Hygiene-Aufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft 9783495818305, 9783495488300


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Table of contents :
Inhalt
Hans Werner Ingensiep und Walter Popp: Hygiene-Aufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft
Einleitung
I. Medizin, Psychologie und Recht
Walter Popp: Medizin und Hygiene im Krankenhaus
Keime
Krankenhausinfektionen
Krankenhausinfektionen zählen: Was ist richtig?
Vermeidbarkeit von Krankenhausinfektionen
Multiresistente Erreger
MRSA
MRGN
Ausbrüche
Antibiotika
Einbeziehung des Patienten und künftige Strategien
Literatur
Reinhold Bergler: Psychologie der Hygiene
Hygiene als Wissenschaft
Aktualität der hygienischen Risikofaktoren
Hygienewissen und Hygieneverhalten
Irrationalität der Risikowahrnehmung und Risikoverarbeitung: Die Hygienebarrieren
1. Vorurteile als Hygienebarrieren
2. Defizit an persönlicher „Hygienesensibilität“ als Hygienebarriere
3. Die Irrationalität der persönlichen Risikobilanz: Die subjektiven Eintretenswahrscheinlichkeiten von Risikofällen als Hygienebarriere und Technik der Risikoverarbeitung: Die Impfbarrieren
4. Die irrationale Risikoverarbeitung durch Nichtwahrnehmbarkeit von Risikofällen: Das Defizit an unmittelbarer Betroffenheit
Risikoverarbeitung als Lebensstil (Kausalanalyse eines präventiven Lebensstils)
Die psychologischen Ursachen des Hygiene- und Präventionsverhaltens
1. Hygieneverhalten als Erziehungsprozess
2. Kausalanalyse der Bedingungen des Alkoholkonsums bei Jugendlichen
Die psychologischen Bedingungen der Umsetzung von Erkenntnissen der Hygiene in alltägliches Hygiene- und Präventionsverhalten
1. Motivation durch Vermittlung des immer aktuellen Hygienewissens
2. Motivation durch zielgruppenspezifische Kommunikation: Bedingungen effektiver Kommunikation
1. Motivation durch Erziehung, Führung und Vorbildautorität
Die Vorbildautorität des Elternhauses
Die Vorbildautorität in Kliniken
2. Motivation durch Etablierung von normativ verbindlichen Hygienerichtlinien
Ausblick
Literatur
Bettina Lutze, Iris F. Chaberny, Karolin Graf, Christian Krauth, Karin Lange, Laura Schwadtke, Jona T. Stahmeyer, Thomas von Lengerke: Risiko „im Griff“? Ergebnisse des PSYGIENE-Projekts zur Motivationslage bezüglich der eigenen hygienischen Händedesinfektion bei Ärzten und Pflegekräften der Intensivmedizin
Einleitung
Methode
Ergebnisse
Fazit und Ausblick
Literatur
Barbara Kröning und Thomas von Lengerke: Die Beteiligung von Patienten an der Prävention nosokomialer Infektionen
Einleitung
Innovative Ansätze zur Verbesserung der Händehygienecompliance
Patientenbeteiligung in der Prävention nosokomialer Infektionen
Psychologische Modelle präventiven Verhaltens
Das HAPA­Modell und die Händehygiene
Patientenbeteiligung und Empowerment
Barrieren und Lösungen in Bezug auf Empowerment und Patientenbeteiligung bei der Prävention nosokomialer Infektionen
Fazit und Ausblick
Literatur
Alfred Schneider: Hygiene im Recht
Vorbemerkung
Die Gesetzeslage im Hygienerecht
Konkurrierende Gesetzgebung
Infektionsschutzgesetz
Medizinproduktegesetz
Weitere Bundesgesetze mit hygienerelevantem Bezug
Regelungen der Länder
Untergesetzliche Regelungen
Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses
Richtlinien des Robert Koch-Instituts
Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften
Technische Regelungen für Biologische Arbeitsstoffe
Internationales und europäisches Recht
Zwischenergebnis
Aufklärung über Hygiene als öffentliche Aufgabe
Aufklärung zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten
Zusammenfassung
Weiterführende Literatur
II. Medizingeschichte und Philosophie
Hans Werner Ingensiep: Was ist Aufklärung über Hygiene? Ein Streifzug von der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart
I. Aufklärung in der Aufklärungszeit
II. Aufklärung mit und ohne Bakteriologie
III. Hygieneaufklärung in der Nachkriegszeit
IV. Hygieneaufklärung heute
Ein neueres Beispiel, wobei die institutionelle Aufklärung ebenso infrage steht wie die Aufklärung durch „Experten“
Literatur
Klaus Bergdolt: Gesellschaft in Bedrängnis. Pest, Hygiene und öffentliche Verantwortung
Literatur
Andreas Jüttemann: Peter Dettweiler und die ersten Ansätze der Hygieneerziehung in den Tuberkulose-Heilstätten der Kaiserzeit
Die Tuberkulose und ihre Bekämpfung
Literatur
Kevin Liggieri: „Der kategorische Imperativ der Nerven und des Blutes“. Ellen Keys Dispositiv einer Biopolitik im Geiste der Aufklärung?
1. Der Schlüssel zu Key: Ein Blick auf den historisch-politischen Diskurs
Die Gesundheit der Rasse – „Schwanger vom latenten Leben“
Die Gesundheit des Lebens – „Die Pflicht gesund zu sein“
2. Ellen Keys Jahrhundert des Kindes oder „Der kategorische Imperativ der Nerven und des Blutes“
3. „Ziehen und Züchten“ – Zur Interdependenz von Aufklärung und Eugenik
Literatur
Elsa Romfeld und Wolfgang Buschlinger: Dialektik der Hygiene
1. Zur Dialektik der Aufklärung
1.1 Das Licht der Vernunft
1.2 Der Schatten der Vernunft
1.3 Das Umschlagen
2. Dialektik der Hygiene
2.1 Kein Leben im Reinraum
2.2 Ein bisschen rein gibt es nicht
3. Totale Säuberung – das Reinheits­Paradigma in aller Konsequenz
3.1 Soziale Entschlackung? Die Reinigung von Individuum und Gesellschaft
3.2 Der szientistische Blick oder die Objektivierung des Menschen
4. Was wir wissen können, tun sollen, hoffen dürfen
Literatur
Thomas Höller: Es muss weg. Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen als spezielles Problem der Tierethik
1. Einleitung
2. Was sind Schädlinge und wie werden sie bekämpft?
3. Tierethische Perspektiven auf die Schädlingsbekämpfung
3.1 Der Schädling bei Kant und im Kontraktualismus
3.2 Der Schädling in der Mitleidsethik
3.3 Der Schädling im Utilitarismus
4. Fazit und Ausblick
Literatur
Internetquellen
III. Andere Kulturen und Religionen
Michaela Diercke: Hygiene in China. Von der Einführung westlicher Wissenschaften in China bis zur Hygiene in der harmonischen Gesellschaft
1. Hygiene – (k)ein Konzept in der chinesischen Medizin?
2. Einführung westlicher Wissenschaften in China
3. Wie Hygiene und Public Health sich in China durchgesetzt haben
3.1 Pest in der Mandschurei
4. Hygiene als politisches Instrument im 20. Jahrhundert in China
4.1 Vierte-Mai-Bewegung
4.2 Koreakrieg
4.3 Patriotische Hygienekampagne
5. Harmonische Gesellschaft durch Hygiene
6. Fazit
Literatur
Tsagaan Gantumur: Hygiene in der Mongolei
Das Gesundheitswesen der Mongolei
Infektiologische Situation in der Mongolei
Exkurs: Pest in der Mongolei
Krankenhaushygiene in der Mongolei
Ein Beispiel
Ausblick
Literatur
Nils Fischer: „Wasche dich, denn Islam ist Sauberkeit!“ Hygiene, Körperpflege, rituelle Reinheit im Islam
Die Quellen: Koran und Prophetenworte
Rituelle Reinheit im Islam
Was macht rituell unrein?
Kleine Waschung
Große Waschung
Rituelle Reinheit ohne Wasser auf Reisen und im Weltall
Rituelle Reinheit oder Körperpflege
Literatur
Mathias Wirth: „Wasch ab meine Schuld, von meinen Sünden mache mich rein“ Zur bleibenden Mythologie von Hygiene und Waschung
1. „aqua religiosa“ außerhalb des aufklärerischen Logos
2. Profane Waschungen außerhalb des aufklärerischen Logos
3. Deutungsmuster außerhalb des aufklärerischen Logos: Mythos, Superstition, Symbolizität
a) Mythos in Philosophie und Theologie
b) Aberglaube in Geschichte und Gegenwart
c) Der Mensch als „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer)
4. Aufklärung der Hygiene I: Bleibende Mythologie oder Magie religiöser Waschung?
5. Aufklärung der Hygiene II: Säkularisierte Religiosität von Waschungen?
6. Fazit: Das „magis“ der Hygiene und das notwendige „magis“ der Aufklärung über Hygiene
Literatur
IV. Literatur und Medien
Katharina Fürholzer: „Iiiieh! Wie eklig!“ Kinderliteratur als Medium der Hygieneaufklärung
1. Fiktionale Prophylaxe
2. Hygienekonditionierung im Angesicht des Ekels
3. Aufklärung im Tarnmantel ästhetikzentrierter Sauberkeitserziehung
4. Hygienevermittler als Symbolfiguren zwischen Identifikation und Pathologisierung
5. Potenzial und Verantwortung
Literatur
Constanze Fiebach: „Schwulenseuche“ und „Homopest“? (Ent-)Stigmatisierung von Homosexualität und HIV/Aids im Medium Spielfilm
Philadelphia
Dallas Buyers Club
Literatur
Internetquellen
Filme
Tim Tobias Lieske: Hygiene in Arzt- und Krankenhausserien. Leitfaden für die Praxis oder Zerstreuung für das Abendprogramm?
1. Einleitung: Hygiene in Film und Fernsehen
2. Hygiene in amerikanischen Arzt-/ Krankenhausserien8; Fragestellungen
2.1 Hintergrund
2.2 Kriterien zur Vorauswahl
3. Amerikanische TV-Serien
3.1 Scrubs – Die Anfänger
3.2 Grey’s Anatomie
4. Methode
Zu Fragestellung (1):
4.2 Das Auswerteschema
Zu Fragestellung (2):
5. Auswertung
5.1 Personal
5.2 Patienten
6. Fazit
Literatur
Die Autorinnen und Autoren
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Hygiene-Aufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft
 9783495818305, 9783495488300

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https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG

A

https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Aktuelle Schätzungen in Deutschland sprechen von mehr als einer Million Krankenhaus-Infektionen jährlich, wovon ca. 30.000 tödlich verlaufen. Die steigenden Zahlen zeigen, dass alle Dimensionen der Aufklärung über Hygiene gefordert sind – biomedizinische, hygienepsychologische, rechtliche, mediale, historische und philosophische Perspektiven: Was ist also Aufklärung über Hygiene? Und wie lässt sie sich vermitteln? Die Beiträge des Bandes widmen sich der Klärung folgender Fragen: Wie ist die aktuelle medizinische Lage der Krankenhaushygiene? Welche Art von Information und Kommunikation bietet die aktuelle Aufklärung über Hygiene? Wie geht man mit persönlichen Hygiene-Tabus oder mit Formen der Stigmatisierung nach Infektionen (z. B. Aids) um? Welche Art von Aufklärung bieten die Sprachen der »Experten« und »Laien«? Welche religiösen und kulturellen Dimensionen der Reinheit sind tangiert? Auf welche Probleme stößt die westliche Aufklärungsart in anderen Kulturen?

Die Herausgeber: Prof. Dr. rer. nat. Hans Werner Ingensiep lehrt Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in den Biowissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Prof. Dr. med. Walter Popp, Universität Duisburg-Essen, ist international tätiger Experte für Krankenhaushygiene.

https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Hans Werner Ingensiep / Walter Popp (Hg.)

Hygieneaufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft

https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 23

https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Hans Werner Ingensiep Walter Popp (Hg.)

Hygieneaufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung FKZ 01GP1382 www.hygiene-aufklärung.de

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI books Gmbh, Leck Printed in Germany

ISBN: 978-3-495-48830-0 E-ISBN: 978-3-495-81830-5

https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Inhalt

Hans Werner Ingensiep und Walter Popp Hygiene-Aufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Medizin, Psychologie und Recht Walter Popp Medizin und Hygiene im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Reinhold Bergler Psychologie der Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Bettina Lutze, Iris F. Chaberny, Karolin Graf, Christian Krauth, Karin Lange, Laura Schwadtke, Jona T. Stahmeyer, Thomas von Lengerke Risiko „im Griff“? Ergebnisse des PSYGIENE-Projekts zur Motivationslage bezüglich der eigenen hygienischen Händedesinfektion bei Ärzten und Pflegekräften der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Barbara Kröning und Thomas von Lengerke Die Beteiligung von Patienten an der Prävention nosokomialer Infektionen. Große Potenziale und manche Schwierigkeiten bei der direkten Ansprache des medizinischen Personals auf seine Händehygiene durch Patienten . . . . . . . . . . . . 67 Alfred Schneider Hygiene im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

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Inhalt

II. Medizingeschichte und Philosophie Hans Werner Ingensiep Was ist Aufklärung über Hygiene? Ein Streifzug von der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . 103 Klaus Bergdolt Gesellschaft in Bedrängnis – Pest, Hygiene und öffentliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Andreas Jüttemann Peter Dettweiler und die ersten Ansätze der Hygieneerziehung in den Tuberkulose-Heilstätten der Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . 143 Kevin Liggieri „Der kategorische Imperativ der Nerven und des Blutes“. Ellen Keys Dispositiv einer Biopolitik im Geiste der Aufklärung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Elsa Romfeld und Wolfgang Buschlinger Dialektik der Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Thomas Höller Es muss weg. Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen als spezielles Problem der Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

III. Andere Kulturen und Religionen Michaela Diercke Hygiene in China. Von der Einführung westlicher Wissenschaften in China bis zur Hygiene in der harmonischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Tsagaan Gantumur Hygiene in der Mongolei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Nils Fischer „Wasche dich, denn Islam ist Sauberkeit!“ Hygiene, Körperpflege, rituelle Reinheit im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

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Inhalt

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Mathias Wirth „Wasch ab meine Schuld, von meinen Sünden mache mich rein“. Zur bleibenden Mythologie von Hygiene und Waschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

IV. Literatur und Medien Katharina Fürholzer „Iiiieh! Wie eklig!“ Kinderliteratur als Medium der Hygieneaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Constanze Fiebach „Schwulenseuche“ und „Homopest“? (Ent-)Stigmatisierung von Homosexualität und HIV/Aids im Medium Spielfilm . . . . 329 Tim Tobias Lieske Hygiene in Arzt- und Krankenhausserien. Leitfaden für die Praxis oder Zerstreuung für das Abendprogramm? . . . . 341 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

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Hans Werner Ingensiep und Walter Popp

Hygiene-Aufklärung im Spannungsfeld zwischen Medizin und Gesellschaft

Einleitung Dass eine Aufklärung über Hygiene notwendig ist, ist lange bekannt, wie aber die Aufklärung über Hygiene erfolgen soll, wird sehr unterschiedlich bewertet und ist in einigen Punkten durchaus umstritten, seit diverse Seuchen die Welt verändern. Die Suche nach komplexen Antworten beginnt bereits mit der Frage, was unter dem Wort „Hygiene“ verstanden werden soll. Denn seit der antiken „Hygieia“, der Göttin der Gesundheit, hat das Wort vielfältige Bedeutungen erlangt. „Was ist Aufklärung über Hygiene?“ in Medizin und Gesellschaft, war die Leitfrage einer vom BMBF geförderten interdisziplinären Klausurwoche an der Universität DuisburgEssen im Sommer 2014. Ein Ausgangspunkt war zwar die aktuelle Problematik in der Krankenhaushygiene, z. B. die enorme Zunahme multiresistenter Keime, doch gingen die Beiträge und Diskussionen von und mit Experten und jungen Forschern aus verschiedensten Disziplinen weit darüber hinaus. Der simple Aufruf „Saubere Hände!“ reicht als praktische Hygienemaßnahme längst nicht mehr. Komplexe Konzepte und innovative Reflexionen über persönliche Haltungen oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen und vieles andere kommen hinzu. Dieser Sammelband liefert in vier Blöcken erste interdisziplinäre und interkulturelle Einblicke in das weite Feld der Aufklärung über Hygiene. I Medizin, Psychologie und Recht: Diese Bereiche sind in Hygienekontexten elementar betroffen und stellen eine Basis für die aktuelle Hygieneaufklärung dar. Die Medizin muss biomedizinische Grundlagen erforschen und liefert Auskünfte weit über die klassische Mikrobiologie hinaus. Die Psychologie muss die Einstellungen und Praxis aller Akteure ins Auge fassen, ob Mediziner, Patienten oder das Verhalten jedes Einzelnen im Alltag, damit Hygienemaßnahmen effektiv werden. Das Recht muss einen gesetzlichen Rahmen

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Hans Werner Ingensiep und Walter Popp

bieten für generelle staatliche bzw. institutionelle Regelungen der Hygienepolitik sowie für die Rechtsprechung bei konkreten Missständen oder wenn eklatantes Hygienefehlverhalten Folgeschäden für Patienten bewirkt. Walter Popp klärt als versierter Krankenhaushygieniker über aktuelle Grundlagen auf. Von den bekannten Schwierigkeiten mit Keimen wie MRSA ausgehend wird die breite Palette möglicher Infektionen und deren praktische Eingrenzung angesprochen. Nach wie vor ist es ein Problem, die genaue Zahl der vielfältigen Krankenhausinfektionen zu ermitteln. Nicht nur die Medien, auch das Krankenhauspersonal und natürlich die Patienten sind in ein komplexes und ernsthaftes Aufklärungsregime einzubinden, es geht schließlich um Leben und Tod. Reinhold Bergler ist Experte der klassischen Hygienepsychologie, nicht zuletzt durch sein Lehrbuch über die „Psychologie der Hygiene“. Wissen über Hygiene bedeutet längst nicht, dass es auch in der Praxis umgesetzt wird, sondern diverse Barrieren sind zu überwinden; fehlende Motivation aber auch Fehleinschätzungen des Infektionsrisikos sind nur einige davon. Die Hygieneerziehung beginnt im Elternhaus und endet nicht bei der Organisationsstruktur im Krankenhaus. Verbindliche Richtlinien und echte Motivation tragen zur Etablierung langfristiger Verhaltensänderungen bei. Thomas von Lengerke und Bettina Lutze stellen das Projekt der Medizinischen Hochschule Hannover, PSYGIENE, vor, welches die Motivationslage zum Hygieneverhalten beim Krankenhauspersonal untersucht. Kompetente Händedesinfektion ist nach wie vor entscheidend. Persönliche Motivation und Erwartungen sowie die Einschätzung der Risikoreduktion spielen im Vorfeld eine wichtige Rolle. Wie lässt sich also am besten die Händehygiene-Compliance in Kliniken verstärken? Die Psychologen Barbara Kröning und Thomas von Lengerke fassen ferner die Rolle der Patienten bei der Vermeidung von Infektionen ins Auge. Wie können sie beteiligt werden? Welche Probleme gibt es bei der Ansprache? Hemmschwellen, insbesondere bei älteren Personen, müssen abgebaut werden. Modellversuche in anderen Ländern für Kampagnen zur Händedesinfektion können hilfreich sein, aber auch klare Information und Motivation. Auch müssen sie das Krankenhauspersonal auf seine Händehygiene ansprechen können, eine heikle Angelegenheit. Alfred Schneider ist Rechtsanwalt und Kenner des Hygienerechtes in Theorie und Praxis. Neue Epidemien stellen nicht nur https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Einleitung

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für die Medizin, sondern auch für das Recht eine Herausforderung dar. Vielfältige Schwierigkeiten ergeben sich, zum Beispiel durch die konkurrierende Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern, dann auf europäischer Ebene, wenn es z. B. um Hygienestandards oder Qualitätskontrollen in Krankenhäusern geht. Der Staat hat zwar eine Vorsorgepflicht, doch vielfältige Richtlinien und Regeln, je nach Institution, sind im Spiel. Dazu kommt im Verhältnis zwischen Arzt und Patient der Anspruch auf Information und Aufklärung, auf Selbstbestimmung. Dieses Gewirr kann zu großen Konflikten führen, die das Recht kaum bewältigen kann. II Medizingeschichte und Philosophie: Seit hippokratischen Zeiten werden sie durch „Seuchen, die die Welt veränderten“ (Mary Dobson) herausgefordert. Medizinhistoriker haben Exempel, soziale Folgen und Formen der Hygieneerziehung dokumentiert, Philosophen über den Sinn von Tod und Schrecken reflektiert. Doch erst in neueren Zeiten wird die Art des Denkens und der Rede über Hygiene oder deren Biopolitik kritisch erforscht. Hans Werner Ingensiep stellt in einem Streifzug durch Philosophie und Wissenschaft von der Epoche der Aufklärung bis in die Gegenwart hinein mannigfaltige Formen der Hygieneaufklärung vor. Die Zeiten eines Kant, eines Semmelweis, der in offenen Briefen Kollegen als „Mörder“ bezeichnete, sind vorbei, die neuen Medien habe eine enorme Macht in „Skandalen“ über Hygiene aufzuklären. Wer aber klärt hier wen wieweit auf? Klaus Bergdolt, Experte der klassischen Medizingeschichte, stellt paradigmatisch eine „Gesellschaft in Bedrängnis“ vor. Die große Pestepidemie von 1348 war sowohl für die mittelalterliche Medizin als auch für die Obrigkeit eine Herausforderung. Wie keine zweite Seuche drohte die Pest das soziale Gefüge zu sprengen, hartes Durchgreifen und Beruhigung waren notwendig. Die „Quarantäne“ etablierte sich, aber auch eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Medizin. Krisenzeiten fordern utilitaristisches Handeln im Zeichen öffentlicher Verantwortung, was im Ernstfall grausam für die Infizierten sein kann. Andreas Jüttemann stellt aus der Perspektive der Sozial- und Psychologiegeschichte der Medizin erste Ansätze der Hygieneerziehung in den Tuberkuloseheilstätten der Kaiserzeit vor. Diese uralte Seuche sollte durch eine systematische Hygienekultur eingedämmt werden, zunächst mehr durch Diätetik, später mit dem Arzt Peter Dettweiler durch Psychohygiene. Ein Erziehungsziel war die hygihttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Hans Werner Ingensiep und Walter Popp

enische Mündigkeit des Patienten, doch auch Disziplinierung. Die weit verbreitete Tuberkulose, ihre Behandlung und die Hygieneerziehung werden zum Spiegel der Gesellschaft. Kevin Liggieri analysiert als kritischer Philosoph die Hintergründe der Biopolitik und Selbstformung des Menschen um 1900 – eng verbunden mit der neuen Bewegung der „Rassenhygiene“. Menschenerziehung wird weit über die klassische Aufklärung hinaus zur Zucht. Das „Jahrhundert des Kindes“ der Reformpädagogik von Ellen Key bricht an und wird zum Prüfstein dieser verhängnisvollen Entwicklung. Das humanistische „Ziehen“ der Aufklärung schlägt ins antihumanistische, biologistische „Züchten“ um, wozu auch Eugenik und Hygiene zurechtgebogen werden. Mit der „Dialektik der Hygiene“ nehmen Elsa Romfeld und Wolfgang Buschlinger aus philosophischer Perspektive ambivalente Aspekte der Hygiene ins Visier und unterziehen das Hygieneprogramm als „Weltanschauung“ einer kritischen Analyse. Eine Schattenseite ist, dass Hygiene zur Ideologie, zum uneinlösbaren Heilsversprechen eines vermeintlichen „Reinraums“ werden kann. Blinde Wissenschaftsgläubigkeit führt zu unrealistischen Zielen, zugleich aber werden Bakterien in „gute“ und „böse“ eingeteilt und monopolistische Hygienediskurse inszeniert – schon auf der ersten internationalen Hygieneausstellung in Dresden 1911, später in der Rassenhygiene der Nationalsozialisten. Thomas Höller beleuchtet als Philosoph ein scheinbar nebensächliches Spezialproblem: Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen als Problem der Tierethik. Bei der Schädlingsbekämpfung scheint der Mensch in einer berechtigten, defensiven und ethisch sicheren Position zu sein. Ist aber unser alltäglicher Umgang mit Haus- und Hygieneschädlingen wirklich so alternativlos? Vorstellungen einer klassischen Anthropozentrik und modernen Tierethik prallen in diesem Feld aufeinander und das Miteinander von Mensch und Tier wird zum Problem in einer Mensch-Tier-Gesellschaft. III Andere Kulturen und Religionen: Sie liefern indirekt überraschende Einblicke in eigene Hygienetraditionen, in das aktuelle Hygieneregime, können aber auch Mythen entzaubern. Exempel aus China und der Mongolei liefern historische und aktuelle Einblicke in Vorstellungen und Probleme im fernen Asien. Für unsere Kultur ebenso wichtig ist das Verständnis echter oder vermeintlicher Hygieneformen in prägenden Religionen, hier vorgestellt anhand von Regeln, Praktiken und Mythen in Islam und Christentum. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Einleitung

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Michaela Diercke verfolgt aus medizinisch-sinologischer Sicht den Wandel von Hygienemaßnahmen im alten China. Waren einst im alten China im Kontext von Konfuzianismus oder Taoismus Hygienemaßnahmen durchaus vertraut, stellte sich bei der Übertragung neuer westlicher Vorstellungen bereits das Problem, welches Wort für „Hygiene“ verwendet werde sollte. Eine „patriotische Hygienebewegung“ entsteht im kommunistischen China und Gesundheit wird zur Bürgerpflicht. Später soll die „harmonische Gesellschaft“ auch das durch Korruption gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient heilen. Tsagaan Gantumur liefert als biomedizinisch versierte Praktikerin allgemeine Hintergründe und spezielle Einblicke in die Andersartigkeit der Hygienelage in der heutigen Mongolei. Gegensätze von Hauptstadt und Land, Landflucht, Wandel im Aufbau des Gesundheitssystems, ferner die weite Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Hepatitis, singulär sogar von Pest, unzureichende Daten usw. stellen besondere Herausforderungen und Hindernisse für die Hygieneaufklärung dar, nicht zuletzt für die deutsch-mongolische Kooperation. Nils Fischer, Islamwissenschaftler und Philosoph, geht klassischen Urteilen und Vorurteilen über Hygiene und rituelle Reinheit in Quellen des Islam nach. Von kleiner und großer Waschung, Waschung ohne Wasser, Verfahren im Alltag oder in schwierigen Situationen, beim Betreten der Moschee etc. ist die Rede. Die Aufklärung darüber trägt nicht zuletzt zum besseren interkulturellen Verständnis der hiesigen Immigrantenkultur bei. Mathias Wirth verfolgt vom Standpunkt einer kritischen Theologie Formen der rituellen Reinwaschung, die bekanntlich in der christlichen Religion „Sünden“ tilgen sollen. Hygiene erscheint in diesem Kontext quasi als säkularisierte Form religiöser Praktiken. Hinter den symbolischen Deutungen der Rolle von Wasser z. B. als Weihwasser stehen Mythen oder uralte Sehnsüchte nach Geborgenheit und Reinheit. Das Auge der Aufklärung kann sich auf diese Säkularisierung und Entmythologisierung, aber auch auf mögliche Verluste von Heilserfahrungen richten sowie auf die blinde Wissenschaftsgläubigkeit einer Hygienewaschkultur. IV Literatur und Medien: Sie behandeln Hygieneaufklärung in besonderer Weise wie exemplarische Werkstücke zeigen, sei es aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, dann auch im Dienste einer aktuellen medizinischen Hygieneschulung. Literatur und Medihttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Hans Werner Ingensiep und Walter Popp

en prägen private Einstellungen und öffentliche Formen der Hygienewahrnehmung, schaffen Zugänge und aktive Handlungsräume. Katharina Fürholzer analysiert als Literaturwissenschaftlerin klassische Kinderliteratur als Medium der Hygieneaufklärung. Operierte der berühmte „Struwwelpeter“ einst mit Strafe, Schuld und Angst, um konforme Verhaltensformen bei Kindern einzutrichtern, zielt die moderne Aufklärungsstrategie wie durch „Karius und Baktus“ mehr auf Identifikation und Spaß, was als Gegenpol eigene Probleme mit sich bringen kann. Der Umgang mit Ekelgefühlen wird ebenso neu beleuchtet wie die Rolle des Arztes. Gerade Kinderliteratur kann einen dauerhaften Aufklärungsbeitrag leisten und indirekt auch die persönliche Verantwortung in Sachen Hygiene fördern. Constanze Fiebach, Germanistin, zeigt am modernen Fallbeispiel der „Schwulenseuche“ im Medium Film, wie der Umgang mit Homosexualität und Stigmatisierung erfolgen kann. Zwei Spielfilme in größerem Abstand – „Philadelphia“ (1993) und „Dallas Buyers Club“ (2013) – werden vorgestellt und damit der Umgang mit AIDS in der „Traumfabrik“. Kann Hollywood hier aufklären, oder werden Klischees weitergetragen, die dann indirekt doch wieder eine Diskriminierung verstärken? Der Umgang im öffentlich weit rezipierten Medium Spielfilm zeigt, wie „Identitätsarbeit“ eines durch seine Krankheit vom eigenen Körper entfremdeten Subjekts zur Aufklärungsarbeit werden kann. Tim Lieske betrachtet als Mediziner die Art des konkreten Umgangs mit Hygieneproblemen in amerikanischen Arzt- und Krankenhausserien. Könnten sie einen Leitfaden für die Praxis bieten oder geht es doch nur um Zerstreuung im Abendprogramm? Amerikanische und deutsche Krankenhausserien im TV achten zunehmend auf authentische Darstellung und werden durch Expertenwissen unterstützt. Die Analyse zufällig ausgewählter Folgen fokussiert Hygienestandards im Klinikalltag, die Haustechnik oder das Verhalten des Personals z. B. bei der berüchtigten Händedesinfektion. Interessante Szenen lassen sich für die praktische und aktive Hygieneschulung nutzen, ohne dass gleich Belehrung oder ein schlechtes Gewissen die Motivation zur Auseinandersetzung mindern. Das hier vorgestellte breite Spektrum von Zugängen und Ansätzen zur Hygieneaufklärung illustriert ein innovatives Potential an Aufklärungsformen. Es geht weit über die üblichen und notwendigen medizinischen und psychologischen Grundlagen hinaus. Auch die interdisziplinären und interkulturellen Perspektiven der Geishttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Einleitung

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tes-, Sozial- und Kulturwissenschaften eröffnen wichtige Einsichten. Umso wichtiger wäre es, dass in Zukunft mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Forschung und Lehre erfolgt und so neue Aufklärungsprojekte im weiten Feld der Hygiene befruchtet. Unser besonderer Dank gilt dem BMBF für die finanzielle Förderung dieses Projekts sowie den Mitarbeitern des DLR als Projektträger für die konstruktive organisatorische Begleitung. Kooperativ unterstützt haben uns Herr Prof. Dr. Gunnar Duttge und Herr Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt. Für die redaktionelle Vorbereitung dieser Publikation danken wir M. A. Thomas Höller und Dr. Frank Hermenau sowie für die Möglichkeit zur Publikation Herrn Prof. Dr. Dr. Kristian Köchy und dem Alber-Verlag.

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I. Medizin, Psychologie und Recht

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Walter Popp

Medizin und Hygiene im Krankenhaus

Keime Der Mensch ist allgegenwärtig von Keimen umgeben und mit ihnen besiedelt. Beispielsweise finden sich im Darm 109 bis 1012 Bakterien, darunter Enterococcus faecalis, Bacteroides, Clostridien und Lactobazillen. Keime spielen auch eine bedeutende Rolle bei der Ausbildung des Immunsystems, da sich dieses nur entwickeln kann, wenn auch die entsprechenden Keime vorhanden sind. Auch in der Lebensmittelproduktion spielen Bakterien und Pilze eine teils wichtige Rolle, z. B. bei der Herstellung von Käse, der durch ihr Wirken den typischen Geruch und Geschmack erst erhält. Allerdings führen Keime im Krankenhaus nicht selten zu sogenannten Krankenhausinfektionen (nosokomiale Infektionen), die natürlich unerwünscht sind. Eine herausragende Rolle spielen dabei drei verschiedene Keime bzw. Keimgruppen: • Staphylococcus aureus findet sich bei 30 % der Bevölkerung im Nasen- und Rachenbereich. Er ist der häufigste Verursacher von postoperativen Wundinfektionen. Bei entsprechender Resistenz wird er als MRSA bezeichnet (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus). • Darmkeime sind bei allen Menschen in großer Menge vorhanden, z. B. Escherichia coli. An anderen Stellen des Körpers sollten sie jedoch nicht vertreten sein, z. B. in der Harnblase. Kommt es zum Eindringen von Darmkeimen in die Harnblase (z. B. durch Blasenkatheter), so kann Folge eine Harnwegsinfektion sein, ebenfalls eine typische Krankenhausinfektion. Wenn bestimmte Darmkeime multiresistent gegen Antibiotika sind, spricht man meistens von MRGN (multiresistente Gram-negative Keime) bzw. VRE (Vancomycin-resistente Enterokokken). • Teilweise führen auch Umweltkeime zu Krankenhausinfektionen. Ein typischer Vertreter ist Pseudomonas aeruginosa, der https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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sich typischerweise in den Siphons von Waschbecken findet. Nicht selten führt er auf Intensivstationen zu Pneumonie-Erkrankungen bei beatmeten Patienten. Auch hier spricht man im Falle einer Multiresistenz von MRGN. Bakterien können unterschiedlich lang auf Oberflächen überleben. Clostridium difficile, Escherichia coli, Enterkokken und Klebsiellen (alles Darmkeime) überleben bis zu mehreren Monaten.1 Dies ist der Grund, warum Desinfektion im Krankenhaus wichtig ist.

Krankenhausinfektionen Krankenhausinfektionen (nosokomiale Infektionen) sind Infektionen, die im Krankenhaus erworben werden. Aufgrund einer amerikanischen Definition nimmt man im allgemeinen an, dass dies Infektionen sind, die ab dem 3. Tag des stationären Aufenthaltes auftreten. Infektionen, die davor manifest werden, werden per Definition als mitgebracht angesehen. Reine Kolonisationen (also Trägerschaft ohne krank zu sein), wie sie z. B. oft bei MRSA vorliegen, werden nicht als Krankenhausinfektionen betrachtet. Auch die Vermeidbarkeit oder NichtVermeidbarkeit hat bei dieser Definition keinen Einfluss auf die Zählung. Es geht bei der Zählung also erst einmal nicht um die „Schuld“-Frage. Ausbrüche von Krankenhausinfektionen, d. h. das zeitlich und örtlich gehäufte Auftreten von Infektionen durch einen bestimmten Erreger, sind nach § 6 Infektionsschutzgesetz (IfSG) meldepflichtig an das zuständige Gesundheitsamt. Typische und häufige Krankenhausinfektionen sind: • Sepsis (Vermehrung der Keime im Blut), schweres Krankheitsbild, hohe Mortalität, häufig hervorgerufen durch zentrale Katheter (z. B. ZVK’s: Zentrale Venen-Katheter), • Lungenentzündung (Pneumonie), häufig auftretend bei Intensivpatienten mit Beatmung, • postoperative Wundinfektionen,

1

Vgl. A. Kramer, I. Schwebke, G. Kampf, „How long do nosocomial pathogens persist on inanimate surfaces? A systematic review“, in: BMC Infectious Diseases, 2006, 6, S. 130.

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• Harnwegsinfektionen, meist weniger gefährlich als Sepsis oder Pneumonie, häufig hervorgerufen durch Blasenkatheterisierung, • Gastroenteritis (Durchfallerkrankungen) sowie sonstige Infektionen, z. B. von Gehirn und Auge.

Krankenhausinfektionen zählen: Was ist richtig? Die korrekte Zählung von Krankenhausinfektionen ist ein schwieriges Unterfangen: Zuerst einmal hängt das Erkennen der Infektionen davon ab, dass man überhaupt nach ihnen sucht. Beispielsweise kann eine Sepsis nur sicher diagnostiziert werden, wenn auch eine Blutkultur bei Fieber abgenommen wird. Umgekehrt werden mehr Sepsisfälle festgestellt, wenn häufig Blutkulturen untersucht werden. Dies bedeutet, dass eine hohe Sepsisrate für hygienische Qualitätsdefizite sprechen kann, andererseits aber auch für eine hohe diagnostische Qualität. Die bisherigen offiziellen Zahlen von Krankenhausinfektionen (z. B. Angaben des Bundesgesundheitsministeriums) nennen 400.000 bis 600.000 nosokomiale Infektionen pro Jahr und daraus resultierend 10.000 bis 15.000 Todesfälle.2 Tatsächlich gibt es aber viele Gründe, die dafür sprechen, dass die wahren Zahlen wesentlich höher liegen: • Die offiziellen Zahlen rekurrieren im Wesentlichen auf die Erfassung nach der sogenannten KISS-Methode, die seit Ende der 90er Jahre in Deutschland in vielen Krankenhäusern durchgeführt wird, organisiert von einem nationalen Referenzzentrum. Nach diesen Zahlen (die laufend leicht verändert publiziert werden) treten pro Jahr 20.000 Sepsisfälle auf, 80.000 Pneumonien, 155.000 Harnwegsinfektionen sowie 225.000 Wundinfektionen und 70.000 andere nosokomiale Infektionen.3

2

3

Vgl. H. Martiny, W. Popp, „Krankenhausinfektionen“, in: Public Health Forum, 2014, 22, 26.e1.; P. Gastmeier, C. Geffers, „Nosokomiale Infektionen in Deutsch­ land: Wie viele gibt es wirklich?“, in: Dtsch Med Wochenschr 2008, 133, S. 11111115. Vgl. Gastmeier/Geffers 2008.

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Das Kompetenznetz Sepsis (SepNet) geht dagegen von 110.000 bis 154.000 Sepsisfällen pro Jahr aus, davon 60 % nosokomial erworben, also rund 70.000. Laut SepNet würde bei einer mittleren Letalität von 40 % dies allein 28.000 Todesfälle pro Jahr bedingen. Legt man laut SepNet nur die schweren Sepsisfälle mit 55 % Letalität zugrunde, so würde dies 18.000 bis 26.000 nosokomiale Todesfälle pro Jahr bedeuten. Mit anderen Worten: Allein eine realistische Abschätzung der Sepsisfälle zeigt, dass diese Zahlen wesentlich höher sind als von KISS geschätzt und dass allein die Zahl der Todesfälle durch eine nosokomiale Sepsis höher ist als die Gesamtzahl der von offizieller Seite angegebenen nosokomial verursachten Todesfälle.4 • Ähnlich verhält es sich mit Pneumonien und mit Wundinfektionen. Umfassende Erhebungen des Schweizer SwissNoso-Projektes zeigen, dass dort bei den meisten Eingriffen die Wundinfektionsrate zwei- bis dreimal höher liegt als in Deutschland (verglichen zu KISS)5 (Tabelle 1). Dies ist darauf zurückzuführen, dass in Deutschland Wundinfektionen nur bis zur Entlassung verfolgt werden, in der Schweiz jedoch bis zum 30. Tag nach Entlassung. Es ist nämlich bekannt, dass die meisten Wundinfektionen erst nach Entlassung auftreten bzw. erkannt werden, in Norwegen sogar 80 %. Ein weiteres Problem bei der Untererfassung der deutschen Zahlen ist, dass die sogenannte klinische Diagnose in Deutschland im KISS-System nicht mehr gezählt wird. Die klinische Diagnose resultiert aus der Erfahrung eines Klinikers angesichts der Schwere des Krankheitsbildes, aber bei teilweise nicht nachweisbarer Mikrobiologie. Eine aktuelle Auswertung des Universitätsklinikums Jena zeigt, dass dort die Krankenhausinfektionsrate bei 5,3 % liegt entsprechend KISS/CDC-Kriterien, jedoch bei 8,4 %, wenn auch die klinischen Diagnosen gezählt werden.6

4 5 6

Vgl. Martiny/Popp 2014. Vgl. ebd., Swissnoso, Zusammenfassender Bericht 2010–2011. Erfassung post­ operativer Wundinfektionen, Version 1.0., Juni 2013. Vgl. Martiny/Popp 2014.

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Tabelle 1: SSI

Land/System

Infektionsrate ( %)

Appendektomie

KISS – laparoskopisch

0,64

 

KISS – offen

4,46

 

Swissnoso

3,8 Laparoskopisch: 3,6 Offen: 4,8

Cholezystektomie

KISS

1,3

 

Swissnoso

3,0

Hernien-OP

KISS – laparoskopisch

0,16

 

KISS – offen

0,47

 

Swissnoso

1,2

Colonchirurgie

KISS

8,8

 

Swissnoso

12,8

Sectio caesarea

KISS

0,5

 

Swissnoso

1,8

Herzchirurgie

KISS

2,9

 

Swissnoso

5,4

Hüftgelenksprothesen

KISS

1,1

 

Swissnoso

1,6

Kniegelenksprothesen

KISS

0,7

 

Swissnoso

2,0

Vermeidbarkeit von Krankenhausinfektionen Von offizieller Seite wird seit vielen Jahren gesagt, dass maximal 30 % der Krankenhausinfektionen vermeidbar seien. Dies stützt sich ausschließlich auf alte Untersuchungen in den USA, die in den 70er Jahren durchgeführt wurden. Damals wurde überwiegend Hygienefachpersonal eingesetzt und ein Vergleich gemacht zu Krankenhäusern, die dies nicht taten.

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Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Verhütungsrate wesentlich höher ist. In einer großen Studie7 auf 108 Intensivstationen in Michigan, USA, wurden verschiedene Maßnahmen (Händehygiene, Schutzkleidung beim Legen von zentralen Venenkathetern, Hautdesinfektion mit Chlorhexidin, keine Femoralkatheter, unnötige Katheter entfernen) durchgeführt und die Sepsisrate durch zentralvenöse Katheter auf Null reduziert, wobei in vielen Intensivstationen dieses Ergebnis über mehrere Jahre so gehalten wurde. Auch andere Untersuchungen zur Verhütbarkeit von Sepsisfällen, Pneumonien und Wundinfektionen zeigen, dass mindestens 50 % durch hygienische Maßnahmen verhütet werden können. Als Konsequenz ist festzuhalten, dass in der Realität heute in Deutschland wahrscheinlich • eine Million Krankenhausinfektionen auftreten oder mehr, dass diese zu • mindestens 30.000 bis 40.000 Todesfällen führen, wobei • mindestens 50 % der Infektionen durch hygienische Maßnahmen verhindert werden können.

Multiresistente Erreger Besondere Probleme bei den Krankenhausinfektionen entstehen derzeit durch multiresistente Keime und durch Ausbrüche. Zu den multiresistenten Keimen zählen: • MRSA – Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus • MRGN – multiresistente gramnegative Erreger, z. B. Darmkeime, Enterokokken, Serratia, Pseudomonas, Acinetobacter • VRE – Vancomycin-resistente Enterokokken (vor allem Enterococcus faecium) • Auch Toxin bildende Clostridium difficile werden meistens dazu gezählt, obwohl sie im eigentlichen Sinn nicht resistent sind. Bei den multiresistenten Keimen werden überwiegend Schutzmaßnahmen durchgeführt, z. B. Isolierung, eigene Toilette, Schutzkittel

7

P. Pronovost, D. Needham, S. Berenholtz, D. Sinopoli, H. Chu, S. Cosgrove, B. Sexton, R. Hyzy, R. Welsh, G. Roth, J. Bander, J. Kepros, C. Goeschel, „An Intervention to Decrease Catheter-Related Bloodstream Infections in the ICU“, in: N Engl J Med. 2006, 355, S. 2725-2732.

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und Handschuhe beim Betreten des Zimmers, ferner Mund-NasenSchutz und Kopfhaube. Bei MRSA kann man auch sanieren und die Sanierung ist in 60 bis 80 % erfolgreich. MRSA Ca. 30 % der Bevölkerung tragen im Nasen- und Rachenbereich Staphylococcus aureus. Von einem MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) spricht man, wenn im Antibiogramm eine Resistenz gegen Oxacillin vorliegt – Methicillin wird heute nicht mehr eingesetzt und nicht mehr getestet. Grundsätzlich bestehen bei MRSA durch in den letzten Jahren auf den Markt gekommene Medikamente Behandlungsmöglichkeiten, z. B. mit Linezolid. Heute werden drei Formen von MRSA unterschieden: • ha-MRSA (hospital acquired): Diese sind in Deutschland die häufigsten MRSA. Der Keim ist nicht pathogener als ein Antibiotika-sensitiver Staphylococcus aureus, das Problem ist die Behandlung. • c-MRSA (community associated): Diese sind glücklicherweise sehr selten in Deutschland. Sie sind pathogener als der haMRSA und führen oft zu wiederkehrenden Hautabszessen und tiefen Weichteilinfektionen sowie schweren invasiven Infektionen, z. B. einer nekrotisierenden hämorrhagischen Pneumonie. • la-MRSA (lifestock associated): Diese finden sich vor allem bei Menschen, die in der Tierproduktion tätig sind (z. B. Tierärzte). Dieser MRSA ist weniger pathogen als der übliche ha-MRSA. In Deutschland ist der Anteil von MRSA an allen Staphylococcus aureus-Isolaten von 0,4 % in 1978 auf ein Maximum von 20,3 % im Jahr 2007 gestiegen. Seitdem hält sich dieser Anteil konstant bzw. ist in den letzten Jahren leicht abnehmend. In Europa liegt Deutschland mit diesem Anteil im Mittelfeld, besser sind die Niederlande und die skandinavischen Länder. Frankreich und England waren vor 15 Jahren wesentlich schlechter als Deutschland, haben dann aber massive zentrale Maßnahmen ergriffen, die dazu geführt haben, dass sie inzwischen ein Niveau wie Deutschland erreicht haben. Man kann daran sehen, dass zentrale Vorgaben, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden, selbst eine Reduktion bei hoher MRSA-Last bewirken können. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Verschiedene Untersuchungen, auch des Essener MRE-Netzwerkes (Popp et al.) zeigen, dass im stationären Bereich heute etwa 1,5 % der Patienten MRSA-Träger sind. In der Bevölkerung dürfte der Anteil, leitet man dies von den Ergebnissen bei niedergelassenen Ärzten ab, bei 0,4 bis 0,5 % liegen. Multiresistente Erreger führen in Krankenhäusern zu massiven Einnahmeausfällen: Gesundheitsökonomen haben aus den Original-Abrechnungsdaten von deutschen Krankenhäusern ausgerechnet, dass jeder Patient mit einem multiresistenten Keim dem Krankenhaus 10.000 € Verlust bringt und dass über die übliche Krankenhausabrechnung allenfalls 1.000 bis 2.000 € hierfür rückerstattet werden. Das heißt, das Krankenhaus bleibt auf einem Verlust von gut 8.000 € pro Fall sitzen (Martiny und Popp 2014). MRGN Unter MRGN versteht man multiresistente gram-negative Keime, z. B. Escherichia coli, Klebsiella pneumoniae oder Pseudomonas aeruginosa. Auch Patienten mit diesen Keimen werden, in unterschiedlichem Umfang, im Krankenhaus isoliert und der Umgang erfolgt unter Schutzmaßnahmen. Deutschland liegt in Europa im Großen und Ganzen in einem Mittelfeld bei der Häufigkeit dieser Keime. Besonders hohe Anteile, insbesondere an sehr resistenten gram-negativen Keimen, zeigen Italien und vor allem Griechenland. Leider ist im Allgemeinen eine Sanierung bei diesen Keimen nicht möglich, da es sich vorwiegend um Darmkeime handelt und eine Sanierung des Darmes derzeit nicht möglich ist. Es gibt Ansätze bei einem anderen Keim, Clostridium difficile, bei dem es gelingt, eine Darmbesiedelung durch eine sogenannte Stuhltransplantation in bis zu 90 % zu beseitigen. Die Zukunft wird zeigen, ob ein ähnliches Verfahren auch bei gram-negativen Keimen wirksam ist. Allerdings besteht insofern auch Hoffnung, als nach mehreren Monaten Trägerschaft gut 50 % der Träger den Keim von sich aus verlieren, überwiegend weil er wohl durch andere Keime verdrängt wird. MRGN kommen in der Bevölkerung bereits zu 3 bis 4 % vor (Tabelle 2).

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Tabelle 2: Häufigkeit von MRSA und MRGN im Krankenhaus und in der Bevölkerung MRSA

MRGN

stationär

1,5 %

> 1 %

Bevölkerung

0,5 %

> 3-4 %

Sanierung

60-80 %

? 50 % negativ nach Mon.

Ausbrüche Ausbrüche mit Krankenhauskeimen stellen derzeit ein großes Problem in den Krankenhäusern dar, da sie immer auf Fehler hindeuten, eine hohe mediale Wirksamkeit haben und mögliche juristische Folgen nach sich ziehen. Darüber hinaus verursachen Ausbrüche im Allgemeinen hohe Kosten. Bei dem in den Medien vielfach beschriebenen Ausbruch in der Neonatologie in Bremen kam es zu einer Häufung von ESBL-bildenden Klebsiellen, die über Monate weder durch die Abteilung noch durch die Mikrobiologie erkannt wurde. Bei gutachterlichen Bewertungen fanden sich Probleme in der desinfizierenden Reinigung, ungenügende Schulungen, ein zu niedriger Pflegeschlüssel (bis zu 6 Frühchen mussten von einer einzigen Schwester versorgt werden), zu wenig Hygienefachkräfte sowie individuelle Fehler. Außerdem wurde die Ausbruchsmeldung zu spät erstattet und die Meldekette war defizitär. Eine Folge dieser Ereignisse ist unter anderem, dass der Gemeinsame Bundesausschuss beschlossen hat, dass ab 2017 auf ein Frühchen bei intensivtherapiepflichtigen Frühgeborenen eine Pflegekraft kommen muss. 2010 kam es zu einem ersten Fall einer Infektion mit einer multiresistenten Klebsiella pneumoniae an der Universitätsklinik Leipzig, wobei der Keim aus Griechenland mitgebracht wurde. In der Folge wurden 103 Patienten infiziert bzw. kolonisiert. Bis zu 40 dürften dadurch verstorben sein. Der Ausbruch wurde erst im Jahr 2013 für beendet erklärt, nachdem er viel zu spät erkannt worden war. Eine wesentliche Erkenntnis aus der Beobachtung verschiedener Ausbrüche ist, dass diese selten monokausal hervorgerufen werden und meistens verschiedene Ursachen haben, also multikausal sind.

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Antibiotika Eine Verbesserung der Situation bei multiresistenten Keimen verspricht man sich durch eine verbesserte Antibiotikapolitik, die seit einigen Jahren auch von der Bundesregierung propagiert wird. Generell lässt sich festhalten, dass die Zahl neuer Antibiotika in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, da viele Pharmafirmen kein Interesse an der Entwicklung von Antibiotika haben, da sie sich zu geringe Gewinne davon versprechen. Es ist ganz offensichtlich, dass z. B. mit Lipidsenkern, die von Millionen Menschen allein in unserem Land bis zum Lebensende täglich eingenommen werden, wesentlich höhere Gewinnmargen erzielt werden als durch Antibiotika, deren Entwicklung genauso viel kostet, die aber nur 7 bis 10 Tage genommen werden und dann möglichst auch noch bei wenigen Patienten eingesetzt werden sollen. Ein besonderes Problem stellt darüber hinaus die Tiermast dar, in der auch als Wachstumsverstärker und als „präventive“ Maßnahme gegen Infektionen Antibiotika massiv eingesetzt werden und dies seit langem. Dass der Antibiotika-Stopp zu einer deutlichen Verbesserung der Resistenzsituation führt, konnte in der Vergangenheit sehr schön an dem Vancomycin-ähnlichen Avoparcin gezeigt werden, das seit 1997 in der EU verboten ist und das zu einer Selektion von VRE bei den behandelten Tieren geführt hat. Avoparcin wurde in Thailand im Jahr 2000 verboten und es zeigte sich bis 2003 eine massive Reduktion der VRE-Rate bei den Tieren.

Einbeziehung des Patienten und künftige Strategien Der Patient im Krankenhaus hat wenig Chancen, umfassend die hygienische Qualität zu beurteilen. In den besonders problematischen Bereichen wie OP und Intensivmedizin ist er nicht in der Lage, kritisch zu beobachten, bzw. fehlt ihm auch die Fachkompetenz. Das, was der Patient sieht, reduziert sich im Wesentlichen auf das Patientenzimmer: • Wird die Händehygiene korrekt durchgeführt, insbesondere von den Chefärzten, die Vorbilder für ihre Assistenten sind? • Wird die Wundversorgung aseptisch durchgeführt? • Wird eine regelmäßige desinfizierende Reinigung der Zimmer und Sanitärbereiche durchgeführt? https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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• Werden multiresistente Patienten korrekt isoliert, so wie es den Vorgaben entspricht? • Wie wird die Bettenaufbereitung durchgeführt? Verschiedene Befragungen der Bevölkerung (Gesundheitsmonitor 2006) zeigen, dass nach der Qualifikation des medizinischen Personals die Sauberkeit für die Patienten ein ganz wichtiger Faktor ist. Die nachfolgende Tabelle 3 gibt die derzeitigen Risiken für einen Todesfall durch verschiedene Ereignisse wieder. Tabelle 3: Risiken im Vergleich Risiken Tödlicher Ausgang, Wahrscheinlichkeit für 1 Individuum pro Jahr Risiko

Wahrscheinlichkeit

Herzkrankheiten

1 : 405

Zigarettenrauchen

1 : 500

Nosokomiale Infektion, stationär (bezogen auf Patienten) Krebs

1 : 600

Verletzung durch Unfall oder Gewalt Nosokomiale Infektion, stationär (bezogen auf Gesamtbevölkerung) Unfälle aller Art

1 : 2.200

Autounfall

1 : 5.000

Verbrechen

1 : 11.500

Flugzeugunfall

1 : 245.000

Blitzschlag

1 : 1.000.000

Hundeattacke

1 : 70.000.000

1 : 910

1 : 2.700 1 : 4.000

Man sieht, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus mit einem relativ hohen Risiko für Tod durch Infektionskrankheiten verbunden ist. Dies und die eingangs genannten hohen Zahlen an Krankenhausinfektionen und dadurch bedingten Todesfällen machen es zwingend erforderlich, dass das Thema der Hygiene und der Kran-

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kenhausinfektionen zu einem nationalen gesamtgesellschaftlichen Thema gemacht wird. In den 70er Jahren waren die Todesfälle durch Autounfälle am höchsten mit 20.000 pro Jahr. Durch massive Maßnahmen, die viel Geld kosteten, konnten sie bis heute auf unter 4.000 pro Jahr reduziert werden. Etwas Ähnliches muss im Bereich der Krankenhaushygiene und der Krankenhausinfektionen geschehen. Auch dieses Thema muss gesamtgesellschaftlich angegangen werden und zu einem Top-Thema der Gesellschaft wie auch der Politik gemacht werden. Erforderlich sind neue Maßnahmen der Gesetzgebung, der Überwachung, aber auch neue Therapieformen, verstärkte Aufklärung der Bevölkerung und vieles mehr. Dies alles wird nicht kostenfrei zu erreichen sein, aber es wird zu einer massiven Reduktion der jährlichen Todesfälle durch Krankenhausinfektionen führen. Literatur P. Gastmeier, C. Geffers, „Nosokomiale Infektionen in Deutschland: Wie viele gibt es wirklich?“, in: Dtsch Med Wochenschr 2008, 133, S. 1111-1115. A. Kramer, I. Schwebke, G. Kampf, „How long do nosocomial pathogens persist on inanimate surfaces? A systematic review“, in: BMC Infectious Diseases, 2006, 6, S. 130.  H. Martiny, W. Popp: Krankenhausinfektionen. Public Health Forum. 2014, 22, 26.e1. W. Popp, B. Ross, M. Raffenberg, A. Sanewski, C. Scheytt, L. Schwermer, R. Kundt, „Berichte aus den MRSA-Netzwerken. Sektorenübergreifende MRSA-Eintagesprävalenzen –Erfahrungen aus Essen“, in: Epidem Bull. 2012, Nr. 27, S. 249251. P. Pronovost, D. Needham, S. Berenholtz, D. Sinopoli, H. Chu, S. Cosgrove, B. Sexton, R. Hyzy, R. Welsh, G. Roth, J. Bander, J. Kepros, C. Goeschel, „An Intervention to Decrease Catheter-Related Bloodstream Infections in the ICU“, in: N Engl J Med. 2006, 355, S. 2725-2732. Swissnoso, Zusammenfassender Bericht 2010–2011. Erfassung postoperativer Wund­ infektionen, Version 1.0., Juni 2013.

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Psychologie der Hygiene

Hygiene als Wissenschaft Hygiene, schon sehr früh als Gesundheitspflege verstanden, ist mythologisch eng verbunden mit der Tochter des Asklepios (Gott der Heilkunst), Hygieia, der griechischen Göttin der Gesundheit. Als Gegenstände der Hygiene im Sinne der privaten Gesundheitspflege wurden 1895 in Meyers Konversationslexikon angeführt „die Wohnung … Reinhaltung, Pflege der Haut, Abwechslung zwischen Körperbewegung und Körperruhe … Zahn- und Mundpflege … Regelung des Geschlechtsverkehrs, Abwechslung zwischen geistiger Arbeit, geistiger Anstrengung, Erholung des Geistes, Sammlung und Zerstreuung schon vom zarten Alter an … Berücksichtigung der Berufsschädlichkeiten, Vorsicht gegen Überanstrengung des Herzens, zornmütige Erregungen, brutale klimatische Einflüsse, Erhitzung in überfüllten Räumen und Vermeidung des Verkehrs mit ansteckenden Kranken und der Lokalitäten, wo derartige Kranke geweilt haben, Zurückhaltung von der Berührung mit kranken und verdächtigen Tieren, Beachtung der wahrnehmenden Schmerzen an irgend einem Körperteil, Schonung hereditär widerstandsloser oder durch Krankheiten geschwächter Organe“. In aktueller Form findet sich dann bei Sonntag eine Definition, die auch den Festlegungen der WHO entspricht, nämlich: „Hygiene ist der Teil der medizinischen Wissenschaft, der sich mit den Grundvoraussetzungen der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitserhaltung befasst: sie beschränkt sich damit nicht nur auf die reine Krankheitsverhinderung, sondern beschäftigt sich auch mit Bedingungen der natürlichen und sozialen Umwelt, die den Rahmen für individuelles und kollektives Wohlbefinden bilden.“1 Diese aktuelle Definition der Hygiene als Wis1

H.-G. Sonntag, H. Flassak, W. Throm, „Hygienische Aspekte bei der Pflege von Homecare-Patienten mit AIDS, chronischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen“, in: Zbl Hyg, S. 26-44, S. 29.

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senschaft macht darüber hinaus deutlich, dass die Hygiene nicht unwesentlich auch eine Verhaltens- aber auch Kulturwissenschaft ist und letztlich eine interdisziplinäre Ausrichtung unter besonderer Berücksichtigung der Psychologie erfahren muss. Und in diesem Kontext findet sich dann auch der Begriff der Psychohygiene.

Aktualität der hygienischen Risikofaktoren Die aktuelle Hygiene-Situation wird bestimmt von einer Vielzahl von Risikofaktoren: (1) Der weltweite Anstieg von Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Atemwegsinfektionen, Diarrhöe, Hepatitis A, B, C, Aids, Masern, Diphtherie u. a.) und in diesem Kontext auch das Auftreten immer neuer Erreger (z. B. Ebola) mit immer auch neuer bzw. veränderter Krankheitssymptomatik und qualitativ verändertem Krankheitsverlauf. (2) Der Anstieg von Antibiotikaresistenzen: Damit verliert die herkömmliche Antibiotika-Therapie bei infektiösen Erkrankungen zunehmend an Wirksamkeit. Verschärft wird diese Situation durch die Zunahme multiresistenter Erreger (MRE) und – dies ist bereits Gegenstand einer Psychologie der Hygiene – einer naiven Überschätzung der Therapiemöglichkeiten von Infektionskrankheiten. (3) Die Defizite der Durchimpfungsrate sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern: 53 Prozent der Erwachsenen in Deutschland achten nicht darauf, ihre Impfungen regelmäßig aufzufrischen; nur 22 Prozent lassen sich regelmäßig gegen Grippe impfen. Jeder zweite Deutsche weiß überhaupt nicht, wie es um seinen Impfschutz bestellt ist. (4) Der demographische Wandel: Mit einem zunehmend größer werdenden Anteil der älteren Bevölkerung und dem damit verbundenen Anstieg der Infektionsrisiken durch eine altersbedingte Schwächung des Immunsystems, die zunehmende Häufigkeit von medizinischen Eingriffen (ambulant und klinisch), der zunehmenden Pflegebedürftigkeit und den darin begründeten vielfältigen Infektionsrisiken, dem höheren Gesundheitsrisiko bei reduzierter Individual-, Wohnungs- und Nahrungshygiene, aber auch das höhere Gesundheitsrisiko durch unzureichende Hygienekompetenz und unzureichendes Hygieneverhalten der pflegenden Personen. (5) Die Globalisierung der Infektionserreger; dadurch kommt es auch zu einer Globalisierung der sich gleichzeitig permanent genetisch weiterentwickelnden Infektionserreger. Präventives https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Denken und Handeln beginnt heute mit der Internalisierung des Wissens dafür, dass Menschen tausende Kilometer von uns entfernt unsere Nachbarn sind. Zunehmende Beachtung verdienen dabei auch die im Klimawandel begründeten, nicht unwesentlichen Veränderungen der allgemeinen hygienischen Risikolage. (6) Die zunehmende Komplexität der Hygienerisiken in Krankenhäusern: Unsere Studie zu aktuellen Hygienerisiken in Kliniken bei Hygienefachkräften (n = 166), hygienebeauftragten Ärzten (n = 35) und Verwaltungsleitern (n = 100) in 199 Kliniken konnte – aus der subjektiven Perspektive des befragten Personenkreises – die folgenden Risikofaktoren ausfindig machen: − Hygienedefizite, die im Fehlverhalten von Mitarbeitern und Ärzten begründet sind. − Hygienerisiken, die sich aus Führungsdefiziten, fehlender Vorbildautorität und mangelnder Selbstverantwortlichkeit ergeben. − Hygienerisiken, die in der Organisationsstruktur, in der Ablauforganisation und auch in der Produktanwendung begründet sind. − Hygienerisiken, die sich im Kontext der ansteigenden Anwendung unterschiedlicher medizinisch-technischer Geräte ergeben. Mit der zunehmenden Komplexität und Verschiedenartigkeit von miteinander vernetzten Hygienerisiken, insbesondere durch die Apparatemedizin, erhöht sich der Schwierigkeitsgrad und damit auch der Aufwand für deren Hygiene.

Hygienewissen und Hygieneverhalten Es galt lange Zeit – auch in der wissenschaftlichen Psychologie – als eine nicht anzuzweifelnde Erkenntnis, dass erlerntes Wissen gleichbedeutend sei mit alltäglich praktiziertem Handeln und Verhalten, d. h. Wissen galt als hinreichende Bedingung dafür, dass dieses Wissen jederzeit in jeder Situation auch das alltägliche Verhalten bestimmt: „Aufklärung“ als Basis vernünftigen Handelns. Wenn dem wirklich so wäre, dann müsste dies allerdings in praxi letztlich zu einem vielfach mustergültigen persönlichen, beruflichen und zwischenmenschlichen Verhalten führen. Die Aktualität hygienischer Risikofaktoren und der Erkenntnisstand der wissenschaftlichen Hygiene sind zwar notwendige, aber bedauerlicherweise noch lange keine hinreichenden Bedingungen für ein entsprechendes wünhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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schenswertes, alltägliches und selbstverständliches Hygieneverhalten. Dazu nur einige Beispiele für die so weit verbreiteten Diskrepanzen zwischen Wissen und Verhalten: (1) Wissen um Notwendigkeit und Wert von Vorsorgeuntersuchungen versus real praktiziertem Vorsorgeverhalten. (2) Wissen um den Risikofaktor Tabak-/Alkoholkonsum versus praktiziertes Konsumverhalten. (3) Wissen um die Notwendigkeit von Organspenden versus Defizit an Selbstverpflichtung zur Organspende. (4) Wissen um den Risikofaktor Übergewicht versus der Zunahme übergewichtiger Personen. (5) Wissen um Defizite körperlicher Aktivitäten versus tatsächlichem Verhalten. (6) Wissen um gesunde Ernährung versus vielfach praktizierten Fehlverhaltensweisen. Man kann nun die Qualität des alltäglichen, vielfach unbefriedigenden Präventionsverhaltens nur dann in positivem Sinne verändern, wenn man zunächst einmal die Fragen danach beantwortet, welche psychologischen Barrieren denn überhaupt die Aufnahme und Umsetzung von Hygienewissen in Hygieneverhalten zu verhindern vermögen.

