von der Grundausbildung bis zur Hochschule, wie sie auch in den alten Bundesländern gefordert wurde.108 So erarbeiteten in Berlin die Abteilung Medizinpädagogik der Humboldt-Universität und eine Planungsgruppe der Freien Universität ein gemeinsames Konzept zur Einrichtung eines Studienganges Pflegepädagogik. Ab dem Wintersemester 1991/92 wurde der Studiengang Medizinpädagogik/Pflegepädagogik an der Humboldt-Universität angeboten, wobei das neue Studienkonzept auf die Ausbildungsbedingungen der alten Bundesländer ausgerichtet war, die jetzt in ganz Deutschland Gültigkeit besaßen.109 Obwohl der universitäre Studiengang nicht den Anforderungen eines ordentlichen Lehramtsstudiums mit Staatsexamen entsprach, wurde Pflegekräften damit zum ersten Mal in der Bundesrepublik eine fachbezogene Studienmöglichkeit mit einem akademischen Abschluss geboten.110 Die Lehrerausbildung galt bisher als pflegerische Weiterbildung und war nicht als grundständiges, normales zweiphasiges Lehramtsstudium konzipiert. Der neue Studiengang in Berlin orientierte sich dagegen an den Lehramtsstudiengängen der Sekundarstufe II mit einer beruflichen Fachrichtung. Mit ihm wurde die Auffassung begründet, dass Pflegelehrer als Lehrer des berufsbildenden Systems und nicht als weitergebildete Kranken-

106 Vgl. Reinwardt (1992), S. 579f. 107 Reinwardt (1992), S. 580f. 108 Vgl. Löser (1995), S. 35. 109 Beier (1991), S. 12f. 110 Dielmann (1991), S. 25.

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schwestern zu verstehen sind.111 Die intensive Öffentlichkeitsarbeit der Planungsgruppe trug wesentlich dazu bei, die Diskussion um die universitäre Lehrerausbildung in der Pflege zu intensivieren und zu verankern.112 Die Weiterbildung zur Pflegelehrkraft in der Bundesrepublik fand zu diesem Zeitpunkt wie bisher unter ungeregelten Rahmenbedingungen mit vielfältigen Lehrgangsangeboten und individueller Finanzierung statt, und es gab weiterhin keine staatliche Anerkennung oder Kontrolle der Lehrgänge und Abschlüsse.113 Da aber neben der staatlichen Anerkennung die Entwicklung von umfassenden Lehr- und Lernmethoden für die Krankenpflegeausbildung gefordert wurde, damit der Unterricht in allen Fächern von pflegetheoretisch ausgebildeten Pflegelehrkräften übernommen werden konnte, musste es den Lehrkräften möglich gemacht werden, diese Fächer auch zu studieren. Verschiedene Pflegevertreter waren der Ansicht, dass das Lehrpersonal ein fundiertes pflegetheoretisches, pädagogisches und psychologisches Wissen brauchte, um den Auszubildenden entsprechende Fähigkeiten zum selbständigen Umgang mit den Patienten vermitteln zu können. Gleichzeitig bekam die Fähigkeit zu lebenslangem Lernen einen hohen Stellenwert. Auch Pflegelehrkräfte sollten in der Lage sein, sich ohne großen Aufwand immer wieder neues Wissen aneignen zu können und Forschungsergebnisse für die Praxis nutzbar zu machen. So könnten an der Universität ausgebildete Lehrkräfte sowohl unterrichten als auch die curriculare Entwicklung vorantreiben.114 Lehrer als Vermittler zwischen Theorie und Praxis sollten sowohl pädagogisch als auch pflegewissenschaftlich so qualifiziert werden, dass sie die Ausbildungsinhalte immer wieder unter pflegewissenschaftlichen Gesichtspunkten neu strukturieren und weitergeben könnten. Ihnen oblag nicht nur die Vermittlung der pflegerischen Handlungskompetenz, sondern auch die der dazu notwendigen kognitiven und psychosozialen Fähigkeiten.115 Entsprechend den gestiegenen Ausbildungsanforderungen an Krankenpflegelehrkräfte stiegen auch die Anforderungen an Pflegekräfte, die eine Leitungsfunktion erfüllten. Sowohl Pflegedienstleitungen als auch leitende Unterrichtsschwestern hatten aufgrund der Gesetzgebung im Wesentlichen eigenverantwortliche und selbständige Führungs- und Managementaufgaben wahrzunehmen.116 In der DDR war 1982 an der Humboldt-Universität zu Berlin ein berufsbegleitendes Teilzeitstudium, konzipiert als vierjähriges Fernstudium, für Krankenschwestern und -pfleger als Qualifizierung zur 111 Wanner (1993), S. 258. 112 Wanner (1993), S. 259. 113 Vgl. Steppe (1993), S. 113. 114 Vgl. Botschafter (1993), S. 140f. 115 Siehe Wanner (1993), S. 261. 116 Wander (1992).

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Pflegedienstleitung eingerichtet worden. Nach der politischen Wende wurde im Konsens mit den Lehrkräften und Studenten sowie mit westdeutschen Fachleuten und Politikern ein neuer Studienplan erarbeitet. Von 1991 an wurde das Studium als vierjähriges berufsbegleitendes Teilzeitstudium an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität weitergeführt.117 Den ersten diesbezüglichen Studiengang in den alten Bundesländern richtete man zum Wintersemester 1991/92 an der Fachhochschule Osnabrück als Diplomstudiengang Krankenpflegemanagement ein.118 Schon seit 1981 hatten dort Pflegekräfte die Möglichkeit, sich in einem viersemestrigen, nebenberuflichen Weiterbildungsstudium zur Pflegedienstleitung im Krankenhaus fortzubilden. Jetzt wurde ein achtsemestriges Vollzeitstudium mit Diplomabschluss angeboten, in dem den Studierenden in Verbindung mit sozialwissenschaftlichen Schwerpunktthemen von Anfang an die Möglichkeiten der Erarbeitung pflegerischer Inhalte wissenschaftlich fundiert aufgezeigt wurden.119 Auch im wiedervereinigten Deutschland war ein »Pflegenotstand« spürbar. Zu Beginn der 1990er Jahre war aber deutlich geworden, dass diesem Notstand auf unterschiedlichen Handlungsebenen begegnet werden musste. Zum einen ging es um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, um eine angemessenere Bezahlung und entsprechende Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Zum anderen mussten neue Personengruppen für die Pflege gewonnen werden, um insgesamt den Personalbestand zu erhöhen, und schließlich musste den veränderten Anforderungen an die Pflege im ambulanten, stationären und häuslichen Bereich mit neuen Konzepten und Strukturen begegnet werden.120 Veränderungen in der Aus- und Weiterbildung versprachen, zur Lösung der angesprochenen Probleme beizutragen. Dass insbesondere die Akademisierung ein wichtiger Ansatzpunkt war, wurde nicht mehr bestritten. Dennoch existierte bis 1992 noch kein geschlossenes Konzept über die Richtung der Professionalisierung und Akademisierung der Pflege, wenn auch nahezu alle mit den Pflegeberufen verbundenen Institutionen und Verbände entsprechende Stellungnahmen oder konkrete Vorschläge publiziert hatten. Bei allen Veröffentlichungen, auch von staatlicher Seite, war der zentrale Ausgangspunkt die Überlegung, dass auf den veränderten Bedarf in der Pflege mit entsprechenden Qualifizierungsangeboten reagiert werden müsse. Es herrschte jedoch weder eine Einigung darüber, was professionelle Pflege ist, noch, wie sie erreicht werden kann, auch wenn Pflege zweifelsohne als moderner Beruf mit hohen Qualifikationsanforderungen anerkannt wurde. Obwohl man versuchte, die Pfle-

117 Dietze (1991), S. 328. 118 Vgl. Schröck (1992), S. 320. 119 Schröck (1995). 120 Vgl. Mogge-Grotjahn (1993), S. 23.

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ge von der Medizin abzugrenzen, fehlten neue Definitionen, um das Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen eindeutig klären zu können.121 Pflegeausbildung in der DDR und der BRD: unterschiedliche Wege als Motor einer Akademisierung der Pflege im wiedervereinigten Deutschland? Während in der DDR schon 1951 die »Anordnung über die Neuordnung der Ausbildung in der Krankenpflege« galt, wurde in der Bundesrepublik die Krankenpflegeausbildung bis 1957 durch das Krankenpflegegesetz von 1938 geregelt. Doch auch mit dem Krankenpflegegesetz von 1957 veränderte sich die bundesdeutsche Ausbildung nur wenig. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR wollten zu dieser Zeit die Verantwortlichen zum einen das Ausbildungsniveau und damit die berufliche Qualifikation der Pflegekräfte erhöhen und zum anderen einem sich immer stärker bemerkbar machenden Mangel im Pflegebereich entgegenwirken. 1966 kam es in Westdeutschland zu einer neuen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. Lehrkräfte wurden intern fortgebildet und hatten in der Regel eine langjährige berufliche Erfahrung vorzuweisen. An der HumboldtUniversität zu Ostberlin gab es dagegen seit 1963 die Möglichkeit, Medizinpädagogik zu studieren. Seit 1974 galten die Berufe der Krankenschwester und des Krankenpflegers sowie der Kinderkrankenschwester in der DDR als Fachschulberufe. Die so ausgebildeten Pflegekräfte wurden von Facharbeiterinnen für Krankenpflege unterstützt, die in der Hauptsache für die Grundpflege verantwortlich waren. Auch in der Bundesrepublik wurden zusätzliche organisatorische Aufgaben vermehrt von zentralen Krankenhausdiensten, Hilfskräften oder Krankenpflegehelfern übernommen. Erste Modellstudiengänge gab es Ende der 1970er Jahre, die sich jedoch nicht als richtungsweisend herausstellten. Trotz weiterer Ausbildungsreformen Mitte der 1980er Jahre galt die Krankenpflege in der DDR aufgrund ihrer Praxisorientierung und der ärztlichen Verordnungs- und Assistenzaufgaben im Vergleich zur ärztlichen Tätigkeit nicht als gleichwertiges Fachgebiet. Außerdem besaßen die sozialistische Ideologie und die Bedeutung der Krankenpflege im Sozialismus weiterhin eine nicht unbedeutende Position im Ausbildungscurriculum. In der Bundesrepublik beeinflusste währenddessen die Diskussion um eine stärkere Markt- und Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen die Entwicklung der Krankenpflege. Die neue, 1985 in Kraft getretene, bundesdeutsche Ausbildungs- und Prüfungsordnung definierte zum ersten Mal Ausbildungsziele für die Kranken- und Kinderkrankenpflege sowie für die Krankenpflegehilfe. Eine rechtsverbindliche Definition professioneller Pflege stand jedoch immer noch aus, obwohl im tertiären Bildungsbereich inzwischen eine stärker wissenschaftlich orientierte Diskussion eingesetzt hatte. 121 Vgl. Bischoff (1992), vor allem S. 212, und Steppe (1995), S. 53f.

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Aufgewertet wurde diese durch die Rezeption angloamerikanischer Pflegetheorien und erste eigene Forschungsprojekte. In der DDR fehlte dagegen in diesem Bereich jegliche wissenschaftliche Form der Auseinandersetzung. Im Zuge der Wiedervereinigung setzte man sich in den alten Bundesländern mit dem Gesundheitswesen der DDR auseinander, wodurch auch deren berufsbildendes System im Bereich der Pflege in den Fokus der Diskussionen geriet. Das dortige Ausbildungswesen schien die in den alten Bundesländern geforderte Durchlässigkeit von der Grundausbildung bis zur Hochschule zu gewährleisten und trieb die Etablierung von Pflegestudiengängen voran. So erhoffte sich beispielsweise auch die Stuttgarter Robert Bosch Stiftung, die sich mit Pflegeförderung beschäftigte, den einen oder anderen Impuls. Noch vor der deutschen Wiedervereinigung war durch die politischen Veränderungen in der DDR eine dortige Förderung durch die Robert Bosch Stiftung möglich geworden. Eine bewusst offen und flexibel angelegte Förderpraxis sollte möglichst viele private Initiativen zur demokratischen und sozialen Erneuerung ermutigen. Für den Bereich der Gesundheitspflege bedeutete dies, dass die Stiftung einen guten Einblick in das ostdeutsche Gesundheitssystem und dessen Ausbildungsmöglichkeiten bekam. Dies galt besonders für die Pflegeausbildung im Hochschulbereich, die die Stiftung auch im vereinten Deutschland verankert wissen wollte.122 Bei allen positiven Impulsen, die vom ostdeutschen Ausbildungsmodell ausgehen, darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die kontinuierlichen Ausbildungsumstellungen neben einer Verbesserung der Pflegequalifikation auch einer »Erhöhung der Identifikation mit dem sozialistischen Gesellschaftssystem und der politischen Ideologie des DDR-Staates« dienen sollten, was vor allem an der Zunahme der hierfür vorgesehenen Unterrichtsfächer im Laufe der Modifizierungen deutlich wird123 sowie an den Repressalien, denen die wenigen verbliebenen konfessionellen Ausbildungsstätten für Krankenpflege ausgesetzt waren124. So bleibt zu hinterfragen, welche Impulse der Krankenpflegeausbildung in der DDR spürbar geworden sind. Der Sonderstatus der Pflegeausbildung im Ausbildungsgefüge der Bundesrepublik blieb beispielsweise erhalten, obwohl diese in der DDR in das staatliche Ausbildungssystem eingebunden war. Auch die Forderung, eine Krankenpflegeausbildung nur mit dem Abschluss der allgemeinen oder fachgebundenen Hochschulreife beginnen zu können, wurde durch das Vorbild der DDR-Ausbildung nicht unterstützt, da das Fachschulstudium ebenso mit dem Abschluss der zehnten Klasse aufgenommen werden konnte. Tatsächliche Vorbildfunktion hatte dagegen das in der DDR mögliche Studium der Medizinpädagogik, das inzwischen als Hochschulstudium für Lehrkräfte in der Pflege in der Bundesrepublik 122 Siehe dazu ausführlich Moses (2015), S. 78f. 123 Vgl. und siehe Thiekötter (2006), Zitat S. 286. 124 Vgl. Thiekötter (2006), S. 142ff., und Ropers (2009).

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angeboten wird. Dass heute auch pflegetheoretische Studiengänge absolviert werden können, ist jedoch eindeutig eine westdeutsche Errungenschaft. Während eine theoretische Beschäftigung mit der Pflege in der DDR nie eine Rolle spielte, wurde diese in der Bundesrepublik mehr und mehr gefordert und schließlich auch umgesetzt. Ungeachtet dessen war im Verlauf der 1990er Jahre die Pflegeausbildung in der Bundesrepublik noch nicht ausreichend gesichert, was weiterhin in Zusammenhang mit einer unzureichenden pflegerischen Grundausbildung und einer mangelhaften Fort- und Weiterbildung gebracht wurde. Die Erweiterung des Krankenpflegegesetzes um die sogenannte »Modellklausel« im November 2000 ermöglichte es wenigstens, generalistische und integrative Ausbildungsmodelle im Pflegebereich zu erproben. Im Zuge der Einführungen von Bachelor- und Masterstudiengängen auch im Pflegebereich wurde währenddessen abermals der Begriff der »professionellen Pflege« diskutiert, die als praktische, patientenbezogene Tätigkeit auf wissenschaftlicher Basis erfolgen müsse. Im Vorfeld der Diskussionen um das neue Krankenpflegegesetz 2010/11 forderten Berufspädagogen trotz alledem abermals eine entschlossene Reform der Pflegeausbildung. Der Veränderungsprozess für die berufliche und akademische Aus-, Fort- und Weiterbildungsstruktur im Pflegebereich ist also weiterhin im Gange. Inwieweit es sich dabei anbietet, Teile der ostdeutschen Pflegeausbildung doch noch in die gesamtdeutsche Ausbildung zu integrieren, könnte noch einmal hinterfragt werden. Dazu müssten jedoch die Pflegeausbildungen in der DDR und der Bundesrepublik wesentlich intensiver miteinander verglichen werden als in dieser knappen Studie, die nur einen ersten Einblick in die unterschiedlichen Strukturen ermöglichte.

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II.

Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

Die Nosoden- und Sarkodentherapie und ihre (Vor)geschichte – ein heikles Erbe Viktoria Vieracker Summary Nosode and sarcode therapies and their history – a controversial inheritance Nosodes and sarcodes (homeopathic remedies gained primarily from disease products respectively organs of human or animal origin) are groups of drugs which were added to the homeopathic Materia Medica in the 1830s. Most substances used in nosode or sarcode therapy have a long medical tradition, with some even going back to the pre-Christian period. My contribution first describes therapeutic practices that use these substances and then juxtaposes them with their use in the early days of homeopathic nosode and sarcode therapy. The investigation shows, on the one hand, that there are aspects common to both approaches that go far beyond the mere choice of substances. On the other hand, it demonstrates the effect the inclusion of human or animal body substances in the homeopathic Materia Medica has had on homeopathy, as their use is no longer in line with what is considered rational.

Einleitung »[E]s hat nun die Erfahrung ein ganz neues Reich mächtiger Mittel aufgeschlossen, welches früher nicht einmal geahnt worden ist«1, so rühmte der bekannte Homöopath Constantin Hering (1800-1880) im Jahre 1835 die Arzneimittelgruppe der Nosoden (von griech. nosos = Krankheit), die er nur wenige Jahre zuvor in die homöopathische Materia Medica eingeführt hatte. Die Ausgangsstoffe der aus potenzierten Krankheitsprodukten hergestellten Homöopathika zählte er in diesem Sinne auch zu den Substanzen, welchen »niemand eine [arzneiliche] Wirkung zugetraut hätte, die noch immer für ganz wirkungslos gehalten werden«.2 Hering zielte mit diesen Aussagen wohl in erster Linie auf seine Zeitgenossen, welche die Wirksamkeit einiger in der damaligen Medizin unüblicher Substanzen in Zweifel zogen und deren arzneiliche Verwendung in der Homöopathie belächelten.3 Ihm selbst dürfte allerdings klar gewesen sein, dass diese Einschätzung nicht den historischen Tatsachen gerecht wird. Einschränkend fügte Hering daher hinzu, dass die erwähnten Ausgangsstoffe für homöopathische Arzneimittel »nur 1

Hering (1988), S. 479.

2

Hering (1988), S. 576.

3

Hering (1988), S. 576.

MedGG 33  2015, S. 155-177  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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in verlachten Volksmitteln unverständlich und unbenutzbar vor uns lag[en]«.4 Zweifelsohne können aus menschlichen wie tierischen Körperstoffen hergestellte Arzneimittel auf eine lange medikale Tradition zurückblicken – nicht nur in Volksmitteln, sondern auch auf Empfehlung anerkannter medizinischer Autoritäten. Erste Zeugnisse von deren Verwendung finden sich bereits in chinesischen Quellen aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend; in den Rezepten des altägyptischen Papyrus Ebers (ca. 1500 v. Chr.) sind ebenfalls häufig Körperstoffe auszumachen.5 Im europäischen Kulturkreis wurden menschliche wie tierische Substanzen (Animalia) seit der Antike gleichermaßen zur Arzneibereitung herangezogen. Neben den Stoffen aus dem Pflanzen- (Vegetabilia) und Mineralreich (Mineralia) zählten sie zu den drei regna naturae (Reiche der Natur), welche als Ausgangsstoffe zur Herstellung sämtlicher Arzneien dienten.6 Eine Blütephase der Animalia ist in der Frühen Neuzeit zu verzeichnen. Anschließend kam die Verwendung von menschlichen wie tierischen Körpersubstanzen zunehmend in Verruf, sie kann gleichwohl durchgängig bis in die heutige Zeit nachgewiesen werden. Auch in der Homöopathie werden bis heute Körperstoffe zur Arzneibereitung herangezogen, wobei das Spektrum der Ausgangssubstanzen weit über die Krankheitsprodukte hinausreicht. An dieser Stelle sei auf die Tiermittel hingewiesen, die bereits zum Teil von Samuel Hahnemann (1755-1843) rezeptiert wurden (wie die Tintenfischtinte Sepia). Darüber hinaus hat Hering im Jahre 1834 der homöopathischen Materia Medica die Arzneimittelgruppe der Sarkoden (griech. sarx = Fleisch) hinzugefügt, die aus Organen oder Geweben hergestellt werden. Auch scheute sich die Homöopathenschaft nicht davor (vorwiegend in den 1830er Jahren), einen Großteil der bereits seit der Antike in Verwendung befindlichen Animalia in den homöopathischen Arzneimittelschatz zu übernehmen und Letzteren sogar um einige vormals nicht arzneilich genutzte Stoffe menschlicher wie tierischer Herkunft zu erweitern. Als Beispiele seien hier nur pathologisch verändertes Gewebe, physiologische Körperflüssigkeiten oder Exkremente genannt.7 Bis heute haben diese als Homöopathika Bestand und werden den Arzneimittelgruppen der Nosoden und Sarkoden zugerechnet.8 4

Hering (1988), S. 479.

5

Bellavite u. a. (2005), S. 443; Magnus (1906), S. 4-10.

6

Müller-Jahncke/Friedrich/Meyer (2005), S. 35; Schmitz (1998), S. 403f.

7

Vieracker (2013), S. 18f.

8

Eine allgemeine Definition der Nosoden und Sarkoden gestaltet sich schwierig. Zu den Sarkoden werden klassischerweise die aus potenzierten Organen, Geweben oder Gewebeextrakten hergestellten Homöopathika gezählt, z. B. Hepar (Leber), Cerebellum (Kleinhirn) etc. Potenzierte Krankheitsprodukte gehören hingegen gemeinhin der Arzneimittelgruppe der Nosoden an (wie z. B. das aus Krätzbläscheneiter bereitete Psorinum). Weiterhin werden in der heutigen Zeit – je nach Definition – auch die folgenden Stoffe in potenzierter Form zu den Nosoden bzw. den Sarkoden gerechnet: sämtliche

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Inzwischen ist die historische Dimension menschlicher wie tierischer Arzneistoffe kaum mehr bekannt. Gleichwohl ist sie bis in die heutige Zeit nicht ohne Bedeutung für die Debatten um Nosoden und Sarkoden, welche gegenwärtig aus vielerlei Gründen häufig im Fokus von politischen Diskussionen stehen. Zuletzt wurde im Frühjahr 2014 von der CDU-Verbraucherschützerin Mechthild Heil eine Debatte um die Kennzeichnungspflicht homöopathischer Ingredienzien in deutscher – und nicht nur wie bislang in lateinischer – Sprache angestoßen. Hierdurch soll die Transparenz hinsichtlich der in den verschiedenen Homöopathika verwendeten Ausgangsstoffe verbessert werden. Die Forderung zielt dabei vorwiegend auf Arzneisubstanzen menschlichen und tierischen Ursprungs – und somit auch die Nosoden und Sarkoden –, die Heil als »abenteuerlich«9 bezeichnet. Als Beispiele nennt sie »Kakerlaken, Kellerasseln, Krötengift oder faules Rindfleisch«10 sowie »Hundekot und Eierstockextrakt von Kühen«11. Sowohl bei Heil als auch in der von ihr angestoßenen Debatte findet man kein Bewusstsein für die lange medikale Tradition und somit die gesamte historische Dimension der erwähnten Stoffe.12 Im Folgenden sollen die Vorläufer der Nosoden und Sarkoden dargestellt sowie deren Bedeutung für die Diskussion um die beiden Arzneimittelgruppen aufgezeigt werden. Hierzu werden zunächst die verschiedenen Behandlungsverfahren mit Animalia, getrennt nach physiologischen und pathologischen Körperstoffen, und die damit verbundenen medizintheoretischen Anschauungen nachgezeichnet. Im Anschluss daran folgt eine Darstellung der Nosoden- und Sarkodentherapie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der bereits ein Großteil der Grundlagen der heutigen Behandlung pathologische Körperstoffe (z. B. Carcinosinum), pathologische wie physiologische Körperflüssigkeiten (z. B. Blut oder Galle), isolierte Körperprodukte (z. B. Urea pura (Harnstoff) oder einzelne Hormone), Bakterienkulturen (z. B. Tuberculinum Koch), Fäulnisprodukte (z. B. Pyrogenium (verfaultes Rindfleisch)), Körperausscheidungen und Parasiten (z. B. Milben oder Würmer). Einige Autoren rechnen auch die Milchmittel zu den Nosoden. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Auflistung nicht vollständig ist und von einigen Autoren noch weitere Substanzen zu den beiden Arzneimittelgruppen gezählt werden. Da diese Stoffe jedoch für die vorliegende Abhandlung nicht von Interesse sind, wurde auf deren Anführung verzichtet. Zu detaillierteren Informationen bezüglich der verschiedenen Nosoden- und Sarkodendefinitionen verweise ich auf Vieracker (2013), S. 23-27. 9

Zit. n. Lehmann (2014).

10 Zit. n. Lehmann (2014). 11 Zit. n. Lehmann (2014). 12 Etwa DZVhÄ Homöopathie.Blog (2014); Harder (2014). Immerhin wird seitens des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) erwähnt, dass die Diskussion um die Ekelhaftigkeit einiger homöopathischer Ingredienzien nicht neu sei. Aus dem weiteren Kontext geht jedoch hervor, dass damit lediglich Debatten der letzten Jahre bis höchstens Jahrzehnte gemeint sein können, da diese »gewöhnlich mit der medialen Effekthascherei ende[n]«. DZVhÄ Homöopathie.Blog (2014).

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mit Nosoden- und Sarkodenpräparaten gelegt wurde.13 In einem dritten Schritt sollen die beiden Therapieformen miteinander kontrastiert werden. Dabei gilt es zu zeigen, dass die Gemeinsamkeiten der Behandlung mit Animalia sowie der damit verbundenen medizintheoretischen Anschauungen mit der Nosoden- und Sarkodentherapie weit über die Wahl der Substanzen hinausreichen. Abschließend soll dargelegt werden, dass die Aufnahme von Arzneisubstanzen in die homöopathische Materia Medica, die der traditionellen Behandlung mit Animalia entstammen, nicht ohne Folgen für die Nosoden- und Sarkodentherapie – wenn nicht sogar die Homöopathie an sich – blieb und bis heute bleibt. Die Ergebnisse werfen somit auch neues Licht auf die aktuellen Debatten um die (aus heutiger Sicht) abstoßend wirkende Art einiger Ausgangsstoffe homöopathischer Arzneien.14 Vorläuferverfahren Physiologische Körperstoffe Verschiedenste physiologische Körpersubstanzen, -organe und -gewebe fanden vor allem in der klassischen Organtherapie Verwendung. Der Leitgedanke der Organtherapie bestand darin, die diversen Organe und Ausscheidungsprodukte bei Krankheiten der jeweils zugehörigen Organe bzw. Körperfunktionen einzusetzen. Die Funktion eines gesunden Körpergliedes oder -produktes sollte somit auf die gestörte Körperfunktion eines Menschen oder das entsprechende erkrankte Organ als Ersatz übergehen bzw. diese zumindest verbessern.15 Neben Organen und Gewebesäften (wie z. B. Galle) wurde auch auf Blut, Fette, Konkremente, Exkremente und Eiter sowie weitere Stoffe menschlichen oder tierischen Ursprungs zurückgegriffen. Menschliche Haut war ebenfalls unter den Arzneimitteln vertreten.16 Beispielsweise setzte man Teile der Leber bei Leberleiden ein. Gemäß dem Grundsatz der Organtherapie wendete man auch Menstrualblut äußerlich oder innerlich bei Hypermenorrhoe bzw. zur Kontrazeption an.17 Darüber hinaus fanden die Körperstoffe bei den verschiedensten Indikationen Einsatz. Beispielhaft sei hier, wie in Hahnemanns »Apothekerlexikon« aus dem Jahre 1799 verzeichnet, der Einsatz von Fel tauri (Ochsengalle) zur 13 Vieracker (2013), S. 185-211. 14 Die homöopathische Arzneimittelgruppe der Tiermittel soll im Folgenden keine Beachtung finden, deren Vergleich mit Vorläuferformen wäre eine eigene Untersuchung wert. Ausgeschlossen werden in diesem Beitrag also Homöopathika aus Körperstoffen und -teilen von Tieren, die nicht in vergleichbarer Form auch beim Menschen bestehen. 15 Höfler (1908), S. 286; Magnus (1906), S. 6f. 16 Jütte (2008), S. 139; Höfler (1908), S. 284; Schmitz (1998), S. 404. 17 Bettin (2005), S. 72; Gaier (1991), S. 298.

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Behandlung einer Helminthiasis erwähnt.18 Bei der Auffindung der Anwendungsgebiete war weiterhin oftmals die Signaturenlehre leitend.19 Dies lässt sich bereits anhand der Ingredienzien einer Arznei zur Verbesserung des Haarwachstums »eines Kahlen«20 aus dem altägyptischen Papyrus Ebers nachweisen: »Fett eines wilden Löwen 1, Fett des Nilpferds 1, Fett des Krokodils 1, Fett der Katze 1, Fett einer Schlange 1, Fett des Steinbocks 1«21. So wurden die verschiedenen Fette jeweils von Tieren gewonnen, die entweder über gar keine oder aber über eine dichte Körperbehaarung verfügten. Der Einsatz von Tierblut und -fetten erfreute sich insgesamt allgemeiner Beliebtheit. Selbst vor der Verwendung von Menschenfett schreckte man nicht zurück, das unter der Bezeichnung »Armesünderfett« erhältlich war.22 Aus heutiger Sicht seltsam anmutend ist der arzneiliche Gebrauch von menschlichen Leichenteilen. Ursprünglich fand das Mumia genannte Präparat in der arabischen Medizin Verwendung, im Rahmen der Rezeption arabischer Werke im Mittelalter verbreitete es sich jedoch auch in Europa. Während zunächst nur die zur Mumifizierung verwendeten mineralischen Substanzen als pharmazeutisch wirksam angesehen wurden, nutzte man später die gesamte Mumie als Arzneilager. Indikationen für den Einsatz von Mumia waren beispielsweise Seitenstechen, Lungensucht, Husten oder Flatulenz.23 Wegen Lieferengpässen und Fälschungen echter ägyptischer Mumien (auch als mumia vera bezeichnet) wurde schließlich auf Leichenteile hingerichteter Personen zurückgegriffen. Von einigen wurden Letztere sogar bevorzugt, da man annahm, dass die noch zu lebende Zeitspanne der hingerichteten Person auf den Anwender übergehen würde.24 Besonders begehrt war dabei menschliches Blut, das direkt bei der Hinrichtung aufgefangen und – insbesondere von Epilepsiekranken – eingenommen wurde.25 Ähnlich befremdlich wie der arzneiliche Gebrauch von Mumia wirkt aus heutiger Sicht derjenige von Ausscheidungsprodukten, wie Faeces und Urin, der sich – insbesondere in der Frühen Neuzeit – großer Beliebtheit erfreute. Hiervon zeugt der Erfolg der 1696 erschienenen »Heilsamen Dreck-Apotheke« des Eisenacher Arztes Christian F. Paullini (1643-1712). Bei dem nicht unumstrittenen Werk handelt es sich um eine vorwiegend auf Ausscheidungsprodukten beruhende Rezeptsammlung, wobei die empfoh18 Hahnemann (1799), S. 58. 19 Müller-Jahncke/Friedrich/Meyer (2005), S. 41. 20 Ebers (1875), Eb 465 (66,9-66,12). 21 Ebers (1875), Eb 465 (66,9-66,12). 22 Jütte (2008), S. 144. 23 Jütte (2008), S. 141; Anne-Christin Lux (2005), S. 24. 24 Jütte (2008), S. 140; Müller-Jahncke/Friedrich/Meyer (2005), S. 49. 25 Jütte (2008), S. 149-151.

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lenen Ingredienzien zumeist von Hunden, Pferden, Vögeln, Schweinen und Kühen gewonnen wurden. Doch auch die Exkremente exotischer Tiere, wie Löwe, Kamel und Elefant, wurden als Arzneisubstanzen aufgeführt; bei Beschaffungsproblemen konnten diese allerdings auch durch leichter erhältliche Stoffe ersetzt werden.26 Wie der Verleger des in anonymer Autorenschaft erschienenen Folgebandes der »Dreck-Apotheke« vermerkt, sollte das Werk vor allem für arme Bevölkerungsschichten leicht zu bereitende Rezepte enthalten, da die einzelnen Ingredienzien nicht teuer in der Apotheke erstanden werden mussten.27 Ein weiteres wichtiges Anwendungsgebiet von Animalia war der Einsatz von Tierorganen oder anderen Tierteilen bei Bissen oder Stichen giftiger Tiere. Die in den verschiedenen Kulturen über die Jahrhunderte hinweg praktizierten Verfahren sind dabei ausgesprochen vielfältig, weshalb hier lediglich einige Beispiele angeführt werden sollen. Gefürchtet waren vor allem Bisse von Schlangen und tollwütigen Hunden sowie Skorpionstiche. Die Folgen hiervon versuchte man durch das äußerliche Auflegen des entsprechenden Gifttieres (z. T. auch in zerriebener Form) auf die Biss- bzw. Stichstelle abzuwenden. Linderung sollte ferner die Einnahme des Speichels oder der Leber bzw. die Einreibung mit dem Fett oder anderen Teilen des entsprechenden Tieres verschaffen – Praktiken, die später von den Vertretern der Nosodentherapie angeführt wurden, um deren Wirksamkeit zu begründen.28 Hinter dieser Anwendungsweise stand die Annahme, dass Gifte durch bestimmte Gegengifte unschädlich gemacht werden können. Dabei vermutete man in den verschiedenen Körperteilen und -säften der Gifttiere (wie Leber, Speichel oder Blut) eine besondere, noch unschädliche Form des Giftes, welches man als Gegengift erachtete.29 Die Vorstellungen einer Antidotierung von Giften bezogen sich nicht nur auf toxische Substanzen »klassischer« Gifttiere wie Schlange, Skorpion etc. Bereits am oben angeführten Beispiel der Tollwut lässt sich ersehen, dass vor dem Nachweis von Bakterien – und somit dem wissenschaftlichen Beweis der Erregertheorie Ende des 19. Jahrhunderts – die Grenze zwischen ansteckenden Krankheiten und Vergiftungen als fließend anzusehen ist. Gerade bei der Tollwut mag dies noch aus heutiger Sicht nachvollziehbar sein, da die Übertragung des Rabiesvirus, wie bei herkömmlichen Gifttieren, durch einen Biss erfolgt. Allerdings wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein giftartige Substanzen auch als Ursache vieler anderer ansteckender Erkrankungen angesehen, allen voran der Pest. Im Körper der Erkrankten sollte sich eine toxische Substanz ausbilden und die diversen Krankheitszeichen 26 Anne-Christin Lux (2005), S. 29f., 40. 27 Friedrich/Müller-Jahncke (2005), S. 380. 28 Hering (1988), S. 501; J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 6; vgl. auch Schmidt (2001), S. 127; Tischner (1932), S. 16, 34. 29 Magnus (1906), S. 28; Tischner (1932), S. 46.