Irrationalität der Risikowahrnehmung und Risikoverarbeitung: Die Hygienebarrieren Risiko trifft den Menschen vielfach in einer Welt unbegreifbarer statistischer Wahrscheinlichkeiten und wechselseitiger Abhängigkeiten. Diese Komplexität der Zusammenhänge in Verbindung mit der Naivität des Laien begründen die Schwierigkeiten, mit Risikofaktoren „vernünftig“ umzugehen. An hinreichend untersuchten psychologischen Barrieren (Formen irrationaler Risikowahrnehmung) bei der Umsetzung von Hygienewissen in Hygieneverhalten sind u. a. zu erwähnen: 1. Vorurteile als Hygienebarrieren Vorurteil I: Die Annahme und Überzeugung, dass die infektiösen Kinderkrankheiten (Masern, Diphtherie usw.) von Kindern „durchhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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gemacht“ werden müssen, weil sie von stabilisierendem Einfluss auf die spätere gesundheitliche Entwicklung seien. Vorurteil II: Die Annahme und Überzeugung, dass viele hygienische Maßnahmen vor allem in Deutschland übertrieben („Sauberkeitsfanatiker“) und damit zu einem gesundheitlichen Risiko werden (Dass dieser Verhaltenstypus eher Seltenheitswert besitzt, belegen unsere Untersuchungen hinreichend.). Vorurteil III: Die Annahme und Überzeugung, dass hygienisch bedingte Infektionen medikamentös – mit Hilfe von Antibiotika – ohne Schwierigkeiten therapierbar seien, Vorurteil IV: Die Annahme und Überschätzung chemisch-physikalischer Risiken aus der Umwelt als entscheidende Krankheitsauslöser (die Irrationalität der Qualität der Kausalattribution). Schuld daran sind immer die Anderen und Anderes. Beleg: Ergebnisse einer Studie mit Müttern. Hier konnten wir nachweisen, dass bei vielen Müttern in erster Linie externe Risiken die höchsten subjektiven Eintretenswahrscheinlichkeiten für die gesundheitliche Beeinträchtigung des eigenen Kindes besitzen; es sind dies für die Mütter Luftverschmutzung, chemische Rückstände in Lebensmitteln, Ozon, Kernenergie und genetisch veränderte Lebensmittel. Demgegenüber werden Risikofaktoren, die durch ein selbstverantwortliches Gesundheitsverhalten nachhaltig präventiv beeinflusst werden können, entgegen ihres hohen objektiv gegebenen Risikopotentials nur von maximal einem Drittel der Mütter als wirklich bedeutsam eingeschätzt, d. h. der Großteil der Mütter nimmt eine irrationale Risikobewertung vor und sieht keinen persönlichen Handlungsbedarf. Zu den in den Bereich der persönlichen Verantwortung zu rechnenden Risikofaktoren, die von der Mehrheit der Mütter in ihrer Wahrnehmung als relativ gering eingeschätzt werden, gehören Hygienedefizite, Fehlernährung, Übergewicht, Bewegungsmangel, Bluthochdruck, Medikamentenmissbrauch, Alkohol- und Zigarettenkonsum. Das generelle Problem der identifizierten Vorurteile ist, dass dann, wenn sie sich erst einmal etabliert haben, eine hohe Resistenz auch gegenüber widerlegenden Argumenten existiert; es bedarf emotional massiver Lebensereignisse, um solche Vorurteile abzubauen. Nur in den wenigsten Fällen hilft hier Aufklärung und Information.

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2. Defizit an persönlicher „Hygienesensibilität“ als Hygienebarriere Menschen unterscheiden sich auch nach dem Ausmaß ihrer persönlichen Hygienesensibilität. Diese ergibt sich durch die individuelle Positionierung auf zwei möglichen „Erlebnisdimensionen“ des Erlebens von Hygienerisiken; nämlich (1) nach dem subjektiven Ausmaß, in dem sie glauben, dass Krankheiten durch Hygienedefizite ausgelöst werden und (2) nach dem subjektiven Ausmaß, in dem sie glauben, dass Krankheiten durch übertriebene Sauberkeit und die Anwendung chemischer Hygieneprodukte ausgelöst werden können. Aus der unterschiedlichen Positionierung der Befragten auf den jeweiligen Dimensionen ergeben sich vier qualitativ unterschiedliche Typen. – Typ I (25 %): Hohe Hygienesensibilität: d. h. hohe subjektive Eintretenswahrscheinlichkeiten von Hygienerisiken bei Hygienedefiziten. – Typ II (37 %). Geringe Hygienesensibilität: d. h. kein Erleben von Hygienerisiken und Hygienedefiziten. – Typ III (22 %): Geringe Sensibilität für Hygienerisiken bei subjektiv hohen Eintretenswahrscheinlichkeiten von Gesundheitsschäden durch übertriebene Hygiene und die Anwendung von Hygieneprodukten. – Typ IV (16 %): Hohe Hygienesensibilität bei hohem Vertrauen in die Problemlösekompetenz von Hygieneprodukten und Hygieneverfahren. Generell ergibt sich aus diesen Untersuchungsbefunden, dass eine ausgeprägte positive allgemeine Hygienesensibilität nur bei Typ I und Typ IV nachgewiesen werden kann; diese beiden Typen machen aber nur 41 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus. Bei 59 Prozent der Bevölkerung liegt also keine hinreichende Hygienesensibilität vor, d. h. es existieren Einstellungs- und Bewertungsmuster, die letztlich verhindern, dass überhaupt ein Informationsinteresse an Fragen der Hygiene vorhanden ist. Es gibt in der Bevölkerung aber vielfach auch bei Ärzten noch kein hinreichendes Bewusstsein darüber, dass der Großteil aller aktuellen Infektionen durch persönliche Verhaltensmaßnahmen tatsächlich verhütet und kontrolliert werden kann.

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3. Die Irrationalität der persönlichen Risikobilanz: Die subjektiven Eintretenswahrscheinlichkeiten von Risikofällen als Hygienebarriere und Technik der Risikoverarbeitung: Die Impfbarrieren Der „falsche“ psychologische Umgang mit Infektionsrisiken und damit die innere Begründung für eine zunehmend unbefriedigende Durchimpfungsrate ist zentral das Ergebnis einer irrationalen psychologischen Kosten- und Nutzenbilanz des praktizierten Impfverhaltens. Sie ergibt sich aus folgenden psychologischen Zusammenhängen: Als subjektiv gefährliche Infektionskrankheiten gelten in der Bevölkerung unbestritten: Cholera, Diphtherie, Masern, Kinderlähmung, Tollwut, Tuberkulose, Typhus, Tetanus, Gelbfieber, Malaria, Meningitis. Die subjektive Wahrscheinlichkeit nun aber, an diesen subjektiv als gefährlich erlebten Krankheiten zu erkranken, wird demgegenüber vielfach minimiert; sie gilt als sehr unwahrscheinlich. Einer Maximierung der subjektiven Gefährlichkeit steht also eine Minimierung der subjektiven Eintretenswahrscheinlichkeit des Risikofalles gegenüber, d. h. aber: Das objektiv vorhandene Risiko wird emotional als persönlicher Risikofall weitgehend ausgeschlossen; und damit wird aber auch die Aktivierung der Impfmotivation unwahrscheinlicher. 4. Die irrationale Risikoverarbeitung durch Nichtwahrnehmbarkeit von Risikofällen: Das Defizit an unmittelbarer Betroffenheit Es gilt weitgehend die Gleichung: Was nicht bzw. nicht mehr wahrnehmbar und erlebbar ist – Kinderlähmung, Diphtherie, Tollwut –, ist motivational nicht mehr existent. Latente Risiken sind also nicht mehr im engeren und auch weiteren sozialen Umfeld wahrnehmbar. Und noch ein weiterer Untersuchungsbefund ist in diesem Zusammenhang anzuführen: Generell wird die gegenwärtige subjektive Eintretenswahrscheinlichkeit von Epidemien in der Bundesrepublik als sehr gering eingeschätzt. Soweit überhaupt von einer gewissen Bedeutsamkeit von Epidemien gesprochen wird, bezieht sich diese auf „Grippewellen“ –; in diesem Kontext wird allerdings die Wirksamkeit von Impfstoffen praktisch verneint, d. h. Glaubwürdigkeit und Vertrauen in diese prophylaktische Maßnahme sind nicht gewährleistet. Insgesamt überwiegt aber in der Bundesrepublik die Befindlichkeit einer relativ hohen persönlichen Sicherheit vor Epidemien. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Risikoverarbeitung als Lebensstil (Kausalanalyse eines präventiven Lebensstils) Hygieneverhalten muss, wenn es effektiv sein will, immer integraler Bestandteil eines ganzheitlichen Lebensstils sein. Wer z. B. vom Raucher zum Nichtraucher mutiert, muss seinen Lebensstil insgesamt verändern. Gegenstand einer weiteren Untersuchung war daher die Diagnose des psychologischen Bedingungsgefüges eines präventiven Lebensstils. Die Frage war also, welche Faktoren können das Ausmaß des individuellen präventiven Verhaltens hinreichend erklären und vorhersagen. (Die Komplexität der psychologischen Zusammenhänge eines präventiven Lebensstils ließ sich an Hand von Strukturgleichungsmodellen auch kausal erklären.) Als Indikatoren für die Diagnose der Qualität des persönlichen präventiven Lebensstils fanden Berücksichtigung: das Ausmaß − an sportlichen Aktivitäten − des gesundheitsorientierten Ernährungsverhaltens − der Systematik der Gewichtskontrolle − des Verzichts auf Alkohol und Nikotin − des Impfverhaltens: Der Impfstatus − der Inanspruchnahme ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen − des körper-, wäsche- und haushaltsbezogenen Hygieneverhaltens. Als zentrale Verhaltensdeterminanten mit hohem Erklärungswert für das persönliche Hygieneverhalten (= Qualität des praktizierten präventiven Verhaltens) fanden Berücksichtigung: (1) Die persönlichen Verhaltensnormen zur Vermeidung gesundheitlicher Risikofaktoren: Also die Beantwortung der Frage: Was sind die für mich gültigen Verhaltensregeln – Hygienenormen – in den verschiedenen Verhaltensbereichen? Beispiel: Ich sollte mich täglich eine halbe Stunde sportlich betätigen. (2) Die subjektiven Risikobilanzen in Bezug auf die gesundheitlichen Risikofaktoren: Die Fragen nach den risikospezifischen, persönlichen (subjektiven) Eintretenswahrscheinlichkeiten der psychologischen Kosten- und Nutzenfaktoren der jeweiligen präventiven, also hygienerelevanten Verhaltensbereiche. Zu beantworten war die Frage: Wie hoch schätzt man für sich selbst die Wahrscheinlichkeit ein, dass das Ausmaß an Körpertraining und Sport zu einer Minimierung gesundheitlicher Risiken fühhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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ren und gleichzeitig positive Erlebnisse, Lebensqualität und Lusterleben zu vermitteln vermögen? (3) Die persönliche Qualität der Kausalattribution in Bezug auf persönliche frühere Erkrankungen. Die Frage war in diesem Kontext: Welche möglichen Ursachen – mit welchen subjektiven Eintretenswahrscheinlichkeiten – für die persönlichen bisherigen Erkrankungen angenommen werden. Unsere Hypothese dazu war, dass wünschenswerte Änderungen der Präventionsnormen und damit entsprechende Verhaltensänderungen nur dann stattfinden, wenn Menschen davon überzeugt sind, dass bei früheren Erkrankungen wesentliches persönliches Fehlverhalten ursächlich dafür mitverantwortlich ist. Das präventive Verhalten eines Menschen – so die allgemeine Hypothese - kann also über die einzelnen präventiven Verhaltensweisen hinweg durch die individuellen Normen und die Risikobilanzen bezüglich der verschiedenen präventiven Möglichkeiten hinreichend erklärt und vorhergesagt werden; hinzu kommt im Erklärungsgefüge noch die Qualität der Kausalattribution persönlich durchgemachter früherer Erkrankungen. Die zusammengefassten Psychogramme der verschiedenen Motivations-, Verhaltens- und Lebensstiltypen, wie sie sich aus der Integration der verschiedenen Einzelbefunde auf Basis der durchgeführten Typenbildung – Clusterung – ergaben, machen deutlich, wie unterschiedlich Menschen auf Basis ihrer Persönlichkeit und biografischen Entwicklung mit gesundheitlichen Risikofaktoren umgehen. Typ I (26 %): Systematische aktive Risikobewältigung − Konservative Wertorientierung: Leistung, Fleiß, Ordnung, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein − Optimistische Lebenseinstellung − Hohes Interesse an Gesundheitsinformationen − Vertrauen in die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen − Konsequente Umsetzung von Gesundheitsregeln: − Gesunde Ernährung, Kontrolle des Körpergewichts, Beschränkung des Genussverhaltens, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, hoher Hygienestandard einschließlich Impfstatus

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Typ II (28 %): Risikogleichgültigkeit durch Verhaltensautomatisierung − Geringe Körpersensibilität, wenig Körpergefühl − Eingeschliffene Verhaltensgewohnheiten ohne Veränderungswilligkeit − Kein Vertrauen in die persönliche Kontrollkompetenz − Vorsätze, z. B. Reduzierung des Körpergewichtes, Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen werden nicht in Verhalten umgesetzt − Desinteresse an Gesundheitsinformationen − Kein Vertrauen in die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen − Krankheitsursachen werden external attribuiert − Alkohol- und Zigarettenkonsum als subjektive Problemlöser Typ III (9 %): Optimistische Risikominimierung ohne Risikovermeidung − Optimistische Lebenseinstellung: Geselligkeit, Fröhlichkeit, Unternehmungslust, „Genuss ohne Reue“ − Desinteresse an Gesundheitsinformationen − Zufriedenheit mit dem eigenen Gesundheitsstatus − Keine Sensibilität in Bezug auf die Wahrnehmung, Kontrolle und Vermeidung von Risikofaktoren: Defizit an Gesundheitsbewusstsein − Freude am Essen, Trinken und allem Genussverhalten auf Basis einer subjektiven Minimierung der Eintretenswahrscheinlichkeiten der Risikofaktoren − Kein Vertrauen in die Effektivität ärztlicher Gesundheitskontrollen Typ IV (18 %): Risikowahrnehmung ohne aktive Risikovermeidung − Unbefriedigender subjektiver Gesundheitszustand − Ausgeprägtes Interesse an Gesundheitsinformationen − Trotz Gesundheitswissen und Akzeptanz von Selbstverantwortlichkeit keine Verhaltensumsetzung in den Bereichen Gewichtskontrolle, Körpertraining, Beachtung ärztlicher Ratschläge, Defizite an Urlaub/Entspannung − Essen als Stressbewältigung − Regelmäßige ärztliche Kontrolle als Kompensation eigener Antriebsschwäche im präventiven Alltagsverhalten; wenig positive Zukunftserwartungen − Nur durchschnittliches allgemeines Hygieneverhalten https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Typ V (19 %): Sportliche Risikoverarbeitung ohne Genussverzicht aber mit ärztlicher Kontrolle − Der Lebensstil ist geprägt von Optimismus, Sportlichkeit, Leistungs- und Handlungsorientierung, Lebensfreude, Genuss − Selbstbild: sportlich, aktiv, unternehmungslustig, kritisch, gesundheitsorientiert; hohe Körpersensibilität − Hohe Zufriedenheit mit dem subjektiven Gesundheitszustand − Informationsbedarf für Gesundheitsthemen in Büchern und Zeitschriften − Regelmäßige Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen und Vertrauen in deren Effektivität Als Ergebnis der durchgeführten Kausalanalyse lässt sich festhalten: Das allgemeine Präventionsverhalten wird schwerpunktmäßig von der subjektiven Risikobilanz (Allgemeine Lebenseinstellung, Hygiene, Sport, Ernährung, Drogenverzicht, Vorsorgeuntersuchungen) bestimmt. Als weitere Bedingung ergibt sich das individuelle Normgefüge in Bezug auf das notwendige Präventionsverhalten. Die individuellen Muster der Kausalattribution bei früheren Krankheiten haben schließlich sowohl Einfluss auf das subjektive Normengefüge, wie aber auch – und dies verstärkt – auf die individuelle Risikobilanz. Die Zusammenhänge und das Ursachengefüge präventiven Verhaltens sind also bekannt: Man kennt die subjektiven Größen, die in ihrer jeweiligen Ausprägungsform Prävention begründen oder auch verhindern. Denn das ist auch ein wesentlicher Befund unserer Untersuchungen, dass ein ganzheitlich orientierter Lebensstil zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur von einem begrenzten Teil der Bevölkerung praktiziert wird; es ist also eine wesentliche Aufgabe, zunächst die subjektiven Risikobilanzen der verschiedenen gesundheitlichen Risikobereiche zugunsten der einschlägigen, präventiven Verhaltensweisen zu ändern. Dabei kommt es vor allem auch darauf an, die subjektiv entlastenden, von den Medien immer wieder ohne hinreichende Begründung dramatisierten, externalen Risikofaktoren in ihrem psychologischen Gewicht zu reduzieren. Der eigentliche und zentrale Risikofaktor menschlicher Gesundheit ist der Mensch selbst: Ein Großteil der entscheidenden gesundheitlichen Risikofaktoren liegt im Bereich persönlicher Selbstverantwortlichkeit und nicht in externalen unbegreifbaren und unheimlichen, ängstigenden Umweltgefahren. Prävention im persönlichen Verhalten führt jedenfalls schneller zum Erfolg, als die anderen https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Zeitintervallen unterliegenden Veränderungen subjektiv vermeintlicher und objektiv nachgewiesener ökologischer Risikofaktoren. Die zunehmend irrationale Verarbeitung vermeintlicher aber auch tatsächlicher Risiken entwickelt sich zum zentralen Risiko unserer Wohlstandsgesellschaft. Nimmt man noch andere diagnostizierte psychologische Beschreibungsmerkmale jener Gruppe von Menschen hinzu, die einen wünschenswerten präventiven Lebensstil praktizieren, dann lässt sich zeigen, dass überhaupt nur 45 Prozent der Bevölkerung einen präventiven Lebensstil praktizieren.

Die psychologischen Ursachen des Hygieneund Präventionsverhaltens Eine Psychologie der Hygiene muss sich auch den Fragen nach den Motivationslagen stellen, die Auslösebedingungen für die Entwicklung und Etablierung eines letztlich präventiven Lebensstils sind. Die Frage nach den Faktoren, die präventives Verhalten motivational determinieren, soll anhand einiger exemplarischer repräsentativer Forschungsergebnisse dokumentiert werden. 1. Hygieneverhalten als Erziehungsprozess An wesentlichen Ergebnissen einer repräsentativen internationalen Vergleichsstudie in Deutschland (N = 1016), Frankreich (N = 517) und Spanien (N = 514) zum Thema „Körperhygiene und Sauberkeit“ sind in diesem Kontext festzuhalten: (1) Hygiene- und Sauberkeitsverhalten ist das Ergebnis eines Lernprozesses, der mit dem Toilettentraining im Elternhaus beginnt und an den dann im Laufe der menschlichen Entwicklung eine Vielzahl von Sozialisationsagenten (Kindergarten, Schule, Beruf) beteiligt sind bzw. beteiligt sein sollten. (2) Mütter sind länderübergreifend die zentralen Vermittler und Träger von Sauberkeitsnormen und Sauberkeitserziehung. (3) In zwei Aspekten des Erziehungsverhaltens unterscheiden sich allerdings die Eltern zwischen den drei Ländern signifikant, nämlich einmal in dem Ausmaß eines systematisch kontrollierenden Sauberkeitserziehungsstils und zweitens dem Ausmaß https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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und der Qualität der Sanktionen bei Verstößen gegen die vermittelten Sauberkeitsnormen. Als wesentliche Ergebnisse dieser Forschungen gilt es, Folgendes festzuhalten: Das Ausmaß regelmäßiger und auch strenger elterlicher Kontrollen des Sauberkeitsverhaltens der Kinder, sowie die Kontinuität und Systematik dieses Erziehungsverhaltens ist in Frankreich und Spanien wesentlich weiter verbreitet als in Deutschland. Während in über 50 Prozent der Fälle in deutschen Familien nur eine relativ sporadische Kontrolle stattfindet, berichten in Frankreich und Spanien zwischen 70 und 90 Prozent der Befragten von einem regelmäßigen, d. h. kontinuierlichen Kontrollverhalten. Die länderspezifische Qualität des Kontroll- und Sanktionsverhaltens findet ihren sichtbaren Niederschlag im länderspezifischen Sauberkeits- und Hygieneverhalten in den Bereichen Zahn-, Körper- und Wäschehygiene.2 • Häufigkeit des Zähneputzens: Spanische Frauen putzen sich am häufigsten die Zähne: 42,9 % tun dies zweimal am Tag, 36,6 % nach jeder Mahlzeit; letzteres tun deutsche Frauen nur in 6,9 % und französische nur in 6,5 % der Fälle. Männer zeigen generell die niedrigsten Werte in Bezug auf Zahnhygiene. • Körperhygiene: Waschen des Intimbereichs am Morgen: Der Anteil von Frauen und Männern, der regelmäßig am Morgen Intimhygiene betreibt, ist in Deutschland am kleinsten (Frauen 61,8 %; Männer 44,8 %) und in Frankreich am größten (Frauen 90,5 %; Männer 72,1 %). In Spanien tun dies 75,3 % der Frauen und 44,4 % der Männer. • Wäschewechsel: Der Sauberkeits- und Hygienestatus in Frankreich liegt signifikant über dem von Deutschland; dies wird sichtbar in der höheren Wäschewechselfrequenz u. a. von Slips und Unterhosen, Büstenhaltern, Nachthemden und Schlafanzügen, Strümpfen und Socken, Bettlaken und Kopfkissen. Die Entwicklung eines hygiene- und prophylaxeorientierten Lebensstils beginnt letztlich mit dem Vorbildverhalten der Eltern, der Vermittlung und Begründung einsichtiger, eindeutiger Verhaltensregeln, aber dann im Folgenden auch deren kontinuierlichen systematischen Kontrolle und einem abgestuften System positiver Verstärker wie aber auch angemessener Sanktionen. In der Sicherheit, Konsequenz und Kontrolle ihres Erziehungsverhaltens in den Be-

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Vgl. R. Bergler, Psychologie der Hygiene, Heidelberg 2009.

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reichen Hygiene, Sauberkeit und Körperpflege sind Franzosen und Spanier den Deutschen eindeutig überlegen. 2. Kausalanalyse der Bedingungen des Alkoholkonsums bei Jugendlichen Auch für das gesundheitliche Risikofeld Alkoholkonsum im Jugendalter konnten wir nachweisen, dass die Ursachen sowohl eines angemessenen wie auch eines missbräuchlichen Alkoholkonsums letztlich im Elternhaus begründet sind. Regelmäßiger und damit missbräuchlicher Alkoholkonsum Jugendlicher steht nämlich in einer eindeutigen kausalen Beziehung zu einer konfliktären ElternKind-Beziehung. Diese ist geprägt von einer zunehmenden Distanzierung der Jugendlichen vom Elternhaus und der verstärkten Zuwendung und Bindung an eine überwiegend Alkohol konsumierende Clique.3

Die psychologischen Bedingungen der Umsetzung von Erkenntnissen der Hygiene in alltägliches Hygiene- und Präventionsverhalten Nach der Analyse der Hygienebarrieren wie der Bedingungen und Ursachen, die die Qualität des alltäglichen Hygieneverhaltens begründen, ergibt sich die zusätzliche Frage: Welches sind die Motivatoren und Katalysatoren für die Aufnahme, Speicherung und Umsetzung von Hygienewissen in praktisches, selbstverständliches Handeln? An wesentlichen Rahmenbedingungen – Motivatoren – müssen in diesem Kontext Berücksichtigung finden: 1. Motivation durch Vermittlung des immer aktuellen Hygienewissens Nur Wissen, das einem permanenten Aktualisierungsprozess unterliegt, kann den Neugierigen und Leistungsmotivierten, die an 3

Vgl. S. Poppelreuter/R. Bergler, Ursachen jugendlichen Alkoholkonsums: Die Rolle der Eltern, Regensburg 2007.

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ihrem Nichtwissen „leiden“, stimulieren, noch mehr wissen zu wollen. Wissen, das Menschen anzuregen, zu interessieren oder gar zu stimulieren vermag, ist allerdings von drei Faktoren abhängig, nämlich Konzentration der Informationen auf das für die eigene Lebens- und Berufswelt Wesentliche, Konzentration der Informationsinhalte auf konkret Anschauliches und Verständliches und schließlich Konzentration auf einsichtige Problemlösungen für die Bewältigung von Risikofaktoren im unmittelbaren sozialen und beruflichen Lebensbereich. 2. Motivation durch zielgruppenspezifische Kommunikation: Bedingungen effektiver Kommunikation Kommunikation findet nur dann statt, wenn Verständlichkeit der wechselseitig ausgetauschten Informationen gewährleistet ist .Darüber hinaus müssen aber auch noch die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein: • Kommunikation muss Interessantes, persönlich Bedeutsames, Konkretes in anschaulicher und attraktiver Form vermitteln; nur subjektiv Bedeutsames, Interessantes, auch nur z. B. bei Mitarbeitern von Kliniken Klinikspezifisches vermag Menschen zu motivieren. • Kommunikation muss immer beim Du und niemals beim Ich beginnen, d. h. Art und Inhalt einer „Hygienebotschaft“ müssen in ihrer Formulierung und Gestaltung immer bei dem Stand des Hygienewissens, den Problemen, auch Unsicherheiten und Zweifeln derer ihren Ausgang nehmen, die man zu einem ganz bestimmten Hygieneverhalten motivieren will. Man muss die Zielgruppen, für die Informationen bestimmt sind, erst kennen. Wer seine „Empfänger“ nicht kennt, kann nicht verhaltenswirksam kommunizieren. Kommunikation muss außerdem sympathisch sein. Wissen, das nicht mit positiven Gefühlen aufgeladen ist, wirkt nicht. Die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung aus dem Bereich der Klinikhygiene sollen die Gewinnung von Zielgruppen auf Basis der bei diesem Personenkreis diagnostizierten Erwartungswerte in Bezug auf die zukünftige Entwicklung der Krankenhaushygiene dokumentieren. Erwartungen bestimmen bekanntlich zukünftiges Entscheiden und Verhalten wesentlich mehr als der gegenwärtige Istzustand der eigenen Befindlichkeit. Von diesen Erhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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wartungswerten mit teilweise erheblichen interindividuellen Unterschieden haben zukünftige Informations- und Trainingsstrategien auch in Sachen Hygiene auszugehen. Dabei ist jener generelle Befund aus einer Befragung von Hygienefachkräften im weitesten Sinne von wesentlicher Bedeutung, der besagt – in 38 Prozent aller Fälle – , dass die zunehmende Komplexität und Verschiedenartigkeit der miteinander vernetzten Hygienerisiken zu einer Zunahme des Schwierigkeitsgrades ihrer Bewältigung führen wird; man geht also in einem nicht unerheblichen Umfange davon aus, dass es zukünftig schwieriger werden wird, den in Kliniken erforderlichen Hygienestandard zu erreichen; noch nachdenklicher muss aber stimmen, dass 57 Prozent der Befragten mit einem gewissen resignativen Unterton davon ausgehen, dass es zukünftig nicht zu einer an sich notwendigen Verbesserung des Hygienestandards kommen wird. Fasst man jeweils die Befragten mit ähnlichen Erwartungswerten zusammen, dann gelangt man zu einer Typologie von Zielgruppen. Es ist nun gleichzeitig interessant wie überraschend, dass es selbst bei den Mitarbeitern in einer Klinik, die alle in besonderem Maße mit Hygienefragen konfrontiert sind (Hygiene-Ärzte, HygieneFachkräfte, Pflegepersonal) sehr unterschiedliche Überzeugungen in Bezug auf die zukünftigen Entwicklungen in der Krankenhaushygiene gibt. Die durch Clusteranalysen gewonnenen Typen innerhalb des untersuchten Personenkreises lassen sich nach Größe und Einstellungsmuster wie folgt beschreiben: Typ I (4,6 %): Vertrauen in das zukünftige Qualitätsmanagement trotz steigender Hygienerisiken Dieser Typ kann sich kaum vorstellen, dass Infektionskrankheiten im Krankenhaus zunehmen werden. Sowohl neue Viren und Bakterien wie auch die besondere Sensibilität älterer Menschen gegenüber Krankenhauserregern sind für diesen Personenkreis aber hygienisch zu bewältigende Risikofaktoren; eher werden Infektionen mit steigender Wahrscheinlichkeit ausgelöst durch die häufige Anwendung bestimmter medizinischer Techniken und die zunehmende Resistenz von Keimen gegenüber Medikamenten. Dieser Typ ist allerdings der Meinung, dass sich die hygienischen Bedingungen im Krankenhaus durch verbindliche Qualitätsmaßstäbe und Hygienerichtlinien verbessern lassen.

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Typ II (18,6 %): Erwartung zunehmender Infektionsrisiken durch die medizinische und Medizin-technische Entwicklung Anders als die übrigen Typen fürchten Personen des zweiten Typs zukünftig insbesondere die mit der medizinischen Entwicklung verbundenen neuen Hygienerisiken. Transplantation und andere Techniken bergen ihrer Ansicht nach ebenso große Gefahren in sich wie resistente Keime. Andere Gefährdungen werden weniger wahrgenommen; allerdings hat dieser Personenkreis insgesamt wenig Hoffnung, dass sich die hygienische Situation in den Krankenhäusern optimieren lässt. Typ III (43,8 %): Indifferente Einstellung gegenüber Hygienerisiken Personen des dritten Typs nehmen weder spezifische Gefahren für die Hygiene im Krankenhaus wahr, noch sehen sie Möglichkeiten, die hygienischen Bedingungen dort zu verbessern. Allen genannten Risiken und Chancen stehen sie relativ indifferent, auch resignativ gegenüber; es existieren erhebliche Motivationsdefizite; eine hinreichende Optimierung des Hygienestatus kann von diesem Personenkreis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erwartet werden. Typ IV (13,4 %): Annahme eines hohen Infektionsrisikos bei gleichzeitiger Diagnose eines mangelnden Hygienebewusstseins der Mitarbeiter Personen des vierten Typs befürchten, dass die Infektionsrisiken im Krankenhaus steigen werden. Die Ursachen hierfür sehen sie u. a. in dem Ausbreiten neuer Viren und Bakterien aus dem fernen Ausland und auch dem zunehmenden Alter der Patienten. Gleichzeitig sind sie der Meinung, dass sich das Hygienebewusstsein der Mitarbeiter eines Krankenhauses kaum positiver entwickeln wird. Typ V (12,0 %): Annahme eines hohen Infektionsrisikos durch neue Erreger und das zunehmend höhere Alter der Patienten Personen des fünften Typs sind in ihren Einschätzungen dem vierten Typ sehr ähnlich. Auch sie sehen die größten Gefahren für die Krankenhaushygiene in dem erhöhten Infektionsrisiko bedingt durch exotische Krankheiten etc. Im Vergleich zu den übrigen Typen ist diesen Personen dieses spezifische Risiko am deutlichsten bewusst; hinzu kommen noch die Risiken, wie sie in einem zunehmend älteren Patientengut begründet sind. Es liegt also bei auftrehttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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tenden Infektionen in Kliniken eine externale Ursachenerklärung jenseits der eigenen Verantwortlichkeit vor. Typ VI (7,6 %): Keine Wahrnehmung einer erhöhten Infektionsgefahr Im Gegensatz zu den Typen IV und V nimmt dieser Typ kein erhöhtes Infektionsrisiko wahr. Krankheitserreger aus dem Ausland stellen in seinen Augen keine Gefahr für die Krankenhaushygiene dar. Aber auch durch medizinische Entwicklungen sieht er den Hygienestatus einer Klinik nicht besonders gefährdet. Hygienerisiken steht man also mit relativer Gleichgültigkeit gegenüber. All diese in Kliniken nachweisbaren Typen müssen als qualitativ unterschiedliche Zielgruppen verstanden werden, d. h. aber: Jede dieser Zielgruppen bedarf einer spezifischen Argumentation, wenn wir durch Kommunikation Hygieneverhalten motivierend etablieren bzw. modifizieren wollen. Aber für alle Typen gilt: Die Argumentation muss bei den jeweiligen Einstellungsmustern beginnen und dies auch dann, wenn eine indifferente Einstellung vorliegt. Geschieht dies nicht, dann ist eine Kommunikationswirkung nicht möglich. Nun zu einem weiteren psychologischen Bedingungsgefüge der Umsetzung von Erkenntnissen der Hygiene in alltägliches Hygieneverhalten: 1. Motivation durch Erziehung, Führung und Vorbildautorität Nur zwei empirisch hinreichend untersuchte Tatbestände sollen in diesem Zusammenhang Berücksichtigung finden: Die Vorbildautorität des Elternhauses Es war an anderer Stelle schon aufgezeigt worden, dass das Elternhaus, die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, das Ausmaß der Konstanz z. B. eines Sauberkeitserziehungsstils und das elterliche Vorbildverhalten die entscheidenden Auslöser für die Entwicklung eines auch gesundheitsfördernden Entwicklungsverlaufes sind. Nur Vorbilder mit Sympathiewerten und Vorbildautorität vermögen Kinder zu motivieren. Diese Ergebnisse sind eindeutig und determinieren auch menschliches Hygieneverhalten im Erwachsenenalter. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Die Vorbildautorität in Kliniken Greift man aus unseren Untersuchungen von Pflegepersonal und Ärzten in Kliniken die Ergebnisse der Frage nach den Ursachen von Hygienedefiziten in ihrer Klinik, und hier nur den Faktor „Führungsdefizite, fehlende Kontrolle und Wissensdefizite“ heraus, dann werden praktisch von 50 Prozent des befragten Klinikpersonals immer wieder als zentrale Risikofaktoren von Pflegepersonal aber auch von Ärzten zusammengefasst angeführt • ein in Führungsschwäche begründetes, demotiviertes Mitarbeiterverhalten in Form von: Lustlosigkeit, Schlamperei, Bequemlichkeit, Bewertung der Hygiene als Nebensächlichkeit; • ein ungenügendes hygienerelevantes Vorbildverhalten; • eine Missachtung der Notwendigkeit krankenhaushygienischer Maßnahmen durch Führungskräfte: Hygienefehler als Kavalierdelikt, Hygieneverhalten als übertriebener Sauberkeitsfanatismus; • eine vielfach noch unbefriedigende Regelung der disziplinarisch wirksamen Hygienekompetenz, eine fehlende systematische oder gar regelmäßige Hygienekontrolle, das Ausbleiben dienstrechtlicher Konsequenzen bei fortgesetztem Fehlverhalten u. a. Die Qualität des persönlichen Hygieneverhaltens ist noch nicht Bestandteil der persönlichen Leistungsbeurteilung im Rahmen der Fachkompetenz auch von Ärzten. Als zentrale Ursachen von Hygienedefiziten und Hygienefehlverhalten werden damit die organisatorischen und führungspsychologischen Rahmenbedingungen von Kliniken angesprochen: Hygiene ist eben wesentlich auch eine Führungsaufgabe; es lässt sich formulieren: Der Hygienestatus einer Klinik ist ein sensibles Symptom für die Führungsqualifikation der Leitung. Aus den vorliegenden Befunden ergibt sich, dass eine eindeutige, an konkrete Personen mit hinreichenden Kompetenzen gebundene Verantwortlichkeit für die Organisation und Durchführung von Maßnahmen der Hygiene nur teilweise und dann vielfach auch nur in sehr eingeschränktem Maße bzw. überhaupt nicht existiert. Weitgehend erfolgt noch eine Rückdelegation der Verantwortung auf andere.

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2. Motivation durch Etablierung von normativ verbindlichen Hygienerichtlinien In diesem Kontext stellt sich zentral die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit z. B. in Kliniken, in Alten-, Pflegeheimen und anderen hygienesensiblen Einrichtungen Hygienerichtlinien auch in alltägliches praktisches Verhalten umgesetzt werden. Eigentlich gibt es ja bereits eine Vielzahl von so genannten Hygienerichtlinien. Fragt man aber danach, in welchem Ausmaß solche Richtlinien wahrgenommen, verstanden, gespeichert werden und dann auch noch Eingang in das persönliche berufliche Hygieneverhalten finden, dann ist mit Ausnahme einer Minorität von Fachleuten weitgehend Fehlanzeige angebracht. Dies gilt auch für den Großteil von Klinikmitarbeitern. Hygienerichtlinien werden nur dann Motivationswirkung entfalten, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: • Hygienenormen (-richtlinien, Regeln) müssen konkret und praktikabel (problemlösend) auf prototypische Arbeitsplätze der jeweiligen Klinik (Institution) bezogen sein. Jeder Mitarbeiter muss diese Normen dann aber auch als verbindlich und als persönlich bedeutsam an seinem Arbeitsplatz erleben. Die – bildlich gesprochen – 10 Hygienegebote in der Urologie z. B. werden sich dabei teilweise nicht unwesentlich von denjenigen in der Gynäkologie unterscheiden. Jede Einführung eines neuen Mitarbeiters – unabhängig ob Arzt oder Pflegepersonal – muss dann wohl mit dem exemplarisch begründeten Lernen und Trainieren auch der spezifischen 10 Hygienegebote seiner Klinik (Arbeitseinheit) beginnen. Mit den Hygienenormen müssen jedem Mitarbeiter allerdings auch die Hygieneindikatoren vermittelt werden, anhand derer sein Hygieneverhalten qualitativ eindeutig beurteilt werden kann. Hygieneverhalten muss also Bestandteil des beruflichen Anforderungsprofils und damit ein Kriterium für die Beurteilung und den Leistungsstandard eines Mitarbeiters sein. • Hygienenormen (-richtlinien, Regeln) werden nur dann verhaltenswirksam, wenn sie überschaubar und damit speicherbar sind. Ein Zuviel an Regelung führt nicht zur Motivation, sondern zur Demotivation. Ziel aller Bemühungen müsste es sein, durch ein Minimum kurzer Sätze ein Maximum an Hygienekultur zu etablieren. • Hygienenormen müssen unmittelbar verständlich und auch anhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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schaulich sein. Nicht nur Beipackzettel sind für die Zielgruppen der Patienten der „Gipfel“ der Unverständlichkeit, auch das sehr voluminöse Regelwerk „gültiger“ Hygienerichtlinien bleibt für den Großteil derjenigen, die diese eigentlich verwirklichen sollten, unverständlich. Solange Richtlinien nur unverständlich dokumentiert werden, ist Kommunikation und damit Verhaltenswirksamkeit nicht gewährleistet. • Verhaltensregeln müssen für eine Klinik, eine Praxis, den verbindlichen Charakter von Normen haben, d. h. sie müssen unter Sanktionsdruck geraten, wenn sie in ihrem Gültigkeitsbereich nicht eingehalten werden. • Verhaltensregeln müssen für Mitarbeiter glaubwürdig begründet werden: Man muss wissen, warum und zu welchem Zweck welche Richtlinien sinnvoll und notwendig sind: Nur wer Sinn gibt, motiviert.

Ausblick Unsere Untersuchungen haben versucht, drei zentrale Fragestellungen auf empirischer Basis hinreichend zu beantworten, nämlich: (1) Was sind die wesentlichen psychologischen Barrieren, die dem Erwerb von Hygienewissen im Wege stehen? (2) Was sind die Ursachen gesundheitlichen Fehlverhaltens? (3) Was sind die miteinander in Wechselwirkung stehenden Motivatoren, um Hygiene in alltägliches Hygieneverhalten erfolgreich und mit positiven Stimmungslagen umzusetzen oder anders formuliert: Unter welchen Bedingungen wird Hygienewissen zu Hygieneverhalten? Die zusammenfassende Auswertung und Systematisierung der gewonnenen Befunde ergab eine Reihe zentraler Befunde: (1) Hygiene, Sauberkeit und Gepflegtheit werden als die Grundlagen von Gesundheit, persönlichem Wohlbefinden und menschlicher Lebensqualität erlebt. Es handelt sich dabei schon im persönlichen Selbstverständnis um wechselseitig sich bedingende und von einander abhängige Verhaltensbereiche. (2) Hygiene, Sauberkeit und Gepflegtheit als Basis menschlicher Gesundheit, menschlichen Wohlbefindens und menschlicher Lebensqualität beinhalten immer auch bestimmte Wirkungstendenzen, d. h. durch ein entsprechendes Verhalten sollen und https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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können immer ganz spezifische Effekte erzielt werden. Man geht dabei von folgenden Wirkungstendenzen und Wirkungsqualitäten aus: • Hygiene führt zu Gesundheit – Hygienedefizite zu Krankheit. • Sauberkeit – Reinlichkeit – führt zu persönlichem Wohlbefinden, Unreinlichkeit und Schmutz zu Ekelerlebnissen, Infektionen und damit Krankheiten. • Gepflegtheit führt zu Sympathiewertigkeit und Wohlbefinden, Ungepflegtheit (Hässlichkeit) zu Antipathie, sozialer Isolierung und damit zu psychosomatischen Krankheitsrisiken. Die Beurteilungs-, Erlebnis- und Erfahrungswelten von Hygiene, Sauberkeit und Gepflegtheit repräsentieren letztlich die Grundlagen einer positiven präventiven Motivation. Eine nur „rationale“ Hygiene kann in einer Welt, die stark von Gefühlserlebnissen bestimmt ist, immer nur eine begrenzte Wirksamkeit ausüben. Solange Bedrohungsszenarien im Mittelpunkt auch ärztlichen Handelns stehen, werden die Belohnungswelten eines präventiven Lebensstils niemals sichtbar und schon gar nicht motivational wirksam. Hygiene hat sehr viel auch mit Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensqualität, Attraktivität, Glück, „wellness“ u. a. Erlebnislagen zu tun. Hier sind kreative „Verpackungen“ für ein verstärkt handlungsrelevantes Hygienewissen gefordert. Hygiene ist motivierend nur wirksam, wenn sie in der motivierenden Spannung zwischen Pflicht und Neigung positioniert ist. Man sollte erkennen, dass nur ein Wissen, das mit positiven Gefühlen, Erlebnissen, Erfahrungen auch in seiner Umsetzung mit Freude und Erfolg verbunden ist, wirklich behalten und auch ständig erneuert wird. Alles, was wir mit gleich bleibender Neugierde, mit Engagement an Wissen aufnehmen, d. h. aber alles, was uns Freude macht, werden wir auch in unserem Gedächtnis so speichern, dass wir es bei gegebenem Anlass, in konkreten Situationen, zur Anwendung bringen; unter solchen Bedingungen wird sich dann auch vielleicht mit etwas zeitlicher Verzögerung das persönliche Erfolgserlebnis mit Freude und Zufriedenheit einstellen. Man sollte dabei allerdings auch wissen, dass Lebenssinn und Lebensqualität das Ergebnis eines lebenslangen Lernprozesses ist. Nur wer lebenslang lernt, wird auch lebenslang genießen können. Aber auch diese Erkenntnisse, dieses Wissen der wissenschaftlichen Psychologie, wird nur zum tagtäglichen Ereignis, wenn es tagtäglich immer von neuem gewollt wird. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Psychologie der Hygiene

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Literatur R. Bergler, Psychologie der Hygiene, Heidelberg 2009. S. Poppelreuter/R. Bergler, Ursachen jugendlichen Alkoholkonsums: Die Rolle der Eltern, Regensburg 2007. H.-G. Sonntag, H. Flassak, W. Throm, „Hygienische Aspekte bei der Pflege von Homecare-Patienten mit AIDS, chronischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen“, in: Zbl Hyg, S. 26-44, S. 29.

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Bettina Lutze, Iris F. Chaberny, Karolin Graf, Christian Krauth, Karin Lange, Laura Schwadtke, Jona T. Stahmeyer, Thomas von Lengerke

Risiko „im Griff“? Ergebnisse des PSYGIENE-Projekts zur Motivationslage bezüglich der eigenen hygienischen Händedesinfektion bei Ärzten und Pflegekräften der Intensivmedizin

Einleitung Professionelles Handeln beginnt mit der möglichst evidenzbasierten Überzeugung, dass das, was man tut, im Sinne der eigenen Ziele wirkt. Dies gilt auch für die hygienische Händedesinfektion im Klinikalltag, die zur Prävention von Krankenhausinfektionen dienen soll. Daher sind Interventionen zur Förderung der Händehygienecompliance, deren Adressaten nicht oder nicht hinreichend davon überzeugt sind, dass diese hygienische Maßnahme infektionspräventiv wirkt, zumindest langfristig zum Scheitern verurteilt. Dementsprechend ist es wichtig zu wissen, wie stark Ärzte und Gesundheits- und Krankenpfleger von der Effektivität ihrer eigenen Händehygiene überzeugt sind. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie sich solche Überzeugungen auf die entsprechende Motivation zur Compliance auswirken. Diese Herangehensweise liegt deshalb nahe, weil als ein Grund für die unzureichende Evidenz zur Förderung professioneller Händedesinfektion im Gesundheitswesen die mangelhafte Nutzung psychologischer Verhaltenstheorien identifiziert worden ist.1,2 Das Vorhandensein besonders starker Motivationslagen ist ebenfalls von Bedeutung, weil verhaltensbezogene Absichten (Intentionen) umso stärker die entsprechenden Verhaltensweisen vorhersagen, desto höher die subjektive Sicherheit ist, mit der 1 2

D. J. Gould, D. Moralejo, N. Drey, J. H. Chudleigh, „Interventions to improve hand hygiene compliance in patient care”, in: Cochrane Database Syst Rev, (9)/2010, CD005186. R. Edwards, E. Charani, N. Sevdalis, B. Alexandrou, E. Sibley, D. Mullett, H. P. Loveday, L. N. Drumright, A. Holmes, „Optimisation of infection prevention and control in acute health care by use of behaviour change: a systematic review“, in: Lancet Infect Dis, 12(4)/2012, S. 318-329.

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sie angegeben werden.3 Zugleich sollte angesichts der entsprechenden Leitlinien4,5 – einschließlich der dort dokumentierten Evidenz – im besten Falle von einer ausgeprägten Entschlossenheit seitens des medizinischen Personals auszugehen sein.

Methode Um auf die o. g. Fragen Antworten zu geben, wurden im von Bundesministerium für Gesundheit geförderten Forschungsprojekt PSYGIENE („VerhaltensPSYchologisch optimierte Förderung der hyGIENischen HändedEsinfektion“; Projektlogo s. Abb. 1; Förderkennzeichen: INFEKT-019) Ärzte und Pflegekräfte auf den zehn Intensiv- und zwei Knochenmarktransplantationsstationen der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) mittels mehrerer Module eines Selbstausfüllfragebogens („Intensive Händehygiene“) befragt. Dieser Fragebogen war im Rahmen des Projekts in der Zeit vom 26.11.12 bis 25.01.13 an alle ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter dieser Stationen verteilt worden. Insgesamt nahmen 307 Ärzte und 348 Pflegekräfte an der Befragung teil. Damit belief sich die Teilnahmerate insgesamt auf 67 % und ist – mit 71 % im ärztlichen und 63 % im pflegerischen Bereich – angesichts früherer Studien, in denen entsprechende Teilnahmeraten z. T. deutlich unter 60 % lagen, als Erfolg zu bewerten.6 Die Motivation zur hygienischen Händedesinfektion wurde gemäß medizinpsychologischer Erhebungsstandards als Intention definiert, sich vor und nach jeder infektionsgefährdenden Tätigkeit die Hände zu desinfizieren.7 Die Überzeugung, durch hygienische Händedesinfektion zur Prävention nosokomialer Infektionen beizu3 4 5 6 7

C. Abraham, P. Sheeran, „Acting on intentions: The role of anticipated regret“, in: British Journal of Social Psychology, 42/2003, S. 495-511. Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert KochInstitut, „Händehygiene“, in: Bundesgesundheitsblatt, 43(3)/2000, S. 230-233. WHO. „WHO Guidelines on Hand Hygiene in Health Care”, in Geneva: WHO, 2009. Y. I. Cho, T. P. Johnson, J. B. Vangeest, „Enhancing surveys of health care pro­ fessionals: a meta-analysis of techniques to improve response”, in: Eval Health Prof, 36(3)/2013, S. 382-407. R. Schwarzer, S. Lippke, A. Luszczynska, „Mechanisms of health behavior change in persons with chronic illness or disability: the Health Action Process Approach (HAPA)“, in: Rehabil Psychol, 56(3)/2011, S. 161-170.

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Abb. 1: Logo des PSYGIENE-Projektes.

tragen, wurde durch zwei Indikatoren bestimmt. Zum Einen gaben die Teilnehmer die Stärke ihrer Überzeugung an, durch Händedesinfektion vor und nach infektionsgefährdenden Tätigkeiten zur Infektionsprävention beizutragen (erkrankungsbezogene Ergebniserwartung). Zum Anderen wurde die mit der Händedesinfektion subjektiv assoziierte Risikoreduktion einer Übertragung von Krankheitserregern erfasst, und zwar als Differenz zwischen der selbsteingeschätzten Übertragungswahrscheinlichkeit unter der Bedingung „ohne Händedesinfektion“ und der entsprechenden Wahrscheinlichkeit unter der Bedingung „mit Händedesinfektion“. Alle genannten Angaben wurden mittels siebenstufiger Likert-Skalen vorgenommen.

Ergebnisse Wie Abbildung 2 veranschaulicht, gaben über drei Viertel der befragten Ärzte und Pflegekräfte eine maximale Intentionsstärke an, und jeweils etwa 20 % noch eine hohe Motivation („6“ auf der o. g. Skala von „1“ bis „7“). Ähnliches gilt für die Überzeugung, mittels der eigenen hygienischen Händedesinfektion zur Prävention von Krankenhausinfektionen beizutragen. Wie Abbildung 3(a) zeigt, gaben hier knapp 70 % der Ärzte und über 80 % der Pflegekräfte an, dass dieses voll und ganz zutreffe, und auch hier setzte die Mehrheit der übrigen Befragten ihr Kreuz beim zweithöchsten Skalenpunkt „6“. Ein etwas anderes Bild ergibt sich bei dem Indikator, der für die mit der eigenen Händedesinfektion subjektiv assoziierte Ri-

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sikoreduktion einer Übertragung von Krankheitserregern gebildet worden war. Wie in Abbildung 3(b) dargestellt, gaben 16 % der befragten Ärzte und 9 % der Pflegekräfte dieselbe Wahrscheinlichkeit einer Erregerübertragung für den Fall ohne eine Händedesinfektion und für den Fall mit Händedesinfektion an. In den Angaben dieser Befragten finden sich also keine Anhaltspunkte dafür, dass sie mit ihrer hygienischen Händedesinfektion eine entsprechende Risikoreduktion bezüglich einer Erregerübertragung assoziierten. Auf der anderen Seite verbanden 9 % der Ärzte und 18 % der Pflegekräfte eine hohe bis maximale Risikoreduktion (Differenzwerte „5“ und „6“) mit ihrer eigenen Händedesinfektion, gaben also im Vergleich zur Situation ohne Desinfektion eine deutlich geringere Übertragungswahrscheinlichkeit für den Fall an, dass sie sich die Hände desinfizieren. Schließlich ergab sich sowohl bei den Ärzten als auch bei den Pflegekräften für die Mehrheit der Befragten eine subjektive Risikoreduktion im mittleren Bereich der Differenzwertskala. Insgesamt lässt sich im Hinblick auf die Überzeugungen der Befragten festhalten, dass im Allgemeinen der präventive Nutzen dieser Maßnahme gesehen wird, zugleich jedoch unterschiedliche Wahrnehmungen existieren, in welchem Ausmaß die eigene Händedesinfektion die Transmission pathogener Infektionserreger tatsächlich verhindert. Zuletzt sollte geklärt werden, inwieweit maximale Motivation, hygienische Händedesinfektion zu praktizieren, von den beschriebenen Indikatoren der Überzeugung abhängt, dass die eigene Händehygiene auch tatsächlich infektionspräventiv wirkt. Hierzu wurde die Intentionsvariable zunächst dichotomisiert, indem alle die Befragten zusammengefasst wurden, die im Fragebogen eine „ganz starke“ Absicht nicht angegeben hatten. Die beiden Indikatoren der präventiven Überzeugung wurden zunächst in jeweils vier Gruppen eingeteilt, wobei jeweils die Befragten, die laut ihrer Angaben von keinerlei präventivem Effekt der Händedesinfektion ausgingen, als Referenzgruppe zusammengefasst werden sollten. Während dies für die subjektive Risikoreduktion bezüglich der Erregerübertragung ohne Weiteres möglich war, mussten für die erkrankungsbezogene Ergebniswartung aufgrund ihrer schiefen Verteilung (vgl. Abb. 3(a)) als Referenzgruppe die Skalenpunkte „1“ bis „5“ zusammengefasst werden, um hinreichende Stichprobengrößen zu erreichen. Dementsprechend konnten bei diesem Indikator nur drei Gruppen kontrastiert werden (keine bis mittlere vs. hohe vs. maximale Erwartung). Entsprechend wurden bei dem Indikator für die https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Abb. 2: Deskriptive Verteilung der Absicht (Intention) bezüglich hygienischer Händedesinfektion.

subjektive Reduktion des Übertragungsrisikos die beiden mittleren Gruppen zusammengefasst, um ebenfalls drei Gruppen zu erhalten. Dies war deshalb ohne wesentlichen Informationsverlust möglich, weil diese sich im Hinblick auf den Outcome (also das Vorliegen einer maximalen Intentionsstärke) praktisch nicht unterschieden. In Abbildung 4 sind die Ergebnisse dieser Analysen zu sehen. Wie Abbildung 4(a) zeigt, ist eine maximal hohe Ergebniserwartung (also volle Zustimmung zur Aussage, dass Händedesinfektion infektionspräventiv wirkt) auch mit den höchsten Anteilen an Befragten mit maximaler Intentionsstärke assoziiert: 85 % bei den Ärzten und 83 % bei den Pflegekräften. Diese Anteile unterscheiden sich auch statistisch signifikant von der jeweiligen Referenzgruppe (Ärzte: 39 % vs. 85 %, p < .001; Pflegekräfte: 44 % vs. 83 %, p = .001), während dies für die Gruppen mit hoher Überzeugungsstärke trotz Prozentwertunterschieden von um die 20 % nur bei Ärzten tendenziell der Fall ist. Auffällig ist allerdings, dass die Anteile von Befragten mit maximaler Motivationsstärke in den Gruppen mit relativ geringer Ergebniserwartung mit 39 % bzw. 44 % deutlich geringer sind, und zwar auch als die entsprechenden Anteile von 75 % bzw. 78 % in der Gesamtgruppe (vgl. Abb. 2). Ein diesbezüglich anderes Bild ergibt sich für die subjektive Reduktion einer Erhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Abb. 3: Deskriptive Verteilungen der (a) Überzeugung, durch hygienische Händedesinfektion zur Infektionsprävention beizutragen (erkrankungsbezogene Ergebniserwartung), und (b) der subjektiven Risikoreduktion bezüglich der Übertragung von Erregern.

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(a)

(b) Anteile der Befragten mit maximaler Intentionsstärke (in %) nach (a) der Überzeugung, durch hygienische Händedesinfektion zur Infektionsprävention beizutragen (Ergebniserwartung), und (b) der subjektiven Risikoreduktion bezüglich der Übertragung von Erregern.

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regerübertragung, wie Abb. 4(b) veranschaulicht. Hier gibt es in den Gruppen, die mit der eigenen Händehygiene keine oder allenfalls eine mittlere Risikoreduktion für die Transmission von Erregern assoziieren, doch noch relativ hohe Anteile von Befragten mit maximaler Motivationsstärke. Dazu zählen die 71 % der Ärzte, die keine Risikoreduktion angaben. Zugleich zeigt sich, dass eine sehr starke wahrgenommene Risikoreduktion wiederum vor allem bei Ärzten praktisch sicher mit maximaler Motivation einhergeht, compliant zu sein – mit einem Anteil von 96 %. Auch im pflegerischen Bereich ist dieser Anteil mit 91 % besonders hoch (Ärzte: 71 % vs. 96 %, p = .029; Pflegekräfte: 67 % vs. 91 %, p = .007).

Fazit und Ausblick Diese Analysen des PSYGIENE-Projekts zu den Zusammenhängen zwischen präventiven Überzeugungen und der Motivation zur Händehygiene von Ärzten und Pflegekräften lassen sich wie folgt zusammenfassen. Zum Einen legen sie nahe, dass die Förderung einer maximalen Motivationsstärke besonders durch einen Fokus auf die Frage gelingen könnte, wie Händedesinfektion die Übertragung von Infektionserregen minimieren kann. Zum anderen könnte ein allgemeiner Fokus auf den Beitrag der Händedesinfektion zur Prävention nosokomialer Infektionen vermeiden, dass diese starke Motivationslage fehlt. Diese Erkenntnisse könnten sich für nationale Kampagnen wie die „AKTION Saubere Hände“ als relevant erweisen.8 Grund hierfür ist das vielversprechende Maßnahmenbündel, welches auch weiterhin Interventionen wie Schulungen, Erinnerungssysteme und Feedback enthält.9 Die bei Pflegekräften häufigere Überzeugung der Effektivität ist dabei mit den höheren Complianceraten konsistent, die für diese Berufsgruppe berichtet werden.10 Die differenziellen 8 C. Reichardt, M. Eberlein-Gonska, M. Schrappe, P. Gastmeier, „Clean hands cam­paign: no chance for healthcare associated infections“, in: Anasthesiol In­ tensivmed Notfallmed Schmerzther, 43(10)/2008, S. 678-679. 9 M. L. Schweizer, H.S. Reisinger, M. Ohl, M. B. Formanek, A. Blevins, M. A. Ward, E. N. Perencevich, „Searching for an optimal hand hygiene bundle: a metaanalysis”, in: Clin Infect Dis, 58(2)/2014, S. 248-259. 10 V. Erasmus, T. J. Daha, H. Brug, J. H. Richardus, M. D. Behrendt, M. C. Vos, E. F. van Beeck, „Systematic review of studies on compliance with hand hygiene

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Zusammenhänge dieser Überzeugung und der Einstellung, durch Händedesinfektion allgemein zur Infektionsprävention beizutragen, fanden sich in den hier vorgestellten Analysen allerdings bis auf kleine Unterschiede in beiden Berufsgruppen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass selbst maximale Motivationsstärke noch keine Garantie dafür ist, dass sie auch in Händedesinfektionsverhalten und letztlich eine routinierte Praxis umgesetzt wird. Umsetzungsprobleme wie verbesserungsfähige Workflows, Wissensdefizite bezüglich leitliniengerechter Händedesinfektion und die allgegenwärtige Herausforderung, die Einhaltung von Hygienestandards aufrechtzuerhalten und sie damit nachhaltig zu gestalten, sind nicht zu vernachlässigen. Dies zeigt sich auch in einer Auswertung der Compliancebeobachtungen auf den Intensivund Knochenmarktransplantationsstationen der MHH zwischen 2008 und 2013.11 Im Kern zeigen diese Daten, dass die Compliance nach zwischenzeitlichen Steigerungen bis auf 60-70 % wieder auf das Ausgangsniveau von etwa 50 % zurückgegangen ist. Daher sind im PSYGIENE-Projekt derzeit die Modellierung und Förderung des Händehygieneverhaltens in Bearbeitung. Die in den hier berichteten Analysen festgestellte, insgesamt positive Motivationslage bezüglich der hygienischen Händedesinfektion sowie die ausgeprägte Überzeugung, durch sie zur Prävention von Krankenhausinfektionen beizutragen, stellen hierfür einen vielversprechenden Ausgangspunkt dar.

Literatur C. Abraham, P. Sheeran, „Acting on intentions: The role of anticipated regret“, in: British Journal of Social Psychology, 42/2003, S. 495-511. D. J. Gould, D. Moralejo, N. Drey, J. H. Chudleigh, „Interventions to improve hand hygiene compliance in patient care”, in: Cochrane Database Syst Rev, (9)/2010, CD005186. R. Edwards, E. Charani, N. Sevdalis, B. Alexandrou, E. Sibley, D. Mullett, H. P. Loveday, L. N. Drumright, A. Holmes, „Optimisation of infection prevention and guidelines in hospital care”, in: Infect Control Hosp Epidemiol, 31(3)/2010, S. 283-294. 11 L. Schwadtke, K. Graf, B. Lutze, T. von Lengerke, I. F. Chaberny, „Hygienische Händedesinfektion – Leitlinien-Compliance auf Intensivstationen eines Univer­ sitätsklinikums mit chirurgischem Schwerpunkt“, in: Dtsch Med Wochenschr, 139(25/26)/2014, S. 1341-1345.

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control in acute health care by use of behaviour change: a systematic review” in: Lancet Infect Dis, 12(4)/2012, S. 318-329. V. Erasmus, T. J. Daha, H. Brug, J. H. Richardus, M. D. Behrendt, M. C. Vos, E. F. van Beeck, „Systematic review of studies on compliance with hand hygiene guidelines in hospital care”, in: Infect Control Hosp Epidemiol, 31(3)/2010, S. 283-294. Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert KochInstitut, „Händehygiene“, in: Bundesgesundheitsblatt, 43(3)/2000, S. 230-233. C. Reichardt, M. Eberlein-Gonska, M. Schrappe, P. Gastmeier, „Clean hands campaign: no chance for healthcare associated infections“, in: Anasthesiol Intensiv­ med Notfallmed Schmerzther, 43(10)/2008, S. 678-679. L. Schwadtke, K. Graf, B. Lutze, T. von Lengerke, I. F. Chaberny, „Hygienische Händedesinfektion – Leitlinien-Compliance auf Intensivstationen eines Universitätsklinikums mit chirurgischem Schwerpunkt“, in: Dtsch Med Wochenschr, 139(25/26)/2014, S. 1341-1345. R. Schwarzer, S. Lippke, A. Luszczynska, „Mechanisms of health behavior change in persons with chronic illness or disability: the Health Action Process Approach (HAPA)“, in: Rehabil Psychol, 56(3)/2011, S. 161-170. M. L. Schweizer, H.S. Reisinger, M. Ohl, M. B. Formanek, A. Blevins, M. A. Ward, E. N. Perencevich, „Searching for an optimal hand hygiene bundle: a meta-analysis”, in: Clin Infect Dis, 58(2)/2014, S. 248-259. WHO, „WHO Guidelines on Hand Hygiene in Health Care”, in Geneva: WHO, 2009. Y. I. Cho, T. P. Johnson, J. B. Vangeest, „Enhancing surveys of health care professionals: a meta-analysis of techniques to improve response”, in: Eval Health Prof, 36(3)/2013, S. 382-407.

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Barbara Kröning und Thomas von Lengerke

Die Beteiligung von Patienten an der Prävention nosokomialer Infektionen Große Potenziale und manche Schwierigkeiten bei der direkten Ansprache des medizinischen Personals auf seine Händehygiene durch Patienten

Einleitung Nosokomiale Infektionen sind Infektionen, die Patienten während einer ambulanten oder stationären medizinischen Maßnahme erlangen. Das Vorhandensein von Erregern nosokomialer Infektionen muss dabei in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme stehen.1 Nosokomiale Infektionen belasten nicht nur durch die Verlängerung der Verweildauer um ca. vier Tage das Gesundheitssystem2, sondern sie gelten auch zu einem Drittel als vermeidbar3 und gefährden die ohnehin schon angegriffene Gesundheit der Patienten4. Dabei sind die meisten Erreger, die nosokomiale Infektionen auslösen können, fakultativ pathogen.5 Dies bedeutet, dass sie zwar regelmäßig verschiedene Körperregionen besiedeln, jedoch erst unter bestimmten Umständen, beispielsweise durch die Übertragung der Erreger über die Hände oder durch invasive Methoden in zuvor 1 2 3 4

5

Vgl. C. Geffers, H. Rüden, P. Gastmeier, „Heft 8 – Nosokomiale Infektionen“, in: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (8)/2002, S. 1-18. Vgl. C. Reichardt, M. Eberlein-Gonska, M. Schrappe, P. Gastmeier, „Clean hands campaign: no chance for healthcare associated infections“, in: Anasthesiol In­ tensivmed Notfallmed Schmerzther 43(10)/2008, S. 678-679. Arbeitskreis „Krankenhaus- und Praxishygiene“ der AWMF „Händedesinfektion und Händehygiene – Leitlinien zur Hygiene in Klinik und Praxis“, in: Hyg Med 33(7/8)/2008, S. 300-313. Vgl. V. Singbeil-Grischkat, „Nosokomiale Infektion und Infektionskette“, in: R. Klieschies, U. Panther, V. Singbeil-Grieschkat (Hrsg.), Hygiene und medizinische Mikrobiologie: Lehrbuch für Pflegeberufe, 5. Aufl., Stuttgart: Schattauer, 2008, S. 154-161. Vgl. P. Gastmeier „Nosokomiale Infektionen“, in: H. Hahn, S. Kaufmann, T. Schulz, S. Suerbaum (Hrsg.), Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. 6. Aufl., Heidelberg 2009, S. 848-851.

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nicht besiedelte Regionen, eine Infektion hervorrufen. Bei Intensivpatienten in Deutschland sind die wichtigsten Erreger Staphylokokkus aureus, Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa und Enterokokken.6 Am häufigsten entstehen im Rahmen einer nosokomialen Infektion Atemwegsinfektionen, Sepsien oder Harnwegsinfektionen, häufig ist mit Multiresistenzen zu rechnen.7 Eine Multiresistenz bedeutet, dass die Erreger nicht durch die vorhandenen Medikamente angegriffen werden. Die wichtigste und evidenzbasierte Methode, um nosokomiale Infektionen zu vermeiden, ist die Händehygiene des medizinischen Personals.8,9 Trotzdem ist die Händehygienecompliance in vielen Ländern defizitär10, beispielsweise in Deutschland, wo die Compliance durchschnittlich bei 50 % liegt.11 Die bisherigen Interventionsstrategien zur Verbesserung der Händehygienecompliance sind meist nur kurz- bis mittelfristig erfolgreich.12,13,14 Dies weist darauf hin, dass innovative Ansätze notwendig sind, um eine hohe Compliancerate unter medizinischem Personal zu initiieren und langfristig aufrechtzuerhalten.

6 7 8 9 10

11 12 13 14

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. AWMF 2008, S. 300-313. Vgl. WHO, WHO Guidelines on Hand Hygiene in health Care, Geneva: WHO, 2009. Vgl. V. Erasmus, T. J. Daha, H. Brug, J. H. Richardus, M. D. Behrendt, M. C. Vos, et al., „Systematic Review of Studies on Compliance with Hand Hygiene Guidelines in Hospital Care“, in: Infect Control Hosp Epidemiol, 31(3)/2010, S. 283-294. Vgl. G. Kampf, H. Löffler, P. Gastmeier, „Händehygiene zur Prävention noso­ komialer Infektionen“, in: Dtsch Arztebl Int, 106(40)/2009, S. 649-655. M. L. Ling, K. B. How, „Impact of a hospital-wide hand hygiene promotion stra­ tegy on healthcare-associated infections“, in: Antimicrob Resist Infect Control, 1(1)/ 2012, S. 13. D. J. Gould, D. Moralejo, N. Drey, J. H. Chudleigh, „Interventions to improve hand hygiene compliance in patient care“, in: Cochrane Database Syst Rev, (9)/2010, CD005186. doi(9):CD005186. L. Schwadtke, K. Graf, B. Lutze, T. von Lengerke, I. F. Chaberny, „Hygienische Händedesinfektion – Leitlinien-Compliance auf Intensivstationen eines Univer­ sitätsklinikums mit chirurgischem Schwerpunkt“, in: Dtsch Med Wochenschr, 139(25/26)/2014, S. 1341-1345.

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Die Beteiligung von Patienten an der Prävention

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Innovative Ansätze zur Verbesserung der Händehygienecompliance Die Händehygienecompliance der Versorger kann sowohl in sozialen als auch psychischen Kontexten betrachtet werden. Im sozialen Kontext wird das medizinische Personal – die Versorger – im Hinblick auf sein Händehygieneverhalten auf drei Ebenen beeinflusst: vertikal durch Führungskräfte und Patienten bzw. deren Angehörige, und horizontal durch weitere Rollenmodelle und Kollegen (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Versorger im sozialen Kontext.

Multimodale Interventionen, die durch engagiertes Führungsverhalten und/oder das Verhalten von Rollenmodellen unterstützt werden, sind in der Lage, die Händehygienecompliance des medizinischen Personals zu verbessern.15 Als weiteren, innovativen Ansatz zur Verbesserung der Händehygienecompliance nennt die World Health Organization (WHO) die aktive Beteiligung von Patienten im Rahmen von Patientensicherheitsinitiativen und in diesem Zusammenhang als eine zentrale Maßnahme die (direkte oder indirekte) Ansprache von Themen der Händehygiene16, beispiels-

15 B. Kröning, Führungsverhalten und Händehygiene: Beeinflussen Führungskräfte und Rollenmodelle die Händehygienecompliance bei medizinischem Personal?, Hamburg, Diplomica-Verlag, 2014. 16 WHO 2009.

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weise dadurch, dass Patienten ihre Versorger an deren Händedesinfektion erinnern.17,18,19

Patientenbeteiligung in der Prävention nosokomialer Infektionen Bisherige Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Patienten prinzipiell beteiligt und zur aktiven Partizipation befähigt werden möchten20, und dass diese Partizipationsansätze präventiv wirksam sein können.21 Auch gaben in einer Studie von Longtin et al. 74 % des medizinischen Personals die Überzeugung an, dass Patienten dabei helfen können, nosokomiale Infektionen zu vermeiden (2012).22 In einer weiteren Untersuchung zeigten vier von fünf Patienten die Bereitschaft, das medizinische Personal auf deren Händehygiene anzusprechen, wenn ihnen die Wichtigkeit durch das Personal erklärt werden würde.23 Allerdings zeigt sich insgesamt eine große Variabilität in der Motivationslage, sich in diesem Sinne an infektionspräventiven Maßnahmen zu beteiligen. So variiert die Rate der

17 A. Garcia-Williams, K. Brinsley-Rainisch, S. Schillie, R. Sinkowitz-Cochran, „To ask or not to ask?: The results of a formative assessment of a video empowering patients to ask their health care providers to perform hand hygiene“, in: J Patient Saf , 6(2)/2010, S. 80-85. 18 V. Lent, E. C. Eckstein, A. S. Cameron, R. Budavich, B. C. Eckstein, C. J. Donskey, „Evaluation of patient participation in a patient empowerment initiative to improve hand hygiene practices in a Veterans Affairs medical center“, in: Am J Infect Control, 37(2)/2009, S. 117-120. 19 Y. Longtin, H. Sax, B. Allegranzi, S. Hugonnet, D. Pittet, „Patients’ beliefs and perceptions of their participation to increase healthcare worker compliance with hand hygiene“, in: Infect Control Hosp Epidemiol, 30(9)/2009, S. 830-839. 20 M. McGuckin, J. Govednik, „Patient empowerment and hand hygiene 1997– 2012“, in: J Hosp Infect, 84(3)/2013, S. 191-199. 21 M. McGuckin, A. Taylor, V. Martin, L. Porten, R. Salcido, „Evaluation of a patient education model for increasing hand hygiene compliance in an inpatient rehabilitation unit“, in: Am J Infect Control 32(4)/2004, S. 235-238. 22 Y. Longtin, N. Farquet, A. Gayet-Ageron, H. Sax, D. Pittet, „Caregivers’ per­ ceptions of patients as reminders to improve hand hygiene“, in: Arch Intern Med, 172(19)/2012, S. 1516-1517. 23 M. McGuckin, R. Waterman, A. Shubin, „Consumer attitudes about health careacquired infections and hand hygiene“, in: Am J Med Qual, 21(5)/2006, S. 342346.

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Die Beteiligung von Patienten an der Prävention

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Patienten, die eine solche aktive Rolle übernehmen möchten, zwischen 5 % und 80 %.24 Bezüglich der soziodemografischen Determinanten stellte sich in Studien von Longtin et al. (2009) und Reid et al. (2012) heraus, dass jüngere Patienten motivierter sind, das medizinische Personal auf die Händehygiene anzusprechen.25,26 Da ältere Patienten allerdings ein höheres Risiko haben, eine nosokomiale Infektion zu erwerben,27,28 und sich zugleich in der medizinischen Behandlung eher passiv verhalten,29 besteht in dieser Gruppe eine Diskrepanz zwischen dem nosokomialen Infektionsrisiko und der Beteiligung an präventiven Maßnahmen.

Psychologische Modelle präventiven Verhaltens Zu den psychischen Faktoren, die die Händehygienecompliance des medizinischen Personals beeinflussen, existieren bereits unterschiedliche psychologische Modelle, die zur Erklärung und Vorhersage des Verhaltens herangezogen werden können.30 Dazu gehören das Modell gesundheitlicher Überzeugungen (Health Belief Model),31 die Theorie des geplanten Verhaltens,32 das Transtheore-

24 McGuckin et al. 2013, S. 191-199. 25 Longtin et al. 2009, S. 830-839. 26 N. Reid, J. Moghaddas, M. Loftus, R. L. Stuart, D. Kotsanas, C. Scott, C. Dendle, „Can we expect patients to question health care workers’ hand hygiene com­ pliance?“, in: Infect Control Hosp Epidemiol, 33(5)/2012, S. 531-532. 27 Geffers et al. 2002, S. 1-18. 28 K. Kaier, S. Moog, „Economic consequences of the demography of MRSA patients and the impact of broad-spectrum antimicrobialsÅ, in: Appl Health Econ Health Policy, 10(4)/2012, S. 227-234. 29 C. Reichardt, P. Gastmeier, „Patient Empowerment“, in: Radiopraxis, 6(4)/2013, S. 223-230. 30 S. Lippke, B. Renneberg, „Theorien und Modelle des Gesundheitsverhaltens“, in: Springer-Lehrbuch (Hrsg.), Gesundheitspsychologie, 1. Aufl., Heidelberg: Sprin­ ger Medizin Verlag, 2006, S. 35-60. 31 V. L. Champion, C. Sugg Skinner, „The Health Belief Model“, in: K. Glanz, B. Rimer, K. Viswanath (Hrsg.), Health behavior and health education: theory, research, and practice, 4. Aufl., San Francisco: Jossey-Bass, 2008, S. 45-65. 32 I. Ajzen, „The theory of planned behavior“, in: Organ Behav Hum Decis Process, 50/1991, S. 179-211.

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tische Modell33 und der Health Action Process Approach, das sogenannte HAPA-Modell34. In der Literatur findet sich zur Intention der Patienten, medizinisches Personal auf deren Händehygiene anzusprechen, eine Studie von Garcia-Williams et al. (2010).35 Diese nutzten das Health Belief Model als Struktur, um Überzeugungen und Einstellungen des medizinischen Personals und medizinischer Laien zum Händehygieneverhalten zu erforschen. Sie unterschieden drei Themen: Vorstellungen bezüglich nosokomialer Infektionen und Händehygiene, die Wahrscheinlichkeit der und das Gefühl bei der Ansprache des medizinischen Personals und Hinweisreizen zum Handeln, die als zentrale Faktoren für das Verständnis eines Verhaltens im Health Belief Model genannt werden. In der beschriebenen Studie wurde als ein Hinweisreiz ein Video über die Wichtigkeit der Händehygiene gezeigt. Sowohl das medizinische Personal als auch die Laien nahmen Händehygiene als wichtig für die Prävention nosokomialer Infektionen wahr. Ebenso zeigten die Daten, dass Patienten eine geringe Wahrscheinlichkeit von Verhaltensengagement annahmen, wenn die Selbstwirksamkeit als niedrig und die Barrieren gegenüber der Ansprache als hoch empfunden wurden. Diese Studie36 war allerdings sowohl durch die geringe Stichprobengröße (N = 35) als auch durch die Nutzung des Health Belief Models limitiert, das vor allem im Hinblick auf die Umsetzung von Motivation in Verhalten konzeptionelle Schwächen aufweist. Wie bereits erwähnt, kann die Darstellung der Wichtigkeit der Händehygiene durch das medizinische Personal die Bereitschaft erhöhen,37 da sich dieses motivationsfördernd auswirken kann. Longtin et al. (2009) untersuchten in einer Studie, wie sich institutionelle Unterstützung im Sinne einer Einladung zur Beteiligung auf die Intention der Patienten auswirkt, medizinisches Personal

33 J. Prochaska, C. Redding, K. Evers, „The Transtheoretical Model and stages of change“, in: K. Glanz, B. Rimer, K. Viswanath (Hrsg.), Health behavior and health education: theory, research, and practice, 4. Aufl., San Francisco: Jossey-Bass 2008, S. 97-121. 34 R. Schwarzer, S. Lippke, A. Luszczynska, „Mechanisms of health behavior change in persons with chronic illness or disability: the Health Action Process Approach (HAPA)“, in: Rehabil Psychol, 56(3)/2011, S. 161-170. 35 Garcia-Williams et al. 2010, S. 80-85. 36 Garcia-Williams et al. 2010, S. 80-85. 37 McGuckin et al. 2006, S. 342-346.

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auf deren Händehygiene anzusprechen.38 Stellten sich die Patienten im Rahmen eines Szenarios vor, explizit zur Beteiligung eingeladen worden zu sein, stieg ihre entsprechende Intention von zuvor 29,9 % auf 77,8 % in Bezug auf die Ärzte und von 34 % auf 82,5 % bezüglich des Pflegepersonals.39

Das HAPA-Modell und die Händehygiene Als Verknüpfung der beiden im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Studien, also der psychologischen Erklärung der Einstellung medizinischer Laien zur Beteiligung von Garcia-Williams et al. (2010)40 und der institutionellen Förderung der entsprechenden Motivation der Patienten von Longtin et al. (2009)41, kommt das HAPA-Modell in Betracht. Dieses Modell berücksichtigt die sozial-kognitiven Faktoren, die laut Lippke und Renneberg (2006) die zentralen Konstrukte moderner Gesundheitsverhaltenstheorien darstellen (vgl. auch Abb. 2).42 Risikowahrnehmungen und Ergebniserwartungen spielen für die Intention, die im HAPA-Modell den Endpunkt der motivationalen Phase darstellt, eine wichtige Rolle und sind deren Bestimmungsgrößen.43 Ohne wahrgenommenes Risiko, das heißt einer „Situations-Ergebnis-Erwartung“44 und einem Gefühl der Verwundbarkeit sowie der Ergebniserwartung des eigenen Handelns, also einer „Handlungs-Ergebnis-Erwartung“45, sind Menschen selten motiviert. Die Selbstwirksamkeit ist eine weitere Bestimmungsgröße der Intention.46 Sie ist eine wichtige Voraussetzung für die unterschiedlichsten Fähigkeiten und wird als Überzeugung eines Menschen

38 39 40 41 42 43

Longtin et al. 2009, S. 830-839. Ebd. Garcia-Williams et al. 2010, S. 80-85. Longtin et al. 2009, S. 830-839. Lippke & Renneberg 2006, S. 35-60. R. Schwarzer, A. Luszczynska, „Compliance als universelles Problem des Ge­ sund­heitsverhaltens“, in: R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie, 3. Band 2005, Göttingen: Hogrefe , S. 585-599. 44 Ebd., S. 597. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 585-599.

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Abb. 2: Der Health Action Process Approach (HAPA).47, 48

definiert, die Fähigkeiten zu besitzen, ein Ziel auch über Widerstände hinweg aus eigenen Kräften erreichen zu können.49 Die Selbstwirksamkeit kann durch vier verschiedene Wege gestärkt werden, die auch im Hinblick auf professionelles Händehygieneverhalten aufgegriffen worden sind: vorausgegangene Erfolgserlebnisse oder Erfahrungen, stellvertretende Erfahrungen, verbale Unterstützung und physiologische Reaktionen.50 Die Selbstwirksamkeit ist überdies ein Konstrukt, welches bereits laut Kretzer und Larson (1998) in Interventionen zur Förderung von Verhaltensänderungen im Hygienebereich enthalten sein sollte.51 Ein Vorteil gegenüber dem transtheoretischen Mo47 Schwarzer et al. 2011, S. 161-170. 48 R. Schwarzer, „Modeling health behavior change: How to predict and modify the adoption and maintenance of health behaviors“, in: Appl Psychol, 57/2008, S. 1-29. 49 A. Bandura, „Self-efficacy and health behavior“, in: Baum, Newman, Weinmann, West, McManus (Hrsg.), Cambridge Handbook of Psychology, Health and Me­ dicine, Cambrigde University Press 1997, S. 160-162. 50 WHO 2009. 51 E. K. Kretzer, E. L. Larson, „Behavioral interventions to improve infection control practices“, in: Am J Infect Control, 26(3)/1998, S. 245-253.

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dell, das ähnliche Konstrukte einschließlich der Selbstwirksamkeit berücksichtigt,52 ist, dass das HAPA-Modell bereits bei der „AKTION Saubere Hände“ (ASH) berücksichtigt53 und im PSYGIENEProjekt54,55 zur Erklärung des Händehygieneverhaltens des medizinischen Personals genutzt wird. Die ASH ist die deutsche Adaption der Händehygienekampagne der WHO („Clean Care is Safer Care“). In PSYGIENE werden ausgehend vom HAPA-Modell auf Basis einer SWOT-Analyse (Strengths, Weaknesses, Opportunities, Threats) stationsbezogen maßgeschneiderte Interventionen zur Erhöhung der Händedesinfektionscompliance auf den Intensiv- und Knochenmarktransplantationsstationen der Medizinischen Hochschule Hannover modellhaft evaluiert.

Patientenbeteiligung und Empowerment Die Selbstwirksamkeitserwartung findet sich auch in den Richtlinien zur Händehygiene der WHO. Eine wichtige Voraussetzung für die Involvierung von Patienten in die Förderung der Händehygiene ist das sogenannte Empowerment, welches die WHO versteht als: „A process in which patients understand their role, are given the knowledge and skills by their health-care provider to per­ form a task in an environment that recognizes community and cultural differences and encourages patient participation“56. Vier wichtige Komponenten sind demnach Kernelemente des Empowerments: das Rollenverständnis des Patienten, die ausreichende 52 Kretzer & Larson 1998, S. 245-253. 53 Aktion Saubere Hände. a. Fortbildung 1. Vorträge 02. Händedesinfektion und Compliance, http://www.aktion-sauberehaende.de/modul_1_gelb/materialien_ gelb.htm. Zugang 02/05, 2014. 54 T. von Lengerke, B. Lutze, K. Graf, C. Krauth, K. Lange, L. Schwadtke, et al, „Applying psychological behaviour change theories on hand hygiene: First re­ sults of the PSYGIENE-project on social-cognitive and organisational resources“ [Abstract], in: Int J Medical Microbiol, 303/2013, S. 34. 55 B. Lutze, I.F. Chaberny, K. Graf, C. Krauth, K. Lange, L. Schwadtke, et al, „Are physicians and nursing staff in intensive care units unrealistically optimistic about their risks to transmit infectious agents when not disinfecting their hands? Results of the PSYGIENE-project“ [Abstract], in: Int J Medical Microbiol, 303/2013, S. 31. 56 WHO, WHO Guidelines on Hand Hygiene in Health Care, Geneva 2009: WHO, S. 190.

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Wissenserwerbung durch die Patienten, um mit dem medizinischen Personal zusammenarbeiten zu können, Patientenfähigkeiten und das Vorhandensein einer das Empowerment unterstützenden Kultur.57,58 Die Begrifflichkeiten sind dabei allerdings nicht klar abgegrenzt. Patienten-Empowerment ist nach Reichardt und Gastmeier (2013) ein Synonym für Patientenbeteiligung,59 während die WHO Patientenbeteiligung als eine Komponente des Empowerment-Prozesses aufführt60. Im vorliegenden Text wird Empowerment als Prozess verstanden, der die Selbstkompetenz der Patienten stärkt und zur Anwendung bringt. Zu den Komponenten, die Empowerment beinhaltet, gehören neben der Beteiligung und dem Wissen von Patienten auch ihre Fähigkeiten, Selbstwirksamkeit und Gesundheitskompetenzen.61 Diese Faktoren können laut WHO auch auf das Verhalten angewendet werden, Patienten zur Ansprache der Händehygiene zu befähigen. Wissen und gute Rollenmodelle liefern demnach vorausgegangene und stellvertretende Erfolgserlebnisse, während die verbale Unterstützung durch Patienten gegeben wird, die das Händehygieneverhalten des medizinischen Personals ansprechen.62

Barrieren und Lösungen in Bezug auf Empowerment und Patien­ tenbeteiligung bei der Prävention nosokomialer Infektionen Allerdings bestehen auch Barrieren, die diese Fähigkeiten und das Empowerment der Patienten einschränken können. Die WHO unterscheidet dabei drei Arten von Faktoren: intrapersonelle, interpersonelle und kulturelle Faktoren.63 Zu den intrapersonellen Faktoren gehören beispielsweise akute Schmerzen, eine psychologische Verwundbarkeit und Krankheit, die durch fehlendes Wissen und professionelle Dominanz beeinflusst werden, sowie die Persönlichkeit und die Intelligenz der Patienten. Die Wichtigkeit von klarer 57 58 59 60 61 62 63

WHO 2009. Reichardt & Gastmeier 2013, S. 223-230. Ebd. WHO 2009. Ebd. Ebd. Ebd.

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und verständlicher Sprache oder Kommunikation, um Erwartungen gerecht zu werden, wird bei den interpersonellen Faktoren in den Mittelpunkt gestellt. Kulturelle Faktoren werden als die Ansprache beeinflussende kulturelle Ausgrenzung durch sozialen Druck dargestellt. Soziodemografisch wird eine geringe Gesundheitskompetenz eher von der älteren Bevölkerung berichtet64, die zugleich besonders häufig von nosokomialen Infektionen betroffen ist.65 Wie die bereits genannten Einflussfaktoren verdeutlichen, sind Patienten unabhängig vom ambulanten oder stationären Setting krankheitsbedingt in einer emotionalen Ausnahmesituation.66 Manchen Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen ist es sogar nicht mehr möglich, überhaupt zu kommunizieren.67,68 Ebenso fürchten Patienten laut WHO häufig negative Auswirkungen auf ihre Behandlung.69 Dies lässt sich auch in Bezug auf die direkte Ansprache der Händehygiene feststellen. Patienten-Empowerment in diesem Bereich ist häufig dadurch begrenzt, dass Patienten dies nicht als ihre Aufgabe und die Situation als unangenehm oder diese Art von Verhalten den medizinischen Versorgern gegenüber als respektlos empfinden.70 Außerdem herrscht nach Reichardt und Gastmeier (2013) die Überzeugung vor, dass das Personal schon wisse, wann eine Händedesinfektion angezeigt ist, wohingegen Patienten sich bei den Möglichkeiten zur Händedesinfektion eher unsicher sind.71 Die Patienten möchten auch dem medizinischen Personal vertrauen können und deren Arbeit nicht beurteilen. Ebenso wirkt eine solche Art der Intervention auf manche Patienten als zu gewagt.72 Weitere Barrieren können sich ebenfalls aus der Darstellung und Förderung dieser innovativen Präventionsmethode ergeben. Wie bereits aufgezeigt, ist die institutionelle Unterstützung und Kommunikation einer solchen neuartigen Methode sehr wichtig für 64 65 66 67 68

69 70 71 72

Ebd. Geffers et al. 2002, S. 1-18. Reichardt & Gastmeier 2013, S. 223-230. WHO 2009. W. E. Bischoff, T. M. Reynolds, C. N. Sessler, M. B. Edmond, R. P. Wenzel, „Handwashing compliance by health care workers: The impact of introducing an accessible, alcohol-based hand antiseptic“, in: Arch Intern Med, 160(7)/2000, S. 1017-1021. WHO 2009. Reichardt & Gastmeier 2013, S. 223-230. Ebd. Ebd.

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deren Erfolg. Besonders die Kommunikation der Wichtigkeit der Händehygiene gegenüber den Patienten durch das medizinische Personal kann positive Effekte auf die Intention der Patienten haben, sich aktiv zu beteiligen.73 Ebenso ist die explizite Einladung zur direkten Ansprache durch das medizinische Personal ein geeignetes Mittel, um die Intention der Patienten zu vergrößern.74 Von solchen, sogenannten „Speak-up-Kampagnen“75 wurden bisher gute Erfolge berichtet.76 Abbildung 3 zeigt als Beispielmaterial einer solchen Kampagne ein Poster des Queensway Carleton Hospital in Ottawa (Kanada) aus dem dortigen „Clean Hands Protect Lives“-Programm.77 Es enthält für den klinischen Alltag auch einen Button für die Mitarbeiter mit der Aufschrift „Ask me if I’ve washed my hands“, der die Einladung zur Beteiligung an die Patienten gut sichtbar kommuniziert. Neben der verbalen Verstärkung eines Verhaltens kann allerdings auch in diesem Fall mit unterschiedlichen Motivationsprogrammen gearbeitet werden. Die WHO unterscheidet drei Arten von Programmen: edukative Programme, Erinnerungshilfen und motivierende Nachrichten sowie Rollenmodelle.78 Zu den edukativen Programmen gehören beispielsweise Broschüren, die über die Wichtigkeit der Händehygiene aufklären und die Patienten als Partner gewinnen wollen, oder audiovisuelle Mittel wie beispielsweise ein Video, das Eltern einer pädiatrischen Intensivstation Händehygienefähigkeiten vermittelt.79 Als Erinnerungshilfen und motivierende Nachrichten nennt die WHO beispielsweise Aufkleber, die von den Patienten getragen werden, oder Poster, die das medizinische Personal an die Händehygiene erinnern sollen. Als Programm, welches auf den Nutzen von Rollenmodellen hinweist, werden von der WHO die Studien von McGuckin, Shubin et al. (2006)80 und

73 McGuckin et al. 2006, S. 342-346. 74 Longtin et al. 2009, S. 830-839. 75 S. Schulz-Stübner, „Psychologie der Hygiene“, in: S. Schulz-Stübner (Hrsg.), Repetitorium Krankenhaushygiene und hygienebeauftragter Arzt, 1. Aufl., Berlin, Heidelberg, Springer 2013, S. 52. 76 Ebd., S. 49-54. 77 Plakat der „Speak up“-Kampagne im Queensway Carleton Hospital, Ottawa, Kanada; Abdruck mit Genehmigung. 78 WHO 2009. 79 Ebd. 80 M. McGuckin, A. Shubin, P. McBride, S. Lane, K. Strauss, D. Butler, A. Pitman, „The effect of random voice hand hygiene messages delivered by medical,

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Abb. 3: Beispiel eines Plakats einer „Speak-up“-Kampagne eines kanadischen Krankenhauses. 81

Lankford et al. (2003)82 genannt.83 Erstere wiesen eine Verbesserung der Händehygienecompliance durch die Nutzung von Sprachbotschaften der Führungskräfte wie „Händehygiene sollte vor und nach Patientenkontakt erfolgen“84 über die Lautsprecheranlage des Krankenhauses nach.85 Lankford et al. (2003) berichteten von einem Einfluss von Rollenmodellen auf die Händehygienecompliance der Untergebenen.86 In der Studie wurde festgestellt, dass die fehlende Händehygienecompliance von Rollenmodellen zu einer verringerten Händehygienecompliance unter dem anderen anwesenden medizinischen Personal führte. Es existiert allerdings auch eine Studie, die als eine von drei Interventionen ein reines Patientensensibilisierungsprogramm nutz-

81 82 83 84 85 86

nursing, and infection control staff on hand hygiene compliance in intensive care“, in: Am J Infect Control, 34(10)/2006, S. 673-675. Plakat der „Speak up“-Kampagne im Queensway Carleton Hospital, Ottawa, Kanada. M. G. Lankford, T.R. Zembower, W. E. Trick, D. M. Hacek, G. A. Noskin, L. R. Peterson, „Influence of role models and hospital design on hand hygiene of healthcare workers“, in: Emerg Infect Dis, 9(2)/2003, S. 217-223. WHO 2009. McGuckin, Shubin, et al. 2006, S. 673. Ebd., S. 673-675. Lankford et al. 2003, S. 217-223.

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te.87 Dabei wurden Broschüren, die auf die Wichtigkeit der Händehygiene hinwiesen, an die Patienten verteilt. Das Sensibilisierungsprogramm, welches den sozialen Druck auf das medizinische Personal erhöhen sollte, zeigte keine Effekte im Sinne einer Verbesserung der Händehygienecompliance. Bischoff et al. argumentierten mit der Krankheitsschwere, die es manchen Patienten unmöglich macht, sich an solchen Programmen zu beteiligen (2000); des Weiteren merkten sie an, dass sie dem Umstand keine Rechnung trugen, dass manche Patienten die Broschüren schlichtweg nicht verstehen konnten.88 Bischoff et al. (2000) äußerten außerdem die Bedenken, dass Patientensensibilisierungsprogramme das Arzt-Patienten-Verhältnis negativ beeinflussen könnten.89 Diesen Aspekt beschreibt auch die WHO als eine wichtige Barriere, die in dieser Art oft wahrgenommen wird: Patienten fürchten negative Auswirkungen und Repressalien durch das medizinische Personal, wenn sie sich an den Präventionskampagnen zur Verbesserung der Händehygienecompliance beteiligen.90

Fazit und Ausblick Fragt man Patienten nach ihren Präferenzen, gibt es erfahrungsgemäß eine bedeutsame Gruppe, die sich wünscht, an Maßnahmen der Prävention von Krankenhausinfektionen beteiligt zu werden. So zeigte sich, dass vier von fünf Patienten dazu bereit wären, das medizinische Personal auf deren Händehygiene anzusprechen – allerdings unter der Bedingung, dass ihnen die Wichtigkeit des Themas durch das Personal erklärt werden würde. Insgesamt lässt sich festhalten, dass eine entsprechende Beteiligung91 von Patienten ohne institutionelle Unterstützung derzeit kaum vorstellbar ist. Um für Deutschland zu überprüfen, ob aus der Sicht von Patienten die Einladung zur Beteiligung die eigene Motivation erhöhen würde,92 Studien auf Basis des HAPA-Modells93 zur Intention von 87 88 89 90 91 92 93

Bischoff et al. 2000, S. 1017-1021. Ebd. Ebd. WHO 2009. McGuckin et al. 2006, S. 342-346. Longtin et al. 2009, S. 830-839. Schwarzer et al. 2011, S. 161-170.

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Patienten durchgeführt werden, das medizinische Personal auf seine Händehygiene anzusprechen. Dafür sollten mittels Fragebogenerhebungen zuerst die Erfahrungen der Patienten in Krankenhäusern und ihr Wissen über nosokomiale Infektionen erfragt werden. So sind Krankenhausinfektionen laut einer Studie von Mattner et al. (2006) 26 % der Menschen in Hannover ein Begriff und effektive Präventionsmaßnahmen könnten laut dieser Autoren von der Bevölkerung möglicherweise sogar gefordert werden.94 Darüber hinaus sollten Risikowahrnehmungen im Sinne der allgemeinen Vulnerabilität und des subjektiven Schweregrads nosokomialer Infektionen sowie die Besorgtheit bezüglich solcher Erkrankungen erhoben werden. Ergänzt werden soll die Befragung durch Items zu den Bereichen Ergebnis- und Selbstwirksamkeitserwartungen, z. B. in Bezug auf mögliche Barrieren wie die Entstehung peinlicher Situationen oder einer Belastung für das Vertrauensverhältnis zum medizinischen Personal. Auch die normative Überzeugung, dass Patienten das medizinische Personal auf deren Händehygiene ansprechen sollten, sollte abgebildet werden. Zugleich sollten qualitative Befragungen von Ärzten und Pflegekräften die Voraussetzungen für die Beteiligung von Patienten an der Infektionsprävention aus Sicht dieser Versorgergruppen eruieren. Insgesamt köönten solche Studien erste Schritte darstellen, die „Psychologie“ der Beteiligung von Patienten an der Prävention von Krankenhausinfektionen in Deutschland zu erforschen und daraus praktische Hinweise auf ihre Umsetzung abzuleiten. Literatur I. Ajzen, „The theory of planned behavior“, in: Organ Behav Hum Decis Process, 50/1991, S. 179-211. Aktion Saubere Hände. a. Fortbildung 1. Vorträge 02. Händedesinfektion und Compliance, http://www.aktion-sauberehaende.de/modul_1_gelb/materialien_gelb. htm. Zugang 02/05, 2014. Arbeitskreis „Krankenhaus- und Praxishygiene“ der AWMF „Händedesinfektion und Händehygiene - Leitlinien zur Hygiene in Klinik und Praxis“, in: Hyg Med 33(7/8)/2008, S. 300-313. A. Bandura, „Self-efficacy and health behavior“, in: Baum, Newman, Weinmann, West, McManus (Hrsg.), Cambridge Handbook of Psychology, Health and Me­ dicine, Cambrigde University Press 1997, S. 160-162. 94 F. Mattner, C. Mattner, I. Zhang, P. Gastmeier, „Knowledge of nosocomial in­ fections and multiresistant bacteria in the general population: results of a street interview“, in: J Hosp Infect, 62(4)/2006, S. 524-525.

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Die Beteiligung von Patienten an der Prävention

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B. Lutze, I.F. Chaberny, K. Graf, C. Krauth, K. Lange, L. Schwadtke, et al, „Are physicians and nursing staff in intensive care units unrealistically optimistic about their risks to transmit infectious agents when not disinfecting their hands? Results of the PSYGIENE-project“ [Abstract], in: Int J Medical Microbiol, 303/2013, S. 31. F. Mattner, C. Mattner, I. Zhang, P. Gastmeier, „Knowledge of nosocomial infections and multiresistant bacteria in the general population: results of a street interview“, in: J Hosp Infect, 62(4)/2006, S. 524-525. M. McGuckin, J. Govednik, „Patient empowerment and hand hygiene 1997–2012“, in: J Hosp Infect, 84(3)/2013, S. 191-199. M. McGuckin, A. Shubin, P. McBride, S. Lane, K. Strauss, D. Butler, A. Pitman, „The effect of random voice hand hygiene messages delivered by medical, nursing, and infection control staff on hand hygiene compliance in intensive care“, in: Am J Infect Control, 34(10)/2006, S. 673-675. M. McGuckin, A. Taylor, V. Martin, L. Porten, R. Salcido, „Evaluation of a patient education model for increasing hand hygiene compliance in an inpatient rehabilitation unit“, in: Am J Infect Control 32(4)/2004, S. 235-238. M. McGuckin, R. Waterman, A. Shubin, „Consumer attitudes about health care-acquired infections and hand hygiene“, in: Am J Med Qual, 21(5)/2006, S. 342-346. Plakat der „Speak up“-Kampagne im Queensway Carleton Hospital, Ottawa, Kanada; Abdruck mit Genehmigung. J. Prochaska, C. Redding, K. Evers, „The Transtheoretical Model and stages of change“, in: K. Glanz, B. Rimer, K. Viswanath (Hrsg.), Health behavior and health education: theory, research, and practice, 4. Aufl., San Francisco: JosseyBass 2008, S. 97-121. C. Reichardt, P. Gastmeier, „Patient Empowerment“, in: Radiopraxis, 6(4)/2013, S. 223-230. C. Reichardt, M. Eberlein-Gonska, M. Schrappe, P. Gastmeier, „Clean hands campaign: no chance for healthcare associated infections“, in: Anasthesiol Intensiv­ med Notfallmed Schmerzther 43(10)/2008, S. 678-679. N. Reid, J. Moghaddas, M. Loftus, R. L. Stuart, D. Kotsanas, C. Scott, C. Dendle, „Can we expect patients to question health care workers“ hand hygiene compliance?“, in: Infect Control Hosp Epidemiol, 33(5)/2012, S. 531-532. S. Schulz-Stübner, „Psychologie der Hygiene“, in: S. Schulz-Stübner (Hrsg.), Repe­ titorium Krankenhaushygiene und hygienebeauftragter Arzt, 1. Aufl., Berlin, Heidelberg, Springer 2013, S. 52. S. Schulz-Stübner, „Psychologie der Hygiene“, in S. Schulz-Stübner (Hrsg.), Repe­ titorium Krankenhaushygiene und hygienebeauftragter Arzt, 1. Aufl., Berlin, Heidelberg, Springer 2013, S. 49-54. L. Schwadtke, K. Graf, B. Lutze, T. von Lengerke, I.F. Chaberny, „Hygienische Händedesinfektion – Leitlinien-Compliance auf Intensivstationen eines Universitätsklinikums mit chirurgischem Schwerpunkt“, in: Dtsch Med Wochenschr, 139(25/26)/2014, S. 1341-1345. R. Schwarzer, „Modeling health behavior change: How to predict and modify the adoption and maintenance of health behaviors“, in: Appl Psychol, 57/2008, S. 1-29. R. Schwarzer, S. Lippke, A. Luszczynska, „Mechanisms of health behavior change in persons with chronic illness or disability: the Health Action Process Approach (HAPA)“, in: Rehabil Psychol, 56(3)/2011, S. 161-170. R. Schwarzer, A. Luszczynska, „Compliance als universelles Problem des Gesundheitsverhaltens“, in: R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie, 3. Band 2005, Göttingen: Hogrefe , S. 585-599.

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Barbara Kröning und Thomas von Lengerke

R. Schwarzer, A. Luszczynska, „Compliance als universelles Problem des Gesundheitsverhaltens“, in: R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie, 3. Band 2005, Göttingen: Hogrefe , S. 597. V. Singbeil-Grischkat, „Nosokomiale Infektion und Infektionskette“, in: R. Klieschies, U. Panther, V. Singbeil-Grieschkat (Hrsg.), Hygiene und medizinische Mikrobio­ logie: Lehrbuch für Pflegeberufe, 5. Aufl., Stuttgart: Schattauer, 2008, S. 154-161. T. von Lengerke, B. Lutze, K. Graf, C. Krauth, K. Lange, L. Schwadtke, et al, „Applying psychological behaviour change theories on hand hygiene: First results of the PSYGIENE-project on social-cognitive and organisational resources“ [Abstract], in: Int J Medical Microbiol, 303/2013, S. 34. WHO, WHO Guidelines on Hand Hygiene in health Care, Geneva: WHO, 2009.

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Vorbemerkung Die bundesweit zugenommene Berichterstattung über Hygienezwischenfälle – zumal diejenigen mit Todesfolge – lässt aufhorchen. Dabei handelt es sich nicht nur um Zwischenfälle in deutschen Gesundheitseinrichtungen, zu denken ist auch an internationale Epidemien wie etwa SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) im Jahre 2002, hervorgerufen durch das sogenannte Coronavirus, an die sogenannte Schweinegrippe im Jahre 2009, bedingt durch das Influenzavirus H1N1, den EHEC -Ausbruch (krankheitsauslösende Darmbakterien – Enterohämorrhagische Escherichia coli) im Jahre 2011 oder an die Infektionskrankheit Ebola im Jahre 2014. Abgesehen von den hygienisch-medizinischen Problemstellungen ergeben sich in diesem Zusammenhang Fragen auch der rechtlichen Beurteilung, gegebenenfalls nach gesetzgeberischen Maßnahmen. Ausgangspunkt hierfür ist die Positionierung der Hygiene in der deutschen Gesetzgebung, die zum Teil von europäischem und internationalem Recht beeinflusst ist.

Die Gesetzeslage im Hygienerecht Die deutsche Rechtsordnung kennt ein geschlossenes (bundes-) einheitliches Hygienerecht nicht. Vielmehr findet sich eine Vielzahl von Einzelvorschriften mit hygienerelevantem Bezug in den unterschiedlichsten Gesetzen. Konkurrierende Gesetzgebung Das Nebeneinander hygienerelevanter Vorschriften ist durch die vom Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich vorgegebenen Gesetzgebungskompetenzen der Länder einerseits und des Bundes https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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andererseits vorgegeben. Anerkannt ist, dass beispielsweise im Gesundheitswesen die Hygiene zur sogenannten konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG) zählt. Danach haben grundsätzlich die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung solange und soweit der Bund nicht von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch macht.

Infektionsschutzgesetz Letzteres gilt etwa für das Infektionsschutzgesetz (IfSG) aus dem Jahre 2000 mit späteren Änderungen. Es trat an die Stelle des früheren Bundesseuchengesetzes und des Geschlechtskrankheitengesetzes. Mit dem Infektionsschutzgesetz wurde neben dem Gesetzeszweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern, erstmals die Verpflichtung zur Information und Aufklärung als ein wichtiger Teil der Prävention von Infektionskrankheiten benannt (§ 3 IfSG). In diesem Zusammenhang war ein Ziel des Bundesgesetzgebers, die nach alter Gesetzeslage offenbar gewordenen Strukturdefizite im Meldesystem und im Risikomanagement zu beseitigen (Gesetzesbegründung). So erhielt der öffentliche Gesundheitsdienst die Aufgabe, die vorwiegend von der Ärzteschaft zu meldenden Daten zusammenzuführen und auf Bundesebene dem Robert Koch-Institut (RKI) zu übermitteln. Das RKI nimmt eine fachliche Analyse und Bewertung der Daten vor. Es ist zugleich als epidemiologisches Zentrum eingerichtet, damit Veränderungen in der Verbreitung und das Auftreten neuer Infektionskrankheiten bundesweit schneller erkannt, die Bundesländer entsprechend informiert und, wenn erforderlich, beraten werden können. Mit der weiteren Aufgabenstellung des RKI zum internationalen Informationsaustausch auf dem Gebiet der übertragbaren Krankheiten innerhalb der Europäischen Union wurde zudem eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schaffung eines Netzes für die epidemiologische Überwachung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der Gemeinschaft mit dem Infektionsschutzgesetz in deutsches Recht umgesetzt. Beratungsaufgaben nehmen seit 1995 neben dem RKI ebenso die derzeit 19 Nationalen Referenzzentren wahr. Sie stehen dem öffentlichen Gesundheitsdienst und der Ärzteschaft unter anderem in den Bereichen der Infektiologie, https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Virologie und Mikrobiologie für den öffentlichen Gesundheitsschutz zur Verfügung. Der eingangs erwähnte EHEC-Ausbruch in Norddeutschland im Jahre 2011 führte zu einer Diskussion um das Meldesystem des Infektionsschutzgesetzes. Die Meldepflicht dient der rechtzeitigen Verhütung, Früherkennung und Bekämpfung bestimmter (Infektions-)Krankheiten. Die Erfahrung mit dem EHEC-Ausbruch lehrte, dass die bis dahin geltenden Meldefristen diesen Zielen nicht hinreichend genügten. So wurden ab März 2013 Melde- und Übermittlungsfristen verkürzt (z. B. § 9 Abs. 3, § 11 Abs. 1 IfSG), um auf Ausbrüche infektionsbedingter Krankheiten noch zeitnäher und effektiver zum Schutz der Bevölkerung seitens der Gesundheitsbehörden reagieren zu können. Des Weiteren wurden aus demselben Anlass unter Beachtung des Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) die jeweiligen Kataloge der meldepflichtigen Krankheiten (§ 6 Abs. 1 IfSG) bzw. der meldepflichtigen Nachweise von Krankheitserregern (§ 7 IfSG) zum Schutz der Bevölkerung erweitert. Bereits im Jahre 2011 hatte der Gesetzgeber zur Verbesserung der Hygienequalität in bestimmten Gesundheitseinrichtungen und bei medizinischen Behandlungen weitere gesetzliche Anforderungen mit dem Ziel eines größeren infektionshygienischen Patientenschutzes aufgestellt (§ 23 IfSG). Hierzu zählt die Stärkung der rechtlichen Bedeutung von Empfehlungen der RKI-Kommissionen, etwa der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) mit Auswirkungen auf Prozessabläufe in den betroffenen Gesundheitseinrichtungen und bei der medizinischen Behandlung (§ 23 IfSG). Angesichts gestiegener Zahlen von Infektionen, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder ambulanten medizinischen Maßnahme stehen (nosokomiale Infektion, § 2 Ziff. 8 IfSG), insbesondere beim Aufkommen multiresistenter Keime in Krankenhäusern beschloss der Gesetzgeber die Einrichtung der Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie (Kommission ART) beim RKI (§ 23 Abs. 2 IfSG). Die Bundesländer wurden zum Erlass von Verordnungen zur Infektionshygiene und Prävention von resistenten Krankheitserregern bis Ende März 2012 verpflichtet (§ 23 Abs. 8 IFSG). Schlussendlich sind die Wirkungen des Gesetzes bei der Verbesserung der Infektionshygiene einer Überprüfung zu unterziehen (Evaluierung). https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Medizinproduktegesetz Wie im medizinischen Behandlungsbereich spielt neben dem primären Sicherheitsaspekt auch die Hygiene für die zur Anwendung am Patienten kommenden Medizinprodukte eine herausragende Rolle. Um von Medizinprodukten möglicherweise ausgehende Infektionsrisiken zu vermeiden oder doch zu reduzieren gilt seit dem Jahre 1995 als Bundesgesetz das Medizinproduktegesetz (MPG) nebst zahlreichen Rechtsverordnungen. Das gesamte deutsche Medizinprodukterecht basiert auf europäischen Vorgaben (Richtlinien) und wurde mit dem Fortschritt der Medizintechnik seit Inkrafttreten mehrfach verändert und fortgeschrieben. Die Vorschriften sind im Wesentlichen an dem Ziel der Qualitätssicherung von Medizinprodukten und deren medizinischer Anwendung ausgerichtet. Adressaten sind die Hersteller, Betreiber und Anwender von Medizinprodukten, wobei die Patientensicherheit im Vordergrund steht. Unter infektionshygienischen Aspekten stehen von Beginn an die europäischen wie nationalen Vorgaben zur Anwendung aufbereiteter Medizinprodukte in der Diskussion. Dies gilt vor allem bezüglich der Aufbereitungsverfahren für Medizinprodukte mit erhöhtem Infektionspotential sowie für solche, die vom Hersteller nur zur einmaligen Anwendung (sogenannte Einmalprodukte) gekennzeichnet sind. Letztere dürfen (derzeit) in Deutschland zur Wiederverwendung am Patienten unter Beachtung entsprechender RKI-Empfehlungen aufbereitet werden, während dies in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union untersagt ist.

Weitere Bundesgesetze mit hygienerelevantem Bezug Zur Vermeidung von Infektionsgefährdungen nehmen zahlreiche weitere Gesetze des Bundes Bezug auf die Beachtung der Hygiene. Vor allem für das Gesundheitswesen ist hier auf das Sozialgesetzbuch (SGB) hinzuweisen. So beziehen insbesondere die Vorschriften über die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung (§§ 135 ff SGB V) seit dem Jahre 2011 ausdrücklich die Hygiene mit ein. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber maßgeblich dazu beigetragen, dass die Hygiene zu einem wichtigen integralen Element eines krankenhausspezifischen Qualitätsmanagementsystems wurde. Für den Patienten einer stationären Aufnahme von Bedeutung ist darüber https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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hinaus die Verpflichtung sogenannter zugelassener Krankenhäuser (§ 108 SGB V) zur Veröffentlichung von Qualitätsberichten. Deren Mindeststandards werden unter dem Aspekt der Verbesserung der Patientensicherheit – auch im Hygienebereich – vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt (§ 137 Abs. 1d SGB V). Bedeutung für das Gesundheitswesen – aber auch darüber hinaus – hat weiterhin die Biostoffverordnung. Deren Vorschriften zielen mit der grundsätzlichen Forderung nach Beachtung der Hygiene sowie zahlreichen konkreten Schutzmaßnahmen auf die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen ab. In diesem Zusammenhang ist auch das Mutterschutzgesetz zu nennen, wonach etwa ein Beschäftigungsverbot im Falle der Wahrscheinlichkeit einer Infektionsgefahr für die Betroffene von der zuständigen Behörde ausgesprochen werden kann. Dies kann beispielsweise bei Labortätigkeiten oder für Beschäftigte in Sterilisationseinheiten relevant werden, wie grundsätzlich für Beschäftigte, die einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt sind. Die Beachtung der Hygiene findet sich zudem im Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch im Interesse des Gesundheitsschutzes der Verbraucher wieder. Ähnliches gilt für das Wasserrecht, das neben dem Ziel einer allgemeinen Verfügbarkeit des Wassers mit entsprechenden Anforderungen an die Wasserqualität der öffentlichen Gesundheit und Qualität dient.

Regelungen der Länder Neben den bundesgesetzlichen Vorschriften mit hygienerelevantem Bezug sind im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung diejenigen der Länder zu beachten. Für das Gesundheitswesen sind vor allem maßgeblich deren Krankenhausgesetze und – seit dem Jahre 2013 – die Medizinhygieneverordnungen der Länder. Die überwiegende Zahl der Landeskrankenhausgesetze verpflichtet die Krankenhausträger zur Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Hygiene, insbesondere zur Vornahme von Maßnahmen zur Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankenhausinfektionen (z. B. § 6 KHGG NRW). Häufig ist im Rahmen der Kranhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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kenhausorganisationsstruktur zu diesem Zweck die Bildung einer Krankenhaushygienekommission vorgesehen, sei es in den Krankenhausgesetzen (z. B. § 11 KHG Saarland) oder in den Medizinhygieneverordnungen (z. B. § 3 HygMedVO NRW). Diese unterstützt vor allem den Leiter des Krankenhauses, der für die Durchsetzung infektionshygienischer Maßnahmen verantwortlich ist (§ 23 IfSG). Hiermit wird unter anderem dem Ziel eines krankenhausinternen Qualitätsmanagementsystems Rechnung getragen, wie es das Sozialgesetzbuch fordert. Ähnlich verhält es sich mit den Medizinhygieneverordnungen der Länder. Bis zum Jahre 2013 hatten nur wenige Bundesländer auf der Grundlage ihrer Krankenhausgesetze von der Möglichkeit entsprechender Krankenhaushygieneverordnungen Gebrauch gemacht. Dies änderte sich mit dem Inkrafttreten der Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Jahre 2011, mit der die Bundesländer verpflichtet wurden, bis Ende März 2012 durch Rechtsverordnung für Krankenhäuser und weitere Gesundheitseinrichtungen die jeweils erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung, Erkennung, Erfassung und Bekämpfung von nosokomialen Infektionen und Krankheitserregern mit Resistenzen zu regeln (§ 23 Abs. 8 IfSG). Im Rahmen dieser verpflichtenden Ermächtigung zum Erlass von sogenannten Medizinhygieneverordnungen gab der Bundesgesetzgeber zugleich die wesentlichen Inhalte der länderspezifischen Regelungen vor (§ 23 Abs. 8 Ziff. 1-10 IfSG). Hierzu zählen insbesondere die personelle Ausstattung mit Hygienefachkräften, Krankenhaushygienikern und hygienebeauftragten Ärzten bis Ende 2016 sowie die Anforderungen an die persönliche Qualifikation, Schulungsmaßnahmen, dokumentations- und sektorenübergreifende Informationspflichten, etwa bei Patientenverlegungen von einer in die andere Gesundheitseinrichtung (Patientenüberleitung). Zeitgerecht kamen die Bundesländer ihrer Verpflichtung nach. Damit ist allerdings – verfassungsrechtlich bedingt – kein bundeseinheitliches (Krankenhaus-)Hygienerecht geschaffen. Wenngleich in vielen Regelungsbereichen länderübergreifend eine weitgehende Vereinheitlichung erreicht wurde, lassen sich dennoch zahlreiche Unterschiede in den Medizinhygieneverordnungen feststellen. Diese beziehen sich beispielsweise auf Strukturen und Methoden zur Erkennung nosokomialer Infektionen, die Verpflichtung zur Erfassung des Antibiotikaverbrauchs, Art und Umfang der sektorenübergreifenden Informationspflichten oder auch die Qualifikationsmaßnahmen für das Personal. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Neben den Medizinhygieneverordnungen für medizinische Einrichtungen sind die länderspezifischen Verordnungen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten (sogenannte Infektionshygieneverordnungen) zu beachten. Deren Regelungen beziehen sich auf berufs- und gewerbsmäßige Tätigkeiten außerhalb der Heilkunde, bei denen Krankheitserreger im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (§ 27 IfSG), insbesondere Erreger von AIDS, Virushepatitis B und C auf Menschen übertragen werden können (z. B. § 1 HygVo NRW). Hierzu zählen etwa Tätigkeiten des Frisörhandwerks, der Maniküre und Pediküre, der Tätowierer, der Akkupunkteure und Ohrlochstecher (z. B. auch Juweliere). Zum Schutze deren Kunden sind die Handelnden zur Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Hygiene verpflichtet und gehalten, die in den Hygieneverordnungen vorgegeben infektionspräventiven Maßnahmen einzuhalten. Bei schuldhafter Verletzung ihrer Pflichten, die nachweislich ursächlich einen Körperverletzungsschaden herbeigeführt haben, können zivilrechtliche Schadensersatzansprüche des Betroffenen oder/und der Vorwurf einer strafrechtlich zu beurteilenden Körperverletzung in Frage kommen. Um die Einhaltung der Hygieneanforderungen zu gewährleisten regeln sowohl die bundes- wie landesgesetzlichen Vorschriften deren Überwachung durch Kontroll- und Aufsichtsbehörden. In diesem Kontext gelten – soweit nicht spezialgesetzlich geregelt – die Vorschriften der Ländergesetze über den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGDG). Dessen Aufgaben bestehen vornehmlich in Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit der Bevölkerung, darunter auch der Aufklärung der Bevölkerung und der Beratung der Behörden in Fragen der Gesundheit (z. B. § 2 Abs. 2 ÖGDG NRW).

Untergesetzliche Regelungen Neben den gesetzlichen Vorschriften mit Bezug zur Hygiene existiert eine Vielfalt weiterer hygienerelevanter Regelungen. Zu nennen sind hier vor allem die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI), die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) ebenso wie die Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA 250) der Berufsgenossenschaft. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses Der G-BA ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der (Zahn-)Ärzte, Physiotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland (§ 91 SGB V). Das Sozialrecht hat diesem Gremium eine sogenannte Richtlinienkompetenz zugeschrieben, die sich vor allem in Vorgaben zur Qualitätssicherung in Gesundheitseinrichtungen widerspiegelt (§§ 92, 137 ff SGB V). Die nach Einhaltung eines sozialgesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens beschlossenen G-BA Richtlinien sind für deren Adressaten verbindlich, haben also insoweit Gesetzescharakter. Dies gilt etwa für die Festlegung geeigneter Maßnahmen zur Sicherung der Hygiene (§137 Abs. 1a SGB V) unter Berücksichtigung der Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (§ 23 IfSG). Für die Patientensicherheit bedeutsam ist die Verpflichtung der Krankenhäuser, in Qualitätsberichten, die allen Mitarbeitern des Krankenhauses anonymisiert zugänglich sind, über die Umsetzung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen zu informieren. Mit dieser Transparenz soll erreicht werden, dass sogenannte unerwünschte Ereignisse – hierzu zählen auch Hygienezwischenfälle – nicht verschwiegen werden, sondern analysiert werden können, um zukünftige Fehler zu vermeiden.

Richtlinien des Robert Koch-Instituts Anders als die Richtlinie des G-BA haben die RKI-Richtlinien keinen Verbindlichkeitscharakter. So handelt es sich etwa bei der Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, die durch eine Reihe von Anlagen für besondere Sachgebiete ergänzt wird – z. B. hinsichtlich der Händedesinfektion oder der Anforderung der Hygiene an die Aufbereitung von Medizinprodukten – ihrem sachlichen Inhalt nach um eine Empfehlung an Ärzte oder Gesundheitseinrichtungen. Diese Bewertung des Rechtscharakters der RKI-Richtlinien – die übrigens von der Rechtsprechung getragen wird – hat ihre Bedeutung vor allem für die rechtliche Beurteilung eines ärztlichen Behandlungsfehlers bei Abweichung von RKI-Richtlinien durch die Behandlungsseite. Auch wenn Leitlinien in der Regel den ärztlichen Behandlungsstandard beschreiben, kann es im Einzelfall notwendig sein, hiervon abzuweichen. Das Abweichen muss allerdings medizihttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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nisch nachweisbar begründet sein und entsprechend dokumentiert werden. Im Falle des Infektionsschutzgesetzes hat der Gesetzgeber den Empfehlungen z. B. der RKI-Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) sowie der Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie (Kommission ART) einen besonderen Stellenwert beigelegt. Er ist darin zu sehen, dass die Einhaltung des Standes der medizinischen Wissenschaft – widerleglich – vermutet wird, wenn die jeweils veröffentlichten Empfehlungen von ihren Adressaten beachtet werden (§ 23 Abs. 3 IfSG). Die Nichtbeachtung lässt nicht notwendigerweise den Schluss zu, dass der Stand der Wissenschaft nicht eingehalten wurde. Die Behandlungsseite, z. B. der Arzt oder die Gesundheitseinrichtung, muss jedoch den Nachweis der Gleichwertigkeit ihres Handelns in Bezug auf die Kommissionsempfehlung erbringen. Eine vergleichsweise Vermutungsregelung findet sich im Medizinprodukterecht.

Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften Ähnlich den RKI-Richtlinien legt die Rechtsprechung auch den Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften Empfehlungscharakter bei und folgert aus einem Leitlinienverstoß nicht notwendigerweise einen ärztlichen Behandlungsfehler. So führt beispielsweise der Bundesgerichtshof (BGH) aus, dass Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden nicht ungesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden können. Sie können kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden. Letztendlich obliegt die Feststellung des Standards der Würdigung des sachverständig beratenen Tatrichters. Diese grundsätzliche Rechtsprechung gilt selbstverständlich auch für Hygieneleitlinien in Bezug auf die Feststellung eines Hygienefehlers.

Technische Regelungen für Biologische Arbeitsstoffe Die Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA 250) sind Teil der Berufsgenossenschaftlichen Regeln (BGR) für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit auf der Grundlage der Biostoffhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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verordnung. Sie geben den jeweiligen Stand der sicherheitstechnischen und arbeitswissenschaftlichen Anforderungen bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen wieder und verfolgen eine signifikante Reduzierung von Infektionsrisiken für Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege. Dies geschieht durch Unterstützung des Sicherheitsmanagements bei der Einrichtung von Präventionsstrategien zur postexpositionellen Prophylaxe sowie durch Aufklärungspflichten mit Hilfe von Informationsmaterial für Beschäftigte, Personal- und Betriebsräte. Ein Schwerpunkt der TRBA 250 bezieht sich auf Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von Verletzungen durch scharfe oder spitze Instrumente im Krankenhaus- und Gesundheitssektor. Weitere Regelungen befassen sich mit der Aufbereitung von Medizinprodukten, dem Umgang mit kontaminierter Wäsche, der Abfallentsorgung bis hin zur Aufstellung eines Hygieneplans in der jeweiligen Einrichtung. Rechtsdogmatisch gilt für die TRBA 250, dass sie keine unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit besitzt (strittig). Diese ergibt sich allenfalls aus Rechtsnormen, soweit ausdrücklich auf die Technische Regel Bezug genommen wird.

Internationales und europäisches Recht Die nationalen Bestimmungen zur Hygiene im weitesten Sinne werden vielfach beeinflusst durch internationales und europäisches Recht. So ist beispielsweise mit dem Gesetz zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV-DG) gewährleistet, dass die nach Völkerrecht bindenden Vorschriften der Weltgesundheitsbehörde (WHO) in Deutschland umgesetzt werden. Die Vorschriften enthalten im Wesentlichen Bestimmungen zur internationalen Bekämpfung von Seuchen etwa durch (Kontroll-) Maßnahmen gegenüber Reisenden, im Frachtverkehr und nicht zuletzt für das Meldewesen für gefährliche Infektionskrankheiten. So gab z. B. der bereits eingangs angesprochene EHEC-Ausbruch Veranlassung, im Februar 2012 mit dem Gesetz zur Durchführung der IGV eine Verkürzung der Meldepflichten zu beschließen. Ebenso nehmen EU-Richtlinien maßgeblichen Einfluss auf nationale (Hygiene-) Vorschriften. Dies zeigt sich beispielsweise im Zusammenhang mit den TRBA 250 für sogenannte Nadelstichverletzungen ebenso wie im gesamten Medizinprodukterecht. Gelten https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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im letzteren Bereich bislang EU-Richtlinien sollen nach dem Willen der EU-Kommission, dem EU-Parlament und dessen Gesundheitsausschuss strengere Regelungen für Medizinprodukte zukünftig in einer EU-Verordnung festgelegt werden. Gegenüber EU-Richtlinien, die der Umsetzung in nationales Recht durch den jeweiligen nationalen Gesetzgeber unterliegen, handelt es sich bei EU-Verordnungen um unmittelbar für die Mitgliedsländer geltendes Recht.

Zwischenergebnis Der Versuch einer Zuordnung von einzelnen, bei weitem nicht abschließenden hygienerechtlich relevanten Einzelregelungen aus Teilbereichen der Bundes- bzw. Landesgesetzgebung nebst untergesetzlicher Regelungen, lässt die Feststellung zu, dass diese hygienebezogenen Vorschriften überwiegend dem Recht der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes einerseits und dem Gesundheitsschutzrecht andererseits zuzurechnen sind. Vor allem im Gesundheitswesen steht die Hygiene im Kontext zur sozialrechtlich geforderten Qualitätssicherungspflicht. Sie bedarf der Organisation und ist Teil eines umfassenden Qualitätssicherungsmanagementsystems.