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hervorbringen, die Art und Weise der Übertragung auf andere Personen differierte dabei je nach Ansicht deutlich (beispielsweise über die Luft oder durch Berührung). Bis ins 19. Jahrhundert hinein gingen viele Verfechter dieser Theorie wiederum darin konform, dass es sich bei dieser giftartigen Substanz um ein animalisches Gift handeln müsse; oftmals wurde sie daher mit den Skorpion-, Schlangen- und Krötengiften verglichen.30 In Anbetracht dieser Befunde erstaunt es kaum, dass Therapie und Prophylaxe epidemischer Erkrankungen denjenigen von Vergiftungen glichen und mitunter auch Körperteile und -substanzen von Gifttieren zum Einsatz kamen. So sah man Skorpionöl als wirksam gegen die Pest an. Der als generelles Antidot verstandene Theriak (eigentlich theriake antidotios)31, eine seit der Antike bestehende, beliebte Arzneimittelmischung, fand ebenfalls Anwendung. Unter den Ingredienzien war dabei häufig Schlangenfleisch vertreten.32 Pathologische Körperstoffe Die bislang beschriebenen Praktiken betrafen ausschließlich die pharmazeutische Verwendung physiologischer Körperstoffe. Daneben kann auch der medikale Gebrauch pathologischer Körpersubstanzen auf eine lange Tradition zurückblicken. Insbesondere zur Prophylaxe sowie zur Heilung epidemischer Krankheiten, die bis ins 20. Jahrhundert hinein viele Opfer in der Bevölkerung forderten und die Ärzte vor unlösbare Probleme stellten, fanden die verschiedensten Animalia Anwendung. Allen voran fürchtete man die Pest, hier sollte beispielsweise das Tragen von Pestborken als Amulett oder die Einnahme von Knochenpulver an Pest erkrankter Personen vor einem Ausbruch schützen.33 In gleicher Weise fanden auch die Krankheitsprodukte nicht epidemischer Leiden, wie Konkremente oder Parasiten, Einsatz bei den entsprechenden Erkrankungen. Geradezu exemplarisch hierfür empfiehlt der englische Paracelsist Robert Fludd (1574-1637) in seinem 1638 erschienenen Werk »Philosophia Moysaica« verschiedenartige Anwendungsformen von Krankheitsstoffen: Sehen wir nicht allgemein, dass ein durch Zersetzung veränderter Stoff einem ihm ähnlichen Stoffe in hohem Grade verderblich wirkend ist? So töten aus dem menschlichen Leibe abgegangene Würmer, getrocknet und zu Pulver verrieben, bei innerlicher Anwendung Eingeweidewürmer; Auswurf aus den Lungen heilt nach entsprechender Zubereitung die Lungenschwindsucht; Milz von einem Menschen, gehörig zubereitet, wirkt der geschwollenen Milz entgegen. Der Stein der Harnblase oder der Nieren heilt – durch Glühen verkalkt – den Stein, indem er ihn auflöst.34 30 Leven (1997), S. 21; Sticker (1910), S. 15; Werfring (1999), S. 111, 120-138. 31 Leven (1997), S. 29. 32 Leven (1997), S. 21-29; Schelenz (1962), S. 126, 429; Werfring (1999), S. 131. 33 Griesselich (1848), S. 68. 34 Fludd, dt. Übers. n. Zöppritz (1912), S. 25. Hervorhebung im Original. Im lateinischen Original: »Nonne communiter videmus, similem naturam alteratam putrefactione maximé esse exitialem suo simili? Sic vermes ejecti è corpore & sicci in pulve-

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Eine bis heute – wenngleich in etwas abgewandelter Form – gebräuchliche Verwendung von pathologischen Körperstoffen ist die Impfung. Erste Impferfolge feierte man bei den Pocken, die neben der Pest als eine der gefährlichsten Erkrankungen galten. Circa 30 Prozent der Infizierten fielen der Infektionskrankheit zum Opfer, der Rest blieb zeitlebens durch Narben entstellt. Zunächst gebräuchlich war das Verfahren der Variolation, das im asiatischen Raum bereits um 1500 bekannt war. Im 18. Jahrhundert wurde es schließlich von Lady Montagu (1689-1762), der Frau eines britischen Botschafters, auch in Europa hoffähig gemacht. Sie hatte das Verfahren während eines Aufenthalts in Konstantinopel kennengelernt. Bei der Variolation inokulierte man Gesunden den Inhalt einer Pockenpustel einer Person, die an einer milden Form von Variola vera erkrankt war. Das Verfahren war jedoch nicht ungefährlich und zog etliche Todesfälle nach sich.35 Ein großer Fortschritt hierzu war die von Eduard Jenner (1749-1823) eingeführte Vaccination. Jenner hatte in seinen ab 1796 durchgeführten Versuchen festgestellt, dass die Inokulation von Kuhpockenlymphe weniger nebenwirkungsreich ist als die Variolation, jedoch gleichwohl vor einer Ansteckung mit der Pockenkrankheit schützt. So verlaufen die Kuhpocken ohne Narbenbildung und deutlich leichter als die Variola vera. Anfänglich stand man Jenners Impfverfahren noch skeptisch gegenüber, bald wurde es jedoch großflächig eingesetzt und verbreitete sich schnell in Europa. Nach einer technischen Verfeinerung der Methode gelang es im 20. Jahrhundert schließlich, das Pockenvirus als ersten humanpathogenen Erreger weltweit zu eradizieren.36 Auch mit anderen Krankheiten, so z. B. den Masern und der Pest, stellte man im 18. Jahrhundert Impfversuche an, die jedoch sämtlich ohne Erfolg blieben und oftmals den Tod der Versuchspersonen zur Folge hatten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts konnten mit der Herstellung von Impfstoffen u. a. gegen Tollwut und Milzbrand weitere Erfolge in der Impfstoffentwicklung gezeitigt werden.37

rem redacti, interna administratione enecant lumbricos : Sputum rejecum à pulmonico post debitam praeparationem, curat Phthisin : Splen hominis praeparatum inimicum est spleni tumentis. Calculus vesicae aut renum, per calcinationem curat ac dissolvit calculum.« Fludd (1638), S. 149. Unter »entsprechender Zubereitung« verstand Fludd spagyrische Verfahren (Gaier (1991), S. 298), der Begriff »Spagyrik« (von griech. spao = trennen und ageiro = zusammenführen, vereinigen) geht auf Paracelsus (1493/94-1541) zurück und bezeichnet zur Arzneiherstellung angewandte alchemistische Verfahren. Müller-Jahncke/Friedrich/Meyer (2005), S. 53. 35 Leven (1997), S. 46-48. 36 Leven (1997), S. 46-50; Tischner (1932), S. 68f. 37 Gradmann (2005), S. 24-27; Tischner (1932), S. 69.

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Die Behandlung mit Animalia im Wandel der Zeit Viele der aufgeführten Praktiken fanden – sofern nicht anders erwähnt – bereits in vorchristlicher Zeit Anwendung. Propagiert wurden sie dabei nicht nur von Laienheilkundigen, auch viele medizinische Autoritäten seit der Antike empfahlen die diversen Verfahren. An dieser Stelle sei auf die Schriften des griechischen Arztes und Anatomen Galenos (ca. 129-216) hingewiesen. Aber auch beim frühneuzeitlichen Arzt und Alchemisten Paracelsus lassen sich entsprechende Hinweise finden.38 Hierbei gilt es zu beachten, dass erst die medikale Professionalisierung – ein Prozess, der sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzog – eine Abgrenzung zwischen Volksmedizin und akademischer Medizin zur Folge hatte.39 Nach einer lediglich geringen Anwendung im Mittelalter erlebte die Therapie mit Animalia in der Frühen Neuzeit eine Blütephase. Ingredienzien wie Organe, Gewebesäfte (wie z. B. Galle), Blut, Fette, Konkremente, Exkremente sowie weitere Stoffe menschlichen oder tierischen Ursprungs waren in Rezeptmischungen keine Seltenheit.40 Die Verwendung von Animalia harmonierte dabei hervorragend mit den Vorstellungen und Praktiken der Iatromagie41 sowie dem Analogiedenken der damaligen Zeit42. Im 17. Jahrhundert begann sich schließlich mit dem Aufkommen einer empirisch-experimentellen Medizin der Rationalitätsbegriff zu ändern. Der Einzug des Gedankenguts der Aufklärung ein Jahrhundert später forcierte diese Entwicklung nochmals. Zunehmend setzte sich eine mechanistische Weltsicht durch, magische Vorstellungen und andere nicht auf Empirie basierende Methoden bzw. Theorien wurden verworfen und galten als überholt. Schritt für Schritt stieg die Medizin zur Naturwissenschaft auf, Virchows Zellularpathologie löste in den 1850er Jahren endgültig die traditionellen Krankheitskonzeptionen ab.43 Im Zuge dieses Prozesses wurden die Pharmakopöen von Substanzen bereinigt, deren therapeutischer Einsatz nicht mehr als vernünftig galt. Viele seit Jahrhunderten gebräuchliche Arzneimittel – unter diesen auch die meisten Animalia – verloren somit an Bedeutung.44 In volksmedizinischen Praktiken oder auch in der Alternativmedizin, deren Aufkommen mit der Professionalisierung der Ärzteschaft einherging, wurden einige der soeben beschriebenen Praktiken jedoch fortge38 Sticker (1910), S. 13f.; Werfring (1999), S. 95f., 101. 39 Jütte (1996), S. 12-20. 40 Höfler (1908), S. 284; Jütte (2008), S. 139; Schmitz (1998), S. 404. 41 Eckart (2009), S. 137. 42 Die philosophischen Implikationen des Analogiedenkens hat in historischer Perspektive Foucault (1974), S. 46-61, nachgezeichnet. 43 Eckart (2009), S. 119, 157, 206; Jütte (1996), S. 28, 32f.; Jütte (2008), S. 153. 44 Jütte (2008), S. 153; Müller-Jahncke/Friedrich/Meyer (2005), S. 41, 51.

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führt.45 Dies galt auch für die Verwendung von Mumia, die bis in die 1850er Jahre nachgewiesen werden kann. Selbst »Armesünderfett« konnte noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Apotheken bezogen werden.46 Einige Verfahren, wie die Eigenurintherapie, finden bis heute Anwendung. In der akademischen Medizin erhielt die Organtherapie um die Wende zum 20. Jahrhundert erneut Aufschwung. Zunächst setzte man Gewebeauszüge hormonproduzierender Organe als Hormonersatztherapie ein, später feierte der Organersatz im Rahmen der Transplantationsmedizin Erfolge.47 Wissenschaftliche Anerkennung fand ebenfalls die Methode der Vaccination, inzwischen stehen für viele ansteckende Krankheiten Impfstoffe zur Verfügung. Die Anfänge der Nosoden- und Sarkodentherapie Um nun die Gemeinsamkeiten der soeben erwähnten Praktiken mit der Nosoden- und Sarkodentherapie besser nachvollziehen zu können, lohnt sich ein genauer Blick auf die therapeutische Verwendung potenzierter, also nach homöopathischen Prinzipien aufbereiteter Körpersubstanzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gerade zu Beginn der Nosoden- und Sarkodentherapie werden die Parallelen zu den soeben angeführten Praktiken offensichtlich. Wie bereits erwähnt, war es Hering, der potenzierte Krankheitsstoffe dem homöopathischen Arzneimittelschatz hinzufügte. Ausschlaggebend für deren Einführung war Herings Beschäftigung mit dem Gift der Schlange Lachesis muta, das er im Jahre 1828 einer homöopathischen Arzneimittelprüfung unterzogen hatte.48 Dies brachte ihn auf den Gedanken, dass potenzierte Krankheitsstoffe ebenfalls arzneilich wirksam sein könnten. So sah er den Geifer eines tollwütigen Hundes – ähnlich wie Schlangengift – als giftigen Tierspeichel an. Wie er in seinen 1831 veröffentlichten »Nachträglichen Bemerkungen über das Schlangengift« angab, betrachtete er die Produkte weiterer ansteckender Krankheiten, wie Pockeneiter o. Ä., analog dazu als »thierische Säfte«.49 Daraus folgerte er schließlich, »daß der […] [dem Schlangengift] ähnlich wirkende Speichel des tollen Hundes, gehörig verrieben und entwickelt, auch eine merkwürdige Wirkung äußern werde«.50 Ausgehend hiervon schlug Hering vor, die Krankheitsprodukte von Pocken, Tollwut, Milzbrand und Krätze (in homöopathisch aufbereiteter

45 Jütte (1996), S. 12-14. 46 Jütte (2008), S. 140-144. 47 Jütte (2008), S. 153; Jütte (2009), S. 50. 48 Krannich (2005), S. 82, 94. 49 Hering (1988), S. 95. 50 Hering (1988), S. 93.

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Form) zur Behandlung der entsprechenden Krankheiten zu gebrauchen.51 Dabei gilt es anzumerken, dass damals epidemische Erkrankungen zu den Haupttodesursachen zählten; die diversen ärztlichen Behandlungsversuche schlugen oftmals fehl.52 Herings Hoffnung war es nun, ein Heilmittel für diese überaus gefährlichen Krankheiten gefunden zu haben: »Epidemien könnten, kaum geboren, wieder erstickt werden, und der erste Kranke heilte alle übrigen.«53 Der Veterinärmediziner J. J. Wilhelm Lux (1773-1849) griff in seinem 1833 erschienenen Buch »Die Isopathik der Contagionen« Herings Gedanken auf und leitete daraus ein allgemeingültiges Gesetz ab: »[M]an potenzire jedes Contagium, und brauche es wie die homöopathischen Arzeneyen, und wir sind Herren über alle ansteckenden Krankheiten.«54 In diesem Sinne eröffnete er in seiner »Isopathik« »das Geheimniß der Natur (das höchste Princip der Heilkunst) […]: ›Alle ansteckenden Krankheiten tragen in ihrem eigenen Ansteckungsstoffe das Mittel zu ihrer Heilung.‹«55 Als Ausgangsstoffe für die einzelnen Präparate schlug Lux die bei den jeweiligen Krankheiten auftretenden Krankheitsprodukte (zumeist Absonderungen) vor, wie z. B. »die Lymphe eines Pest-Carbunkels«56 oder »die Lymphe einer […] Schafblatter«57. Von der Wirksamkeit potenzierter Krankheitsprodukte in der Behandlung gleichnamiger, epidemischer Erkrankungen ausgehend, verallgemeinerte Lux in der »Isopathik« schließlich sein therapeutisches Konzept und begründete die Heilmethode der Isopathie.58 Der Grundsatz der Isopathie, die Lux der Homöopathie überlegen wähnte, lautet »Gleiches möge durch Gleiches behandelt werden«. Als Beispiel führte Lux die Therapie einer Vergiftung mit der jeweiligen Substanz in potenzierter Form an. Anfänglich fanden Herings Behandlungsansätze nur wenig Nachahmer, was sich jedoch nach der Veröffentlichung von Lux’ »Isopathik« schlagartig änderte. Der Therapie mit potenzierten, ansteckenden Krankheitsprodukten wurde unversehens große Beachtung durch die Homöopathenschaft zuteil und verschiedene Nosodenpräparate aus dieser Stoffgruppe wurden vielfach therapeutisch angewendet.59 Am häufigsten fanden die Nosodenpräparate Psorinum, Vaccininum und Variolinum Einsatz.60 Mit Hilfe der bei51 Hering (1988), S. 98. 52 Eckart (2009), S. 208. 53 Hering (1988), S. 98. 54 J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 11. 55 J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 3. Hervorhebung im Original. 56 J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 11. 57 J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 10. 58 J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 16. 59 Vieracker (2013), S. 82. 60 Diese Ergebnisse basieren auf einer Auswertung von Falldarstellungen in der Allgemei-

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den letztgenannten Arzneien versuchte man sogar eine »homöopathische« Impfung durchzuführen und inokulierte die beiden Arzneien in niedrigen Potenzen.61 In der Folge erweiterten Lux und Hering (gemeinsam mit wenigen anderen Homöopathen) den homöopathischen Arzneimittelschatz um weitere Substanzgruppen von Körperstoffen – wenngleich deren therapeutischer Gebrauch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit hinter den Krankheitsprodukten ansteckender Erkrankungen zurückblieb. Zwischen den Jahren 1833 und 1835 kamen so zu der homöopathischen Materia Medica folgende Stoffgruppen hinzu: sämtliche pathologischen Körperstoffe (incl. Krebsgewebe), physiologische Körperflüssigkeiten und Ausscheidungsprodukte, isolierte Körperstoffe, humanpathogene Parasiten sowie Organe und Gewebe.62 Beispielsweise experimentierte ein anonymer »Herr K.«, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um den russischen Großgrundbesitzer und Laienhomöopathen Graf Semën Karsakov (1788-1853) handelt, mit potenziertem Blut und Tränen.63 Ferner fanden Versuche mit potenzierten Konkrementen (Harn- und Gallenblasensteine) statt, über eine therapeutische Wirksamkeit von Urea (Harnstoff) wurde ebenfalls gemutmaßt.64 Hering stellte derweil bereits 1833 erste Überlegungen bezüglich einer homöopathischen Organtherapie an und fügte somit die Sarkoden dem homöopathischen Arzneimittelschatz hinzu.65 Vornehmlich sah er diese als wirksam in der Behandlung von Krankheiten der jeweils entsprechenden Organe an. In diesem Sinne äußerte er 1834 in seinen »Kurzen Bemerkungen«, »daß […] [deren] Einfluß hauptsächlich sich zeigt in den Organen, von welchen sie genommen wurden«.66 Später vermutete Hering zudem, dass man potenzierte humane Milch als Trägerstoff bestimmter Emotionen, wie z. B. Zorn, arzneilich einsetzen könne.67 Beträchtlich erweitert wurde der homöopathische Arzneimittelschatz weiterhin in einer von Lux im Jahre 1834 herausgegebenen68 Liste von Isopanen Homöopathischen Zeitung. Für detailliertere Informationen verweise ich auf Vieracker (2013), S. 115-134. 61 Attomyr (1833), S. 74; Hencke (1853), S. 373. 62 Vieracker (2013), S. 109f. 63 H. (1833), S. 87. 64 Vieracker (2013), S. 73. 65 Hering (1988), S. 393. 66 Hering (1988), S. 462. 67 Hering (1988), S. 1082. 68 Die »Geheimmittel« sind in der von Lux herausgegebenen Zeitschrift Zooiasis unter anonymer Autorenschaft erschienen. Es gibt jedoch gute Gründe, anzunehmen, dass Lux selbst Urheber der Arzneimittelliste ist. Ich verweise hierzu auf Vieracker (2013), S. 75f.

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thika, die den eigentümlichen Titel »Geheimmittel des Griechen Hippokynozooiater Phoos«69 trägt. Neben dem Titel mutet auch die Auswahl der Präparate befremdlich an. So fanden sich beispielsweise Fußschweiß, kariöser Zahn, eiternder Ohrenausfluss von Hunden oder Eiter von Gesichtspusteln unter den Arzneien.70 Ähnlich abstoßend erscheint das auf einer Folgeliste aus dem Jahr 1836 verzeichnete Präparat Humanin, das bei der Indikation »wenn Schooßhündchen Menschenkoth fressen«71 Einsatz finden sollte. Für die Nosodengeschichte bedeutend ist vor allem die erstmalige Nennung von Krebsnosoden in den »Geheimmitteln«, wobei die genauen Ausgangsstoffe von Carcinomin axillare und Mastocarcinomin aber leider nicht angeführt werden.72 Für die Rezeption der Nosoden- und Sarkodentherapie brachte die Veröffentlichung der »Geheimmittel« entscheidende Veränderungen mit sich. Während zuvor geradezu ein Nosoden- und Sarkodenboom zu verzeichnen war und sich kaum kritische Äußerungen innerhalb der Homöopathenschaft fanden, war nun die Therapie mit den beiden Arzneimittelgruppen vollkommen kompromittiert. Wertneutrale Äußerungen in der Öffentlichkeit waren nicht mehr möglich, was man u. a. daran ersehen kann, dass über Jahre bis Jahrzehnte hinweg kaum Publikationen zu diesem Thema in den einschlägigen Journalen zu finden sind.73 Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen empfand man Abscheu vor den in den »Geheimmitteln« verzeichneten Präparaten. Zum anderen wurden Letztere den in Paullinis »Dreck-Apotheke« empfohlenen Ingredienzien gegenübergestellt.74 Eine Therapie mit vergleichbaren Stoffen sah man als nicht mehr zeitgemäß bzw. als geradezu rückständig an. Ferner befürchtete man (wohl nicht zu Unrecht), dass der bereits durch die Einführung hochverdünnter Arzneimittel angeschlagene Ruf der Homöopathie in Allopathenkreisen durch den therapeutischen Einsatz der in den »Geheimmitteln« angeführten Substanzen noch weiteren Schaden nehmen könnte.75 Mitte der 1840er Jahre wagte der Landarzt Hermann aus Thalgau76 (17911875) einen Versuch, der Sarkodentherapie wieder zu mehr Ansehen zu verhelfen. Er propagierte die arzneiliche Verwendung der verschiedensten Organe gegen Leiden gleichnamiger Organe, wobei er seine Präparate 69 Von griech. hippo = Pferd, kyno = Hund und zooiater = Tierarzt; gemeint ist also ein Tierarzt für Pferde und Hunde. 70 J. J. Wilhelm Lux (1834). 71 Anonym (1836), S. 243. 72 J. J. Wilhelm Lux (1834). 73 Vieracker (2013), S. 82-86. 74 Etwa Arnold (1834), S. 222f. 75 Vieracker (2013), S. 82-86. 76 Thalgau liegt bei Salzburg in Österreich.

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hauptsächlich Füchsen entnahm. Neben der Wirksamkeit von Pulmonin (Lunge) pries er besonders diejenige von Hepatin (Leber): Diese Tinctura hepatica vulpis hat sich mir noch jedes Mal gegen Anschwellungen, subinflammatorische Krankheitsformen, Erhärtungen der Leber, Gelbsucht und Verstopfung des Stuhles unfehlbar wirksam erwiesen. Kein bisher bekanntes Mittel kann sich mit ihr messen, und selbst das heilkräftige Karlsbad […] ist in Bezug auf Wirksamkeit ein Zwerg gegen diesen arzneilichen Riesen […].77

Die verschiedenen Organtinkturen brachte Hermann zum Großteil unpotenziert zur Anwendung, beispielhaft schilderte er deren Herstellung anhand von Hepatin: Die Leber des Fuchses wird, nachdem die Gallenblase entfernt ist, kleinzerschnitten und in einem Glase mit ungefähr sechs Unzen rectifizirten Weingeistes übergossen. Man läßt sie eine Woche an einem temperirten Orte stehen, schüttelt sie öfter auf und läßt sie dann zur Filtrierung durch Löschpapier laufen.78

Neben Fuchsorganen setzte Hermann selten auch humane Präparate ein, allen voran bei Pulmonin.79 Eine seiner Organtinkturen stellte er dabei aus dem Uterus eines Kindes her, das eines gewaltsamen Todes gestorben war.80 Für seine Bemühungen erfuhr Hermann kaum Zuspruch81, zumal er – entgegen seinen oben angeführten Schilderungen – in den meisten Fällen die Wirkungslosigkeit seiner Organtinkturen eingestehen musste82. Darüber hinaus warf man ihm vor, »die alte mystische Lehre von den Beziehungen der Körpertheile [wieder] aufgewärmt«83 zu haben. Um seine Vorgehensweise der Lächerlichkeit preiszugeben, verglich man diese mit der Anwendung der in Pharmakopöen vorangegangener Jahrhunderte enthaltenen Animalia wie »Armesünderfett«, Mumia und Kuhmist.84 Hermanns Organtherapie brachte somit die Nosoden- und Sarkodentherapie in Homöopathen- wie in Allopathenkreisen nur noch weiter in Verruf.85 Insgesamt wurden also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits die meisten der auch heute noch gebräuchlichen Stoffgruppen von Nosoden und Sarkoden eingeführt und somit der Grundstein für die heutige Therapie mit den beiden Arzneimittelgruppen gelegt. Nach einer kurzen Hochphase 77 Hermann (1844), S. 188. Hervorhebung im Original. 78 Hermann (1844), S. 188. 79 Vieracker (2013), S. 98-104. 80 Hermann (1848), S. 33. 81 Vieracker (2013), S. 103-108. 82 Dies ist aus den Patientenberichten zu ersehen, die Hermann in seinem 1848 erschienenen Buch »Die wahre Isopathik« anführt: Hermann (1848), S. 46-114. 83 Griesselich (1848), S. 71. 84 Genzke (1847), S. 125; Griesselich (1845), S. 4. 85 Vieracker (2013), S. 108.

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drohte dieser allerdings bereits Mitte der 1830er Jahre ein vorzeitiges Ende. Hierbei macht gerade die zeitgenössische Kritik deutlich, dass die Nähe der Nosodentherapie zu den als überkommen erachteten Praktiken der Behandlung mit Animalia sehr wohl gesehen und als problematisch erachtet wurde. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wandten sich die Homöopathen wieder vermehrt der Nosoden- und Sarkodentherapie zu, Hermanns Organtherapie und die in den »Geheimmitteln« angeführten Präparate waren inzwischen in Vergessenheit geraten.86 Behandlung mit Animalia und Nosoden- und Sarkodentherapie – ein Vergleich Vergleicht man nun die bis in die vorchristliche Zeit zurückreichende Behandlung mit Animalia mit der Nosoden- und Sarkodentherapie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, fallen einige Gemeinsamkeiten ins Auge. Wie bereits mehrfach erwähnt, betrifft dies in erster Linie die Wahl der Ausgangsstoffe der Arzneisubstanzen (1). Daneben finden sich jedoch auch Ähnlichkeiten in der Indikationsstellung (2) sowie der Darreichungsform (3). Sogar die dem therapeutischen Einsatz der diversen Körperstoffe zugrundeliegenden medizintheoretischen Anschauungen weisen Parallelen auf (4). Auf die soeben angeführten verschiedenen Unterpunkte soll nun einzeln eingegangen werden. ad 1) Sämtliche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Substanzgruppen von Nosoden- und Sarkodenpräparaten waren bereits zuvor in medizinischen Verfahren im Einsatz. Viele Stoffe, wie Organpräparate und Körpersäfte (allen voran Blut und Galle), wurden dabei direkt aus der Materia Medica früherer Jahrhunderte übernommen. Interessanterweise fanden auch Stoffe aus der »Dreck-Apotheke« und Mumia Eingang in den homöopathischen Arzneimittelschatz, so das Lux’sche Humanin sowie das von Hermann bereitete Präparat aus dem Uterus eines Kindes, das eines gewaltsamen Todes gestorben war. Die bei der Vaccination und Variolation üblicherweise verwendeten Substanzen unterscheiden sich von den Nosodenpräparaten Vaccininum und Variolinum ebenfalls lediglich durch das hinzugekommene Verdünnungs- und Potenzierverfahren. Bei den Krankheitsprodukten scheinen die in der Homöopathie gebrauchten Substanzen indes etwas diverser und vielgestaltiger zu sein, vor allem was die in den »Geheimmitteln« angeführten Stoffe anbelangt. Hingegen fehlen die in früheren Jahrhunderten klassischerweise arzneilich verwendeten Krankheitsprodukte der Pest, was sich jedoch leicht damit erklären lässt, dass Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Pestzügen verschont blieb.87 Auffallend ist auch, dass die in der klassischen Organtherapie verwendeten Körperstoffe als Homöopathika seit der ersten Hälfte des 86 Vieracker (2013), S. 185-211. 87 Leven (1997), S. 37.

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19. Jahrhunderts zwar zum Einsatz kommen, insgesamt jedoch eine eher untergeordnete Rolle spielen. Der Schwerpunkt der verwendeten Körperstoffe hat sich hin zu den aus pathologischen Körperprodukten bereiteten Präparaten verschoben – was bis in die heutige Zeit anhält. In der Anfangsphase der Nosodentherapie könnte eine Ursache hierfür in der starken Bedrohung der Bevölkerung durch epidemische Erkrankungen liegen, gegen die man sich eine wirksame Arzneitherapie erhoffte. Überdies wurde der Nosodengedanke von Hering gerade anhand potenzierter Krankheitsprodukte entwickelt. Heutzutage ist sicherlich die zunehmende Verknüpfung der Nosodentherapie mit der Miasmentheorie entscheidend.88 ad 2) Am deutlichsten sind die Übereinstimmungen in der Indikationsstellung bei der klassischen Organtherapie sowie der Therapie mit potenzierten Organen, Geweben oder bestimmten Körperflüssigkeiten (z. B. Galle). So fanden sowohl in der herkömmlichen Organtherapie als auch in der Nosoden- und Sarkodentherapie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die verschiedenen Körpersubstanzen zumeist bei Störungen der jeweils entsprechenden Organe oder Körperfunktionen Einsatz. Ähnliches gilt für die Krankheitsprodukte, die – in der Nosodentherapie wie auch zuvor in traditionellen medizinischen Verfahren – vorwiegend zur Behandlung oder auch Prophylaxe gleichnamiger Erkrankungen angewendet wurden. Insbesondere trifft dies auf die bei der Vaccination und Variolation verwendeten Substanzen zu. Die Übereinstimmung in der Indikationsstellung ist umso erstaunlicher, als hierdurch gegen sämtliche Grundprinzipien der homöopathischen Arzneimittelwahl89 verstoßen wird. Zwar erfolgte die Auswahl der Nosoden- und Sarkodenpräparate in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch nach Ähnlichkeitsbeziehungen, jedoch weder individualisiert noch nach einer zuvor durchgeführten Arzneimittelprüfung am Gesunden. Das »echt homöopathische Hahnemannsche Simile«90 – wie Tischner es bezeichnet – wurde bei der Nosoden- und Sarkodentherapie also oftmals nicht berücksichtigt91.

88 Zu ausführlicheren Informationen bezüglich der Verknüpfung der Nosodentherapie mit der Miasmentheorie sowie deren Veränderung über die Zeit hinweg verweise ich auf Vieracker (2013), S. 127-132, 190-194. 89 Hahnemann (1833), S. 17-26. 90 Tischner (1932), S. 21. Hervorhebung im Original. 91 Bei seiner Unterscheidung der verschiedenen Simile-Arten zwischen Medikament und Krankheit ordnet Tischner sämtliche der oben angeführten Anwendungen von Animalia nach Ähnlichkeitsbeziehungen dem »magische[n] Simile« (Tischner (1932), S. 15) oder auch »Ähnlichkeitszauber« (Tischner (1932), S. 15) zu. Interessanterweise sieht er diesen als Vorläufer isopathischer Verfahren an. Weitere von Tischner unterschiedene Simile-Arten sind oberflächlich-homöopathisches Simile (bzw. scheinbares Simile), galenisches Simile und physiologisches Simile (Tischner (1932), S. 8-22).

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Da in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lediglich von Psorinum eine umfassendere Arzneimittelprüfung vorlag92, war ein streng homöopathisches Vorgehen auch kaum möglich, zudem war es wohl nur von wenigen intendiert. Bis in die heutige Zeit hat sich hieran (die sog. Erbnosoden Psorinum, Medorrhinum, Syphilinum, Tuberculinum und Carcinosinum einmal ausgenommen) nur wenig geändert. ad 3) Interessanterweise gibt es neben der Substanzwahl und der Indikationsstellung auch Überschneidungen in der Darreichungsform. Insbesondere Hermann empfahl, die Organtinkturen unpotenziert, nur leicht verdünnt und in häufiger Wiederholung anzuwenden. Teilweise verschrieb er seine Organmittel auch im raschen Wechsel. Bereits die oben zitierte Bereitungsweise von Hepatin hat wenig mit dem Herstellungsverfahren homöopathischer Arzneien gemein. Ähnlich wie Hermanns Organtinkturen wurden auch »homöopathische« Impfungen mit Vaccininum und Variolinum lediglich in niedrigen Potenzen (meist C1 bis C4) durchgeführt.93 Hierbei gilt es anzumerken, dass diese Dosierungsverfahren Hahnemanns Vorgaben zur Anwendung homöopathischer Arzneien deutlich entgegenliefen. Hahnemann verabreichte Einzelmittel94, die er längere Zeit auswirken ließ; in den 1820er Jahren war dabei die C30 seine Standardpotenz. Ab 1835 experimentierte er sogar mit höheren Potenzstufen (C200 und LM-Potenzen).95 ad 4) Bei der Einführung der Nosoden und Sarkoden in den homöopathischen Arzneimittelschatz wurden nicht nur Anleihen aus diversen Praktiken der Therapie mit Animalia getätigt. Auch bestimmte medizintheoretische Anschauungen, die der Behandlung mit Animalia zugrunde lagen und zum Teil noch von der vorherrschenden medizinischen Richtung im 19. Jahrhundert vertreten wurden, haben die Einführung der beiden homöopathischen Arzneimittelgruppen begünstigt. So wäre eine Entwicklung des Nosodengedankens durch Hering ohne die Auffassung epidemischer Erkrankungen als Vergiftung des Körpers undenkbar gewesen. In Verknüpfung mit Herings Lachesis-Prüfung hatten diese theoretischen Annahmen bedeutenden Einfluss auf die Ausformung der Nosodenidee. Die seit dem Altertum bestehende Gift-Gegengift-Theorie scheint hier gleichsam als »Präidee«96 der Nosodentherapie auf, die als stillschweigende Vorannahme die ärztliche Wahrnehmung lenkt. Im Gegensatz zur Anwendung menschlicher wie tierischer Körperstoffe, die zum Zeitpunkt der Einführung der Nosoden in den homöopathischen Arzneimittelschatz bereits großteils nicht mehr zum medizinischen Kanon zählten, wurde die Annahme von »Krankheitsgiften« noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein von medi92 Vieracker (2013), S. 148-160. 93 Attomyr (1833), S. 74; Hencke (1853), S. 373. 94 Hahnemann (1999), S. 290. 95 Handley (2001), S. 84; Jütte (2007), S. 75f. 96 Fleck (1980), S. 35.