Aufklärung über Hygiene als öffentliche Aufgabe Zahlreiche Infektionskrankheiten können vom Menschen durch dessen Verhalten – vor allem seinem präventiven Hygieneverhalten – beeinflusst werden, so dass entsprechende Krankheiten womöglich gar nicht entstehen. In Folge dessen wird das Infektionsschutzgesetz von dem zentralen Leitgedanken der Prävention übertagbarer Krankheiten geprägt. Nach dem Willen des Gesetzes ist die Allgemeinheit über die Gefahren übertragbarer Krankheiten und die Möglichkeit zu deren Verhütung zu informieren und aufzuklären (§ 2 IfSG). Information und Aufklärung (sogenannte Primärprävention) der Bevölkerung über Gefahren und Möglichkeiten der Verhütung übertragbarer Krankheiten weist das Gesetz als öffentliche Aufgabe, also Aufgaben staatlicher Stellen aus. Diese öffentliche Aufgabe beginnt nicht erst mit Früherkennungshttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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und Bekämpfungsmaßnahmen (sogenannte Sekundärprävention), vielmehr setzt die Verantwortung staatlicher Stellen bereits bei der Vorsorge in Form von Information und Aufklärung ein. Umzusetzen sind Präventionsaufgaben in erster Linie durch die nach Landesrecht zuständigen Stellen. Hierzu zählen in aller Regel die Behörden und Einrichtungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (z. B. § 5 ÖGDG NRW), die je nach Landesrecht einer eigenen Organisationsstruktur unterliegen. Vornehmlich sind die Gesundheitsämter als örtliche Einrichtungen zuständig. Die zuständigen Stellen informieren die Bevölkerung über den allgemeinen und individuellen Infektionsschutz sowie über Beratungs-, Betreuungs- und Versorgungsangebote des Staates. Unterstützung finden die nach Landesrecht zuständigen Stellen durch die zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) gehörende Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Sie befasst sich unter anderem mit allen die Allgemeinheit betreffenden gesundheitsrelevanten Fragen mit dem Ziel, Gesundheitsrisiken vorzubeugen. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt das zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gehörende Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), etwa mit Informationen, Empfehlungen und Aufklärung zur Hygiene im Lebensmittelbereich. Mit ihren Empfehlungen und Stellungnahmen spricht die Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI zum Zwecke eines besseren und nachvollziehbaren Verständnisses für einen umfassenden Impfschutz aufklärend die Allgemeinheit an. Sie wendet sich jedoch in erster Linie an die medizinischen Fachkreise. Somit nehmen die STIKO-Impfempfehlungen gleichsam eine gewisse Zwitterstellung ein. Bei der Erstellung ihrer Empfehlungen nimmt die Kommission eine ihr staatlich zugewiesene Aufgabe wahr. Dennoch haben die Empfehlungen keine unmittelbar rechtliche Verbindlichkeit. Die öffentliche Empfehlung einer Schutzimpfung durch die STIKO befreit deshalb den die Impfung vornehmenden Arzt im Rahmen des Behandlungsverhältnisses nicht von der Aufklärungspflicht über die mit der Impfung wohlmöglich verbundenen Risiken. Die Verwirklichung von Schutzimpfrisiken, etwa durch mangelhafte Aufklärung des Arztes hat die Rechtsprechung mehrfach in Haftungsfällen auf Schadensersatz wegen Körperverletzung beschäftigt, wobei die Bedeutung der STIKO-Empfehlung für den Umfang der ärztlichen Aufklärung im Mittelpunkt stand. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Aufklärung zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten Von der Aufklärung der Allgemeinheit als öffentliche Aufgabe staatlicher Stellen zum Zwecke der Prävention übertragbarer Krankheit zu unterscheiden ist die individuelle Aufklärung durch den Arzt bei der Behandlung seines Patienten zur Informationsvermittlung und Verständniskontrolle über das Behandlungsgeschehen. Die ärztliche Aufklärungspflicht basiert auf der Beachtung des grundgesetzlich geschützten Selbstbestimmungsrechts. Sie ist in der Regel Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung in jedwede ärztliche Behandlungsmaßnahme (§ 630 d BGB). Gesetzlich verankert wurde die Aufklärungspflicht im Rahmen eines Behandlungsverhältnisses erstmals durch das Patientenrechtegesetz (§§ 630 a-h BGB) im Jahre 2013. Dieses Gesetz hat die Grundsätze der jahrzehntelangen Rechtsprechung zu Art, Umfang und Form der ärztlichen Aufklärung kodifiziert (§ 630 e BGB). So muss der Arzt z. B. über die Art des Eingriffs und seine nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegenden Risiken (sogenannte Eingriff-/Risikoaufklärung) ebenso aufklären wie über ein therapiegerechtes Verhalten des Patienten zur Gewährleistung des Behandlungserfolges (sogenannte Sicherungsaufklärung). Der Patient muss also in Folge der Aufklärung im Großen und Ganzen wissen, worin er einwilligt. Von der Rechtsprechung verneint wird eine Aufklärungspflicht über Infektionsrisiken z. B. im Krankenhaus durch multiresistente Keime. Zur Begründung wird darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um ein spezifisches Risiko eines bestimmten Eingriffs oder bestimmten Patienten handelt, sondern um ein generelles Problem von Antibiotikaresistenzen. Ebensowenig soll bei der Wiederverwendung ordnungsgemäß, den RKI-Empfehlungen entsprechend aufbereiteter Medizinprodukte zur einmaligen Anwendung (sogenannte Einwegprodukte) eine Aufklärungspflicht bestehen. Die Aufklärungspflicht obliegt dem behandelnden Arzt und darf nur unter bestimmten Voraussetzungen delegiert werden. Aufklärungsadressat ist der zu behandelnde Patient. Bei Minderjährigen kann dies im Einzelfall problematisch sein, da sich Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen einerseits und das Personensorgerecht des gesetzlichen Vertreters, z. B. der Eltern andererseits, gegenüberstehen. Grundsätzlich gilt, dass der Patient wirksam einwilligen kann, der einwilligungsfähig ist. Einwilhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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ligungsfähigkeit (Nicht: Volljährigkeit) liegt vor, wenn der Patient die Tragweite und Bedeutung des Eingriffs und seiner Gestattung kennt. Dies kann auch bei Minderjährigen der Fall sein. Zu empfehlen und anzustreben ist in einem solchen Fall eine gemeinsame Aufklärung und Einwilligungserklärung des Minderjährigen und seines gesetzlichen Vertreters. Als Aufklärungsform sieht das Gesetz in Übernahme der bisherigen Rechtsprechung Mündlichkeit vor, die sich in der Praxis in einem vertrauensvollen Gespräch widerspiegelt. Ergänzend kann, so der Gesetzgeber (§ 630 e Abs. 2 BGB), auf schriftliche Unterlagen Bezug genommen werden. In der Rechtsprechung ist derzeit umstritten, in wieweit bei sogenannten Routineimpfungen – etwa solche, für die schriftliche Empfehlungen der STIKO vorliegen – das Überlassen dieser Unterlagen an den Patienten mit dem Hinweis auf Kenntnisnahme der Anforderung auf Mündlichkeit als Aufklärungsmaßnahme genügt. Der eindeutige Gesetzeswortlaut ergänzend kann Bezug genommen werden lässt wohl nur den Schluss zu, dass die ausschließliche Aushändigung eines Informationsblattes ohne eine weitere mündliche Aufklärung den Anforderungen nicht genügt. Des Weiteren ist von Bedeutung der Zeitpunkt der Aufklärung. Dieser muss so gewählt sein, dass dem Patienten eine Entscheidung über seine Einwilligung eingeräumt ist. Diese Beurteilung hängt vom Einzelfall ab. Grundsätzlich kann gelten, dass bei kleineren, risikoärmeren stationären Eingriffen die Aufklärung am Vortage erfolgen kann, bei schwierigeren risikoreichen Eingriffen bei Feststellung des Operationstermins, über Narkoserisiken am Vorabend des geplanten Eingriffs, bei diagnostischen und ambulanten Eingriffen am gleich Tag sowie bei operativen Eingriffen von diesen deutlich zeitlich abgesetzt. Neben der Aufklärungspflicht obliegt der Behandlungsseite eine Informationspflicht gegenüber dem Patienten, wenn eine Kostenübernahme etwa durch die Krankenversicherung nicht sicher erscheint. Dieser wirtschaftlichen Informationspflicht ist in Textform nachzukommen (§ 630 c Abs. 3 BGB).

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Hygiene im Recht

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Zusammenfassung Die deutsche Rechtsordnung nimmt in vielfältiger Weise mit unterschiedlicher Zielsetzung Bezug auf die Hygiene. Soweit das Ziel zuvorderst auf den allgemeinen Infektionsschutz gerichtet ist, fordert der Gesetzgeber als Präventionsmaßnahme eine Aufklärung der Allgemeinheit und formuliert diese als öffentliche, staatliche Aufgabe. Daneben besteht eine Aufklärungspflicht im Rahmen des privaten Behandlungsverhältnisses zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, die im Einzelfall auch hygienerelevante Umstände zum Inhalt haben kann.

Weiterführende Literatur A. Schneider/G. Bierling, Hygiene und Recht (HuR). Entscheidungssammlung, Richtlinien, Wiesbaden – Stand 2014. A. Martis/M. Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Köln 2014. R. Ratzel/B. Luxemburger, Handbuch Medizinrecht, 2. Aufl., Bonn 2011. A. Laufs/B. R. Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., München 2010. R. Bergler, Psychologie der Hygiene, Dresden 2009. S. Bales/H. G. Baumann/N. Schnitzler, Infektionsschutzgesetz. Kommentar und Vorschriftensammlung, 3. Aufl., Stuttgart 2014.

Internetquellen www.rki.de www.stiko.de www.awmf.de www.bzga.de www.bfr.de

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II. Medizingeschichte und Philosophie

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Was ist Aufklärung über Hygiene? Ein Streifzug von der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart

Wer klärt wen wie über was wieweit auf? Diese Frage führt hin zu unterschiedlichen Antworten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, wobei zunächst ganz unklar bleibt, was eigentlich unter „Hygiene“ verstanden wird. Klar ist, dass schon seit der Antike über Hygiene aufgeklärt wird, was bedeutet, dass die Gesundheit im weitesten Sinne betreffende Ratschläge für z. B. diätetische Lebensstile gegeben werden, aber auch dass Wasser sauber sein soll und Krankheiten nicht nur durch die physische Konstitution – den Haushalt der vier Säfte –, sondern auch durch die jeweiligen Umweltbedingungen erzeugt werden können. Weit bevor die moderne Medizin Einzug hält, klären Mediziner der Aufklärungszeit wie Hufeland immer noch intensiv über Diätetik und Verhaltensweisen zur Lebensverlängerung auf und nutzen in besonderer Weise die neuen öffentlichen Medien. Immanuel Kant steht für den Gipfel rationaler und kritischer Aufklärung in Deutschland, daher ist es nicht verwunderlich, wenn in Zeitschriften mit seinen berühmten philosophischen Schriften auch konkrete Missstände in Sachen Hygiene gebrandmarkt werden. Paradigmatisch für die Aufklärung in der Folgezeit, aber noch im vorbakteriologischen Zeitalter ist der Fall Semmelweis, der auch neues Licht auf die Wissenschaft wirft. Mit dem Zeitalter der Bakteriologie, mit den Entdeckungen von Pasteur und Koch, wendet sich das Blatt erneut, denn nun kann nicht mehr ein Miasma oder Kontagium oder gar ein „Leichenstoff“ wie noch bei Semmelweis verantwortlich gemacht werden, nun tritt man konkret in einen Kampf gegen die Krankheitserreger ein. Eine neue Form der Aufklärung über Hygiene bricht an, die nicht nur die Wissenschaft und Öffentlichkeit angeht, sondern mittels Chemie und Technik bis tief in die Hausstube das Reinigungsverhalten, z. B. der Hausfrau, prägt. Ein besonderes Kapitel zur „Biomacht“ wird im Hygienekontext aufgeschlagen, bahnt sich zunächst in der Wissenschaft seinen Weg als „Rassenhygiene“ und führt im metaphorischen Verbund mit der Bakteriologie, dem Kampf gegen jede Art https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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von Bazillus, zu einer perfiden Politik der „Säuberung“ des „Volkskörpers“, der rassistischen Volksreinigung und Ausmerzung bis hin zur „Entlausung“ im KZ. Die Hygieneaufklärung der Nachkriegszeit hält neue Überraschungen bereit, z. B. den ungebändigten Einsatz von DDT in den USA, aber auch den permanenten Kampf der „Hausfrau“ um Reinheit und Sauberkeit im Alltag. Hygiene und Reklame gehen seit „Persil“ ein mediales Aufklärungsbündnis ein, das bis heute besteht. In der Gegenwart fächert sich dieses Bündnis immer mehr auf – Hygieneskandale sind an der Tagesordnung – von MRSA im Krankenhaus bis hin zu Legionellen im Brauwasser für Bier. Skandale folgen ihrer eigenen medialen Logik, ihr Aufklärungswert ist umstritten und ephemer. Daher steht immer noch die Frage nach einer „vernünftigen“ Aufklärung über Hygiene im Raume – wie schon zur Aufklärungszeit im 18. Jahrhundert – und es gibt immer wieder neue Herausforderungen, die auch Geisteswissenschaftler angehen – bis hin zu einer Ethik der Hygiene. Diese grobe Skizze der Hygieneaufklärung wird im nachfolgenden Beitrag anhand von Exempeln illustriert und vertieft. Es wird sich zeigen, dass immer neue Varianten und Formen der Aufklärung vorliegen oder gefordert sind. Jede für sich fasziniert oder erschrickt, insbesondere, wenn etwas geschieht, womit man nicht gerechnet hat – auch dies macht einen Streifzug durch die Geschichte der Hygieneaufklärung spannend.

I. Aufklärung in der Aufklärungszeit Mit der Etablierung von medizinischen Aufklärungszeitschriften (z. B. von Unzer) und Büchern über die Diätetik bzw. „Makrobiotik“ (Hufeland) als Mittel zur Verlängerung eines gesunden Lebens erreicht die Aufklärung über Hygiene einen ersten Höhepunkt. Es sind nicht mehr primär institutionelle oder herrschaftliche Verordnungen, sondern Überzeugungen auf rationaler Grundlage, die das private und öffentliche Hygieneverhalten steuern sollen. Das Licht der Vernunft sollte auch auf das private und öffentliche Sauberkeitsverhalten fallen. So ist es nicht verwunderlich, wenn ausgerechnet in einer führenden Zeitschrift der Berliner Aufklärung sich Philosophie und Medizin die Hände reichen bzw. nebeneinander Beiträge publizieren, die höchstgrundsätzlich im Allgemeinen wie https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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an der Grenze zum Ekel im Besonderen „aufklären“ sollen, und sogar „Märtyrer“ der Hygieneaufklärung hervorbringen. Kant beantwortet in seiner berühmten Schrift „Was ist Aufklärung?“ in der Berlinischen Monatsschrift vom Jahre 1784 eben diese Frage wie folgt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“1 Die einen Interpreten halten es für einen philosophischen Höhepunkt, da sich hier ein Philosoph öffentlich zu Worte meldet und den Bürger aus seinem unmündigen Schlaf reißt, andere sehen darin die Überheblichkeit eines Aufklärers, der ja gerade durch diese Art der Aufklärung sich selbst für aufgeklärt hält, den angesprochenen Bürger aber zur leidigen Gefolgschaft entmündigt – und damit den hohen Anspruch in sein Gegenteil verkehrt.2 In Erläuterungen folgen bei Kant nicht weniger berühmte Sätze, welche die „Unmündigkeit“ und die „Selbstverschuldung“ näher bestimmen – mit dem Fazit: Wage es, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen und stütze Dich nicht auf fremde Autorität, ohne diese kritisch geprüft zu haben. Was Kant hier grundsätzlich fordert, wird im gleichen Band der Berlinischen Monatsschrift von 1784 nur wenige Seiten entfernt auf Hygienemissstände in Berlin angewandt. Hier findet sich ein allerdings anonymer und längerer Bericht eines Besuchers aus „Wien“, der Zustände in Berlin um 1780 leibhaftig erfährt und beschreibt. Der nette „Wiener“ hat sich bei einem Wirt einquartiert und unleidlichen Gestank bemerkt. Er hört von den Eimerfrauen, die gemäß polizeilicher Anordnung jede Nacht menschliche Exkremente über Brücken an Schleusen in die Spree entsorgen, so auch im Sommer bei niedrigem Wasserstand, was alles noch recht normal klingt (vgl. Abb. 1). Dem Besucher sind die gesundheitlichen Gefährdungen bewusst. Richtig unappetitlich aber wird der Bericht, als der Berliner Wirt frei heraus erzählt, dass die Brauknechte Besen vor die Mündung der Brunnen legen, „um nur die Quintessenz und nicht die Brokken selbst ins Brauhaus zu führen. Es ist dieses eben das weiße Bier, von welchem Sie gestern Nachmittag sagten, daß es gut schmekte [sic],

1 2

I. Kant, „Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?“, Berlinische Monats­ schrift IV. Band, 1784, Zwölftes Stük. [sic] December, S. 480-494: S. 481. H. Böhme/G. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt a. M. 1983; M. Geier, Kants Welt, Reinbek 2003.

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Abb. 1: „Eimerfrauen“ um 1800 tragen Defäkationen zu den Flüssen.

und Ihren Durst so angenehm kühlte.“3 Der offenkundig angewiderte „Wiener“ wird elend krank und geht schließlich an der Ruhr zugrunde. Ein „Verwandter“ des Wieners fühlt sich dazu verpflichtet, der Berliner Monatsschrift diesen Bericht mitzuteilen. Wie funktioniert diese Art der Aufklärung über Hygiene? Nicht wissenschaftliche Analysen und Erörterungen, sondern Dramaturgie und unmittelbare Betroffenheit, Ekel und Abscheu werden zur Volksaufklärung eingesetzt. Aber es folgt noch eine andere Art der Aufklärung. Denn unmittelbar hinter dem Bericht wird eine frühere, im Jahr 1779 verfasste „Eingabe an das Obersanitätskollegium in Berlin“ dokumentiert.4 Die beschriebenen Zustände seien Ursache für „Ruhr“ und „Pokken“ sowie epidemische und „faule Fieber“5 in Berlin. „Todtenzettel“ belegen die quantitativen Folgen.6 Eine Klage über die Untätigkeit der Berliner Verwaltung folgt, wobei der 3 4 5 6

„Xaverius Großinger in Wien, an die Herren Herausgeber der Berlinischen Mo­ natsschrift, Wien. D. 22. Julius 1784“, in: Berlinische Monatsschrift, hrsg. von F. Gedike und J. E. Biester, Vierter Band, Berlin 1784, S. 201-223, S. 211. „Eingabe an das Obersanitätskollegium in Berlin von einem Mitgliede der­sel­ ben.“, in: Berlinische Monatsschrift, hrsg. von F. Gedike und J. E. Biester, Vierter Band, Berlin 1784, S. 223-231. Ebd., S. 226. Ebd., S. 227.

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Unterschied zu anderen Residenzstätten wie Warschau, London, Straßburg oder Frankfurt betont wird. Konkrete Vorschläge zur Abhilfe werden gemacht, wie das Sammeln von „Unflath als Dünger“.7 Dennoch: offenbar war die Eingabe erfolglos, sodass der Bericht des anonymen „Wieners“ in einer Aufklärungszeitschrift für Intelektuelle erscheinen mußte. – Hier greifen nun wissenschaftliche, politische, ästhetische und ökonomische Gründe und tragen zur Aufklärung bei. Doch war alles gut platziert und inszeniert. Der anonyme Wiener war offenbar kein geringerer als der Berliner Gelehrte und zugleich Mitglied einer Aufklärungsgruppe, der sog. „Mittwochsgesellschaft“, Johann Carl Wilhelm Moehsen (1722–1795). Der bekannte Arzt und Medizinhistoriker war seit 1778 Leibarzt Friedrich des II. Moehsen hatte dem Zeitgeist gemäß gewagt, seinen eigenen Verstand zu benutzen und sich nicht durch unfähiges Obrigkeitsverhalten einschüchtern zu lassen. Die intellektuelle Öffentlichkeit sollte aufgeklärt und mobilisiert werden, um offenkundige Missstände abzustellen. Es geht also nicht mehr bloß um individuelle, sondern um institutionelle Hygienaufkärung. Christoph Wilhelm Hufeland kann paradigmatisch als berühmter Mediziner genannt werden, der durch seine „Makrobiotik“ dem Volk die „Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ (1797) vor Augen führte: „Man erlaube mir, hier auf eine Inkonsequenz aufmerksam zu machen … Bey Pferden und anderen Thieren ist der gemeinste Mann überzeugt, daß gehörige Hautkultur ganz unentbehrlich … sey. Bey seinem Kinde aber und bey sich selbst fällt ihm dieser einfache Gedanke nie ein. Wird dies schwach und elend, … bekommt es die sog. Mitesser (alles Folge der Unreinlichkeit), so denkt er eher an Behexung und anderen Unsinn, als die wahre Ursache, unterlassene Hautreinigung.“8 Hufeland geht es um intime individuelle Volksaufklärung und die Botschaft ist klar: „So vernünftig, so aufgeklärt sind wir bey Thieren; warum nicht auch bey Menschen?“9 Johann Peter Frank (1745–1821) steht mit seinem klassischen Werk über das „System einer vollständigen medicinischen Policey“ (1779–1819) für eine umfassende staatliche Disziplinierung und Kontrolle der Hygiene und damit für ein programmatisches öffent7 8 9

Ebd., S. 229. C. W. Hufeland, Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797, S. 590f. Ebd., 591.

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liches Gesundheitswesen, das sich an Statistiken, Wahrscheinlichkeiten und Kalkulationen von Gesundheitsrisiken orientiert. Hygiene ist auf dem Weg, zur rationalen Staatsaufgabe mit Institutionen und im Recht zu werden. Selbst Kant wollte nicht nur im Allgemeinen anthropologisch aufklären, sondern interessierte sich auch für die Ausbreitung von Epidemien. Diesbezüglich publiziert er eine „Nachricht an Aerzte“ in der Königsbergischen Zeitung (1782), um auf deren Ausbreitung durch internationale Handelsverflechtungen (z. B. bei der Pest) aufmerksam zu machen, und weist auf eine Publikation zur InfluenzaEpidemie in London von 1776 hin.10 Empirisch und anthropologisch fragt er in seiner Anthropologie auch nach der vitalen Rolle des Ekels als Hinweis auf Gefahr und schlechte Nahrung.11 Er scheut sich auch nicht darauf hinzuweisen, dass die „Tungusen“ den Rotz aus den Nasen ihrer Kinder aussaugen und verschlucken.12

II. Aufklärung mit und ohne Bakteriologie Bekanntlich steht das biografische Drama um Ignaz Semmelweis für ein spezielles Aufklärungs- und Heldenepos der Hygienegeschichte, wenngleich die vielen Biografien und Analysen bis heute nicht letzte Klarheit über sein Schicksal geschaffen haben. Sein persönliches Pech war offenbar, noch im vorbakteriologischen Zeitalter zu leben, seinen Arztberuf auszuüben und zu wirken. Bei Semmelweis bestand zudem ein Dilemma zwischen medizinischer Theorie und alltäglicher Praxis der Hygiene. Denn seine Theorie entsprang einer vorbakteriologischen Kausalperspektive, als er schließlich einen „Leichenstoff“ für das „Kindbettfieber“ verantwortlich machte. In der Praxis konnte er dennoch mit Hilfe von beobachtender Erfahrung und Statistik diese „Ursachen“ weitgehend beseitigen. Sein „Glück“ war dabei, an dem damals riesigen Wiener Krankenhaus die merkwürdige unterschiedliche Lage auf zwei Gebärstationen vor Augen zu haben; sie wurden im Alltag unterschiedlich betrieben – 10 I. Kant, „Nachricht an Ärzte“, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe Bd. VIII, Berlin 1968, S. 6-8. 11 I. Kant, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Band VII, Berlin 1968, S. 157. 12 Ebd., S. 178

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eine Station allein durch Schwestern, die andere mit besuchenden Studenten der Medizin. Letztere kamen von der Pathologie direkt auf diese Station, um die gebärenden Frauen zu untersuchen. Der infizierende Fingerschnitt mit tödlichen Folgen bei einem Kollegen führte Semmelweis auf die Spur eines „Leichenstoffes“ als Ursache des Kindbettfiebers. Dieser konnte von Semmelweis durch Händewaschungen mit einer desinfizierenden Lösung beseitigt werden. Die Geschichte hätte nun eigentlich zu Ende sein können. Doch viele Faktoren kulminieren zu einem Drama: Konkurrenz und Vorurteile im Krankenhaus, Miss- und Unverständnis, die verzögerte Publikation seiner Ergebnisse, nationale Interessen, öffentliche Briefe an Kollegen, persönliche Ambitionen und eine Krankheit von Semmelweis usw. All das führte zu einer komplexen Verkettung ungünstiger Umstände für Semmelweis und zu einem vorbakteriologischen Aufklärungsdesaster. Der größte „Fehler“ des „Retters der Mütter“ war wahrscheinlich, nicht mit der Schuldverdrängung seiner Kollegen zu rechnen und diese dann als „Mörder“ zu diffamieren. Damit hatte er nicht nur die „kausale“ Wissenschaft gegen sich, sondern auch viele seiner Kollegen, wenngleich einige seine antiseptischen Methoden ohne großes Aufsehen in der Praxis einführten – und einzelne sogar mit ihrer „Schuld“ am Tod so vieler Mütter nicht fertig wurden und Selbstmord begingen.13 Dieser ewige Märtyrer der Hygieneaufklärung wurde vom „Verräter“ zum „Psychopathen“ erklärt, war aber wohl ein ganz „normaler“ Rätsellöser oder auch Gefangener in einem vorbakteriologischen Paradigma im Sinne Kuhns. Insofern war er wohl weder „Märtyrer“ noch ein „Held“. Spekulationen über seine Krankheit und seinen Tod sind bis heute spannend, ob es nun Syphilis, Alzheimer oder endlich doch eine „Blutvergiftung“ gewesen. ist Medizinhistoriker benötigten lange, mehr Klarheit in diesen Fall zu bringen. Es schien, dass die „unreinen“ Ärzte kein „reines“ Gewissen hatten. Im Jahr 1902 bemerkt der Medizinhistoriker Müller dazu lapidar: „Für Semmelweis lag nun die Sache noch dadurch ungünstig, daß seine Fachgenossen durch Annahme seiner Lehre notwendig eine gewisse Schuld eingestehen mußten. … Der Mensch ist ja äußerst erfinderisch in Selbsttäuschung und besonders in nichts ingeniöser,

13 Vgl. zu Semmelweis H. W. Ingensiep/W. Popp (Hrsg.), Hygiene und Kultur, Essen 2012, S. 48-50.

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als in der Kunst, die wahren Motive seines Handelns nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich zu verbergen.“14 Was lernen wir daraus für die Aufklärungsfrage? Bereits die Kirche wusste, dass „Märtyrer“ nützlich sind, doch gerade von ihr lernen wir auch, dass ihr eigentlicher Aufklärungswert bei näherem Hinsehen und historisch-kritischer Analyse gering ist, da man oberflächlich auf eine naive Nachfolge oder eine sentimentale und narzisstische Identifizierung mit dem „Vorbild“ setzt. Semmelweis taugt wenig zur Heiligenverehrung. Das „Semmelweis-Syndrom“ wird heute anders gedeutet. Nach dem Lernpsychologen Linker gilt Semmelweis als tragisches Beispiel für einen negativen Lernprozess, der auch noch für modernes Management relevant ist.15 Zigtausende Mütter hätten vor dem „Kindbettfieber“ gerettet werden können, wenn die Kollegen nicht so borniert gewesen wären. Semmelweis habe versucht, Menschen zu überzeugen, die glaubten, von Haus aus bereits alles Wissenswerte zu wissen. „Menschen ändern sich aber nur ungern und lassen sich schon gar nicht gern Fehler nachweisen. Schuld haben doch immer die anderen, oder die Umstände! … Ganz sicher hätte er Erfolg gehabt, indem er ein großes Schild vor die Klinik gepflanzt hätte mit der Inschrift: In diesem Haus stirbt keine Frau an Kindbettfieber.“16 Der Nutzen wäre offenbar. Die Familien hätten mit den Füßen abgestimmt und sein Krankenhaus überlaufen. Außerdem hätten die anderen Krankenhäuser versucht, seinen Erfolg nachzuahmen. Doch könnte man auch diese Analyse für anachronistisch halten. Denn Semmelweis hatte ja später seine neuen Methoden in seinem Krankenhaus in Ungarn eingeführt, wenngleich nach der top down-Methode. Mit heutigen sozialen Kontakten, mit freiem öffentlichem Informationsaustausch oder gar Patientenautonomie war in seiner Zeit nicht zu rechnen. Doch scheint diese Methode im Hinblick auf das aktuelle Imageproblem in Sachen Hygiene (z. B. bei MRSA) angebracht und ein positiver Lernprozess in Gang gesetzt, wenn z. B. spezifische Infektionsstatistiken öffentlich gemacht werden. Eine andere Frage

14 F. C. Müller, Geschichte der organischen Naturwissenschaften im 19. Jahr­hun­ dert. Medizin und deren Hilfswissenschaften, Zoologie und Botanik, Berlin 1902, S. 490f. 15 Vgl. zu Linker C. Monnet, „Erkenntnisse aus der Gehirnforschung“, in: Zeit­ schrift für Systemdenken und Entscheidungsfindung im Management, 01/ 2006, S. 105-131. 16 Ebd., S. 110f.

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Abb. 2: Technische „Desinfektion“ in der Wohnung um 1900.

ist, ob diese Informationen aussagekräftig sind und – ob der Patient sie beurteilen kann. Gehen wir ins bakteriologische Zeitlalter, das gerne mit Robert Kochs Diktum hochmütig auf die vorbakteriologische Epoche zurückblickte: Wenn ein Arzt hinter dem Sarg seines Patienten gehe, so folge manchmal tatsächtlich die Ursache der Wirkung. Im Zeichen der neuen Wissenschaft glaubte man, die wahre Ursache so vieler Krankheiten zu kennen, die Bakterien. Man kannte sogar wirksame Methoden, sie zu bekämpfen. Ironischerweise traf der obige Spruch aber auch auf Kochs eigene Arbeiten zum „Tuberkulin“ zu, dessen Erfolglosigkeit gegen Tuberkulose sich später herausstellte, wie auch auf seinen Einsatz von Arsenhaltigen Mitteln gegen die Schlafkranheit. Dennoch gilt Robert Koch als der Held der neuen Wissenschaft. Bald spricht alle Welt die Sprache der neuen Wissenschaft von der „Infektion“ oder der „Desinfizierung“. Die neue Wissenschaftssprache wird zum Instrument der Aufklärung und Koch wird zum unerbittlichen „Jäger der Mikroben“, der den Bazillen den „Krieg“ erklärt. Eine bis heute bekannte metaphorische Militär- und Ausrottungssprache formiert sich in dieser Epoche und fungiert als Mittel der „Biopolitik“.17 17 P. Sarasin (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Un­ sichtbaren 1870–1920, Frankfurt a. M. 2007.

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Bakterien werden nun überall gefunden und sie können ins Blut gelangen. Was ist also zu tun? Das gemeine Volk musste in „gemeinverständlichen Vorträgen“ aufgeklärt werden wie beispielsweise in Heinrich Jägers Bakteriologie des täglichen Lebens.18 Durch den Einsatz „modernster“ Technik der Marke „Atom“ wurde nun die Hausfrau aufgefordert, ihren ganz persönlichen praktischen Beitrag zur Beseitigung von Bakterien zu leisten (vgl. Abb. 2). Die finale „Desinfektion“ sollte im Staubsauger durch die Bindung der Keime an Teerballen erfolgen – und auch die Jungs hatten etwas zu tun. Andere Strategien wurden in den Medien verfolgt und sind bis heute bekannt. Die Jugend musste nicht nur kultiviert, sondern vor allem zur stetigen Nachahmung angeregt werden, z. B. bei der Mundhygiene. Mundwasser wie das bis heute berühmte „Odol“ waren Mittel nach bestem Stand der Wissenschaft. Was war klüger, als bei der Mundhygiene die „äffische“ Nachahmung vor Augen zu führen, um dem vermeintlichen „homo sapiens“ Beine zu machen. Dies illustriert ein Fund aus der Münchner Jugend (1903, Nr. 18, 321): „Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ist Odol das beste“, der bis hinein in die 1960er Jahre auf einer Marke seine Botschaft übermittelt (Abb. 3). Um 1900 wird auch die medizinische Hygieneaufklärung in sexuellem Kontext forciert, vor allem vor dem Hintergrund des Auftretens von Syphilis.19 Mehrbändige populärwissenschaftliche Aufklärungsschriften erörtern „Die Moral in ihren Beziehungen zur Medizin und Hygiene“20, worin über das organische Leben, das geistig-sinnliche Leben, das geschlechtliche Leben, vor allem über „Coelibat und Ehe“ und das „geschlechtliche Leben“ bis zur Niederkunft des Kindes aufgeklärt wird. Speziellere Schriften klären auf über Anatomie, Physiologie, Psychologie, über Onanie und Funktionen des Geschlechtsgenusses in der Ehe, kurz über „Sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen“.21 Einige Jahrzehnte später zeigten sich weitere Facetten der Aufklärung über „Hygiene“, denn nun hatte sich allmählich die „Rassenhygiene“ etabliert und war zum biopolitischen Instrument der 18 H. Jäger, Bakteriologie des täglichen Lebens, Hamburg 1909. 19 A. N. Baer, Die Hygiene der Syphilis. Prophylaxe und Behandlung. Viertes bis Fünftes Tausend, Berlin und Leipzig 1893. 20 G. Surbled/A. Sleumer, Die Moral in ihren Beziehungen zur Medizin und Hygiene. Bd. I-IV, Hildesheim 1909. 21 S. Ribbing, Die Sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen. 8. Auflage, Leipzig 1892.

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Abb. 3: Werbung für Mundhygiene zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts.

Diffamierung und Ausmerzung unliebsamer Zeitgenossen geworden. Aus den militärischen Metaphern in der Propagandasprache wird nun tödlicher Ernst. Hitler wollte die Juden nun so bekämpfen wie einst Koch die gefährlichen Bazillen. Sein Propagandaminister Göbbels erklärt 1942: „Es ist ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus“.22 Robert Koch wird im Kinofilm durch Emil Jannings dargestellt und zum „Bekämpfer des Todes“ erklärt: „Der Kampf beginnt und wird nicht enden bevor der Feind besiegt ist“.23 Zur vermeintlichen „Desinfektion“ werden von den Nazis bekanntlich Menschen in die Gaskammer geschickt, zwecks „Entlausung“ und „Entwesung“, also mit infamen, zynischen „wissenschaftlichen“ Hygienebegründungen. Der lange Zeit übliche Ausdruck „Entwesung“ stellt in seiner schillernden Doppeldeutigkeit zugleich die existentielle Lebensberechtigung infrage. – Nach der Befreiung von diesem unmenschlichen Regime mussten sich viele Akteure und Mitläufer durch eine „Entnazifizierung“ emotional und ethisch rein waschen – man sprach vom „Persilschein“, womit bereits eine neue Epoche der Hygieneaufklärung angezeigt ist.

22 Sarasin 2007, S. 42. 23 Ebd.

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III. Hygieneaufklärung in der Nachkriegszeit Am Nierentisch der deutschen Nachkriegszeit war erneut die Hausfrau und Mutter gefragt, Hygiene in der häuslichen und erzieherischen Praxis umzusetzen. Die neuen TV-Medien wurden einflussreich wie nie zuvor. Kind, Mutter, Tante und männliche Berater, sogar der Teufel selbst, wurden medial eingesetzt, um Wäsche mit „Persil“ nicht nur „sauber“, sondern „rein“ zu waschen (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: Hygienereklame in den neuen Medien der Nachkriegszeit.

Ferner wurden insbesondere in den USA, dann global neue Entdeckungen der Wissenschaft für die Hygienepolitik eingesetzt. Penicillin, das durch Fleming im Jahr 1928 entdeckt wurde, war in den Kriegsjahren in großen Mengen produziert worden und zum Lebensretter für viele verwundete und infizierte Soldaten geworden. Nach dem Krieg war sogar die amerikanische Hausfrau im Zeichen der Ideologie des „Do it yourself“ zur Eigenproduktion von Penizillin aus Schimmelpilz aufgefordert (vgl. Abb. 5). Neue Leitbilder in Sachen Hygiene schlagen durch und fördern den Einsatz von Antibiotika, wodurch aber auch ganz neue Problemfelder erzeugt werden. Durch die Wissenschaft und frühe Erfolge befördert, kommt es zum unkontrollierten Einsatz von Penizillin und damit zur zunehmenden Selektion von resistenten Bakterien. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Abb. 5: Penizillin als neues Wundermittel der Wissenschaft.

Ein anderes Wundermittel der Wissenschaft war das Schädlingsbekämpfungsmittel DDT. Es wurde in dieser Zeit in den USA ebenfalls in Unmengen großräumig eingesetzt, um in der Landwirtschaft Schadinsekten zu vertilgen, aber eben auch im städtischen, häuslichen und persönlichen Bereich, um Überträger von menschlichen Krankheiten auszumerzen. Das öffentliche Hygieneregime tangiert hier historisch wichtige Anfänge der modernen Umweltbewegung. Denn die Biologin Rachel Carson publiziert 1962 ihr einflussreiches Buch Silent Spring (dt. Der stumme Frühling), worin sie als einer der ersten Wissenschaftler den unkontrollierten Einsatz und die verheerenden Folgen des Einsatzes von DDT für die Umwelt dokumentiert und öffentlich kritisiert. Bekannt ist das massive Verschwinden von Singvögeln in den großen amerikanischen Agrarzonen, der „stumme Frühling“ (vgl. Abb. 6). Die 68er Generation und ihre Perspektive auf die persönlichen und häuslichen Hygienevorstellungen war eine völlig andere und vor allem um psychologische Aufklärung bemüht. Man orientierte sich an Freudianischen Konzepten, wenn es um übermäßigen Reinlichkeitswahn ging, und bemühte sich um Aufklärung über Sexualität, Aggression und Verdrängungsmechanismen. Ein Kursbuch der Folgezeit blickt auf Pest und Cholera zurück, vor allem aber auf die neue Seuche HIV, deren Behandlung in Aids-Spots von ARD

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Abb. 6: Einsatz von DDT als Universalmittel und Anfänge der Umweltbewegung.

und ZDF im Detail „als typisch für die aggressionsgehemmte Befangenheitsform des HIV-Bonus“ analysiert wird. Soziale Diskriminierung nach Infektion, Stigmatisierung, Tabus kommen in dieser Zeit zur Sprache und werden im Geiste der modernen sexuellen Aufklärung, insbesondere über Homosexualität, thematisiert, aber auch die „Rache der Kleinsten“, der Mikroorganismen, kommt aus evolutionärer Sicht zur Sprache.24 Eine weitere Generation lenkt die Aufmerksamkeit auf die globalen und ökologischen Dimensionen der Hygiene. Weit entfernt von der „Rassenhygiene“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird nun das Thema „Umwelt und Hygiene“ neu entdeckt. Der radikale Einsatz von Antibiotika erzeugt nicht nur multiresistente Keime im Krankenhaus, sondern überall im Boden und in Gewässern. Rückstände von chemischen Hygieneartikeln der Wohlstandsgesellschaft sind überall in der Umwelt zu finden. Konkrete Folgen des intensiven Einsatzes von Antibiotika in der Massentierhaltung werden erkannt, was indirekt den enormen Fleischverzehr in einer kapitalistischen Konsumgesellschaft anzeigt. Eine Frage ist, ob eine ökologische Landwirtschaft oder der privat engagierte Veganer die24 Kursbuch 94, Die Seuche, Berlin November 1988; zu Aids in den Medien vgl. S. 54-58 und zur „Rache der Kleinsten“ S. 149-162.

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Abb. 7: Dimensionen und Akteure der Hygieneaufklärung heute.

se Probleme durch neue Lebensformen ändern können. Damit befinden wir uns in der Gegenwart.

IV. Hygieneaufklärung heute Aktuell hat die Hygieneaufklärung viele Facetten, die nicht leicht auf einen Nenner zu bringen sind. Vor dem mittlerweile bekannten Hintergrund der „Wiederkehr der Keime“25 geht es um individuelle Aufklärung, institutionelle Aufklärung, interkulturelle Aufklärung, interreligiöse Aufklärung, ethische Aufklärung sowie um Aufklärung über ökonomische, rechtliche und politische Aspekte. Die Komplexität der Dimensionen und die Vielzahl der Akteure lässt sich in erster Annäherung schematisch verdeutlichen (vgl. Abb. 7). In der Praxis stehen staatliche und private Institutionen wie Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen im Mittelpunkt, aber auch Schulen und die Familien sind involviert. Sie werden von „Exper25 Süddeutsche Zeitung vom 2.5.2014, Nr. 100, S. 16. Der Bericht behandelt die mittlerweile bekannte globale Zunahme von Antibiotika-Resistenzen und die War­nung der Weltgesundheitsorganisation WHO.

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ten“ beraten oder geführt, die primär durch die medizinischen Biowissenschaften, nur rudimentär durch die Geistes- und Sozialwissenschaften geprägt sind. Eine besondere Rolle haben die Medien, denn sie informieren meist in akuten Situationen den „Laien“ unter Einbeziehung von „Experten“ und treiben die Akteure in der Politik. Nicht selten droht in dem angedeuteten, dunklen „BermudaDreieck“ die Komplexität der Lage unterzugehen. Denn schnelle und klare Reaktionen werden gerade von den Medien eingefordert und bekanntlich neigen sie zur Skandalisierung der Probleme. Wer hat eigentlich heute den Aufklärungsauftrag? Mediale Inszenierungen, Mediziner-Hierarchien in den Institutionen, Dissens unter den Experten, Partei-Interessen kurzfristig agierender Politiker sind offenkundige Hindernisse einer „nachhaltigen“ Hygieneaufklärung. Hinzu kommen die angedeuteten komplexen Situationen.

Ein neueres Beispiel, wobei die institutionelle Aufklärung ebenso infrage steht wie die Aufklärung durch „Experten“ Das Beispiel ist in mancher Hinsicht aufschlussreich, verfolgt man diesen speziellen Legionellen-Skandal in einer ausführlicheren Medienchronik nur anhand der täglichen Zeitungstitel.26 Die Überschriften seit August 2013 dokumentieren die Sorgen um die Todesopfer und 150 weitere Betroffene, eine Reisewarnung für den Ort Warstein, dann die verwirrend komplexe Ursachensuche in einer Kühlanlage einer Brauerei, im Klärwerk oder sogar bei überfliegenden Vögeln, endlich die Sorge um das gebraute Bier, die Absage von Veranstaltungen, Ermittlungen wegen Todesfällen, die Problematik einer kompletten Außerbetriebnahme und einer Desinfektion von Brauerei- und kommunaler Kläranlage bzw. einer sicheren Kanalverbindung zwischen Brauerei und Kläranlage usw. Jenseits des medialen, politischen und technischen Aktionismus erfährt die Öffentlichkeit wenig über die definitiven Ursachen. Gegenläufige Gutachten finden kaum mediale Beachtung. Die öffentliche Aufklärung über diese bislang schwerste Legionellen-Epidemie in Deutschland bleibt unklar. Echte Aufklärung erfordert nicht nur Berichte über sensationelle Peaks und mediale Hypes, sondern langfristige, inves26 Weitere Hinweise und eine Chronologie zu diesem Fall finden sich auf der Home­ page „Hygieneaufklärung“ (www.hygiene-aufklärung.de).

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Abb. 8: Bürgerreaktionen auf unklare Hygieneaufklärung.

tigative Tiefbohrungen und auch interdisziplinäre Studien zu den strukturellen Hintergründen, ferner zu möglichen persönlichen, institutionellen, politischen und ökonomischen Interessen der beteiligten Akteure. Grundlegende Fragen aller Art wären zu beantworten: Was erfahren wir also aus den Medien? Was sagen die Hygieniker? Was sagen Experten für Siedlungswasser und Kläranlagen? Wie agieren öffentliche Institutionen und die Politik? Was aber denkt nun der auf diese Weise „aufgeklärte“ Bürger? Manchen Bürgern reicht es angesichts diverser Fälle dieser Art, vor allem, wenn sie sich im Gestrüpp von Paragraphen verfangen haben. Dies dokumentiert ein zynischer Bürgerkommentar in einem Internet-Blog (vgl. Abb. 8). Individuelle Aufklärung ist nach wie vor relevant. Manchmal kommt sie mehr am Rande auch in angesehenen Tageszeitungen wie der FAZ zur Sprache: „Unsere Kinder ersticken im Schmutz“ (FAZ, 23.1.2014). In einem Leserbrief fordert ein Mediziner frühe Reinlichkeitserziehung unserer Kinder ein. Die Toilettenreinigung sei Aufgabe im Elternhaus und „wichtiger als Ballett- und Gitarrenunterricht“. Daher bleibe es bei der alten Spruchwahrheit: „Nach dem Stuhlgang, vor dem Essen, Händewaschen nicht vergessen!“ (FAZ, 31.1.2014). Bei der interkulturellen und interreligiösen Aufklärung ist besonderes Expertenwissen gefragt, aber auch Einstellungen gegen-

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über Institutionen, Formen der Kommunikation und ein kulturelles Vorverständnis sind betroffen. Salman Rushdie lässt eine Mutter in Die Satanischen Verse ihren Sohn ermahnen: „Werd’ nicht so ein Ferkel wie die Engländer … Sie wischen sich den Allerwertesten nur mit Papier ab!“27 Diese kulturspezifische Perspektive und Ermahnung seiner Mutter wiederum hielt der Sohn für eine Verleumdung der Engländer, die er für ein hochzivilisiertes Volk hielt, dem er eine derartige Ferkelei nicht zutraute.28 Nicht zuletzt sind Krankenhäuser in den Metropolen auch interreligiöse und interkulturelle Begegnungsstätten, die für Arzt und Patient kommunikative Herausforderungen darstellen. Vorurteile und Missverständnisse in der Kommunikation gehören zum Alltag. Wer aber klärt eigentlich wen in dieser Institution worüber auf – Vertreter einer „zivilisierten Hochkultur“ Ankömmlinge einer „Immigrantenkultur“ – oder umgekehrt? Ferner bedarf es auch der Aufklärung innerhalb der heutigen Medizin, z. B. bei der Aus- und Fortbildung von Ärzten, und vor allem am jeweiligen Arbeitsort, selbst wenn sich Ärzte im Allgemeinen als echte oder vermeintliche Experten in Sachen Hygiene verstehen. Wie in den alten Zeiten eines Semmelweis stehen auch Ärzte, die „Götter“ im weißen Arztkittel, immer noch im Fokus der Medien, wenngleich meist mehr am Rande. Das andere Statussymbol, das Stethoskop, wurde vom Statussymbol zur Keimschleuder. Der Tagesspiegel berichtete über Studien in der „Wissenschaft am Wochenende“ und trug so ganzseitig zur öffentlichen Aufklärung über Verhalten von Medizinern bei.29 Die eine Studie im „American Journal of Infection Control“ von 2011 belege, dass 60 % von den untersuchten Kitteln an Ärmeln und in den Taschen MRSA-Keime enthielten. Eine andere Studie aus den „Mayo Clinic Proceedings“ von 2014 belege, dass Stethoskope ebenso als „Keimschleuder“ dienen. Demnach hörten Ärzte mit zuvor sterilisierten Stethoskopen und mit Wegwerfhandschuhen 71 Patienten ab. Anschließend wurden ihre Hände und das Stethoskop untersucht. Das Ergebnis: Die Stethoskope waren ebenso stark mit MRSA-Keimen besiedelt wie die Fingerspitzen der Ärzte. Aber auch Krawatten tragen zur Keimverbreitung bei. 27 S. Rushdie, Die Satanischen Verse, deutsche Ausgabe, o.O. 1989, S. 47. 28 Vgl. S. Schachtner, „Toilettenpapier. Zur Geschichte der Wischkultur“, in: H. W. Ingensiep/W. Popp 2012, S. 209-216. 29 A. Müller-Lissner, „Abschied vom Abhören. Zwischen Respekt und Infekt“, in: Der Tagesspiegel. Wissenschaft am Wochenende. 22.3.2014, Nr. 21994, S. 27.

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Hygiene-Produktvertreiber kennen bestens die Praxis der Handhabung und Haltung unter Ärzten. Auf Fortbildungsveranstaltungen für Fachärzte zeigen Tests mit Fluoreszenzmarkern, dass mehr als 50 % der Teilnehmer ihre Hände fehlerhaft desinfizieren. Warum ist das so? Es gebe schon Probleme im Vorfeld bei der Ansprache von Ärzten, so der Produktvertreiber. Im Ausland sei jeder Arzt froh über eine intensive Produkt- und Verhaltensberatung, deutsche Ärzte dagegen mögen solche Belehrungen nicht hören, sondern sie würden diese lieber selbst erteilen, so die irritierende Antwort eines Produktberaters auf persönliche Nachfrage. Vielfältige psychologische Dimensionen sind nach wie vor betroffen, wie auch ein Vertreter der klassischen Hygienepsychologie, Prof. Dr. Bergler, deutlich zum Ausdruck bringt. Viele glaubten, Aufklärung sei eine hinreichende Basis für vernünftiges Handeln. Eine solche „Aufklärung“ werde meist als bloße Vermittlung von Wissen verstanden. Wissen sei aber nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Denn „Viele tun nicht, was sie wissen.“ Bergler: „Praktische und theoretische Vernunft sind viel weiter auseinander als sich dies die Aufklärungsgläubigen vorstellen können.“ Statt Dissens und Selbstinszenierung seien „klare Argumentation“ und „echte Motivation“ erforderlich.30 Rechtliche Dimensionen werden immer dringlicher thematisiert, vor allem, wenn paradigmatische Situationen vorliegen wie in dem Fall von Hygienefehlern im Uniklinikum Gießen. Dort kam es von 1996 bis 1999 zu mindestens 28 Sepsisfällen mit einer Infektion durch Klebsiella oxytoca. Offenbar war die Konzentration des Flächendesinfektionsmittels auf die Hälfte reduziert worden und es gab hygienische Handlungsfehler: Infusionsflaschen wurden zur Desinfektion vor dem Anstechen in diese Desinfektionslösung getaucht, mit den besagten Folgen für die Kinder. Die Eltern eines infizierten und seitdem schwer behinderten Kindes klagten. Sie erhielten 250.000 € Schmerzenzgeld sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente von 300 €, dazu eine monatliche Geldrente von 500 € und Zahlungsanspruch für alle zukünftigen Schäden. Ein solches Urteil verdeutlicht drastisch die rechtliche Brisanz, wenn konkrete Fehler nachgewiesen werden können.31

30 R. Bergler, Psychologie der Hygiene, 2009, S. 33f. 31 Vgl. H. W. Ingensiep, „Ethik der Hygiene? Probleme, Pflichten, Beispiele“, in: H. W. Ingensiep/W. Popp 2012, S. 45-61.

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Schließlich sind auch einige ethische Dimensionen der Hygiene zu betrachten. Das Recht kann bestenfalls die Spitze des Eisberges ermitteln, wenn konkrete Verfehlungen nachgewiesen werden. Aber letztlich kann nur ein Ethos, eine individuelle Haltung und gelebte Moral, persönliche oder institutionelle Hygienefehler verhindern. Das Hygieneethos umfasst daher ganz allgemeine Prinzipien, dann aber auch sehr konkrete praktische Aspekte wie z. B. in der Pflegehygiene.32 Die persönliche Verantwortung betrifft nicht nur die Einübung von Prozeduren wie Händedesinfektion, sondern auch die Transparentmachung und klare Haltung in Loyalitätskonflikten, z. B. zwischen dem Arbeitgeber Krankenhaus und den zu behandelnden Patienten, die natürlich gerne klare Informationen über die Hygieneverhältnisse vor Ort, d. h. auf jeder Station, hätten. Informed consent wäre daher auch in diesem Feld angesagt, denn eine „informierte Einwilligung“ in eine Operation setzt auch klare Auskünfte über die Hygienelage voraus. Doch auch die Patienten oder Kunden selbst sind gefordert bei der Einhaltung von Hygieneregeln – Compliance ist also nötig und gehört zum Patientenethos. Autonomie, Rechte und Pflichten müssen abgewogen werden. Ferner sind die betroffenen Institutionen selbst als verantwortliche Akteure gefragt, die nicht partikuläre Imagepflege oder ökonomische Interessen über die Bedürfnisse der Patienten stellen dürfen. Politische Verantwortung zeigt sich zudem nicht nur bei der medialen Aufklärung in konkreten Fällen, sondern schon bei der Prophylaxe. Und auch die Gerechtigkeit im Gesundheitssystem ist betroffen, wenn entschieden werden muss, wo wie und in welchem Umfang Kosten für Screening oder andere Maßnahmen zur Verbesserung der Hygieneverhältnisse übernommen werden müssen. Parteien, Interessengruppen, die Gesellschaft als ganze sind also gefordert, wenn es darum geht, eine ethisch verantwortliche Hygienepolitik zu betreiben. – So einfach diese ethischen Prinzipien auch klingen mögen, so schwer ist es, sie konsequent umzusetzen, nicht zuletzt, weil dem auch persönliche, kulturelle oder auch religiöse Einstellungen entgegenstehen. Dieser Beitrag konnte nur wenige Aspekte der Hygieneaufklärung in einem Marsch durch die Geschichte anschneiden. Deutlich wurde die Notwendigkeit eines interdisziplinären Zuganges zur Hygieneaufklärung. Diese Aufklärung kann nicht mehr auf schlichte medizinische Ratschläge wie „Hände sauber!“ reduziert werden, 32 Vgl. H. W. Ingensiep/W. Popp 2012; G-C. Zinn/E. Tabori/P. Weidenfeller/S. Bauer, Praktische Pflegehygiene, stationär und ambulant, 2009.

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sondern erfordert ein feines Gespür für die Komplexität der betroffenen Instanzen, die Interessen der Akteure und für die soziokulturellen Dimensionen. Offenbar reicht es aber auch nicht, Aufklärung über Hygiene nur aus der Perspektive von „Experten“ zu betreiben und zu dozieren. Vielmehr ist ein jeder „Laie“ letztlich selbst aufgefordert, Fragen nach dem eigenen Anteil einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ in Sachen Hygieneaufklärung zu stellen.33 Literatur A. N. Baer, Die Hygiene der Syphilis. Prophylaxe und Behandlung, Viertes bis Fünftes Tausend, Berlin und Leipzig 1893. R. Bergler, Psychologie der Hygiene, 2009. H. Böhme/G. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt a. M. 1983. M. Geier, Kants Welt, Reinbek 2003. C. W. Hufeland, Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797. H. W. Ingensiep/W. Popp, (Hrsg.): Hygiene und Kultur, Essen 2012. H. Jäger, Bakteriologie des täglichen Lebens, Hamburg 1909. I. Kant, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Band VII, Berlin 1968. I. Kant, „Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monats­ schrift, Vierter Band, 1784, Zwölftes Stük. [sic] December, S. 480-494. I. Kant, „Nachricht an Ärzte“, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 6-8. Kursbuch 94, Die Seuche, Berlin, November 1988. C. Monnet, „Erkenntnisse aus der Gehirnforschung“, in: Zeitschrift für Systemden­ ken und Entscheidungsfindung im Management, 01/2006. F. C. Müller, Geschichte der organischen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Medizin und deren Hilfswissenschaften, Zoologie und Botanik, Berlin 1902. A. Müller-Lissner, „Abschied vom Abhören. Zwischen Respekt und Infekt.“, in: Der Tagesspiegel. Wissenschaft am Wochenende. 22.3.2014, Nr. 21994, S. 27. S. Ribbing, Die Sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen, 8. Auflage, Leipzig 1892. S. Rushdie, Die Satanischen Verse, deutsche Ausgabe o.O. 1989. P. Sarasin (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtba­ ren 1870–1920, Frankfurt a. M. 2007. Süddeutsche Zeitung vom 2.5.2014 Nr.100, S. 16. G. Surbled/A. Sleumer, Die Moral in ihren Beziehungen zur Medizin und Hygiene. Bd. I-IV, Hildesheim 1909. „Xaverius Großinger in Wien, an die Herren Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Wien. D. 22. Julius 1784“, in: Berlinische Monatsschrift, hrsg. von F. Gedike und J. E. Biester, Vierter Band, Berlin 1784, S. 201-223. G-C. Zinn/E. Tabori/P. Weidenfeller/S. Bauer, Praktische Pflegehygiene, stationär und ambulant, 2009. 33 Der diesem Aufsatz zugrundeliegende Vortrag mit weiteren Abbildungen zum Thema ist einsehbar unter www.hygiene-aufklärung.de.

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Die Erinnerung an die großen Pestseuchen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war in Europa bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, sieht man von der bereits im 19. Jahrhundert initiierten wissenschaftlichen Seuchenforschung ab1, weitgehend erloschen. Die Berichte der Vergangenheit flößten Schauder ein, doch lag, was beruhigend klang, die letzte große Pestepidemie, die Westeuropa traf (1720 in Marseille), über 300 Jahre zurück. Kleinere Epidemien, die u. a. in Messina 1743, Moskau 1770, Korfu 1812 und Hamburg 1812/13 dokumentiert sind,2 waren faktisch in Vergessenheit geraten. Noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden auch die großen Seuchen des frühen 20. Jahrhunderts, darunter die Spanische Grippe, die 1918/1920 immerhin mehr Opfer als der Erste Weltkrieg gefordert hatte3, aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Dieses Sicherheitsgefühl, das vor allem durch die zeitliche Distanz erklärbar war, ist heute geschwunden. Man liest Pest- und Seuchenchroniken wieder mit gemischten Gefühlen.4 Der Umgang 1

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Vgl. u. a. J. F. C. Hecker, Der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert. Nach den Quellen für Ärzte und gebildete Nichtärzte bearbeitet, Berlin 1832; R. Hoeniger, Der Schwarze Tod in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte des 14. Jahrhunderts, Berlin 1882; K. Lechner, Das große Sterben in Deutschland in den Jahren 1348 bis 1351 und die folgenden Pestepidemien bis zum Schlusse des 14. Jahrhunderts, Innsbruck 1884. Vgl. K. Bergdolt, Die Pest. Geschichte des Schwarzen Todes, München 2006, S. 7. Vgl. M. Vasold, Die Spanische Grippe und der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009. Die Literatur zur spätmittelalterlichen Pest ist inzwischen fast überbordend, vgl. etwa J. N. Biraben, Les hommes et la peste en franceet dans les pays euro­ péens et méditerranéens (= Civilisations et Societés 35), 2 Bd., Paris, Mou­ ton, Le Havre 1975; auf Frankreich bezogen J. Delumeau, Y. Lequin, Les Mal­ heurs des temps. Histoire des Fléaux et des Calamités en France, Poitiers 1987; (zu 1348) K. Bergdolt, Der schwarze Tod in Europa. Die große Pest und das Ende des Mittelalters, München 1994; K. H. Leven, Die Geschichte der In­ fektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Landsberg/ Lech 1997; M. Meier (Hrsg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005; eher medizinisch orientiert S. Winkle, Geißeln der Menschheit.

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mit Aids, vor allem aber das Verhalten von Behörden und Ärzten während der sogenannten Vogel- und Schweinegrippe-Epidemie (nach 1997, 2006 bzw. 20095), ließ sogar Zweifel aufkommen, ob unsere Gesellschaft der Gefährdung, ja lebensgefährdenden Bedrohung vieler Menschen souveräner begegnen würde, als dies im Mittelalter der Fall war. Eine bemerkenswerte Unsicherheit im Umgang mit wissenschaftlichen Fakten sowie Widersprüchlichkeiten, was Informationen, Sicherheitsvorschriften und Empfehlungen betraf, führten um die Jahrtausendwende zu einem bedenklichen Prestigeverlust der für die Gesundheit zuständigen Behörden,6 vor allem auch der WHO, die im Juni 2008 die höchste Alarmstufe einer Pandemie bekanntgab.7 Obgleich die Infektionsgefahr, objektiv gesehen, überschaubar war, deuteten sich bald kollektive Angstzustände und Überreaktionen – etwa Sicherheitskäufe von Lebensmitteln und die Jagd auf ein früh vergriffenes, angeblich effektives Grippemittel (Tamiflu)8 – an. Staatliche Behörden und Teile der Presse trugen daran eine gehörige Mitschuld. 2006 wurde Rügen, wo einige Vögel der Seuche erlegen waren, als „Insel des Todes“ bezeichnet. Wie so oft in der Seuchengeschichte wurden Infektionsgefahr und Dramatik des Krankheitsbildes durcheinandergeworfen. Im Grunde konnten solche Reaktionen nicht überraschen. Bereits in den Achtzigerjahren, als die Bedrohung durch das HI-Virus augenscheinlich wurde, gab es deutliche Ansätze der Ausgrenzung und sozialen Ächtung, die bei nachgewiesener „Tröpfcheninfektion“ – auf diese Weise war 1348 die „Lungenpest“ übertragen worden! – nachvollziehbar bzw. im weitesten Sinn verständlich gewesen wäre, nun aber, angesichts der, von Blut- und Sexualkontakten abgesehen, relativ geringen Infektionsgefährdung, durch nichts ge-

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Kulturgeschichte der Seuchen, 3. Auflage, Düsseldorf 2005; ferner Bergdolt 2006. Vgl. M. Davis, Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien, Berlin 2005; zur Vogelgrippe E. Lange u. a., „Pathogenesis and transmission of the novel swine origine influenza virus A/H1N1 after experimental infection of pigs“, in: Journal of General Virology. 90, 2009, S. 2119–2123. Das damals empfohlene, heiß umkämpfte Grippemittel Tamiflu stellte sich, wie spätestens 2012 festgestellt wurde, als nutzlos und unwirksam heraus, vgl. ZeitOnline vom 25.1.2012. Vgl. www.netdoktor.de/krankheiten/schweinegrippe Vgl. Spiegel Online 10.4.14.

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rechtfertigt erschien.9 Dass andererseits von den Behörden die Gefährlichkeit (nicht die Infektiosität!) von AIDS – heute ist das so gut wie vergessen – zunächst dramatisch heruntergespielt wurde, entsprach einem historisch häufig belegten Verhaltensmuster, das erst einige Jahre später, während der „Schweinegrippe“, ins Gegenteil verkehrt wurde. Man warnte jetzt, aufgeheizt von Sensationsberichten, schon vor dem Ausbruch der wahrscheinlich aus den USA importierten Seuche vor ihrer angeblichen, womöglich Pest und Cholera vergleichbaren Gefährlichkeit. In der Vergangenheit, vor allem im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, hätten die Regierungen und Behörden – die Spekulation sei erlaubt – wohl anders gehandelt: Man ging im Zweifelsfall das Risiko ein, Seuchengefahren herunterzuspielen, um negative Auswirkungen von Quarantäne-Maßnahmen und sonstigen Kontaktsperren auf das öffentliche und wirtschaftliche Leben zu vermeiden. Alessandro Manzoni, der nicht nur ein glänzender Schriftsteller, sondern auch ein subtiler Kenner der Quellen war, schrieb – um ein Beispiel zu präsentieren – über die Mailänder Pest von 1630: „Die Not des vergangenen Jahres, die Bedrückung durch die Soldaten, die Trübsal der Gemüter schienen mehr als genügende Gründe, um die Sterblichkeit zu erklären. Wer auf den Plätzen, in den Läden, in den Häusern ein Wort über die Gefahr äußerte, wer die Pest erwähnte, dem begegnete man mit ungläubigem Spott, mit zürnender Verachtung. Dieselbe Ungläubigkeit oder, um es besser zu sagen, dieselbe Verblendung und Halsstarrigkeit hatte auch im Senat die Oberhand, im Rat der Dekurionen und bei jeder Behörde …“10 Verharmlosungsstrategien dieser Art sind noch im 19. Jahrhundert dokumentiert. Die ersten Opfer der erwähnten Hamburger Pestepidemie (1813) wurden mit „hitzigen“ Sommerkrankheiten in Verbindung gebracht, wodurch wertvolle Zeit für Vorsorgemaßnahmen verstrich.11 Das Restrisiko nahm man bewusst in Kauf.12

9 Die Literatur zu diesem Thema ist überbordend, vgl. nur G. Büsche-Schmidt, „AIDS – Die Seuche des 20. Jahrhunderts“, in: Die Waage 32/2 (1993), S. 73-78. 10 Zit. nach Bergdolt 2006, S. 71. 11 Hierzu K. Boyens, „Die Maßnahmen Hamburgs während der letzten Pest“, in: O. Olbricht (Hrsg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 2004, S. 295-325. 12 Vgl. hierzu etwa die Pest in Venedig 1576, hierzu E. Rodenwaldt, Pest in Ve­ nedig 1575–77. Ein Beitrag zur Frage der Infektkette bei den Pestepidemien Westeuropas, Heidelberg 1953, S. 180-216; ferner Paolo Preti, Peste e Società a

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Beide Verhaltensoptionen, die ängstliche Überreaktion wie das Abwiegeln, waren natürlich nicht unproblematisch. Selbstverständlich ergriffen 1348, dem Jahr der ersten großen nachjustinianischen Pest, die Behörden betroffener Städte, nachdem die Gefahr für die Massen manifest geworden war, einschneidende, ja radikale Maßnahmen. Der Kampf gegen die Cholera, die erstmals im 19. Jahrhundert sicher nachweisbar ist, gestaltete sich – Jahrhunderte später – kaum anders!13 Man handelte im Spätmittelalter de facto utilitaristisch, obgleich der Begriff natürlich noch nicht existierte.14 Es galt Schäden und Nachteile für gesunde Individuen, aber auch für das Gemeinwesen zu begrenzen. Politisches Ziel war das Überleben möglichst vieler Menschen, weshalb auf die bereits Infizierten und andere Minderheiten wie Fremde und Reisende nur bedingt Rücksicht genommen werden konnte. Die mentale Situation war delikat, die subjektive Verunsicherung gewaltig. Der Sieneser Chronist Agnolo di Tura begrub 1348 fünf seiner Kinder „und genau so erging es vielen anderen“15. Noch heute bewegt das vergleichbare Schicksal des Nürnberger Ratsherrn Ulmann Stromer, der 1406 während der Pest alle acht Söhne sowie seine Ehefrau verlor, nach dem Abflauen der Seuche aber wieder heiratete und erneut Vater wurde …16 Es dürfte sich hier kaum um Einzelfälle gehandelt haben, die Pest schürte, wie zahlreiche Dokumente der Zeit unterstreichen – man denke an Petrarcas ergreifendes Gedicht „Ad se ipsum“ (1348)17 –, Zweifel an Gottes Gerechtigkeit, ja an der Schöpfung überhaupt. Das Vertrauen in den mittelalterlichen Ordo, jenen gottgewollten, hierarchisch strukturierten Kosmos schwand. Dass sinnliche Erfahrungen, die Erforschung der Natur und vor allem

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Venezia nel 1576 (= Studi e Testi Veneziani 7), 2. Aufl., Vicenza 1984, besonders S. 160-183. Vgl. R. J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den CholeraJahren 1830–1910, Reinbek 1990. Zum Begriff Utilitarismus und seiner Geschichte vgl. D. Birnbacher, N. Hoerster (Hrsg.), Texte zur Ethik. 7. Aufl., München 1989, S. 198-203. Zit. nach K. Bergdolt, Die Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen, hrsg. und übersetzt von K. Bergdolt, mit einem Nachwort von G. Keil, Heidelberg 1989, hier S. 84 (Chronik des Agnolo Tura). Er heiratete erneut und zeugte einen weiteren Sohn, der das Überleben der Familie sicherte, vgl. Bergdolt 2006, S. 47. Vgl. F. Petrarca, „Epistulae metricae VII (Ad se ipsum)“, in: F. Petrarca, Rime, Trionfi e Poesie Italiane, hrsg. von Ferdinando Neri, Guido Martellotti, Enrico Bianchi und Natalino Sapegno (La letteratura Italiana, Storia e Testi VI), Mai­ land/Neapel 1951, S. 750f.

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das hierfür für unabdingbar gehaltene Studium des Aristoteles zur metaphysischen Gewissheit führen könnten, wie es führende Scholastiker angenommen hatten, war zwar von dem Franziskaner Duns Scotus bereits zu Beginn des Jahrhunderts bezweifelt worden;18 angesichts des Massensterbens wurden nun aber auch Lebensfreude, Hoffnung und persönliche Freiheiten zerstört. Man vermisste die göttliche Barmherzigkeit wie jene der Mitmenschen.19 Staat und Obrigkeit versuchten entsprechend, nicht nur Kranke zu isolieren und organisatorisch zu wirken, sondern auch die Gemüter zu beruhigen. So wurde im 16. Jahrhundert in Venedig, war eine Pest ausgebrochen, fast regelmäßig das Tragen von Trauerkleidung zeitlich begrenzt und das Läuten der Totenglocken untersagt.20 Für einen Pestkranken hatte das harte behördliche Vorgehen erhebliche Konsequenzen. Die Umwelt reagierte mitleidlos mit Ausschluss und strikter Isolation. Die „vanitas“ alles Irdischen wurde – jedermann konnte sich davon überzeugen – durch den Alltag bestätigt. Die „ars moriendi“, die Kunst des guten Sterbens, erhielt eine besondere Aktualität und bot vielen Menschen Trost.21 Dass zu Pestzeiten, wie Petrarca monierte, Vornehme, ohne dass man sich darüber empörte, „ehrlos … tot neben dem gemeinen Volk“ lagen“22, erschien als Verstoß gegen die natürliche Ordnung. Noch beunruhigender war ein anderes Phänomen. „Die Leute starben nicht nur ohne viele Klagefrauen um sich zu haben. Es gab sogar genug, die ohne Augenzeugen aus dem Leben schieden“, notierte Boccaccio, der in der Einführung zum Decamerone den literarisch wertvollsten Zeitzeugenbericht von 1348 hinterließ.23 Zuvor, im Mittelalter, war ein solch einsames Sterben eher die Ausnahme. Es implizierte für Gläubige und Ungläubige existentielle Ängste, wodurch die letzten Tage zum Alptraum gerieten. Da sich die Umwelt erschrocken zurückzog, war man auf sich selbst zurückgeworfen, im

18 Vgl. K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustinus zu Machiavelli (= Reclams Universalbibliothek Bd. 8342), Stuttgart 1987, S. 436. 19 Hierzu K. Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus, Weinheim 1992, besonders S. 104-113. 20 Vgl. Bergdolt 2006, S. 76. 21 Zur ars moriendi vgl. H. Wittwer, D. Schäfer, A. Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Geschichte, Theorie, Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 159-174. 22 Vgl. Ad se ipsum, bei Bergdolt 1989, S. 146. 23 Boccaccio, vgl. Bergdolt 1989, S. 47.

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wahrsten Sinn des Wortes verlassen. Der einsame, unvorbereitete Tod, die „mors improvisa“ war gefürchtet. In der Erlebniswelt des katholisch-mittelalterlichen Gläubigen bedeutete sie einen seelisch qualvollen Sterbeprozess ohne sakramentalen Beistand eines Priesters und die Pflege und Tröstung durch Angehörige. Langdauernde Qualen im Fegefeuer, ja ewige Höllenpein drohten und nur in Ausnahmesituationen, etwa auf dem Höhepunkt einer Pestwelle, gestand die Kirche den Verzicht auf Beichte, Kommunion und letzte Ölung zu.24 Manche Geistliche schleppten sich, wie Simon de Courvin aus Avignon berichtet, todkrank zu Schwerkranken, um dann selbst an deren Bett zusammenzubrechen. „Und unversehens starben sie, bisweilen schneller als diese, nur durch den Körperkontakt und wegen des Pesthauchs“.25 Andere Kleriker hatten die Flucht ergriffen, was ihrem Nimbus schadete, da „die seelische und körperliche Verletzlichkeit derjenigen offenbar wurde, die sakramentale Gewalt über den Menschen besaßen“.26 Die drohende Verdammnis war auch das Thema von Bußpredigern wie Jacopo Passavanti, dem Autor des Speculum verae penitentiae, der in Florenz zur Einkehr mahnte und dabei Maler wie Andrea da Firenze beeinflusste, der zwischen 1366 und 1368 die Spanische Kapelle im Konvent von Santa Maria Novella ausschmückte.27 Vor allem in Italien, wo die die Katastrophe von 1348 besonders gut dokumentiert ist, griffen die Gesundheitsbehörden hart durch. Schon früh wurde eine Art sanitäre Notstandsgesetzgebung umgesetzt. Dass ein Strafgericht Gottes stattfand, wovon die Mehrheit der Bevölkerung des Spätmittelalters wie selbstverständlich ausging, sprach keineswegs gegen die Verpflichtung der Behörden, Maßnahmen gegen die Seuche zu ergreifen, galt sie doch nicht nur als Bestrafung, sondern auch als Erprobung des Einzelnen wie der Gesellschaft. Der Staat mit seinen Schutzfunktionen sah sich in der Pflicht – sofern er dazu noch in der Lage war. Am 12. Juni 1348 notierte ein venezianischer Chronist:

24 Hierzu Bergdolt 1994, S. 88f.; ferner A. Reinis in Wittwer/Schäfer/Frewer 2010, S. 159-163. 25 So Simon de Couvin in Avignon, vgl. H. Haeser, Geschichte der epidemischen Krankheiten (= Lehrbuch der Geschichte der Medizin und der epidemischen Krankheiten II), Jena 1865, S. 34f. 26 P. Ziegler, The Black Death, London/Glasgow 1972, S. 260. 27 M. Meiss, Painting in Florence and Siena after the Black Death. The Arts, Religion and Society in the Mid-Fourteenth Century, Princeton 1978, S. 94-104.

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„Da nach Gottes Ratschluß sehr viele Mitglieder unseres Großen Rates verstorben sind, was dadurch deutlich wird, daß bei seiner Einberufung nur noch wenige erscheinen und auf Grund dieser tödlichen Seuche die vierzig [Stimmberechtigten] nicht mehr existieren oder sich finden lassen, um das Verhalten der Leute, die mit ihren Galeeren zu uns kamen, zu untersuchen, können die Angelegenheiten des Landes nicht mehr erledigt werden. Sie müssen deshalb ausgesetzt werden, es sei denn, man findet durch Gottes Gnade irgendein Heilmittel …“28 Die Regierungsgewalt war außer Kraft gesetzt – in einem differenzierten Staatssystem war das natürlich ein Alptraum. Dass die Pest von außen in die Stadt gekommen war, stand für die Behörden bald außer Frage. Die Quellen belegen mehr als einmal, welch wichtige Rolle Handelsschiffe bzw. ungestörte Wirtschaftsbeziehungen spielten. Nicht der Krieg, sondern der Frieden förderte die Seuchenverbreitung. Der Florentiner Matteo Villani bestätigte (nach dem Seuchentod seines Bruders Giovanni, den er als Stadtschreiber bzw. Stadtchronist im Sommer 1348 abgelöst hatte): „Die Pest kam in Schüben und erfaßte Volk für Volk und innerhalb eines Jahres ein Drittel der Region, die man Asien nennt. Und zuletzt erreichte sie die Völker des Schwarzen Meeres und die Ufer des Meeres in Syrien, der Türkei und Ägypten, ferner die Küsten des Roten Meeres und im Norden Rußland, Griechenland und Armenien ... Damals verließen Galeeren aus Italien das Schwarze Meer, Syrien und das Gebiet von Byzanz, um dem Tod zu entfliehen, und sie brachten ihre Waren nach Italien. Doch war es nicht zu verhindern, daß ein großer Teil der Besatzung bereits auf hoher See an der Seuche starb. Als sie in Sizilien eintrafen, sprachen die Matrosen mit den Bauern und steckten viele von diesen an. Und die Seuche bereitete sich augenblicklich unter den Bewohnern von Sizilien aus. Als die erwähnten Galeeren nach Pisa und dann auch nach Genua kamen, brach auch dort die Pest aus, als die Matrosen sich mit den Leuten unterhielten, aber noch nicht überall. Doch dann folgte die Zeit, in welcher Gott auch die Dörfer vorgesehen hatte, und Sizilien wurde vollkommen von der tödlichen Pest heimgesucht, und ebenso Afrikas Küsten und seine östlichen Länder, ferner die Küstenstriche unseres Tyrrhenischen Meeres. Und sie gelangte mit der Zeit nach Westen und erreichte Sardinien und Korsika und die anderen Inseln dieses Meeres. Gegenüber, an der europäischen 28 Zit. nach Bergdolt 1989, S. 126f.

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Küste, erreichte die Pest die nach Westen benachbarten Länder und dann den Süden [also Spanien], wo sie noch fürchterlicher grassierte als in den Ländern des Nordens“.29 Die Behörden waren im Zugzwang. Allein schon die Fama der nahenden Seuche verstärkte deren panikverbreitende Wirkung. Phan­ tastische Geschichten wurden kolportiert – angesichts der Hilflosigkeit der Schulmedizin war dies kaum verwunderlich. Kein Gerücht konnte – und war es noch so abstrus – sicher widerlegt werden. So meldete 1357 das von einem Anonymus verfasste „Chronicon Estense“, in China sei ein „Pestrauch“ gesehen geworden. „Wer ihn sah, starb innerhalb eines halben Tages. Und wenn ein Mann oder eine Frau jemanden erblickten, der diesen Rauch gesehen hatte, starben auch sie. Es geschah nun, daß zehn Galeeren durch jene Region segelten, von denen zwei aus Genua kamen. Die Besatzung hatte nun Menschen gekannt, die (ihrerseits) den Rauch wahrgenommen hatten, und auch sie begannen zu sterben. Trotzdem fuhren sie nach Konstantinopel und Pera weiter“30. Im Hafen der Hauptstadt des byzantinischen Reiches kam es zu Szenen wie in Sizilien. Als sich die Bürger der Stadt mit Leuten von den Galeeren unterhielten, waren sie, was zunächst niemand wusste, tödlicher Gefahr ausgesetzt, da die Lungenpest als Tröpfcheninfektion – wie eine grippöse Erkrankung – übertragen wurde: „In Konstantinopel starben so von neun Personen acht. Besagte Galeeren fuhren nun zurück [nach Italien] und gelangten nach Sizilien und Messina. Überall kam es schließlich in der geschilderten Form zur Katastrophe. In diesem Land starben 530.000 Personen. In einer Stadt des Königreichs namens Trapani kamen alle Bewohner um und sie blieb unbewohnt …“31 Zu verstehen, dass die Ansteckung durch zwischenmenschliche Kontakte zustande kam, war alles andere als selbstverständlich. Dass die Pest durch Fremde ins Land gebracht und verbreitet wurde, 29 Vgl. Historie di Matteo Villani Cittadino Fiorentino che continua quelle di Gio­ vanni suo fratello, in: Rerum Italicarum scriptores, hrsg. von Lodovico Antonio Muratori. Bd. IV, Mailand 1729, Spalte 11-15, deutsch bei Bergdolt 1989, S. 58-60. 30 Vgl. Chronicon Estense – Gesta Marchionum Estensium complectens ab Anno MCI usque ad annum MCCCLVI. Per anonymos scriptores syncronos deductum et ab aliis auctoribus continuatum usque ad annum MCCCXCIII, nunc primum in publicam lucem effertur e manuscripto Codice Bibliothecae Estensis, in: Rerum Italicarum scriptores, hrsg. von Lodovico Antonio Muratori, Bd. XV, Mailand 1730, Spalte 448-449. 31 Vgl. ebd. und die deutsche Übersetzung bei Bergdolt 1989, S. 90.

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widersprach immerhin der von der Mehrheit der Ärzte verteidigten „Miasmenlehre“, nach der eine Infektion durch Einatmung bzw. Schlucken fauliger Lüfte („Miasmen“) hervorgerufen wurde.32 Die Behörden, empirisch geschult und pragmatisch eingestellt, kümmerten sich hierum erstaunlicherweise wenig. Diskussionen mit Neuankömmlingen und Matrosen fremder Schiffe wurden – selbst bei schönstem Wetter und klarster, miasmenfreier Luft – verboten. Diese Diskrepanz zwischen ärztlicher Theorie und praktischen, erfahrungsgestützten behördlichen Anordnungen, die auf Isolierung der Erkrankten zielten, sollte die Pestgeschichte bis ins 17. Jahrhundert begleiten. Das berühmteste Beispiel ist wiederum aus Venedig überliefert. Nachdem die Regierung dort 1576 – nach Überprüfung der Lage und Kenntnisnahme der ersten Todesfälle – Restriktionsmaßnahmen eingeleitet und begonnen hatte, die Infizierten auf scharf bewachte Inseln zu transportieren, behaupteten die offiziell mit der Diagnose der Seuche beauftragten Paduaner Professoren Girolamo Mercuriale und Girolamo Capodivacca, damals herausragende Koryphäen der Schulmedizin, es handle sich zwar um „mali perniciosi pestilentiali et contagiosi“, aber nicht um die Pest, da nichts auf „Miasmen“ bzw. faulige Lüfte und Ausdünstungen deute. Im Auftrag des Dogen wurden alle bereits in Gang gekommenen Maßnahmen widerrufen. Die Isolierung der Infizierten wurde eingestellt. Die Seuche nahm auf katastrophale Weise ihren Lauf.33 Übrigens wütete die Pest, was schon damals auffiel, gerade auch in Universitätsstädten, d. h. unter jüngeren Menschen, die noch nie mit der Seuche in Berührung gekommen waren. Bereits 1348 verfluchte ein Arzt in Padua Venedig, woher der Schwarze Tod offensichtlich gekommen war. Aus Bologna berichtete der Franziskaner Bartolomeo della Pugliola: „Im Monat März 1348 begann die Pest und dauerte bis Sankt Michael im September. Sie war so heftig, und man schätzte, daß von fünf Menschen drei oder mehr umkamen. Sie war schlimmer, als man es in Worten hätte ausdrücken können. Während der Seuche starben hochberühmte Doktoren wie Messer Giovanni di Andrea und andere …“34

32 Zur Pathogenese der Pest in der traditionellen galenischen Medizin vgl. Bergdolt 1994, S. 21-26; ferner Leven 1997, S. 22. 33 Hierzu ausführlich Rodenwaldt 1953, S. 180-215. 34 Zit. nach Bergdolt 1994, S. 47.

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Durchgreifende Aktionspläne der Behörden lassen sich schon im mittelalterlichen Seuchenalltag, d. h. vor dem Schwarzen Tod nachweisen. Immer wieder waren nach dem Abflauen der justinianischen Pest zu Beginn des 8. Jahrhunderts verheerende Epidemien aufgetreten, die zu unterscheiden schwierig war. Pocken, Typhus, Malaria, Dengue-Fieber, grippöse Infektionen und andere ansteckende Seuchen zeichneten sich dadurch aus, dass sich die finalen Krankheitsbilder (z. B. Bluthusten, rasche Gewichtsreduktion, Benommenheit, Durchfälle, Geschwüre, Hautunterblutungen, Augenentzündungen und Lymphknotenschwellungen) weitgehend glichen. Der Zusammenbruch der körpereigenen Immunabwehr rief letztendlich eine mehr oder weniger einheitliche Symptomatik hervor, die rasch zum Tode führte. Für die Gesundheitsbehörden kam es darauf an, die Kranken rasch zu isolieren (der Vorgang glich eher einer Verhaftung!) und die Leichen schnell beizusetzen. In Florenz hatte man bereits 1321 die „Statuti sanitari“ festgelegt, die im Seuchenfall die Kontrolle der Lebensmittelbeschaffung, der Trinkwasserversorgung und der Beerdigung der Toten sowie die Verteilung von Hilfsämtern regelten.35 Auch das „Räuchern“ der Luft durch kontrollierte Feuer sowie die Erschließung neuer Trinkwasserquellen bzw. die Konstruktion von Zisternen gehörten vielerorts zum seuchenpolitischen Notprogramm. Vorsichtshalber ließ man auch – in Venedig, Florenz oder Pisa ist das bereits 1348 dokumentiert – die Schenken schließen. Der in Venedig übliche Weinverkauf durch „fliegende“ Händler auf Booten wurde ebenfalls eingestellt. Dem ärztlichen Einfluss war es wohl zuzuschreiben, dass die Lagerung von gepökeltem Fleisch untersagt wurde.36 Alles, was „Fäulnis“, Gestank und Verwesung hervorrufen konnte, galt der Miasmenlehre entsprechend als pesterregend. Mittelitalien war bereits in den Dreißigerjahren des 14. Jahrhunderts von Hungersnöten, Erdbeben und Unwettern heimgesucht worden. Die Zahl der Europäer überhaupt hatte, seuchenbzw. katastrophenbedingt, schon vor dem Schwarzen Tod deutlich abgenommen. Um 1339/40 forderten diverse Epidemien in den großen toskanischen Städten, die bis heute ungeklärt blieben, Tausende von Opfern.37 Missernten nahmen zu, was zu Hungersnöten führte, die wiederum Immunschwächen zur Folge hatten. Überkommene 35 Bergdolt, 2006, S. 33. 36 Bergdolt 1993, S. 48. 37 Vgl. hierzu eine bei Bergdolt 1989, S. 82, abgedruckte Chronik.

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Strukturen von Kirche, Universitäten, Literatur, Kunst, Familien, Kommunen und Staaten wurden schon 1348 zunehmend infrage gestellt. Der deutsche Magister Konrad von Megenberg beklagte den allgemeinen moralischen bzw. religiösen Niedergang. Auch Petrarca, der wohl einflussreichste Intellektuelle des 14. Jahrhunderts, glaubte eine „Vergreisung“ der Gesellschaft wahrzunehmen. Die Zeitgenossen erinnerten ihn, „obgleich sie noch zu leben schienen und – zumindest bisher – auch atmeten“, an „abstoßende und schreckenerregende Leichname“.38 Der Massentod war erstaunlicherweise schon vor 1348 ein psychologisches Phänomen, mit dem man sich, jedenfalls in Italien, auseinanderzusetzen hatte.39 Nicht umsonst ist das berühmte Motiv des „Triumphs des Todes“, etwa in Bozen oder in Pisa, bereits vor der Pest nachweisbar.40 In Venedig hatte der Große Rat im April 1348 – er war zu diesem Zeitpunkt, im Gegensatz zum Juni dieses Jahres, noch funktionsund beschlussfähig – angeordnet, bestimmte Inseln der Lagune als Begräbnisorte der Seuchenopfer zu nutzen: „Wir haben deshalb ein Gebiet festgelegt, das in einer Gegend [der Lagune] liegt, die San Leonardo Fossamala und San Marco Bocamala heißt und noch ein weiteres. Dorthin muß man die Leichen aller bringen samt den Armen, die mit dem Tode ringen, aber keine Unterkunft haben und nur von Almosen leben, ferner diejenigen, die kein Geld für ein Begräbnis aufbringen können, sondern es gewohnt waren, mit Hilfe guter Menschen und der Unterstützung der Bruderschaften von Venedig beerdigt zu werden …“41 Man mag über die Radikalität solcher Anordnungen staunen, doch erscheint es – es sei noch einmal betont – kühn anzunehmen, dass westliche säkulare Gesellschaften, würden unerwartet tödliche Seuchen ähnlich aggressiver Kontagiosität ausbrechen, humaner reagieren würden. Fakt war, dass die Pathogenese der Pest bis ins 19. Jahrhundert unbekannt blieb. Von unpräzisen Spekulationen 38 Vgl. K. Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa. Die große Pest und das Ende des Mittelalters, 3. Aufl., Beck’sche Reihe 2011, S. 153. 39 Hierzu Bergdolt 1992, S. 5f. 40 Die Literatur zu diesem Thema ist umfassend, vgl. Joseph Polzer, „Aspects of the Fourteenth Century Iconography of Death in the Plague“, in: D. Williman (Hrsg.), The Black Death. The impact of the fourteenth century Plague, New York 1982, S. 107-130; ferner K. Bergdolt, „Das Pestmotiv in der Bildenden Kunst“, in: M. Meier, Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 317-327, hier S. 319f. 41 Ebd., S. 127f.

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der römischen Autoren Varro (1. Jh. v. Chr.) und Columella (1. Jh. n. Chr.) über krank machende „animalia quaedam minuta“ bzw. „bestioloae“, die aus Sümpfen emporstiegen, einmal abgesehen,42 gab es keine eindeutigen Hinweise, dass Mikroben die Pest herrufen könnten. Immerhin dachte man aber bereits vor der Erfindung des Mikroskops (1590 durch Janssen) über diese Möglichkeit nach: 1546 stellte der Veroneser Arzt und Literat Girolamo Fracastoro die These auf, kleine „seminaria“ würden die Krankheit übertragen. In seiner Schrift „Homocentrica“ (1538) erwähnte er bemerkenswerterweise, dass man durch zwei hintereinander angeordnete Linsen Objekte vergrößert betrachten kann.43 Es ist allerdings bis heute umstritten, ob er damit technisch wirklich in der Lage war, unter den vielen physiologischen und artifiziellen Korpuskeln, die ein zu untersuchender Blutstropfen enthält, den Pesterreger zu identifizieren. Wie dem auch sei, die galenische Theorie der Miasmen erwies sich, ungeachtet der Tatsache, dass sie an den Universitäten weiter gelehrt wurde, zunehmend als problematisch. Dass sie überhaupt offen infrage gestellt wurde, war sensationell. Immerhin dürften hier schon 1348 Zweifel aufgekommen sein, stellt die folgende, von Gabriele des Mussis aus Piacenza überlieferte Anekdote doch sicher keinen Einzelfall dar: „So kam in der Nähe von Genua ein Heer zum Lagern. Da stahlen sich vier Kriegsknechte davon, um Ortschaften und Menschen auszurauben. Sie verließen also das Heer und gelangten nach Riparolo und kamen an die Meeresküste, wo die Seuche alle Menschen getötet hatte. Sie fanden dort die Häuser verschlossen. Da niemand erschien, brachen sie eines auf und legten sich darin in ein Bett. Als sie eine Wolldecke fanden, nahmen sie diese mit sich. Nach ihrer Rückkehr zum Heer legten sich alle vier unter die Wolldecke und schliefen so auf ihrem Lager ein. Dort fand man sie frühmorgens tot auf …“44 Als mehr als 200 Jahre später – 1555 in Padua – eine „Pest“ ausbrach, vermissten kritische Ärzte wie Ludovico Pasini und Andrea Gratiolo die in der Fachliteratur beschriebenen astrologischen Dispositionen. Der Philosoph Bernardino Tomitano stellte sogar öffentlich die Frage, wie es möglich sei, dass bei allgemeiner Luft42 Leven 1997, S. 11. 43 Näheres zu Fracastoro, besonders auch zu seiner Verbindung zur antiken Philo­ sophie (Lukrez, Epikur) bei Leven 1997, S. 36-38. 44 Zit. nach Bergdolt 1989, S. 24.

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verpestung eine Stadt von der Pest verschont bleibe, während eine benachbarte auf das grausamste in ihrer Einwohnerschaft dezimiert werde.45 Wie war es erklärbar, dass unter demselben miasmenreichem Himmel eine Kommune seuchenfrei blieb, während eine benachbarte in aller Grausamkeit heimgesucht wurde? Dies war eine Kritik am gesamten medizinischen System. So logisch und berechtigt sie war, die meisten Ärzte und Medizinprofessoren negierten sie. Einige protestantische, meist calvinistische Theologen leiteten aus der Tatsache, dass schwülen Wetterperioden oft keine Pest folgte und häufig Seuchen ausbrachen, ohne dass sie humoralpathologisch erklärbar schienen, sogar einen Beweis der Prädestinationsthese ab, dass nämlich Gott allein die Pest schicke, wobei er nicht auf die von den Ärzten herausgestellten Begleitumstände und Bedingungen angewiesen sei. In anderen Worten: Wichtig war nicht, ob die Miasmentheorie zutraf, sondern dass sich Gott in der Seuchenfrage gnädig zeigte. Ziel der Regierungen von Venedig, Florenz, Pisa, Paris und andere Städte war es, im „utilitaristischen“ Sinn möglichst viele Bewohner der Stadt vor der Infektion zu retten. Das bedeutete, infizierte Personen – ungeachtet der Miasmentheorie – radikal und rücksichtslos auszusondern. Selbst noch lebende Infizierte wurden in Venedig auf Inseln gebracht, wo sie der Tod erwartete. Konsequent erschien es, die Einreise krank erscheinender bzw. verdächtiger Personen von außen zu unterbinden, „unter Androhung von Kerkerhaft“, wie es in einer Verordnung vom 5. Juni hieß.46 Eine geradezu milde Strafe, bedenkt man, wie in den folgenden Jahrhunderten mit Pestkranken verfahren wurde. Tatsächlich gab es 1348 noch keine institutionalisierten Quarantäneeinrichtungen – es war erst die Erfahrung der folgenden, nun in unregelmäßigen Abständen ausbrechenden Pestseuchen, die hier zum Handeln zwang. 1374 wurde erstmals – für zehn Tage – in Reggio d’Emilia, drei Jahre später in Ragusa – zunächst dreißig Tage – ein Gebäude zur Aufnahme von Menschen bestimmt, die, in der Regel mit dem Schiff, aus verseuchten Städten kamen.47 Die eigentliche „Quarantäne“, also die, wie der italienische Begriff sagt, 40-tägige Isolierung von 45 K. Bergdolt, „Der schwarze Tod kam über das Meer“, in: Die Waage 32/2 (1993), S. 46-52, hier S. 49. 46 Zit. nach Bergdolt 1989, S. 128. 47 Vgl. K. Bergdolt, „Die Pest 1348 in Venedig“, in: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 8 (1990), S. 220-244.

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Leuten, die aus infizierten Gebieten gekommen waren, wurde dann erst 1383 in Marseille umgesetzt. 1423 wurde auf der venezianischen Insel Santa Maria di Nazareth die europaweit erste kontinuierlich unterhaltene Peststation eingerichtet, eine scharf bewachte, von Mauern umgebene Einrichtung, die nur wenige lebend verließen, eine Insel der Tränen und der Verzweiflung, aber auch kühler Kalkulation seitens der Verwaltung. 1468 folgte mit dem „Lazareto Novo“ die erste auf Dauer etablierte Quarantäne-Station in der Lagune.48 Einreiseverbote waren natürlich, wirtschaftlich gesehen, höchst problematisch und vor Einrichtung der Quarantäne-Lazarette kaum konsequent zu kontrollieren. Sie konnten zudem in einer offenen Hafenstadt wie Venedig oder Pisa niemals so effektiv sein wie in Mailand, das 1348 durch radikale Sperrung seiner Tore – auf fast sensationelle Weise – von der Seuche verschont blieb! Wenige Jahre später, angesichts der nächsten großen Pestwelle (1365), machte die lombardische Hauptstadt freilich die Erfahrung, dass die Pest nun gerade an Orten wütete, die während der vorangegangenen Epidemie verschont worden waren.49 Menschen, die durch Glück oder Vorsicht die vorangegangene Epidemie überstanden hatten, schienen nun „still gefeit“, während jüngere Einwohner der Kommunen bzw. Personen, die mit ihr zuvor nicht in Kontakt gekommen waren, bevorzugte Opfer wurden. Man nahm ferner zur Kenntnis, dass die Pest „endemisch“ wurde, d. h. dass sie in den folgenden Jahrzehnten, ja Jahrhunderten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen aufflammte, zwischendurch aber, was merkwürdig schien, auch wenn einzelne Infektionsfälle auftraten, nicht „pandemisch“ wütete, sondern nur wenige Menschen befiel. Wir wissen heute, dass dies schlicht mit deren Immunisierung zusammen hing, während es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein unerklärbares, unheimliches Phänomen bedeutete. Sowohl aus zeitgenössischer Sicht wie aus heutiger Perspektive ließ und lässt die Pest des Spätmittelalters zahlreiche Fragen offen. Warum blieben 1348 wichtige europäische Städte wie Nürnberg, Prag oder Köln bis in die 50er und 60er Jahre verschont? Es schien auch wenig logisch und wunderte bereits die Zeitgenossen, dass Ne48 Paolo Morachiello, „howard e i Lazzaretti da Marsiglia a Venezia. Gli Spazi della Prevenzione“, in: Ausstellungskatalog „Venezia e la peste“ 1348–1797, 2. Aufl., Venedig 1980, S. 157-172. 49 Bergdolt 1994, S. 45.

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apel erst im Mai 1348 heimgesucht wurde, während vergleichbare Hafenstädte wie Genua, Pisa und Venedig schon im vorausgehenden Winter dezimiert wurden, ferner dass Lucca im Februar, Ferrara aber erst im Juli erreicht war. Auffallen musste ferner, dass die Pest des 14. Jahrhunderts in den verschiedenen Ländern eine unterschiedliche Intensität und Wirkung zeigte, dass sie z. B. in England stärker wütete als in Böhmen, in der Toskana mehr als auf der Peloponnes. Warum, fragt man sich heute, verachteten oder negierten so viele Ärzte die Kontakttheorie? Warum waren Ältere weniger gefährdet? Historiker fragen sich zudem, was die Pest für Kaufleute, Vagabunden und Aussätzige bedeutete, ja für das Reisen im Spätmittelalter überhaupt? Wie begegnete man Fremden vor und nach der Katastrophe? Offensichtlich wurde die Flucht in die Städte zu Pestzeiten, merkwürdig genug, eher intensiviert als unterbrochen. Waren Hungersnöte auf dem Land und Unwetter, die der Pest vielerorts vorausgingen, hierfür ausreichende Gründe? Angesichts der Flüchtlingsströme nahmen, wie schon im alten Athen, Fremdenhass und Sündenbocksuche zweifellos zu, allerdings mit vielen Ausnahmen. Es gibt so keine Hinweise, dass Reisen und Pilgerfahrten nach 1348 einen Einbruch erlebt hätten. Welche Folgen hatte die Pest ferner auf die Intensität und Qualität der Hygienemaßnahmen wie die nunmehr forcierte Straßenreinigung, die Bewachung bzw. Sauberhaltung der Gewässer und Brunnen, die Überwachung der Latrinen, aber auch die Kontrolle der Tierhaltung? Lagen Strafrecht und Exekutivgewalt, wie es venezianische und andere Quellen des 14. Jahrhunderts suggerierten, vorübergehend wirklich am Boden? Mittelfristig hatten solche Fragen enorme Konsequenzen, und nicht umsonst sah der Kulturhistoriker Egon Friedell in der Pest von 1348 das eigentliche Ende des Mittelalters. „Der Mensch aber, durch viel Schlimmes und Widerspruchvolles an Gegenwart und Zukunft irre geworden, taumelte erschreckt umher und spähte nach etwas Festem“.50 Wir gehen heute davon aus, dass zwischen 1347 und 1351 von 75 bis 80 Millionen Europäern etwa ein Drittel starb. Eine ungeheure Vorstellung, die unsere Phantasie sprengt. Man darf daran erinnern, dass im Zweiten Weltkrieg – inklusive der Opfer von Holocaust und Vertreibungen – etwa fünf Prozent der Europäer umka50 E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, ungekürzte Sonderausgabe in einem Band, München 1965, S. 101.

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men. Hier könnte man einwenden, dass die absolute Zahl der Opfer erheblich höher lag als 1348 (etwa 60 Millionen Menschen im Vergleich zu 20 Millionen) und menschliches Leid, wenn überhaupt, nur im kulturell-historischen Kontext erfasst werden kann,51 doch lassen sich gewisse psychosoziale Folgen der Pest durchaus mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts vergleichen. Spätmittelalterliche Steuerlisten, Taufregister, Pfarrbücher, Zunftverzeichnisse usw. erlauben dabei kein einheitliches Bild und lassen manche Frage offen. Behördliche Vorsichtsmaßnahmen wurden am einen Ort restriktiv und unerbittlich, an einem anderen großzügig, ja lasch gehandhabt. Spelunken, Hospize, Bordelle und Bäder wurden in Florenz geschlossen, Prozessionen, Heiligenfeste und Massengottesdienste dagegen zugelassen, ja nicht selten angeordnet. Für das 14. Jahrhundert war dies kein Widerspruch, sondern logische Konsequenz. Verschiebungen und Korrekturen der kommunalen Machtgefüge waren eine weitere Folge. So versetzte der Schwarze Tod zwischen 1347 und 1351 den Adelsherrschaften bzw. der spätmittelalterlichen Aristokratie der toskanischen Städte endgültig den Todesstoß (bereits im 13. Jahrhundert waren hier die Weichen gestellt worden) und führte zur Etablierung von Handwerkern und Zünften als neuer staatstragender Gruppen. Fast überall gaben nach 1348 neue Schichten den Ton an. Der spätere Aufstieg der Medici wäre ohne die Pest des vorhergehenden Jahrhunderts jedenfalls undenkbar gewesen. Im Umgang mit der Pest bildeten sich nicht zuletzt aber auch jene modernen Gesundheitsbehörden heraus, auf die der moderne Staat nicht mehr verzichten kann.

Literatur K. Bergdolt, Die Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen, hrsg. und übersetzt von K. Bergdolt. Mit einem Nachwort von G. Keil., Heidelberg 1989. K. Bergdolt, „Die Pest 1348 in Venedig“, in: Würzburger Medizinhistorische Mittei­ lungen 8 (1990), S. 220-244. K. Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus, Weinheim 1992. K. Bergdolt, „Der schwarze Tod kam über das Meer“, in: Die Waage 32/2 (1993), S. 46-52.

51 Vgl. hierzu Bergdolt 1994, S. 10.

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Peter Dettweiler und die ersten Ansätze der Hygieneerziehung in den TuberkuloseHeilstätten der Kaiserzeit

Behandlungsformen, bei denen die Patienten hinsichtlich ihrer eigenen Hygiene und dem Zusammenhang zur eigenen Erkrankung unterrichtet werden, gab es im deutschsprachigen Raum spätestens mit Entwicklung der hygienisch-diätischen Therapie nach Hermann Brehmer (1826–1889). Er gründete 1854 die erste Lungenheilstätte der Welt im schlesischen Görbersdorf, in der er die von ihm entwickelten Methoden erfolgreich anwandte. Vor allem die beengten unhygienischen Wohnverhältnisse der sog. „Mietskasernen“ jener Zeit begünstigten den Ausbruch der „Schwindsucht“ genannten Krankheit. Die hygienisch-diätetische Therapiemethode, die vor allem reichhaltige Ernährung, regelmäßige Spaziergänge, Hydrotherapie und eine strikte Hygieneerziehung vorsah, war bis in die 1920er Jahre in Deutschland die wichtigste Behandlungsform für Tuberkulöse. Nach dem Ersten Weltkrieg trat dieses Konzept in den Hintergrund, da die TBC-Heilstätten in zunehmendem Maße in chirurgische Lungenfachkliniken umgewandelt wurden und sich die Ärzte nur noch bedingt den hygienisch-diätetischen Lehren des 19. Jahrhunderts verpflichtet fühlten.1 Nach einer Lungenerkrankung begab sich der junge Arzt Peter Dettweiler (1837–1904) im Jahre 1868 in Behandlung in Brehmers Görbersdorfer Heilanstalt. Dort lernte er die Lehren Brehmers kennen, begeisterte sich für sie und ließ sich in der Heilstätte als Assistenzarzt anstellen. Nach wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten verließ Dettweiler aber Görbersdorf 1875 wieder und gründete in Falkenstein (Taunus) eine eigene Heilstätte. Er forderte 1899, eine psychische Dimension und eine erweiterte Hygieneerziehung in die Heilstättenbehandlung einzubeziehen, und fügte der Brehmerschen hygienisch-diätetischen Behandlung das

1

Vgl. I. Langerbeins, Lungenheilanstalten in Deutschland, Köln 1979, S. 15f.

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Konzept der „psychischen Hygiene“2 hinzu: Der Heilstättenarzt solle sich „am individuellen Kranken (Subjektivität) im Gegensatz zur (…) äußeren Krankheit (Objektivität)“ orientieren.3 Dettweiler achtete stets auf eine enge Beziehung zu den Patienten. Die medizinische Behandlung wurde nach einer gründlichen Anamnese, vor allem der Erfassung der Lebens- und Leidensgeschichte individuell angepasst.4 Dettweilers Konzept zufolge sollte der Heilstättenarzt stets als Lehrer auftreten und den Patienten strikte Anweisungen für ihren Kuraufenthalt und ihre Körperhygiene geben. In der Heilstätte Falkenstein (Taunus) wurden erstmals hygienische Belehrungs- und psychische Behandlungskomponenten eingeführt. Das Wohlergehen und die Hygiene der Kranken sollten besonders beachtet werden: Der Arzt sollte auf die Probleme seines Pfleglings eingehen, ihn durch Vorträge aufmuntern, stets loben und tadeln. Der Tuberkulosekranke konnte auf diese Weise für den Alltag geschult werden, damit er „gegenüber den tausend schädlichen Anlässen, die ihn stets umdrohen“ gefeit ist.5 Dettweiler sah sich in einer besonderen psychosozialen Verantwortung für den Patienten.6 Er führte nicht nur das Konzept der psychischen Hygiene in die Heilstättenbehandlung ein, sondern entwickelte auch pragmatische Lösungen, so z. B. eine wiederverschließbare Taschenspuckflasche namens „Blauer Heinrich“, in der die Tuberkulösen das hochansteckende Sputum ausleeren konnten (zuvor wurde meist auf den Boden ausgespuckt. Dies stellte vor allem in den beengten Wohnverhältnissen der Patienten eine große Ansteckungsgefahr für ihre Angehörigen dar). Diese „Erfindung“ wurde vor allem durch Thomas Manns Roman Zauberberg bekannt. Die Konzepte Dettweilers wurden in der Kaiserzeit auch in die staatlich gebauten Sanatorien für die Arbeiterschicht und die Fürsorgestellen für nicht-versicherte Patienten übertragen. Seine Leh-

Vgl. P. Dettweiler, Die hygienisch-diätetische Anstaltsbehandlung der Lungen­ tuberkulose. Tuberkulose-Kongress, Berlin 1899, S. 396. 3 D. von Engelhardt, „Krankheit und Medizin. Patient und Arzt in Thomas Manns Zauberberg (1924) in medizinhistorischer Sicht“, in: D. von Engelhardt, H. Wiss­ kirchen (Hrsg.), Der Zauberberg – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman, Stuttgart 2003, S. 18. 4 Vgl. B. Grossmann-Hoffmann, Dr. Peter Dettweiler und die Heilanstalt Falken­ stein, Königstein im Taunus 2009, S. 121f. 5 P. Dettweiler, Die Behandlung der Lungenschwindsucht in geschlossenen Heil­ anstalten mit besonderer Beziehung auf Falkenstein i. T, Berlin 1884, S. 27. 6 Vgl. ebd., S. 400. 2

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ren können somit als erste flächendeckende Hygieneerziehung in Deutschland gelten. In den Arbeiterheilstätten bestand zudem ein äußerst straff durchorganisierter Tagesablauf, der nicht nur Langeweile verhindern sollte, sondern durch Disziplin die Bedeutsamkeit des medizinischen Handelns und der Hygieneerziehung verstärkte.7 Das vorzustellende Thema rekurriert auf einem zwischen 2012 und 2015 durchgeführten Dissertationsprojekt zur Geschichte und Topografie der preußischen Lungentuberkulose-Heilstätten 1863– 1934, in dem vor allem die sozialgeschichtliche Bedeutung der Anstalten und die dort zur Anwendung gelangten frühen Ansätze in der Hygieneerziehung beleuchtet wurden. Diese damaligen Neuerungen sind heute noch von medizingeschichtlicher Bedeutung, weil sie als Vorstufen für die spätere systematische Entwicklung einschlägiger Verfahren in der Heilbehandlung und in der Rehabilitation angesehen werden können.

Die Tuberkulose und ihre Bekämpfung Zur Einführung in die Thematik ist es erforderlich, zunächst einmal die Krankheit selbst vorzustellen und ihre Entstehungsursachen aufzuzeigen. Dabei soll die Begriffsgeschichte des Wortes Tuberkulose und die Symptomatik der Erkrankung dargestellt werden. Anschließend wird auf sozialgeschichtliche Hintergründe der Volkskrankheit eingegangen. Schon seit Jahrtausenden ist die Tuberkulose als Zivilisationskrankheit bekannt. Erste Erwähnungen finden sich im Buch zur Inneren Medizin des Nei Ching, der zur Zeit des chinesischen Kaisers Hoang-Ti (3216 v. Chr.) gelebt hat, sowie im indischen Gesetzestext Manava Dharmaśāstra (etwa 500 v. Chr.). Auch an über 3000 Jahre alten ägyptischen Mumien konnte Knochentuberkulose nachgewiesen werden. Galen (210–130 v. Chr.) nannte die Krankheit „Phthise“ und bezeichnete sie als ansteckend.8 Die Diagnosemethode Perkussion wurde 1761 erfunden, aber erst 1810 einem größeren Ärztepublikum bekannt. Die Auskulta-

7 8

Vgl. Langerbeins 1979, S. 41. Vgl. K. Jungnickel, Lungenheilstätten in Österreich 1844–1935, Köln 1994, S. 4.

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tion entstand 1819 in Paris.9 Es gab aber kein wirksames Behandlungsverfahren. Die Tuberkulose als Volkskrankheit wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Städten zu einem Problem. Die Industrialisierung führte zu einer großen Landflucht und die Menschen wohnten in sog. Mietskasernen eng zusammen. Die Wohnverhältnisse, vor allem der Arbeiterfamilien, stellten sich häufig als äußerst ungesund heraus. Die Folge war ein starker Anstieg der Infektionsrate für die Tuberkulose, insbesondere in den Großstädten. Nicht umsonst wurde die Schwindsucht in Österreich auch als „Wiener Krankheit“ bezeichnet. Etwa ein Viertel der Sterbefälle in der Wiener Bevölkerung gingen im Jahre 1880 auf die Tuberkulose zurück.10 Die Entdeckung des Tuberkelbazillus’ durch Robert Koch im Jahre 1882 ließ sofort die Hoffnung auf eine wirkungsvolle Bekämpfung entstehen, zumal der Forscher (ebenfalls 1882) eine Behandlungsmethode mit einem Glycerinextrakt aus Reinkulturen der Bazillen vorstellte, mit der er ein Absterben des bazillenbefallenen Gewebes erreichen wollte. Das Medikament nannte er Tuberkulin. Doch der erhoffte und sogar bereits angekündigte Erfolg blieb aus. Dadurch wurde Koch mit Vorwürfen belastet: Tatsächlich hatte er seine Erfindung vor der Bekanntgabe nicht sorgfältig genug getestet. Im Jahre 1891 gründete Koch ein Institut für Infektionskrankheiten in Berlin und setzte die Suche nach einem wirksamen Medikament fort. Koch widmete sich aber ab 1892 hauptsächlich der ebenfalls zu jener Zeit wütenden Cholera.11 Nach 1908 arbeiteten der Biologe Albert Calmette (1863–1933) und der Tierarzt Camille Guérin (1872–1961) mit Versuchstieren am Institut Pasteur in Lille an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Tuberkulose. Im Jahre 1921 konnten sie den sog. BCG12Impfstoff zur Anwendungsreife bringen. Er wurde 1928 zwar vom Gesundheitsausschuss des Völkerbundes genehmigt, kam nach dem 9 Perkussion und Auskultation: „Das Beklopfen [Perkussion, Anm. d. Verf.] der Körperoberfläche und das Behorchen der im Körper entstehenden Geräusche, insbesondere der Atemgeräusche von Bronchien und Lungen, bei der Auskul­ tation [dem absichtlichen starken Atmen und Husten; Anm. d. Verf.] mit Hilfe eines hölzernen Stethoskops.“ Zit. nach T. Sprecher, Davos im Zauberberg, Mün­ chen 1996, S. 106. 10 Vgl. Jungnickel 1994, S. 7. 11 Vgl. M. Kirchner, Robert Koch – Die Ätiologie und die Bekämpfung der Tu­ber­ kulose, Leipzig 1912, S. 7f. 12 BCG = Bacillus Calmette-Guérin.

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sog. „Lübecker Impfunglück“ im Jahre 1930, als 77 Säuglinge durch verunreinigte Impfchargen ums Leben kamen, in Deutschland aber in Misskredit und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein eingeführt. Die Tuberkulose zählt zu den Infektionskrankheiten. Der krankheitsauslösende Erreger dringt von außen in den Körper ein und schädigt ihn. Der Erreger der Tuberkulose ist das von Robert Koch im Jahre 1882 entdeckte Myobacterium tuberculosis. Eine Ansteckung ist als Tröpfcheninfektion möglich. Beim Sprechen, vor allem aber beim Husten, gelangen Tröpfchen in die Raumluft und vermögen bei manchen Menschen durch Einatmen eine Ansteckung auszulösen. Eine weitere Ansteckungsmöglichkeit ist der Verzehr von roher Milch, da die Krankheit vom Rind auf den Menschen übertragen werden kann. In Deutschland konnte die Rindertuberkulose in den 1950er Jahren besiegt werden.13 Die Tuberkuloseerreger rufen bei etwa 5 % der Menschen eine Entzündung im Lungengewebe hervor. Darauf reagiert der Körper und beginnt mit dem Aufbau von Antikörperzellen, die die Bazillen von außen wie eine Hülle umschließen. Dabei entsteht ein Abwehrkonvolut, das zur Bildung von Knötchen führt, die „Tuberkel“ genannt werden. Die Lymphknoten im Brustkorb schwellen an. Sechs Wochen nach der Erstinfektion fällt ein Tuberkulin-Test14 positiv aus. Der Testvorgang heißt „Primärkomplex“. Im weiteren Verlauf der Krankheit kommt es zu einem Zerfall von Lungengewebe, das ausgehustet wird. Im Auswurf befinden sich oft große Mengen an Tuberkelbazillen. Die Leerräume, die nach dem Aushusten von Gewebe zurückbleiben, werden als Kavernen bezeichnet. Ein Patient mit Bazillen im Auswurf hat eine sog. „offene Tuberkulose“ und ist hoch ansteckend. Eine nicht behandelte offentuberkulöse Person gibt die Krankheit jährlich im Durchschnitt an zehn Personen in ihrer Umgebung weiter. Begleitende Symptome sind eine starke Gewichtabnahme, auffällige Appetitlosigkeit, nächtliche Schweißausbrüche und Fieber. Mittels der Einspritzung von Tuberkulin unter die Haut und der dadurch auslösbaren Knötchenbildung lässt sich eine Infektion zuverlässig nachweisen (bei infizierten Patienten, bei

13 Vgl. J. Voigt, Tuberkulose. Geschichte einer Krankheit, Köln 1994, S. 205. 14 Beim Tuberkulintest werden flüssige Mykobakterien unter die Haut eingebracht. Es entsteht eine Hautreaktion mit T-Lymphozyten. Damit wird eine frühere oder aktuelle Tuberkulose-Infektion aufgezeigt.

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denen die Krankheit nicht ausbricht, kann bis zu zehn Jahren nach der Infektion der Tuberkulintest noch positiv ausfallen).15 Für 95 % der Menschen bleibt der Primärkomplex16 bedeutungslos und wird häufig nicht einmal wahrgenommen. Bei körperlich geschwächten Menschen oder bei einer großen Menge von eingeatmeten Bakterien kann es jedoch zum Ausbruch der Krankheit kommen. Mit dem Blut gelangen die Erreger in Form großer Knötchen manchmal auch in andere Organe und verursachen dann eine extrapulmonale Tuberkulose oder Miliartuberkulose.17 Im Hinblick auf den Entstehungszusammenhang sind die sozialgeschichtlichen Hintergründe von Bedeutung. Insgesamt gilt es, die gesellschaftlichen Prozesse zu erfassen, die für die Entwicklung der Heilstättenbehandlung und der dort stattfindenden Hygieneerziehung relevant waren. Die für die Kaiserzeit charakteristische Gründung von Lungenheilstätten ist in enger Verbindung mit der von Bismarck eingeführten Einrichtung der Sozial- und Krankenversicherung zu sehen und bildete einen Eckpfeiler der wilhelminischen Sozialpolitik. Am Anfang des 19. Jahrhunderts gab es eine finanzielle Notlage der Arbeiterkreise. Die Armenkassen der Gemeinden sprangen bei finanziellen Problemen ein, was wiederum die Städte- und Gemeindekassen stark belastete. Die Arbeiterschicht war allerdings inzwischen stark gewachsen und bildete eine feste politische Größe in Deutschland. Die Unzufriedenheit über die Situation fand ihren Höhepunkt in zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. im Frühjahr 1878. Darauf hin wurde 1878 das Sozialistengesetz verabschiedet. Gleichzeitig wurde aber auch gefordert, „daß der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mitglieder annehme“.18 Diese Notwendigkeit war nicht nur mit christlicher Nächstenliebe begründet worden, sondern Ziel war es, „auch in den besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei“.19

15 Vgl. Voigt 1994, S. 206f. 16 Entzündungsherd als Reaktion auf den Bakterieneinfall. 17 Vgl. Voigt 1994, S. 208f. 18 F. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Berlin 1928, S. 97. 19 Ebd.

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Mit den neuen Kranken- und Sozialversicherungsgesetzen ab 1883 wollte die Reichsregierung versuchen, die sozialdemokratischen Strömungen in der Arbeiterschicht zu unterbinden. Die Einführung des Versicherungsschutzes für Arbeiter war aber zugleich ein Zugeständnis, dass die Unterdrückung der Sozialdemokratie durch die zwischen 1878 und 1890 geltenden Sozialistengesetze nicht erfolgreich gewesen ist.20 Den Gedanken, Tuberkulosekranken einen Aufenthalt in klimatisch günstigen Regionen zu ermöglichen und mithilfe von Bädern und Kräftigungsprogrammen eine Heilung zu erreichen, gab es schon in der Antike.21 Kurbehandlungen (und somit auch die Möglichkeit zur hygienischen Belehrung) von Lungenkranken blieben aber bis in das 19. Jahrhundert hinein meist wohlhabenden Patienten vorbehalten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts eröffneten in Großbritannien erste Lungenfachkliniken. Dort stand eine aufbauende Ernährung von schwer kranken Tuberkulösen im Vordergrund des ärztlichen Bemühens. Erstmals gab es eine Behandlung, die auch ärmeren Patientinnen und Patienten zu Gute kam.22 Die Geschichte der Heilstättenbewegung beginnt im Jahre 1854. Der junge Arzt Dr. Hermann Brehmer richtet in einer ehemaligen Kaltwasser-Badeanstalt seiner Schwägerin Marie von Colomb im schlesischen Dorf Görbersdorf eine Lungenheilanstalt ein, in der er das von ihm entwickelte Verfahren einer sog. „hygienisch-diätetischen“ Behandlung anwenden möchte. Die Kaltwasserkur wurde von Vinzenz Prießnitz entwickelt. Kaltes Wasser und gesunde Luft bildeten die Grundlagen seines hydrotherapeutischen Ansatzes.23 Brehmer sieht die Ursachen für Tuberkulose vor allem in einem zu kleinem Herzen und einer zu großen Lunge. Dieses Missverhältnis sei aber nur zu etwa 10 % genetisch bedingt. Weitere Auslöser sah er in schädlichen Nahrungsmitteln, in unzureichend belüfteten, dunklen Wohnungen und in einem Mangel an Bewegung.24 Das zu kleine Herz könne nicht genügend Blut durch den Körper pumpen, behauptete er, so dass die Organe und insbesondere die 20 Vgl. R. Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung – von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2011, S. 35f. 21 Vgl. S. Waksman, The conquest of tuberculosis, Berkeley 1964, S. 64. 22 Vgl. Langerbeins 1979, S. 2f. 23 Vgl. ebd., S. 8. 24 Vgl. H. Brehmer, Die chronische Lungenschwindsucht und Tuberkulose der Lunge: ihre Ursache und ihre Heilung, Berlin 1869, S. 32f.

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Lunge unterversorgt seien. Auf diese Weise lasse sich der schwache körperliche Zustand erklären, der gemeinhin als „Schwindsucht“ bezeichnet werde. Nur eine geeignete diätetische Kur an einem Ort, der gute klimatische Verhältnisse biete und in dem bisher noch keine Tuberkulose aufgetreten sei, könne zur Gesundung führen. Die „Immunität“ eines Ortes sei Voraussetzung dafür, Tuberkulöse heilen zu können. Vor allem in Gebirgsregionen käme es aufgrund des vorherrschenden niedrigeren Luftdrucks nicht zur Ausbreitung der Tuberkulose. Auf den schwächeren Luftdruck müsse der Organismus mit gesteigerter Herzfrequenz reagieren und auf diese Weise werde die Lunge besser mit Blut versorgt.25 „Wir sehen also, die Schwindsüchtigen dürfen wir nur in hochgelegene Täler schicken, die von der Lungenschwindsucht frei, und gegen Winde geschützt, also möglichst allseitig von Bergen umgeben sind.“26 Grundlage der Heilstättenbehandlung war somit ein Kuraufenthalt in den Bergen. An der frischen Luft sollte sich der Tuberkulöse hauptsächlich aufhalten und seinen geschwächten Körper durch nahrhafte Speisen kräftigen. Zur diätetischen Behandlung gehörte auch die Verabreichung von alkoholischen Getränken in begrenzten Mengen, dadurch sollte der Stoffwechsel angeregt werden.27 Brehmers Konzept fand schnell Nachahmer. Als zweite Heilstätte auf deutschem Boden wurde 1873 im vogtländischen Reiboldsgrün das Sanatorium des Arztes Carl Driver gegründet. Eine weitere Heilstätte entstand in unmittelbarer Nachbarschaft der Brehmerschen Einrichtung: In einer Privatvilla nahe des Görbersdorfer Kurhauses, die bis dahin hauptsächlich von Brehmers Kurgästen genutzt wurde, eröffnete 1875 das Sanatorium Dr. Römpler. Der Eigentümer des Hauses hatte gesehen, welchen Zuspruch Brehmers Anstalt fand und entwickelte den Wunsch, ebenfalls ein eigenes Sanatorium zu besitzen. Er suchte einen Chefarzt für sein Projekt und stellte Dr. Römpler ein.28 Eine besondere Bedeutung erlangte eine neue Heilstätte im hessischen Ort Falkenstein (heute Königstein/Taunus), die 1874 erbaut und ab 1876 von dem Arzt Peter Dettweiler geleitet wurde. Dett25 26 27 28

Vgl. Langerbeins 1979, S. 6. Brehmer 1869, S. 297. Vgl. ebd., S. 262f. Vgl. G. Wolff, Der Gang der Tuberkulosesterblichkeit und die Industrialisierung Europas, Leipzig 1926, S. 13.

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weiler war 1868 als Patient in der Görbersdorfer Heilstätte Brehmers gewesen und so von dessen Behandlung begeistert, dass er sich kurz darauf als Assistenzarzt in Görbersdorf bewarb. Von 1869 bis 1874 war er Schüler Brehmers, bis er nach einem Streit mit seinem Lehrer Görbersdorf verließ und in Falkenstein eine eigene Heilstätte gründete, die vom Ärztlichen Verein Frankfurt/Main getragen wurde und die sich eng an das Vorbild der Brehmerschen Anstalt anlehnte.29 Dettweiler führte somit im Taunus im Wesentlichen das Behandlungskonzept Brehmers fort. Wichtige Ergänzungen waren aber die Liegekur, die in speziellen von Dettweiler ersonnenen Liegehallen durchgeführt wurde, und eine „psychische Hygiene“-Erziehung der Kranken. Ziel sowohl der physischen Kräftigung als auch der psychischen Aufbauarbeit war vor allem die Steigerung der Abwehrkräfte.30 Unter den Begriff „Heilstätte“ fallen spätestens seit 1900 mindestens zwei Arten von Anstalten für Lungenkranke. Die Einrichtungen lassen sich hinsichtlich ihrer Trägerschaft zwei Kategorien zuordnen: zum einen handelte es sich um Privatsanatorien für Selbstzahler und zum anderen um Volksheilstätten, die von gemeinnützigen Vereinen oder Landesversicherungsanstalten (LVA) errichtet und betrieben wurden.31 Letztere können als Einheit betrachtet werden, da Vereinsheilstätten oftmals später von den LVA übernommen wurden und bereits in der Zeit, in der sie sich noch unter der Ägide eines Vereins befanden, vornehmlich Versicherten der LVA zur Verfügung standen. Heilstätten unterschieden sich von allgemeinen Krankenanstalten vorrangig durch ihre Lage, die lange Aufenthaltsdauer der Patientinnen und Patienten, durch Zusatzbauten wie Freiluftliegehallen sowie die im Anstaltspark zur Durchführung der „Terrainkur“ angelegten Spazierwege. Die Heilstätten boten Patientinnen und Patienten Gelegenheit, sich zu entspannen und sich „während ihres Aufenthaltes umfangreichen Erziehungsmaßnahmen“ vor allem im Hinblick auf hygienische Fragestellungen zu öffnen; Ziel

29 Vgl. Langerbeins 1979, S. 15. 30 Vgl. ebd., S. 20. 31 Vgl. F. Condrou, Lungenheilstätten im internationalen Vergleich. Zur Sozialge­ schichte der Tuberkulose im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Hist. Hosp., 19/ 1994, S. 220-234.

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war die „Isolierung, Erziehung und Disziplinierung“ von Tuberkulösen.32 Im Deutschen Reich trat am 22. Juli 1889 eine erste umfassende Sozialgesetzgebung in Kraft, die im § 12 die Gründung einer Alters- und Invalidenversicherung festlegte. Die neuen LVA sollten vor allem deshalb Behandlungsmöglichkeiten für Lungentuberkulosekranke schaffen, um eine drohende Erwerbsunfähigkeit nach Möglichkeit zu verhindern. Aufgrund dieser Maßgabe war der Bau von Heilstätten nicht mehr aufzuhalten. Obwohl sich die langwierigen Heilstättenaufenthalte für die Versicherungen sehr kostspielig gestalteten, war nach der damaligen, auf Schätzungen beruhenden Auffassung, der finanzielle Aufwand viel geringer als die Inkaufnahme einer frühen Invalidität aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung.33 So bringt etwa im Jahre 1894 der Direktor der LVA der Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen Gebhard zum Ausdruck, dass es „im wirtschaftlichen Interesse der Versicherungsanstalten und der Krankenkasse“ liege, wenn die Versicherungsanstalten von der Möglichkeit (§ 12), eine etwaige Erwerbsunfähigkeit durch eine Heilbehandlung abzuwehren, vielfältigen Gebrauch machen würden.34 Es ging darum, mithilfe der LVA den Bestand an Heilstätten zu vergrößern und die Patientinnen und Patienten auf Kosten der LVA in Heilstätten zu überweisen. Die LVA hatten die Aufgabe, „dort, wo Heilstätten zur Unterbringung der versicherten Lungenkranken nicht vorhanden seien, solche Anstalten aus eigenen Mitteln – gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Organisationen – zu errichten“.35 Dies war ökonomisch geboten, da die Ausgaben für einen Heilstättenaufenthalt in den zunächst ausschließlich zur Verfügung stehenden Privatsanatorien sehr hoch waren. Die bis 1876 entstandenen Heilstätten waren fast ausschließlich für vermögende Patientinnen und Patienten gebaut worden, die die hohen Kurkosten von bis zu vier Mark pro Kurtag tragen konnten (für ein Hotelzimmer im noblen Kurort Baden-Baden waren zu dieser Zeit nur 2,50 Mark

32 Vgl. S. Hähner-Rombach, Sozialgeschichte der Tuberkulose, Stuttgart 2000, S. 160. 33 Vgl. ebd., S. 164. 34 C. Hamel, Deutsche Heilstätten für Lungenkranke: Geschichtliche und sta­ tistische Mitteilungen. Tuberkulose-Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesund­ heitsamte, 2, 1-23, Berlin 1904, S. 8. 35 Ebd., S. 9.

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zu zahlen)36. Außerdem verfügten die Sanatorien lediglich über begrenzte Kapazitäten, da sich nur wohlhabende Personen einen Aufenthalt leisten konnten. Das änderte sich, als die LVA vor allem Versicherte aus der Arbeiterschicht in den Anstalten unterbringen ließ.37 Im Jahre 1896 gab das Kaiserliche Gesundheitsamt eine Denkschrift heraus, in der auf den gesundheitlichen und ökonomischen Nutzen von Heilstättenbehandlungen für Tuberkulöse hingewiesen wurde. Im gleichen Jahre erhielt die Heilstättenbewegung einen weiteren Aufschwung, als der „Volksheilstättenverein vom Roten Kreuz“ am brandenburgischen Grabowsee – zunächst versuchsweise – die erste Tuberkuloseheilstätte im Flachland eröffnete und damit eine neue Entwicklung einleitete.38 In den Jahren 1898 bis 1904 fand ein regelrechter „Bauboom“ für Heilstätten statt: 49 Häuser kamen hinzu und viele bereits bestehende Anstalten wurden vergrößert. Mehr als die Hälfte der Einrichtungen waren im LVA-Besitz. Dachorganisation der Heilstättenbewegung war das Deutsche Zentralkomitee. Es zählte im Jahre 1904 über 1.400 Mitglieder, darunter sieben Ministerien, 26 Landesversicherungsanstalten und 347 Gemeinden.39 Einen kritischen Höhepunkt erreichte die Heilstättenbewegung im Jahre 1899, als das Zentralkomitee zum „Kongress zur Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit“ einlud, an dem über 1.700 Besucher teilnahmen. Auf der Veranstaltung wurde vor allem die Frage erörtert, ob nicht erst „über die besondere Wirksamkeit der Heilstättenfürsorge und über die Bedürfnisfrage fernerer Anstalten weitere, hinreichend sichere Erfahrungen“ gesammelt werden müssten und deshalb „ein langsameres Tempo in der Heilstättenbegründung“ sinnvoller sei.40 In Mittelpunkt des Heilstättengedankens stand inzwischen eine umfassende Betreuung von Kranken, die meist aus bildungsfernen Schichten kamen und nicht einmal über hygienische Grundsätze aufgeklärt worden waren. Der Heilstättenarzt Felix Wolff forderte, die Behandlungskosten in den neuen Volksheilstätten nach den Grundprinzipien der Heilmethoden Brehmers und Dettweilers aus36 37 38 39 40

Vgl. Langerbeins 1979, S. 20. Vgl. S. Hähner-Rombach, Sozialgeschichte der Tuberkulose, S. 165. Vgl. Hamel 1904, S. 36. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 17.

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zurichten und die Häuser als „Erziehungsanstalten“ zu begreifen. Die Patienten sollten „zur Prophylaxe für sich und andere“ geschult werden. Eine gänzliche Heilung der Tuberkulose hielt Wolff ohnehin nicht für möglich. Eine weitere Überlegung, die vor allem nach der Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Robert Koch 1882 aufkam, bestand darin, die Lungenkranken in abgelegenen Mittelgebirgstälern zu behandeln, um sie zugleich isolieren zu können.41 Das Wissen um den Erreger hatte zu einer hohen Bewertung der Ansteckungsgefahr geführt. Auf dem I. Internationalen Medizinischen Kongress 1890 in Berlin sollte die Frage diskutiert werden, ob der Bau von Heilstätten für Personen aus ärmeren Schichten forciert werden musste. Da aber Robert Koch auf demselben Kongress das Tuberkulin als neues Heilmittel vorstellte, blieben die Stimmen zurückhaltend. Man glaubte, bald auf Heilstätten nach dem bestehenden Vorbild Brehmers und Dettweilers verzichten zu können.42 Die nach 1894 von Landesversicherungsanstalten genehmigten und übernommenen Behandlungen der Tuberkulose (also auch Heilstättenaufenthalte) waren durch die frühe Sozialgesetzgebung zunächst nur unzureichend finanziell gedeckt. Erst das am 13. Juli 1899 erlassene Invalidenversicherungsgesetz regelte die Übernahme von Behandlungskosten als vorbeugende Maßnahme zur Vermeidung einer möglichen Invalidität durch Tuberkulose. Die Heilstättenbewegung änderte nunmehr ihr Bild. Private Heilstättenvereine traten in den Hintergrund. Die Landesversicherungsanstalten übernahmen die meisten Häuser und es wurden außer­dem viele neue Einrichtungen gebaut. Von 1899 bis 1908 stieg die Zahl der Volksheilstätten von 33 auf 99 im gesamten Reichsgebiet.43 Als Höhepunkt einer LVA-finanzierten Bautätigkeit kann die Einrichtung der 1902 eröffneten Beelitzer Heilstätten angesehen werden. Der Kostenaufwand für diese nach Größe und Ausstattung mustergültige Anstalt überstieg alle vergleichbaren Projekte.44 Auch Häuser, die nicht von einer Landesversicherungsanstalt, sondern von anderen karitativen Kostenträgern gegründet wurden, können als Volksheilstätte bezeichnet werden. Hervorzuheben 41 42 43 44

Felix Wolff, zit. nach Langerbeins 1979, S. 23. Vgl. Hamel 1904, S. 6. Vgl. nach Langerbeins 1979, S. 58f. Ebd., S. 60.