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zinischen Autoritäten vertreten. Beispielsweise zeugen hiervon einige Abschnitte der »Makrobiotik« von Christoph W. Hufeland (1762-1836) sowie des 1855 von Rudolf Virchow (1821-1902) herausgegebenen »Handbuchs der speciellen Pathologie und Therapie«.97 Insgesamt können also auf mehreren Ebenen Gemeinsamkeiten zwischen der Behandlung mit Animalia und der Nosoden- und Sarkodentherapie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt werden. Bei den diversen Gemeinsamkeiten der beiden Therapieformen handelt es sich indes nicht um eine zufällige Koinzidenz. So waren den Homöopathen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Behandlungsverfahren mit Animalia großteils bekannt. Hering und Lux gaben eine Beeinflussung sogar offen zu und führten in ihren Schriften die oben angeführten Praktiken zur Begründung der Wirksamkeit von Nosoden- und Sarkodenpräparaten an.98 Hier zeigt sich bereits für die Frühzeit der Homöopathie ein Phänomen, das auch für andere Formen der Alternativmedizin bekannt ist. So handelt es sich bei vielen alternativmedizinischen Verfahren um Praktiken, die einige Zeit fester Bestandteil einer medikalen Kultur waren, dann jedoch aus diversen Gründen aus dem therapeutischen Kanon gestrichen wurden. Exemplarisch seien hier Aderlass und Schröpfen oder auch die oben bereits erwähnte Eigenurintherapie angeführt.99 Analog hierzu findet nun die Behandlung mit Animalia eine Art Fortsetzung in der Nosoden- und Sarkodentherapie – und dies bis in unsere heutige Zeit. Zwar ist die Nosoden- und Sarkodentherapie seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts leichten Wandlungen unterworfen, sämtliche der Stoffgruppen aus der Frühzeit der Homöopathie sind jedoch weiterhin in Gebrauch und nur wenige neue Substanzgruppen hinzugekommen.100 Das soeben beschriebene Phänomen wurde der Nosoden- und Sarkodentherapie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beinahe zum Verhängnis. Die Behandlung mit Nosoden- und Sarkodenpräparaten wurde als überholt angesehen, da sie nicht mehr dem seit der Aufklärung geänderten Rationalitätsverständnis Rechnung trug, und sah sich daher massiver Ablehnung ausgesetzt. In diesem Sinne räsonierte ein allopathischer Kritiker nach der Veröffentlichung der »Geheimmittel«: Wenn die reine Medicin den Arzneischatz von belästigender Bürde zu reinigen strebt, und in neuester Zeit eine Menge Stoffe, die früher in Gebrauch waren, ausmerzte und durch heilkräftigere ersetzte, so sehen wir auf der andern Seite die Homöopathie ihren Arzneischatz erweitern, und diese Erweiterung betrifft Stoffe, die für das System der Materia medica zu wichtig sind, als daß wir dieselben, wenn auch nur in historischer

97 Falck (1855), S. 8; Hufeland (1826), S. 280-298. 98 Etwa Hering (1988), S. 501; J. J. Wilhelm Lux (1833), S. 6. 99 Jütte (1996), S. 12. 100 Vieracker (2013), S. 185-211.

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Hinsicht, und zu sehen, bis zu welchen Abwegen sich der menschliche Verstand versteigt, nicht anführen sollten!!101

Weiterhin empfand man auch Ekel vor diesen Substanzen und verglich die Nosodentherapie mit Paullinis »Dreck-Apotheke«.102 Der Behandlung mit Nosoden- und Sarkodenpräparaten drohte ein schnelles Ende. Mit dem Vorwurf der Ekelhaftigkeit einiger Ausgangssubstanzen sieht sich die Homöopathie bis heute konfrontiert103, wie auch die aktuelle von Heil angestoßene Debatte zeigt. Heute wie damals befürchten daher einige Befürworter der Homöopathie, dass durch die Anwendung einiger als abstoßend empfundener Homöopathika auch das Berechtigte an der Nosodenund Sarkodentherapie bzw. der Homöopathie allgemein in Verruf gerate.104 Um dies zu verhindern, versucht der DZVhÄ in der aktuellen Debatte mit dem Argument zu beschwichtigen, dass »aus Wirkstoffen hergestellt[e Homöopathika] […], die aus der kulturellen Perspektive eines Mitteleuropäers als nicht ›schick‹ gelten können«105, »in der täglichen Praxis kaum eine oder keine Rolle«106 spielen. Diese Aussage erscheint jedoch wenig zielführend, zumal sie nur bedingt den Tatsachen entspricht. So zählen die Nosoden Carcinosinum (Krebsgewebe) und Medorrhinum (Tripperausfluss) aktuell zu den zehn am häufigsten angewendeten Homöopathika in der Behandlung chronisch kranker Patienten.107 Auch auf die lange medikale Tradition der Stoffe zu verweisen, erscheint in der Debatte wenig hilfreich, da die Behandlung mit den meisten menschlichen wie tierischen Körperstoffen bereits im 19. Jahrhundert nicht mehr dem Rationalitätsverständnis entsprach – geschweige denn dem Rationalitätsverständnis und Hygienebedürfnis der heutigen Zeit. Die Übernahme von Stoffen in die homöopathische Materia Medica, die der traditionellen Therapie mit Animalia entstammen, entpuppt sich somit als ein mitunter heikles Erbe. Diesem Erbe gilt es sich zu stellen.108

101 Brandes/Wackenroder (1839), S. 300. 102 Vieracker (2013), S. 180-182. 103 Etwa Nebel (1900), S. 323. 104 Etwa Hering (1988), S. 1117; Ruch (2014); Tischner (1937), S. 238. 105 DZVhÄ Homöopathie.Blog (2014). 106 DZVhÄ Homöopathie.Blog (2014). 107 Witt/Lüdtke/Willich (2006), S. 175f. 108 Dieser Beitrag fasst einige Ergebnisse meiner Untersuchung »Nosoden und Sarkoden« (Vieracker (2013)) zusammen.

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Zöppritz, August: Isopathie. Eine Studie den Mitgliedern der Württembergischen Ersten Kammer gewidmet. Stuttgart 1912.

Wie dosiert man richtig, um homöopathisch zu handeln? Ein Überblick über die Debatten in den USA, Großbritannien und Deutschland (ca. 1830-ca. 1970)1 Florian G. Mildenberger Summary How to dose correctly? An overview of debates in the United States, Great Britain and Germany (1830s to 1970s) The dispute over low and high potencies is no longer current in today’s homeopathy, but from the 1830s to the 1960s it played a major role in scientific discourse. The devotees of high potencies claimed to be the only true Hahnemannians, while their antagonists tried to practise a scientific, modernized homeopathy. The former ultimately triumphed in Britain, the U.S. and Germany, but this happened on quite different routes in each of these countries. As well as Hahnemann, other scholars, such as Constantin Hering, James T. Kent and Karl Koetschau, played important roles in the international disputes.

Einführung Die Homöopathie Samuel Hahnemanns (1755-1843) zeichnete sich von Anfang an durch zwei grundlegende Unterschiede im Vergleich zur herkömmlichen Heilkunde aus: Simile-Prinzip und niedrige Dosierungen der applizierten Arzneien. Doch Hahnemann blieb bis in die späten 1820er Jahre auffallend vage in Bezug auf die ideale Dosis, wodurch intensive Debatten seiner Schüler und Gegner geradezu provoziert wurden. Bis in die 1940er Jahre hinein spielte die Frage nach der Richtigkeit tiefer oder hoher Potenzen eine zentrale Rolle innerhalb der homöopathischen Gelehrtenwelt. Erst allmählich ging die Bedeutung dieser Diskurse zurück und eine eher kompromissbereite Haltung setzte sich durch. Um die Intensivität der Diskussionen und ihren Verlauf nachzeichnen zu können, habe ich verfügbare Quellen aus dem deutschsprachigen Raum, Großbritannien und den USA des 19. und 20. Jahrhunderts ausgewertet. Hierzu zählten neben wissenschaftshistorischen Zeitschriften, Büchern zur Geschichte der Homöopathie und den am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) edierten Krankenjournalen Hahnemanns vor allem historische homöopathische Zeitschriften und Lehrbücher. Dabei handelte es sich um folgende Journale (in Klammern die ausgewerteten Jahrgänge): Allgemeine homöopathische Zeitung (1832-1970), Archiv für die homöopathische Heilkunst/Neues Archiv für die homöopathische Heilkunst (1822-1844/1848), Hygea (1834-1848), Zeitschrift des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte (1882-1909), 1

Die vorliegende Untersuchung ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes, das von der Heel GmbH finanziert und vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) betreut wurde. Ich bedanke mich für die vielfältigen Anregungen und Diskussionen bei Robert Jütte (IGM), Martin Dinges (IGM) und Robbert van Haselen (Heel).

MedGG 33  2015, S. 179-216  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Berliner homöopathische Zeitschrift (1910-1921), Deutsche Zeitschrift für Homöopathie (1922-1944/1948), Die Heilkunst (1951-1970), Homotoxin-Journal (19611971), The Homoeopathic World (1920-1932), Heal Thyself (1932-1950), The British Homoeopathic Journal (1911-1970), Journal of the American Institute of Homoeopathy (1909-1970), Proceedings of the International Hahnemannian Association (1920er Jahre), The Homoeopathic Recorder (1886-1959) und Transactions of the American Institute of Homoeopathy (1872-1903). Bezüglich der Lehrbücher konzentrierte ich mich auf Produkte der Verlagshäuser »Willmar Schwabe« und »Boericke&Tafel«. Deutschland Den Anfang aller Debatten über die Dosologie markiert wohl die Entscheidung Samuel Hahnemanns 1828, die Lehre von den chronischen Krankheiten zu präsentieren und zugleich die bislang vage gehaltenen Dosierungsempfehlungen für die potenzierten Arzneien zu konkretisieren. Die Dosologie hatte er bereits 1819 auf eine Bedeutungsebene mit dem Simile-Prinzip erhoben.2 Das »Reiben und Schütteln« würde die Kraft der Arzneien erhöhen, betonte Hahnemanns Anhänger Friedrich Rummel (1793-1854).3 Eine Obergrenze für Potenzierungen war in diesem Denken nicht vorgesehen. Hahnemann verordnete in Paris in den 1830er Jahren Potenzen jenseits C200, doch war er den Debatten in Deutschland bereits entrückt.4 Der Streit um die (unbegrenzte) Erhöhung der Potenzen hatte 1834 zum Bruch zwischen Hahnemann und seinen Anhängern in Leipzig geführt.5 Diese nannten die Befürworter der höheren Potenzierungen »Ultrapotenzler« und betrachteten sich selbst als »Spezifiker«.6 Herausragende Vertreter von Hahnemanns Gegnern waren z. B. die Mitarbeiter der Leipziger homöopathischen Poliklinik Moritz Müller (1784-1849) und Carl Hartlaub (17951839) oder der Armeearzt Ludwig Griesselich (1804-1848). Anhänger der Methodik Hahnemanns waren hingegen Constantin Hering (1800-1880) oder Clemens von Bönninghausen (1785-1864).7 Beide Seiten nutzten die C-Potenzen als Maßgabe.8 C30 galt allen Akteuren noch nicht als das, was man heute »Hochpotenz« nennt.9 Dieser Begriff wurde überhaupt erst 1844 geprägt10, als der Laienpraktiker Caspar Julius 2

Hahnemann (1819), S. 357.

3

Rummel (1828), S. 23.

4

Jütte (1996), S. 182.

5

Tischner (1937), S. 115.

6

Jacobi (1995), S. 23f.

7

Siehe Jütte (1996); Baschin (2010).

8

Zu den heutigen Dosierungsgrenzen siehe Genneper (2001), S. 176.

9

Jacobi (1995), S. 34.

10 Attomyr (1844), S. 10; Groß (1844), S. 43.

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Jenichen (1787-1849) seine hochpotenzierten Arzneien vorstellte11. Diese bewegten sich im Bereich von 800 Potenzierschritten, was die Frage nach der genauen Vorgehensweise provozierte.12 Im Rahmen dieser Diskussionen wurde auch die Praxisrelevanz eines 1832 erstmals vorgestellten Verfahrens betont, das eine erhebliche Erleichterung und Verbilligung in der Herstellung bedeutete, die sogenannte »Dosierung nach Korsakoff«.13 Dabei handelte es sich um das Einglasverfahren anstelle des von Hahnemann praktizierten Mehrglasverfahrens.14 Anhänger tieferer Potenzen nannten die Befürworter der Hochpotenzen alsbald »Grossmeister im Labyrinthe mystischer Verirrungen«.15 Mit der Einführung der D-Potenzen verschob sich die Unterscheidungsgröße – Potenzen jenseits von C30 entsprachen nun mindestens D60. Doch scheinen nicht alle Akteure dies erkannt zu haben. 1903 notierte beispielsweise der Arzt Emil Schlegel (1852-1934), der selbst die Centesimalpotenzen präferierte, alle Potenzen jenseits der 30. Verdünnungsstufe seien als Hochpotenzen anzusehen.16 Generell ist festzustellen, dass im 19. Jahrhundert klare Definitionen und Abgrenzungen von tiefen, mittleren und hohen Potenzen weitgehend fehlen. Lediglich die besonders weitgehenden Verdünnungen wie C200 oder D1000 wurden als »Hochpotenzen« charakterisiert. Diese Unsicherheiten provozierten geradezu Kritik seitens der Schulmedizin, wodurch die kleine homöopathische »Community« wiederum gezwungen war, sich immer wieder neu zu positionieren und nach Auswegen aus diesem Dilemma zu suchen. Problematisch erwies sich zudem die Tatsache, dass der »letzte Wille« Hahnemanns in Form der 6. Auflage des »Organon« den Homöopathen bis zur Neuedition 1921 verborgen blieb. 1840 notierte ein zeitgenössischer allopathischer Kritiker der Medizin, Homöopathie und Allopathie seien sich zwar gar nicht so unähnlich, doch gerade in der Dosologie unterschieden sie sich gewaltig – beide setzten auf Extreme: die einen auf die hohe, die anderen auf die niedrigste Dosis.17 Für den Autor war klar, dass es einer vermittelnden Richtung bedürfte. Damit stand er nicht allein. Auch der bedeutende hannoveranische Hofarzt Johann Stieglitz (1767-1840) bezeichnete die homöopathische Dosologie als »Metaphysik oder speculative Naturphilosophie«18, zog aber gleichzeitig in 11 Mayr (2013), S. 152. 12 Rentsch (1851). 13 Korsakoff: Erfahrungen (1831/32); Korsakoff: Bemerkungen (1831/32). 14 Gleichwohl interessierte sich Hahnemann für Korsakoffs Vorgehensweise, siehe Hahnemann: Nachschrift (1832/2001), S. 828. 15 Genzke (1863), S. 131. 16 Schlegel (1903), S. 82. 17 Werber (1840), H. 2, S. 158, 167. 18 Stieglitz (1835), S. 105.

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Zweifel, ob die auf niedrigen Potenzen basierende Arbeit in der Leipziger homöopathischen Poliklinik überhaupt als Homöopathie bezeichnet werden könnte19. Ähnlich, jedoch erheblich wirkmächtiger agierte der Leipziger Anatom Carl Ernst Bock (1809-1874), der in der Zeitschrift Gartenlaube zwischen 1853 und 1874 einen Privatkrieg gegen die Homöopathie entfesselte und dabei die Befürworter der tiefen Potenzen als Verräter an Hahnemann bezeichnete und die Anhänger der höheren Potenzen als unwissenschaftliche Hasardeure abkanzelte.20 Die Gartenlaube war das wichtigste Medium des aufgeklärten Bürgertums in Deutschland in den Jahrzehnten vor der Einführung der Massenmedien. Bock konnte daher der Homöopathie enormen Schaden zufügen. Seine Konzentration auf die Fragen der Dosologie hatte Einfluss auf den innerhomöopathischen Diskurs.21 Die Gabenlehre spielte nun eine nur noch versteckte Rolle. In den Lehrbüchern, beispielsweise jenen von Hahnemanns amerikanischem Schüler Constantin Hering, wurden exakte Dosierungen der Arzneien nur noch gestreift. Die ideale Gabenlehre war nur am Krankenbett durch Erfahrung zu gewinnen, viel wichtiger schien Hering und seinen Kollegen die richtige Zuordnung Krankheit – Arznei.22 Dies hing auch damit zusammen, dass in Zeiten eines dominierenden wissenschaftlichen Materialismus die Erklärung Hahnemanns, dass der Arzneistoff sich faktisch unbegrenzt teilen ließe und dabei seine Wirkung immer weiter erhöhe, obsolet erscheinen musste.23 Doch in der Laienhomöopathie sah es anders aus, ganz zu schweigen vom Bereich der Selbstmedikation der Patienten.24 Diese konnten zwar – wie auch ab den 1870er Jahren die meisten homöopathischen Ärzte – ihre Urtinkturen und niederen Potenzen von der Firma Willmar Schwabe beziehen, dann aber aufgrund der entsprechenden Aufklärung in unzähligen Flugschriften und Handbüchern selbständig weiter potenzieren. In der Zeitschrift Homöopathische Monatsblätter wurden die Laien anschaulich geschult und mit leicht zu verstehenden Informationen versorgt. Selbständige Forschung scheinen die Laientherapeuten und Patienten nur wenig durchgeführt zu haben, jedoch klaffte zwischen den Ansprüchen der wenigen homöopathischen Ärzte und den Wünschen der Laien spätestens ab den 1860er Jahren eine große Lücke.25 Einzelne Laienpraktiker bewarben ganz offen die Hochpotenzen, z. B. der wirkmächtige Sanatoriumsbetreiber 19 Stieglitz (1835), S. 194. 20 Bock (1855), S. 5, 12. 21 Mildenberger (2012), S. 57, 63-66. 22 Hering (1857); Gross/Hering (1892); Farrington (1889/1893). 23 Hahnemann (1839), S. III-V; Hahnemann (1999), S. 214. Zum Materialismusstreit siehe Gerhard (2007). 24 Grubitzsch (1996); Philipp (2004), S. 125; Baschin (2012), S. 95, 188. 25 Thiele (1965), S. 61.

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Arthur Lutze (1813-1870).26 Dieser setzte auch gerne Komplexmittel ein, die in der Homöopathie seit ihrer Erfindung 1834 höchst umstritten waren.27 In den Jahrzehnten nach 1870 erzielte die Schulmedizin in den Bereichen der Hygiene und Bakteriologie eine Reihe großer Erfolge, viele zu Lebzeiten Hahnemanns bedeutsame Krankheiten nahmen stark ab (z. B. Krätze, Cholera, Diphtherie). Die homöopathischen Ärzte waren bemüht, die Erklärungsmuster der Bakteriologie als Beweis homöopathischen Denkens zu bezeichnen, z. B. die Diphtherie-Impfung oder das Tuberkulin. Doch grenzte dies einerseits an die von Hahnemann verdammte Isopathie28 und andererseits verlangte eine solche Orientierung geradezu nach einer genauen Definition der Dosierung von Arzneien. Auf der Suche nach verwertbaren Erkenntnissen der Schulmedizin stießen homöopathische Ärzte auf die Forschungen der Greifswalder Gelehrten Rudolf Arndt (1835-1900) und Hugo Schulz (1853-1932).29 Diese lieferten ab 1889 Arbeiten, die in der Präsentation der »Arndt-Schulzschen Regel« nach Experimenten mit Jodsublimat an Hefepilzen mündeten.30 Diese Regel basierte auf der Idee, dass schwache Reize einen Organismus zu Tätigkeit anregen, mittlere diese fördern, starke hingegen die Tätigkeit hemmen und stärkste Reize gar schaden.31 Diese noch vagen Begriffe ließen sich aber an die Dosierungsstufen der Homöopathie angleichen, wenn die Ärzte und Laienpraktiker die Erkenntnisse von Amedeo Avogadro (1776-1856) und Josef Loschmidt (1821-1895) auf ihre Arbeit übertrugen. Loschmidt hatte 1865 erstmals bestimmt, wie viele Moleküle in einer Substanz rechnerisch vorhanden sein müssten. Je nach Verdünnung nahm die Zahl der Moleküle ab, ehe – theoretisch-rechnerisch – sie ab der Stufe D23/C12 vollkommen verschwunden waren.32 D21/22 war demnach die tiefste wirksame Dosis und zugleich die höchste Potenz.33 Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Homöopathen in Deutschland sogleich auf die Verabreichung höherer Potenzen verzichteten, es erschienen weiterhin Berichte über erfolgreiche Heilungen.34 Auch die beginnende Nutzung radioaktiver Isotope für die Medizin ließ Dosierungen in Hochpotenzform

26 Streuber (1996), S. 178-180; Bettin/Meyer/Friedrich (2001), S. 202. 27 Blessing (2010), S. 8-10. Zur zeitgenössischen Debatte siehe Aegidi (1834); Griesselich (1836); Aegidi (1838). 28 Tischner (1914), S. 57; Papsch (2007), S. 76. Zum Erfinder der homöopathischen Isopathie siehe Kannengießer (1996). 29 Blessing (2010), S. 67-76. 30 Lehrbuch (1899), S. 15; Hengstebeck (1901), S. VII; Kranz (1908); Schulz (1918). 31 Handovsky (1925), S. 1. 32 Jütte (1996), S. 182; Papsch (2007), S. 92. 33 Sabalitschka (1936), S. 98. 34 Gilpin (1902); Dewey (1904); P. J. K. (1912).

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sinnvoll erscheinen.35 Entsprechend argumentativ wirkende Homöopathen vergaßen jedoch zu erwähnen, inwiefern eine Radiumtherapie mit dem Simile-Prinzip in Einklang zu bringen wäre. Die Problematik der Dosologie trat ab 1925 wieder in den Vordergrund, als der angesehene Chirurg August Bier (1861-1949) sich für die Homöopathie im Allgemeinen und die bindende Verwendung der Arndt-Schulzschen Regel als Wirkungserklärung einsetzte.36 Bier provozierte eine jahrelange Debatte mit Pharmakologen und Ärzten. Da die experimentellen Wirkerklärungen von Arndt und Schulze sich auf den Potenzbereich bis D21 beschränkten, aber gleichzeitig die Heilerfolge mit Hochpotenzen im Raum standen, mussten die auf schulmedizinische Anerkennung hoffenden homöopathischen Ärzte diese sowohl erklären als auch entkräften. Dies gelang scheinbar Karl Koetschau (1868-1949), der gemeinsam mit einem Vertreter der neu in den Markt drängenden Pharma-Firma Madaus das Potenzierverfahren mit der Einglasmethode als fragwürdig enttarnte.37 Koetschau konnte am Beispiel des Methylenblaus zeigen, wie dieses in den Gläsern haften blieb, so dass trotz Ausschütten und Reinigen die neu potenzierten Arzneien niemals zu Hochpotenzen wurden. Aus Sicht Koetschaus und der ihn unterstützenden Ärzte Hans Wapler (1866-1951), Fritz Donner (1896-1979) und Alfons Stiegele (1871-1956) war damit belegt, dass zahlreiche Anhänger der Hochpotenzen nur Tiefpotenzen appliziert hatten. Dass Hahnemann selbst und seine Anhänger niemals die Einglasmethode verwendet hatten, wurde in der Debatte nicht thematisiert. Koetschaus Studien waren auch deshalb wichtig, weil durch die Wiederentdeckung und Edition der 6. Auflage von Hahnemanns »Organon« 1921 die höheren Potenzen als lege artis gedeutet werden konnten38 und zeitgleich in der experimentellen Pharmakologie Gelehrte Ergebnisse publizierten, die eine Wirksamkeit von Hochpotenzen naturwissenschaftlich erklärbar erscheinen ließen. Dabei handelte es sich um die sogenannten »oligodynamischen Wirkungen«.39 Jedoch wurden die wichtigsten Akteure bis Ende der 1920er Jahre zumindest in Teilen widerlegt.40 In Stuttgart förderte der Industrielle Robert Bosch (1861-1942) die klinische Homöopathie. Hier wirkte Stiegele als Chefarzt am homöopathischen Krankenhaus. Er war ein Förderer der Tiefpotenzen. Als solche galten ihm die D-Stufen 0-6, während D6-D12 die Grenzen für die mittleren Potenzstu-

35 Kirn (1917). 36 Doms (2005), S. 247. 37 Koetschau/Simon (1928). 38 Hahnemann (1921). 39 Krawkow (1923); Junker (1925); Kolisko (1926/27); Saxl (1927); Junker (1928). 40 Seybold (1927); Freundlich/Söllner (1928).

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fen markierten. D12-D20 waren höhere Potenzen, und alles jenseits davon galt als »Hochpotenz«.41 Stiegele leitete gemeinsam mit Donner und dem Schweizer Arzt Edwin Scheidegger (1867-1949) die Aus- und Fortbildungskurse, wodurch sowohl angehende homöopathische Ärzte als auch Laienpraktiker für die Tiefpotenzen begeistert wurden. Letztere zu disziplinieren und von den Hochpotenzen fernzuhalten, wurde in den 1930er Jahren zu einem wichtigen Thema, da die Nationalsozialisten 1939 ein Heilpraktikergesetz erließen.42 Dabei war das Zahlenverhältnis zwischen Ärzten und Laienpraktikern für Erstere ungünstig; schon 1907 gab es nach Schätzungen etwa 500 homöopathische Ärzte, aber mehr als 400 Laienvereine.43 Neben der Dosologie stritten Ärzte und Laien auch über den Sinn der Komplexmittel.44 Doch nach Wunsch der nationalsozialistischen Ärzteführung gab es ab 1939 nur noch »eine« Homöopathie. Donner und der Arzt Heinz Schoeler (1905-1973) unternahmen naturwissenschaftlich abgesicherte Nachweisstudien, um die Wirksamkeit der homöopathischen Arzneien, des Simile-Prinzips und der Tiefpotenzen zu beweisen.45 Aber bereits vor 1945 deutete sich in der naturwissenschaftlichen Homöopathie ein Kurswechsel an. Zum einen zogen homöopathische Ärzte die Aussagekraft der Studien Koetschaus für die Praxis in Zweifel46, zum anderen betonte beispielsweise der Berliner Arzt Benno Schilsky (1896-1971), Hochpotenzen erfolgreich nach dem Mehrglasverfahren herzustellen bzw. von Pierre Schmidt (1894-1987) aus Genf zu beziehen47. Außerdem verliefen die von Fritz Donner geleiteten Studien zur naturwissenschaftlichen Beweisführung der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien und der Korrektheit der Lehre nicht erfolgreich.48 1949 erklärte dann Alfons Stiegele, die Kritik der naturwissenschaftlichen Homöopathie an den Hochpotenzen und ihren Anhängern sei in den letzten Jahren viel zu weit gegangen. Hochpotenz-Homöopathie sei auch wissenschaftliche Homöopathie.49 Alsbald wurde bekannt, dass ein Schweizer Homöopath namens Flury mit Original-Hochpotenzen aus dem Nachlass

41 Assmann (1938), S. 47. 42 Faltin (2000), S. 315-317. 43 Arendt (1907), S. 159. 44 Blessing (2010), S. 14, 18. 45 Walach (1992), S. 46-53. 46 Bergner (1942). 47 Schilsky (1941), S. 308; Schwarzhaupt (1942), S. 34. 48 Bothe (1996), S. 86. 49 Stiegele (1949), S. 54f.

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Hahnemanns Heilerfolge erzielte.50 Dabei handelte es sich um Rudolf Flury (1903-1977), der erstmals 1948 auf Tagungen seine Krankengeschichten vorgestellt hatte und auch selbst Hochpotenzen herstellte.51 Sein Landsmann Jost Künzli von Fimmelsberg (1915-1992) begann in den 1950er Jahren die Anwendung der Hochpotenzen wissenschaftstheoretisch zu untermauern, indem er sie als Q-Potenzen (quinquaginta milia = 50.000) benannte und so die seit den Tagen Hahnemanns unklaren Dosierungsvorschriften neu definierte.52 Zur gleichen Zeit bürgerte sich der Ausdruck »LMPotenzen« ein, der jedoch als Produkt fehlerhafter Quellenauswertung angesehen werden muss.53 Künzlis und Flurys Hochpotenzen fanden ihren Weg in die Praxis, die genaue Zusammensetzung der von Hahnemann selbst angewandten Potenzen aber blieb in der Historiographie der alternativen Heilweisen noch jahrzehntelang unklar. Dies änderte sich erst zu Beginn der 1990er Jahre54 und mündete in einer Kontroverse unter Historikern über die Hochpotenzen55. Die verbliebenen unbedingten Anhänger der Tiefpotenzen, allen voran Heinz Schoeler und Hans Ritter (1897-1988), widersetzten sich dem Trend zur Anerkennung der Hochpotenzen in den 1950er Jahren. Allerdings konnten sie nicht mehr auf die Unterstützung des Robert-BoschKrankenhauses setzen, da mit dessen Leitung 1949 der aus dem Exil zurückgekehrte Otto Leeser (1888-1964) beauftragt worden war, der den Hochpotenzen höchst aufgeschlossen gegenüberstand.56 In Stuttgart fanden auch die einzigen Ausbildungskurse für interessierte Ärzte statt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügten.57 Nun wurden hier nicht mehr ausschließlich Tiefpotenzen (wie unter Stiegele) in Ausbildungs- und Auffrischungskursen gelehrt. Die Untergliederung in Tief-, Mittel- und Hochpotenzen veränderte sich ebenfalls: Als niedrig galten nun D1-D6, mittel D6-D12, hoch D12-D30, und darüber hinaus gab es die »eigentlichen« Hochpotenzen (z. B. D60, D500, D1000).58 50 Kritzler-Kosch (1952). 51 Jütte (2007), S. 23f. 52 Künzli v. Fimmelsberg (1956); Künzli v. Fimmelsberg (1960). 53 Seiler (2014), S. 12f. 54 Barthel (1990); Barthel (1995); Sauerbeck (1990). 55 Hadley (1993), S. 141; Adler (1995); Jütte: Enträtselung (1995); Kunkle (2002); Jütte (2007); Adler/Schiabel Adler/Padula (2009). Nachüberprüfung der Herstellungsmethoden bei Seiler (2014), S. 29-35. 56 Leeser (1931); Leeser/Janner (1953). 57 Rabe (1952), S. 180. 58 Gauß (1958), S. 23.

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Die pharmazeutische Firma Heel unter Leitung von Hans Heinrich Reckeweg (1905-1985) löste die Debatte auf ihre Weise, indem sie den Ärzten eine neue Form von Arzneien anbot, die sogenannten »Potenzakkorde«.59 Diese enthielten verschiedene Dosierungen einer Arznei in einem Produkt. Dem lag die Idee zugrunde, dass jede Potenzstufe auf einen bestimmten Teil der Krankheit wirke. Nutzer der Potenzakkorde (z. B. D6/10/30/200) konnten sowohl Anhänger von Hoch- wie auch Tiefpotenzen sein, da jede Seite den optimalen Nutzen des Medikaments dem jeweiligen Potenzanteil zubilligen konnte, ohne die Gegenseite als unwissenschaftlich darstellen zu müssen. Diejenigen homöopathischen Heilkundigen, die das Konzept der Isopathie präferierten, belieferte Heel mit sogenannten »Suis-Organ-Präparaten«.60 Doch die Entwicklung hin zu einer Hochpotenz-Homöopathie in der Bundesrepublik Deutschland wurde durch die Entlassung Otto Leesers als ärztlicher Direktor des Robert-Bosch-Krankenhauses, u. a. wegen seines Eintretens für die Hochpotenzen, 1955 jäh unterbrochen.61 Die nachfolgende enervierende Suche nach einem Nachfolger und der Streit über die Möglichkeit der Einbindung von Hahnemanns Lehre in eine moderne Klinik offenbarten die Schwierigkeiten der Homöopathie im antibiotischen Zeitalter. Hans Ritter, der von 1957 bis 1965 am Haus arbeitete, gelang es nicht, die von ihm favorisierten Tiefpotenzen in den klinischen Alltag einzubringen.62 1973 endete die Anwendung homöopathischer Praktiken am Robert-Bosch-Krankenhaus. Ein Teil Deutschlands blieb weiterhin das Zentrum der Tiefpotenzen und des Drangs zur naturwissenschaftlichen Untermauerung der Homöopathie: die DDR.63 1961 machte Pierre Schmidt auf die Tatsache aufmerksam, dass den niedergelassenen Ärzten längst – und vor Koetschau/Simon – bekannt gewesen war, dass die Einglasmethode nach Korsakoff bestimmter Umrechnungen der Wirkstoffinhalte bedurfte, um auf jeden Fall Hochpotenzen zu produzieren.64 Spätestens zu diesem Zeitpunkt standen die Anhänger der Tiefpotenzen als fehlgeleitete Akteure da: Ihre Feldzüge gegen die Hochpotenzen hatten jeglichen Bezugs zur ärztlichen Praxis entbehrt, und die Studien zum naturwissenschaftlichen Beweis der Wirksamkeit von Homöopathie waren offenkundig gescheitert.

59 Blessing (2010), S. 93. 60 Fragen aus der Praxis (1966/67); Blessing (2010), S. 95. 61 Rueß (2009), S. 182. 62 Faltin (2002), S. 285. 63 Nierade (2012), S. 26. 64 Pierre Schmidt (1961), S. 212.