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sind in diesem Zusammenhang die seit 1898 in Sülzhayn (Harz) bestehende Heilstätte der Norddeutschen Knappschaftspensionskasse Halle/Saale, das 1904 fertiggestellte Auguste-Viktoria-Stift des Allgemeinen Knappschaftsvereins in Beringhausen bei Meschede und die 1904 eröffneten Heilstätten Moltkefels (bei Schreiberhau, Riesengebirge) und Stadtwald (bei Melsungen/Kassel) der Pensionskasse I der Preußisch-Hessischen Eisenbahngemeinschaft (später Reichsbahn). Nach Maßgabe des § 12 des neuen Sozialversicherungsgesetzes war natürlich das Bestreben der Landesversicherungsanstalten, in erster Linie denjenigen Kranken einen Genesungsaufenthalt zu ermöglichen, bei denen die Aussicht auf Besserung und Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit realistisch erschien. Aus diesem Grunde wurden nur in seltenen Fällen Schwerkranke aufgenommen. Die Politik der Landesversicherungsanstalten, auf diese Weise Kosten zu sparen, war jedoch nicht erfolgreich. Bei den meisten Patientinnen und Patienten dauerte es viele Jahre, bis die Erwerbsfähigkeit nach einer Heilstättenkur wiederhergestellt wurde, oder sie gingen früh in den Ruhestand. In diesen Fällen standen die Ausgaben für die Heilstättenbehandlung in keinem Verhältnis zu den Ersparnissen. Das wirkte sich ungünstig auf die Bilanzen der Sozialversicherungsanstalten aus. Ein anderes Problem bestand darin, dass die Schwerkranken (Offentuberkulösen), die meist nicht in die Heilstätten aufgenommen wurden, für gesunde Menschen in den Städten und für die Arbeiter in den Betrieben eine große Ansteckungsgefahr darstellten. Es blieb ihnen verwehrt, eine Heilstättenbehandlung in Anspruch zu nehmen, wenn den Sozialversicherungsanstalten eine Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit aussichtslos erschien.45 In der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg verzichteten die LVA weitgehend auf den Bau neuer Heilstätten und setzten verstärkt auf das Programm, sog. Fürsorgestellen einzurichten. Deren prophylaktische Funktion bestand vor allem darin, die Bevölkerung über die Gefahren der Tuberkulose aufzuklären und hygienische Schutzmaßnahmen anzuraten. Generell entstand die Tendenz, Heilstätten zu Tuberkulosekrankenhäusern umzubauen, um auch schwerer erkrankte Personen aufnehmen zu können. In diese Zeit fielen die ersten chirurgischen Eingriffe (1912 wurde die Methode des Pneumothoraxes wissenschaftlich anerkannt). Während des Ersten Weltkriegs erlangte 45 Vgl. ebd., S. 70.

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die Heilstättenbehandlung wieder größere Bedeutung. Aufgrund schlechter Ernährung, unzureichend beheizter Räume, mangelhafter hygienischer Zustände und vielfältiger Stresssymptomatiken erhöhte sich die zuvor rückläufige Zahl der Tuberkulösen im Jahre 1918 wieder auf den Stand von 1897.46 Gegen Ende der 1920er Jahre war der große Umbruch vollzogen, den die neuen Behandlungsmethoden bewirkt hatten. Dr. Krause, Chefarzt der Heilstätte Rosbach, kennzeichnete die Veränderung im Jahre 1928 wie folgt: „Die notwendige Umstellung der Heilstätten in der Richtung der Tuberkuloseklinik und die große Erweiterung ihres Pflichtenkreises ist eine Folge der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis von dem Wesen der Tuberkulose. In der Entwicklung der Heilstätten spiegelt sich die Entwicklung der Tuberkuloseforschung wider.“47 Der Beginn der 1930er Jahre kann als das Ende einer Ära angesehen werden. Das Jahr 1934 brachte ein Umdenken in der Tuberkulosebehandlung; denn im Nationalsozialismus entstand die politisch gewollte Zwangsasylierung. Von der Tuberkulose betroffene Personen aus einem sozial problematischen Milieu (sog. „Asoziale“) oder mit delinquenter Vergangenheit, aber auch lediglich unheilbar kranke Offentuberkulöse, die eine hohe Ansteckungsgefahr darstellten, wurden gegen ihren Willen in gefängnisartige „Krankenhaftanstalten“ (z. B. im thüringischen Stadtroda) eingewiesen. Dort waren die Kranken häufig unter äußerst unhygienischen Bedingungen untergebracht, zum Teil in Einzelzellen eingesperrt und wurden stets von bewaffnetem Pflegepersonal bewacht. Sowohl praktizierende Ärzte als auch Leiter von Fachkrankenhäusern hielt man dazu an, bestimmte Tuberkulosekranke in diese Häuser einzuweisen. Einige Chefärzte, wie etwa Dr. Adolf Tegtmeier, Leiter der Sophienheilstätte bei Bad Berka, widersetzten sich derartigen Aufforderungen und schickten keine Patienten in diese „Gefängnisse“. Als Tegtmeier von aus dem Zwangsasyl zurückgekommenen Patienten Berichte hörte, wie entsetzlich die Verhältnisse dort waren, richtete er mit Genehmigung der Behörden eine eigene „Asylierungsabteilung“ im Dachgeschoss der Sophienheilstätte ein, um die Kranken unter seiner medizinischen Obhut behalten zu können. 46 Vgl. ebd., S. 80f. 47 K. Krause, Erinnerungsschrift aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Stadt­ kölnischen Auguste-Viktoria-Stiftung, Berlin 1928, S. 3f.

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Abb. 1: Warteschlange an der Außendusche in der Frauenheilstätte Landeshut/ Schlesien um 1913 (Abb. gemeinfrei, aus: Kaiserliches Gesundheitsamt, 1904; Ein Beitrag zur Beurteilung des Nutzens von Heilstätten für Lungenkranke, Tuberkulose-Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, 2, Anlage I. Berlin).

Auf diese Weise bewahrte er viele Menschen vor einem sonst drohenden frühen Tod.48 Der Begriff „Heilstätte“ als Bezeichnung für stationäre Einrichtungen blieb auch nach der Einführung chirurgischer und medikamentöser Behandlungen Tuberkulöser bis in die 1970er Jahre erhalten.

Literatur B. Berndt, C. Kouschil, Schach der Tuberkulose, aber matt?, Berlin 2008. H. Brehmer, Die chronische Lungenschwindsucht und Tuberkulose der Lunge: ihre Ursache und ihre Heilung, Berlin 1869. F. Condrou, Lungenheilstätten im internationalen Vergleich. Zur Sozialgeschichte der Tuberkulose im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Hist. Hosp., 19/1994, S. 220234. P. Dettweiler, Die Behandlung der Lungenschwindsucht in geschlossenen Heilanstalten mit besonderer Beziehung auf Falkenstein i. T., Berlin 1884. P. Dettweiler, Die hygienisch-diätetische Anstaltsbehandlung der Lungentuberkulose. Tuberkulose-Kongress, Berlin 1899. D. von Engelhardt, „Krankheit und Medizin. Patient und Arzt in Thomas Manns 48 Vgl. B. Berndt, C. Kouschil, Schach der Tuberkulose, aber matt? Berlin 2008, S. 69f.

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Zauberberg (1924) in medizinhistorischer Sicht“, in: D. von Engelhardt, H. Wisskirchen (Hrsg.), Der Zauberberg – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman, Stuttgart 2003. B. Grossmann-Hoffmann, Dr. Peter Dettweiler und die Heilanstalt Falkenstein, Königstein im Taunus 2009. S. Hähner-Rombach, Sozialgeschichte der Tuberkulose, Stuttgart 2000. C. Hamel, Deutsche Heilstätten für Lungenkranke: Geschichtliche und statistische Mitteilungen. Tuberkulose-Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, 2, 1-23, Berlin 1904. R. Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung – von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2011. K. Jungnickel, Lungenheilstätten in Österreich 1844–1935, Köln 1994. M. Kirchner, Robert Koch – Die Ätiologie und die Bekämpfung der Tuberkulose, Leipzig 1912. F. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Berlin 1928. K. Krause, Erinnerungsschrift aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Stadtkölnischen Auguste-Viktoria-Stiftung, Berlin 1928. I. Langerbeins, Lungenheilanstalten in Deutschland, Köln 1979. T. Sprecher, Davos im Zauberberg, München 1996. J. Voigt, Tuberkulose. Geschichte einer Krankheit, Köln 1994. S. Waksman, The conquest of tuberculosis, Berkeley 1964. G. Wolff, Der Gang der Tuberkulosesterblichkeit und die Industrialisierung Europas, Leipzig 1926.

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„Der kategorische Imperativ der Nerven und des Blutes“ Ellen Keys Dispositiv einer Biopolitik im Geiste der Aufklärung?

„Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt ihr gut machen, daß ihr euer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch! (Also sprach Zarathustra) Allen Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden.“1

Im Text Barnets århundrade von 1900 (dt. Das Jahrhundert des Kindes von 1902) der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key (1849–1926) zeigen sich die epistemisch heterodoxen Tendenzen einer Eugenik, die sich um 1900 als ein „soziales Netzwerk“ ma­ nifestiert2, sowie eine besondere Form der Wissenspopularisierung. Die Eugenik als ein heterogenes, interdiskursives Feld lässt sich, das soll im Folgenden exemplifiziert werden, nicht einfach unter das System Medizin, Biologie oder Pädagogik subsumieren. Daher evozierten um die Jahrhundertwende Eugenik wie Pädagogik, da sie stets auf Anwendung gerichtet und damit mehr als nur theo­ retische Grundlagenforschungen waren, auch in anderen Wissen­ 1

2

E. Key, Das Jahrhundert des Kindes [1902], übersetzt von Francis Maro, Wein­ heim/Basel 1992, S. 10. Dieses Zitat aus Friedrich Nietzsches Zarathustra ent­ nimmt Key nicht zufällig dem Kapitel „Von alten und neuen Tafeln“, bei dem es um neu gesetzte Werte sowie einen ‚geistigen‘ Adel geht, den Zarathustra heraufbeschwören will: „Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zu­ kunft, […]“ (F. Nietzsche, Werke. Kritische Studienausgabe (im Folgenden KSA), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1980, Bd. 4, S. 254). H.-W. Schmuhl, „Rassenhygiene in Deutschland – Eugenik in der Sowjetunion: Ein Vergleich“, in: D. Beyrau (Hrsg.), Dschungel der Macht, Göttingen 2000, S. 360. Siehe für die problematische Aneignung der Eugenik die Diskussion zu Galtons „Eugenics: Its definition, scope, and hope“ von 1904, in: The American Journal of Sociology, 1(10)1904, S. 1-25, bes. die kritische Aufnahme des Ge­ netikers William Bateson (S. 23-24).

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schaftsfeldern Anschlussfähigkeit. Keys populäre Sozialpädagogik speist sich in diesem Sinne aus verschiedenen Wissensformationen wie Literatur, Philosophie, Medizin, Biologie sowie Soziologie und greift – eigentlich untypisch für eine Pädagogik – auf Vererbungs­ theorien zurück. Ihr anthropotechnisches Züchtungsprinzip wird (im heute geläufigen Sinne) ‚wissenschaftlich‘: Was bei Frühneu­ zeitlichen Denkern wie Tommaso Campanella oder Thomas Morus noch seinen Platz in einer literarischen Utopie fand, verlagert sich nun in die Krankenhäuser, Arztzimmer und Gesetzbücher. Keys Konzept fokussiert folglich die „fundamentale biopolitische Struk­ tur der Moderne“, d. h. „die Entscheidung über den Wert (oder den Unwert) des Lebens als solches“3, wobei der Körper als Experimen­ talobjekt in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Er ist damit „zugleich eine Gegebenheit und ein Produkt. Seine Gesundheit ist zugleich ein Zustand und eine Anweisung.“4 Nachfolgend sollen im ersten Schritt diejenigen Diskurse aufge­ zeigt werden, welche die „folgenreichen Reformbewegungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert“5 ermöglicht und beeinflusst haben, darauf aufbauend wird im zweiten Schritt Keys polyvalentes Konzept einer Sozialpädagogik genauer vorgestellt. Dabei werden Fragen zu Problematisierungsdiskursen ihrer Schrift zu beant­ worten versucht: Wie positioniert sich Keys ‚neue Ethik‘ zwischen Praxis und Theorie, was für Wissensnetzwerke werden (auch rhe­ torisch) adaptiert und inwiefern schreiben sich scheinbar rationalaufklärerische Diskurse eines Humanismus in ihr anthropotechni­ sches ‚Menschenbild‘ mit ein? Am Schluss muss die Frage gestellt werden, wie es nach den kognitiven Anthropologien der Aufklärung (Immanuel Kant/Wilhelm von Humboldt) am Ende des 19. Jahr­ hunderts wieder zu einem ‚Rückschritt‘ in Richtung naturalisti­ scher Körperpolitik kam. Versagen die humanistischen Werte der Aufklärung? Werden sie durch sozialdarwinistische und eugenische Paradigmen überschrieben? Löst Galton Kant ab? Anhand von Ellen Key als Katalysator eines populär medizi­ nisch-eugenischen Denkens soll eine andere Lesart des geläufigen

3 4 5

G. Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 146. G. Canguilhem, Gesundheit – eine Frage der Philosophie, Berlin 2000, S. 60. K. Meyer-Drawe, „Töten aus Barmherzigkeit? Biopolitische Tendenzen der Le­ bensreformbewegung. Erich Christian Schröder zum 80. Geburtstag“, in: K. Meyer-Drawe/K. Platt (Hrsg.), Wissenschaft im Einsatz, München 2007, S. 217.

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‚Entweder-Oders‘ dargestellt werden. Statt Ablösung kann man eher von einer Transkription (als Über- und Umschreiben) sprechen, die sich aufgrund neuer Medien und (Kultur-)Techniken vollzieht6, und die die Episteme ‚Mensch‘ biologisch-materialistisch deutet. Dabei generiert, zirkuliert und tradiert sich ein diskursives Wissen über den Menschen durch naturwissenschaftliche Lesarten. Aufklä­ rung und eugenische Intervention agieren demzufolge, selbst wenn das kontrovers und provokant klingen mag, auf dem gleichen Ko­ ordinatensystem einer Anthropotechnik. „Anthropotechnik“ kann dabei als eine Optimierung vom Menschen auf den Menschen ver­ standen werden, die weit gefasst viele interdisziplinäre Bereiche ab­ deckt. „Menschen können gar nicht anders, als sich selber herzustel­ len. Das ist es, was der Begriff ‚Anthropotechnik‘ besagt. Menschen leben in Tätigkeitsfeldern, aus denen sie selbst hervorgehen. […] Wir sind zur Selbstformung verdammt.“7 Obwohl man sich der his­ torischen Tiefenschärfe dieses Problembegriffes (Anthropotechnik) bewusst sein muss8, fasst der Terminus doch prägnant zusammen, dass Erziehung wie Züchtung Zugriffe auf den Menschen darstel­ len, die sich durch Planung, Organisation und Rationalität zur Ver­ besserung seiner defizitären Disposition auszeichnen.

1. Der Schlüssel zu Key: Ein Blick auf den historisch-politischen Diskurs Die Gesundheit der Rasse – „Schwanger vom latenten Leben“ Bevor Keys Schrift untersucht wird, soll konzis und exemplarisch auf die Diskurse eingegangen werden, aus denen sich Das Jahrhundert des Kindes entwickelt hat, da sich an diesen die eugenischen sowie anthropotechnischen Tendenzen um 1900 aufzeigen lassen. 6

7 8

Zur Verbindung von Medien und Kulturtechniken siehe B. Siegert, „Kultur­ technik“, in: H. Maye/L. Scholz (Hrsg.), Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011, S. 95-119. Nach Siegert werden „Medien […] als Kulturtechniken beschreibbar, wenn die Handlungsketten rekonstruiert werden, in die sie einge­ bunden sind, die sie konfigurieren oder die sie konstitutiv hervorbringen“ (ebd., S. 98). P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, S. 245. Vgl. K. Liggieri, Zur Domestikation des Menschen. Anthropotechnische und anthropoetische Optimierungsdiskurse, Münster/Wien 2014.

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Ernst Haeckel, der Darwins Werk in Deutschland bekannt mach­ te, und der Begründer der Eugenik, Francis Galton, bereiten schon Mitte des 19. Jahrhunderts den Weg für den Gedankengang Keys vor, wenn sie den Menschen als eine höhere Gewalt definieren: „Die Natur ist schwanger vom latenten Leben und es steht in der Hand des Menschen dieses Leben hervorzurufen, in welcher Form immer er will und in dem Ausmaße, das er will.“9 Der Mensch bekommt von Galton eine Gestaltungsmacht zugesprochen, die er in einer po­ sitiven Eugenik umsetzen soll: „We may not be able to originate, but we can guide. The processes of evolution are in constant and spontaneous activity, some towards the bad, some towards the good. Our part is to watch for opportunities to intervene by checking the former and giving free play to the latter.“10 50 Jahre später ist der fragende Ton eines Otto Neurath, Übersetzer Galtons, schon ideo­ logisch-praktischer geworden, da die Gesundheit des Volkskörpers nun den Diskurs dominiert: „Wie kann man eine menschliche Rasse züchten, die unseren Idealen am meisten entspricht?“11 Zwischen Galton und Neurath steht ein halbes Jahrhundert der Eugenik sowie der sozialdarwinistischen Ideologeme. In diesem Sinne plädiert 1895 Alfred Ploetz, immerhin Zeitgenosse Keys, für eine systematische Zeugung, eine Erlaubnis der Ehe nur für Erbgesunde sowie eine Se­ lektion und Exklusion von Schwachen und „Missratenen“.12 Key schließt fünf Jahre später in ihren Überlegungen an diesen eugeni­ schen Diskurs an, der Zucht als Verbesserung des Individuums (bei ihr bezogen auf das Kind) und als Erhöhung der „Rasse“ verstanden wissen will.13 9 F. Galton, Genie und Vererbung [1869], übersetzt von O. Neurath, Leipzig 1910, S. 399. Zur genauen Betrachtung der Eugenik sowie Galtons Ausarbeitung vgl. D. J. Kevles, In the Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human Heredity, Cambridge 1995, bes. S. 3-30. 10 Galton, Hereditary Genius, 2. Aufl. London 1892, S. xxvii [Kursiv von K. L.]. Dass der Mensch „Hoffnung auf eine noch höhere Stellung in einer fernen Zukunft“ haben könne, formuliert auch – wenn vorsichtiger – Darwin in Descent of Man (C. Darwin, Die Abstammung des Menschen, Frankfurt a, M. 2005, S. 274). 11 O. Neurath, „Vorwort“, in: F. Galton 2010, S. IV. 12 Vgl. A. Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Grundlinien einer Rassen-Hygiene, 1. Theil, Berlin 1895, S. 145ff. 13 P. Gehring, „Zwischen Menschenpark und Soft eugenics“, in: ders. (Hrsg.), Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M. 2006, S. 164.

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Wie kam es nach den kognitiven Anthropologien in pragma­ tischer Hinsicht der Aufklärung nun am Ende des 19. Jahrhun­ derts wieder zu einem ‚Rückschritt‘ in Richtung naturalistischer Körperpolitik? Der Umschlagpunkt ist Charles Darwin, der in der Rezeption durch Haeckel und Herbert Spencer populär eugenische Ideen nach Deutschland brachte.14 „Survival of the fittest“15 ist zur Standardformel dieser Ideologismen geworden. Es spricht für einen genau zu betrachtenden Wissenstransfer, dass eigentlich nicht der Biologe Darwin der Begründer dieses Terminus ist, sondern der So­ ziologe Spencer, der für seine Weltanschauung ein Stück Biologie übernimmt und daraus das „Überleben des Tüchtigsten“ macht. Damit erfolgt eine „Vernaturwissenschaftlichung der Soziologie“16, an die sich später auch die Pädagogik Keys anschließen wird. Der problematische Terminus vom „Tüchtigsten“ transportiert aller­ dings den Gedanken an einen selbstständig handelnden Akteur mit, der bei der Evolution als „Prozess ohne Subjekt“ nicht mehr an­ gebracht ist.17 Bei Darwin selbst taucht die Formel vom „Sur­ vival of the fittest“ erst in der fünften Auflage von Entstehung der Arten (1859) auf, jedoch ist er in seinem zweibändigen Werk von 1871 Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl kritisch genug, um zu erkennen, dass er mit der Formel eventuell zu weit ging und begreift, dass er „der Wirkung der na­ türlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben habe.“18 Nichtsdestotrotz muss nach Neffe ange­ merkt werden, dass Darwins Denken keineswegs vollends frei von blinden Flecken ist.19 So waren für Darwin kulturelle Unterschiede genetisch fixiert: „Ich [Darwin, K. L.] bin geneigt, mit Francis Gal­ 14 K. Bayertz, „Darwinismus als Ideologie“, in: K. Bayertz/B. Heidtmann/H.-J. Rheinberger (Hrsg.), Darwin und die Evolutionstheorie, Köln 1982, S. 105-120. 15 H. Spencer, A System of Synthetic Philosophy; The Principles of Biology, Vol. I, London 1862–1896, S. 164. 16 P. Gehring, „Biologische Politik um 1900. Reform, Therapie, Experiment?“, in: B. Griesecke/M. Krause/N. Pethes/K. Sabisch (Hrsg.), Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2009, S. 67. 17 H.-J. Rheinberger, „Orte des wilden Denkens. Ein Interview“, in: Ders., Re­ kurrenzen, Berlin 2014, S. 113-160, hier S. 156. 18 C. Darwin, Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl [1871], übersetzt von J. V. Carus, Dreireich 1992, S. 67ff. Siehe hierzu auch den interessanten Artikel von P. Sarasin, „Die Pfauenfedern der Kulturwissenschaft: zur Genealogie der Zeichen bei Charles Darwin“, in: Zeitschrift für Ideenge­ schichte, 3(3)/2009, S. 61-78. 19 J. Neffe, Darwin. Das Abenteuer des Lebens, 6. Auflage, München 2008, S. 153.

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ton darin übereinzustimmen, dass Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist eines jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind.“20 Für ihn wie Galton steuern die Erbanlagen das Verhalten, und das Verhalten ist wiederum in diesen niedergelegt. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der ‚Darwinis­ mus‘ im ausgehenden 19. Jahrhundert durch verschiedene Wissens­ netze und deren Popularisierung eine Eigendynamik entwickelte. Als Rezipienten dienten dabei u. a. Forscher wie Haeckel, der die These der natürlichen Auslese zu einer „universellen Entwick­ lungstheorie“ machte, da sie das „ganze Gebiet des menschlichen Denkens umfasst.“21 Gerade im deutschsprachigen Raum wird der ‚Darwinismus‘ von Haeckel als Wortführer ideologisch eingeklei­ det, denn wie kein anderer – nicht einmal Spencer – stellt Haeckel den Darwinismus in den Dienst seiner politischen Denkweise. Der Forscher erklärt Selektion und Konkurrenz zur Grundlage gesell­ schaftlichen Fortschritts und will den deutschen Nationalstaat als darwinistisches Projekt verstanden wissen: „Diese Naturmenschen [z. B. Afrikaner, K. L.] stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugethieren (Affen, Hunden), als dem hochcivilisierten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswerth ganz verschieden zu beurteilen.“22 Die Gesundheit des Lebens – „Die Pflicht gesund zu sein“ Der eugenische Diskurs zieht sich von nun an durch die Wissen­ schaftskulturen. So vereinigen sich im Jahre 1894 Naturheilkun­ de und Medizin in der Person Heinrich Lahmanns, der für ein ge­ sundes Leben verschiedene Kriterien anführt: „Luft, Licht, Wasser, Nahrung, Bewegung und Ruhe.“23 Diese diätetischen „Lebensrei­ ze“ einer bürgerlichen ,Hygiene‘ (im weitesten Sinne des Wortes), die sich auch in der Reformpädagogik wiederfinden lassen, müsse der Mensch sich wieder antrainieren. Gesunde Menschheit und in­ 20 F. Darwin (Hrsg.), Leben und Briefe von Charles Darwin, 2. Auflage, Bd. 1, Stuttgart. 1899, S. 21. 21 Neffe 2008, S. 476. 22 E. Haeckel, Die Lebenswunder [1904], Stuttgart 1923, S. 450. 23 H. Lahmann, Die diätische Blutmischung (Dysämie) als Grundursache aller Krankheiten. Ein Beitrag zur Lehre von der Krankheitsdisposition und Krank­ heitsverhütung, 3. Auflage, Leipzig 1894, S. 20.

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takte Rasse zeigen sich nach Lahmann entsprechend an optimierten Körpertechniken, die auf einem heroisch-stilisierten Antikebild be­ ruhen. Pudor spricht 1902 im gleichen Duktus von der modernen Sehnsucht nach einer „verlorenen Gesundheit“ und meint damit die „naive Gesundheit“ der „kindlichen Griechen.“24 Die humanis­ tische Antikebegeisterung des 18. Jahrhunderts wird in dieser Zeit durch eine medizinisch hygienische Lesart auf den Körper und sei­ ne Gesundheit reduziert. Hygiene ist hierbei eine „Form selbstau­ ferlegter und selbstkontrollierter Mäßigung, ein bewusster, selbst­ gesteuerter Versuch ,im Gleichgewicht‘ zu bleiben […].“25 Sarasins Argumentation folgend kann man anführen, dass die „Ästhetik der Existenz“, die Foucault in der Antike verortet, im 19. Jahrhundert einer hygienischen „Sorge um sich“ entsprach.26 Bei dieser hygieni­ schen „souci de soi“ wird die im späten 18. Jahrhundert sich durch­ setzende Individualhygiene durch zwei Strömungen erweitert: zum einen durch eine „öffentliche Hygiene“, die sich auf einen Volks­ körper richtet, und zum anderen durch den „Aufstieg der Bakterio­ logie seit den 1880er Jahren.“27 Durch diese Bakteriologie (mit ihren Mikroorganismen und Präventionsmaßnahmen) wird das Bild von Krankheit und Gesundheit maßgeblich verändert, da nun die Ver­ antwortung für die Gesundheit dem Arzt übertragen wurde. Was infolgedessen am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt, ist der Trend zu einer neuen Lebensreform, die sich zu einer diäteti­ schen und hygienischen Maxime der Gesundheit ausweitet: Es wird zur „Pflicht, gesund zu sein“.28 Alle Institutionen, Ausrichtungen und Debatten richten sich größtenteils auf diese Diätetik29, wobei 24 H. Pudor, Die neue Erziehung. Essays über die Erziehung zur Kunst und zum Leben, Leipzig 1902, S. 54. 25 P. Sarasin, „Foucault, Burckhardt, Nietzsche und die Hygieniker“, in: J. Mart­ schukat, Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/New York 2002, S. 195218, hier S. 200. 26 Ebd., S. 207. Dazu auch P. Sarasin, „Wissen vom Körper – Wissen über sich? Zeichen und Medien in der hygienischen Konstruktion des Körpers im 19. Jahr­ hundert“, in: S. Göttsch/C. Köhle-Hezinger (Hrsg.), Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Jena 2001, Münster u. a. 2003, S. 401-412. 27 P. Sarasin, „Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge. Das Verhältnis von Selbst­sorge und staatlicher Intervention im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Car­ diovascular medicine 14 (2)/2011, S. 41-45, hier S. 42-43. 28 Pudor 1902, S. 20. 29 M. Möhring, „Thermodynamik und Freikörperkultur. Praxis des Lichtluftbades“, in: C. Brandt/F. Vienne (Hrsg.), Wissensobjekt Mensch, Berlin 2008, S. 93.

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überwiegend eine biologische Gesundheit der Fortpflanzung sowie der Rasse im Vordergrund steht. Die ‚Gesundheit des Volkskörpers‘ wurde zum Staatsziel erhoben. In diesem Rahmen, „der wesent­ lich um Fragen der Eugenik, der Rassenidentität und der Sexuali­ tät, kurz um eine Biopolitik des ‚Volkskörpers‘ kreiste“, war auch die klassische Genetik entstanden.30 Ungewitter definiert 1911 Ge­ sundheit in diesem Kontext als „tadelloses Funktionieren des Stoff­ wechsels in allen Organen“ und Krankheit dagegen ex negativo als „das Gegenteil“.31 Wenn Gesundheit Zwang und Krankheit Stigma­ ta werden, begibt man sich in eine asymmetrische Codierung des wertvollen und wertlosen Lebens. Zwanghafte Gesundheit und Ver­ nichtung des kranken ‚Anderen‘ wird in der Zeit um 1900 immer zunehmender zum Thema der Forschung. Mit der Eugenik und der durch Alfred Ploetz begründeten „Rassenhygiene“ wird die Erbgut­ verbesserung notwendig auch eine politische Bewegung. Ploetz, der selbst Keimexperimente an Fröschen vornahm, zieht der Euthanasie die Eugenik mit der Begründung vor, dass, „wenn keine Schwachen mehr erzeugt werden, brauchen sie auch nicht wieder ausgemerzt zu werden. So einfach diese Sätze klingen, so bedeuten sie doch ein ungeheuer umfangreiches Forschungsprogramm.“32 Ein umfang­ reiches Programm, welches sich Ploetz, der Mitbegründer und He­ rausgeber des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, zur Aufgabe machte zum Erfolg zu bringen. Im Zentrum dieser Be­ schäftigung stand das „physische Leben“, wobei die Rasse (in Kon­ trast zu einer bürgerlichen Individualhygiene) als Ausgangspunkt einer Körperpolitik diente. Neben Ploetz lassen sich in dieser Zeit viele weitere eugenische Theoretiker anführen. So spricht auch der „Specialarzt für Haut- und Harnleiden“ Rohleder 1911 von einer „Zeugung gesünderer, kräftigerer Nachkommenschaft.“33 Für ihn weitet sich der Begriff der „Krankheit“ bis auf die Erbanlagen aus,

30 H.-J. Rheinberger/S. Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines bio­ logischen Konzepts, Frankfurt a. M. 2009, S. 239. 31 R. Ungewitter, Kultur und Nacktheit. Eine Forderung von Richard Ungewitter, Stuttgart 1911, S. 121. 32 A. Ploetz, „Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammen­ hängende Probleme“, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Ver­ handlungen des Ersten Deutschen Soziologentages (vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt), Tübingen 1911, S. 136. 33 H. Rohleder, 1911; Die Zeugung beim Menschen. Eine sexualpathologische Studie aus der Praxis. Mit Anhang: Die künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Menschen, Leipzig 1911, S. 3.

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wenn er „krankhafte Keimzelle[n]“ oder „krankhafte Vorgänge der Zeugung“ anführt. Diese „kranken“ Keimzellen können dann wie­ derum nach Rohleder und Ploetz eine „pathologische Vererbung“ evozieren.34 Ist man erst einmal so weit, Zellen als „krank“ zu de­ finieren, ist die biopolitische Kontaminierung in greifbarer Nähe. Rohleder ging es aufgrund dessen nicht nur um die reine Förderung des ‚guten‘ Erbmaterials, sondern auch darum, das ‚schlechte‘, wert­ lose Material einzugrenzen und im letzten Schritt zu eliminieren. Dergestalt forderte er 1915 analog zu den USA eine Gesetzgebung zur Sterilisation für Alkoholiker, Taubstumme, Geisteskranke, Ver­ brecher und andere „Minderwertige“35, da er in der Sterilisation „ein geeignetes Verfahren [sah], um einen Teil der Bevölkerung von der Fortpflanzung abzuhalten und damit die Vererbung ihrer Krankheiten zu verhindern.“36 An diesen kurz anzitierten Positionen um 1900 wird sichtbar, dass die biologische Vererbung seit den Anfängen bei Galton kein neutrales, unpolitisches Gebiet war, sondern stets im Spannungsfeld von diskursiven Praktiken stand und damit als ein „biopolitisches Dispositiv“ begriffen werden kann.37

34 Ebd., S. 192ff. 35 H. Rohleder, „Der heutige Stand der Eugenik“, in: Zeitschrift für Sexual­ wissenschaften, 2/1915, S. 22. 36 F. Vienne, „Gestörtes Zeugungsvermögen: Samenzellen als neues humanmedizi­ nisches Objekt, 1895–1945“, in: C. Brandt/F. Vienne, Wissensobjekt Mensch, Berlin 2008, S. 178. Nach Bayertz, Weingart und Kroll vollzog sich die „Ent­ wicklung der Eugenik in Deutschland […] in einem besonderen geistigen Klima. Nur in Deutschland konnte eine politische Bewegung, die das Rasse­ reinhaltungsideal programmatisch verfocht, zu solch außerordentlicher poli­ tischer Wirksamkeit und schließlich auch zu politischer Macht gelangen. Ras­senhygiene als wissenschaftliche Ideologie und Nationalsozialismus als politische Ideologie waren jedoch weder dem Inhalt noch der Form nach vor und nach 1933 deckungsgleich, sondern standen in einem Verhältnis, das sich als intellektuelle und utilitaristische Affinität beschreiben läßt. Intellektuell war sie insofern, als die Nationalsozialisten sich der wissenschaftlichen Inhalte und der politischen Forderung der Rassenhygieniker bemächtigten, mochten sie sie auch verfälschen, selektiv rezipieren und radikalisieren. Umgekehrt bedienten sich, zumal nach der Machtergreifung, auch viele Rassenhygieniker der radikaleren politischen Sprache. Utilitaristisch war das Verhältnis insofern, als die nach Macht strebende politische Bewegung und die nach Institutionalisierung und Professionalisierung strebenden Wissenschaftler voneinander profitieren zu können glaubten“ (P. Weingart/J. Kroll/K. Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Ge­ schichte der Eugenik in Deutschland, Frankfurt 1992 (1988), S. 370). 37 Rheinberger/Müller-Wille 2009, S. 29.

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2. Ellen Keys Jahrhundert des Kindes oder „Der kategorische Imperativ der Nerven und des Blutes“ In Anbetracht des Erwähnten wird deutlich, dass der Zeitgeist um 1900, genährt durch 50 Jahre falsch verstandenen Darwinismus, auf den Körper sowie das ,Leben‘ und nicht mehr auf das Bewusstsein einwirken will. Daher scheint es nicht nebensächlich, dass es um 1900 zur „mindestens dreifachen Wiederentdeckung“ der Mendel­ schen Gesetze kam.38 Diese ‚Neuentdeckung‘ der Vererbung war auch für die Pädagogik von besonderer Bedeutung, da nun stär­ ker gegen einen optimierenden Einfluss von Erziehung, besserer Lebensqualität und medizinischer Therapie argumentiert werden konnte.39 Die Züchtung als Eingriff auf bzw. in den Körper gewinnt die Oberhand gegenüber der Erziehung und „das Programm der Moderne, die Konstruktion und Rekonstruktion des menschlichen Körpers, erscheint nach einem Jahrhundert Vordenkens und -ge­ staltens in den Künsten wissenschaftlich realisierbar.“40 So kann Ploetz 1895 in Die Tüchtigkeit unserer Rasse formulieren: „Aueße­ re Eindrücke, Erziehung, Uebung von Functionen können nur ge­ gebene Anlagen bis zu einem bestimmten Puncte entfalten, sodass sie für das betreffende Individuum besser funktionieren, aber die Steigerung der guten Anlagen bei der Vererbung auf die nächste Generation, also die wirkliche Vermehrung des Kapitals menschli­ cher Glücksfähigkeit, ist ein Problem des Gattungslebens und fällt daher vollkommen in die Sphäre der Rassenhygiene.“41 Die Euge­ niker attestieren dem Erziehungsprogramm in gewissen Zügen sein Scheitern, da „Bildung die Zucht verfeinern, aber nicht ersetzen [kann].“42 Da die Veränderung des Menschen unter die Haut ge­ 38 H.-J. Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, Frankfurt a. M. 2006, S. 75; auch S. 112. Zur gleichzeitigen Entdeckung siehe Hugo de Vries, Das Spaltungsgesetz des Bastarde (14. März 1900), Carl Correns, Gregor Mendels Regel über das Verhalten der Nachkommenschaft der Rassenbastarde (24. April 1900), Erich von Tschermak-Seyenegg, Über künstlich Kreuzung bei pisum sativum (2. Juni 1900) (vgl. Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, Blut und Gene, S. 323). 39 Vgl. C. Grimm, Netzwerke der Forschung. Die historische Eugenikbewegung und die moderne Humangenomik im Vergleich, Berlin 2011, S. 65. 40 Neffe, Darwin, S. 463. 41 Ploetz 1895, S. 13. 42 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1923, S. 967. Im ähn­ lichen kritischen Sinne auch Nietzsche, für den „Erziehung“ und „Bildung“ nur eine „Kunst“ der Täuschung ist – „über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele […]“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5, S. 219).

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hen müsse, wird das Wissen vom Menschen für einen unmittel­ baren Zugriff auf das Wissen vom Körper reduziert. Die Bezugs­ größe ‚Leben‘ wird infolgedessen politisiert, sodass nicht der freie Mensch mit seinen Eigenschaften und Statuten, sondern der corpus das neue Subjekt der Politik bzw. des Volkskörpers darstellt. Folgt man Sarasin, so stehen nicht mehr die Schädigung der Nerven des Einzelnen beim individuellen Geschlechtsverkehr und die Triebbe­ herrschung im Vordergrund, sondern die Verantwortung für die Rasse durch Verhinderung schlechter Erbanlagen.43 Dabei wird der individuelle, wirkliche Körper transzendiert, um ihn optimaler be­ herrschen zu können. Key steht am Beginn dieser Phase einer eugenischen Konzeptu­ alisierung, indem sie den medizinisch-eugenischen Diskurs für ihre neue Pädagogik und Ethik adaptiert. Ihr Buch Das Jahrhundert des Kindes soll im hygienischen Körperdiskurs („Heiligkeit der Gene­ ration“) einen neuen Aufbruch markieren.44 Der schwedischen Re­ formpädagogin gelingt es, mit ihrem Text, da er den Nerv der Zeit trifft, ein Echo aus der Gesellschaft hervorzurufen.45 So rezensiert Rilke im Bremer Tageblatt und General-Anzeiger vom Juni 1902 fast schon prophetisch: „Und dieses Buch, in seiner stillen, eindring­ lichen und liebevollen Art, ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können. Man wird im Verlaufe dieses begonnenen Jahrhunderts immer wieder auf dieses Buch zurück­ kommen, man wird es zitieren und widerlegen, sich darauf stützen und sich dagegen wehren, aber man wird auf alle Fälle damit rech­ nen müssen.“46 Mit einer Mischung aus religiösem, mystischem, jedoch auch klar medizinischem Duktus entwirft Key das Bild einer neuen, gesünderen und stärkeren Rasse, deren Kronzeuge ‚das Kind‘ darstellt. So ist ihr „Interesse an der Abstammung […] immer auch 43 P. Sarasin, Reizbare Maschinen – Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frank­ furt a. M. 2001, S. 445. 44 Vgl. Key 1992, S. 12. 45 T. Rülcker, „Das Jahrhundert des Kindes? Ellen Key, die deutsche Pädagogik und die widersprüchliche Realität von Kindheit im 20. Jahrhundert“, in: K.-C. Lingelbach/H. Zimmer (Hrsg.), Jahrbuch für Pädagogik 1999. Das Jahrhundert des Kindes?, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Wien 2000, S. 20. 46 R. M. Rilke, „Das Jahrhundert des Kindes“ [1902], in: Bremer Tageblatt und Ge­neral-Anzeiger, (4)132, 8. Juni 1902, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Wiesbaden/Frankfurt a. M. 1955–1966, S. 584ff. Siehe zum Verhältnis Rilke und Key auch R. Robertson, „Das Bild des Kindes bei Kafka im Lichte von Ellen Keys ‚Das Jahrhundert des Kindes‘“, in: S. R. Fauth/G. Magnùsson (Hrsg.), Influx. Der deutsch-skandinavische Kulturaustausch um 1900, Würzburg 2014, S. 222-223.

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Bestandteil eines auf zukünftige Kontrolle und Lenkung ausgerich­ teten biopolitischen Projekts.“47 Da für die aufmerksame Nietzsche­ leserin Key der Mensch „immer im Werden begriffen“ ist, kann man in ihn modifizierend eingreifen.48 Wenn der Mensch folglich keine feste Gestalt hat, dann bietet sich die Möglichkeit, „seine zu­ künftige Entwicklung in solcher Weise zu beeinflussen, dass sie ei­ nen höheren Typus Mensch hervorbringt.“49 Key zieht hierbei (fast typisch für eine eugenische – und noch typischer für eine anthropo­ technische – Argumentation) die Parallele zur Tier- und Pflanzen­ welt, in welcher der Mensch seinen „Willen“ der Züchtung schon manifestiert habe.50 Der moderne Mensch kann demzufolge in Keys Biopolitik als „ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“, beschrieben werden.51 In diesem „Spiel“ dürfe man die „Veredelung der menschlichen Rassen“ nicht dem „Zu­ fall“ überlassen.52 Den Rahmen für jenes Züchtungsprogramm bil­ det die Naturwissenschaft: „Erst wenn die naturwissenschaftliche Anschauung die Menschheit durchdrungen hat, kann diese die volle naive Überzeugung der Antike von der Bedeutung des Körperlichen wiedererlangen.“53 Nach Key muss es also zum einen eine Ablö­ sung vom Christentum, welches den Körper verdammte, geben. In diesem Sinne wendet sie sich auch gegen das Sakrament der Ehe.54 Zum anderen inauguriert sie den Körper selbst als „heilig“: Nicht mehr der Geist oder das Bewusstsein stehen im Vordergrund, son­ dern der sakrale Körper. Er ist derjenige, der zeugt, lebt und liebt. Die Partner müssen nicht heiraten oder der Ehe treu sein, wenn sie nur auf ihren Körper, dessen ‚Reinheit‘ und ‚Hygiene‘ achten. Die­ sen Gedanken einer „Selbstpurifizierung“ unterlegt Key mit einem wissenschaftlichen Fundament, um ihm mehr Gehalt zu verleihen, wobei sie u. a. auf bekannte Autoren wie Darwin, Malthus (der „die Bedeutung der Auslese und die Gefahr der Degeneration der 47 C. Brandt/F. Vienne, „Einleitung“, in: C. Brandt/F. Vienne (Hrsg.), Wissensobjekt Mensch, S. 24. 48 Key 1992, S. 12. Key schrieb Nietzsches Schwester einen „tearful letter“, als Nietzsche starb (vgl. C. Diethe, Nietzsche’s Women: Beyond the Whip, Berlin 1996, S. 149). 49 Ebd., S. 13. 50 Ebd. 51 M. Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 171. 52 Key 1992, S. 13. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 14.

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Art ein[sah]“55), Weismann, Wallace, Galton und Spencer verweist. Man müsse auf „naturwissenschaftlicher Basis, in neuer und edle­ rer Form die ganze antike Liebe zu der Stärke und Schönheit des eigenen Körpers wiedererlangen, die ganze antike Ehrfurcht vor der Göttlichkeit der Fortpflanzung, vereint mit dem ganzen modernen Bewusstsein von dem seelenvollen Glück der idealen Liebe!“56 Es mutet zuerst fragwürdig an, dass die Reformpädagogin hier antike Ethik und Körperdiskurse mit moderner Naturwissenschaft vermengt, jedoch speist sich diese Lesart Keys (bei der stark Nietz­ sche durchschimmert) aus dem Willen, die Pädagogik einerseits als gefestigte Wissenschaft zu statuieren und andererseits mit dieser neuen Pädagogik einen Zugriff auf den Menschen zu etablieren, der in der Tradition erzieherischer Modelle nicht in den Fokus gerückt ist. Pädagogik müsse keine Bildungsgeschichte mehr erzählen, son­ dern Wissen popularisieren und Maximen begründen, welche zur besseren biologischen ‚Gestaltung‘ des Kindes beitragen. „Die Per­ fectibilité dient nicht mehr der eigenen Vollkommenheit in der Ent­ wicklung aller Kräfte, wie noch in der Nachfolge Rousseaus, son­ dern der Gattung.“57 Pädagogik reiht sich als Unterkategorie in die Wissenschaften ein und wird – anlog zur Anthropotechnik – zur Pädotechnik.58 Was Key mit ihrem Ansatz versucht, ist Aufklä­ rungsarbeit im Sinne Nietzsches, doch anders als dieser hat sie das Ziel einer hochgezüchteten gesunden Rasse vor Augen.59 Nietzsche 55 Ebd., S. 20-21. In diesem Kontext führt Key auch frühere biopolitische Utopien wie Platon an. 56 Ebd., S. 21. 57 Meyer-Drawe 2007, S. 212. 58 Vgl. Ovide Decroly, „Societe de Pedotechnie“, in: Ernst Meumann (Hrsg.), Die Experimentelle Pädagogik. Organ der Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der experimentellen Didaktik und der Erziehung Schwachbegabter und abnormer Kinder, Bd. 4, Leipzig 1907, S. 255-256. 59 Key 1992, S. 26. „In keinem Zeitgenossen ist die Gewißheit stärker gewesen als in Nietzsche, dass der Mensch so, wie er nun ist, nur ‚eine Brücke‘ ist, nur ein Übergang zwischen dem Tier und dem Übermenschen; und im Zusammenhang damit sieht Nietzsche die Pflichten der Menschen für die Veredelung der Art ebenso ernst wie Galton, obgleich er seine Sätze mit der Stärke der Seher- und Dichterworte, nicht mit der der naturwissenschaftlichen Beweisführung aus­ spricht“ (ebd., S. 26). Nach Schank (G. Schank, Zum Problem von „Rasse“ und „Züchtung“ in Nietzsches Philosophie, Berlin/New York 2000) hat bei Nietzsche jedoch „Zucht” und „züchten” die traditionelle Bedeutung von ,erziehen‘. Eine kollektive Rassenzüchtung im biologischen und eugenischen Sinne lehnt Nietzsche ab. „‚Die Selektion‘ erbringt seiner Meinung nach

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wird in dieser Deutung stark biologisiert und „am Leitfaden des Leibes wird die Philosophie Physiologie, […].“60 Die Reformpädagogin greift bei ihrer Biologisierung des Sozia­ len die Institution der Ehe nicht als Selbstzweck an, sondern sie be­ absichtigt eine ,neue Ethik‘ zu begründen, in der „unsittlich“ nicht mehr eine uneheliche Beziehung genannt werden kann, sondern Handlungen, Praktiken, aber auch das Erbgut, welches „Anlaß zu einer schlechten Nachkommenschaft gibt und schlechte Bedingun­ gen für die Entwicklung dieser Nachkommenschaft hervorruft“.61 Die Moral wird im wahrsten Sinne verkörpert. Dieses neue „re­ ligious dogma“62 entspricht der Religion der Eugenik und Key geht mit dem Begründer der Eugenik, Galton, konform, wenn sie schreibt, dass „[…] die zehn Gebote über diesen Gegenstand […] nicht vom Religionsstifter, sondern vom Naturforscher geschrieben werden.“63 In dieser religiösen Eugenik müsse das schwache und ge­ ringe Lebewesen ausgemerzt oder am besten niemals geboren wer­ den. Keys poetischer Stil in Verbindung mit einer ‚fundiert‘ wissen­ schaftlichen Argumentation soll die breite Leserschaft überzeugen. Dafür zwängt sie Körper in Statistiken der Pathologie, in denen sie aufzeigt, dass von „300 Idioten 145 zu Eltern Trinker hatten, und daß die Epilepsie oft durch dieselbe Ursache hervorgerufen wird“.64 Zur Generierung einer Normalität sowie eines gesunden Sozial­ körpers fordert sie als Konklusion aus diesem Datenmaterial ein „ärztliches Zeugnis vor der Eheschließung“.65 Der Arzt, der in den

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keine Erhöhung des Menschen, es gibt keine superiore Rasse im biologischen Sinn bei ihm, keinen Kult der Reinheit der Rasse (er plädiert für Völker- und Kulturmischungen)“ (A. Horn, Nietzsches Begriff der décadence: Kritik und Analyse der Moderne (= Heidelberger Beiträge zur deutschen Literatur, Bd. 5), Hamburg 2000, S. 73, vgl. auch Nietzsche, Nachlass, KSA, Bd. 11, S. 136 25[462]). Ein tiefergehender Aspekt der Untersuchung wäre Nietzsches „Typen“-Begriff, den er weniger von Darwin als mehr von Galton übernommen hat. F. Kittler, „Nietzsche [1979]“, in: ders., Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hrsg. von H. U. Gumbrecht, Frankfurt a. M. 2013, S. 29. Key 1992, S. 26. Galton 1904, S. 43. Key 1992, S. 26. Vgl. Keys ausführliche Betrachtung zu Galton, S. 22-23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Hierbei scheint Nietzsche durchzuschimmern, der in seinem Nach­lass Ideen zu Ehegesetzen anführt: „Zur Zukunft der Ehe: eine Steuer-Mehr­belastung bei Erbschaften usw. auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem bestimmten Alter an und anwachsend (innerhalb der Gemeinde) Vortheile aller Art für Väter, welche reichlich Knaben in die Welt setzen:

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Menschen blickt, auf sein Erbgut, ist dabei jene Instanz, wie oben schon angedeutet, die am Ende das Gelingen oder Misslingen einer Höherzüchtung zu verantworten hat. Den Platz des Monarchen hat deutlich der Mediziner eingenommen, folglich ist in Keys Biopolitik derjenige Souverän, „der über den Wert und Unwert des Lebens als solches entscheidet.“66 Das Christentum ist für Key nicht nur ein Problemfeld, wenn es um die Ehe geht, auch in Bezug auf sein „Mitleid“ und seine „Mil­ de“ gegenüber Schwachen und Kranken steht es den großen Zielen der Gesundheit im Wege. „Während die heidnische Gesellschaft in ihrer Härte die schwachen oder verkrüppelten Kinder aussetzte, ist die christliche Gesellschaft in der ‚Milde‘ so weit gegangen, daß sie das Leben des psychisch und physisch kranken und mißgestalteten Kindes zur stündlichen Qual für das Kind selbst und seine Umge­ bung verlängert.“67 Keys Biopolitik versteht sich nicht mehr in ei­ nem ,Sterben-machen‘, sondern in einem Optimierungsdiskurs des Lebens. Dabei wird dem Wert-Begriff eine zentrale Rolle zugewie­ sen. Die Medizin wird zur Ökonomie, da sie abwägen muss, ‚wie viel‘ der biologische Körper des Einzelnen noch wert ist und ob er schon einen Schaden (Wertverlust) an dem ‚biologischen Körper der Nation‘ anrichtet.68 Nach Key muss sich das Individuum somit an die vorgeschriebenen Mechanismen der Lebensentwicklung halten, wobei sein individuelles moralisches Handeln eher ein Risiko „auf dem Weg zu einer immer weitergehenden Optimierung des Lebens“ darstellt.69 Da das eugenische Kalkül ein klar ökonomisches ist, kön­ nen Hardt und Negri sogar postulieren, dass die „Produktivkräfte […]

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unter Umständen eine Mehrheit von Stimmen ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens der Verlobten und der Ärzte beantwortet sein müssen (‚Familien-Geschichte‘) – als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung): Ehen auf Frist, legalisirt (auf Jahre, auf Monate, auf Tage), mit Garantie für die Kinder jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl Vertrauens-Männer einer Gemeinde: als GemeindeAngelegenheit“ (Nietzsche, Nachlass, KSA, Bd. 13, S. 49, 16[35]). Agamben 2002, S. 151; S. 152. Key 1992, S. 29ff. Der Gedanke eines „organischen Kapital[s]“, welcher der „Ethik“ ein „ökono­ mische[s] Fundament“ verschafft, zeigt sich deutlich in der „Menschenökonomie“ von Rudolf Goldscheid aus dem Jahre 1911 (R. Goldscheid, Höherentwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung und Sozialbiologie, Leipzig 1911, S. XXI; XXV). T. Lemke, „Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verhältnis von Ras­ sismus und Exklusion“, in: ders., Gouvernmentalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007, S. 126. Vgl. auch B. Dollinger, Die Pädagogik der sozialen Frage. (Sozial-)

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in der Tat vollkommen biopolitisch [sind]: Sie durchziehen und konstruieren unmittelbar nicht nur die Produktion, sondern auch den gesamten Bereich der Reproduktion.“70 Durch die Synthese von Wirtschafts- und Wissenschaftssystem wird der Mensch zur Ware und das Leben selbst erscheint als eine Form von Kapital: Biopoli­ tik wird zur Bioökonomie. Damit das Gesunde effizient leben kann, muss das Kranke sterben. „Erst wenn ausschließlich die Barmher­ zigkeit den Tod gibt, wird die Humanität der Zukunft sich darin zeigen können, daß der Arzt unter Kontrolle und Verantwortung schmerzlos ein solches Leiden auslöscht.“71 Key selektiert sozialdar­ winistisch mit dem scheinbaren Pathos des Mitleids das Kranke vom Gesunden, da man in der Biopolitik diejenigen „[r]echtens tötet [...], die für die anderen eine Art biologische Gefahr darstellen.“72 Doch auch die Pädagogin weiß, dass der Arzt und die Regierung alleine niemals ein Umdenken in der Bevölkerung hervorrufen können. Erst aus diesem Umdenken aber kann ein neues Handeln entstehen. Hierfür muss sie doch wieder bei den Menschen und ihrer Individu­ alhygiene anknüpfen, folglich ihre moralische Einstellung ändern. Sie spricht – angelehnt an den Titel ihres Textes Das Jahrhundert des Kindes – von einem „vertieften Verantwortungsgefühl“ der Eltern „ge­ genüber den Kindern.“73 Das Kind dient dabei zum einen als „Fokus, in dem sich der Gesundheitszustand der Eltern bündelt, […]“74 und zum anderen, so Schroeder 1894 im Sinne Keys, als „Photographie der Eltern im Zeugungsakte“75. Das natürliche Kind ist demzufolge „eine biologische Tatsache und Aufgabe. Es fungiert als Garant der Rasse.“76 Angeregt durch die medizinisch-eugenische Forschung entwickelt Key eine neue vom Christentum und dessen „Pastoralmacht“77 losgelöste Ethik für Paare; eine Ethik, die Maximen zum praktischen Handeln

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pädagogische Theorie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik, Wiesbaden 2006, S. 254. M. Hardt/A. Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 372. Key 1992, S. 30. Foucault 1977, S. 165. Key 1992, S. 34. Sarasin 2001, S. 434. H. Schroeder, Die Gesunderhaltung in der Ehe, 5. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1894, S. 61. Meyer-Drawe 2007, S. 214ff. M. Foucault, „‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft“, in: ders., Schriften in vier Bänden, hrsg. von D. Defert und F. Ewald, Frankfurt a. M. 2005, S. 165-198, hier S. 277.

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geben und damit zu einer „vollständigen Umwertung der groben Werttheorie“ führen soll.78 In Anbetracht des Beschriebenen erscheint Keys Text analog zur Eugenik als heterogenes Hybridgebilde, welches immer wieder in­ terdisziplinäre Anleihen macht. Ihre Rhetorik rührt beispielsweise von eigenartig religiös-anmutenden Riten sowie von Kants Pflich­ tethik her. Nur scheinbar trennt sie ein tiefer ideengeschichtlicher Graben von Aufklärern wie Kant und Humboldt, in deren Tradition sie zweifellos steht. Auch Kant und Humboldt gründen ihre Er-Zie­ hung bzw. Bildung auf wissenschaftlich-experimentelle Theorien und versuchen mit planbaren Methoden eine Zukunft zu gestalten, jedoch stehen diese Ziele bei ihnen stets auf der kognitiven Basis einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.79 Key dagegen ist Sozialdarwinistin und erhebt die Naturwissenschaft zur Königs­ disziplin80 Sie will mit ihrem biologisch-pädagogischen Manifest vordergründig in die Körper eingreifen. Ihre Maxime: „Die Natur­ wissenschaften – zu denen man ja nunmehr auch die Psychologie rechnet – [sollen] die Grundlage der Rechtswissenschaft sowie der Pädagogik werden […].“81 Der Aspekt der Naturnachahmung, der z. B. bei Humboldt methodisch ausgeprägt war, wird bei Key zum eugenischen Gesetz. Die Reformpädagogin fordert für dieses Un­ ternehmen der selektiven Maßregelung Unterstützung vom Staat, sodass das „Menschengeschlecht [...] allmählich von den Atavismen befreit werden [kann], die vorhergehende niedrige Entwicklungen produziert haben“.82 Dabei geht es der sozialen Praktikerin sowie anderen eugenischen Forschern um das ‚Überleben‘ des Volkes, der Rasse oder der ,Menschheit‘, die immer wieder vor äußeren „Un­ reinlichkeiten“ und Krankheiten „geschützt“ werden muss.83 Neben dem Zwang von außen („objektiv[e] Gesetz[e]“) sollen die Menschen bei Key bestenfalls in moralischer Eigenverantwor­ tung („subjektiv[e] Grundlage“)84, wie oben erwähnt, einer Pflicht­ 78 79 80 81

Key 1992, S. 157. Vgl. Liggieri 2014, S. 40-60. Ein Treffen 1879 mit Ernst Haeckel in London beeinflusste ihre späteren Werke. Key 1992, S. 37. Haben sich eugenische Thesen verifiziert, so soll man „neue Kulturpläne für die Erhebung des Menschengeschlechts durchführen […]“ (ebd., S. 26). 82 Ebd. 83 O. v. Verschuer, Rassenhygiene als Wissenschaft und Staatsaufgabe, Frankfurt a. M 1936, S. 5. 84 Key 1992, S. 14.

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ethik nacheifern und in „freiwillige[r] Askese“ keinen kranken Partner zur Zeugung wählen.85 Es sei die „Pflicht“ der Ehepaare „lieber auf die Elternfreude zu verzichten, als ihr unglückseliges Erbe auf eine neue Generation überzuwälzen.“86 Das Individuum muss seine Wünsche dem Volkskörper unterordnen. Key bringt dieses ‚Aufgehen‘ geschickt als Akt der Liebe vor, dessen Zentrum das Kind darstellt. Hierbei wird eine fast schon transzendente Liebe („Eros“) postuliert, die sich nicht auf den Partner, sondern auf das ,saubere‘ Fortbestehen der Rasse mittels Euthanasie richtet.87 Es wurde schon erwähnt, wie stark sich jene biologisch-pädagogi­ sche Intervention der Züchterin Key auf den ersten Blick von den Er-Ziehern Kant und Humboldt distanziert, umso eindringlicher mutet es an, wenn gerade Key sich am kantischen Imperativ be­ dient und ihn pervertiert. An dieser Stelle ist Key den Erziehern zugleich sehr nah, aber auch unendlich fern: „Daß die Menschen in all diesen Eingebungen des Instinktes, diesen kategorischen Im­ perativen der Nerven und des Blutes zugleich gehorsame Lauscher und strenger Herrscher werden – das ist die Voraussetzung für das zukünftige erotische Glück und für ein glücklicheres Geschlecht der Zukunft.“88 Neben Kants Imperativ schwingt noch ein anderer Dis­ kurs in dem Terminus vom „kategorischen Imperativ der Nerven und des Blutes“ mit, auf den aufmerksam zu machen ist. Das ,Blut‘ hatte zwar zu dieser Zeit schon die Bedeutung eines „Lebenssaf­ tes“ verloren und wurde im Rückgriff auf das „Leben“ vom Sperma abgelöst89, jedoch wird es bei Key zum zentralen Faktor, da sie es als Kulminationspunkt der Kontamination denkt. Das Blut muss vor ,Feinden‘ wie Keimen oder schlechten Erbanlagen geschützt werden. Dieses von Key verwendete Blut-Bild hatte sich historisch gewandelt, da „aus der Sorge um den Stammbaum“ wie beim blau­ blütigen Adel bei ihr „die Besorgnis um die Vererbung“ geworden war.90

85 86 87 88 89

Rülcker 2000, S. 24. Key 1992, S. 39. Ebd., S. 17. Ebd., S. 43ff. P. Sarasin, „Feind im Blut: Die Bedeutung des Blutes in der deutschen Bak­ teriologie, 1870–1900“, in: C. v. Braun (Hrsg.), Mythen des Blutes, Frankfurt a. M. 2007, S. 296-310, hier S. 306; 307; Foucault 1977, S. 176. 90 Foucault 1977, S. 150.

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3. „Ziehen und Züchten“ – Zur Interdependenz von Aufklärung und Eugenik Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Key eine anthropo­ technische Züchtung par excellence anzutreffen ist, da sie zum ei­ nen in ihrem Hygieneimperativ die alten Ängste vor Geschlechts­ krankheiten mit den neuen Problemen der Keimfreiheit zusammen denkt, sowie die evolutionären Mythen (Haeckel, Spencer) mit den jungen Institutionen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge kop­ pelt. Zum anderen ist Keys Jahrhundert des Kindes selbst ein Stück Überzeugungsarbeit für eine neue Ethik, die eine Intervention auf den Körper vorbereiten will. Ihr pädagogisches Anliegen ist – und dafür führt sie naturwissenschaftliche, eugenische und philosophi­ sche Argumentationen an – eine Verhaltensänderung bei einem möglichst großen Publikum hervorzurufen. Zwangsläufig werden zugunsten dieses Ziels komplexe Sachverhalte banalisiert. Durch diese Vereinfachung zeigen sich allerdings all jene biopolitischen Diskurse, die um 1900 so gesellschaftsfähig und populär erschei­ nen, gebündelt: der Wille zu einer starken, gesunden Rasse, die sich nur im Nachwuchs bilden kann, die Exklusion der Kranken sowie die Stützung auf medizinisch-evolutionistische Thesen. Keys An­ satz verkörpert dadurch eine züchtende Eugenik, die die „physische Kraft und moralische Sauberkeit des gesellschaftlichen Körpers zu erhalten“ und die „Träger der Schande, die Degenerierten und die entarteten Bevölkerungsteile auszumerzen“ versucht.91 Trotz dieser Radikalität bleibt Key immer noch dem Koordina­ tensystem der Pädagogik verhaftet. In diesem Sinne spricht sie von einer „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“92, ein Aus­ spruch, den Kant und Humboldt auch hätten tätigen können. Das Verstörende ist wohl, dass Key sich zwar in ihren Ausführungen sowie ihren biopolitischen Methoden klar von den aufklärerischen Er-Ziehern abgrenzt, jedoch auf dem gleichen Tableau agiert. Ihre Zugriffe auf den Menschen sind von physischer Natur, wenn sie schreibt, dass es in dem „einen Falle gilt […] Leben zu geben, in dem anderen, es zu nehmen […].“93 Allerdings greift man mit die­ ser oberflächlichen Differenzbestimmung zwischen Kant/Humboldt und Key (allgemein zwischen Pädagogik und Eugenik) zu kurz, 91 Ebd., S. 58. 92 Key 1992, S. 45. 93 Ebd.

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denn auch Key weiß, dass sie, wie oben erwähnt, die Psyche ändern muss, um die Physis neu zu modellieren. Die Menschen müssen zuerst selbst „gutwillig auf die schädlichste aller Freiheiten verzich­ ten […], auf die, einer schlechten Nachkommenschaft das Leben zu schenken, […]“94, dann wäre auch „eine weitere Gesetzgebung entbehrlich“.95 Die Zwänge von außen (Gesetze bei Key, aber auch Disziplinierung bei Kant) fallen weg und es bilden sich „neu[e] Rechtsbegriffe“, sobald man die Imperative verinnerlicht bzw. in­ korporiert hat.96 Er-Ziehen und Züchten sind auf der einen Seite unendlich weit voneinander entfernt; hier Logos, da Bios, hier kognitive Modellie­ rung, da physische Modellierung, hier Pädagogik, da Geburtenpoli­ tik. Auf der anderen Seite sind es aber auch Schwestern im interdis­ kursiven Z-Trikolon von Züchtung, Zähmung und Ziehung. Ziehen und Züchten agieren (ob bewusst oder nicht) mit Zwang und Disziplinierung, beide zielen auf eine Optimierung des (Men­ schen-)Geschlechts ab, beide orientieren sich an den Zöglingen/Kin­ dern und beide handeln nach einem rationalen Plan. Letztlich – und das irritiert beim heutigen Lesen einer pädagogischen Schrift wie Keys Jahrhundert des Kindes womöglich am meisten – sind sie zwei Seiten einer anthropotechnischen Medaille. „Die ‚Aufklärung‘, wel­ che die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.“97

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Dialektik der Hygiene

„Pure Vernunft darf niemals siegen“ Tocotronic

Jedes Jahr, 40 Tage vor Ostern, bricht in Deutschland das große Reinemachen aus: Der Frühlingsputz für die Wohnung steht auf dem Programm, samt Eimer und Feudel, zusammen mit dem Frühlingsputz für Körper und Seele durch Fasten, zum Entschlacken: Raus muss der Dreck aus Haus und Leib, um für das kommende Jahr wieder bewohnbar zu sein. Nun ist im Falle der Wohnung das Putzen meistens angebracht, einfach deshalb, weil das selbstreinigende Bad oder Kinderzimmer noch nicht erfunden wurden. Beim Körper hingegen liegen die Dinge anders. Er ist tatsächlich eine Art „selbstreinigende Wohnung“ und entledigt sich in der Regel eigenmächtig seiner Schadstoffe. Dass die physiologische Grundlage für Entschlackungskuren fragwürdig ist, beeindruckt allerdings viele Menschen überhaupt nicht. Im Gegenteil: Je mehr man diese Grundlage infrage stellt, umso stärker wird die Überzeugung, dass Fasten Reinigung bewirkt. Spätestens das Auto-, PC- oder Facebook-Fasten erscheint weniger stoffwechsel- als vielmehr kopfbedingt. Nur weil die Menschen denken, sie werden gereinigt, wenn sie fasten, dar­ um fasten sie. Offensichtlich hat der Gedanke der Reinigung etwas Faszinierendes an sich; er tut den Menschen auf eine balsamierende Art und Weise gut, und deshalb vermag er auch, Menschen in ihrem Verhalten zu leiten. Wenn so etwas vorliegt – Faszination, Wohlbehagen, Führung –, deutet das auf das Wirken eines weltanschaulichen Konglomerats hin, in der Philosophie spricht man von einem „Paradigma“, das im Denken der Menschen die Richtung bestimmt, und zwar unabhängig davon, ob es auf die äußere Welt passt oder nicht. Dem Paradigma ist es schlicht egal, ob Fasten effektiv eine Wirkung auf den Stoffwechsel oder den Körper hat. Es ist selbst ja gar nicht Welt, sondern nur eine Lesart der Welt, die sich von dieser loslösen und ein Eigenleben führen kann. Das Paradigma, das im Falle des

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Entschlackens greift, heißt also „Reinigung“ bzw. „Hygiene“ und führt ein munteres Eigenleben. Wir möchten im Folgenden anhand von Beispielen demonstrieren, wie dieses Eigenleben aussieht und wie überspannte Hygieneforderungen im Denken und Handeln unsere Lebenswelt in teilweise problematischem Ausmaß prägen. Ausgangspunkt bilden Grundeinsichten aus Horkheimer/Adornos Schrift Dialektik der Aufklärung.

1. Zur Dialektik der Aufklärung Worum geht es in der Dialektik der Aufklärung? Der grundlegende Gedanke ist einfach. „Dialektisch“ nennt man einen Umstand oder auch ein weltanschauliches Programm unter zwei Bedingungen: Erstens, das Programm hat zwei einander entgegengesetzte Seiten; zweitens, es besteht die Möglichkeit, dass die eine Seite in die andere Seite umschlägt. Ein Beispiel: Chemische Substanzen haben für den Menschen manchmal eine dialektische Wirkung. Freilich spricht man hier nicht von „dialektisch“, sondern von „paradox“. Koffein etwa wirkt üblicherweise aufputschend; wenn man jedoch zu viel davon aufgenommen hat, schläfert es ein. Allgemeiner und mit Paracelsus gesprochen gilt: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei“.1 Dialektik der Aufklärung bedeutet, dass das Programm der „Aufklärung“ ebenfalls zwei einander entgegengesetzte Seiten hat und dass die eine Seite in die andere umschlagen kann. Bei Horkheimer/Adorno wird man diesbezüglich fündig und das sogar mit einer Verschärfung: Denn das Umschlagen von der einen in die andere Seite ist bei ihnen nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Es folgt einer ‚inneren Logik‘, einem ‚inneren Mechanismus‘ und das mit einer zwingenden Unausweichlichkeit. Das, was bei ihnen umschlägt, ist dabei nicht irgendetwas Beliebiges, sondern das Zentrale im Selbstbild des abendländischen Menschen: die Vernunft. 1

Paracelsus: „Die dritte Defension wegen des Schreibens der neuen Rezepte“, in: Septem Defensiones 1538, Werke Bd. 2, Darmstadt 1965, 509. URL: http:// www.zeno.org/Philosophie/M/Paracelsus/Septem+Defensiones/Die+dritte+D efension+wegen+des+Schreibens+der+neuen+Rezepte (zuletzt aufgerufen am 24.06.2015).

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1.1 Das Licht der Vernunft Wir sind ein aufgeklärtes Volk, Abkömmlinge der Aufklärung, ungeachtet der Rest-Romantik, die uns da und dort befällt. Der Begriff der „Aufklärung“ ist in unserem Kulturkreis positiv besetzt, nicht zuletzt durch Kants richtungsweisende Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahre 1784. Und das zu Recht. Wir alle stehen auf den Schultern derjenigen, die das Licht der Vernunft in die sprichwörtlich düstere Welt des Mittelalters2 getragen und die Menschen gelehrt haben, die innere und äußere Natur – scheinbar oder de facto – zu beherrschen. Der Schritt aus einer unhinterfragten Fremdbestimmung, fort von der Gängelung durch Personen, Institutionen oder überlieferte Doktrinen hin zur Nutzung des eigenen Verstandes ist ein Fort-Schritt in die Freiheit. Die Verdienste der Aufklärer sind dabei schwerlich zu überschätzen: Die lebensweltlichen Erleichterungen der industriellen Revolution, die bahnbrechenden Erfolge in Medizin und Technik sprechen für sich, Namen wie Lessing, Rousseau, Voltaire, Hume sind mit ihr untrennbar verknüpft. Das berühmte Kantische Diktum: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“3 hat viele Epochen beeinflusst und ist den meisten Schülern auch heute noch geläufig. Wodurch vollzieht sich nun dieser Ausgang aus der Unmündigkeit? Durch Verstand und Vernunft, die programmatischen Stützen der Aufklärung. Kant präzisiert dazu: „Verstand, als das Vermögen zu denken (durch Begriffe sich etwas vorzustellen), wird auch das obere Erkenntnißvermögen (zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, als dem unteren) genannt, darum weil das Vermögen der Anschauungen (reiner oder empirischer) nur das Einzelne in Gegenständen, dagegen das der Begriffe das Allgemeine der Vorstellungen derselben, die Regel, enthält, der das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauungen untergeordnet werden muß, um Einheit zur Erkenntniß des Objects

2

3

Ob und inwiefern das Mittelalter wirklich in jeder Hinsicht „düster“ war, ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung, gleichwohl in seiner Pauschalität vermutlich unzutreffend (siehe dazu z. B. J. Fried, Das Mittelalter: Geschichte und Kultur, 4. Aufl., München 2009). Es kommt uns jedoch primär darauf an, wie sich die Aufklärung selbst positioniert, und sie tut es gern in Abgrenzung zu einem von ihr düster wahrgenommenen Mittelalter. I. Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monats­ schrift, Vierter Band. Zwölftes Stück, Berlin 1784, S. 481.

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hervorzubringen.“4 Die theoretische Vernunft, nach Kant sowohl das „ganze obere Erkenntnisvermögen“5 als auch im engeren Sinne wiederum dem Verstand übergeordnet, verbindet ihrerseits die Verstandesbegriffe zu einem kohärenten und konsistenten Ganzen: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen“.6 Das Rationale wird also nicht nur dem Empirischen entgegengesetzt7, sondern ihm, durchaus wertend, überstellt. Dabei dienen Vernunft und Verstand einem Zweck: „Der Verstand soll über die […] Natur gebieten“.8 Die Konsequenz: Durch Beherrschung der inneren wie äußeren Natur wird der Mensch nach und nach allwissend, allmächtig und allgütig9. Allmacht, Allwissen und Allgüte sind aber zugleich auch die Kerneigenschaften des christlichen Gottes. Der säkulare Mensch braucht Gott nicht mehr und folgerichtig setzt er sich selbst an dessen Stelle. Vernunft und Verstand machen Gott überflüssig. Soweit in Kürze die Programmatik der Aufklärung mit all ihren Verlockungen; die Erfolgsgeschichte der Aufklärung lässt sich leicht erzählen und wird daher oft erzählt. 1.2 Der Schatten der Vernunft Indes „[w]o viel Licht ist, ist starker Schatten“, wie ein anderer deutscher Heros wusste.10 Das gilt auch für die Aufklärung. Mit diesen Schattenseiten vor Augen treten Mitte des letzten Jahrhunderts Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an, die Ambivalenz des aufklärerischen Paradigmas herauszustellen und auf die Gefahren hinzuweisen, die ihrer Ansicht nach von ihm ausgehen.11 Sie leug-

I. Kant, AA VII, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 196. I. Kant, KrV B 864/A 836. I. Kant, KrV B 35/A 298f. Vgl. I. Kant, KrV B 864/A 836. Horkheimer/Adorno 2009, S. 10. Der aufgeklärte Mensch ist in jeder Hinsicht gütig, weil die Vernunft der Schlüssel zur (ethischen) Perfektibilität ist, die in den ewigen Frieden mündet. 10 J. W. v. Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, Stuttgart 1989 [1773], S. 20. 11 Beide Philosophen sind Protagonisten der „Frankfurter Schule“, einer Gruppe von Denkern verschiedener Disziplinen, die insbesondere an die Theorien von 4 5 6 7 8 9

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nen dabei nicht seinen freiheitlichen Impetus oder die Errungenschaften der Vernunft12; doch es gibt eine Kehrseite, ein Aber: Denn „die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“.13 Inwiefern? – Insofern der einzelne Mensch, das Menschliche selbst, in den Sog der zur Ideologie gerinnenden aufklärerischen Mächte zu geraten und schließlich darin unterzugehen droht. Horkheimer/Adorno „sehen in der Aufklärung das negative Paradigma der Unterdrückung der Natur, des Leiblichen und des Individuellen […], mit deren Hilfe gesellschaftliche und technisch-industrielle Großeinheiten die Lebenswelt der Einzelnen kolonialisieren und unterdrücken“.14 In der Reflexion, der Selbsterkenntnis wollen sie der Gefahr der Dogmatisierung des Aufklärungs-Programms entgegenwirken, ihm den Stachel ziehen, indem sie Zweifel säen in all seiner Selbstgewissheit und Siegessicherheit. Während des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1944 fertiggestellt und erstveröffentlicht, 1947 als Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente herausgegeben, wird ihr Text zum besorgten Mahnmal der Humanität angesichts eines sich gegen den Menschen, im Kontrast zum Heilsversprechen der aufklärerischen Idee, richtenden Prozesses: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“, so die eindrücklichen Worte Adornos und Horkheimers.15 Denn das Gift einer unaufgeklärten, zur Ideologie geronnenen Aufklärung sehen die Philosophen in Deutschland auf das Grausamste wirken und das Symbol der vollends aufgeklärten Welt trägt einen finsteren Namen: Auschwitz-Birkenau. 1.3 Das Umschlagen Die Aufklärung tritt mit ihrer lichten Seite an und lockt mit drei ganz großen Glücksversprechen: einem Unabhängigkeits-, einem

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Hegel, Marx und Freud anknüpfen und deren Zentrum das 1924 in Frankfurt am Main eröffnete Institut für Sozialforschung war. Vgl. Horkheimer/Adorno 2009, S. 3. Ebd., S. 9. Hofmann 2013, S. 7. Horkheimer/Adorno 2009, S. 9.

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Wohlfahrts- und einem Veredelungsversprechen.16 Sie ist ein weltanschauliches All-inclusive-Paket, ausgestattet mit Esprit und Verve, motivierend bis in die Fußspitzen, weil heilsbringend und von autonomen Wesen auf weltlichen Pfaden von allein erreichbar. Was will man mehr? Diese Versprechen sind jedoch nur dann einlösbar – und das lehrt die Geschichte –, wenn der Mensch einen bestimmten Weg einschlägt: Er muss sich von den Dingen distanzieren, um sie aus dieser Distanz besser erkennen und beurteilen zu können; er muss sie entzaubern, sie ihrer Macht berauben, um die Furcht vor ihnen und seiner eigenen Ohnmacht zu verlieren. – „Wissen ist Macht“, pointiert Francis Bacon.17 Diesen Weg zu beschreiten, das Ausgeliefert-Sein in ein Herrschen umzukehren, hat allerdings seinen Preis: „Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen.“18 Letzteres bedeutet: Das unmittelbar affizierte Individuum wird zugunsten der Distanz zu den Phänomenen mithilfe der Abstraktion objektiviert, und damit zugleich in seiner Subjektivität abgeschafft. Die Dialektik der Aufklärung besteht also darin, dass sie das, was sie zu befreien sucht, auf dem Weg der Befreiung vernichtet. Das „vernünftige“ Programm ist ein trügerisches, denn es entwickelt eine kontraproduktive Eigendynamik. Anfänglich ist es zwar in der Tat überaus erfolgreich – die Natur wird gezähmt, der Mensch befreit von Furcht und Zwängen, die Triumphe in Wissenschaften und Technik sind überwältigend. Die Welt wird berechenbar, Glück wird kalkulierbar. Es wird definiert, objektiviert, organisiert und im Wegfall der Naturdeterminanten entstehen neue Kulturräume. Doch ihm inhärent ist eine Geschichte des Scheiterns, die sich zunächst zu verbergen weiß, später aber mit aller Macht in der Unmenschlichkeit des Faschismus zutage tritt. Adorno und Horkheimer wenigstens sehen hier einen deutlichen Zusammenhang: „Da sie [die Vernunft, Anm. d. Verf.] inhaltliche Ziele als Macht der Natur über den Geist, als Beeinträchtigung ihrer Selbstgesetzgebung entlarvt, steht sie, formal wie sie ist, jedem natürlichen Interesse zur Verfügung“19, auch ‚niederen‘ Interessen und dubiosen Motiven. 16 Siehe dazu ausführlicher Buschlinger 2007, S. 15. 17 „scientia potestas est“, in: F. Bacon, Meditationes Sacrae, 11. Artikel: „De Haere­ sibus“, London 1597, 14. 18 Horkheimer/Adorno 2009, S. 34. 19 Ebd., S. 94.

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Die Vernunft ist blind gegenüber Einzelphänomenen, Individuen oder kurz gesagt: Bloße Form kennt keine Menschlichkeit. Im Zuge der Optimierung der Instrumente zur Beherrschung der Natur entfernt sich der Mensch, selbst Natur, als Kollateralschaden, erst aus dem Fokus des Interesses, um sich dann, in radikaler Konsequenz, als Zweck an sich aufzulösen. Er ist – als Masse, nicht als Individuum – lediglich noch Mittel zum Erreichen jeweils von außen gesetzter Ziele, er wird funktionalisiert. Denn die Vernunft herrscht absolut und duldet, obgleich selbst Skeptikerin, keinen Zweifel an ihrer absoluten Macht. So stiehlt sich der Mythos wieder in den Logos – der kritiklose Glaube an den Gott der Rationalität, das Dogma der Vernunft, bildet einen neuen Fundamentalismus, der, wie jeder andere Fundamentalismus, in seiner Kompromisslosigkeit etwas Brutales hat und in seiner prinzipiellen Unhinterfragbarkeit eine unwissenschaftliche Setzung ist. Den Umschlag vom Licht ins Dunkel belassen Horkheimer/Ador­ no nicht in einem abstrakten Raum. Sie versuchen vielmehr die Errungenschaften und die notwendig folgenden Verkehrungen dieser Errungenschaften im Einzelnen zu benennen. Die folgende Tabelle gibt einige Beispiele dafür, wie man sich diesen Prozess des Umkippens, des dialektischen Umschwungs der Mächte und Strömungen, welche die Aufklärung bilden und begleiten, vorzustellen hat:20 Die Errungenschaft ...

... kippt um in ...

Vernunftgebrauch

Rationalitätsgläubigkeit

Abstraktionsvermögen

Reduktionismus

Wissenschaftlichkeit

Mythologie

Ökonomisierung

Turbokapitalismus

Rationalisierung

Instrumentalisierung

Beobachtungsschärfung

Manipulation

Institutionalisierung

Bürokratie

Naturbeherrschung

Naturfeindlichkeit

Kulturschaffen

Kommerz

Befreiung

Beschneidung

Objektivität

Inhumanität

20 Die Tabelle erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Auch geht es nicht um begriffliche Haarspalterei, sondern darum, eine Vorstellung vom dialektischen Moment der Aufklärung anhand seiner konkreten Manifestationen zu vermit­ teln, gewissermaßen den „Geist des Umschwungs“ einzufangen.

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Während in der linken Spalte der Tabelle positiv besetzte Mittel und Ziele der Aufklärung gelistet sind, finden sich auf der rechten Seite deren Verkehrungen, in denen sich die Aufklärung dann gegen den Menschen richtet. Schwenkt die Aufklärung von links nach rechts, so wird sie totalitär: In ihrem Extrem, in ihrer radikalen Umsetzung, gleitet sie in etwas ab, das so nicht intendiert, doch in ihr angelegt ist und zerstörerische Kräfte entfaltet. Jede menschliche Regung, jede staatliche Struktur, einfach alles wird unter die Vormundschaft und Herrschaft dieser destruktiven Aufklärung gestellt, jegliche Abweichungen werden unterdrückt und bestraft. Der Mensch verliert dabei sein menschliches Antlitz und verblasst zum Objekt eines vermeintlich klugen, tatsächlich aber rücksichtlosen Herrschaftsprinzips. Das Humane geht im totalitär aufgeklärten System unter. Errungenschaften, die ursprünglich dem Menschen dienen, ihn freier und glücklicher machen sollen, schaufeln ihm schließlich – und nicht nur sprichwörtlich – sein eigenes Grab. Dies ist der Hintergrund, vor dem wir die Dialektik der Hygiene näher betrachten wollen.

2. Dialektik der Hygiene Der Begriff der „Hygiene“ stammt aus dem Griechischen. Seine Bedeutung erschließt sich über das altgriechische Verb „ὑγιαίνω“ (sprich: hygiaino) – „gesund sein, sich wohl befinden, bei Verstand sein, heilsam sein“. Wer Hygiene betreibt, sich also reinigt oder gereinigt hat, ist dementsprechend körperlich und seelisch gesund – seiner Etymologie nach und in unserem Paradigma der „Reinigung“. Dieses Paradigma ist jenseits von Kochen und Händewaschen in der abendländischen Kulturgeschichte ein alter Bekannter. Gereinigt wurde da von Beginn an, und zwar vor allem das Denken. Platon beispielweise hat seinen gedanklichen Waschzwang in der Ideenlehre und dort speziell in der Idee des Schönen und Guten kulminieren lassen, einer Idee, die nichts anderes ist als die von allem Weltlichen gereinigte und alleinige Formgeberin des Kosmos. Das Judentum hat sich diese platonische Vorstellung einverleibt und als Legierung aus beidem betrat ungefähr 350 Jahre nach Platon das Christentum die Bühne der Weltgeschichte – mit dem Bild eines Menschen, der von der Sünde verunreinigt ist und dessen Aufgabe darin besteht, sich im eigenen Leben Christus zu verähnlichen. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Die große Zeit der weltanschaulichen Reinigung hatte damals also begonnen, die Hochzeit sollte aber erst noch folgen, und zwar in der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Reinigung und Reinheit sind für die Aufklärer von großer Bedeutung und das in unterschiedlicher Hinsicht. „Rein“ heißt laut Wörterbuch der deutschen Sprache „ohne fremdartige Bestandteile, unvermischt, unverfälscht, frei von Schmutz, sauber, frisch gewaschen, unberührt, keusch, vollkommen, fehlerlos“ sein.21 In der Aufklärung ist es also unser berühmter Königsberger, der sich in diesem Bedeutungssinne als philosophischer Chef-Hygienebeauftrager im Bereich der Erkenntnistheorie daran macht, die reine (!) Vernunft von allem Empirischen zu befreien und sie damit gewissermaßen erst herauszuschälen; derselbe Kant, der auf dem Gebiet der Moral die Menschen verpflichten will, niemals auf die Konsequenzen ihrer Handlungen zu schauen, um die Moralität dieser Handlungen zu beurteilen: Sobald Moral mit Empirie kontaminiert wird, ist alle Verbindlichkeit dahin! Heute – so könnte man sagen – ist Kant schon über 200 Jahre lang tot und Geschichte. Doch ein abschlägiges Achselzucken, verbunden mit dem abschätzigen Blick, den man auf Vergangenes wirft, wenn es belanglos geworden ist, wäre voreilig und falsch. Denn wir Abendländischen leben noch immer in einer stark durch Kant geprägten neo-spätaufklärerischen Gesellschaft. Man sieht dies an vielen Stellen – am Primat der empirischen Wissenschaften, am Stellenwert der Vernunft in allen nicht-wissenschaftlichen Fragen oder auch am ‚homo oeconomicus‘. Der ‚homo oeconomicus‘ ist auf dem Gebiet der Wirtschaft eine jener gereinigten Fiktionen, die – unter dem Label ‚Neoliberalismus‘ – als Paradigma nicht nur in unser Denken, sondern sogar in die Struktur unserer gegenwärtigen Gesellschaft Einzug gehalten haben, spätestens mit Beginn der Ära Margaret Thatcher in den Achtzigern. Im treuen Glauben an die „unsichtbare Hand“ Adam Smiths und dem damit verbundenen Vertrauen in die Macht des Marktes wurden so öffentliche Einrichtungen ohne Rücksicht auf Kollateralschäden privatisiert; ökonomische Anreize traten als ultimatives Mittel auf, das alle Akteure, scheinbar unausweichlich und ausschließlich, in Win-WinSituationen führen musste. Ja, Aufklärung war und ist überall anzutreffen und „Reinheit“ als ein leitendes Paradigma der Aufklärung ebenfalls – nicht nur in 21 W. Pfeifer, „rein“, in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: http:// www.dwds.de/?view=1&qu=rein (zuletzt aufgerufen am 25.06.2015).

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der Philosophie, sondern auch im Gesundheitswesen, der ‚eigentlichen‘ Domäne der Hygiene. Speziell Krankenhaushygiene ist ein Thema, das derzeit anlässlich der nosokomialen, im Krankenhaus erworbenen, Infektionen wieder hohe Wellen schlägt. Sowohl in populären Medien als auch im Fachdiskurs werden Missstände aufgedeckt, angeprangert und Lösungsansätze erarbeitet. Sorgfältige Hygienemaßnahmen sowie eine gewissenhafte Aufklärung in Gesundheitseinrichtungen sind augenscheinlich elementar, will man das Wohl der Patienten im Besonderen und der Gesellschaft im Allgemeinen nicht gefährden. Desinfektion, Sterilisation, Isolation können Leben retten. Die Forderung nach Reinheit ist daher gerechtfertigt, sogar unerlässlich, und die Schärfung eines „Ethos der Hygiene“22 fraglos ein Gebot der Stunde. Niemand kann ernsthaft fordern, sämtliche Hygienemaßnahmen zu unterlassen. Das wäre geradezu absurd, zumal im Krankenhaus. Und doch sind rigorose Reinheitsforderungen genauso problematisch wie Kants Kritik der reinen Vernunft. Das Problem bei Reinheits- und Hygieneforderungen hat mindestens zwei Komponenten: 1. Reinheits- und Hygieneforderungen sind sachlich oft unangemessen, und zwar deshalb, weil sie falsche Voraussetzungen machen. Es gibt kein Leben im Reinraum. 2. Reinheits- und Hygieneforderungen neigen zur Radikalität. Genauso wenig wie eine Frau ein bisschen schwanger sein kann, genauso wenig kann ein Raum, ein Gegenstand oder ein Gedanke ein bisschen rein sein. Etwas ist entweder rein oder nicht. Zunächst zur ersten Komponente: 2.1 Kein Leben im Reinraum In der fünften Staffel der Krimiserie ‚Monk‘ gibt es eine Folge, in der der geniale, aber reinheitsfanatische Protagonist Adrian Monk erstmals eine falsche Theorie für einen Tathergang liefert.23 So etwas war in den 62 vorhergehenden Folgen noch nie geschehen. Grund für sein jetziges Versagen: der Streik der Müllabfuhr in seiner Heimatstadt San Francisco. Der liegengebliebene Müll in den 22 H. W. Ingensiep, „Ethik der Hygiene? Probleme, Pflichten, Beispiele“, in: Ders., Popp (Hrsg.), Hygiene und Kultur, 2012, S. 58. 23 Vgl. Monk, Fernsehserie (USA 2002–09), Staffel 5, Episode 2, Mr. Monk im Müll (im Original: Mr. Monk and the Garbage Strike), 2006.

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Straßen stinkt, er stinkt sehr. Der Gestank wiederum dringt durch den Atem zunächst in die Lunge, dann in das Gehirn und durch diesen „phantomhafte[n] Feind“24 wird dieses Gehirn so kontaminiert, dass es keine richtigen Gedanken mehr produzieren kann. So jedenfalls lässt sich die Handlung deuten. Damit ist Monks Versagen erstens erklär- und zweitens therapierbar. Die zündende Idee für die Therapie hat Monks ehemaliger Vorgesetzter. Er steckt ihn in einen Reinraum, einen maximal schmutz- und staubfreien Raum, der nicht nur nicht stinkt, sondern außerdem garantiert keimfrei ist. Monks Genesung ist unter diesen Umständen eine Sache von Minuten, die richtige Theorie für den Tathergang ein simples Produkt seiner Reinraumgenesung. – Soweit die Story. Einmal abgesehen davon, dass Monks Therapie den Entschlackungsbestrebungen und dem Heilfasten mancher Zeitgenossen wohl nicht ohne Absicht ähnelt, stellt sich nicht nur für Monk die grundsätzliche Frage: Ist ein Leben im Reinraum überhaupt möglich? Und die Antwort darauf ist ein klares Nein. Denn auch im Reinraum braucht ein Mensch mindestens all jene Mikroorganismen, mit denen er in Symbiose lebt. Und das sind mehr als nur ein paar. Ohne Bakterien würde beispielsweise nicht einmal die Verdauung des geschätzten Monk richtig funktionieren, wie einige von uns am eigenen Leib bemerken, wenn sie Antibiotika einnehmen müssen. Bakterien sind notwendig für unser Überleben, und sind sie alle tot, dann stirbt auch der Mensch. Als erstes muss man also berücksichtigen, dass es neben den für den Menschen unzuträglichen Bakterien auch die zuträglichen gibt. Doch eine solche Berücksichtigung ist schwer einzulösen, denn fast alle Behauptungen über die Zuträglichkeit oder Unzuträglichkeit von Bakterien für den Menschen sind ihrerseits fragwürdig und offenbaren ein Grundproblem unserer Kategorisierung von Welt: Sie suggerieren die Existenz einer klaren Trennung von ‚unzuträglich‘ und ‚zuträglich‘, die so klar nicht gegeben ist. Schaut man genauer hin, stellt man nämlich fest: Erstens sind selbst die zuträglichen Bakterien oder Viren nicht eindeutig zuträglich, sondern nur vermeintlich, z. B. solche, von denen eine Stärkung des Immunsystems angenommen wird; nur vermeintlich und nicht uneingeschränkt zuträglich sind sie deshalb, weil eine derartige Stärkung des Systems ohne Infektion des betroffenen Organismus eben auch nicht vonstatten geht. Stärkung durch Infektion ist jedoch besser als der 24 Baudrillard nach Han (2014, S. 16).

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Aufenthalt in sterilen Umgebungen, die eher für eine Schwächung des Immunsystems sorgen. Das gilt nicht nur für Bakterien, sondern auch für Viren, mit denen Menschen in Symbiose leben. Infektionen, insbesondere solche, deren Verlauf für den Wirt unproblematisch ist, sorgen daher für Immunstimulanz. Dieses Prinzip macht man sich bei der aktiven Immunisierung (z. B. bei Masern) gezielt zunutze25, es funktioniert aber auch im Körper des Menschen ohne dessen Zutun, und das sogar in Hinsicht auf eine solche Fülle von Erregern, dass es unmöglich wäre, einen Impfpass darüber zu führen. Zweitens: Auch wenn die Unterteilung in eindeutig schädliche und eindeutig nützliche Bakterien oder Viren gerechtfertigt wäre, müssten wir Menschen jedes Bakterium oder jeden Virus erst einmal eindeutig zuordnen können. Das aber trifft lediglich auf einzelne, z. B. Yersinia pestis (den Pest-Erreger) oder einige Influenzaviren, zu. Die Wirkungen der allermeisten Bakterien und Viren entzieht sich hingegen unserer Kenntnis. Was aber nützt uns eine perfekte Einteilung in „gut“ und „böse“, wenn wir weder die Guten noch die Bösen ermitteln können? – Nichts. Drittens: Wir kennen diese Wirkungen nicht nur (noch) nicht, wir werden sie prinzipiell auch niemals in Gänze kennen können. Grund dafür sind die starken permanenten genetischen Veränderungen von Bakterien und Viren. Die Zukunft ist schlicht genetisch offen und damit auch unser Wissen über die Zukunft. Die Lehre aus diesen drei Einsichten: Es gibt im Bereich der Mikroorganismen keine saubere Töpfchen-Kröpfchen-Teilung. Zwar tendieren Menschen schnell dazu, die Welt in gut und böse, in gesund und krank, in gesundmachend und krankmachend zu unterteilen, unterteilen zu wollen. Doch das ändert nichts daran, dass diese Unterteilungen oftmals sachlich unangemessen sind. Das gilt auch für die Welt der Erreger und Keime. Damit ist jede Hygieneforderung, die auf einer solchen Zwei-Welten-Theorie baut, ebenfalls sachlich unangemessen. Es verhält sich in der Hygiene wie in der Landwirtschaft bei der Unterteilung von Pflanzen in Kräuter und Unkraut, bei der Unterteilung von Insekten in Schädlinge und Nützlinge: Wer die ‚Bösen‘ mit zu viel Insektiziden, Fungiziden oder Herbiziden bekämpft, der schüttet nicht selten das Kind mit dem Bade aus. Folglich kann auf dem Gebiet der Hygiene das Motto auch 25 „Man tut sich freiwillig ein wenig Gewalt an, um sich vor einer viel größeren Gewalt zu schützen“ (Han 2014, S. 12).

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nicht heißen: Maximale Hygiene um jeden Preis. Vielmehr sollte es heißen: Achtet überall dort besonders auf Hygiene, wo man über die negativen Wirkungen von Bakterien oder Viren genau Bescheid weiß. Es gibt solche Fälle. Und dort, wo man das nicht oder nicht so genau weiß, bedarf es einer angemessenen, ‚gesunden‘ (Infektions-) Toleranz. Was dabei ‚gesund‘ heißt, lässt sich prinzipiell nicht vollständig präzisieren, da unser Wissen begrenzt und das Leben nicht nur kompliziert, sondern komplex und hinreichend unvorhersehbar ist. Eines aber ist sicher: Das Heil liegt nicht in einer Null-ToleranzPolitik. Und selbst wenn es möglich wäre, ein Leben im Reinraum zu führen, dann wäre dieses Reinraumleben kontraproduktiv für unseren Wunsch, den Reinraum einmal zu verlassen, weil es uns nicht stark macht für ein Leben da draußen, wo wir auf ein funktionierendes Immunsystem angewiesen sind. Tatsächlich findet unser aller Leben außerhalb eines jeden Reinraums statt. 2.2 Ein bisschen rein gibt es nicht Anders als im vorhergehenden Abschnitt geht es in diesem Punkt nicht um sachliche Angemessenheit, also um die Frage, ob unsere Vorstellungen von der äußeren Welt gut oder wenigstens in guter Näherung auf diese Welt passen – man könnte dabei von Adäquatheit (im Falle der Passung) bzw. von Inadäquatheit (im Falle der Nicht-Passung) sprechen. Ganz unabhängig von dieser externen Adäquatheit oder Inadäquatheit haben manche unserer Vorstellungen noch andere bedeutsame Eigenschaften, zum Beispiel hat der Begriff der Reinheit (aber nicht nur der) eine starke innere Dynamik: Es sind bei der Idee von Reinheit vorstellungsinhärente ‚innere Kräfte‘ am Wirken, die uns in eine ausgezeichnete Richtung treiben, ohne dass wir dies ausdrücklich wollen oder anfänglich auch nur bemerken. Bei der Reinheit läuft diese innere Dynamik auf die Forderung nach totaler Reinheit hinaus, denn: ein bisschen Rein gibt es nicht. Eine hilfreiche Illustration einer solchen inneren Dynamik auf einem anderen Gebiet liefert der sogenannte „ontologische Gottesbeweis“ nach Anselm von Canterbury: Wenn man unter dem Begriff ‚Gott‘ etwas versteht, über das hinaus nichts Größeres oder Vollkommeneres gedacht werden kann, dann, so Anselm von Canterbury, muss Gott auch existieren. Denn würde er nicht existieren, dann wäre Gott nicht Gott, weil dann etwas existierte, über https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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das hinaus etwas Größeres und Vollkommeneres gedacht werden kann, nämlich ein Gott, der alle Eigenschaften der Größe und Vollkommenheit hat und der zudem existiert.26 Die innere Dynamik der Anselmschen Gottesvorstellung, in diesem Fall eine vorgeblich logische, erzwingt demnach, die Existenz Gottes zu bejahen. Dieser Beweis wird heute nicht mehr akzeptiert, aber allein die Tatsache, dass es gar nicht leicht ist zu sagen, worin denn der Fehler Anselms besteht, sowie die, dass noch längst nicht alle Zeitgenossen von der Fehlerhaftigkeit dieses Beweises überzeugt sind, deuten auf das zwingende Element und damit auf die innere Dynamik hin.27 Analog gibt es auf dem Gebiet der Reinheit eine innere Dynamik. Sie funktioniert dort so: Wenn etwas nicht ganz rein ist, dann ist es vermischt und damit: unrein. Reinheit schließt per definitionem jede noch so winzige Form von Verunreinigung aus, weil eben diese sie vernichten würde. So wie im ontologischen Gottesbeweis jede Form der Unvollkommenheit (zum Beispiel die Nicht-Existenz) den Begriff des vollkommenen Wesens vernichtet. Reinheit heißt immer: totale Reinheit oder Reinheit in Gänze. Basta. Man erkennt daran: Reinheit und Ausschließlichkeit sind Schwestern. Ein Ausdruck dieser Verschwisterung findet sich in vielen philosophischen Ansätzen, so auch in Kants Grundlegung zur Meta­ physik der Sitten von 1785. Kant schreibt dort über sein Programm: „Da meine Absicht [...] auf die sittliche Weltweisheit gerichtet ist, so schränke ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob man nicht meine, daß es von der äußersten Nothwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn daß es eine solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse. […] Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen […]. Nun ist aber das sittliche Gesetz in seiner Reinigkeit und Ächtheit [...] nirgend anders, als in einer reinen Philosophie zu suchen, also muß

26 Anselm von Canterbury, Proslogion, 1078, Kapitel 2-4. 27 Das Englische bietet dafür ein perfektes Wort an: „compelling“.

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diese […] vorangehen, und ohne sie kann es überall keine Moralphilosophie geben.“28 Ohne Reinheit keine Moralphilosophie, das ist in Kürze Kants Überzeugung. Alle Ansätze, die auch nur den Hauch von Empirie, Anthropologie enthalten, können demnach nichts taugen, weil sie nicht rein sind. Am Beispiel Kants sieht man zwei Dinge besonders deutlich. Erstens, dass Reinheit mit Repression von allen Alternativen einhergeht, denn jede Alternative müsste etwas Unreines enthalten, um überhaupt Alternative zu sein. Das ist zumindest Kants Sicht. Und zweitens die einhergehende Bewertung von Reinem als wertvoll und Unreinem als ‚unwert‘. Dieser Zusammenhang ist von der Sache her nicht nötig und von logischer Seite aus noch nicht einmal möglich.29 Trotzdem ist er da. Ausschließlichkeit und Bewertung gehören offenbar zur inneren Dynamik einer jeden Reinheitsvorstellung. Jedenfalls wird dies von vielen Reinheitsvertretern und Reinheitsbefürworterinnen so empfunden und kommuniziert. Reinheitsforderungen sind demnach immanent rigoros, repressiv gegenüber Abweichungen und Alternativen und gehen deshalb oft und nicht zufällig mit Zwanghaftigkeit einher. Genau dies war gemeint, als es oben hieß: Reinheits- und Hygieneforderungen neigen zur Radikalität. Was folgt daraus? Dass man immer damit rechnen muss, dass aufgestellte Reinheitsforderungen über ein gut gemeintes Ziel hinausschießen und sich verselbständigen. Reinheit kann, eben weil sie nichts anderes zulässt, reiner Selbstzweck werden. Reinheit ist von ihrer konzeptionellen Anlage her geeignet, einen Wert einzunehmen, der ihr nicht zukommt. Dieser Wert kommt ihr deshalb nicht zu, weil sie in einen Zustand hineintreibt, der zum Beispiel im Falle der Immunstimulanz (vgl. 2.1) für den Menschen kontraproduktiv ist, indem er sich mit zu viel Reinheit selbst schädigt. Dieses Umschlagen von sinnvoller in schädigende Reinigung kann man „Dialektik der Hygiene“ nennen. Ein aktuelles Beispiel für diese Dialektik sind die nosokomialen Infektionen, besonders solche durch MRE. „MRE“, multiresistente Erreger bzw. Keime, sind primär Bakterien, die gegen viele oder 28 I. Kant AA IV, 389f. 29 Der Übergang von rein deskriptiven zu normativen Sätzen nennt man den „na­­ turalistischen Fehlschluss“ (vgl. R. Stuhlmann-Laeisz, Das Sein-Sollen-Pro­ blem, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983).

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fast alle Antibiotika resistent sind. MRE sind zwar nicht die einzigen, aber sicherlich die momentan wichtigsten Erreger nosokomialer Infektionen. MRE hat es freilich schon gegeben, bevor sie zum Problem wurden. Solange sie in Maßen auftreten, ist ihre Existenz unproblematisch. Zum Problem werden MRE erst, wenn ihre Häufigkeit dramatisch zunimmt. Für diese Zunahme lässt sich ein übersteigertes Reinheitsdenken im Sinne einer Dialektik der Hygiene, also des Umschlagens von sinnvoller in schädigende Reinigung feststellen. So steht außer Zweifel, dass die vermehrte Applikation von Antibiotika in der Vergangenheit (sowohl in der Humanmedizin als auch in der Landwirtschaft) und die Existenz von MRE in direkter Wechselwirkung stehen.30 Es hat offenbar eine Zeit gegeben, in der man glaubte, im Penicillin bzw. dessen Derivaten wenigstens gegen bakterielle Erreger eine Allzweckwaffe in der Hand zu haben. Nach dem Motto „Viel hilft viel!“ streute man den Einsatz, ließ die breite Verwendung von Antibiotika in der Landwirtschaft zu und gab den bedürftigen (oder auch nicht-bedürftigen) Patienten lieber ein oder zwei Breitband-Antibiotika mit auf den Weg. Übersehen hat man dabei, dass die vermehrte Gabe von Antibiotika den Selektionsdruck auf alle Keime erhöhte und damit die Vermehrung von MRE begünstigte. Im Klartext: Die starke Zunahme von MRE in der Gegenwart hat ihre wichtigste Ursache in der starken Zunahme der Gabe von Antibiotika in der Vergangenheit. Auch wenn dies den damaligen Ärzten schwerlich zum Vorwurf zu machen ist, illustriert das Beispiel vorzüglich, wie eine grobe, weil abstrahierende wissenschaftliche Sicht der Dinge gerade im Bereich komplexer Ökosysteme systematisch immer wieder versagen muss. Die entscheidende und unbeantwortbare Frage dabei ist: Wie erkenne ich, ob ein Detail ein wichtigstes Detail ist oder eines, das ich weglassen und von dem ich abstrahieren darf? – Diese Frage lässt sich niemals in der Theorie, sondern nur in der Praxis klären; dort aber ist Vorsicht geboten. Wer nun glaubt, nosokomiale Infektionen, auch die durch MRE, allein durch maximale Hygiene-Maßnahmen bekämpfen zu können, der erliegt erneut einer unangemessenen und fehlerhaften 30 Siehe dazu z. B. E. Meyer et al., „SARI: Surveillance der Antibiotikaanwendung und bakteriellen Resistenzentwicklung auf deutschen Intensivstationen“, in: Bun­ desgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 47 (4)/2004, S. 345-351.

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Vereinfachung. Denn erstens sollte man zunächst einmal den Selektionsdruck von den MRE nehmen, was inzwischen durch die verminderte Gabe von Antibiotika bzw. die gezielte Gabe spezieller Antibiotika ansatzweise geschieht. Zweitens gilt auch für jede (weitere) Hygiene-Maßnahme die Prima-facie-Einsicht, dass mit ihr der Selektionsdruck zugunsten hygiene-resistenter Keime verschoben wird. Folglich muss man jede vorgeschlagene Hygiene-Maßnahme sorgfältig auf ihre Wirkungen hin prüfen. Hygiene ist nicht einfach deshalb gut, weil sie Hygiene ist. Auch die Einnahme von Breitband-Antibiotika zählt zu den hygienischem Maßnahmen im weitesten Sinne. Wohin sie geführt hat, sehen wir gerade. Und drittens darf man nicht außer Acht lassen, dass mangelnde Hygiene nur eine Ursache unter mehreren ist, die nosokomiale Infektionen bedingen. Andere Faktoren sind beispielsweise: die Schwere der Grunderkrankung, eine geschwächte Immunabwehr, die Tiefe eines operativen Eingriffes, das Alter des Patienten, dessen Ernährungszustand etc. Einschlägigen Schätzungen zufolge sind gar nur ungefähr ein Drittel der nosokomialen Infektionen durch verstärkte Hygiene vermeidbar, die anderen zwei Drittel sind „schicksalhaft“.31 Insgesamt macht das Beispiel der nosokomialen Infektionen recht anschaulich, inwiefern Verengungen auf eine einzige Sichtweise – hier: Hygiene und Reinigung über alles – sachlich unangemessen und kontraproduktiv sind, insbesondere dann, wenn die Forderungen radikal werden. Im Zusammenhang mit den „Killer-Keimen“32 können wir an mehreren Stellen beobachten, wie das Wohlbefinden des Menschen in den Hintergrund rückt. Nur schlagwortartig seien ethische Fragestellungen, etwa die Verhältnismäßigkeit der Schutz­ isolierung von MRE-Patienten, auch bei bloßer Kolonisation, sowie deren Stigmatisierung und Diskriminierung angeschnitten.33 Kaum weniger spannend ist die in der Regel notwendige, dennoch 31 Siehe dazu z. B. P. Gastmeier et al., „Wie viele nosokomiale Infektionen sind ver­ meidbar? How many nosocomial infections are avoidable?“, in: Deutsche Medi­ zinische Wochenschrift 135(3)/2010, S. 91-93. 32 Massenmedien vermarkten so MRE. Bei dem Begriff, wie z. B. auch bei dem der „Kolonisation“, handelt es sich übrigens um einen Metaphernimport aus der dafür recht beliebten Sphäre von Staat, Politik und Militär in die der Medizin, im Unterschied zum Metaphernexport, den wir unter 3.1 ansprechen. Ausführlicher zu Metaphern und der Sprache der Medizin siehe Bauer 2006. 33 Siehe dazu z. B. einen Aufruf vom „MRE-Netzwerk Rhein-Main“ an betroffene Patienten, über ihre diesbezüglichen Erfahrungen in Einrichtungen zu reden. URL: http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2996&_ffmpar[_id_inhalt]= 26467786 (zuletzt aufgerufen am 09.07.2015).

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bemerkenswerte Deindividualisierung nach Vorschrift in hygienischen Kontexten („Individualitätsfeindlichkeit“). – Der Erfolg einer „Aktion Saubere Hände“ verträgt sich genauso wenig mit dem Tragen von Schmuck, lackierten Fingernägel oder dem Verzicht auf Bereichskleidung im OP wie mit überflüssigen bzw. dysfunktionalen Berührungen in zwischenmenschlich-pflegerischen Kontakten („Beziehungsfeindlichkeit“). Die totalitäre Aufklärung ist die desinfizierte Hand, die nicht gereicht wird. Sicher vernünftig, funktional. Wärme aber spendet sie nicht.

3. Totale Säuberung – das Reinheits-Paradigma in aller Konsequenz Der Zusammenhang von Reinheit, Radikalität und Inhumanität lässt sich nun im Sinne Horkheimer/Adornos erhellen, indem man ihn einbettet in aufklärerische Grundhaltungen und Denkattitüden. Eine solche Einbettung ist sogar geboten, wenn man die jeweiligen kulturellen Reinheitsverständnisse und -praktiken nach Mary Douglas, einer britischen Anthropologin, als Metaphern der jeweiligen sozialen und geistigen Ordnungen versteht, die sich in ihnen ausdrücken.34 Das dient weniger dem theatralischen Aufstellen unheilvoller Prophezeiungen als der Standortbestimmung, indem man die Aufklärung an ihre eigenen Voraussetzungen erinnert. Es dient auch dem Hinweis auf Gefahren, der Warnung vor den Konsequenzen, für den Fall, dass die Aufklärung blind für das Potential und Wirken ihrer ambivalenten Mächte bleiben sollte. 3.1 Soziale Entschlackung? Die Reinigung von Individuum und Gesellschaft Um zu zeigen, dass die Vorstellung von Reinigung als Paradigma vom Bereich der Gesundheit in den Bereich des Staates und der sozialen Ordnung quasi „überschwappen“ kann, genügt ein erster Blick ins Jahr 1911 und ein zweiter in das Jahr 1935. Wir schreiben 1911. Der Odol-Fabrikant Karl August Lingner initiiert die I. Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden. 34 Siehe dazu Douglas 1985.

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Er möchte die Bevölkerung darüber aufklären, was ein jeder tun oder unterlassen muss, um seine Gesundheit und sein persönliches Wohlbefinden zu erhalten, mehr noch: zu steigern. Dadurch dass er Zweck und Wirkung von Maßnahmen der Gesundheitspflege öffentlich demonstriert, will er das Glück aller Menschen befördern. In dieser Weise äußert er sich auch im Vorwort des offiziellen Kataloges.35 Lingner zeichnet dort das Bild einer gesunden und glücklichen Vergangenheit, einer antiken Hochkultur, in der „wohldurchdachte Heiratsgesetze“ den Erhalt der Familie und die Reinhaltung des Stammes sicherten, genauso wie „strenge Vorschriften über den Geschlechtsverkehr“ die Individuen vor Ausschweifung und Zerrüttung bewahren sollten.36 Doch „als mit steigendem Wohlstand die strengen hygienischen Vorschriften und Gebräuche vernachlässigt wurden und an die Stelle der früheren Lebenszucht Verweichlichung und Ausschweifungen traten, gingen diese Völker ihrem Untergang entgegen.“37 Das 19. Jahrhundert hat aus Lingners Sicht eine echte Chance, den Stand des Altertums bezüglich Kraft und Gesundheit des Bevölkerung nicht nur wiederherzustellen, sondern mithilfe moderner Wissenschaft und Technik zu überflügeln, dazu sei „aber vor allen Dingen nötig, dem Menschen zu Bewusstsein zu bringen, dass die Gesundheitspflege die Grundlage der persönlichen Wohlfahrt wie des Gedeihens der Völker ist, und dass es in der Macht eines jeden liegt, zur Erhaltung seines körperlichen und geistigen Wohlbefindens beizutragen“.38 Den Menschen nicht wie Unkraut auf dem Felde wachsen zu lassen, sondern ihn planmäßig zu kultivieren, auf dass Staat und Individuum optimal gedeihen mögen, das sei das Gebot der Stunde.39 So wacht das überdimensionale Auge auf dem Plakat der Hygiene-Ausstellung, gestaltet von dem deutschen Maler Franz von Stuck, gleichermaßen über die Einhaltung der neuen Hygienevorschriften wie es optimistisch einer sauberen Zukunft entgegenstrahlt.40 Zeitsprung. 1935. „Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen 35 36 37 38 39 40

Vgl. Lingner 1911, S. 10. Vgl. ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Das Cover so mancher Ausgabe von George Orwells berühmter Dystopie 1984 (Erstausgabe 1949) sieht dem Motiv mehr als ähnlich. Zufall?

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Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird“, so die Einleitung des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Die Reinhaltung des Blutes ist deshalb essentiell, weil Blut, so meint man, der Träger der Eigenschaften einer Rasse ist. Diese vermeintlich biologische Erkenntnis soll mit den Mitteln der Hygiene in die Praxis umgesetzt werden und so zur Genesung und Stärkung des deutschen Volkskörpers beitragen. Plakativ verbreitet 1943 das NS-Hetzblatt Der Stürmer in eingängiger Reimform: „Mit seinem Gift zersetzt der Jud – Der schwachen Völker träges Blut, – So daß ein Krankheitsbild entsteht, – Bei dem es rasend abwärts geht, – Doch bei uns lautet der Befund: – Das Blut ist rein. Wir sind gesund!“41 Die „Volksschädlinge“, die es auf das deutsche Blut abgesehen haben, sind also vor allem die Juden, ihnen werden daher im Blutschutzgesetz zunächst Eheschließungen, Beschäftigungsverhältnisse und anderes mehr explizit verboten, um sie sowie weitere ausgemachte „Ballastexistenzen“, darunter Kommunisten und Homosexuelle, schließlich folgerichtig mit Zyklon B zu vernichten – einem Ungeziefer-Bekämpfungsmittel.42 Das Übergreifen der Hygienegedanken und -forderungen vom Gesundheitsbereich in die soziale Sphäre, mithilfe des Exports von Hygiene-Metaphern aus der Medizin in die Sprache von Politik und Gesellschaft43, ist gleichermaßen frappierend wie erschreckend. Hygieneerziehung findet im Laufe dieser Jahre über die Sozialhygiene in der Rassenhygiene ihre Fortsetzung: „Das berüchtigte ‚Blutschutzgesetz‘ vom 15.9.1935 lässt sich als wörtliche Umsetzung der Reinheitsmetaphorik verstehen“, ist Mende überzeugt.44 Er sieht darin einen Beleg für die nachhaltige Wirksamkeit der Reinheitsmetapher und für ihre systematische Produktivität.45 Unter „Produktivität“ verstehen wir nicht zwingend Ursächlichkeit. Denn diese liefert der Vergleich zwischen 1911 und 1935 trotz seiner Augenfälligkeit nicht – aus zeitlicher Abfolge allein

41 Der Stürmer, 15. April 1943 (Nr. 16/1943). 42 Zyklon B wurde ursprünglich unter anderem auf Schiffen, in Kühlhäusern, bei der Reinigung von Massenunterkünften und der Entlausung von Bekleidung ein­ gesetzt. 43 Siehe dazu Bauer 2006, S. 1312f. 44 Mende 2011, S. 303 45 Vgl. ebd., S. 296.

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lässt sich nicht auf Kausalität schließen.46 Die ist schon deshalb nicht eindeutig festzustellen, weil das Reinigungs-Paradigma nicht das einzige war, das in jener Zeit wirkte. Zum Beispiel hat auch der „Sozialdarwinismus“ ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts starken Zulauf erhalten. Es könnte also sein, dass das sozialdarwinistische Paradigma mit- oder gar hauptursächlich für das rassehygienische Programm der Nationalsozialisten war und beide Bewegungen sich des Hygiene-Sprachspiels nur allzu gerne bedienten.47 Halten wir für den Moment fest, dass das Hygiene-Paradigma sich bestens in einen anderen weltanschaulichen Bereich übertragen ließ. Volksgesundheit, Sozialhygiene und Eugenik passten exzellent zusammen, auch wenn an den nationalsozialistischen Rassenwahn 1911 möglicherweise noch niemand gedacht oder dies zumindest nicht laut gesagt hatte. Strukturell machte es offenbar keinen wesentlichen Unterschied, wen oder was man (be)reinigte: den Fußboden, die Hände, den Volkskörper – vom Fremden, Bedrohlichen oder einfach nur vom Unnützen, Unproduktiven; denn mit der Verkürzung des Lebendigen auf das Funktionale hängt die Entfernung des Dysfunktionalen notwendig zusammen. Und ist erst einmal „das Leben zum chemischen Prozeß herab[gesetzt]“48, fällt es relativ leicht, sämtliche „Abnormalitäten“ zu vernichten. Darin im Übrigen lediglich eine schicksalhafte Verirrung der Geschichte oder eine makabere (medizin)historische Erzählung zu sehen, wäre zu kurz gedacht: Nach wie vor wird gewarnt, sich nicht von „dummen Ideen“, Faulheit oder ähnlich unerwünschten Erscheinungen „anstecken zu lassen“, oder sorgt sich der ach so anständige Bürger darum, von „unreinen“ Gesinnungen, vorzugsweise in sexuellen Kontexten, „kontaminiert“ zu werden.49 Stigmatisierung des „Anderen“,

46 Eine Studie über den Zusammenhang von Hygiene-Anforderungen und Ras­ sismus in den USA im entsprechenden Zeitraum wäre an dieser Stelle interes­ sant, ist uns aber leider nicht bekannt. 47 Es gibt noch zahlreiche weitere Möglichkeiten der direkten oder indirekten Ver­ ursachung, und man sollte wohl nicht nach einer, sondern nach vielen Ursachen bei der Erklärung für den Nationalsozialismus Ausschau halten. 48 Horkheimer/Adorno 2009, S. 250. 49 Siehe z. B. die bundesweite Kontroverse um den Bildungsplan der Landes­ regierung Baden-Württembergs 2015, die sich an einer geplanten Verankerung der „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ im Schulunterricht entzündete.

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dessen, was sich außerhalb der eigenen, gesetzten „Norm(alität)“ bewegt50, ist ein altes, doch bei weitem kein antiquiertes Phänomen.51 Genau diese (Tendenz zur) Ausbreitung jedenfalls ist gemeint, wenn oben die Rede vom „innerem Rigorismus“ des Reinheitskonzepts ist (vgl. 2.2). In diesem Sinne ist das Paradigma auch produktiv – es hat eben die Expansions-Anlage in sich52; und die hat es nicht exklusiv, sondern, wie jedes aufklärerische Ansinnen und jede aufklärerische Methode, notwendigerweise – wenigstens, wenn man Horkheimer/Adorno folgt. 3.2 Der szientistische Blick oder die Objektivierung des Menschen Das Hygiene-Sprachspiel zeigt sich nicht nur im Nationalsozialismus produktiv. Es marschiert auch im Gleichschritt mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, etwa in der Bakteriologie. Dort wird mit Robert Koch den Bazillen der Kampf angesagt, während gleichzeitig der Patient aus dem Blickfeld rückt und in seiner Objektivierung zum Träger sowie Nährboden der infektiösen Kleinlebewesen marginalisiert wird.53 Doch selbst dort macht die Aufklärung nicht halt: Denn nicht das ein oder andere, sondern das gesamte Denken soll vom Irrationalen, das Körperliche vom Sinnlichen, das Eigene vom Fremden gereinigt werden – allesamt Quellen des Unberechenbaren und somit des Argwohns, weil potentiellen Unheils –, bis zuletzt in der reinen, entzauberten Welt der Sinn hinter der Formel verschwindet wie der lebendige Leib hinter dem verdinglichten Körper. 50 Siehe zur Verquickung von Normalismus und Hygiene z. B. J. Link, „Hygiene und Sozialhygiene als protonormalistische Leitdiskurse“, in: Ders.: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 5. Aufl. Göttingen 2013, S. 273-276. 51 In diesem Punkt stimmen wir mit der Diagnose Byung-Chul Hans nicht überein, der das immunologische Paradigma (Abwehr der Negativität) vom neuronalen „Infarkt“-Paradigma (Übermaß an Positivität) abgelöst sieht (vgl. Han 2014). 52 Treffend dazu Han: Dem „immunologischen Dispositiv, das über das Biologische hinaus auf das Soziale, auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übergreift, ist eine Blindheit eingeschrieben: Abgewehrt wird alles, was fremd ist. Der Gegenstand der Immunabwehr ist die Fremdheit als solche. Selbst wenn der Fremde keine feindliche Absicht hat, selbst wenn von ihm keine Gefahr ausgeht, wird er auf­ grund seiner Andersheit eliminiert“ (2014, S. 8). 53 Vgl. Bauer 2006, S. 1311. Auch die gängige Sprechweise von „Besiedelung“ oder „Kolonisation“ durch Mikroorganismen legt Entitäten nahe, die nicht nur als etwas vom Menschen Getrenntes aufzufassen sind, also nicht zu ihm gehören, sondern sich darüber hinaus seiner als Objekt ermächtigen.

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In dem „hygienischen Fabrikraum“54 gewahren Horkheimer/Adorno den Ort der Liquidierung alles Natürlichen und zugleich ein Bild für die Herrschaft des blind Objektiven55, die darin gipfelt, dass sich die Natur in „Haßliebe gegen Körper und Erde“56 gewaltsam ihren Weg aus der Selbstvergessenheit bahnt. So denkt Heidegger 1941 die Dialektik der Aufklärung konsequent zu Ende, wenn der schreibt: „[D] er Technik [...] letzter Akt wird sein, daß sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung“.57 Die Entfremdung des Menschen von der Natur zum Zwecke ihrer Beherrschung mündet in seine Abschaffung. Ihr trauriger Held trägt im deutschen Sprachraum einen Namen: Walter Faber. Er erfährt am eigenen Leibe die Dialektik der Aufklärung, die auch für ihn persönlich nur in der Tragödie enden kann. Max Frischs Homo Faber wird zum Inbegriff des aufklärerischen Blicks auf den Menschen: den rein wissenschaftlichen, den szientistischen. Der kometenhafte Aufstieg der Wissenschaften ist ein Produkt der Aufklärung. Nicht, dass es die abendländischen Wissenschaften vor der Aufklärung nicht gegeben hätte, Newton etwa gehört nach der offiziellen Epochen-Rechnung nicht zur Aufklärung und gilt doch gleichzeitig als Vater der modernen Physik. Aber: Die Aufklärung war der Boost, der die Wissenschaften dorthin schoss, wo sie sich jetzt befinden – in das Zentrum der Methoden zur Klärung aller sinnvollen Fragen. Das ist der Boden, auf dem wir heute stehen. Nur wissenschaftlich erzieltes Wissen ist gutes Wissen, und was nicht-wissenschaftlich erzielt wurde, ist entweder dummes Geschwätz oder bestenfalls irrelevant. Ein Derivat dieser Haltung ist unter anderem die Überzeugung: Nur wenn man den Menschen wissenschaftlich betrachtet, kann man ihm helfen. Es steht außer Zweifel, dass die Wissenschaft als Methode eines der erfolgreichsten Instrumente ist, die Menschen zur Beantwortung von Fragen jemals erfunden haben. Trotzdem kann die wissenschaftliche Me54 „Hygiene-Kompetenz in Edelstahl“ [URL: https://www.mohn-gmbh.com/ startseite.html (zuletzt aufgerufen am 09.07.2015)]? – Hygieneschleusen sind aus der modernen Reinigungstechnik, u. a. aus dem Lebensmittel produzierenden oder verarbeitenden Gewerbe, nicht mehr wegzudenken. 55 Vgl. Horkheimer/Adorno 2009, S. 5f. 56 Horkheimer/Adorno 2009, S. 248. 57 M. Heidegger, Gesamtausgabe. IV. Abt.: Hinweise und Aufzeichnungen, Bd. 96, Überlegungen XIV (Schwarze Hefte 1941), Frankfurt a.M. 2014, S. 238.

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thode mindestens zwei Fragen nur abschlägig beantworten. Frage 1: Gibt die wissenschaftliche Methode Antwort auf alle Fragen? Nein, denn sie kann ethische Fragen, Fragen nach dem Glück oder der besten Staatsform aus prinzipiellen Gründen nicht beantworten.58 Frage 2: Ist die wissenschaftliche Methode ohne Fehl und Tadel? Die Antwort darauf lautet ebenfalls nein. Denn die wissenschaftliche Methode leidet unter systematischen Schwächen. Dazu gehören diese drei, die miteinander zusammenhängen: 1) Sie objektiviert ihren Gegenstand (eine Stärke) und sieht deshalb vom Subjektiven ab (eine Schwäche). 2) Sie ist abstrakt (eine Stärke) und sieht deshalb vom Konkret-Individuellen ab. Abstraktionen vernachlässigen gezwungenermaßen scheinbar unbedeutende Details der Realität. Diese Details sind jedoch häufig bedeutsam.59 Oder Theorien haben versteckte Prämissen (vgl. oben ‚gute‘ und ‚böse‘ Bakterien), die sich nicht mit der Realität decken. In diesen Fällen wird die wissenschaftliche Methode, entgegen ihrer eigenen Absicht, sachlich unangemessen (eine Schwäche). 3) Sie ist tendenziell vereinfachend oder reduktionistisch (eine Stärke), d. h. sie führt viele Wirkungen auf eine einzige zurück, und engt Zusammenhängen und Betrachtungen dadurch unzulässig ein (eine Schwäche). Nun könnte man der Meinung sein, in der Wissenschaftskritik sei bereits alles gesagt. Außerdem seien sowohl Kant als inzwischen auch Adorno und Horkheimer lange tot, die Dialektik der Aufklä­ rung verstaube als historisches Dokument in den Regalen, und von Reinheit als Methode oder Ziel sprächen höchstens noch altbackene Philosophen. – Dass das nicht richtig ist, zeigt die schon erwähnte Figur des homo oeconomicus.60 Obwohl dieser recht früh, mit Beginn des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, wurde er erst zum Shooting-Star durch den enormen Erfolg von Spieltheo­ rie, Soziobiologie und einer darauf basierten Wirtschaftsethik – alle­samt Disziplinen, die sich stürmisch bis marktbeherrschend seit den 70er/80er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt haben. Eigentlich ist der homo oeconomicus nur ein Modell zur Beschreibung menschlichen Handelns, menschlicher Entscheidungen und gesellschaftlicher Strukturen oder Prozesse. Im Modell hat der Mensch klar geordnete Präferenzen, verhält er sich in seinem Tun

58 Von spirituellen Fragen ganz zu schweigen. 59 Siehe auch 2.2. 60 Siehe 2.

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absolut rational61 in Hinsicht auf diese Präferenzen und funktioniert als perfekter Nutzen- bzw. Eigennutzenmaximierer. Das Problematische am homo oeconomicus ist nicht seine Existenz als Modell. Zwar betonen üblicherweise Vertreter der genannten Disziplinen immer wieder gerne, dass es sich beim homo oeconomicus um ein Modell und eben nur um ein Modell handelt, so als hätte es gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Das Problematische an diesem Modell aber – wie auch an allen anderen Modellen vom Menschen – ist, dass es nicht im theoretischen Beschreiben von Zuständen verbleibt, sondern in die Anthropologie eingebaut wird. Der Unterschied zwischen „Der Mensch lässt sich als homo oeconomicus beschreiben“ und „Der Mensch ist ein homo oeconomi­ cus“ ist sprachlich ein geringer, und, schaut man sich beispielsweise die deutsche Gesellschaft an, im Denken bereits verwischt: de facto steht hier häufig nicht mehr das subjektive Wohlbefinden der Menschen, sondern wirtschaftliche Überlegungen bzw. die Optimierung utilitaristischer Kosten-Nutzen-Kalküle von Agenten im Vordergrund.62 Ob etwa ein Patient eine Operation oder ein Medikament „benötigt“, ist dann auch (und manchmal vor allem) eine Frage von Lebensqualitätseinheiten in Relation zur Budgetierung einer Gesundheitseinrichtung. So geht’s halt zu in der Gesundheitsökonomie. Was sich daran zeigt, ist, dass ein Verständnis vom Menschen als homo oeconomicus den Fokus vom Humanen auf den Profit verschiebt, was für das Glück und die Gesundheit Einzelner kontraproduktiv sein kann.63 Mit dieser Aussicht war man aber ursprünglich nicht angetreten. Im Gegenteil.

61 Sogar wenn er „emotional“ wird; siehe dazu z. B. R. H. Frank, Die Strategie der Emotionen, München 1992. 62 Siehe dazu z. B. G. Maio, Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heil­ kunst abschafft, Berlin 2014. Den Wert eines Menschenleben zu verrechnen, wusste man auch im Nationalsozialismus bestens: „Täglich RM 5,50 kostet den Staat ein Erbkranker – für RM 5,50 kann eine erbgesunde Familie 1 Tag leben!“, war auf NS-Propaganda-Plakaten zu lesen. 63 Schlagworte wie „Patient oder Profit?“, „Geld oder Leben?“, „Markt oder Moral?“ etc. haben es nicht ohne guten Grund in den letzten Jahren von der fachlichen in die öffentliche Debatte geschafft, vgl. z. B. Die Zeit, 39/2012.