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Homöopathie an sich war zu einem sehr kleinen Bereich des medizinischen Marktes geworden.65 Die Zahl der Teilnehmer an den Fortbildungskursen im Robert-Bosch-Krankenhaus nahm stetig ab.66 Viele Hausärzte boten Homöopathie neben der üblichen Medizin an.67 Hahnemanns Lehre büßte so ihren Einmaligkeitscharakter ein. Als aber im Laufe der 1950er Jahre in gesundheitspolitischen Debatten ein Ausschluss der Homöopathen vom medizinischen Markt aufgrund ihrer Marginalität angedacht wurde, kam es zu einer Umkehrung des Trends. Die Zahl der Mitglieder im homöopathischen Ärzteverband stieg von 900 im Jahre 1956 auf 950 anno 1963.68 Allen Akteuren war bewusst, dass die für die Außenwirkung verheerenden dosologischen Selbstzerfleischungsdebatten mit schuld waren für die Marginalisierung der Homöopathie. So kam es zu einer Entspannung der Dispute in diesem Bereich. Gleichzeitig profitierten die Homöopathen zunehmend von Misserfolgen der Schulmedizin in den 1960er Jahren (Contergan).69 Hinzu kam das Interesse der Patienten an einer preiswerten Alternative.70 Eine repräsentative Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Jahre 1975 ergab, dass 31 Prozent aller erwachsenen Westdeutschen zufrieden mit der Homöopathie, Naturheilkunde und Biochemie (Schüßler) waren.71 Welcher Art die »Homöopathie« aber war, ob die Patienten Hoch- oder Tiefpotenzen bevorzugten, wurde nicht untersucht. USA Die »eine Homöopathie« gab es auch in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht. Hierher war die Homöopathie 1828 durch den dänischen Emigranten Hans B. Gram (1786-1840) gelangt. 1833 wanderte der wirkmächtige Arzt Constantin Hering ein.72 Es war die Zeit der Cholera, die in Europa der Homöopathie einen enormen Schub verschaffte, und so war es auch in den USA. Die Schwerpunkte der neuen Schulrichtung lagen in Pennsylvania (Philadelphia), Chicago, Boston und New York.73 1844 gründeten amerikanische homöopathische Ärzte in Reaktion auf Angriffe ihre eigene Standesorganisation, das American Institute of Homoeo-

65 Beyer-Enke (1963), S. 324; Eschenbruch (2008), S. 53. 66 Faltin (2002), S. 258. 67 Schlich/Schüppel (1996), S. 215. 68 Schlich/Schüppel (1996), S. 216. 69 Schwerin (2009), S. 256. 70 Dinges (2012), S. 140. 71 Noelle-Neumann (1976), S. 188. 72 Kaufman (1971), S. 28; Schüppel (1996). 73 Jütte: Professionalisation (1995), S. 57; Rogers (1996), S. 271.

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pathy (AIH).74 In den Attacken war am Rande auch die Dosologie ein Thema gewesen. Vor allem aber wurde das Simile-Prinzip diskutiert.75 Die Frage der korrekten Dosierung spielte in der innerhomöopathischen Debatte zunächst kaum eine Rolle, doch 1857 brachte ein Arzt den Vorschlag ein, basierend auf den Überlegungen Clemens von Bönninghausens eine C200-Potenz zu verwenden. Daraufhin berichtete der New Yorker Homöopath Bernhardt Fincke (1821-1906) von Erfolgen mit hunderttausendfach verdünnten Arzneien.76 Doch waren diese Dosierungen stets individualspezifisch, so erklärte Egbert Guernsey (1823-1904) 1862: »No definite rule can be given as to the amount of the dose in all cases.«77 Eine Unterteilung schien ihm allenfalls anhand der Temperamente möglich; nervöse Patienten (und Kinder) sollten die höheren Potenzen, »Gallentemperamente« die niederen erhalten.78 Nun rückte die Frage nach der korrekten Dosologie in den Vordergrund der innerhomöopathischen Debatten, aber auch im Rahmen der Diskussionen über die Homöopathie insgesamt. Doch mangelnde Kooperationsbereitschaft innerhalb der Allopathie und der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) unterbanden eine sofortige Bekämpfung der Homöopathie. Diese war von allen Angeboten auf dem medizinischen Markt für die ärztliche Orthodoxie die gefährlichste Herausforderung.79 Dass sich so viele amerikanische Homöopathen für die höheren Potenzen entschieden, hing mit zwei Faktoren zusammen: Einerseits war der wichtigste Verfechter einer Verwissenschaftlichung den Hochpotenzen gegenüber positiv eingestellt, zum anderen sorgten technische Neuerungen für eine vereinfachte Herstellung. Constantin Hering war es, der in den 1850er Jahren durch die Arzneimittelprüfungen die Homöopathie verbesserte.80 Hering beobachtete die deutschen Grabenkämpfe aus der Distanz und integrierte einen Teil der deutschsprachigen Forschungsergebnisse in seine eigenen, den amerikanischen Diskurs stark beeinflussenden Arbeiten.81 Das nach ihm benannte »Hering’s law« beschrieb, wie sich ein akutes Leiden in eine chronische Krankheit verwandelte und wie man diese homöopathisch bekämpfen konnte.82 Hering sah sich als Naturwissenschaftler83 und beför74 Kaufman (1988), S. 101. 75 Holmes (1899). Zur Argumentationslinie der Homöopathen siehe Okie (1842); Neidhard (1842); Robert Wesselhoeft (1842). 76 Conrad Wesselhoeft (1880), S. 328. 77 Egbert Guernsey (1862), S. 12. 78 Egbert Guernsey (1862), S. 13. 79 Jütte: Professionalisation (1995), S. 45. 80 Hering (1857); Hirschel (1853), S. 18. 81 Josef M. Schmidt (2011), S. 173. 82 Coulter (1977), S. 417.

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derte gleichzeitig den Einsatz der aus Deutschland stammenden Hochpotenzen Caspar Julius Jenichens84. Deren Herstellungsweise war schwierig, doch der Arzt Bernhardt Fincke stellte 1868 ein auf dem Korsakoffschen Einglasverfahren basierendes maschinelles Potenzierverfahren vor, das eine rasche Bereitstellung von hohen Potenzen ermöglichte.85 Es folgte 1873 eine verbesserte Maschine des größten nordamerikanischen Produzenten für homöopathische Arzneimittel, Boericke&Tafel. Diese Apparatur ermöglichte 100 Potenzierschritte in einer Minute.86 Hochpotenzen waren so schnell verfügbar und interessierte Laien mussten nicht mehr komplizierte Potenzierverfahren erlernen, Homöopathie wurde zur leicht nutzbaren Heilslehre für die breite Masse. Die vielfältigen Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Potenziermaschinen führten zu einem inflationären und nicht mehr überblickbaren Markt an verschiedenen Hochpotenzen und Dosierungen. Nur der versierte Fachmann konnte die Abkürzungen auf den Fläschchen zuordnen und mit Hilfe der firmenspezifischen Anleitungen die Potenzen erkennen, z. B. »B&T« für Boericke&Tafel, »Sw« für Samuel Swan und »F« für Bernhardt Fincke.87 Die Möglichkeiten der Maschinen veränderten die Einstellung der Akteure, welche Potenz hoch und welche niedrig sei. Niedrig schien alles von C6 bis C60, Potenzen von 200 bis 1000 galten noch als mittel, und erst über 1000 begannen die eigentlichen Hochpotenzen.88 Andere Ärzte nahmen an, C30-C200 seien mittlere Potenzen.89 Diesem Wirrwarr standen zahlreiche um ihren Vorrang fürchtende homöopathische Ärzte kritisch gegenüber und lehnten die Professionalisierung der Laien ab. Doch auch die Tiefpotenzler interpretierten frei, was eine Urtinktur oder Tiefpotenz war. So erklärte E. M. Hale auf der Jahrestagung des AIH 1870: »To nine drachms (3ix.) of pure distilled water add fifty-four (54) grains of crude Bromide of Potassium. This is called the mother tincture.«90 Die Leitung der Dachorganisation der homöopathischen Fachgesellschaften, das AIH, konnte und wollte den Streit nicht schlichten, weshalb die Anhänger der Hochpotenzen 1880 auf der Jahresversammlung des AIH in Milwaukee die Gründung der International Hahnemannian Association (IHA) verkündeten und sich separierten.91 Unter den führenden Abweich83 Hering (1854), S. 105f. 84 Fincke (1869), S. 63. 85 Gypser (2011), S. 70; Mayr (2013), S. 56-61. 86 Gypser (2011), S. 97. 87 Douglas W. Smith (2011), S. 279. 88 Hutchinson (1927), S. 161. 89 Carriwitches (1928), S. 349. 90 Hale (1871), S. 370. Hervorhebung im Original. 91 Rogers (1996), S. 280.

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lern befanden sich Adolph Lippe (1812-1888), Pheneas P. Wells (18081891) und James Tyler Kent (1849-1916). In den 1880er Jahren entfaltete sich in den USA ein gigantischer Markt an Selbstbehandlungsanleitungen für interessierte Laien, die über Hausfrauenzeitschriften und Illustrierte Verbreitung fanden.92 Gleichzeitig begann die Rezeption der Philosophie Emanuel Swedenborgs (1688-1772) und der Konstitutionslehre Eduard von Grauvogls (1811-1877).93 Die amerikanische Homöopathie differenzierte sich endgültig in jene, die ganz auf Hahnemann bzw. Bönninghausen vertrauten (»pure«) und höhere Potenzen verwendeten, und andere, die den »infinitesimal doses« höchst ablehnend gegenüberstanden (»mixer«). Erstere sammelten sich unter dem Banner der Zeitschrift The Homoeopathic Recorder. Sie waren sehr bemüht, Nachweise für die Wirkung der Hochpotenzen zu entdecken, und griffen dabei auch auf unkonventionelle Ideen zurück, z. B. die Nervenzeit-Lehre des Arztes und Lebensreformers Gustav Jäger (1832-1917).94 Alle Akteure aber waren von dem »diploma mill scandal« über den Verkauf homöopathischer Doktorgrade betroffen, der die 1847 als Reaktion auf das AIH gegründete American Medical Association (AMA) veranlasste, den Kampf gegen die Homöopathie wiederaufzunehmen.95 Die Professionalisierung der Schulmedizin durch die Erfolge von Bakteriologie und Hygiene sowie die Entfaltung einer pharmazeutischen Industrie begünstigten eine Erstarkung der Gegner der Homöopathie.96 Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, suchten die Mitglieder des AIH auf ihren Tagungen der Naturwissenschaftlichkeit der Homöopathie durch die Verwendung tiefer Potenzen Ausdruck zu verleihen.97 Doch es gab auch innerhalb des AIH eine ganze Reihe von Anhängern der Hochpotenzen, die Grenzen zwischen AIH und IHA verschwammen rasch in dosologischer Hinsicht.98 In der Lehre an den Colleges wurde offenbar die Dosologie in den 1890er Jahren allmählich ausgeblendet, um die harten Debatten zu vermeiden. So erklärte ein Dozent auf der Jahrestagung des AIH 1894: »I do not teach potency.«99 Ein Jahr später versuchte der in Chicago lehrende Arzt und Dozent William J. Hawkes zu vermitteln: Der »emaciated body« reagiere anders als der gesunde – waren die Arzneimitteltests an Gesunden damit wertlos? Es sei 92 Pray (2003), S. 21. 93 Haller (2009), S. 38-41. 94 Allen (1881), S. 224; Fincke (1883), S. 462. 95 Kaufman (1988), S. 109; Jütte: Professionalisation (1995), S. 50; Josef M. Schmidt (1996), S. 107. 96 Schüppel (1996), S. 306. 97 Breyfogle (1880); H. N. Guernsey (1882). 98 Cranch (1881); Armstrong (1881); Sherman (1886); Conrad Wesselhoeft (1886). 99 Bojanus (1894), S. 452.

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möglich, sich auf Hochpotenzen zu stützen, doch sollten die Dosierungen in Relation zur Art der Krankheit (somatisch/psychisch) stehen.100 Abschließend bekannte Hawkes, dass die Anhänger der Hochpotenzen sehr viele erfolgreiche Krankengeschichten zur Entwicklung der Homöopathie beigesteuert hätten. In der Vorgehensweise waren sich die Homöopathen unsicher; so wurden von Anhängern der Hochpotenzen gelegentlich mehrere ansteigende Potenzen verordnet, anstatt im Sinne Hahnemanns eine Einzeldosis zu verabreichen.101 Hinzu kam, dass manche Homöopathen DPotenzen, andere C-Potenzen verschrieben.102 Infolge des Flexner-Reports 1908-1911, aber auch schon aufgrund der Anstrengungen der AMA zur Professionalisierung der medizinischen Colleges ab 1900 kam es zu einem Professionalisierungsschub innerhalb der amerikanischen Homöopathie, der darin mündete, dass alle Ausbildungsstätten der Oberaufsicht des AIH unterstellt wurden.103 Dies konnte jedoch den Niedergang der universitären Homöopathie nicht aufhalten.104 1911 hatte es noch 60 homöopathische Ausbildungskrankenhäuser gegeben.105 In den 1920er Jahren war die Zahl auf vier gesunken, und nach 1945 blieb nur noch das Hahnemann College in Philadelphia übrig.106 Die Homöopathen hatten die Neuentwicklungen in der Schulmedizin seit den 1880er Jahren schlicht verschlafen und suchten nach Möglichkeiten der Neuorientierung. Nun wurden hektisch Vorschläge zum Arzneimitteltest, zur Kooperation mit der Hydrotherapie und der erfolgreichen Anwendung von Hochpotenzen unterbreitet.107 Es wurden erstmals Zweifel an der Richtigkeit der Potenzierweise nach Korsakoff laut.108 Um Anschluss an die neuesten Erkenntnisse der Bakteriologie zu gewinnen, versuchten die Mitarbeiter des AIH das Syphilismedikament Salvarsan als homöopathisch wirksam zu interpretieren.109 Dies dürfte zu einem Ende der Annäherung an die IHA geführt haben, deren Vertreter (übrigens ebenso wie die gesamte deutsche Homöopathie) das Medikament strikt ablehnten.110 100 Hawkes (1895), S. 286. 101 Lyon (1906), S. 562; Nebel (1906), S. 566. 102 Sherman (1880), S. 309. 103 Haller (2009), S. 16. 104 Josef M. Schmidt (1996), S. 110. 105 Haller (2009), S. 17. 106 Kaufman (1988), S. 112. 107 Brown (1913/14); Clark (1913/14); Rice (1913/14). 108 Rand (1912/13), S. 556. 109 Collins (1913/14); Lynn J. Boyd (1920/21); Lynn J. Boyd (1936), S. 260. 110 Deafness (1912); Syphilis (1914); Coleman (1921). Für die Debatte in Deutschland siehe Mildenberger (2011).

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Entscheidenden Einfluss auf die gesamte Entwicklung der Homöopathie nahmen die amerikanischen Ärzte William Boericke (1849-1929) und James W. Ward (1862-1939), indem sie Richard Haehl (1873-1932) 1920 beim Ankauf des Manuskripts der 6. Auflage von Hahnemanns »Organon« unterstützten und damit der gesamten Dosologiedebatte in der Homöopathie eine neue Wendung gaben.111 Die Anhänger der Hochpotenzen gründeten 1921 die »American Foundation for Homeopathy« unter Mitarbeit bzw. Leitung von Julia M. Green (1871-1963), Alonzo E. Austin (1868-1948), Cyrus M. Boger (1861-1935), George E. Dienst (1858-1932), Frederica E. Gladwin (1856-1931) und Frank W. Patch (1862-1923). Bis in die 1940er Jahre hinein wurde die Homöopathie im Stil Bönninghausens und Hahnemanns recht erfolgreich gelehrt, auch postgraduate education betrieben, ehe das Interesse in den 1950er Jahren stark abnahm.112 Die Anhänger der Hochpotenzen konnten sich aber nun sicher sein, im Sinne Hahnemanns zu handeln, indem sie die Hochpotenzen präferierten. Die an einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Homöopathie interessierten Befürworter niedriger Potenzen konnten erst 1930 zu einem Gegenangriff übergehen, als sie die Studien Karl Koetschaus rezipierten, wonach das bei Hochpotenzherstellung übliche Einglasdosierungsverfahren unwissenschaftlich sei.113 Auch wurde die von den deutschen homöopathischen Ärzten genutzte Arndt-Schulzsche Regel akzeptiert.114 Doch der unaufhaltsam voranschreitende Bedeutungsverlust der universitär verankerten Homöopathie115 und die damit verbundene verstärkte Suche nach neuen Anhaltspunkten für einen Nachweis der Wirksamkeit von Homöopathie mündeten fast automatisch in einer Stärkung der Fraktion der Anhänger von Hochpotenzen. Denn ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die Modernisierung der Homöopathie einerseits und ihre Wirkerklärung andererseits war beispielsweise die Bakteriologie, wie Stuart Close (1860-1929) argumentierte.116 Ebenso war es mit der Quantenlehre, die von interessierten Homöopathen sogleich als Nachweis der Wirksamkeit kleinster Einheiten gedeutet wurde117, und der Debatte um die Wirksamkeit oligodynamischer Substanzen118. Arzneimitteltests wurden häufig mit Hochpotenzen durchgeführt.119 Doch noch 1945 waren sich die Anhänger der Hochpotenzen nicht einig, 111 Jütte (2007), S. 16. 112 Haller (2009), S. 67. 113 Koetschau (1930). 114 Koetschau (1932). 115 Haller (2009), S. 30. 116 Close (1925). 117 Kaplowe (1937); Roberts (1942). 118 Coulter (1994), S. 168. 119 MacFarlan (1940); Sutherland (1940).

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welche Dosierungen für bestimmte Patienten angemessen wären. Ein Arzt aus Chicago empfahl für Kinder Potenzen der Stärke 1M, doch ein Kollege applizierte hier bevorzugt mittlere Potenzen.120 Die Ärztin Grace Stevens aus Northampton in Massachusetts empfahl, die Dosierung von der individuellen Konstitution des Patienten abhängig zu machen und nicht nach festen Mustern vorzugehen.121 Ein anderer Kollege berichtete von einer erfolgreichen Selbstbehandlung mit Tiefpotenzen, die bei seiner Ehefrau hingegen versagte. Sie bekam eine hochpotenzierte Arznei.122 Die Debatte um die Wirkungsdauer einer hochpotenzierten Arznei wurde zudem durch die Rezeption der Theorien Rudolf Steiners (1861-1925) noch einmal befeuert.123 Zunehmend machte sich die Überzeugung breit, psychosomatische Leiden bedürften einer Hochpotenzkur.124 Es gab aber auch kritische Stimmen, wonach die Hinwendung zu den Hochpotenzen in der amerikanischen Homöopathie eventuell in Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust auf dem medizinischen Markt in Zusammenhang stehen könnte.125 Andere Autoren hingegen betonten, der Erfolg in der Behandlung habe immer mehr Homöopathen veranlasst, höhere Potenzen zu nutzen.126 Als wissenschaftstheoretische Grundlage war weiterhin die Arndt-Schulzsche Regel in Gebrauch, die ja eigentlich popularisiert worden war, um die Hochpotenzen zu marginalisieren.127 Die dosologischen Debatten verloren für die amerikanischen Homöopathen in den 1950er Jahren an Bedeutung, und damit entfiel der Hauptgrund für die Teilung in »pure« und »mixers« bzw. Journal of the American Institute of Homoeopathy und Homoeopathic Recorder. Es gab keine Colleges mehr, keine Studenten, und das Interesse der Öffentlichkeit an der Homöopathie hatte offenbar stark nachgelassen. 1959 stellte der Recorder sein Erscheinen ein bzw. verschmolz mit dem Journal. Die Hochpotenzen machten sich in den Forschungsberichten im Journal breit.128 Sogar Potenzen nach Jenichen waren in den 1950er Jahren weiterhin in Gebrauch.129 Studien zum Wirkungsnachweis führten Mitglieder von homöopathischen Ärztefamilien durch, aber keine Neueinsteiger.130 Auch den Studien William Boyds (1891120 Stevens (1944/45), S. 306. 121 Stevens (1944/45), S. 306f. Ähnlich auch Rastogi (1951/52), S. 233. 122 Norden (1946/47), S. 67. 123 Grimmer (1946/47), S. 200; Pulford (1946/47). 124 Hayes (1947/48); Frymann (1950/51), S. 108; Foubister (1951/52), S. 20. 125 Hayes (1951/52), S. 6. 126 Genis (1952/53), S. 283. 127 Bhattacherjee (1958/59), S. 46. 128 Gutman (1956). 129 Shupis (1954/55), S. 229. 130 Siehe z. B. Douglas W. Smith (2011), S. 279.

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1955) in Glasgow wurde große Bedeutung beigemessen.131 In den USA aber wurde die Durchführung entsprechender Tests im universitären Rahmen durch die Schließung der homöopathischen Fachrichtung am Hahnemann Medical College 1958 und schließlich den Tod des bedeutenden Gelehrten Garth W. Boericke (1893-1968) endgültig beendet.132 An die Stelle des Streits um die Dosologie rückte eher die Frage nach der Modernisierung der homöopathischen Diätetik und ihrer Anpassung an die nordamerikanischen Essgewohnheiten der 1950er Jahre.133 Insgesamt jedoch verlor die nordamerikanische Homöopathie in Ärztekreisen weiter an Bedeutung, während die in der »Laymen’s League« zusammengefassten Heilpraktiker ihren Einfluss stärken konnten.134 Hierbei kam es nicht nur zu einer Instrumentalisierung der Homöopathie für die weibliche Emanzipation, sondern ab den 1960er Jahren auch zu einer Öffnung hin zu fernöstlicher Esoterik, wodurch die Homöopathie in den USA sich von den Idealen einer naturwissenschaftlichen Heilkunde zunehmend entfernte. Allerdings hatten bereits Anfang der 1950er Jahre einige Ärzte angenommen, die Zukunft der Homöopathie läge ohnehin in Indien.135 Die Hinwendung zu esoterischen Einflüssen stärkte die Position der Anhänger dynamisierter Arzneiwirkungen und der Wirkungsmacht der Lebenskraft, wird aber auch manchen Patienten verschreckt haben. Doch in den 1960er Jahren dürfte sich die soziale Zusammensetzung der Nutzer der Homöopathie ohnehin verändert haben, da durch den von US-Präsident Lyndon B. Johnson (1908-1973) 1963 verkündeten »war on poverty« viele sozial Benachteiligte erstmals in den Genuss staatlich bezahlter (exklusiv allopathischer) Fürsorge gelangten.136 Neue Medikamente wie die »Pille«, Valium oder die PolioImpfung beschränkten den Markt für die Homöopathie ebenfalls. Die Überwindung der Debatten um die Dosologie gelang in den 1960er Jahren, da sich nun die Hochpotenzen weitgehend durchsetzten.137 Tiefpotenzen bis C6 wurden nur bei schweren pathologischen Veränderungen im Körper empfohlen, (akute) funktionelle Störungen hingegen mit Potenzen zwischen C6 und C200 behandelt und alle Leiden chronischer und psychosomatischer Natur mit Potenzen jenseits von C200.138 Trotz des Drucks von außen 131 Helleday (1957/58). 132 Rogers (1998), S. 196. 133 Siehe Underhill (1957/58), S. 6. 134 Haller (2009), S. 206. 135 Genis (1952/53), S. 285. 136 Patel/Rushefsky (1999), S. 34; Gregory (2003), S. 203. 137 Records (1961); Wright-Hubbard (1965); Goldberg (1966); Trexler (1967); Smith/Boericke (1967); Westlake (1969); Pierre Schmidt (1969). Für weitere Diskussionen siehe Baker (1962). 138 Roger A. Schmidt (1967), S. 236.

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gab es weiterhin keine in den gesamten USA von der homöopathischen »Community« anerkannte Fortbildungs- oder Ausbildungsmöglichkeit. Diese war erst ab 1978 mit der Gründung des John Bastyr College of Naturopathic Medicine in Seattle wieder gegeben. Nun konnte die Homöopathie sich landesweit erneut professionalisieren und wieder ausbreiten – als »upper class medicine«. Großbritannien Die Anfänge der britischen Homöopathie sind untrennbar mit dem streitbaren Arzt Frederic Hervey Foster Quin (1799-1878) verbunden, der ab 1832 in seiner Heimat homöopathisch tätig wurde und neben dem Aufbau einer Fachgesellschaft (British Homoeopathic Society, BHS) auch die Gründung eines Krankenhauses in London 1849 vorantrieb.139 Die englische Oberschicht spielte als Klientel stets eine wichtige Rolle.140 Die homöopathischen Ärzte übten durch die Wahl kleiner Portionen an Arzneien einen ziemlichen Einfluss auf ihre allopathischen Kollegen aus, wurden aber ab den 1850er Jahren (Medical Act 1858) von diesen zunehmend bekämpft.141 Um nicht zusätzliche Angriffspunkte zu bieten, empfahlen die homöopathischen Ärzte die Verwendung niederer Potenzen, so dass der Unterschied zu den Allopathen in dosologischer Hinsicht nicht zu sehr ins Gewicht fiel. Der einflussreiche Gelehrte Robert E. Dudgeon (18201904) betonte, die Lehre der Hochpotenzen zwar als interessant einzustufen, doch halte er sie insgesamt für der Homöopathie abträglich und verurteile sie deshalb und aufgrund eigener Erfolge mit Tiefpotenzen.142 Er lehnte (ebenso wie Quin) die Förderung der Laienpraktiker ab, u. a. wegen ihrer Nähe zu den Hochpotenzen. Diese seien nur passend »to such dilettanti practitioners as Bönninghausen and such enthusiastic gobemouches as Gross and Company«.143 Auch bezweifelte er die Möglichkeit einer korrekten Zubereitung der Hochpotenzen.144 Neben Dudgeon wirkten Richard Hughes (1836-1902) oder William Henderson (1810-1872) stilbildend für die ärztliche Homöopathie in England, die spätestens in den 1870er Jahren erstarrte, an Bekanntheit verlor und keine Weiterentwicklung in der Lehre produzierte.145 Jüngere homöopathische Ärzte begannen sich nach Amerika zu orien-

139 Reiswitz (2008), S. 137. 140 Nicholls (2010), S. 287. 141 Nicholls/Morrell (1996), S. 196. 142 Dudgeon (1854), S. 415, 437. 143 Dudgeon (1854), S. 446. Hervorhebungen im Original. Bezüglich Quins Einstellung zu den Praktikern siehe Morrell (1998), S. 112. 144 Dudgeon (1891). 145 Nicholls (2010), S. 291.

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tieren, wo die Verwendung von höheren Potenzen anerkannt war.146 Thomas Skinner (1825-1906), James Compton Burnett (1840-1901), Robert Thomas Cooper (1844-1903) oder John Henry Clarke (1853-1931) waren am Einsatz höherer Potenzen interessiert. Skinner entwickelte gar eine Fluxationsmaschine147 und stellte nach seinem Aufenthalt in den USA 1876 Kontakte u. a. zu James Tyler Kent her148. Auf diese Weise breitete sich gegen den Widerstand der BHS die Verwendung von Hochpotenzen jenseits von C30 in Großbritannien aus. Allerdings war das Interesse an der Nutzung höherer Potenzen nicht mit einer einseitigen Hinwendung verbunden. So war beispielsweise Burnett überzeugt, dass Tiefpotenzen bei organischen Leiden sehr nützlich sein könnten und die Hochpotenzen an Wirkung überträfen.149 Eine Vielzahl an leicht verständlichen Hausbüchern zur Anwendung und Erlernung der homöopathischen Heilkunst begünstigte die Professionalisierung von Laienpraktikern. Während in den 1850er Jahren in diesen Büchern noch niedere Potenzen beworben wurden150, fehlen später häufig direkte posologische Empfehlungen151. Richard Hughes betonte einerseits den Wert der Potenzen bis C30, erwähnte aber andererseits auch, dass angewandte Homöopathie nur von »diligent workers« betrieben werden könne, die auch über eine 71.000-fach verdünnte Potenz verfügten.152 Die zunehmenden Differenzen innerhalb der BHS über die Dosologie mündeten schließlich in einen großen Streit um 1900, in dessen Verlauf Clarke und seine Anhänger die BHS verließen und verstärkt Ausbildungskurse für Laienpraktiker offerierten.153 Dadurch kam es zu einer Separierung zwischen der kleinen Gruppe der Tiefpotenzen anbietenden und über gute Kontakte zur »upper class« verfügenden homöopathischen Ärzteschaft und den sich für Hochpotenzen interessierenden Laienpraktikern. Zu Clarkes bekanntesten und wichtigsten Schülern zählten der durch Homöopathie von einer schweren Krankheit geheilte Noel Glendower Puddephatt (1899-1978), der Geistliche Roland Upcher (1849-1929) und der deutsche Emi-grant Julius Otto Eltzbacher (1870-1948), der sich im Ersten Weltkrieg in J. Ellis Barker umbenannte. Clarke war es gelungen, einen reichen Gönner für seinen Stil der Homöopathie zu gewinnen. Durch die Übernahme der Zeitschrift The Homoeopathic World erreichten die Anhänger der Hochpotenzen viele Inte146 Haller (2009), S. 46f. 147 Gypser (2011), S. 124. 148 Morrell (1998), S. 164; Morrell (1999), S. 229; Brierley-Jones (2006). 149 Jütte/Riley (2005), S. 293. 150 Chepmell (1851). 151 Pope (1873); Ruddock (1878). 152 Hughes (1877), S. 30, 41, 45. 153 Nicholls/Morrell (1996), S. 203.

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ressierte.154 Parker erbte das Journal nach Clarkes Tod und änderte den Titel 1932 in Heal Thyself. Auch im British Homoeopathic Journal erschienen nach 1911 Aufsätze, in denen über Heilerfolge mit der C30-Potenz oder den Wert der Arbeiten Kents berichtet wurde.155 Selbst Dudgeon verwies darauf, dass diese Potenz durchaus ihren Wert habe.156 Es gelang aber nicht, das posologische Schisma von 1900 zu beheben. Bis 1920 verordneten britische homöopathische Ärzte die niedrigsten Potenzen in der gesamten weltweiten homöopathischen »Community«.157 Der Kurswechsel erfolgte nicht nur wegen des zunehmenden Erfolges der Laienpraktiker, sondern wahrscheinlich vor allem aufgrund der Wiederentdeckung und Edition der 6. Auflage des »Organon« von Samuel Hahnemann.158 Nun war es nicht mehr möglich, sich auf Hahnemann zu berufen, wenn man die 30. Potenz als die niedrigste zulässige therapeutische Dosis benannte.159 Trotz dieser erzwungenen Kursänderung blieb die ärztliche Homöopathie in Großbritannien einflussreich, u. a. in der Behandlung der Königsfamilie. 1932 ermöglichte der spätere Kurzzeit-König und damalige Kronprinz Edward (VIII.) die Erhebung des bedeutenden, die Hochpotenzen nutzenden Homöopathen John Weir (1879-1971) in den Adelsstand.160 Nach 1933 erhielt die britische Homöopathie neue Impulse bezüglich der Verwendung von Hochpotenzen. Dies geschah einerseits durch Exilanten, andererseits durch eine Fehlinterpretation der Arbeiten Karl Koetschaus und Fritz Donners. Letztere hatten durch die Betonung der Gültigkeit der Arndt-Schulzschen Regel und die Kritik des in der britischen Homöopathie üblichen Einglaspotenzierverfahrens nach Korsakoff eigentlich den Weg hin zu einer naturwissenschaftlichen Tiefpotenzhomöopathie bereiten wollen161, aber ihre Arbeiten wurden durch J. Ellis Barker dahingehend interpretiert, dass die Arndt-Schulzsche Regel auch bei höheren Potenzen funktionieren würde162. Die Kritik am Einglasverfahren wurde überhaupt nicht rezipiert.163

154 Morrell (1995), S. 473. 155 Cases (1911); Alexander (1911); Theophilius (1912). 156 Society’s Meeting (1903), S. 220. 157 Morrell (1999), S. 232. 158 Close (1922), S. 566; Dishington (1924). 159 Dudgeon (1854), S. 407. 160 Constance Babbington Smith (1986), S. 39. 161 Koetschau (1929); Koetschau (1932); Koetschau/Simon (1928); Donner (1932); Donner (1935). 162 Barker (1931), S. 79. 163 Barker (1939), S. 348.

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Noch im Herbst 1940 – ein Jahr nach der Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland – finden sich im Impressum der Zeitschrift Heal Thyself die Namen von Erwin Liek (1878-1935) und Gerhard Madaus (1890-1942), nicht aber beispielsweise von Otto Leeser oder Lilly Kolisko (1889-1976). Leeser war 1933 nach England emigriert und hatte ab 1936 in High Wycombe eine Privatakademie für homöopathische Fortbildung sowie den Verlag »Hippocrates Publishing House« aufgebaut.164 Dadurch förderte er die Beschäftigung von Laien mit den Hochpotenzen und die weitere Verwendung des Einglasverfahrens. Mit der Redaktion von Heal Thyself scheint es lange keine Kontakte gegeben zu haben, sein »Lehrbuch der Homöopathie« war 1933 vernichtend rezensiert worden.165 1936 empfahl Leeser offen die Umorientierung der britischen Homöopathie hin zu den amerikanischen Kollegen, weil diese durch ihre Verwendung von Hochpotenzen dem Ideal Hahnemanns am nächsten kämen.166 Lilly Kolisko war in den 1920er Jahren eine der wichtigsten Vertreterinnen der experimentellen anthroposophischen Medizin gewesen und hatte durch ihre Pflanzenversuche die Diskussion um die Wirkung von Hochpotenzen (»oligodynamische Substanzen«) befeuert.167 Sie war 1934 nach England emigriert und setzte hier ihre Studien fort.168 Sie wirkte vor allem prägend für die anthroposophische Landwirtschaft, was insofern für die Homöopathie wichtig ist, da in den 1930er Jahren gerade die britische Laienheilkunde von »Herbalists« durchsetzt war.169 Nach 1945 formierten sich die Laienpraktiker in der »Homoeopathic Educational Association for the Layman« und Edward D. W. Tomkins (19161992) veranstaltete zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen, womit er Leeser ablöste, der nach Deutschland zurückging, um Direktor des Robert-BoschKrankenhauses zu werden.170 Sowohl die wenigen homöopathischen Ärzte als auch die Laienpraktiker sahen sich nun einer neuen Gefahr der Marginalisierung ausgesetzt. Die Labour-Regierung erließ eine Reihe gesundheitspolitischer Gesetze und schuf 1948 den National Health Service, in dessen

164 Rueß (2009), S. 181; Morrell (1998), S. 273. 165 Book Reviews (1933). Während Leeser nicht wahrgenommen wurde, fanden Arbeiten von Autoren, welche die »Neue Deutsche Heilkunde« befürworteten, durchaus Eingang in die Zeitschrift, z. B. Silber (1934). Darüber hinaus wurden biophilosophische Werke aus Deutschland reichlich besprochen. 166 Leeser (1937), S. 7. 167 Kolisko (1926/27); Kolisko (1932). Kritik durch Fenner (1930). 168 Haid (2003), S. 395. 169 Morrell, Peter: A History of Homeopathy in Britain, online unter http:// www.homeopathyhome.com/reference/articles/ukhomhistory.shtml (letzter Zugriff: 3.12.2014). 170 Morrell (1998), S. 295.

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Leistungskatalog homöopathische Behandlungen kaum Eingang fanden.171 Insbesondere die auf ärmere Bevölkerungsschichten konzentrierten Laienpraktiker dürften in den folgenden Jahren viele Patienten verloren haben. Mehr denn je sahen sich die Homöopathen dem Zwang ausgesetzt, die Wirksamkeit ihrer Lehre zu beweisen. Eine führende Rolle nahm hierbei in Glasgow William Ernest Boyd ein, der nachweisen wollte, dass Hochpotenzen auf Stoffwechselprodukte einwirken können.172 1954 stellte er Ergebnisse vor, wonach Wirkungsnachweise bis zu einer Potenz von D120 angenommen werden könnten.173 Auch nach seinem Tod wurden die Studien fortgesetzt, teilweise bis in die 1990er Jahre hinein.174 Kurz nach dem Tod Boyds kehrte Leeser aus Deutschland zurück. Er nahm seine Lehrtätigkeit in High Wycombe wieder auf und präsentierte 1958 einen Plan zur Professionalisierung der britischen Homöopathie.175 Bezüglich der Posologie empfahl er einen Mittelweg zwischen Tief- und Hochpotenzen und verlangte, insbesondere die Inhalte der Lehre zu vereinheitlichen. Momentan sei das Wirrwarr »deterrent« und schade der Homöopathie.176 Der Aufsatz wurde im British Homoeopathic Journal abgedruckt, dessen Redaktion dadurch zu erkennen gab, dass man ein dogmatisches Festhalten an den Tiefpotenzen und eine ablehnende Haltung gegenüber den Laien nicht mehr fortsetzen wollte. In den folgenden Jahren entwickelte sich die britische Homöopathie zu einer immer mehr höheren Potenzen aufgeschlossen gegenüberstehenden Gemeinschaft. Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass vornehmlich Laientherapeuten Homöopathie anboten und lehrten. Hier wirkten neben Puddephatt vor allem John Da Monte (1916-1975) und Thomas Lackenby Maughan (1901-1976). Letztere arbeiteten auch als Druiden und boten neben Kursen in Homöopathie eine theosophisch fundierte esoterische Daseinslehre, die insbesondere in den »swinging sixties« der Homöopathie viele neue Anhänger bescherte.177 Puddephatt hingegen offerierte eher wissenschaftliche Aufklärung und gewann u. a. Georgos Vithoulkas (geb. 1932) als Anhänger. Im British Homoeopathic Journal (BHJ) war man weiterhin um eine Mittlerposition bemüht, und die Autoren verwiesen auf die mögliche suggestive Wirkung höherer Potenzen178 und die Erfolge Hahnemanns mit höheren Dosierungen179. Sie betonten häufig, die 171 Constance Babbington Smith (1986), S. 90; Morrell (1995), S. 473. 172 Nicholls/Morrell (1996), S. 200. 173 William Ernest Boyd (1954). 174 Nicholson (1957). Vgl. auch Nicholls/Morrell (1996), S. 200. 175 Leeser (1958). 176 Leeser (1958), S. 236. 177 Nicholls/Morrell (1996), S. 208. 178 Foubister (1958). 179 Priestman (1965).

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Hochpotenzen erfolgreich, aber nur auf die Individualität des einzelnen Patienten bezogen einzusetzen.180 Der Bezug auf die Esoterik Emanuel Swedenborgs fand ebenfalls Erwähnung181, die Studien Koliskos wurden neu betrachtet182. Als historische, jedoch immer noch wegweisende Autoren wurden James T. Kent und Clemens von Bönninghausen benannt.183 Die Tiefpotenzen erfuhren keine Verurteilung, die Arbeiten Hans Ritters beispielsweise wurden wahrgenommen.184 Erst im Laufe der 1960er Jahre scheint das BHJ vollständig auf die Überhöhung der Hochpotenzen eingeschwenkt zu sein. So präsentierte sich die britische Homöopathie ziemlich geschlossen, als durch eine erneute Reform im Gesundheitswesen 1968 (Medicines Act) die Bezahlung aus den Mitteln des National Health Service endgültig ausgeschlossen wurde.185 Die britische Homöopathie hatte die Grabenkämpfe aus den Jahren um 1900 weit hinter sich gelassen und sich dabei in dosologischer Hinsicht professionalisiert, vereinheitlicht und die Differenzen zwischen Laien und Ärzten behoben. Die Allopathen wiederum begannen sich in den 1970er Jahren wieder allmählich für die homöopathische Heilkunst zu interessieren. Aktuelle Fragen – gestrige Antworten? In der heutigen Homöopathie wird die Gabenlehre zusammen mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit der Wiederholung von Arzneien diskutiert. Bezogen auf die historischen Debatten jedoch scheint es so zu sein, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Diskursstränge handelt, die nicht als Teil einer größeren Debatte gesehen wurden. Zwar betonten einige Homöopathen, dass beides zusammengehöre186, aber andere wiesen frühzeitig darauf hin, dass eine Wiederholung der Gabe nur bei chronischen, unveränderten Leiden angemessen sei187. Wieder andere empfahlen die Einzelfallprüfung.188 Constantin Hering trennte frühzeitig zwischen der Frage nach Gabenwiederholung und der Dosierung.189 Etwa 1850 zeichnete sich im deutschen Diskurs die Trennung beider Punkte endgültig ab.190 Aufgrund der 180 Paschero (1963); Julian (1967). 181 Gardiner (1960). 182 R. E. K. M. (1966). 183 Gutman (1963). 184 Ledermann (1959). 185 Morrell (1995), S. 473. 186 Attomyr (1844), S. 10. 187 Hartlaub (1828), S. 21. 188 Rummel (1833), S. 180. 189 Hering (1833); Krammich (2005), S. 135. 190 Versuch (1850), S. 277; Hering (1851), S. 213.

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entsprechenden Haltung des wirkmächtigen Hering dürfte es in den USA ähnlich gewesen sein. Bezüglich der Debatte in Großbritannien konnten keine Erkenntnisse auf eine Verbindung beider Dispute gefunden werden. In einem Lehrbuch aus dem Hause Willmar Schwabe von 1879 erläuterte der Autor beide Punkte bereits getrennt voneinander.191 Gelegentlich schimmerte noch der Anschein einer intensiven Debatte durch. So behauptete Willis A. Dewey (1858-1938) in einem Vortrag auf dem 59. Kongress des AIH 1903, die Fragen nach Wiederholung und Dosierung würden gleichermaßen heiß diskutiert.192 Diese Einschätzung wird aber nicht durch die zugängliche Literatur gestützt. Ein Wiederaufflackern der Diskussion lässt sich in den USA in den 1950er Jahren feststellen193, ehe beide Punkte offenbar wieder separat behandelt wurden. In den letzten Jahren wurde gelegentlich betont, James T. Kent sei immer ein Anhänger der Gabenwiederholung gewesen.194 Ein möglicher Grund für die Trennung der Debatten um die richtige Dosierung von der Frage nach dem Sinn von Gabenwiederholungen dürfte teilweise im Triumph der Hochpotenzen liegen. Homöopathen, die höhere Potenzen bevorzugten, erwiesen sich so indirekt als Schüler Hahnemanns, der den Wiederholungen kritisch bzw. unsicher gegenüberstand.195 Hahnemann versuchte die Homöopathie ja gerade von den vielfachen Gabenwiederholungen der Allopathie abzugrenzen.196 Viele – aber nicht alle – Anhänger Hahnemanns glaub(t)en auch an eine den Arzneien innewohnende überkausale Kraft (»vis vitalis«), die eine Gabenwiederholung oder gar Doppelmittel überflüssig machte. Die Anhänger der Tiefpotenzen lehnten die Existenz einer »vis vitalis« meist ab und mussten zur Bereitstellung einer Wirkung daher auf die mehrfache Verwendung einer Arznei vertrauen. Aber es gab auch Ausnahmen wie Georg Schmid, der 1835 Tiefpotenzen und Gabenwiederholung zum Zwecke der Erweckung der »vis vitalis« vorschlug.197 Über die Ursachen, warum in der heutigen Homöopathie Dosologie und Gabenwiederholung als Teil einer Debatte gesehen werden, kann nur spekuliert werden. Eine Möglichkeit könnte sein, dass Homöopathie heute nicht mehr eine völlig andere Medizin ist, sondern eine Ergänzung zur Allopathie. Das bedeutet, dass eine totale Abgrenzung weder erforderlich noch 191 Fellenberg-Ziegler (1879), S. VIII, XV. 192 Dewey (1903), S. 176. 193 Mitchell (1950). 194 Dupree (2000). 195 Hahnemann: Vorwort (1832/2001), S. 824. 196 Brunn (1964), S. 150. 197 Schmid (1835), S. 311.

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möglich ist und Diskussionen, wie sie in der Schulmedizin üblich sind – z. B. Arzneimittelwahl, Dosierung und Wiederholung –, auch in der Homöopathie gemeinsam Verwendung finden. Zusammenfassung Die Posologie war für die Entwicklung der Homöopathie wichtig, aber nicht entscheidend. Dies zeigt sich auch daran, dass heute weiterhin die Schulen der Hochpotenzler und Tiefpotenzler nebeneinander bestehen, ohne dass die eine Seite der anderen vorwirft, keine Homöopathie zu betreiben. Die Debatten in Deutschland, den USA und Großbritannien verliefen höchst unterschiedlich, was erkennen lässt, dass es »die« Homöopathie nicht gibt, sondern homöopathische Heilweisen, die in ihrem theoretischen Aufbau immer die spezifischen Situationen in den jeweiligen Ländern widerspiegeln. Ein gemeinsames Ergebnis lässt sich dennoch finden. Wegen des Bedeutungsverlusts der Homöopathie als komplette Alternative zur Schulmedizin und der Hinwendung der Therapeuten zu psychosomatischen Leiden kann man eine positive Betrachtung der Hochpotenzen konstatieren. Doch aufgrund der Angebote mancher Arzneimittelhersteller (z. B. Komplexmittel, Potenzakkorde) kann der interessierte Arzt, Heilpraktiker oder Kunde (Versandhandel) Mischungen aller Dosierungen erwerben und konsumieren und so die Debatten um die korrekte Dosologie ad absurdum führen. In der Forschung spielt die »Information Theory Hypothesis« eine wichtige Rolle, um so die Wirkung von Hochpotenzen jenseits von D23/C12 zu beweisen.198

198 Jütte/Riley (2005), S. 295.

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Ein »Umschwung des medizinischen Denkens«1 oder »eine übereifrige literarische Tätigkeit«2? August Bier, die Homöopathie und der Nobelpreis 1906-1936 Nils Hansson Summary “A change in medical thinking?” or “over-eager literary activity?” August Bier, homeopathy and the Nobel Prize 1906-1936 This essay explains the nomination and evaluation procedure for the Nobel Prize for Physiology or Medicine. Its research is based on original files and on the example of August Karl Gustav Bier (1861-1949). It discusses the minutes of the Nobel Committee for physiology or medicine, which are kept in the Nobel Archives, as well as the unusually high number of nominations of August Bier and the nominations submitted by him; it also describes the reasons why August Bier, in the end, never received the Nobel Prize. The essay focuses mainly on the reception of Bier’s homeopathic theses by the Nobel Prize Committee and his nominators.

Einführung »Die Tendenzen der Medizin im 20. Jahrhundert werden recht gut durch die Namen derer beleuchtet, die den Nobelpreis für Medizin und Physiologie seit dessen erster Verteilung im Jahre 1901 erhielten.«3 Den Nobelpreisträgern für Physiologie oder Medizin wird im Lehrbuch Erwin H. Ackerknechts (1906-1988) ein besonderer Status zugeschrieben – ihre Entdeckungen seien Meilensteine in der Medizingeschichte gewesen. Der von Ackerknecht suggerierte rote Faden ist weniger eindeutig, wenn man einen Blick auf die Nobelpreisnominierungen und die Gutachten des Nobelkomitees im Stockholmer Nobelarchiv am Karolinska-Institut wirft. Eine gezielte Analyse dieser Akten beleuchtet – als Ergänzung zu den Publikationen eines im Nobelarchiv repräsentierten Forschers – Kontroversen und Konkurrenz in der Medizin des 20. Jahrhunderts. Dies gilt für die Preisträger, aber auch für die nominierten Forscher, die den Preis letztendlich nicht erhalten haben. Letzteres soll in diesem Aufsatz am Beispiel der Rezeption von August Biers4 (1861-1949) Hyperämie-Studie erläutert werden – jener Studie mit 1

NA, Klapp (1925).

2

NA, Stoeltzner (1931).

3

Ackerknecht (1977), S. 201; Ackerknecht (1968), S. 241.

4

August Bier studierte in Berlin, Leipzig und Kiel. Promotion 1888 in Kiel, 1886-1890 Assistent beim dortigen Chirurgen Friedrich von Esmarch (1823-1908), nebenbei auch als praktischer Arzt tätig sowie als Schiffsarzt unterwegs. 1899-1903 Ordinarius für Chirurgie in Greifswald, danach folgten Berufungen nach Bonn (1903) und nach Berlin (1907). Zu seinen bedeutendsten Schülern zählen Erwin Gohrbrandt (18901965), Rudolf Klapp (1873-1949), Victor Schmieden (1874-1945) und Max zur Verth (1874-1941).

MedGG 33  2015, S. 217-246  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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homöopathischen Vorzeichen, die besagt, dass eine Vielfalt von Krankheiten und Symptomen durch bloße Erwärmung betroffener Körperteile, also eine künstlich erzeugte verstärkte Durchblutung eines Gewebes, geheilt werden könne. Eine Fallstudie über August Bier eignet sich besonders gut für eine solche Untersuchung. Er ist nach wie vor eine der kontroversesten Gestalten der deutschen Chirurgie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Debatte über den Direktor der Chirurgischen Klinik in der Berliner Ziegelstraße – »des ersten Lehrstuhls Deutschlands«5 – von 1907 bis 1932, der zugleich ein tonangebender Befürworter homöopathischer Behandlungen in Theorie und Praxis war, wurde und wird bis heute über die Grenzen Deutschlands hinaus geführt. Bier gehörte zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Ärzteschaft, die sich kritisch zur Einseitigkeit der naturwissenschaftlichen Medizin äußerten und für eine ganzheitliche Medizin argumentierten. Welche Rollen spielten Biers Teilnahme an der Debatte um die sogenannte »Krise der Medizin« (auch wenn Bier das »Gerede von einer ›Krise‹ [als] ›Modespruch‹«6 bezeichnete) und sein Engagement für die Homöopathie im Nobelpreisverfahren? Weshalb wurde Bier trotz vieler Nominierungen und ausführlicher Begutachtungen vom Nobelkomitee letztendlich nicht als preiswürdig eingestuft – war es wirklich aufgrund »latent vorhandener antideutscher Strömungen«7, wie in medizinischen Fachzeitschriften angedeutet worden ist? In diesem Aufsatz soll nicht besprochen werden, welche Theorien Biers aus medizinischer Sicht heute als richtig oder falsch einzustufen sind. Ebenfalls steht nicht im Vordergrund, inwiefern die in den Nominierungen geschilderten Experimente Biers als Basis für moderne Behandlungsmethoden dienen. Vielmehr sollen die Aufnahme und Beurteilung der Theorien vom damaligen Wissensstand aus erläutert werden. Somit ist dies einerseits ein Beitrag zur Ergographie Biers, andererseits wirft er eine allgemeinere Frage der Wissenschaftsgeschichte auf: Wann gilt eine Entdeckung im Bereich der Medizin als originell – oder mit anderen Worten: Wie wird wissenschaftliche Exzellenz in Forscherkreisen inszeniert, konstruiert und letztlich produziert? Der Nobelpreis ist hierbei von besonderem Interesse, da er heutzutage einen der ehrwürdigsten wissenschaftlichen Preise überhaupt darstellt. Der britische Biologe Peter B. Medawar (1915-1987), Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin des Jahres 1960, schrieb, dass die Popularität der Auszeichnung durch die Verleihungszeremonie, die hohe Preissumme und die

5

NA, Opitz (1920).

6

Zit. n. Jütte (1996), S. 43.

7

Goerig/Agarwal/Schulte am Esch (2000), S. 566; Goerig/Schulte am Esch (1999), S. 469.

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Anerkennung bedingt sei.8 Robert K. Merton schätzt den Nobelpreis höher ein als eine Aufnahme in tonangebende wissenschaftliche Gesellschaften, andere Medaillen oder gar die Eponymisierung einer Entdeckung9, und nach Harriet Zuckerman wird er von Laien und Forschern als »the acme among symbols of scientific achievement«10 gesehen. Nominierungen für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin Der erste Nobelpreis für Physiologie oder Medizin wurde im Jahr 1901 an Emil von Behring (1854-1917) überreicht. Vermutlich hat das Prestige des Preises seit dem ersten Jahrzehnt der Preisvergabe zugenommen11, doch schon Emil Fischer (1852-1919), der Nobelpreisträger für Chemie 1902, wunderte sich in jenem Jahr über den internationalen Ruf der Auszeichnung: Über die Bedeutung der grossartigen Stiftung von Dr. Nobel, die alles Ähnliche weit hinter sich lässt, ist bereits so viel gesprochen und noch mehr geschrieben worden, dass es schwer wäre, Neues hinzuzufügen. Wie hoch sie in der Wertschätzung der grossen Welt steht, beweist am besten der Eifer oder Übereifer, mit dem die Presse aller Länder ihre Angelegenheiten bespricht und schon im voraus auf etwas indiskrete Art die Chancen des Gewinnes diskutiert.12

Abgesehen von allen Medizinprofessoren in Skandinavien sowie ehemaligen Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern für Physiologie oder Medizin werden jedes Jahr ausgewählte medizinische Fakultäten und wissenschaftliche Gesellschaften aus der ganzen Welt eingeladen, schriftliche Nominierungen einzusenden. Prinzipiell werden jene Nominierungen individuell und vertraulich – wohl um »Freundschafts-Nominierungen« zu vermeiden – von Ärzten rund um die Welt verfasst. Wie die Nominierungseinladungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts genau formuliert waren, konnte nicht ermittelt werden. Es ist anzunehmen, dass sie sich nicht wesentlich von späteren Einladungen unterschieden. Der Vorschlagende sollte demnach eine spezifische Entdeckung eines Forschers nennen und begründen, warum jene »den größten Nutzen für die Menschheit erbracht« habe, wie es in dem Testament Alfred Nobels (1833-1896) heißt.13 Alle Einladun-

8

Medawar (1979), S. 145f.

9

Merton (1957), S. 644. Es sei denn, die Eponymisierung beträfe eine ganze Epoche wie »the Newtonian, Darwinian, Freudian, Einsteinian, or Keynesian Eras«. Merton (1988), S. 620.

10 Zuckerman (1977), S. 16. 11 Tröhler (2013), S. 104, über Kochers Preis 1909: »Zudem hatte der Preis damals noch nicht das in allen Kreisen anerkannte Prestige, das ihm in den letzten Jahrzehnten zugekommen ist.« 12 Zit. n. Källstrand (2012), S. 7. 13 Privatarchiv Fam. Stieve, Nominierungseinladung an Hermann Stieve 1943.

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gen sowie das Auswahlverfahren der Universitäten unterliegen, wie das ganze Verfahren, fünfzig Jahre lang der Geheimhaltung. Selbst nur eine Nominierung für den Nobelpreis bekommen zu haben, auch wenn sie nicht zum Preis führte, war und ist für einige Forscher eine große Ehre. So schrieb der Stockholmer Internist Salomon Eberhard Henschen (1847-1930) im Jahr 1925, dass es die »schönste Anerkennung« seines Lebens gewesen sei, als er erfuhr, dass er wiederholt (vergeblich) für seine Gehirnarbeiten vorgeschlagen worden war.14 Die Nominierung an sich ist auch eine Voraussetzung für eine Kandidatur, denn ohne eine offizielle und eindeutige Nominierung wird ein Forscher vom Nobelkomitee nicht berücksichtigt. Selbstnominierungen sind nicht gültig, aber es kommt vor, dass Nominierende indirekt versuchen, das Interesse des Nobelkomitees auf sich selbst zu lenken. So leitete beispielsweise der Medizinhistoriker Karl Sudhoff (1853-1938) die am 31. Januar 1918 verfasste Nominierung seines Kollegen Julius Hirschberg (1843-1925) für seine Arbeiten zur Geschichte der Augenheilkunde wie folgt ein: Stelle ich mir die Frage, wenn [sic!] ich nach sorgfältiger Prüfung von den Lebenden die Palme zu reichen hätte, so können neben meinen eigenen (die völlige Aufklärung der medizinischen Leistungen des Abendlandes im Mittelalter von Grund auf betreffenden und tatsächlichen Epochebedeutenden Arbeiten, über die mir selbst satzungsund brauchsgemäss ein Urteil nicht zusteht, sondern etwa Prof. Diepgen Freiburg i.B. […] und Priv.Doz. Dr. von Györg […] zu befragen wären […].15

Für das Nobelkomitee war es zumindest in einigen Fällen wichtig, wie viele und welche Wissenschaftler einen Kandidaten nominiert hatten. Dies wird beispielsweise in den Diskussionen über Paul Ehrlich (1854-1915) und Ilja Metschnikow (1845-1916) deutlich. In einer Stellungnahme zu den beiden Bakteriologen verglich das Nobelkomitee-Mitglied Karl Mörner (18541917) die Anzahl, die geographische Verteilung und die Bedeutung von deren Nominierern.16 Diese Analyse trug dazu bei, dass Ehrlich und Metschnikow sich den Preis 1908 teilten. In vorangegangenen medizinhistorischen Arbeiten über den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin wurden primär die Gutachten des Nobelkomitees über einen Kandidaten analysiert.17 Im Folgenden sollen auch die Nominierungen beachtet werden, da diese auf wichtige Aspekte des Preisverfahrens hinweisen, so im Falle Biers auf die Rezeption seiner Hyperämie-Lehre. 14 Henschen (1925), S. 56. 15 NA, Sudhoff (1918). Hervorhebung im Original. Die auf Deutsch abgefassten Nominierungen lagen mir als Abschriften vor, in denen sich eine Reihe von (nicht nur) grammatikalischen Unklarheiten und vermutlichen Flüchtigkeitsfehlern findet. Ich gehe davon aus, dass diese nicht von den deutschsprachigen Nominierenden stammen, sondern bei der Abschrift durch schwedisches Personal entstanden sind. 16 NA, Gutachten Mörner (1908). 17 Stolt (2002); Norrby (2010); Norrby (2013).

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August Biers Nobelpreisverfahren

Abb. 1: August Bier. Institut für Geschichte der Medizin, Berlin – Charité

August Bier wurde zwischen 1906 und 1936 42-mal für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin nominiert, und zwar von Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich-Ungarn, der Schweiz und Japan (vgl. Tab. 1). Sämtliche Bier-Nominierungen sowie die auf Bier bezogenen Gutachten des Nobelkomitees wurden vor Ort in Stockholm vom Verfasser gesichtet, fo-

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tografiert und elektronisch archiviert.18 Diese vergleichsweise hohe Nominierungszahl wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur von wenigen anderen Medizinern weltweit übertroffen, die den Preis für Physiologie oder Medizin ebenfalls nicht erhalten haben. Es ist zu betonen, dass die Anzahl der Nominierungen nur bedingt etwas über die wissenschaftliche Qualität einer Forscherin oder eines Forschers aussagt, sondern eher etwas über ihr oder sein Ansehen in der scientific community. Letzteres gilt in der Regel umso mehr, wenn die Nominierenden global weitläufig verteilt sind, aber es lassen sich in einigen Fällen, so Elisabeth Crawford, »favourite sons«19 eines Landes für eine spezifische Disziplin benennen, die über mehrere Jahre hinweg besonders häufig Nominierungen erhielten. So wurde der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) zwischen 1912 und 1952 65-mal20, der Physiologe Eduard Pflüger (1829-1910) im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts circa 40-mal vorgeschlagen21 – beide fast ausschließlich von deutschen Kollegen. Im Gegensatz zu ihnen ist der Physiologe Jacques Loeb (1859-1924) zwischen 1901 und 1924 78-mal von Forschern aus acht Ländern nominiert worden.22 Alle drei erhielten den Preis am Ende nicht. Solche Kandidaten nennt Merton, angelehnt an die auf 40 Mitglieder festgelegte Zahl in der französischen Akademie, »occupants of the 41st chair«.23 Im Falle Biers schwankt der Umfang der Nominierungen von der Benennung einer spezifischen Leistung in wenigen Zeilen bis hin zu 20 maschinengeschriebenen Seiten, auf denen seine wissenschaftlichen Interessen dargelegt werden. Über die ganze Nominierungsperiode hinweg wurde Bier als eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein überragender Forscher auf mehreren Gebieten und gleichzeitig als vorbildhaft hart arbeitender Operateur und Arzt inszeniert. So führte beispielsweise der Basler Chirurg Carl Henschen (1877-1957) 1931 in seiner Nominierung aus: In diesem Manne vereinigt sich bestes praktisches und wissenschaftliches Chirurgentum mit geradezu klassischer allgemeinärztlicher und naturwissenschaftlicher Forschungstätigkeit zu einer höheren Synthese und einer einzigartigen Legierung. Dass sich [sic!] bei Bier wissenschaftliche Leistung und eine geradlinige und mutige Persönlichkeit zusammentreffen, gibt diesem Manne und seinem Werke eine besondere Bedeutung.24

Dem Freiburger Professor für Gynäkologie Erich Opitz (1871-1926) zufolge war August Bier im Jahr 1920 »einer der verdientesten, deutschen Forscher 18 Kopien beim Verfasser. 19 Crawford (1988), S. 177f. 20 Hansson/Schagen (2014). 21 Hansson/Schlich (2014). 22 Fangerau (2010), S. 183f. 23 Merton (1968), S. 56. 24 NA, Henschen (1931).

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und Ärzte, dessen Genius die Menschheit und die Wissenschaft schon manchen Fortschritt« verdanke.25 Einige seiner Nominierer waren der Meinung, dass Bier schon alleine aufgrund seiner vielfältigen Interessen den Preis erhalten sollte. Einer von ihnen war der Chirurg Rudolf Klapp.26 Am 6. Januar 1925 schrieb er mit 20 Seiten die umfangreichste Nominierung von Bier überhaupt. In seiner Konklusion heißt es: Vielleicht ist es besser, Bier nicht für eine seiner vielen biologischen Arbeiten und Entdeckungen zu verleihen [sic!], sondern für die Gesamtheit derselben. Sie sind im Grunde genommen ein einziges grosses Ganzes, darauf angelegt und geeignet, einen Umschwung des medizinischen Denkens und Handelns in einem wahrhaft biologischen Sinne herbeizuführen. […] In der Tat dürfte Bier der überwiegende Hauptteil des Umschwungs im Denken und Handeln, in dem die Medizin jetzt begriffen ist, zuzuschreiben sein.27

Mit dem Satz über den »Umschwung des medizinischen Denkens und Handelns in einem wahrhaft biologischen Sinne« sind die Kontroversen zwischen der sogenannten Schulmedizin – in der die Lehren der Zellularpathologie, der »neuen« Bakteriologie und der lokalistischen Pathologie betont wurden – und der Homöopathie gemeint. Dabei ging es auch um einen Vertrauensverlust gegenüber der Ärzteschaft, um das verstärkte Interesse für Kurpfuscher sowie um eine Reaktion auf die zunehmende Abhängigkeit der Ärzte von den Krankenkassen, wie der Pädiater und Sozialhygieniker Arthur Schlossmann (1867-1932) in einer Rede im Jahr 1929 argumentierte.28 Zu den deutschen Chirurgen, die für eine holistische29 und antireduktionistische Medizin mit Stichworten wie »Seele«, »Leib« und »Ganzheitsmedizin« sprachen, gehörten maßgeblich Erwin Liek (1878-1935) und August Bier. Im Gegensatz zu Bier praktizierte Liek viele Jahre außeruniversitär in einer Privatklinik, weshalb er meinte: »Einen großen Vorteil habe ich vor vielen gelehrten Schreibern voraus: ich bin unabhängig […] kein Titel und kein Amt locken mich.«30 Seine polemische Schrift »Der Arzt und seine Sendung« wurde eines der meistübersetzten medizintheoretischen deutschen Bücher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.31 Darin wird regel25 NA, Opitz (1920). 26 Zur Beziehung zwischen Bier und seinem Schüler Klapp sei auf Blau (2007), S. 23-28, 86-88, hingewiesen. 27 NA, Klapp (1925). 28 Jütte (1996), S. 44. 29 Der südafrikanische Staatsmann und Philosoph Jan Smuts (1870-1950) gilt als Urheber des Begriffs »Holismus«. Harrington (1996) und Lawrence/Weisz (1998) sehen Holismus als eine Sammelbezeichnung, die teils disparate und gemeinsame Nenner umfasst, wie Vitalismus, Synthese, Gestalt, humanistische Medizin und Ganzheitsmedizin. Zur zeitgleichen antireduktionistischen Wende in der Bakteriologie siehe Berger (2009), S. 35f., zur Situation in der Chirurgie vgl. Schlich (2012), S. 330-332. 30 Liek (1927), S. 13. 31 Liek (1927).

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mäßig wohlwollend auf Biers Arbeiten hingewiesen.32 Liek zufolge gibt es einen Unterschied zwischen dem »Mediziner« und dem »Arzt«.33 Der »Mediziner« verkörpere eine strikt naturwissenschaftliche Perspektive und der biologisch-funktionelle »Arzt« eine persönliche individuumorientierte Sicht. Letzterer solle gefördert werden, um der fortschreitenden Technisierung des »Mediziners« entgegenzuwirken.34 Dabei sei die Persönlichkeit des »Arztes« Grundvoraussetzung (eine solche sei angeboren und nicht bei Frauen vorhanden)35: »Die Persönlichkeit, nicht Technik und Wissen allein, bedingt den Erfolg des Arztes«, so Liek36. Für den »Arzt« sei die Nachahmung der Natur eine vielversprechende Strategie. So wurden folgende Zeilen – angeblich aus der Feder Biers stammend – in der Bier-Nominierung des Berliner Pathologen Max Westenhöfer (1871-1957) zitiert: Von Alters her hat man den als den wahren Arzt gepriesen, der der Natur ihre Geheimnisse in der Heilung ablauscht, sie unterstützt, wo sie durch eigene Kraft nicht zum Ziele gelangt, sie ersetzt, wo sie gänzlich versagt, und sie einschränkt, wo ihre Massregeln zu überwachen drohen.37

Biers theoretisches Verständnis von Medizin basierte auf Naturwissenschaft und Naturphilosophie.38 Er war ein Anhänger der neohippokratischen Teleologie und arbeitete so auf eine stärkere Beachtung der klassischen humoralpathologischen Behandlungsmethoden hin.39 Bier zufolge war die teleologische Sicht, dass jeder Vorgang in der Natur ein bestimmtes Ziel habe und dass alles in der Natur zweckmäßig geformt und beschaffen sei, um seiner Funktion optimal zu entsprechen, auch auf den menschlichen Körper übertragbar.40 So sollte man beispielsweise der Wärmeentwicklung, die per 32 Um nur wenige Beispiele zu nennen: Liek (1927), S. 112: »Bier […] soll einmal gesagt haben, ›das viele Operieren verdummt‹. Das ist etwas grob ausgedrückt, aber gemeint ist dasselbe, was ich seit Jahren bekämpfe, und was ich das Starrchirurgische Denken nenne.« Liek (1927), S. 117: »Ich rate jedem Kollegen […] die Arbeiten Biers […] immer wieder zu lesen.« Liek (1927), S. 149: »Bier weiß, wie sehr ich ihn von meinen Jugendtagen an verehre.« Liek (1927), S. 150: »Ich habe mich, gerade auch durch die Arbeiten Biers angeregt, etwas eingehender mit der Homöopathie beschäftigt, und kann immer nur wieder sagen, wir Schulmediziner haben unrecht getan, diese Lehre in Bausch und Bogen zu verdammen.« 33 Liek (1927), S. 100-129. Liek schreibt weiter: »Man wird als Chirurg (wie als Arzt) geboren, oder man wird es nie.« Liek (1927), S. 104. 34 Auf das Gegensatzpaar »Mediziner« und »Arzt« in diesem Sinne hat bereits Martin Mendelsohn (1860-1930) hingewiesen. Hierzu Wiesing (1996), S. 199. 35 Liek (1927), S. 103. 36 Liek (1927), S. 102. 37 NA, Westenhöfer (1925). 38 Bier (1951); Bergdolt (2000). 39 Witte (2013), S. 329. 40 Bier äußert sich zu seinem Verständnis von Teleologie im Aufsatz »Über die Berechtigung des teleologischen Denkens in der praktischen Medizin« (Bier (1910)) und in der

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Definition ein Entzündungsmerkmal ist, nicht durch Auflegen von Eisbeuteln entgegenwirken, sondern sie stattdessen mit Hilfe einer künstlichen Hyperämie (verstärkte Durchblutung eines Organs oder Gewebes) fördern: »Die Entzündung ist eine nützliche Reaktion des Körpers und daher nicht zu bekämpfen, sondern zu unterstützen.«41 Das beste Mittel, um Wärme für therapeutische Zwecke zu applizieren, sei heiße Luft. Er habe deshalb eine ganze Serie von verschiedenen Apparaten nach den Prinzipien von Quinckes Schweißbetten konstruiert und mit seinem Assistenten Klapp verschiedene »Sauggläser« hergestellt.42 Bier rief somit in seinen Experimenten eine verstärkte sogenannte aktive oder arterielle Durchblutung mittels Heizkästen, aber auch eine passive oder venöse Hyperämie durch Binden und Saugglocken hervor, die er an betroffene Körperstellen applizierte, um den Schmerz zu lindern und die Abwehrkräfte zu stärken. Diese künstlich hervorgerufene Erhitzung sah Bier als einen Beitrag zur Reizkörpertherapie Hahnemanns und damit als Teil der Homöopathie an.

Einleitung von »Hyperämie als Heilmittel«. 41 Zit. n. Vogeler (1941), S. 146. Hierbei ist zu bedenken, dass Bier diese Theorie in der vor-antibiotischen Ära entwickelte. 42 NA, Gutachten Berg (1906), S. 5, verfasst in Stockholm am 31. Juli 1906. Johan (John) Vilhelm Berg promovierte 1881 über die Behandlung von Zungenkrebs und wurde 1885 Professor für Chirurgie am Karolinska-Institut.

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Abb. 2 & 3: Heizkörper. Dr. A. Bier’s vacuum apparatus for the induction of artificial hyperemia in the treatment of inflammatory diseases: manufactured under the personal supervision of the author for the Kny-Scheerer Co., sole agents for the American continent. Broschüre der The Kny-Scheerer Co. (1905), S. 30f.

Bei der Hyperämie handele es sich ausschließlich um eine konservative Behandlung, so der Greifswalder Psychiater Edmund Forster (1878-1933): »Bier […] hat sich […] bemüht, zunächst die unblutigen Methoden zur Heilung anzuwenden und auszubilden. So hat er die Stauungshyperämie in die Heilkunde eingeführt.«43 Obwohl viele der Nominierenden wie auch spätere Bier-Biographen der Meinung waren, dass dessen wissenschaftliches Werk nur als »zusammen43 NA, Forster (1928).

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hängendes Ganzes«44 betrachtet werden könne, lassen sich dennoch die Nominierungen in zwei thematische Schwerpunkte aufteilen: erstens die Hyperämie (zu diesem Bereich zähle ich auch die Nominierungen zu den Stichworten Entzündung, Kreislauf, Reiztherapie, Tuberkulose und Regeneration, da Bier selbst eine Verbindung der Hyperämie zu diesen Themen zog), zweitens die Lumbalanästhesie. Darüber hinaus wurde er in einigen Nominierungen auch für »seine« Proteinkörpertherapie und Leibesübungen vorgeschlagen sowie für weitere Arbeiten allgemein-biologischen Inhalts, aber diese sind nicht in der Mehrzahl und wurden meist auch von den Vorschlagenden selbst als sekundär eingestuft.45 Die zwei angeführten Gebiete werden stellvertretend in der 1911 eingereichten Nominierung des Göttinger Gynäkologen Philipp Jung (1870-1918) erläutert: A. Bier hat die Chirurgie durch zwei sehr wesentliche, originelle Heilmethoden gefördert, die Hyperämie und die Lumbalanästhesie. In Bezug auf erstere […] [sind] die praktischen Erfolge dieser Methode […] äusserst wertvoll, ihre Zukunft sicher eine aussichtsreiche. Biers […] »Die Hyperämie als Heilmittel«, in welchem er die Grundzüge seiner Anschauungen mitgeteilt hat, gehört zu den wertvollsten und interessantesten Publikationen auf chirurgisch-medicinischem Gebiet. […] Die zweite Grosstat Biers, die Lumbalanästhesie, stellt eine äusserst wichtige und wertvolle Bereicherung unsrer schmerzstillenden Verfahren dar, indem sie mit der nötigen Vorsicht angewendet, die Gefahren der Allgemeinnarkose vermeidet und die Operierten wesentlich widerstandsfähiger gegen alle postoperativen Scheidigungen macht, als jedes andere Verfahren. A. […] Bier hat sich […] als eine durchaus geniale, originelle Persönlichkeit gezeigt.46

Im Folgenden soll ausschließlich das Thema »Hyperämie« auf Basis der Nobelpreis-Nominierungen und der Gutachten des Nobelkomitees sowie durch Biers Schriften rekonstruiert und kommentiert werden. Anhand dieser Quellen wird die zeitgenössische Rezeption der Homöopathie unter führenden Ärzten in Deutschland und Schweden untersucht. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird, sind die Nominierungen über die Zeit von 1906 bis 1936 recht gleichmäßig verteilt. Dass Bier ab 1937 nicht mehr vorgeschlagen wurde, war vermutlich politisch bedingt. Am 30. Januar 1937 trat ein Erlass Adolf Hitlers in Kraft, nach dem deutschen Bürgern die Annahme eines Nobelpreises untersagt wurde. Als Alternative dazu schuf Hitler den Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft. Bei der ersten Verleihung am 7. September 1937 wurden Bier – nach einer Nominierung des Reichsärzteführers Gerhard Wagner (1888-1939)47 –, Ferdinand Sauerbruch, der Architekt Paul Ludwig Troost (1878-1934) (posthum), der

44 Sigerist (1965), S. 430. 45 Auch wenn Biers Leistungen in der Forstwissenschaft in einigen Nominierungen randständig Erwähnung finden, werde ich diese nicht berücksichtigen. 46 NA, Jung (1912). 47 Nimmergut (2001), S. 1910-1917.

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»Reichsleiter« Alfred Rosenberg (1892-1946) und der Asien- und Südpolarforscher Wilhelm Filchner (1877-1957) bedacht. Tab. 1: Folgende Nominierer reichten insgesamt 42 Vorschläge ein, August Bier mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin auszuzeichnen Jahr 1906 1906 1906 1906 1907 1907 1908 1908 1908 1908 1909 1909 1910 1910 1910 1912 1913 1913 1913 1913 1913 1913 1914 1915 1918 1918 1919 1920 1920 1923 1923 1924 1925 1925 1928 1928 1928 1931 1931 1931 1934 1936

Nominierender Vinzenz Czerny, Heidelberg Otto Schirmer, Greifswald Paul Grawitz, Greifswald August Martin, Greifswald Paul Friedrich, Greifswald Eugen Enderlen, Basel Fedor Schuchardt, Rostock Carl Pelman, Bonn Th. Peters, Rostock W. Müller, Rostock Vinzenz Czerny, Heidelberg

Vorgeschlagene(r) Kandidat(en) August Bier, Ilja Metschnikow August Bier August Bier August Bier August Bier August Bier August Bier August Bier August Bier August Bier August Bier, Theodor Kocher, Albrecht Kossel Paul Zweifel, Leipzig August Bier, Eduard Pflüger, Max Rubner H. Ito, Kyoto August Bier Wilhelm Freund, Straßburg August Bier Otto von Schjerning, Berlin August Bier, Paul Uhlenhuth Philipp Jung, Göttingen August Bier Walther Kruse, Bonn Heinrich Quincke, August Bier Paul Krause, Bonn Heinrich Quincke, August Bier Julius Dollinger, Budapest August Bier D. Moll, Graz August Bier Julius Kratter, Graz August Bier Oskar Zoth, Graz August Bier Wilhelm Freund, Straßburg August Bier Gustav Killian, Berlin Carl Schleich, August Bier Paul Zweifel, Leipzig August Bier Ludwig Merk, Innsbruck Heinrich Quincke, August Bier, Emil Abderhalden, Fritz Pregl Victor Schmieden, Halle/Saale August Bier Gustav Killian, Berlin August Bier Erich Opitz, Freiburg im Breisgau August Bier Victor Schmieden, Frankfurt/Main August Bier, Ferdinand Sauerbruch Julius Strasburger, Frankfurt/Main August Bier Th. Peters, Rostock August Bier Max Westenhöfer, Berlin August Bier Rudolf Klapp, Berlin August Bier Karl Peter, Greifswald August Bier August Martin, Berlin August Bier Edmund Forster, Greifswald August Bier, Joseph Babinski, Oskar und Cécile Vogt Carl Henschen, Basel August Bier Wilhelm Stoeltzner, Königsberg August Bier B. Speithoff, Jena August Bier Erwin Payr, Leipzig August Bier Anton von Eiselsberg, Wien I.G. Farben, August Bier

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»Ob die Entzündung ein nützlicher Reaktionsvorgang oder ob sie Krankheit selbst ist, ist ja eine uralte Streitfrage«48 1903 wurde »Hyperämie als Heilmittel« vom Leipziger Verlag F. C. W. Vogel veröffentlicht.49 Das Buch war der Hauptgrund für die Mehrzahl der Bierschen Nominierungen bis 1936. »Dieses Buch, eine geniale und notwendige Antithese gegen den ›Natursimpel, den Arzneiverschreiber oder den Nur-Messerhelden‹ schlug seinerzeit die eigentliche Brücke zwischen der Chirurgie und der Biologie«50, so der bereits erwähnte Carl Henschen in seiner Nobelpreisnominierung von Bier. Deutsche Kollegen besuchten Biers Klinik, um die Techniken der Hyperämie zu erlernen51, und die Schrift fand sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus ein Echo. Der amerikanische Chirurg Herbert F. Waterhouse rezensierte: I, in common with those who practise Bier’s treatment, look upon inflammation as an attempt on the part of Nature to rid the tissues of the microbic invaders that attack any part of the body. I might almost describe inflammation as having, as its main function, that of excreting microbes. Bier’s treatment has as its object the artificial stimulation of this excretory function by the production of a hyperaemia (venous or arterial), thus employing, to the greatest available extent, the antimicrobic action of the blood, the value of which Nature abundantly points out to those who study her methods of producing, or attempting to produce, a natural cure in cases of microbic invasion of various tissues of the body.52

Bier erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen für sein Werk, u. a. den Kußmaul-Preis in Heidelberg 1906, den Cameron-Preis sowie die Ehrendoktorwürde der Universität von Edinburgh im Jahr 1910.53 Die kritischen Stimmen ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Beim Chirurgenkongress des Jahres 1906 blies der Hannoveraner Oberstadtarzt Friedrich Thöle (1869-?) zum Angriff gegen die physiologischen Grundlagen der Hyperämie-Behandlung.54 Demzufolge habe Bier die falsche Forschungsfrage gestellt. Sie solle nicht heißen: »Wozu ist ein Lebensvorgang da?«, sondern: »Wie läuft jener Vorgang ab?«. Im Jahr 1906 ist Bier von drei Greifswalder Professoren, dem Ophthalmologen Otto Wilhelm August Schirmer (1864-1917), dem Pathologen Paul Albert Grawitz (1850-1932) und dem Gynäkologen August Eduard Martin (1847-1933), nominiert worden. Es überrascht zunächst, dass er von Repräsentanten aus verschiedenen Gebieten vorgeschlagen wurde. Dies könnte 48 NA, Klapp (1925). 49 Bier (1903). 50 NA, Henschen (1931). 51 Levacher (1986), S. 14. 52 Waterhouse (1908), S. 125. 53 Goerig/Agarwal/Schulte am Esch (2000), S. 566. 54 Diese Gedanken entwickelte er drei Jahre später in einem Buch: Thöle (1909), bes. S. 102-345.

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ein Zeichen dafür sein, dass die Hyperämie als ein interdisziplinäres Konzept gesehen wurde. In der Regel ist jedoch in solchen Fällen zu bedenken, dass die Nominierenden sich wahrscheinlich untereinander vorher abgesprochen hatten, in diesem Zusammenhang vielleicht, um einen ehemaligen Greifswalder Kollegen zu nominieren.55 Sie hielten »Hyperämie als Heilmittel« für ein herausragendes Beispiel von Biers Forschertätigkeit. Martin schrieb: Hyperämie ist das allgemeinste und fast überall anzuwendende Heilmittel. In Wirklichkeit seit Jahrtausenden gebraucht, ist es Niemanden [sic!] eingefallen, dass wirklich die Hyperämie das Wirksame in den ärztlichen Massnahmen darstellt. Bier hat nach Erkennung dieser Tatsachen System in dieselbe gebracht.56

Daraufhin beschloss das Nobelkomitee, dass man ein ausführliches Gutachten benötigte, um die Leistung Biers auf diesem Gebiet adäquat einordnen zu können. Bis heute wählt das Nobelkomitee jährlich einige Kandidaten von den Nominierten aus, die als besonders wichtig eingestuft werden. Auf dieser shortlist des Jahres 1906 waren außer Bier auch der italienische Physiologe Camillo Golgi (1843-1926), der spanische Anatom Santiago Ramón y Cajal (1852-1934), der deutsch-amerikanische Physiologe Jacques Loeb, der britische Pharmakologe Ernest Overton (1865-1933), der kubanische Mediziner Carlos Finlay (1833-1915), der amerikanische Bakteriologe Henry Carter (1852-1925), der französische Malariaforscher Alphonse Laveran (1845-1922) und der deutsche Immunologe Paul Ehrlich aufgeführt. Von diesen neun Kandidaten sollten schließlich vier den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhalten: Golgi/Cajal 1906 »in recognition of their work on the structure of the nervous system«, Laveran 1907 »in recognition of his work on the role played by protozoa in causing diseases« und Ehrlich 1908 (zusammen mit Ilja Metschnikow) »in recognition of their work on immunity«. Als Biers Gutachter im Jahr 1906 wurde der Stockholmer Chirurg John Berg (1851-1931) gewählt.57 Er befasste sich in seinem Gutachten ausschließlich mit »Hyperämie als Heilmittel«, ihm zufolge »eine geniale Übersichtsarbeit«58, die er auf 25 Seiten zusammenfasste. Außer »Hyperämie als Heilmittel« diente zeitgenössische Fachliteratur als Beleg für den Bericht, aber auch Bergs persönliche Eindrücke von einem Besuch in der Bierschen Klinik, der wohl durch das Verfassen des Gutachtens bedingt war.59 Das Nobelkomitee hat mehrmals seine Gutachter auf solche Inspektionsreisen geschickt, wie beispielsweise im Jahr 1901 nach Moskau, um das Laborato55 Hansson/Schagen (2014). 56 NA, Martin (1906). 57 NA, Gutachten Berg (1906). 58 NA, Gutachten Berg (1906), S. 1. 59 NA, Gutachten Berg (1906), S. 24.

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rium Ivan Pavlovs (1849-1936) zu besichtigen60, oder in das Labor des Physiologen August Krogh im Jahr 192061. Es ist auch vorgekommen, dass ein Gutachter ausgewählt wurde, da er oder sie mit der Arbeit eines Kandidaten besonders vertraut war. So sollte beispielsweise der Stockholmer Psychiater und Neurologe Henry Marcus (1866-1944) im Jahr 1926 ein Gutachten über den Neurologen Otfrid Foerster (1873-1941) schreiben, weil er 1918 und im Sommer 1925 bei Foerster gearbeitet hatte.62 John Berg teilte seine Stellungnahme zu Bier in zwei Abschnitte auf (I: Die allgemeinen Wirkungen der Hyperämie; II: Behandlung von verschiedenen Krankheiten mit der Hyperämie), um dann mit einer zusammenfassenden Bewertung abzuschließen. Laut Berg baute das Buch »Hyperämie als Heilmittel« auf Biers Beobachtungen seit 1891 auf, als er seine Studien in der Friedrich von Esmarchschen Klinik in Kiel begann. Ausgehend von den allgemeinen Effekten, unterteilte Berg die Hyperämie in eine analgetische, eine bakterientötende, eine resorbierende, eine auflösende, eine ernährende und eine regenerative. Berg war der Meinung, dass diese Wirkungen auch tatsächlich aufträten, betonte jedoch, dass die Mechanismen dahinter noch nicht erforscht seien. Weitere Versuchsreihen müssten vorgenommen werden. Dennoch sei, so Berg, die Hyperämie-Behandlung bei akuten (nicht tuberkulösen) Entzündungen oft berechtigt, und auch andere Ärzte hätten hierzu günstige Resultate aufzuweisen. Dank dieser Erfolge – und das war laut Berg die Meinung vieler Ärzte – könne man Bier mit Friedrich von Esmarch, Emil von Behring und Joseph Lister (1827-1912) vergleichen.63 Auch in den Nominierungen wurde Bier wegen der Hyperämie direkt und indirekt mit »großen Persönlichkeiten« verglichen: Wenn ich die Liste der medizinischen Nobelpreisträger seit 1901, unter denen die berühmtesten Namen der neueren Zeit zu finden sind und ihre Entdeckungen betrachte und mich frage, welche Wirkung die Forschungsergebnisse dieser Männer für das Wohl der Menschen gehabt haben und haben werden, so muss ich aus voller Ueberzeugung sagen, dass das Werk keines Einzigen die Bedeutung hat, die das Werk und die Lehre Biers über die Hyperaemie und Entzündung für die Menschheit hat.64

In dieser Nominierung von Max Westenhöfer aus dem Jahr 1925 wird eine Entwicklungslinie der Hyperämie von Hippokrates bis zum 20. Jahrhundert gezogen. Durch Bier sei sie »in das klare Bewusstsein der Menschen gebracht worden und wird bei der heutigen Verbreitungsmöglichkeit und dem Austausch der Kenntnisse auf der ganzen Erde nie wieder verschwin-

60 Liljestrand (1951), S. 155. 61 Nielsen/Nielsen (2002), S. 137. 62 NA, Gutachten Marcus (1926). 63 NA, Gutachten Berg (1906), S. 20. 64 NA, Westenhöfer (1925).

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den«.65 Auf ähnliche Weise führte der Leipziger Chirurg Erwin Payr (18711934) im Jahr 1934 aus: Wenn für irgendeine grosse medizinische Tat als Grundbedingung der Verleihung des Nobelpreises steht »für Physiologie oder Medizin« [sic!], so trifft dies für die Hyperämielehre Biers zu. Ihre Auswirkungen waren so umfassend, dass ihr nicht viel Ähnliches an die Seite gestellt werden kann. Sehr viele andere ausgezeichnete Entdeckungen in der Medizin sind ihr gegenüber als eng umschrieben und beinahe spezialistisch zu bezeichnen. Die Tatsache, dass alle Kulturvölker der Erde sich mit der Hyperämie, sowohl in ihrer Physiologie als auch als mächtiger Heilkraft eingehend beschäftigt haben, kennzeichnet weiterhin die Grösse der Bierschen Tat.66

In Bergs Gutachten wurde jedoch auch Kritik geäußert. Zum einen sei die Hyperämie-Technik schwierig anzuwenden – davon war auch in einigen Nominierungen die Rede. Der Bonner Professor für Hygiene Walther Kruse (1863-1943) schrieb 1913: Wenn auch die Biersche Stauungs-Hyperämie nicht in den Händen aller Aerzte so glänzende Erfolge gezeitigt hat, wie sie in denen ihres Entdeckers [sic!], so hat sich doch Bier ein grosses Verdienst erworben durch die Betonung der Bedeutung, welche die Cirkulations-Verhältnisse haben. Sein Buch über die Hyperämie gehört jedenfalls zu den anregendsten Werken in der ganzen medizinischen Literatur.67

Dies wird zwölf Jahre später in der Nominierung des oben erwähnten Chirurgen Rudolf Klapp detaillierter erläutert: [Die] überragende Heilwirkung [der Hyperämie] bei den gonorrhoischen Gelenken ist allgemein anerkannt. Bei anderen, besonders hochakuten entzündlichen Krankheiten wird sie weniger angewandt. Das hat seinen Grund darin, dass die Technik ausserordentlich schwierig ist. In der Hand geschickter, in die Methode eingearbeiteter Ärzte leistet das Verfahren Ausserordentliches.68

Des Weiteren kritisierte Berg an der Hyperämie, dass sie zeitaufwendig sei (»Die Technik […] kostet viel Zeit für den behandelnden Arzt, da er den Patienten während der ganzen Behandlung unter Aufsicht halten muss«69), und drittens – dies war die Hauptkritik – könne die Behandlung mit Stauungshyperämie zur Verbreitung einer Infektion führen, die beispielsweise Erysipel als Folgeerscheinung mit sich bringen könnte. Ferner befasste sich Berg im Gutachten mit einem Kritikpunkt des Königsberger Chirurgen Erich Lexer (1867-1937). Dieser ging davon aus, dass Biers Annahme, man könne durch die Behandlung milder Symptome Rückschlüsse auf die Behandlung schwerer Symptome ziehen, ein Irrtum sei, der Gefahren mit sich brächte. Die Therapie wäre daher, und Berg schloss sich dieser Ansicht an, 65 NA, Westenhöfer (1925). 66 NA, Payr (1934). Payr vertrat eine »physiologisch-biologische« Richtung der Chirurgie, die ganzheitliche Körperphänomene mit den Mitteln der Experimentalphysiologie erforschen wollte. Payr (1913). 67 NA, Kruse (1913). 68 NA, Klapp (1925). 69 NA, Gutachten Berg (1906), S. 20.

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nur bei mäßigen Symptomen angebracht. Zu den theoretischen Aspekten der Bierschen Thesen nahm Berg vor allem einen damals aktuellen Aufsatz des Rostocker Anatomen Friedrich Reinke70 (1862-1919) unter die Lupe. Reinke vertrat darin die Meinung, dass der Lymphdruck im Gewebe regenerativ wirke, und er sah (wie auch Bier) keinen prinzipiellen Unterschied zwischen pathologischem, regeneratorischem oder physiologischem Wachstum. Reinke ging von einem einheitlichen Prozess allgemeiner biologischer Natur aus. Deshalb wolle er die pathologische Bezeichnung »Entzündung« gegen eine physiologische austauschen, wie »Treibung« oder »Blastose«.71 In seiner zusammenfassenden Beurteilung schrieb Berg, dass der langfristige Einfluss von Biers Theorien zwar noch nicht genügend belegt sei, aber auch, dass positive Resultate zu erwarten seien. Weiterhin war es für Berg unverständlich, dass Bier als Chirurg die operative Tuberkulosebehandlung nicht genug würdigte, obwohl sie seit einigen Jahren diagnostisch von der »Röntgenfotografie« profitieren könne. Dabei berührte Berg eine Frage, mit der er sich selber viel beschäftigt hatte: Berg engagierte sich aktiv für die Einrichtung eines Röntgeninstituts in Schweden.72 Bier argumentierte stattdessen für eine venöse Hyperämie durch eine dünne Kautschukbinde (1-3 Stunden pro Tag) und ein Saugglas (insgesamt 45 Minuten pro Tag).73 In einem abschließenden Satz meinte Berg trotz aller Einwände, dass die Arbeit »Hyperämie als Heilmittel« sehr vielversprechend und deren Autor nobelpreiswürdig sei. Jedoch sei die Zeit noch nicht reif, Bier den Preis zuzusprechen. In einer Stellungnahme zum Gutachten John Bergs vom NobelkomiteeMitglied Johan Gustaf Edgren (1849-1929), Professor für Innere Medizin in Stockholm sowie Leibarzt der schwedischen Könige Oscar II. (1829-1907) und Gustaf V. (1858-1950), führte Edgren auf, dass es sich bei »Hyperämie als Heilmittel« wirklich um eine, sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht, besonders interessante Arbeit handele, jedoch ohne dies weiter auszuführen.74 Edgrens Stellungnahme war möglicherweise dadurch bedingt, dass das Nobelkomitee eine Einschätzung eines Nicht-Chirurgen haben wollte. Somit konnte man Biers Arbeit aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Edgren teilte die Meinung Bergs, dass Bier künftig vermutlich den Preis erhalten würde, man damit aber noch einige Jahre warten solle. Dieser Vorschlag ist keine Seltenheit in einem Nobelpreisverfahren. Er taucht öfter in Diskussionen über Forscher auf – immer dann, wenn das Nobelkomitee weitere Verifizierungen der Theorien für notwendig hielt oder wenn es vermutete, dass ausschlaggebende Befunde des Forschers 70 Reinke (1906). 71 Reinke (1906), S. 277. 72 John Berg (1904). 73 NA, Gutachten Berg (1906), S. 13. 74 NA, Stellungnahme Edgren (1906), verfasst in Stockholm am 7. August 1906.

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noch bevorstünden. Ein weiterer Grund wäre, wie Franz Luttenberger schreibt: One of the means of creating consensus, I call the waiting list. Among a small number of prominent candidates, that one is chosen who seems to have the greatest chance of being agreed on by the Karolinska; the others have to wait until the following year’s competition.75

Die Protokolle im Nobel-Jahrbuch 1906 deuten jedoch für Bier nicht auf diesbezügliche Kontroversen im Nobelkomitee hin. Auch nach diesem Gutachten erreichten das Nobelkomitee viele Nominierungen, die sich mit der Bierschen Hyperämie befassten. August Bier und die Homöopathie aus dem Blickwinkel des Nobelkomitees Es lässt sich eine Zäsur in den Nominierungen ab 1925 feststellen, die mit der Veröffentlichung von Biers Aufsatz »Wie sollen wir uns zu der Homöopathie stellen?« zusammenhängt.76 In diesem argumentierte er, dass die Homöopathie einen guten Kern habe; es ginge nicht an, »dass die Schulmedizin sie totschweigt oder verächtlich auf sie herabsieht«.77 Nachdem Bier diesen Aufsatz im Rahmen eines Vortrags im Verein für Innere Medizin und Kinderheilkunde im großen Saal des Berliner LangenbeckVirchow-Hauses vorgestellt hatte, kam es zu einer Auseinandersetzung, auch als »Scherbengericht«78 bezeichnet, mit dem Göttinger Pharmakologen Wolfgang Heubner (1877-1957). Nach der Debatte schrieb Heubner am 29. Juni 1925 eine das Geschehen zusammenfassende Notiz in sein Tagebuch. Sie gibt Auskunft darüber, wie ausgeprägt das Interesse innerhalb der Ärzteschaft war: 75 Luttenberger (1992), S. 144f. Ähnliche Formulierungen des Komitees finden sich bei Forschern wie dem deutsch-amerikanischen Physiologen Jacques Loeb (1909). Karl Axel Hampus Mörner, der Gutachter des Nobelkomitees zu Loeb, schrieb: »Es kann wohl sein, dass ich ihn in der Zukunft vorschlagen werde, aber für dieses Jahr möchte ich ihn nicht empfehlen.« Vgl. Tröhler (2013), S. 95. Bei dem Gutachten zum Göttinger Physiologen Hermann Rein (1898-1953) von Göran Liljestrand (1936) wurde notiert: »Meiner Meinung nach ist Rein ein Forscher, von dem man künftig bedeutende Forschung erwartet. Deswegen werden seine Arbeiten sicherlich bald eine erneute Prüfung bekommen.« 76 Bier (1925). Das Spannungsfeld zwischen der sogenannten »Schulmedizin« und der Homöopathie am Beispiel dieses Aufsatzes ist in mehreren Arbeiten analysiert worden: Doms (2005); Geigenberger (2004); Jütte (1996); Klasen (1984); Tischner (1939); Heubner: Frage (1925). 77 Bier (1925), S. 773f. 78 Vogeler (1941), S. 254: »Der große Saal im Langenbeck-Virchow-Haus war bis zum Bersten gefüllt, Treppen und Gänge standen voll, die große Galerie war bis zum letzten Platz besetzt, es war wie auf einem großen Kongreß. Bier äußerte später, er sei hier‚ ›vor das Scherbengericht geladen‹.«

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Im Hotel umgezogen, um 7 ins Langenbeck-Virchow-Haus: Schultzen, His, MagnusLevy, Eduard Müller, schliesslich auch Bier begrüsst. Dann ½ 8 Eröffnung der Sitzung mit dem Thema »Homöopathie, Biochemie und die Wirkung kleinster Arzneidosen«; ca. 1000 Ärzte als Zuhörer, jedenfalls war der grosse Saal total überfüllt. Erst sprach His etwa 10 Minuten als Einleitung, dann Eduard Müller ¾ Stunde nach seinem Manuskript – währenddessen musste ich an meinem Entwurf umformen, um das wegzulassen, was schon behandelt wurde. Ich sprach dann auch etwa ¾ Stunde, danach erhob sich Bier zu einer Erwiderung, die recht schwach war; im Laufe des Abends kam er dann noch mehrere Male zu Wort. Inzwischen sprachen verschiedene Ärzte, teils für, teils wider Bier, sehr gut Klemperer, Goldscheider, ferner Joachimoglu, MagnusLevy u. a. Es wurde sehr spät, als ich zum Schlusswort gerufen wurde, sagte His: »Machen Sie es gnädig«, es war bereits sehr unruhig, viele brachen auf und ich brach daher ziemlich kurz ab. Zu guter Letzt fühlte sich His veranlasst, seinen Segen zu geben, indem er erklärte, durch Discussionen liessen sich die erörterten Fragen nicht klären und es solle eine Kommission die Befunde von Bier nachprüfen.79

Nach der Debatte mit Bier soll Heubner einem Tagebucheintrag vom 8. April 1926 zufolge anonyme Briefe bekommen haben, »in dem ich [Heubner] wegen meiner Angriffe gegen Bier […] verhöhnt wurde«. In einem Eintrag vom 23. September 1926 führt Heubner weiter aus: »Stenzl erzählte mir, wie ein bekannter Chirurg über mich geschimpft habe, mich als Idioten und bar jeder Logik bezeichnet habe – a conto des Kampfes mit Bier.« Die Historikerin Misia Sophia Doms hat gezeigt, dass die Argumente in der heutigen Debatte um die Homöopathie jenen ähneln, die bei der Besprechung von Biers Aufsatz in den 1920er Jahren geäußert wurden.80 Die Meinung, dass man die Effekte homöopathischer Behandlungen weiter erforschen müsste, um ihre Relevanz einschätzen zu können, wie die Schlussfolgerung einer im Jahr 1997 im Lancet veröffentlichten Meta-Analyse81 lautet, gleiche, so Doms, einem oft vorkommenden Argument der 1920er Jahre82. Es war Heubner unklar, ob es sich bei den von Bier vorgeschlagenen Therapien, die auf dem Hyperämie-Konzept beruhten, wirklich um Kausalitäten handelte oder ob andere Faktoren dabei auch eine Rolle spielten.83 Ferner erregte sich Heubner darüber, dass sogenannte Kurpfuscher bewiesene Kausalitäten in Frage stellten – beispielsweise, dass Tuberkulose von Tuberkelbazillen verursacht wird.84 79 Die Tagebücher Wolfgang Heubners sind im Archiv der Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Pharmakologie und Toxikologie am Pharmakologischen Institut der Universität Mainz aufbewahrt. Sie wurden zwischen 1917 und 1956 geführt und umfassen 28 Bände. Die Transkription wurde von Prof. Dr. Erich Muscholl angefertigt. 80 Doms (2005). 81 Linde u. a. (1997). 82 Doms (2005), S. 276. Dieses Argument zum Thema Homöopathie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Schweden hervorgehoben. Vgl. Eklöf (2008). 83 Heubner: Affekt (1925), S. 41. 84 Heubner: Affekt (1925), S. 34.

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Die in Deutschland geführte Debatte über die Homöopathie und die sogenannte medizinische »Krise« wurde in Schweden im Ärzteblatt Läkartidningen und in der Socialmedicinsk Tidskrift (Sozialmedizinischen Zeitschrift) aufmerksam verfolgt.85 Insgesamt sah man Bier als Autorität auf diesem Gebiet, und seine Schriften über die Homöopathie wurden in Schweden in mehreren Auflagen herausgegeben. Auch einige von Erwin Lieks, Ferdinand Sauerbruchs und Bernhard Aschners (1883-1960) Artikel zum Thema wurden ins Schwedische übersetzt und in Läkartidningen abgedruckt. Jedoch, so die Historikerin Motzi Eklöf, sei die schwedische Ärzteschaft im Allgemeinen seit den 1920er Jahren bis heute gegenüber der Homöopathie skeptischer eingestellt als die deutsche. Carl Sundberg (1859-1931), Nobelkomitee-Mitglied von 1902 bis 1918 und Professor für pathologische Anatomie in Stockholm, referierte im Jahr 1926 in einem Artikel für Socialmedicinsk Tidskrift mit positiven Worten Biers Schrift über die Homöopathie von 1925.86 Sundberg plädierte dafür, dass man die homöopathischen Lehren nicht ohne weitere Studien als nutzlos abschreiben solle. Selbst habe er daraus wichtige Prinzipien herleiten können. Dies war insofern überraschend, als er einige Jahre zuvor die Homöopathie vehement kritisiert hatte.87 Seine Meinung hatte er also inzwischen geändert.88 Biers Aufsatz »Wie sollen wir uns zu der Homöopathie stellen?« wurde von Waldemar Gårdlund (1879-1959) und Carl Bernhard Lagerlöf (1865-?), den Redakteuren der Socialmedicinsk Tidskrift, angenommen. Zuvor war er von Läkartidningen abgelehnt worden. Man kann also davon ausgehen, dass sämtliche Mitglieder des Nobelkomitees über Biers Stellungnahme informiert waren. In den auf 1925 folgenden Jahren wurden Biers Thesen in Deutschland und in Schweden jedoch nicht nur im Lager der Homöopathen begrüßt: Bei vielen Ärzten weckten sie ein neues Interesse an diesem Heilverfahren. Nicht alle Nobelpreis-Nominierer Biers waren an der öffentlichen Diskussion über die Homöopathie maßgeblich beteiligt, so dass diese Nominierungen zum Teil bisher unbekannte Einblicke in das Thema geben. Charakteristisch für die Ambivalenz einiger Forscher gegenüber Bier ist das Nominierungsschreiben Wilhelm Stoeltzners (1872-1954), Königsberger Professor für Kinderheilkunde, vom 20. Oktober 1930: Gewisse Bedenken könnten meinem Vorschlag insofern entgegenstehen, als Bier in den letzten Jahren eine übereifrige literarische Tätigkeit entfaltet hat, wobei er es vielfach, ganz besonders durch sein Eintreten für die Homöopathie, auch nach meiner Ansicht an der gebotenen Vorsicht hat fehlen lassen. Aber abgesehen davon, dass auch diese letzten Veröffentlichungen Biers auf jeder Seite von seinem unbezähmbaren 85 Dieser Abschnitt baut auf Eklöf (2000), S. 57-60, auf. 86 Sundberg: Reflexioner (1926). 87 Sundberg (1920). 88 Sundberg: Mening (1926).

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Forschungsdrang, seiner geistigen Originalität und seiner rücksichtslosen Wahrheitsliebe Zeugnis ablegen, bin ich der Meinung, dass ein grosser Geist nicht nach seinen Irrtümern, sondern nach seinen positiven Leistungen beurteilt werden soll.89

Biers Nominierung von Hugo Schulz Im Jahr 1931 nominierte Bier den Greifswalder Pharmakologen Hugo Schulz (1853-1932) für den Nobelpreis aufgrund der Aufstellung der sogenannten Arndt-Schulzschen Regel. Schulz hatte das vom Greifswalder Psychiatrieprofessor Rudolf Gottlieb Arndt90 (1835-1900) formulierte »biologische Grundgesetz« experimentell bestätigt und dessen Kern in einem Satz zusammengefasst: »Schwache Reize fachen die Lebenstätigkeit an, mittelstarke fördern, starke hemmen und stärkste heben sie auf.«91 Als Beispiel für die Regel führte er den Versuch mit verschiedenen Konzentrationen von Ameisensäure zur Hefegärungsaktivität an, den Bier auch in der Nominierung erwähnt. Die Hefegärung würde bei Zugabe von »hohen« Säurekonzentrationen gehemmt oder gar aufgehoben, bei »niedrigeren« würde die Gärung gefördert. Versuche mit Arsen und Veratrin hätten ähnliche Resultate erbracht.92 Bier zufolge hatte die Begegnung mit Hugo Schulz stark zu seinem Interesse an der Homöopathie beigetragen. Er sei für Bier eine »wissenschaftliche Stütze der schauend erfaßten Lehre Hahnemanns«93 und die ArndtSchulzsche Regel ein »Grundpfeiler der Heilmittellehre«94. Die Freundschaft baute auf gegenseitiger Wertschätzung auf: Schulz sah Bier als den einzigen Kliniker an, der die »fundamentale Bedeutung [der Arndt-Schulzschen Regel] für die Therapie« wirklich schätzte.95 Mit seiner Nominierung machte 89 NA, Stoeltzner (1931). 90 NA, Bier (1931). Bier schrieb in seiner Nominierung: »Der Ruhm, diese Regel aufgestellt zu haben, gebührt Arndt wie Schulz zu gleichen Teilen. Arndt hat zuerst die Idee gehabt; Schulz hat die Idee weit über ihren ursprünglichen Geltungsbereich hinaus verallgemeinert, und vor allen Dingen die wissenschaftlichen Grundlagen für dieselbe gelegt. Wenn Arndt noch lebte, würde ich vorgeschlagen haben, ihnen beiden zu gleichen Teilen den Nobelpreis zu geben.« Siehe dazu auch Schulz (1925), S. 13, 18, 23. 91 Zit. n. Bier (1903), S. 173. 92 Bier (1903), S. 173f. 93 Zit. n. Doms (2005), S. 248. Tischner (1939), S. 759, beschreibt dies wie folgt: »Bier hatte die Homöopathie 1899 durch Hugo Schulz kennengelernt und zugleich auch die Arndt-Schulzsche Regel, deren Bedeutung er bald schätzen lernte und die ihm eine wichtige Hilfe bei seinen Arbeiten wurde.« 94 Zit. n. Vogeler (1941), S. 139. 95 Schulz (1923), S. 247. Siehe auch Schulz (1925), S. 4: »Ich habe es nie erwartet, daß mir an meinem Lebensabend doch noch einmal in August Bier ein Mitkämpfer, noch dazu ein Kliniker, in der so lange allein behaupteten Stellung an die Seite treten sollte.«

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Bier das Nobelkomitee gleichzeitig auf homöopathische Konzepte aufmerksam und damit indirekt auch auf seine eigenen Forschungen zum Thema. Ich schlage ihn [Schulz] vor wegen der Aufstellung der sogenannten ArndtSchulz’schen Regel. […] Die Bedeutung der Arndt-Schulz’schen Regel greift […] weit über das Gebiet der Medizin hinaus und ist von anderen Wissenschaften, besonders von der praktischen Botanik, eigentlich sehr anerkannt, als von der Medizin [sic!]. […] Für die Arndt-Schulz’sche Regel trifft der Abschnitt der Satzungen zu: »Aeltere Arbeiten können Gegenstand der Belohnung nur dann werden, wenn ihre Bedeutung sich erst in der letzten Zeit erwiesen hat.«96 Denn die Arndt-Schulz’sche Regel wurde anfangs von der Wissenschaft vollkommen totgeschwiegen. Erst in den allerletzten Jahren wird ihre Bedeutung anerkannt, und ich zweifle nicht daran, dass mit fortschreitender Erkenntnis diese Anerkennung noch erheblich steigen wird. […] Ich füge noch hinzu, dass Hugo Schulz auch in anderer Beziehung den Pharmakologen seiner Zeit offenbar vorausgewesen ist. Die Bedeutung wichtiger Arzneimittel, die die zünftige Pharmakologie ganz hatte unter den Tisch fallen lassen, hat er zu einer Zeit, als andere sie nicht verstanden, richtig gewürdigt und gewertet. Ich erwähne in dieser Beziehung vor allen Dingen seine Arbeiten über die Kieselsäure, über die Ameisensäure und besonders über den Schwefel. […] Die betreffenden Sonderabdrücke lege ich bei.97 Prof. Dr. August Bier.98

Unter einigen namhaften Pharmakologen gab es Kritik an der ArndtSchulzschen Regel. Der bereits erwähnte Wolfgang Heubner gab zwar zu, dass sie in einigen Fällen korrekt sein könnte, betonte aber, dass sie keineswegs allgemeingültig sei.99 In seiner Festrede zur Jahresfeier der GeorgAugust-Universität Göttingen am 20. Juni 1928 ging Heubner auf die Theorie mit zwei konkreten Beispielen über Genussmittel ein: Wechselnde Quanten desselben Giftes bedingen wechselnde Wirkungen. Auch hier liefert der Alkohol allbekannte Beispiele: Ein klein wenig davon macht ein schüchternes Mädchen übermütig, etwas mehr braucht der Bierphilister als unentbehrlichen Schlaftrunk, den Säufer richtet die tägliche Schnapsbuddel langsam zu Grunde, aber auch in ein paar Stunden wird mancher junge Bursche zur Leiche, wenn er eine der unsinnigen Wetten einging, auf einen Zug eine Flasche Kognak zu leeren. Vom Nikotin seiner gewohnten Bremer Zigarre empfindet der Raucher nichts, während die größere Menge aus einer schweren Importe ihm heftige Übelkeit bringen kann; und gar nicht sehr viel mehr es zu sein [sic!], das den Schmuggler tot am Wege liegen läßt, der sich die Haut mit Tabakblättern pflastert, ohne zu wissen, wie rasch das Nikotin durch die Haut in den Körper dringen kann.100

96 Diese Formulierung hat Bier der Nominierungseinladung des Nobelkomitees entnommen. 97 Die Sonderabdrücke und der Anhang Biers zur Nominierung sind im Nobelarchiv nicht einsehbar. 98 NA, Bier (1931). 99 Heubner: Affekt (1925). Auch der Marburger Pharmakologe Hans Horst Meyer (1853-1939) sah einige Vorteile der Arndt-Schulzschen Regel, ergänzte aber, dass sie unzuverlässig sei und allgemein »haltlos und irreführend«. Vgl. Doms (2005), S. 254. 100 Heubner (1928), S. 3.

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Eine Stellungnahme zu Hugo Schulz von Göran Liljestrand (1886-1968), langjährigem und einflussreichem Sekretär des Nobelkomitees und zugleich Professor für Pharmakologie in Stockholm, ist im Nobelarchiv aufbewahrt.101 Sie wurde als Folge von Biers Nominierung am 21. Februar 1931 angefertigt. In ihr ging Liljestrand auf Biers Annahme ein, dass die ArndtSchulzsche Regel die wissenschaftliche Basis für die Homöopathie sei. Liljestrand war davon nicht begeistert: »Es ist offenbar, dass eine weitere Auseinandersetzung des Nobelkomitees mit den Arbeiten von Schulz keineswegs notwendig ist.«102 Schulz kam daher für den Nobelpreis nicht ernsthaft in Frage. Schluss Bier hat sein ganzes Leben mit ausserordentlicher Energie und mit aus echter Menschenliebe entsprungener Begeisterung darangesetzt, zu beweisen, dass die Natur des Menschen selbst in gesunden und kranken Tagen uns den Weg zeigt, wie wir ihm helfen müssen und er hat selbst auf die Gefahr hin verkannt, verlacht und verspottet zu werden und in seiner Laufbahn Schiffbruch zu leiden, die von ihm erkannten biologischen Tatsachen und Zusammenhänge der gesamten Aerzteschaft verständlich zu machen gesucht und dadurch der leidenden Menschheit Schmerzlinderung und Heilung in einem Umfang gebracht, wie es vordem noch niemals einem einzelnen Arzt und Forscher gelungen war. Sein Werk ist ein einheitliches Ganzes, denn seine Beobachtungen über die Hyperaemie als Heilmittel, über Heilentzündung und Heilfieber und über die Regeneration stammen aus einer gemeinsamen Wurzel, und nur wenn man den Wurzeln dieses dreiteiligen Baumes nachgräbt, die bis zur Quelle des Lebens hinabreichen, wird man voll und ganz die Bedeutung der Lösung dieser drei Probleme verstehen und nur dann wird man sehen, dass sie sich wesentlich unterscheidet von den Ansätzen, die etwa in gleicher Richtung schon in früheren Zeiten gemacht worden waren, früher mehr tastend und auf empirischen lückenhaften Beobachtungen fussend, von Bier aber mit klarem Bewusstsein erkannt, theoretisch glänzend ausgearbeitet und durch tausendfältige sorgsame Beobachtung am Menschen bewiesen und schliesslich mit vollem Erfolge in der Praxis angewandt.103

Mit seinen 42 Nominierungen gehört Bier zu den meistnominierten deutschen Chirurgen für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das weist auf seine starke Position unter Medizinern dieser Zeit hin. Biers Nobelpreis-Lobby war stark und überdisziplinär, aber von einer internationalen Unterstützung kann nicht die Rede sein. Er wurde zwischen den Jahren 1906 und 1936 – mit einer Ausnahme – ausschließlich von Forschern aus Mitteleuropa vorgeschlagen. Diese Nominierungen sind über jene Periode hinweg recht gleichmäßig verteilt. Sowohl vor als auch nach dem »Scherbengericht« im Jahr 1925 hatte er Verehrer. Die meisten Nominierenden, wenn nicht gar alle, kannten Bier persönlich: Viele von ihnen waren seine Schüler und/oder Kollegen. 101 NA, Gutachten Liljestrand (1931). 102 NA, Gutachten Liljestrand (1931). 103 NA, Westenhöfer (1925).

»Umschwung des medizinischen Denkens«

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Wie der Innsbrucker Anatom Ludwig Merk (1862-1925) in seiner Nominierung anmerkte, war Bier »nicht lediglich Messerkünstler«104 – seine Interessen und Kooperationen deckten mehrere Fachgebiete ab. Es war für viele Nominierende schwierig, nur eine seiner Leistungen zu nennen, von einem einzelnen Lebensthema war nie die Rede. Daher blieben die Begründungen nicht selten vage. Beispielsweise schrieb Max Westenhöfer in seiner Nominierung im Jahr 1925, dass Bier im Vergleich mit allen einzelnen Nobelpreisträgern für Physiologie oder Medizin zwischen 1901 und 1925 für die Menschheit von größerer Bedeutung sei und dass eine weitere Erläuterung eigentlich nutzlos wäre, denn man würde damit »Eulen nach Athen tragen«.105 Biers Buch »Hyperämie als Heilmittel« wurde als besonders interessant eingestuft, was sich in mindestens 24 Nominierungen niederschlug. Auch bekannte Chirurgen wie Erwin Payr und Victor Schmieden hoben dies in ihren Nominierungen hervor. Dies steht im Kontrast zur Annahme, dass Biers Hyperämie pauschal »von Kollegen in der Chirurgie verurteilt wurde«.106 Es mag eine wichtige Rolle gespielt haben, dass diese Nominierungen als streng geheim behandelt wurden. Somit konnten die Nominierenden Meinungen formulieren, die sie womöglich wegen der heftigen Debatte offiziell nicht vertreten wollten. John Berg, der Gutachter des Nobelkomitees zur »Hyperämie als Heilmittel« von 1906, lobte das Buch, aber da Bier sich darin zum Teil von der operativen Behandlung von Tuberkulose distanzierte und da es ihm an theoretischen Grundlagen mangelte, bekam es auch Kritik. Auch wenn Berg nicht verschwieg, dass sowohl Bier als auch die Hyperämielehre vielversprechend schienen, wurde nach 1906 kein Gutachten mehr dazu angefertigt. Obwohl das Nobelkomitee um die Jahrhundertwende an der deutschen Medizin sehr interessiert war, verheimlichte man am Karolinska-Institut nicht, dass man generell der Homöopathie, die allmählich in Deutschland an Relevanz gewann, ablehnend gegenüberstand. Algot Key-Åberg (1854-1918), Professor der Gerichtsmedizin, schrieb im Jahr 1912, dass die Homöopathie nicht Teil eines Medizinstudiums sein sollte: »Die Hahnemannsche Homöopathie hat wohl ihre historische Mission gehabt. Ihre Zeit ist schon lange vorbei. Die Homöopathie von heute […] kann ohne weiteres als Humbug bezeichnet werden.«107 Die gleiche Meinung vertrat Göran Liljestrand, Sekretär des Nobelkomitees für Physiologie oder Medizin zwischen 1918 und 1960 (!), auch einige Jahrzehnte später in mehreren Artikeln.108

104 NA, Merk (1918). 105 NA, Westenhöfer (1925). 106 Goerig/Agarwal/Schulte am Esch (2000), S. 562. 107 Zit. n. Liljestrand (1960), Bd. 1, S. 55. 108 Liljestrand (1943).

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Es ist nicht anzunehmen, dass Biers aktive Teilnahme an der HomöopathieDebatte in den 1920er Jahren, die also auch in Schweden für Aufmerksamkeit sorgte, oder politische Faktoren wie Hitlers Nobelpreisverbot entscheidend für sein Nobelpreisverfahren waren, da Bier bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vom Nobelkomitee ausführlich begutachtet wurde. Obwohl die Hyperämie zu der Zeit zumindest in der Theorie als kontrovers galt und darüber hinaus für viele Ärzte in der Praxis schwierig anzuwenden war (eine Tatsache, die auch Bier zugab), wurde sie dank ihres Potentials für den klinischen Alltag gelobt, denn sie war weder organspezifisch noch ausschließlich von Fachspezialisten einsetzbar. Ein Unterschied im Nobelpreisverfahren Biers zu jenen der Chirurgen Theodor Kocher (1841-1917) und Alexis Carrel (1873-1944) (Nobelpreisträger 1909 bzw. 1912) besteht darin, dass Letztere empirische Daten über ihre Experimente dokumentiert hatten, die – in den damaligen technologischen, praktischen und sozialen Kontexten – nachvollziehbarer für die Ärzte im Nobelkomitee schienen als jene von Bier. Somit war die Betonung des »visionären« Bier durch die Nominierenden vielleicht sogar kontraproduktiv – oder wie der Gutachter John Berg im Jahr 1906 schrieb: »Die Zeit ist noch nicht reif für Bier«.109 Damit könnte man Ackerknechts anfangs zitierte Einschätzung des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin dahingehend umformulieren, dass einige wichtige Tendenzen der Medizin im 20. Jahrhundert durch die Namen und Arbeiten derer beleuchtet werden, die für den Nobelpreis nominiert wurden, und dass die Aushandlungen der Preisvergabe wertvolle Einblicke in die Spannungen und Dynamiken der zeitgenössischen Medizin gewähren – etwa hinsichtlich der Bewertung von ganzheitlichen therapeutischen Ansätzen und der Homöopathie.

109 NA, Gutachten Berg (1906), S. 25.

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Danksagung Ich danke Thomas Schlich und den anonymen Gutachtern für hilfreiche Kommentare. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in das Material des Nobelarchivs danke ich Frau Ann-Mari Dumanski und dem Nobelkomitee für Physiologie oder Medizin.

Werbung und Zeitgeist. Die Inserate der Firma Dr. Willmar Schwabe Cornelia Hofmann und Ortrun Riha Summary Advertising and Zeitgeist. The advertising of Schwabe Pharmaceuticals This contribution explores the advertisements for homeopathic products in magazines in the first half of the twentieth century, focusing on the period between 1933 and 1945 and based on the example of the pharmaceutical company Dr Willmar Schwabe. In the first half of the twentieth century, Schwabe Pharmaceuticals was market leader for homeopathic and other complementary medical products (phytotherapy, biochemicals). The example chosen as well as the time frame complement the existing research. We searched three German publications (the homeopathy journal Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie, the medical weekly Münchner Medizinische Wochenschrift and the pharma magazine Pharmazeutische Zeitung) and collected target-group-specific results for laypersons, physicians and pharmacists. Analysis of the images and texts in the selected advertisements often reflected the historical background and the respective health policies (wartime requirements, times of need, “Neue Deutsche Heilkunde"). The history of this traditional company was seen as an important point in advertising, as were the recognisability of the brand through the company logo, the emphasis on the high quality of their products and the reference to the company’s own research activities. We furthermore found the kind of argumentation that is typical of natural medicine (naturalness, the power of the sun, prominent representatives). Schwabe met the expectations of its clients, who were interested in complementary medicine, whilst pursuing an approach to homeopathy that was compatible with natural science, and it presented itself as a modern, scientifically oriented enterprise. The company did not lose credibility as a result, but increased its clientele by expanding to include the whole naturopathic market.

Fragestellung und Material In dem vorliegenden Beitrag wird die Zeitschriftenwerbung für homöopathische Produkte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Firma Dr. Willmar Schwabe untersucht.1 Es geht dabei um die Frage, ob und wie sich wirtschaftliche und politische Zäsuren in der Werbung speziell für diese Mittel widerspiegeln. Von besonderem Interesse ist der Zeitraum von 1933 bis 1945, da Homöopathie und Phytotherapie in der von den Nationalsozialisten propagierten »Neuen Deutschen Heilkunde« eine herausgehobene Rolle spielten.2 Es soll geprüft werden, inwieweit die Werbung diese für die Firma und ihre Produkte günstige historische Konstellation 1

Wegen seiner besonderen Aussagekraft wird zusätzlich ein Inserat der Arzneimittelfirma Madaus vorgestellt (Abb. 3).

2

Vgl. Jütte: Geschichte (1996), S. 42-55; Haug (2010). Haberland (1993), S. 50, hat festgestellt, dass die Propaganda der Arzneimittelhersteller ihre geschäftlichen Interessen mit denen der nationalsozialistischen Regierung, also dem »höheren Gesichtspunkte des Gemeinwohls«, in Einklang bringen musste, und zitiert hierzu den Beitrag »Heilmittelwesen und Propaganda« aus Heilmittelwesen und Werbung 3 (1933), S. 190.

MedGG 33  2015, S. 247-282  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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durch pointierte Anknüpfung an die aktuellen gesundheitspolitischen Ziele, wie Prävention, Leistungsfähigkeit und Sportlichkeit3, besonders betont hat. In Kriegszeiten sind dagegen in der Werbung entsprechend den geänderten Bedingungen – insbesondere wegen des Rohstoffmangels – die Aspekte Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit4 sowie die Hervorhebung der einheimischen pflanzlichen Heilmittel zu erwarten. Da das Thema pharmazeutische Werbung bereits mehrfach wissenschaftlich bearbeitet wurde5, ist auch ein Vergleich mit der Werbung für Mittel der naturwissenschaftlich basierten Medizin möglich. Grundlegend ist noch immer die Dissertation von Ursula Lill (1990), die diesen Kontext für unser Erkenntnisinteresse liefert. Auf diese Weise kann geprüft werden, ob es spezifische Werbeargumente des komplementärmedizinisch-»naturheilkundlichen« Sektors gibt, seien sie defensiver oder offensiver Art. In Lills detailgenau beschreibender Dokumentation erscheint die homöopathische Produktwerbung ansonsten nur ganz am Rande, und die beiden auf diesem Sektor führenden Unternehmen Schwabe und Madaus werden lediglich erwähnt. Edda Hoffmann dagegen konzentrierte sich auf die Homöopathischen Monatsblätter und auf den Zeitraum von 1900 bis 1930.6 Ihre gründliche Untersuchung berücksichtigt ökonomische Zusammenhänge, nähert sich den über 5000 erfassten Anzeigen zunächst mit statistischen Methoden und unterzieht danach 21 ausgewählte Beispiele noch einer qualitativen Bewertung mittels der »Emnid-Faktoriellen-Anzeigenanalyse«, die Suggestion, Identifikation, Motivation, Information, Konkretion und Präsentation umfasst. Von der Firma Schwabe wird nur Hamamelis-Fettpuder einbezogen (vgl. unten Abb. 15). Mit dem vorliegenden Beitrag soll nun versucht werden, durch Konzentration auf die Werbung der marktführenden Firma Schwabe, durch eine Ergänzung der bisherigen Untersuchungen besonders für den Zeitraum von 1933 bis 1945 sowie durch eine Bild- bzw. Textanalyse ausgewählter Inserate weitere Aspekte der Werbung für homöopathische Produkte zu erschließen. Da Werbung entsprechend der Zielgruppe (hier: Laien, Apotheker, Ärzte) variiert, wurden von uns drei exemplarische Zeitschriften herangezogen; die im vorliegenden Beitrag präsentierten Annoncen sollen formal und inhaltlich ein möglichst breites Spektrum abdecken.7 Was die Beispiele für die an 3

Lill (1990), S. 180-203, beschreibt in ihrem Material Abbildungen typischer Gesichter, die Optimismus und Kraft ausstrahlen.

4

Haberland (1993), S. 44. Ebenso Sennebogen (2008), S. 418: »In Zeiten des Krieges schließlich sollte der Verbraucher nur noch zum sparsamen Umgang mit den verschiedenen Ressourcen erzogen werden.«

5

Zusammenfassung des Forschungsstandes zur Arzneimittelwerbung bei Hoffmann (2013), S. 22-25. Vgl. daneben vor allem Lill (1990) sowie speziell zur Werbung im Nationalsozialismus Haberland (1993) und Sennebogen (2008).

6

Hoffmann (2013).

7

Eine quantitative Analyse ist nicht angestrebt.

Werbung und Zeitgeist

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eine Laien-Leserschaft gerichtete Werbung angeht, so wurden die Jahrgänge 1886 bis 19428 der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie systematisch durchgesehen. Da diese Zeitschrift in dem der Firma Dr. Willmar Schwabe angegliederten Verlag erschien, war hier die stärkste Anzeigendichte zu erwarten, da die Inserate keine zusätzlichen Kosten verursachten. Gleichzeitig musste die Werbung die höchste Überzeugungsanstrengung und den größten Aktivierungsgrad aufweisen, denn es sollte ja der Kaufwunsch angeregt werden, damit die Kunden von sich aus die entsprechenden Produkte gezielt nachfragten. Für unsere Analyse der zweiten wichtigen Adressatengruppe wurden die Jahrgänge 1886 bis 19379 der Pharmazeutischen Zeitung, Publikationsorgan der deutschen Apotheker, gezielt durchforstet10. Hier musste die Werbung vor allem das Interesse der Leser an Bezugsquellen der Präparate (Namen und Adressen der Warenlager), Produktspektrum, Preislisten und Lieferbedingungen berücksichtigen. Als typisches Werbeargument für Apotheker konnte die Steigerung des Umsatzes durch frei verkäufliche, nicht rezeptpflichtige Artikel festgestellt werden (Abb. 111).

Abb. 1: Pharmazeutische Zeitung 53 (1935)

Auch Kalender und Jahrbücher mit populärwissenschaftlichen Beiträgen wurden auf diese Weise beworben. Hintergrundinformationen als Basis persönlicher Beratung spielten eher eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus waren keine wesentlichen Unterschiede zur Laienwerbung festzustellen; so dürften sowohl Apotheker als auch Laien z. B. geeignete Adressaten für praktische Tipps zu Weihnachtsgeschenken (gewesen) sein (Abb. 2). Auffällig ist ferner das gegenüber beiden Gruppen festzustellende Bestreben einer

8

1943/44 erschien das Blatt als »Kriegsgemeinschaftsausgabe« zusammen mit dem Naturarzt und den Homöopathischen Monatsblättern unter dem Titel Volk und Gesundheit. 1949 erfolgte die Fortführung als Populäre Zeitschrift für Homöopathie.

9

Fortsetzung des Erscheinens erst wieder ab 1947.

10 In der Pharmazeutischen Zeitung finden sich auch Inserate von Schwabes größtem Konkurrenten Madaus, die hier jedoch nicht berücksichtigt wurden. 11 Alle in dem Beitrag verwendeten Bilder stammen aus Exemplaren der Universitätsbibliothek Leipzig. Seitenangaben sind nicht möglich, da die Inserate in den Zeitschriften auf ungezählten (Extra-)Blättern, in Beilagen oder auf Umschlagseiten zu finden sind.

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persönlichen Kundenbindung durch Mitteilungen über die Firmenentwicklung (vgl. dazu den Abschnitt »Firmengeschichte als Werbeargument«).

Abb. 2: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 63 (1932)

Wenig ergiebig waren dagegen Zeitschriften für Ärzte. Da sich die Dissertation von Elisabeth Geigenberger (2004) mit Artikeln über Homöopathie in der Münchener Medizinischen Wochenschrift im Zeitintervall 1853 bis 2003 beschäftigt hat, aber die Werbung nicht thematisiert, wurden die Jahrgänge 1886 bis 194412 nochmals gezielt unter diesem Aspekt durchgesehen. Die Münchener Medizinische Wochenschrift richtet sich an Ärzte in Praxis und Gesundheitsverwaltung, aber darin wie auch in anderen kursorisch kontrollierten Zeitschriften für die Ärzteschaft war kaum Material zu finden. Offenbar erwarteten die Firmen nicht, dass sich die der Homöopathie gegenüber größtenteils kritisch eingestellten Ärzte durch Werbung zu einem geänderten Verordnungsverhalten bewegen lassen würden.13 In den wenigen Belegen wurden neben dem Präparate-Namen die Indikation, die Dosierung, der Preis sowie Informationen zu Literatur und Ordination gegeben. Die formale Gestaltung unterschied sich weder von der Laienwerbung noch von

12 Fortsetzung erst wieder ab 1950. 13 Haug (2010) konnte weder für Ärzte noch für Apotheker eine merkliche Wirkung der ideologischen Propaganda für »Naturheilkunde« zwischen 1922 und 1945 nachweisen.

Werbung und Zeitgeist

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der für »schulmedizinische« Mittel in besonderem Maße14, so dass diese Quelle letztlich für unsere Fragestellung ausschied. Ein einziges bemerkenswertes Beispiel aus der Deutschen Medizinischen Wochenschrift sei hier allerdings vorgestellt, obwohl es von Schwabes Konkurrenten Madaus stammt. Es zeigt jedoch eine so geschickte Anpassung naturheilkundlicher Konzepte an die naturwissenschaftlich orientierte Zielgruppe, dass eine nähere Betrachtung lohnt. Das Inserat wirbt für eine Wundtinktur mit den darin enthaltenen »Pflanzliche[n] Wundhormone[n]« (Abb. 3). Dieser Begriff fand nur in die Komplementärmedizin Eingang und ist physiologisch schwer zu deuten; für seine Unschärfe spricht auch, dass diese Stoffe über biologische Reiche hinweg, also bei Tieren und Pflanzen gleichermaßen anwendbar sein sollen. »Hormone« im Allgemeinen waren jedoch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein aktuelles Forschungsgebiet der Medizin. Wenn also in der Annonce »Haberlandt« genannt wird, so könnten ärztliche Leser durchaus an Ludwig Haberlandt (1885-1932) gedacht haben, der zweifellos zu den Protagonisten der Hormonforschung gehörte, auch wenn er über hormonelle Einflüsse auf die weibliche Fruchtbarkeit arbeitete und insofern kein eigentlicher Gewährsmann für das Präparat ist. Ob diese Doppeldeutigkeit kalkuliert war, sei dahingestellt; die Autoren bezogen sich inhaltlich jedenfalls auf den Botaniker Gottlieb Johann Friedrich Haberlandt (1854-1945), der den Begriff »Pflanzliches Wundhormon« verwendet hatte.15 Die eigentlichen Inhaltsstoffe des Mittels werden nicht angegeben, aber das fällt möglicherweise angesichts der Präzision, mit der eine »Wundheil-Einheit« definiert und die Anwendungsweise beschrieben wird, gar nicht auf. Der Begriff »Urtinktur« verortet das Mittel in der Nähe der Homöopathie, der empfohlene heilsame Lehm rückt die Anwendung in den naturheilkundlichen Bereich, z. B. in der Tradition von Emanuel Felke (1856-1926).16 Für entsprechend aufgeschlossene Ärzte ergab sich also bei so vielen Anknüpfungspunkten ein durchaus hinreichender Wiedererkennungswert, um das – eher nebulöse – Produkt akzeptabel zu finden.

14 Lill (1990), S. 175, 185. 15 Haberlandt (1921). 16 Vgl. Jütte: Geschichte (1996), S. 135-143.

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Abb. 3: Deutsche Medizinische Wochenschrift 61 (1935)

Konkurrenten Zwei kurze Firmengeschichten Die pharmazeutische Firma Dr. Willmar Schwabe wurde in Leipzig 1866 von Carl Emil Willmar Schwabe (1839-1917) gegründet und bis zur Enteignung der Firmeninhaber 1952 von den zwei folgenden Generationen (dem Sohn Carl Otto Willmar Schwabe und nach dessen frühem Tod 1935 von den Enkeln Carl Reinhold Willmar und Willmar Carl Wolfgang) weitergeführt.17 Durch die weitblickende und pragmatische Geschäftspolitik des Gründers erlangte die Firma eine Monopolstellung bei den homöopathischen Apotheken und Geschäften zunächst in Leipzig. Die Firma Schwabe wurde mit der Produktion homöopathischer und naturheilkundlicher Mittel jedoch nach und nach weltführender Anbieter und entwickelte sich zu einem Großunternehmen mit rasanten Gewinnsteigerungen. Bis 1882 musste der Firmensitz aufgrund der Expansion zweimal innerhalb Leipzigs verlegt werden, ehe 1926 ein neu geplantes und errichtetes großes Firmengebäude in Leipzig-Paunsdorf bezogen werden konnte. Der Aufbau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, das kompromisslose Vorgehen 17 Zur Geschichte der Firma Dr. Willmar Schwabe Jäger (1992), Michalak (1991), Willfahrt (1996) und neuerdings Hofmann (2014).

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gegen die Konkurrenz und die Fokussierung auf eigene Entwicklungen bildeten die Voraussetzungen für das Firmenwachstum. Erste Niederlassungen in Deutschland wurden 1891 errichtet, schon 1900 waren es 50 im In- und Ausland, 1925 betrieb Schwabe 2500 Niederlassungen weltweit.18 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts besaß die Firma Schwabe ein Labor, das ab Anfang des 20. Jahrhunderts von Chemikern geleitet wurde. Es diente der Feststellung des durchschnittlichen Gehaltes an wirksamen Bestandteilen bei den gebräuchlichsten Mitteln und zunehmend auch der Forschung zum Wirksamkeitsnachweis der Produkte. Deren Vielfalt wuchs in den 1920er Jahren bis 1936 parallel zur zunehmenden Differenzierung der komplementärmedizinischen und naturheilkundlichen Szene deutlich an und schloss auch die neuen homöopathischen Collóo-Präparate19, Phytotherapeutika, pflanzliche Kosmetika (bzw. Körperpflegemittel) und »biochemische Mittel« (wie z. B. Schüßler-Salze20) mit ein. Durch die Vielzahl an Produkten und durch entsprechende Werbung konnte ein breiter Kundenstamm gewonnen werden, und die Präferenz des nationalsozialistischen Systems für derartige Therapien trug zur Steigerung von Umsatz und Gewinn bei. Nach dem Krieg wurde die noch heute bestehende Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG 1946 in Karlsruhe neu gegründet und belieferte zunächst auch die Sowjetische Besatzungszone, was sich auch in Werbeinseraten niederschlug (Abb. 4), die die Apotheker über die verlässliche Kontinuität der Produktion informierten. Unabhängig davon lief der enteignete sächsische Betrieb weiter; im Jahr 1951 wurden für den Binnenmarkt unter ministerieller Genehmigung der DDR-Regierung 35 homöopathische und pflanzliche Präparate hergestellt.21 1957 wurde die Fertigung als VEB Homöopharm – Dr. Willmar Schwabe in den VEB Leipziger Arzneimittelwerk (LAW) überführt. 1970 erfolgte die Eingliederung in den VEB Kombinat Arzneimittelwerke Dresden, wo das Leipziger Arzneimittelwerk 1978 ein juristisch selbständiger Kombinatsbetrieb wurde. Nach der politischen Wende wurde die Paunsdorfer Firma in die Leipziger Arzneimittelwerk GmbH umgewandelt, die 1992 von der Wyeth-Gruppe übernommen wurde. Seit 2000 schließlich führt die Riemser Arzneimittel AG das Leipziger Arzneimittelwerk.

18 Hierzu Niederlagenverzeichnis (1925). 19 Spezialzubereitungen für schwerlösliche Substanzen. 20 Vgl. Schüßler (1898) und Baschin (2012) sowie zur »Biochemie« insgesamt Jütte: Geschichte (1996), S. 221-237. 21 Staatsarchiv Leipzig, Bestand 20715, Nr. 88: Genehmigte Präparate lt. »Ministerialblatt der DDR, 1950«.

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Abb. 4: Die Pharmazie 3 (1948)

Ab 1922 bestand für Willmar Schwabe eine ernstzunehmende Konkurrenz in der Firma Madaus, aus der eine verstärkte Werbetätigkeit resultierte. Madaus war 1919 in Bonn gegründet worden, 1921 (nach der französischen Besetzung des Rheinlands) wurde der Firmensitz zunächst nach Radeburg in Sachsen, 1929 nach Radebeul bei Dresden verlegt.22 Die Gründer waren drei Brüder, der Bankbeamte Friedemund, der Apotheker Hans und der Arzt Gerhard Madaus, deren Mutter Magdalene nicht nur von der homöopathischen Heilmethode überzeugt war, sondern auch insgesamt 121 »Oligoplexe« definierte, in denen die Wirkstoffe verschiedener homöopathischer Mittel kombiniert wurden.23 Das Unternehmen war auf dem Gebiet dieser neuen Komplexhomöopathie sehr erfolgreich; neben den »Oligoplexen« wurden »klassische« Homöopathika, biochemische Mittel und insbesondere »Spezialitäten« angeboten, ebenfalls homöopathische Kombinationspräparate, die jedoch indikationsbezogen und insofern hauptsächlich für die Selbstmedikation gedacht waren. Zusätzlich zur Herstellung der Produkte wurde 1922 mit dem Arzneipflanzenanbau begonnen, da man möglichst unabhängig von Lieferungen sein wollte. Im Jahr 1923 wurde eine eigene Verlagsabteilung mit Hausdruckerei errichtet, ab 1926 erschien die Reihe der Madaus-Jahrbücher, in denen Berichte der Forschungsabteilung der Firma veröffentlicht wurden. Von 1920 an gründete die Firma Madaus – zunächst in Deutschland – ebenfalls Filialen und eröffnete 1924 die Exportabteilung. Bis 1936 wurden insgesamt zehn Filialen in Deutschland bzw. Mitteleuropa betrieben24, der Ausbau internationaler Kontakte glückte in der Zeit von 1920 bis 1945 jedoch in nur geringem Umfang. Das Werk 22 Vgl. Hermann (1979). 23 Vgl. Dietrichkeit (1991), S. 2, und insbesondere Blessing (2010). 24 Dietrichkeit (1991), S. 33; Hermann (1979), S. 88.

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in Radebeul wurde 1945 durch die sowjetischen Besatzungsbehörden enteignet und demontiert, das Stammhaus ging im VEB Arzneimittelwerk Dresden auf. Schon im Jahr 1944 wurde von den Firmeninhabern die Rückkehr nach Bonn vorbereitet und nach dem Krieg vollzogen. Es folgten mehrere Standortwechsel, Neueröffnungen von Niederlassungen und Rechtsformänderungen, während sich die Firma neu aufstellte und internationale Kontakte nach Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien (Indien) aufbaute. Seit 2007 gehört Madaus dem italienischen Pharmaunternehmen Rottapharm. Die Entwicklung der Firma Madaus weist deutliche Parallelen zur Firma Schwabe auf. Die beiden Firmen nahmen sich gegenseitig als starke Konkurrenten auf dem Markt der Homöopathika und Phytopharmaka wahr und versuchten, jeweils die andere Partei zurückzudrängen. Allerdings hatte Schwabe seit vielen Jahren seine Produkte etabliert und bediente einen entsprechend großen Kundenstamm im In- und Ausland. Im Bereich der Einzel- und Monohomöopathie sowie bei den Biochemika blieb Schwabe daher Marktführer, während Madaus auf dem Gebiet der Komplexhomöopathie seine besondere Stärke hatte.25 Firmengeschichte als Werbeargument Die Vermarktung der Produkte durch Betonung der firmenspezifischen Besonderheiten hatte einen wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg dieser Firmen wie der pharmazeutischen Industrie insgesamt.26 So waren die Produktvielfalt und die firmeneigene Forschung, aber auch imagefördernde Artikel über Firmeninhaber und Produktionsanlagen gut werbewirksam, um sich von der Konkurrenz abzusetzen. Schon die Namengebung der Firma Schwabe zeugt von einer gewissen Fixierung auf den Gründer. In einer Vielzahl von Kurzbeiträgen in der hauseigenen Populären Zeitschrift für Homöopathie wurde die Lebensgeschichte Willmar Schwabes erzählt und sein wissenschaftlicher und menschenfreundlicher Einsatz gelobt.27 In dieser Form, aber auch in Inseraten wurde ferner auf das Ereignis der Firmengründung abgehoben, das Alter betont und die ersten bedeutenden Präparate erwähnt. Aufzählungen wichtiger, qualitativ hochwertiger pharmazeutischer Entwicklungen folgten, die entsprechend kommentiert wurden. Eine solche Imagepflege durch (oft mit Abbildungen unterstrichene) Hinweise auf Firmengröße, Belegschaftsstärke, Abteilungen, technische Einrichtung, weltweite Verbreitung der Präparate und Filialen scheint durchaus typisch gewesen zu sein.28 Eine Goldmedaille 25 Dietrichkeit (1991), S. 24. 26 Wimmer (1994), S. 371. 27 Am ausführlichsten in der Festschrift zum 100. Geburtstag: Anonym (1939), die ebenfalls im hauseigenen Verlag erschien. Analyse und Kontext bei Adam (1998). 28 Lill (1990), S. 47.

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war dabei natürlich ein besonderes Ereignis, das umgehend dem Kunden mitgeteilt wurde (Abb. 5), auch wenn die »hervorragenden Leistungen« nicht näher spezifiziert sind und der Firmenname nur schwer erkennbar ist. Die graphische Gestaltung mit den antikisierenden Figuren in LinolschnittTechnik vor einem Hintergrund, der Tempelstrukturen mit moderner Architektur verbindet, ist allerdings hochwertig und ein ausgesprochener Blickfang.

Abb. 5: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 58 (1927)

Auch Firmenjubiläen wurden mit entsprechenden Anzeigen gewürdigt.29 Alter allein war jedoch schon damals kein ausreichendes Werbeargument: Ein hier abgebildetes Inserat von 1939 (Abb. 6) zeigt die großzügige Produktionsstätte in Paunsdorf als Hintergrund der Werbung für die EisenhutPräparate. Ein Ausweis der Authentizität trotz moderner Fertigung ist zum einen der explizite Rückbezug zur eindrucksvollen Pflanze selbst, zum anderen präsentiert das Tropfen-Fläschchen ein Hahnemann-Porträt. Dagegen werden Fortschritt und Anpassung an neuere Kundenwünsche durch die Darreichungsform der Tabletten ausgedrückt. Durch das breite Anwendungsspektrum mit häufigen Indikationen (Erkältung, Fieber, Entzündungen, Kopfschmerz, Kinderkrankheiten usw.) dürfte Aconitum entsprechend häufig nachgefragt worden sein und ist insofern gleichzeitig ein gutes Bei-

29 Lill (1990), S. 57. Vgl. hierzu Abb. 6 sowie die Festschrift der Firma Schwabe zu ihrem 75-jährigen Bestehen: Anonym (1941).

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spiel für ein bewährtes Traditionsmittel, das durch die Annonce erneut ins Gedächtnis gerufen wird.30

Abb. 6: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 70 (1939)

Ein Jahr später wurden die modernen Produktionsanlagen allein ins Zentrum eines Inserats gerückt (Abb. 7). Der Bezug zu den Wurzeln der Homöopathie ist nur noch durch die Beschriftung »Destillationsapparate« und »Pflanzenpresse« gegeben, sonst demonstriert die Firma ihre Größe und Leistungsfähigkeit mit dem neuesten Stand der Technik, obwohl dies eine 30 Die Indikationen von homöopathischen Mitteln sowie Schüßler-Salzen sind leicht auffindbar; exemplarisch genannt seien Enders (2011), Eisele (2013), Marbach (2009) sowie die Internet-Seiten http://homoeopathie-liste.de/ (letzter Zugriff: 11.12.2014), http://www.homoeopathie-homoeopathisch.de/homoeopathische-mittel/index.shtml (letzter Zugriff: 11.12.2014) und http://schuessler-salze-liste.de/ (letzter Zugriff: 11.12.2014).

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Entfernung von der »originalen« Hahnemann-Homöopathie bedeutet.31 Hervorgehoben als Basis und einziges nicht angeschnittenes Foto ist das Labor, das sowohl eine hochwertige Qualität der Produkte garantieren soll als auch Forschungsarbeit leistet (bei Schwabe wurde kontinuierlich nach objektivierbaren Wirksamkeitsnachweisen gesucht). Dieses Inserat ist der Höhepunkt im stetigen Bemühen der Firma Schwabe um Anerkennung als Vertreterin »wissenschaftlicher« Verfahren; nicht umsonst steht der Doktortitel des Gründers von Anfang an im Firmennamen.

Abb. 7: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 71 (1940)

Zur Traditionspflege gehört auch der Rückbezug auf Autoritäten, selbst wenn der Brückenschlag wissenschaftshistorisch fragwürdig ist. Ein Beispiel für die Vereinnahmung eines großen Namens bietet Abb. 8 mit einer Hippokrates-Büste als Blickfang. Hippokrates gilt üblicherweise als Vater der rationalen Medizin, wird aber hier als Ideengeber der Homöopathie und der Naturheilkunde eingeführt. Angespielt wird auf die patientenzentrierte ärztliche Ethik und eine lange therapeutische Kontinuität, aber Schwabes »Markenzeichen«, die eigene Forschung, bleibt dabei nicht unerwähnt. 31 Hierzu im Überblick Jütte: Geschichte (1996), S. 179-221.

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Abb. 8: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 73 (1942)

Erkennbarkeit durch Firmenlogo Zur Abwehr von Kollisionen mit der Warenbezeichnung anderer Firmen wurden ab 1919 Wortzeichen oder Warennamen beim Reichspatentamt geprüft.32 Als besonderes Markenzeichen mit Wiedererkennungswert für die homöopathischen Arzneimittel der Firma Schwabe sowie als Schutz vor (vermeintlichen) Imitaten wurde ein Schriftzug mit dem Text »Original Dr. Schwabe Leipzig« auf rotem Untergrund eingeführt. Außerdem war ein Bild von Samuel Hahnemann auf der siegelähnlich gestalteten Schutzmarke platziert, um die exakte Herstellung der Arzneimittel nach den Vorschriften Hahnemanns zu verdeutlichen (Abb. 6 und 17).33 32 Staatsarchiv Leipzig, Bestand 20706, Nr. 202. 33 In der Werbung der Firma Madaus gibt es keinen Bezug zu Hahnemann.

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Ab 1932 wurden die Produkte und Preislisten (zusätzlich) mit einem grauen Logo gekennzeichnet. Dieses hatte die Form eines Kreises, der durch zwei Längsstreifen gedrittelt war und ein quergestauchtes Sechseck enthielt, worin wiederum »Original Dr. Schwabe Leipzig« geschrieben stand (Abb. 9). Für die entsprechenden Produktlinien wurden die Stichwörter »Homöopathie«, »Biochemie« oder »Kosmetika« zugefügt.

Abb. 9: Logo »Original Dr. Schwabe Leipzig« ab 1932

Ab 1934 wurde zur Kennzeichnung der Waren sowie auf den Preislisten ein neues Logo verwendet (Abb. 10). Der stilisierte Buchstabe »S« war in einer scharfkantigen, eckigen Form dargestellt (wie ein spiegelverkehrtes »Z«) und sollte wohl kraftvolle Dynamik zum Ausdruck bringen. Die Schriftzeichen »Dr.« und »W.« waren in dieses »S« seitlich integriert, und das Ganze wurde von einem länglichen Achteck umzogen. In modifizierter, etwas gefälligerer Form mit abgerundeten Ecken wirkt dieses heute noch verwendete Logo weicher und weniger aggressiv. Der Firmenname in einer modernen Sans-Serif-Type tritt nun deutlich in den Vordergrund, wodurch das Logo klarer und auf den ersten Blick aufschlussreich wird.34

Abb. 10: Logo »Dr. W. S.« ab 1934; Logo »Schwabe« heute

Die Firma Madaus verwendete Logos aus denselben oben genannten Gründen, nämlich zur Abwehr von Kollisionen mit der Warenbezeichnung 34 http://www.schwabe.de/ (letzter Zugriff: 11.12.2014).

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anderer Firmen, als Etablierung einer Marke zur Wiedererkennung der firmeneigenen Arzneimittel sowie als Schutz vor Imitaten (Abb. 11 und ergänzend Abb. 3).35 Auch Madaus beschränkt sich heute auf eine stilisierte Initiale und den gut lesbaren Firmennamen in einem ähnlich sachlichen Schrifttyp.

Abb. 11: Entwicklung der Firmenlogos von Madaus bis heute

Die Werbe-Inserate Werbung am Anfang des 20. Jahrhunderts Mit dem Aufkommen von Konkurrenz begann die Firma Schwabe mit verstärkten Werbemaßnahmen, auf die die Firma Madaus nach der Verlegung ihres Firmensitzes nach Sachsen in analoger Weise reagierte. Am Anfang des 20. Jahrhunderts dominierten reine Textinformationen ohne Bilder (z. B. Abb. 12, 13, 14, 16), ab der Mitte der 1920er Jahre wuchsen jedoch der gestalterische Aufwand und die Intensität der Werbeargumente36 (z. B. Abb. 5, 15), ohne aber die reinen Textanzeigen völlig zu verdrängen (z. B. Abb. 20 und 28). Dies folgt einem allgemeinen Trend und ist als typisch für diese Zeit einzuschätzen.37 Ebenso wie die Firma Schwabe bediente sich, die Werbemittel betreffend, auch die sonstige pharmazeutische Industrie zunächst der unpersönlichen Werbung mittels Annoncen in populären Zeitschriften sowie in wissenschaftlich angesehenen Fachzeitschriften.38 Es kamen Reklamezettel, Prospekte, Broschüren und Beilagen zum Einsatz. Die Flut an Werbematerial, das man vor allem an die Ärzte verschickte, wurde jedoch immer weniger gelesen, und deshalb gewann die Form der »wissenschaftlichen« Informationswerbung für Ärzte und Apotheker (z. B. Sonderdrucke von Gutachten und Darstellung der Leistungsfähigkeit des eigenen 35 http://www.chemie-radebeul.org/assets/images/autogen/a_Warenzeichen_Madaus02.gif (letzter Zugriff: 11.12.2014). 36 Die bei Lill (1990), S. 179, als typisch für die Laienpresse im Kaiserreich hervorgehobene Benutzung von Superlativen konnte in der Werbung der Firmen Schwabe und Madaus zu keinem Zeitpunkt festgestellt werden. 37 Hoffmann (2013), S. 33-35. 38 Lill (1990), S. 148, 205.

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Labors) an Bedeutung. Ferner kamen der Musterversand und das forschungs- bzw. innovationsbezogene Gespräch in Form von Vertreterbesuchen auf.39 Bei der Zielgruppe medizinischer Laien lag der Schwerpunkt stets auf Empfehlungen zur Selbstmedikation. Ein Verkaufsschlager von Schwabe waren bedarfsgerechte Zusammenstellungen homöopathischer Mittel, die auf kleinstem Raum ein gängiges Indikationenspektrum abdeckten (»Apotheken«).40 Während die »Touristen-Apotheke« von 1905 (Abb. 12) ein positiver Ausweis erhöhter Mobilität und steigenden Lebensstandards ist, reagierten die »Kriegs-« und »Ruhr-Apotheke« im Ersten Weltkrieg auf den Bedarf »unsere[r] Krieger im Felde«, aber auch auf die sich verschlechternden hygienischen Bedingungen und Lebensumstände insgesamt (Abb. 13), wie die unter der gleichen Rubrik beworbenen Einreibungen gegen Frostbeulen und wund gelaufene Füße zeigen.

Abb. 12: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 36 (1905)

39 Wimmer (1994), S. 334-342. 40 Baschin (2012), S. 157-209.

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Abb. 13: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 46 (1915)

Nach Lill kamen in der Zeit der Weimarer Republik (weiterhin) Dankschreiben und Flugblätter als Werbeträger zum Einsatz.41 Als Beweis der Wirkung sollten Fotos dienen.42 Ferner wollte Werbung dem Kunden suggerieren, dass er ein bestimmtes Mittel unbedingt brauche, um sich gegen häufige und an sich leichte, aber übertrieben gefährlich dargestellte Krankheitserscheinungen wehren oder sie gar vermeiden zu können.43 In der schwierigen wirtschaftlichen Situation nach dem Ersten Weltkrieg und während der Inflation warb man mit Versorgungskontinuität (»wieder zu haben«).44 In der Werbung der Firma Schwabe wurden bewährte Vorkriegsprodukte (wie die »Touristen-Apotheke«) wiederaufgegriffen und zusammen mit neuen Entwicklungen beworben, die oft dezidiert an Kriegserfahrungen anknüpften und diese für zivile Bedürfnisse nutzbar machen wollten (»Marsch-Tabletten«, Abb. 14). Die adstringierend und entzündungshemmend wirkenden Hamamelis-Präparate erwiesen sich als ausgesprochener Longseller über Jahrzehnte; Zaubernuss-Extrakt ist noch heute in vielen Wundsalben enthalten (Abb. 13, 15, 20).

41 Lill (1990), S. 371-380. Vgl. zu den schon vorher gebräuchlichen Dankschreiben Baschin (2012), S. 273-291. 42 Lotze (1935). 43 Von der Firma Schwabe wurde diese Strategie erst in den 1930er Jahren verfolgt (Abb. 22). 44 Seitens der Firma Schwabe war dieses Argument erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nachweisbar (Abb. 4).

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Abb. 14: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 56 (1925)

Abb. 15: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 56 (1925)

Ein neuer Markt tat sich durch die erhöhte Beachtung des Leistungssports und in dessen Folge durch die Zunahme des Breitensports auf. Die medial für damalige Verhältnisse außerordentlich aufwendig präsentierten Olympischen Sommerspiele in Paris 1924 trugen sicher das Ihrige dazu bei45, auch wenn Deutschland nicht zur Teilnahme eingeladen war. Auffällig ist, dass das »unentbehrlich gewordene Kraftmassagemittel« in Abb. 16 einen Absatz auch jenseits der relativ kleinen Gruppe von Sportlern bei der körperlich hart arbeitenden Bevölkerung avisierte. 45 http://sammlung.sportmuseum.de/wp-content/uploads/2009/12/86-84.jpg (letzter Zugriff: 11.12.2014).

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Abb. 16: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 57 (1926)

Werbung 1933-1945 In der Zeit des Nationalsozialismus erweiterte sich das Produktspektrum entsprechend der Nachfrage nach phytotherapeutischen Mitteln46, und in der Werbung gibt es neben Kontinuitäten auch Anpassungen der Gestaltung an den Geist der neuen Zeit. Formal fällt die Verwendung neuer Schrifttypen wie Sütterlin auf, inhaltlich wird vermehrt auf Erhalt und Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit und Krankheitsprävention im Sinn der »Neuen Deutschen Heilkunde« abgehoben. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel liefert Abb. 17, wo nicht nur allgemeine naturheilkundliche Grundprinzipien, sondern auch das Konzept der Homöopathie so erklärt werden, dass diese geneigten Laien überaus schlüssig vorkommen muss. Der Bezug zur »Natur« und die »Zuverlässigkeit« der Präparate stehen allerdings nicht nur in Verbindung mit »Erfahrung«, sondern auch mit Wissenschaft und Qualität. Schwabe scheint damit gleichsam einen Alleinvertretungsanspruch für hochwertige Homöopathika auf dem Markt zu postulieren; sicher wollte er die Chancen der neuen Zeit offensiv nutzen und sich in Position bringen. Vergleichbare Werbung wurde in den durchgesehenen Zeitschriften weder von der Firma Madaus noch von anderen Anbietern eingesetzt. 46 Vgl. Schröder (1982) und Meyer (2005).

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Der einleitende Schriftzug in Abb. 17 nimmt den Kranken selbst in die Pflicht: Er ist für seine Gesundung verantwortlich und kann diese Verantwortung durch Nutzung der beworbenen Präparate wahrnehmen. Nicht nur durch die Sütterlin-Schrift, sondern vor allem durch die – wenn auch sehr vordergründige – Anspielung auf Friedrich Nietzsches Gedanken vom »Willen zur Macht« gehört dieses Inserat in unserem Material zu denjenigen, in denen sich der »Zeitgeist« am deutlichsten zeigt.

Abb. 17: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 65 (1934)

Unter dem Aspekt der Stärkung erscheinen vermeintliche Luxus- oder Wohlfühl-Angebote, wie Kosmetika und »Kurbäder fürs Haus«, in einem anderen Licht. Körperpflege sollte (auch für Privilegierte mit einem eigenen Bad) nichts Passives und käuflich Erwerbbares sein, sondern von körperlichem Training begleitet werden (Abb. 18). »Wohlriechende« Badezusätze (Abb. 19) sind kein Selbstzweck, sondern dienen vor allem medizinischen Zwecken, gerade bei der offenbar besonders gefürchteten »Schwäche« (vgl. auch Abb. 23). »Biologische« Kurbäder im eigenen Haushalt erinnern zudem an die Wasserkuren der Naturheilkunde47, sind aber – dem Sparsamkeitsgebot entsprechend – preiswerter als teure Reisen in Badeorte. Außerdem halten sie die Bedürftigen zu Hause und damit in der Nähe des Arbeitsplatzes. Obwohl eigentlich nichts Neues, lassen sich auf diese Weise auch harmlose Badezusätze in einen ideologischen Kontext rücken.

47 Jütte: Von der alternativen Medizin (1996), S. 115-128.

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Abb. 18: Pharmazeutische Zeitung 53 (1935)

Abb. 19: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 70 (1939)

Bisweilen lässt die Werbung für Körperpflegemittel erkennen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Kundschaft eher in der ärmeren Bevölkerung zu suchen war: Frostbeulen und Erfrierungen waren offenbar so häufig (und nicht auf Kriegszeiten beschränkt, vgl. Abb. 13), dass spezielle Mittel dagegen entwickelt wurden (Abb. 20).

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Abb. 20: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 64 (1933)

Die genannten Produkte haben vermutlich primär ein weibliches Publikum angesprochen; darauf deuten zumindest die dargestellten Konsumentinnen in Abb. 18, 19 und 31 hin. Auch war traditionell für kleine Gesundheitsprobleme in der Familie die Frau als »Hausärztin« zuständig.48 In diesem Sinn aufschlussreich ist auch ein Inserat, das für ein Abführmittel wirbt (Abb. 21). Obwohl Frauen häufiger von Verstopfung geplagt sind als Männer49, ist ein appetitloser Ehemann der optische »Aufhänger«. Dass »ihm« das Essen nicht schmeckt, spricht dabei eine große Befürchtung der treusorgenden Hausfrau an, wobei aber Darmträgheit eher selten – und nicht »meist« – die Ursache sein dürfte.50 Die für naturheilkundliche Konzepte typische und letztlich aus der Humoralpathologie übernommene Vorstellung von sich ablagernden »Schlacken«, die sich (angeblich) im Körper als Giftstoffe ansammeln und krank machen, findet sich nochmals in Abb. 28.

48 Günster (1985), S. 109-114. 49 Becker (1973), S. 14. 50 Glatzel (1976), S. 239-247.

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Abb. 21: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 72 (1941)

Das für die Naturheilkunde typische Anliegen der Prävention und Stärkung der körpereigenen Abwehr begegnet dem Leser ganz explizit in den Werbeannoncen für »biologische Mittel«, die gleichzeitig eine Linderung der Beschwerden versprechen. Hervorzuheben ist in Abb. 22 der Bezug auf den renommierten Chirurgen August Bier (1861-1949), der sowohl der Homöopathie51 wie dem Nationalsozialismus nahestand und hier – mit sämtlichen Titeln ausgestattet – für die Wirksamkeit der »Jorondellen« bürgen soll. Kalium jodatum gilt sowohl in der Homöopathie als auch unter den SchüßlerSalzen als passendes Schnupfenmittel und wird inzwischen sogar manchmal als »Hausmittel« bei beginnender Erkältung bezeichnet.

51 Zu Bier als Exponent der Homöopathie und den Reaktionen darauf Doms (2005).

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Abb. 22: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 66 (1935)

Seit der Antike gehört das ausgewogene Verhältnis von An- und Entspannung zu den Grundprinzipien der Krankheitsvermeidung bzw. des Gesundheitsverhaltens, und in der Naturheilkunde wurden diese Empfehlungen aufgegriffen und fortgeführt. Schwabe scheint bewusst auf diese Tradition angespielt zu haben, denn es gibt sowohl stärkende Mittel zur Erhöhung der »Spannkraft« als auch Mittel zur sicher ebenso oft erforderlichen Unterstützung von Schlaf und Ruhe. Der »entspannt«, aber ansonsten unauffällig wirkende Herr mittleren Alters in Abb. 24 hat durchaus Identifikationspotential für einen breiten Absatzmarkt und steht mit seiner pointiert herausfotografierten, nahezu faltenlosen Stirn für ein sorgenfreies Befinden. In Abb. 23 dagegen findet sich ein in unserem Material seltenes Beispiel für einen muskulösen Idealkörper, der an Leni Riefenstahls (1902-2003) dynamische Körperinszenierungen erinnert und das genaue Gegenteil der mit den vielfachen Indikationen der Eisentinktur angesprochenen schwächelnden Klientel sein dürfte.52 Dass er kraftvoll einen Bogen spannt, visualisiert unübersehbar die Körpermetapher im Ausdruck »Spannkraft«.

52 http://www.leni-riefenstahl.de/deu/photo/p_olym.html (letzter Zugriff: 8.3.2014).

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Abb. 23: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 67 (1936)

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Abb. 24: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 71 (1940)

Ein besonders wichtiges Werbeargument ist die »Natürlichkeit« der Mittel (vgl. Abb. 25). Unter den neuen Entwicklungen der Firma Schwabe stechen die als Suctrite bezeichneten »frische[n] Pflanzensäfte in haltbarer Pulverform« hervor. Strenggenommen handelt es sich um einen Widerspruch in sich, aber so konnte die Nachfrage nach einer artenreinen und damit gezielt pflanzlichen Therapie, die gleichzeitig ganzjährig verfügbar war und doch die volle Wirkkraft enthielt, befriedigt werden. Zunächst mussten die Apotheker über die Neuerung informiert und überzeugt werden, was in Abb. 25 durch Sonnenstrahlen und üppige Vegetation angestrebt wird. Die medizinischen Laien wurden über das Indikationen-Spektrum informiert: Gegen alle häufigen Beschwerden ließ sich ein »praktisches« Suctrit finden (Abb. 26).

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Abb. 25: Pharmazeutische Zeitung 53 (1935)

Abb. 26: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 68 (1937)

Zu den Zielen der »Neuen Deutschen Heilkunde« gehörte die Unabhängigkeit von Importen. Ab 1939 wurde in der Werbung der Aspekt von Sparsamkeit bzw. Wirtschaftlichkeit noch besonders hervorgehoben und wegen des Rohstoffmangels die Bedeutung der einheimischen pflanzlichen Heilmittel betont.53 Der Verbraucher sollte zum sparsamen Umgang mit den 53 Haug (2010), S. 39f.; Haberland (1993), S. 44.

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verschiedenen Ressourcen erzogen werden.54 Dennoch wurde in Kriegszeiten, in denen mit Produktionsausfällen, Lieferschwierigkeiten usw. zu rechnen war, weiterhin explizit auf die hohe Qualität und Wirksamkeit der »Frischpflanzen-Zubereitungen« hingewiesen (Abb. 27). Die Firma Schwabe lenkte zudem geschickt den Blick auf ihre wissenschaftliche Arbeit, so dass die autochthone Phytotherapie nicht als Notmedizin zweiter Klasse figurierte, sondern als moderne und wissenschaftlich fundierte Medikation.

Abb. 27: Volk und Gesundheit 3 (1944)

Betrachtet man die Werbung bei ein und denselben Mitteln über einen längeren Zeitraum, so fällt auf, dass im Laufe der 1930er Jahre vermehrt Serienanzeigen zur Anwendung kamen, die in zunehmend unsicheren Zeiten Vertrautheit und Kontinuität vermitteln sollten: Statt auf Neues sollte auf »Bewährtes« gesetzt werden, was gerade die Bezeichnung »Volksmittel« suggeriert – die Verwendung des Morphems »Volks-« ist wiederum zeittypisch. Die Veränderung in der Gestaltung ist jedoch bemerkenswert. Während beispielsweise 1931 für Präparate zu Umstimmung und Kräftigung noch reiner Text mit knappen Stichwörtern als ausreichend empfunden wurde (Abb. 28), wird 1935 sowohl die »Umstimmung« im Einzelnen konkretisiert als auch das »Volksmittel« pathetisch paraphrasiert (Abb. 29). Als neues Argument kommt zu den »Vorvätern« die »Naturverbundenheit«, und durch einen pflügenden Bauern ist die Anspielung auf »Blut und Boden« unübersehbar. Das Stärkungsmittel fängt nunmehr gleich mittels der erntefrisch gepressten Pflanzen die Kraft der Sonne ein (Abb. 30) und vermittelt auf diese Weise eine optimistische Stimmung. Im Jahr 1939 hingegen sieht alles düsterer aus: Die Darstellung einer jungen Frau, die über der Schreibmaschine eingeschlafen ist (Abb. 31) und sicher für die zunehmende 54 Sennebogen (2008), S. 418.

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Doppelbelastung durch Berufstätigkeit und Haushaltspflichten steht, dürfte viele Leser(innen) an ihre eigene Überarbeitung erinnert haben. Das Versprechen, mit einem vitamin- und mineralstoffhaltigen Präparat auf einfache Weise Abhilfe schaffen zu können, wirkt wie eine Durchhalteparole auf der Ebene des Warenkonsums und variiert in gewisser Weise den in Abb. 17 herausgestellten Appell.

Abb. 28: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 62 (1931)

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Abb. 29: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 66 (1935)

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Abb. 30: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 65 (1934)

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Abb. 31: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 70 (1939)

Zum Schluss sei noch ein fast makabres »Weihnachtsgeschenk« aufgeführt, das die Inserate der Kriegsjahre 1914-1918 aufgreift (Abb. 32).55 Allerdings sind nun die Komponenten dieser »Feldapotheke« aufgeführt, und sie sind auch in stabilerer Tablettenform enthalten. Auch wenn häufige Beschwerden damit erfasst sind, wirkt dieses Angebot im Angesicht täglicher tödlicher Bedrohung zumindest heute befremdlich; damals sahen aber vielleicht die Käuferinnen eine Möglichkeit, aktiv etwas für das Wohlergehen ihrer 55 Baschin (2012), S. 290. Vgl. Seitz (1940) und Rinker (1940).

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Söhne und Ehegatten tun zu können. Neben dem Universalmittel Aconitum sind Arnica gegen (hauptsächlich stumpfe) Verletzungen, Arsenicum gegen Brechdurchfall, zusätzlich Ipecacuanha und Nux vomica gegen Übelkeit, Belladonna gegen Entzündungen und Fieber, Bryonia gegen Erkältungen und Husten, Mercurius solubilis gegen Zahn(fleisch)- und Halsbeschwerden, Rhus toxicodendron gegen Hautleiden und Gelenkschmerzen sowie Gelsemium gegen Erschöpfung und Angst (!) enthalten.

Abb. 32: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 71 (1940)

Fazit In dem reichen Material konnten sowohl zeitbezogene Inserate (Abb. 6, 7, 13, 14, 16, 17, 19, 23, 24, 27, 29, 30, 31, 32) als auch typisch naturheilkundliche Argumentationen (Abb. 3, 6, 21, 26, 31) nachgewiesen werden. Bemerkenswert ist der Spagat der Firma Schwabe zwischen einer ständig betonten Nähe zu Hahnemann mit einer daraus resultierenden Authentizität der Mittel und der gleichzeitigen Öffnung sowohl für technische Neuerungen als auch für konzeptionelle Weiterentwicklungen. Schwabe schlug nicht nur eine naturwissenschaftlich-kritische Richtung der Homöopathie ein, sondern präsentierte sich gleichzeitig als modernes, forschendes Unternehmen. Offenbar erschütterte dies die Glaubwürdigkeit der Firma nicht, sondern vergrößerte vielmehr die Kundenklientel durch eine Erweiterung auf den gesamten naturheilkundlichen Markt.

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Bibliographie Archivalien Staatsarchiv Leipzig Bestand 20706, Nr. 202 Bestand 20715, Nr. 88

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Melanie Ruff

Gesichter des Ersten Weltkrieges Alltag, Biografien und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Soldaten Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beiheft 55

Melanie Ruff Gesichter des Ersten Weltkrieges 2015. 281 Seiten mit 40 s/w-Fotos, 4 Abbildungen und 3 Tabellen. Kartoniert. & 978-3-515-11058-7 @ 978-3-515-11059-4

Im Zuge der Kampfhandlungen an den Fronten des Ersten Weltkrieges kam es durch den Einsatz neuer Geschosse und das Kämpfen in Schützengräben zu unerwartet vielen Kopfschussverletzungen, auf welche die militärische Führung und das Sanitätswesen nicht vorbereitet waren. Es stellte sich heraus, dass neben den Schmerzen, den Beschwerden beim Kauen und dem Unvermögen zu Sprechen, die Entstellungen im Gesicht besonders demoralisierend und auch oftmals traumatisierend auf die Soldaten wirkten. Im ersten Teil der Arbeit stehen die Handlungsräume der betroffenen Personen im Vordergrund. Anhand eines heterogenen Quellenkorpus (Patienten-, Renten- und Verwaltungsakten, Selbstzeugnisse, Nachlässe von Ärzten, medizinische Fachliteratur und Fotografien) können diese aus sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten rekonstruiert werden. Die Handlungsräume dieser Kriegsverletzten setzen sich zusammen aus dem medizinischem Wissen der Zeit, den Intentionen der Akteure, dem Diskurs über die entstellten Gesichter, dem Alltag in den Lazaretten, den Selbstbildern der Patienten während der Behandlung sowie den neu zu erlenenden Körperpraktiken (Sprechen, Mimik, Essen und Körperpflege) aufgrund der Verletzung im Gesicht. Von den konkreten Umgangsweisen Betroffener und den daraus folgenden Lebensentwürfen handelt der zweite Abschnitt. Es zeigte sich, dass die Gesichtsverletzten auf sehr individuelle Weise lernten mit den ihnen zugefügten Verletzungen am Körper und der daraus resultierenden neuen Lebenssituation umzugehen. Aus diesem Umstand ergab sich die leitende Fragestellung: Kann das Bild des unter der Entstellung leidenden Gesichtsverletzten aufrechterhalten werden oder zeigen Selbstzeugnisse eine andere Perspektive auf?

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Anna Bergmann

Der entseelte Patient Die moderne Medizin und der Tod Dürfen Patienten für den medizinischen Erkenntnisgewinn als bloße Objekte missbraucht werden? Anna Bergmann geht dieser Grundfrage der medizinischen Ethik in unserer „Kultur der Nebenwirkung“ nach. Sie spannt den historischen Bogen von der Leichenzergliederung im Anatomischen Theater über medizinische Menschenexperimente z. B. an unehelich schwangeren Frauen und Menschen in Kolonialgebieten bis hin zu der vom Körper, Sterben und Tod ihrer eigenen Patienten abhängigen Transplantationsmedizin. Sie hinterfragt das Menschenbild der modernen Medizin, das zu einer Entseelung führt, und untersucht die zum Zweck des Heilens unverzichtbare Gewaltanwendung im Tier- und Humanversuch. Anna Bergmann plädiert für ein neues medizinisches Konzept, das den Menschen nicht in einzelne Organe zerlegt, sondern Patienten in ihrer individuellen Ganzheit wahrzunehmen versteht. ............................................................................. Anna Bergmann Der entseelte Patient 2. Auflage 2015. 448 Seiten mit 21 Abbildungen. Gebunden mit Schutzumschlag. & 978-3-515-10760-0 @ 978-3-515-10765-5

Aus dem Inhalt Das „große Sterben“: Klimakatastrophen, Hunger und Pest im 14. und 17. Jahrhundert | Isolieren, Räuchern, Verbrennen und der Zusammenbruch des Totenkults | Jagd auf Seuchenverdächtige und die Militarisierung in Zeiten der Pest | Das Pestsystem im kulturellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts | Die Geburt der Anatomie aus Riten des Totenkults und der Hinrichtung | Schafottmedizin und die sakrale Organisation der Hinrichtung | Todesbemächtigung und Zergliederungsspektakel im Anatomischen Theater | Die Verwandlung von Hingerichteten in Objekte des medizinischen Erkenntnisfortschritts | Das Häftlingslager für zum Tode Verurteilte als medizinisches Laboratorium im aufklärerischen Diskurs | Wissen um jeden Preis: Menschenexperimente in Krankenhäusern, Gefängnissen und Konzentrationslagern | Der „Leben-machende Tod“: Die Praxis der Transplantationsmedizin | Resümee | Anmerkungen | Quellen und Literatur

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ISSN 0939-351X