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4. Was wir wissen können, tun sollen, hoffen dürfen Zunächst ist noch einmal festzuhalten, worum es uns nicht geht64: Darum, die hygienischen Errungenschaften unserer Kultur kleinzureden oder gar zu fordern, Hygiene abzuschaffen. Das wäre offenkundig unsinnig. Genauso unrealistisch wäre die Forderung, ökonomische Aspekte aus der Bewirtschaftung von Klinikbetrieben völlig auszublenden. Worum es uns mit Blick auf Reinheit und Hygiene vielmehr geht, ist die Einsicht in den Zusammenhang und die Rückwirkung zwischen uns und unseren theoretischen Konzepten, speziell jenen Konzepten, die zur Aufklärung zu rechnen sind. Wir machen zusammenfassend folgende Teileinsichten aus: 1. Redeweisen, Metaphern und theoretische Konzepte sind nicht nur nachgeordnete sprachliche oder versprachlichte Ausdrücke unseres Denkens über die Welt. Das stimmt zwar. Aber manchmal ist die Richtung auch umgekehrt: Redeweisen, Metaphern und theoretische Konzepte bestimmen unser Denken über die Welt, sie bemächtigen sich seiner, sie kapern uns, sie werden paradigmatisch und beherrschend. Für einen Menschen mit einem Hammer, so sagt man, ist die ganze Welt ein Nagel. In den 70er Jahren war für einen Menschen mit einer Evolutionstheorie die ganze Welt ein Zoo – selbst Planeten und Sonnensysteme unterlagen ‚irgendwie‘ der Evolution, und das, obwohl sie sich weder fortpflanzen noch über DNA verfügen, von Selektion und Mutation ganz zu schweigen. In den 30er Jahren war für einen Menschen mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel die ganze Menschheit ein Fall für die Reinigung. Mit den bekannten Folgen. 2. Theoretische Konzepte können prinzipiell inadäquat sein, wenn die zu beschreibenden Systeme hochgradig kompliziert oder gar komplex sind. Das sind sie vor allem dann, wenn sie sich nicht isolieren lassen, wenn man ein System also nicht unabhängig von anderen Systemen betrachten kann. – Das gilt für das vergleichs-

64 Darauf mehrfach explizit hinzuweisen ist notwendig, um Missverständnisse zu vermeiden, wie das Beispiel Rousseau prominent zeigt. Kritiker wie Georg Forster wiesen Rousseaus Kulturkritik brüsk mit dem Vorwurf zurück, sein Motto hieße doch nur „Zurück zu den Affen.“ Vgl. beispielsweise: U. Kronauer, „Zurück zu den Affen oder Über die natürliche Güte des Menschen. Rousseaus Kulturkritik und die Folgen“, in: H. Dippel, H. Scheuer (Hrsg.), Georg-ForsterStudien II, Berlin 1998, S. 79-107.

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weise einfache Sonnensystem, für die Thermodynamik65 und es gilt insbesondere im Bereich des Lebendigen. 3. Theoretische Konzepte können ‚monopolistisch‘ sein. Aufgrund ihrer inneren Dynamik unterdrücken sie dann Alternativen und Streben eine Alleinherrschaft an. Darüber sollte man sich im Klaren sein, denn es ist schwierig bis unmöglich, sich dem zu entziehen. 4. Hygiene und Reinheit sind nicht Selbstzweck. Dies ist vielleicht der wichtigste Punkt. Wie viel Hygiene wir benötigen und wollen, muss letztlich vom Wohle des Menschen abhängen. Klar ist, dass wir uns ohne Hygiene schnell in unzumutbaren Zuständen wiederfänden. Klar ist auch, dass wir bei totaler Hygiene stürben, weil ein Leben im Reinraum unmöglich ist. Nur der tote Mensch kann ein hygienisch reiner Mensch sein. Zum lebenden Menschen gehört nun einmal seine dauerhafte „Verschmutzung“, weil er sich biologisch als System nicht allein, sondern innerhalb und zusammen mit bzw. in Abhängigkeit von anderen Systemen entwickelt hat. Den Menschen von seiner biologischen Herkunft zu trennen, hieße, dem Menschen sein Bios, also sein Leben, zu nehmen. Den Menschen von seiner Sinnlichkeit zu trennen, hieße, ihn zu einer blutleeren Theorie zu machen. Alle vier Punkte mahnen zur Vorsicht im Umgang mit Hygienefragen und -maßnahmen. Sie mahnen beispielsweise zur schonenden und gezielten Gabe von Antibiotika und warnen davor, die menschliche Einsicht in Funktionszusammenhänge zu überschätzen. Sie ermuntern zur inhaltlichen und methodischen Vielfalt und Flexibilität im Denken, zum Beispiel durch Pflege alternativer Sprachspiele, und zu achtsamer Überprüfung einer Differenzierung zwischen Mittel und Zweck einer Handlung. Zu guter Letzt gebieten sie, keine eindimensionalen, reduktionistischen oder großflächigen Maßnahmen zu ergreifen, sondern, aus den in diesem Text dargelegten Gründen, im kleinflächigen und -schrittigen Trial-andError-Verfahren voranzuschreiten. Es wäre daher wünschenswert, wenn die Aufklärung, nicht nur auf dem Gebiet der Hygiene, genau in einem solchen vorsichtigen Trial-and-Error endete, und nicht da, wo Horkheimer/Adorno sie sahen. Neo-Spätaufklärer werden zwar 65 Z. B. bei der Frage nach der Existenz adiabatischer Systeme; ‚adiabatisch‘ heißen Systeme, deren Zustandsänderungen ohne Austausch von Wärme mit der Um­ gebung vor sich gehen. Deshalb lassen sich adiabatische System wenigstens theoretisch als isolierte und unabhängige Einzel-Systeme betrachten.

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die meisten von uns bleiben, doch muss unser weiterer Weg deshalb nicht notwendigerweise von Pessimismus geprägt sein. Eines vergisst man nämlich meist, wenn man die Dialektik der Aufklärung liest: Horkheimer/Adorno beschreiben einzig und allein das Umschlagen der Vernunft von der Licht- zur Schattenseite. Die Umkehrung – der Umschlag von der dunklen in die lichte Seite der Vernunft – ist theoretisch aber nicht ausgeschlossen: Die Aufklärung vermag, dialektisch betrachtet, durchaus wieder zurückzupendeln, vom Dunkeln ins Licht, vom Destruktiven zum Konstruktiven. Wir könnten demnach auch anders und dabei guten Gewissens Aufklärer bleiben. Allerdings müssten wir dafür die Augen offen halten und die Hände sauber. Meistens jedenfalls. Literatur Bauer, A. W., „Metaphern. Bildersprache und Selbstverständnis der Medizin“, in: Der Anaesthesist, 55/2006, S. 1307-1314. Buschlinger, W., „Havarie des großen europäischen Traums. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Die Dialektik der Aufklärung“, in: C-F. Berghahn, R. Stauf (Hrsg.), Bausteine der Moderne. Eine Recherche, Heidelberg 2007, S. 13-31. Douglas, M., Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunrei­ nigung und Tabu, Berlin 1985. Eisler, R., Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichen Nachlaß, 1930. URL: http://www.textlog.de/rudolf-eisler. html (zuletzt aufgerufen am 08.07.2015). Han, Byun-Chul, Müdigkeitsgesellschaft, 9. Aufl., Berlin 2014. Hofmann, M. (Hrsg.), Aufklärung: Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2013. Horkheimer, M., Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmen­ te. 18. Aufl., Frankfurt a. M. 2009. Ingensiep, H. W., W. Popp (Hrsg.), Hygiene und Kultur, Essen 2012. Lingner, K. A., „Vorwort“, in: Offizieller Katalog der Internationalen Hygiene-Aus­ stellung Dresden Mai bis Oktober 1911, neue verbesserte Auflage, Berlin 1911, S. 9-18. Mende, D., „Reinheit“, in: R. Konersmann (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 3. Aufl., Darmstadt 2011, S. 296-305.

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Es muss weg. Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen als spezielles Problem der Tierethik

„‚Weg muß es‘ […] das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist. […] Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.“1

1. Einleitung Die Einsicht, die der zum Ungeziefer verwandelte Gregor Samsa in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1912) letztlich teilt, ist die, dass er im Spannungsfeld zwischen Mensch und Schädling kei­ nen Platz mehr unter den Menschen hat. Die meisten tierethischen Abhandlungen konzentrieren sich auf das Problem der Tiernutzung zum Zweck der Ernährung, Bekleidung oder sonstiger Bereiche menschlichen Konsums. Ein Randgebiet, das kaum untersucht wird, ist das der Schädlingsbekämpfung. Diese Tatsache verwundert in­ sofern wenig, als sich in diesem Bereich besonders für Tierrechtler ein Dilemma auftut. Man könnte sagen, dass die „Schädlingsethik“ innerhalb der Tierethik einen ähnlichen Status innehat wie die Tier­ ethik innerhalb der Ethik allgemein. Dieser Status offenbart sich dann in Fragen wie: Wieso sollte man sich über den moralischen Status von Schädlingen Gedanken machen in einer Welt, in der Tie­ re in unglaublicher Zahl für menschliche Zwecke leiden und getötet werden? Dieselbe Frage eine Stufe höher lautet dann: Wieso soll­ te man sich über den moralischen Status nicht-menschlicher Tiere Gedanken machen in einer Welt, in der Menschen in unglaublicher Zahl leiden, hungern und sterben? Die Antwort auf beide Fragen muss lauten: weil sie ethisch relevant sind. Angewandte Ethik kann Probleme nicht ignorieren, nur weil sie unbequem sind oder nicht 1

F. Kafka, „Die Verwandlung“, in: F. Kafka, Die Erzählungen, Originalfassung, Frankfurt a. M. 2001, S. 153.

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recht in den gesteckten Rahmen passen wollen. Ist eine Lobby für Schädlinge automatisch eine Lobby gegen den Menschen? Was ist es, das den Bereich der Schädlingsbekämpfung aus anderen Berei­ chen der Interaktion mit nicht-menschlichen Tieren hervorstechen lässt? Menschen sind, zumindest in den westlichen Industrielän­ dern, nicht auf Nahrungsmittel tierlicher Herkunft angewiesen, um ihren Nährstoffbedarf zu decken und exzessiver Fleischkonsum führt zu ökologischen und gesundheitlichen Problemen, die hier zusätzlich zu Problemen der Tierethik angeführt werden können und angeführt werden.2 Im Bereich der Tierversuche stellen sich schon stärkere Abwägungsprobleme, besonders dann, wenn die For­ schung an Tieren unmittelbar kranken Menschen hilft.3 Die Schäd­ lingsbekämpfung hingegen dient so gut wie immer der menschli­ chen Gesundheit oder ihrem Erhalt (von ästhetischen Problemen abgesehen). Es scheint, als befände sich der Mensch bei der Schäd­ lingsbekämpfung in einer Situation der Notwehr, fast so, als ob er direkt von einem Tier angegriffen würde. Tiere, die Krankheiten auf Menschen übertragen (Zoonosen, vice versa auch möglich), stehen somit in der Interessenabwägung stets gegen basale menschliche Interessen. Auch Schädlinge, die die Ernte angreifen oder Ressour­ cen (Nahrung, Kleidung, Wohnbereich) vertilgen oder verunreini­ gen, betreffen letztlich basale menschliche Interessen. Der Hygie­ neschädling ist direkt oder indirekt der menschlichen Gesundheit abträglich. Es scheint, als könnten die Tiere in dieser Rechnung nur verlieren. Wie Schädlinge eingestuft werden und wie mit ihnen umgegan­ gen wird, ist jedoch auch in der Tierethik abhängig von den ange­ wandten Kriterien. Während eine kantische, vernunftbasierte Tu­ gendethik Schädlinge höchstens indirekt einbeziehen kann und eine klassische kontraktualistische Theorie (Kap. 3.1) generelle Probleme bei der Integration nicht-menschlicher Tiere in ihr Theoriegebäude

2

3

Für einen kompakten, aber weitgefächerten Überblick über die Problematik des Fleischkonsums vgl. F. T. Gottwald/I. Boergen: „Tiere essen. Bestandteil menschlicher Kultur oder Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit?“, in: H. W. Ingensiep (Hrsg.), Das Tier in unserer Kultur. Begegnungen, Beziehungen, Probleme, Interdisziplinäre IOS-Schriftenreihe, Band III, Essen, 2015, S. 281-307. Vgl. G. Hilken et al.: „Tierversuche in der Biomedizinischen Forschung“, in: ebd., S. 225-253.

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Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen

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haben wird4, werden andere Theorien Hygieneschädlinge nicht so leicht aus der Rechnung „beseitigen“. Eine Ethik, die in der Tradition der Mitleidsethik Arthur Scho­ penhauers oder einer Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“, wie sie Albert Schweitzer entwickelt (Kap. 3.2) steht, muss der Schädlings­ bekämpfung, selbst wenn grundlegende menschliche Interessen be­ troffen sind, zumindest ambivalent gegenüberstehen. In einer Tierethik, die dem pathozentrischen Präferenzutilitaris­ mus Peter Singers folgt (Kap. 3.3), ist der Ausgang der Rechnung zunächst offen, auch wenn alle leidensfähigen Lebewesen (und das sind viele der als Schädlinge bekämpften Tiere) in sie einbezogen werden. Da es sich bei dem Begriff „Schädling“ allerdings nicht um eine feststehende biologische Klassifikation handelt, seine Extension so­ mit einer ständigen Fluktuation unterliegt, bedarf es hier zunächst seiner genaueren Betrachtung. Was macht einen Schädling aus, wel­ che Tiere fallen unter den Begriff und warum?

2. Was sind Schädlinge und wie werden sie bekämpft? Bei dem Begriff „Schädling“ handelt es sich, wie oben bereits ange­ merkt, nicht um eine biologische Klassifikation. Insofern ist der Be­ griff noch stärker anthropozentrisch geprägt als viele Taxonomien in der Biologie oder besonders in der Evolutionstheorie. „Schädlin­ ge“ sind dabei nicht nur begrifflich, sondern auch vielfach ökolo­ gisch von Menschen gemacht. Durch Faktoren wie Nahrungs- und Materiallagerung und -transport, Viehzucht, die Schaffung von Mi­ kroklimata oder den Bau von Abwasserkanälen werden geeignete Bedingungen für die Ansiedlung und Vermehrung „schädlicher“ Arten verbessert oder sogar erst geschaffen.5 Damit sind Schädlinge oft ein Epiphänomen kulturellen und technischen Fortschritts, be­ vor eben jener Fortschritt sich ihrer Bekämpfung zuwendet. 4

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„Klassischer“ Kontraktualismus ist hier insofern herauszuheben, als in letzter Zeit der kühne Versuch unternommen wird, nicht-menschliche Tiere in eine Mensch-Tier-Gesellschaft nach kontraktualistischem Muster zu integrieren. Dazu unten mehr. Vgl. S. Donaldson/W. Kymlicka, Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Berlin 2013. Vgl. H. Kemper, Kurzgefasste Geschichte der tierischen Schädlinge, der Schäd­ lingskunde und der Schädlingsbekämpfung, Berlin 1968, S. 16 ff.

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In der Schädlingsbekämpfung werden Schädlinge von Lästlin­ gen unterschieden.6 Während Schädlinge Menschen physischen Schaden zufügen, können Lästlinge, wie der Name bereits sugge­ riert, bei Personen ästhetische und psychische Belästigungen her­ vorrufen. Damit haben die Argumente für die Bekämpfung von Lästlingen (in der Regel) weniger ethisches Gewicht als die Ar­ gumente für die Schädlingsbekämpfung.7 Zumal es von Person zu Person unterschiedlich ausfallen dürfte, welche Tierart sie als lästig empfindet (das können z. B. auch Hunde in der Stadt sein). Lästlinge können sich auch mit dem Bereich der Nützlinge überschneiden. Bei Schädlingen unterscheidet man zwischen Haus- und Hygie­ neschädlingen (zusammengefasst als Gesundheitsschädlinge) und Vorrats- und Materialschädlingen. Diese Kategorien können sich auch überlappen. Schädlinge sind biologisch (aus oben bereits ange­ führten Gründen) meistens in der Klasse der Kulturfolger oder sy­ nanthropen Tiere zu finden, die sich an das Leben in von Menschen geschaffenen und bewohnten Lebensräumen angepasst haben (teil­ weise so stark, dass sie auf diese Lebensräume angewiesen sind).8 Schädlinge befinden sich in der von Arluke/Sanders aufgestellten „soziozoologischen Skala“ an letzter Stelle.9 Das macht sie zu be­ liebten Projektionsflächen für Anthropomorphismen, hier im Sinne von negativen menschlichen Eigenschaften und Monsterphantasi­ en. Umgekehrt werden Zoomorphismen aus dem semantischen Feld der Schädlingsbekämpfung wiederholt zur Diffamierung und Dis­ kriminierung politisch unliebsamer Gruppen verwendet.10 Unter der Bezeichnung „Schädlinge“ sammeln sich dabei die unterschied­ lichsten Spezies. Neben den Insekten (Motten, Schaben, Fliegen und viele mehr), die aufgrund ihrer vermeintlichen Gefühllosigkeit

6 Vgl. T. Voigt, Haus- und Hygieneschädlinge, 2. Aufl., PZ-Schriftenreihe, Band 3, Frankfurt a.M./Eschborn 1995, S. 13 ff. 7 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass Menschen, die etwa unter Arach­ no­phobie leiden, starke Beeinträchtigungen durch Spinnen empfinden können. Derartige Ängste sind allerdings nicht in der Weise objektivierbar, in der es die Angst etwa vor der Ansteckung durch eine bestimmte durch Schädlinge übertragbare Krankheit ist. 8 Zu Tieren in der Stadt vgl. M. Schmitt, „Wildtiere in der Stadt“, in: Ingensiep 2015, S. 159-185. 9 Vgl. A. Arluke/C. R. Sanders, regarding animals, Philadelphia 1996. 10 Zur Problematik des Anthropomorphismus vgl. T. Höller, „Das Tier in Uns – Das Wir im Tier. Verwendungsarten des Anthropomorphismus“, in: Ingensiep 2015, S. 9-34.

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in der Regel keine besondere ethische Beachtung finden11 befinden sich auch unstrittiger Weise fühlende und leidensfähige Säugetiere wie Mäuse oder Ratten darunter.12 Heinrich Kemper unterscheidet in seiner ausführlichen Ab­ handlung über Schädlinge vier Arten der Schädlingsbekämpfung: 1. Magische Bekämpfungsmittel und -verfahren: Gerade große Schädlingsaufkommen, denen der Mensch sich relativ hilflos ausgesetzt sah, wurden oft mit übernatürlichen Mächten oder göttlicher Strafe assoziiert (ein bekanntes Beispiel sind die Pla­ gen in der Bibel). Damit einhergehend entwickelten sich heute zum Teil skurril anmutende Bekämpfungsmethoden, die viel­ fach mit der Verwendung von Beschwörungsformeln oder Ta­ lismanen einhergingen. Im Zuge dieser Bekämpfungsmethoden versuchten sich Scharlatane am Aberglauben der Menschen zu bereichern (im „Rattenfänger von Hameln“ etwa steckt mehr Realität als man heutzutage annehmen würde). Auch die im Mittelalter (und bis zum letzten dokumentierten weltlichen Tierprozess in Dänemark im Jahre 1830) üblichen geistlichen oder weltlichen Gerichtsverfahren kann man mit gutem Grund in die Kategorie der magischen Bekämpfungsverfahren einrei­ hen. Trotz der fortschreitenden modernen Wissenschaft halten sich einige magische oder pseudomagische Schädlingsbekämp­ fungsverfahren bis heute.13 2. Mechanische und andere physikalische Verfahren: In diese Kategorie fallen die klassischen mechanischen Verfahren der Schädlingsbekämpfung von der Fliegenklatsche bis zur Mause­ falle. Auch die Schädlingsbekämpfung mittels Hitze oder Kälte sowie Lichtfallen für Insekten zählen dazu.14 3. Chemische Bekämpfungsmittel: Über Mittel, die schon im Al­ tertum bekannt waren, wie Arsen (bereits bei Plinius erwähnt) erstreckt sich diese Kategorie bis hin zur industriellen Entwick­ lung von Schädlingsbekämpfungsmitteln nach dem ersten Welt­ krieg und dem flächendeckenden Einsatz von DDT (Dichlordi­ 11 Die Konzentration auf Tiere, die über ein zentrales Nervensystem verfügen ist besonders dem besseren Einfühlungspotential seitens der Menschen geschuldet. Ob sie auch wirklich gerechtfertigt ist, ist eine andere Frage, vgl. D. F. Wallace, Am Beispiel des Hummers, Köln 2010. 12 Mit den oben angemerkten Bedenken im Hinterkopf sollen im Verlauf der vor­ liegenden Untersuchung die Säugetiere im Fokus stehen. 13 Vgl. Kemper 1968, S. 247 ff. 14 Ebd., S. 261 ff.

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phenyltrichlorethan) in den USA in den 1950er Jahren. Die er­ schreckenden Resultate dieses Flächenbombardements führten schließlich zu einem Umdenken in der Politik und der Schäd­ lingsbekämpfungsbranche, eingeleitet unter anderem durch Ra­ chel Carsons 1962 erschienenes Werk „Der stumme Frühling“.15, 16 4. Biologische Bekämpfung: Bei der biologischen Schädlingsbe­ kämpfung greift der Mensch regulierend ins Ökosystem ein, indem er Arten einführt oder gezielt hält, die Fressfeinde der Schädlinge sind. Das altbekannte Halten von Katzen zur Mäu­ sejagd stellt dabei eine erste Variante dar. Auch die vermeintlich umweltschonende biologische Schädlingsbekämpfung kann bei unvorsichtigem Einsatz oder Einführung fremder Arten in be­ stimmte Ökosysteme ein ökologisches Ungleichgewicht auslö­ sen, dass schwer wieder auszugleichen ist.17, 18 Während bei der ersten Kategorie von keiner weiteren Wirkung (es sei denn, sie passiert zufälligerweise) als (zumindest dem Ver­ such) der Bekämpfung des Gefühls des Kontrollverlusts bei den Menschen auszugehen ist, werden die anderen drei Kategorien tie­ rethisch relevant. Die Auswahl der Bekämpfungsmethoden hängt dabei selbstverständlich von der zu bekämpfenden Spezies ab. Da Mäuse und Ratten19 äußerst intelligent sind, wird bei ihrer Bekämp­ fung einiger Einfallsreichtum notwendig, um sie erfolgreich zu be­ seitigen. Die Verwendung von langsam wirkenden Giften wird bei ihnen bevorzugt, zum einen weil die Population hier die Verbin­ dung zwischen dem Verenden und der Vergiftung ihrer Artgenos­ sen nicht herstellen kann (somit bleibt der Lerneffekt aus, der sie die Köder beim nächsten Mal meiden lässt); zum anderen existieren für die langsam wirkenden Gifte Gegengifte, sollten versehentlich Vgl. R. Carson, Der stumme Frühling, München 1963. Vgl. Kemper 1968, S. 274 ff. Vgl. ebd., S. 310 ff. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass der Beruf des „Schäd­lings­ bekämpfers“ oder „Kammerjägers“ in Deutschland erst seit 2003 als Ausbil­dungs­ beruf anerkannt ist. Diese Tatsache legt den Verdacht nahe, dass man zuvor in dieses Berufsfeld eher „hineingerutscht“ ist und sich die Schädlingsbekämpfung lange Zeit im Bereich von „Versuch und Irrtum“ bewegt hat. Vgl. http://www.nitor.org/ geschichte-der-schaedlingsbekaempfung.html (Zuletzt eingesehen am 30.3.2015). 19 Im Falle von Ratten stellt sich derzeit eine neue Problematik ein: Sie können über ihren Kot multiresistente E.coli-Bakterien übertragen, die über Kran­ kenhausabwässer in die Kanalisation gelangt sind. S. dazu diesen kurzen Beitrag der ARD: http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/ sendung/ratten-100.html (Zuletzt eingesehen am 07.08.2015). 15 16 17 18

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Kinder oder Haustiere vergiftet worden sein. Für die Ratte bedeutet diese Art der Schädlingsbekämpfung ein langsames Verenden an in­ neren Blutungen, schenkt man Experten Glauben, ist diese Metho­ de für die Tiere allerdings, im Gegensatz zu vielen Akutgiften oder den in Deutschland inzwischen verbotenen Leimfallen, schmerzlos; das Verenden wird, so ein Autor, „als Schwäche- oder Alterstod empfunden“20. Obwohl wir uns selbstverständlich nicht in die Ge­ fühlswelt der Tiere hineinversetzen können21, lässt sich doch zu­ mindest bei ausreichender Kenntnis der Wirkungsweise bestimmter Gifte aussagen, ob sie Schmerzen verursachen. Bei der Hausmaus, die aufgrund ihres possierlichen Erscheinungsbildes einen ambiva­ lenten Status einnimmt und eher Mitgefühl hervorruft als Insekten oder Ratten, wird häufiger zu Lebendfallen gegriffen, die Tiere kön­ nen dann später ausgesetzt werden.22 Schnell wird auch ersichtlich, wie ambivalent Menschen diesen Spezies gegenüberstehen. Tiere, die durchaus als Haustiere gehalten werden und somit ganz oben auf der soziozoologischen Skala stehen, können in anderen Kontexten als Schädlinge gejagt werden. Auffällig ist auch, dass im Bereich der Haustiere das Tier als Individuum wahrgenommen wird, während es in Schädlingsbekämpfungskontexten (wie auch in Ernährungskon­ texten) anonymisiert in der Population oder Spezies steht. Beson­ ders deutlich wird dies im Falle von Haustieren, die als Gefährten durch die Verleihung eines Eigennamens individualisiert werden.23 Einen Sonderfall innerhalb der Klasse der Schädlinge machen Wildtiere aus. Füchse, die Tollwut übertragen können (in der Re­ gel darüber, dass sie Hunde beißen, die dann wiederum Menschen anfallen), werden in der öffentlichen Wahrnehmung selten in der Schädlingssparte verortet, und das obwohl Tollwut beim Menschen tödlich verlaufen kann.24 Ob dies nun an ihrer mythologischen Aufladung und dem damit einhergehenden Identifikationspoten­ tial oder einer generellen „Ehrfurcht“ vor Wildtieren als Teil einer vermeintlich unberührten Natur liegt, sei dahingestellt. Jäger, die Wildbestände dezimieren, rechtfertigen sich öffentlich oft mit der Schädlingsbekämpfung oder der Wiederherstellung, bzw. dem Er­ 20 Voigt 1995, S. 105. 21 Zur Einfühlungsproblematik vgl. den paradigmatischen Aufsatz „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“ von Thomas Nagel, in: T. Nagel, Letzte Fragen. Mortal Questions, Hamburg 2008, S. 229-250. 22 Vgl. P. Sandøe/S. B. Christiansen, Ethics of animal use, Oxford 2008, S. 99-100. 23 Vgl. auch Arluke/Sanders 1996, S. 11. 24 Vgl. Sandøe/Christiansen 2008, S. 100.

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halt eines ökologischen Gleichgewichtes.25 Tatsächlich lassen sich gerade Füchse relativ leicht über die Gabe von Impfstoffen in Fut­ terpellets von ihrem Gefährdungspotential für den Menschen be­ freien. In unzugänglichem Terrain können die Pellets auch aus der Luft abgeworfen werden. In diesem Fall kommen die Hygienemaß­ nahmen sowohl Mensch als auch Tier zugute. Die Impfung ist für die Füchse schmerzlos und bedeutet zusätzliche Nahrung. Ein weiterer Sonderfall tritt dann ein, wenn unter Tieren, die zu Nahrungszwecken gehalten werden, Epidemien auftreten und es zu Massentötungen kommt, die neben dem entstehenden wirt­ schaftlichen Schaden auch moralisch einen bitteren Beigeschmack hinterlassen. Bei derartigen Massenschlachtungen werden aus Si­ cherheitsgründen nicht nur die tatsächlich infizierten Tiere getö­ tet, sondern auch alle potentiell infizierten. Dem Versuch, die Vo­ gelgrippe (H5N1) unter Kontrolle zu bekommen, fielen im Jahre 2005 weltweit 100-200 Millionen Vögel zum Opfer.26 Die Massen­ keulung von Rindern und Schweinen war auch im Zuge des BSEAusbruchs in den 1980er Jahren, der Maul- und Klauenseuche 2001 und dem Ausbruch der Schweinegrippe (H1N1) 2009/2010 ein kontrovers diskutiertes Thema. Tiere, die von Menschen in der Landwirtschaft und zur Fleischproduktion gehalten werden, werden wir für gewöhnlich zuletzt unter die Rubrik „Schädlinge“ zählen und der Zusammenhang zwischen moderner Massentierhaltung und dem verstärkten Auftreten von Epidemien unter den Tieren, die auch Menschen gefährden, verstärkt den Diskussionsbedarf hier umso mehr. Doch nicht nur domestizierte Tiere stehen im Fokus der Aufmerksamkeit. Auch Wildtiere (Zugvögel als besonders weit­ reichendes Verbreitungsmedium) können derartige Krankheiten auf Nutztier und Mensch übertragen. Zuletzt die Tötung von neun infizierten Weißstorchen im Rostocker Zoo und die Diagnose von H5N8 bei zwei Wildenten in Sachsen-Anhalt rücken dieses Prob­ lem wieder verstärkt in die öffentliche Aufmerksamkeit.27 Eine klare Eingrenzung der als „Schädling“ klassifizierten Tiere ist auch deshalb nicht möglich, weil die Bezeichnung „wandert“. Dies kann kulturell bedingt passieren, oder weil andere Tierarten zu Kulturfolgern werden. Was man allerdings festhalten kann, ist, dass ein Schädling Menschen schadet. Was zunächst tautologisch und 25 Vgl. T. Schwarz, „Tierschutz im Alltag“, in: Ingensiep 2015, S. 195. 26 Vgl. Sandøe/Christiansen 2008, S. 87. 27 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 9.1.2015.

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offensichtlich klingen mag, ist nicht mehr so eindeutig, wenn man den Begriff „Schaden“ zu spezifizieren versucht. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf Schaden an der Gesundheit von Menschen (und klammern damit etwa Schaden an Eigentum aus). Schaden an der menschlichen Gesundheit wird natürlich nicht nur direkt von Tieren verursacht, sondern auch indirekt etwa durch die Übertra­ gung von Mikroorganismen über Kot und Urin. Mit der Schädi­ gung von Eigentum kann also selbstverständlich auch die Schädi­ gung der Gesundheit einhergehen.

3. Tierethische Perspektiven auf die Schädlingsbekämpfung In der Alltagspsychologie bzw. -philosophie lässt sich ein Schema der ethischen Aufmerksamkeit oder Berücksichtigung aufstellen, das der aristotelischen, hierarchisch verstandenen „scala naturae“ ent­ spricht, die ihren Einfluss auch nach über 2000 Jahren und trotz des mit Darwins „Entstehung der Arten“ (1859) verbundenen Paradig­ menwechsels nach wie vor erhalten hat.28 Die Bereiche der ethischen Berücksichtigung (vom Zentrum „Mensch“ ausgehend) lassen sich in folgendem (kompakten) Schema darstellen, das sich selbstver­ ständlich noch in unzählige Unterkategorien aufteilen ließe:

Abb.: Die Stufen der ethischen Berücksich­ tigung, von der stärks­ ten (Mensch) bis zur schwächsten oder aber in der Aufmerksam­ keit gar nicht mehr vorhandenen (Schäd­ ling) Stufe.29

28 Zur „scala naturae“ vgl. H. Baranzke/H. W. Ingensiep, Das Tier, Stuttgart 2008, S. 13-18. 29 Diese Einteilung ist eine Variation der von Mary Midgley vorgenommenen. Vgl. M. Midgley, „Die Begrenztheit der Konkurrenz und die Relevanz der Spe­ zieszugehörigkeit“, in: U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 157.

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Obwohl Schädlinge selbstverständlich der Kategorie „Tiere“ an­ gehören, werden sie in der Alltagswahrnehmung selten auf dem gleichen ethischen Level gesehen wie andere Tiere (insbesondere Haus- und Nutztiere, die sich in dieser Kategorie ganz oben befin­ den). Schädlinge sind auch deshalb in einer solchen Skala schwer zu fassen, weil sie in allen anderen ethisch relevanten Kategorien Schaden anrichten können und doch selbst einer (für gewöhnlich) als ethisch relevant empfundenen Kategorie angehören. Tierethisch stellt sich im Falle der Schädlingsbekämpfung (wie auch generell) zunächst die Frage, wer (bzw. welche Spezies) in die Gemeinschaft der moralisch zu berücksichtigenden Lebewesen auf­ genommen wird. Das hängt davon ab, welches Kriterium die mo­ ralische Relevanz eines Lebewesens ausmacht. Das können je nach Theorie so unterschiedliche Faktoren wie Vernunft(-fähigkeit), Mit­ geschöpflichkeit (religiös oder mythisch verstanden) oder Leidens­ fähigkeit sein. Sind dann die Objekte (oder Subjekte) moralischer Berücksichtigung ausgemacht, stellt sich die Frage, wie im ständi­ gen Konfliktverhältnis zwischen Mensch und Schädling mit ihnen umgegangen werden soll (oder nicht umgegangen werden darf). 3.1 Der Schädling bei Kant und im Kontraktualismus Die kantische Sicht auf die Tierethik und der Kontraktualismus, der in der politischen Philosophie von einem Vertragsschluss zwischen mündigen Partnern ausgeht, der in der Folge zu einem Staatsgebil­ de und einer Rechtsgemeinschaft führt30, werden hier zusammen angeführt. Dies hat den Grund, dass für beide Theorien ein Kriteri­ um für die ethische Berücksichtigung von Lebewesen entscheidend ist: die Vernunft(-fähigkeit). Immanuel Kant (1724–1804) wird in der Tierethik kontrovers diskutiert, seine eigenen konkreten Äußerungen zu dem Thema 30 Hier ist die Anmerkung angebracht, dass in der Regel nicht von einem faktischen historischen Ereignis ausgegangen wird, sondern dass das Gedankenexperiment des klassischen Kontraktualismus als Rechtfertigung oder Kritikinstrument tatsächlicher politischer Strukturen genutzt wird. Dennoch verschwimmen oft die Grenzen zwischen einer historisch anmutenden Beschreibung und einem Ge­dankenspiel. Man sehe sich etwa die Geschichten an, die Thomas Hobbes (1588–1679) oder sein „weißer Spiegel“ (frei nach D. F. Wallace) Jean-Jaques Rousseau (1712–1778) erzählen. Vgl. T. Hobbes, Leviathan, Stuttgart 1986; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 2011.

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sind spärlich gesät und laufen auf zwei Hauptargumente zu; ers­ tens das Verrohungsargument und zweitens die Etablierung von indirekten Pflichten gegen Tiere. Die einschlägige Stelle, in der das Verrohungsargument in der Tugendlehre der „Metaphysik der Sit­ ten“ (1779), im § 17 ausformuliert wird, soll hier einmal genauer beleuchtet werden: „In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zu­ gleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Menschen sehr dien­ same natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behende (ohne Qual verrichtete) Tötung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen angestrengte Arbeit (der­ gleichen auch wohl Menschen sich gefallen lassen müssen) unter die Befugnisse des Menschen gehören.“31 Durch eine grausame Behandlung von Tieren werden also An­ lagen im Menschen geschwächt, die seine moralische Einstellung seinen Mitmenschen gegenüber betreffen. Sobald derartige Anla­ gen betroffen sind, wird der Bereich der direkten Pflichten gegen die Menschheit tangiert, neben den direkten Pflichten sich selbst gegenüber (der säkularisierten Form von Pflichten gegen Gott) die stärkste moralische Säule in Kants Theoriegebäude.32 Dennoch in­ teressieren die Tiere hier nur insofern, als ihre Behandlung indirekt Menschen betrifft. Daher sprechen wir von indirekten Pflichten in Ansehung der Tiere. Direkte Pflichten Tieren gegenüber sind für Kant nicht formulierbar, weil Tieren der vernünftige, autonome Wille fehlt, der Menschen als direkte Adressaten von Pflichten in eine Rechtsgemeinschaft setzt. Allerdings sind auch Menschen für ihn nicht per se mit einem intrinsischen Wert versehen. Der einzige für sich genommen wertvolle Faktor ist für Kant die vernünftige Natur mit dem aus ihr entspringenden autonomen Willen, „die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst“33. Aus diesem Grund dürfen Lebewesen, die über diese verfügen, niemals bloß als Mittel, sondern müssen immer auch als Zweck an sich selbst ge­ sehen werden. Daraus ergibt sich das Instrumentalisierungsverbot, 31 I. Kant, AA VI, Die Metaphysik der Sitten, S. 443. 32 Vgl. Baranzke/Ingensiep, 2008, S. 104 ff. 33 I. Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429.

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das die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs darstellt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“34. Die Menschheit ist hier zwar als her­ ausstehendes Beispiel der vernünftigen Natur genannt, Kants Kon­ zeption lässt aber Ausdehnungen auf andere Lebewesen durchaus Raum. Inwieweit sich eine an Vernunft und besonders an Autono­ mie orientierte Ethikkonzeption allerdings auf Schädlinge auswei­ ten lässt, bleibt überaus fragwürdig. Schädlingen gegenüber bliebe in kantischer Hinsicht, nach Anwendung des kategorischen Impera­ tivs, wohl eher die Pflicht, sie um der Menschen Willen zu bekämp­ fen. Jedoch würde auch hier das Verrohungsargument greifen und man müsste von unnötig grausamen oder für die Tiere qualvollen Bekämpfungsmethoden absehen. Wenn auch hinsichtlich der Be­ wertung der Stärke der kantischen tierethischen Argumente alles andere als Einigkeit besteht, so scheint es doch, als wolle er hier mehr für die Tiere leisten, als seine Theorie zu tragen im Stande ist. Zumal er an anderer Stelle, in seinen Vorlesungen über die Ethik, den Tieren sehr viel weniger zuzugestehen scheint. Gleichzeitig wird hier aber auch auf Tiere eingegangen, denen der Mensch zu Dank verpflichtet ist, weil sie ihm besondere Dienste geleistet ha­ ben.35 Für unsere Untersuchung bleibt diese Passage insofern irre­ levant, als Hygieneschädlinge der Menschheit eben keinen Dienst leisten; sie sollte aber bei der Beschäftigung mit den kantischen Argumenten hinsichtlich tierethischer Belange niemals unerwähnt bleiben. Bedenken dahingehend, ob es Kant gegenüber fair ist, das Verrohungsargument so stark zu fokussieren, sind hier allerdings angebracht.36 Gerade im Bereich der Schädlingsbekämpfung könn­ te es aber eine nützliche Hilfe bei der Wahl der Mittel darstellen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Kant, entgegen der seit Scho­

34 Ebd. 35 Die entsprechende Passage findet sich in der Vorlesung im Kapitel „Von den Pflichten gegen Thiere und Geister“, in denen „Pflichten gegen Wesen die unter uns und die über uns sind“ abgehandelt werden. Vgl. I. Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, Berlin/New York 2004, S. 345348. Beim Hinweis auf dieses Werk muss angemerkt werden, dass es sich um unautorisierte Abschriften von Kants Ethikvorlesung aus den 1770er Jahren handelt. Es kann also als Ergänzung zur „Metaphysik der Sitten“ dienen, aber niemals mit demselben Status zitiert werden. 36 Vgl. Baranzke/Ingensiep 2008, S. 106. Kant selbst bezeichnet das Ver­rohungs­ argument vor allem als pädagogisch wertvoll.

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penhauer vorherrschenden Kritik, nicht-menschliche Tiere nicht explizit aus seiner Theorie ausschließt, sie sogar genau betrachtet so stark wie möglich zu integrieren versucht. Er vertritt also keine „speziesistische Ausschließungsmoral“37. Ein Versuch wie etwa der von der Neo-Kantianerin Christine Korsgaard, Tiere als „passive Bürger“ in eine kantische Ethikkonzeption unter Mithilfe seiner politischen Philosophie einzubeziehen, funktioniert allerdings nicht ohne Hilfsgerüste aus anderen Konzeptionen (in ihrem Falle aus einer aristotelischen).38 Als John Rawls (1921–2002) im Jahre 1971 mit seiner „theory of justice“ (dt.: „Eine Theorie der Gerechtigkeit“) die Disziplin des Kontraktualismus (der Vertragstheorie) wiederbelebt, räumt er da­ rin explizit den Tieren keinen Platz ein. In dieser Hinsicht bewegt er sich in der Tradition der klassischen Vertragstheorien etwa von Thomas Hobbes oder David Hume (1711–1776).39 Um eine mög­ lichst gerechte (für Rawls bedeutet dies faire) Gesellschaftsstruktur zu schaffen, entwickelt er das Gedankenexperiment vom „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“), hinter dem die Subjekte, die über die Gesellschaft, in der sie leben wollen bestimmen, aller ihrer individuellen Merkmale und Idiosynkrasien beraubt sind.40 Bei diesen Subjekten handelt es sich explizit um rationale Subjek­ te, was nicht-menschliche Tiere aus der Gemeinschaft ausgrenzt. Rawls ist sich dieses Problems seiner Theorie durchaus bewusst, „[…] denn sie befaßt sich ja wohl nur mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen, nicht aber zu Tieren und zur übrigen Natur.“41 Der Ausschluss von Tieren aus seiner Gerechtigkeitstheorie hängt mit seiner Definition eines moralischen Subjekts zusammen: „Moralische Subjekte zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: erstens sind sie einer Vorstellung von ihrem Wohle (im Sin­ ne eines vernünftigen Lebensplanes) fähig (und haben sie auch); zweitens sind sie eines Gerechtigkeitssinnes fähig (und haben ihn auch), eines im allgemeinen wirksamen Wunsches, die Gerechtig­ 37 H. Baranzke, „Tierethik, Tiernatur und Moralanthropologie im Kontext von § 17 Tugendlehre“, in: Kant-Studien, 96. Jahrg., S. 348. In diesem Aufsatz find­ et sich auch eine genaue Einordnung nicht-menschlicher Tiere in Kants Pflich­ tenordnung. 38 Vgl. C. M. Koorsgaard, „Kantian Ethics and Our Duties to Animals“, in: Tanner Lectures on Human Values 25/26/2005, S. 77-110. 39 Vgl. Baranzke/Ingensiep 2008, S. 84. 40 Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 29. 41 Ebd., S. 34.

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keitsgrundsätze anzuwenden und nach ihnen zu handeln, jedenfalls in einem gewissen Mindestmaß.“42 Das sind extrem starke Forderungen für die Anerkennung eines moralischen Subjektstatus. Über einen moralischen Objektstatus, also über die Frage, welche Lebewesen oder Gegenstände für mo­ ralische Subjekte relevant sind, ist damit allerdings noch nichts gesagt. Die Konzentration auf den Subjektstatus hängt mit der ge­ wählten Form des klassischen Kontraktualismus zusammen. Gera­ de die Formulierung „vernünftiger Lebensplan“ und die Forderung nach dem Verständnis der Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien schließen aus der Gemeinschaft der moralischen Subjekte aber nicht nur nicht-menschliche Tiere, sondern auch schwer geistig behinderte oder demente Menschen und Kinder aus. Warum nun die Menschen unter dem Schleier des Nichtwissens, die in der Lage sind, von ihrem sozialen Status, ihrer Geschlechtszugehörigkeit, ihrer Hautfarbe und sogar ihren persönlichen Vorlieben zu abstra­ hieren, sich nicht vorstellen können sollen, einer der oben genann­ ten Kategorien anzugehören, bleibt fragwürdig.43 Auch wenn Rawls sich gegen die grausame Behandlung von Tieren ausspricht, sogar Mitleidspflichten annimmt, sieht er es nicht als Möglichkeit an, sie in seine Theorie zu integrieren.44 In der in den 1970er Jahren er­ starkenden Tierrechtsbewegung wird eben dieser Punkt stark kriti­ siert und eine Ausweitung des Schleiers des Nichtwissens auch auf die Spezieszugehörigkeit gefordert.45 Die unter dem Schleier nach Rawls zugelassenen moralischen Subjekte würden jedenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gesellschaftsstrukturen wählen, in denen Schädlinge rigoros bekämpft werden. Dass eine Vertragstheorie nicht zwangsweise nicht-menschliche Tiere ausschließen muss, zeigt der Versuch von Will Kymlicka und Sue Donaldson, eine Mensch-Tier-Gesellschaft zu etablieren, in der die Tiere an der Struktur der Gesellschaft mitwirken. Obwohl die Autoren sich in „Zoopolis“ hauptsächlich auf die Interpretation des Verhaltens domestizierter Tiere und die Modifikation der Gesell­ 42 Vgl. Rawls 1979, S. 548. 43 Rawls selbst sieht dieses Problem auch, entscheidet sich aber bewusst, etwa das Problem der Behinderung aufzuschieben, um zunächst die Gerechtig­keits­grund­ sätze unter „normalen“ Bürgern zu bestimmen. Vgl. M. C. Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010, S. 158 ff. 44 Vgl. ebd., S. 556. 45 Vgl. Baranzke/Ingensiep 2008, S. 86.

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schaft anhand dessen konzentrieren, haben sie auch etwas zu Tieren im Schwellenbereich und Schädlingen zu sagen. Sie unterscheiden in ihrer Mensch-Tier-Gesellschaft drei mögliche Kategorien, in der sich Tiere in der Gesellschaft von Menschen befinden können: 1. Mitbürger: Der Mitbürgerstatus ist der höchste, den domesti­ zierte Tiere in der Mensch-Tier-Gesellschaft erreichen können. „Mitbürger“ bedeutet in dem Falle, dass auf die Bedürfnisse der Tiere (interpretiert von Tierkennern) bei der Schaffung von In­ stitutionen und der städtischen Infrastruktur eingegangen wird. 2. Einwohner: Tiere, die sich nicht domestizieren lassen, den menschlichen Lebensbereich, v. a. den Bereich der Stadt aber mitbewohnen (was Kulturfolger und in dieser Kategorie auch Schädlinge sind), werden nicht zum Spielball menschlicher In­ teressen freigegeben. Aggressivem Vorgehen gegen sie werden humane Methoden, etwa der umsichtige Umgang mit der La­ gerung von Nahrungsmitteln und der Struktur des menschli­ chen Wohnbereichs bis hin zur Schaffung eigener Mikrokosmen vorgezogen. Diese Tiere im Schwellenbereich lassen sich nicht wirklich der Mitbürger-Kategorie zuordnen, da dafür ein Grad an Vertrauensbildung und Kooperation nötig ist, der erst durch Domestikation erreicht wird, fallen aber auch nicht in den drit­ ten Bereich, den der Wildtiere.46 3. Wildtiere: Wilde Tiere lassen sich nicht domestizieren und ihr Lebensraum befindet sich in ständiger Bedrohung durch die Expansion des menschlichen Lebensraums. Für sie werden Schutzbereiche sowie die Schaffung von Korridoren durch den menschlichen Wohnbereich oder um ihn herum gefordert.47 Die hier im Fokus stehenden Schädlinge verorten Donaldson/ Kymlicka in der Kategorie der „Schwellenbereichstiere“48. Es han­ delt sich dabei oft um synanthrope Tiere; neben den unerwünschten Schädlingen, „deren bloße Anwesenheit Konflikte auslöst und uns Unannehmlichkeiten bereitet“49, gehören auch erwünschte Tiere wie etwa Singvögel dazu und Tiere, denen der Mensch mit gemischten 46 Vgl. Donaldson/Kymlicka 2013, S. 487. 47 In Deutschland ist hier etwa auf die sogenannten „Grünbrücken“ hinzuweisen, die durch die Vermeidung von Wildunfällen auf Autobahnen nicht nur den Tie­ren, sondern auch den Menschen zugutekommen. Vgl. http://www.faz.net/aktuell/ technik-motor/umwelt-technik/gruenbruecken-fuer-tiere-ueber-brueckensollen-sie-gehen-1574587.html (zuletzt eingesehen am 30.4.2015). 48 Vgl. ebd., S. 481ff. 49 Ebd., S. 481.

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Gefühlen gegenüber steht, „[d]ie Einstellungen der Menschen zu Schwellenbereichstieren sind häufig intensiv, aber nur selten un­ kompliziert oder konsequent“50. Die oben bereits angemerkte Will­ kür, die bei den Empfindungen Lästlingen gegenüber waltet, zeigt sich so etwa am Beispiel von Tauben, die von manchen Menschen gefüttert, von anderen lieber vergiftet werden. Eine Bemerkung der Autoren illustriert auch sehr schön, dass wir es bei Schädlin­ gen und Lästlingen mit einem symbolischen Kampf gegen die Un­ kontrollierbarkeit der Natur zu tun haben (wir erinnern uns an die magischen Schädlingsbekämpfungsverfahren), so seien manche Menschen „der Ansicht, […] Schwellenbereichstiere stünden in Wi­ derspruch zu ihrem Bild der Stadt als einer Oase der menschlichen Zivilisation, in der die Natur überwunden oder zumindest genau­ estens kontrolliert wird“51. Schwellenbereichstiere besetzen eine Grauzone zwischen den domestizierten Tieren und den Wildtieren, die den Kontakt mit Menschen zu vermeiden suchen. Zwischen „Opportunisten“ und „synanthropen Tieren“ machen die Autoren eine Unterscheidung. Der Grund dafür ist, dass Opportunisten sich, wenn sie einen Vorteil davon haben, in menschlichen Siedlungsge­ bieten aufhalten können, während bei synanthropen Tieren nicht vollkommen sicher ist, ob sie überhaupt noch außerhalb menschli­ cher Siedlungen überlebensfähig sind (genannt werden der euro­ päische Star, der Haussperling, die Hausmaus und die Wanderrat­ te, also einige Arten, die auch als Schädlinge bekämpft werden)52. Der Ansatz von „Zoopolis“, auch wenn er zunächst utopisch und über die Maßen optimistisch erscheinen mag, ist den Konflikten zwischen Mensch und Schädling gegenüber nicht blind. Es wird le­ diglich, im Sinne eines „expandierenden Humanismus“53 gefordert, auch nicht-menschlichen Tieren gegenüber so human wie irgend möglich zu agieren. Mit dem Bewusstsein im Hinterkopf, dass es sich die Tiere nicht ausgesucht haben (von wenigen Opportunis­ ten abgesehen), in Interaktion mit Menschen zu geraten, wird ein ständiges Austarieren des Mensch-Tier-Gleichgewichtes gefordert. Dieses Prinzip ist der politischen Philosophie nicht unbekannt, auch

50 51 52 53

Ebd. Ebd. Donaldson/Kymlicka 2013, S. 491. Vgl. H. W. Ingensiep, „Expandierender Humanismus, Holismus und Evolution“, in: K. Köchy/M. Norwig (Hrsg.), Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik, Freiburg i. Br. 2006, S. 49-68.

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Rawls’ „Überlegungsgleichgewicht“54 etwa sorgt für eine ständige Anpassung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Bloß waren die­ se Anpassungen bisher eben auf die Interessen von menschlichen Wesen beschränkt. Für die Schädlingsbekämpfung bedeutet dieses Prinzip, dass sie sich, wo praktikabel, der Schaffung von Möglich­ keiten zur Ko-Existenz (etwa durch den Bau von speziellen „Tau­ benhochhäusern“ in der Stadt oder die Schaffung alternativer Er­ nährungsmöglichkeiten für Mäuse und Ratten), wo impraktikabel Lebendfallen und der Umsiedlung in die Wildnis bedienen sollte, denn es kann „durchaus legitime (nichttödliche) Bemühungen geben, die die Angehörigen dieser Spezies davon abbringen oder abhalten sollen, sich in unserer Nähe anzusiedeln“55. Genannte Möglich­ keiten sind etwa Geburtenkontrolle zur Regulierung der Gesamt­ zahl bestimmter Tierarten (durch Impfungen, Habitatkontrolle oder Einführen von Prädatoren) und Steuerung der Nutzung des gemeinschaftlichen Raums (durch Zäune, Netze, sonstige Absper­ rungen und die Schaffung oben genannter geschützter Räume oder Korridore für die Tiere). Haus- und Hygieneschädlinge werden da­ bei mit anderen „Quasi-Personen“ in der Gesellschaft verglichen, „[i]n dieser Hinsicht ähneln sie Kindern oder anderen Wesen mit begrenzten geistigen Fähigkeiten, die manchmal nicht nur um un­ serer, sondern um ihrer eigenen Sicherheit willen überwacht und kontrolliert werden müssen“56. Der Paternalismus wird also hier von Menschen auf Tiere ausgeweitet. Es wird auch durchaus der Tatsache Rechnung getragen, dass Vernunft, weder bei Menschen, noch bei Tieren, ein „An/Aus“-Prinzip ist, sondern dass wir es mit unendlich vielen Abstufungen zwischen Spezies wie auch einzelnen Individuen zu tun haben. Mögen die Gedanken, die „Zoopolis“ zugrunde liegen auch zu­ nächst ungewohnt und radikal erscheinen, so haben sie doch einen zutiefst humanen Kern und werden nicht ins Blaue gesponnen, sondern mit (teilweise schon in Modellversuchen umgesetzten) Lö­ sungsvorschlägen vorgetragen. Auch im Sinne des Verrohungsar­ guments kann es nur wünschenswert sein, dass sich auch die Schäd­ lingsbekämpfung möglichst humaner Methoden, so wenig grausam wie möglich, bedient.

54 Vgl. Rawls 1997, S. 38. 55 Donaldson/Kymlicka 2013, S. 491. 56 Ebd., S. 543.

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Der Stand der Schädlinge ist also, um den Zwischenstand der Untersuchung bis hierher festzuhalten, in der kantischen Ethik zu­ mindest ein schwerer. Kontraktualistische Theorien bekommen in der Regel Probleme mit der Vertragsunfähigkeit nicht-menschli­ cher Tiere generell. Der Versuch von Donaldson und Kymlicka zeigt allerdings, dass eine kontraktualistische Theorie durchaus einige Hinweise auf den moralischen Status und die Behandlung von Tie­ ren im Allgemeinen und den moralischen Status und die Behand­ lung von Schädlingen im Besonderen geben kann. Wie kann eine Theorie unser Verhältnis zu Hygieneschädlingen erhellen, die sich tatsächlich auf Gefühle als Grundlage der Ethik stützt? Was kann hier eine Mitleidsethik leisten? 3.2 Der Schädling in der Mitleidsethik Ethische Theorien, die sich auf Mitleid als Grundlage der Tierethik stützen, haben mit zwei Hauptproblemen zu kämpfen. Das eine Problem betrifft den metaphysischen Vorraussetzungsreichtum der klassischen Mitleidsethiken, das andere betrifft die Frage, ob sich Mitleid (als faktische Emotion) als Grundlage einer Ethik eignet, bzw. verlässlich belastbar ist.57 Gerade im Falle der Schädlingsbe­ kämpfung dürfte dieses Problem relevant werden, da Schädlinge kaum als verlässliche Medien empfundenen Mitleids fungieren werden. Und Mitleid, das nicht empfunden, sondern nur theoretisch verallgemeinert angenommen wird, dürfte eine schwache Motiva­ tion moralischen Handelns darstellen. Der Schritt von der unmit­ telbar motivierenden Emotion zur reflektierten Vernunftentschei­ dung muss dann gegangen werden. Als klassische Vertreter einer Mitleidsethik, die sich auch auf die Tierwelt erstreckt, sollen hier Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Albert Schweitzer (1875– 1965) dienen. Um dem Vorwurf zu entgehen, die Mitleidsethik zu verkürzen und ihr Unrecht zu tun, werden auch neuere, feminis­ tisch orientierte Ansätze angebracht.

57 Die von Schopenhauer beeinflusste Tierethikerin Ursula Wolf schlägt aus eben diesem Grund eine „Konzeption des universalisierten Mitleids“ vor, die von der faktischen Emotion (die man eben hat oder nicht hat) auf ein hypothetisches Mitleid mit allen leidensfähigen Lebewesen abhebt. Vgl. Baranzke/Ingensiep 2008, S. 101-102.

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Arthur Schopenhauer kann als der erste Philosoph gelten, der Tiere unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen in sein ethi­ sches System aufnimmt. Diese Tatsache erklärt auch seinen Einfluss auf die im 19. Jahrhundert erstarkende Tierschutzbewegung (an­ fangs vor allem im deutschsprachigen Raum).58 Libell konstatiert, dass man Schopenhauer als Teil einer Bewegung von einer logo­ zentrischen Ethik (wie wir sie etwa bei Kant finden) zu einer soma­ zentrischen Ethik, die den Körper und die Sinneseindrücke sehr viel stärker als Quellen der Normativität einbezieht, verstehen kann. Man könnte demnach in gewissem Ausmaß von einer „Biologi­ sierung“ der Ethik sprechen.59 Dabei ist Schopenhauer trotz seiner Fokussierung auf empirische Methoden alles andere als ein Mate­ rialist. Arthur Schopenhauers Mitleidsethik, deren Grundlagen er in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) entwickelt, muss sich vor allem den Vorwurf gefallen lassen, dass die metaphysischen Vorannahmen, auf denen sie ruht, extrem stark sind und sich nicht leicht als allgemeine Grundlage einer Ethik etab­ lieren lassen. Schopenhauer setzt an die Stelle eines Schöpfergottes, der die Welt erschaffen hat und sich um seine Kreaturen sorgt (oder eben, wie in der Genesis, bestimmte Kreaturen zum Nutzen des Menschen freigibt), einen blinden Willen, der, nach immer höheren Objektivationen strebend, alle tote und lebende Materie durchläuft, um sich letztlich im Menschen „ein Licht anzuzünden“ und die Er­ kenntnis seiner Wirkungsweise möglich zu machen. Der Leib ist das Medium, über das uns der Wille erfahrbar wird.60 Auf seinem Weg zur höchstmöglichen Objektivation durchläuft der Wille den Widerstand der Lebewesen, die er zu überwinden sucht und führt so zu Schopenhauers Credo dass „ALLES LEBEN LEIDEN IST“61, „[i]m Grunde entspringt dies daraus, daß der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wil­ le ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden.“62 Schopenhauers Willensmetaphysik ist stark von seinen Studien der mythischen in­ dischen Schriften, den Veden und den Upanishaden, beeinflusst. In deren Seelenwanderungstheorien, die Mensch wie Tier gleicherma­ 58 Vgl. M. Libell, Morality beyond humanity. Schopenhauer, Grysanowski and Schweitzer on Animal Ethics, Lunds 2001, S. 63. 59 Vgl. ebd., S. 129. 60 Vgl. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Gesamtausgabe, 4. Aufl., München 2008, S. 155. 61 Ebd., S. 405. 62 Ebd., S. 217.

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ßen zu Containern des sich durch die Geschichte ziehenden Atma, des Lebensatems, machen, findet er eine mystische Entsprechung seiner Theorie des blind durch die Welt wütenden Willens.63 Seine metaphysischen Ideen sucht er dabei ständig durch empirische Be­ obachtungen zu bestätigen. Der Mensch erkennt, dass sich der Wille durch alle Lebewesen kämpft und durchschaut so letztlich das von Schopenhauer so genannte principium individuationis, die Illusi­ on einer von anderem Leben losgelösten Existenz. Die Erkenntnis dieses Schicksals alles Lebendigen führt zunächst zu einem Gefühl des Mitleids gegenüber den Mitmenschen und weitet sich dann auf die Tierwelt aus. Die Erkenntnis des indischen „tat twam asi“ (etwa „dieses Lebendige bist Du“) führt zu einer holistischen Weltsicht, in der die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze als Illusion erkannt verschwimmen, „[u]nd indem nun die das Ganze überden­ kende Vernunft aus dem einseitigen Standpunkt des Individuums, dem sie angehört, heraustrat und von der Anhänglichkeit an das­ selbe sich für den Augenblick los machte, sah sie den Genuß des Unrechtthuns in einem Individuo jedesmal durch einen verhältniß­ mäßig größern Schmerz im Unrechtleiden des andern überwogen, und fand ferner, daß, weil hier Alles dem Zufall überlassen blieb, Jeder zu befürchten hätte daß ihm viel seltener der Genuß des ge­ legentlichen Unrechtthuns, als der Schmerz des Unrechtleidens zu Theil würde.“64 Libell fasst Schopenhauers tierethische Position in drei knappen Grundthesen zusammen: 1. Die Essenz aller Lebewesen (Tier, Mensch, Pflanze) ist identisch. 2. Die Evolution impliziert eine biologische Verwandtschaft des Menschen mit allen anderen Lebewesen, die es möglich macht, auf praktischer Ebene eine Beziehung zwischen ihnen herzustel­ len. 3. Liebe ist die Basis aller Moralität. Mitleid mit anderen Lebewe­ sen und die Erkenntnis des „tat twam asi“ bestätigen die ge­ meinsame Herkunft allen Lebens.65 Es geht Schopenhauer, wie auch den ihm folgenden Mitleidsethi­ kern also um eine Identifikation mit dem Anderen, gleich ob Mensch oder Tier. Dennoch kann man in den Grundlagen der Ide­ 63 Für ausführliche Erklärungen des Einflusses „orientalischer“ Ideen auf Schopen­ hauer und seine Zeitgenossen vgl. Libell 2001, S. 83 ff. 64 Schopenhauer 2008, S. 445. 65 Vgl. Libell 2001, S. 109.

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en Schopenhauers im Buddhismus und Hinduismus eine mora­ lische Hierarchie sehen. Denn die Seelenwanderung verläuft hier nicht ziellos, sondern orientiert sich an den Taten des Individuums in diesem Leben, um die Form des nächsten zu bestimmen. Jemand, der als Küchenschabe oder Ratte wiedergeboren wird, muss also in seinem vorherigen Leben etwas gehörig falsch gemacht haben. Das Konzept des Karma mit seiner kosmischen Gerechtigkeit verträgt sich nicht mit Schopenhauers blindem Willen, er scheint es aber in gewisser Weise aufzunehmen, wenn er von einer universellen Gerechtigkeit spricht. Schopenhauers Ethikkonzeption bleibt auch in vielen Punkten stark logozentrisch, weil zum einen das ausge­ weitete Mitleid Resultat eines Erkenntnisprozesses ist und zum an­ deren die Verneinung des Willens zum Leben und das freiwillige Dahinschwinden durch Verhungern, das die äußerste erreichbare Stufe moralischen Handelns darstellt, dem Weisen vorbehalten bleibt.66 Die Verneinung des eigenen Lebenswillens (die aber nicht von allen Menschen, von Tieren ganz abgesehen, verlangt wird)67 durch Askese führt letztlich zur Verneinung des Willens überhaupt. Auch führt bei Schopenhauer selbst seine Mitleidsethik zwar zu ei­ ner Verdammung der Tierquälerei, nicht aber zu einem generellen Tötungsverbot von Tieren etwa zum Zwecke der Nahrungsgewin­ nung.68 Das Leid der Menschen durch Verzicht auf tierische Nah­ rung würde, gerade in nördlichen Regionen, das Leid der getöteten Tiere aufwiegen. Dass das Leiden der Menschen bei Befall durch Hygieneschädlinge dieses Leiden noch überwiegen würde, dürfte unstrittig sein. Die mangelnde Lebensbejahung, von Lebensfreude ganz zu schweigen, die Schopenhauers Willensmetaphysik anhaftet, wird ebenfalls zu einem Angriffspunkt für Kritiker. Für Albert Schweit­ zer führt Schopenhauers Theorie zu einem „tatenlosen Mitleid“69 und ist daher für eine handlungsorientierte Ethik ungeeignet. Er verankert seine Ethik von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ wieder in einer christlichen Schöpfungslehre. Auch diese Theorie fasst Libell in drei Hauptpunkten zusammen:

66 67 68 69

Vgl. Schopenhauer 2008, S. 515. Vgl. Baranzke/Ingensiep 2008, S. 101. Vgl. ebd. A. Schweitzer, Ehrfurcht vor den Tieren, herausgegeben von Erich Gräßer, Mün­ chen 2006, S. 74.

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1. „Ehrfurcht“ ist das Fundament aller Moral. Liebe und Mitleid sind Teile dieser Ehrfurcht. 2. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist universal: das Krite­ rium für den Einschluss in die Gemeinschaft der moralisch zu berücksichtigenden Gegenstände ist das „Organismus sein“. 3. Das Leben als solches ist heilig. Diese Tatsache erlaubt keinerlei Hierarchisierung oder moralische Relativierung von Lebewesen aufgrund irgendwelcher anderer Eigenschaften.70 Für Schweitzer bedeutet eine richtig verstandene Mitleidsethik die Ehrfurcht vor allem Leben, jede Förderung des Lebens sieht er als sittlich, jede Zerstörung desselben als unsittlich an.71 Damit ist die einzige Dichotomie, die er aufmacht und als ethi­ sche relevantes Kriterium zulässt die von lebendig/nicht lebendig. Eine Ethik, die tatsächlich allem Lebendigen intrinsischen Wert zuschreibt, gerät vorprogrammiert in Konflikte, wenn sich Leben mit anderem Leben nicht verträgt. Schweitzer nimmt diese Kon­ flikte in Kauf, was man ihm als konsequentes Verständnis seiner eigenen Theorie anrechnen kann. Wenn er von dem Menschen als „Massenmörder an Bakterien“72 spricht, wird allerdings auch er­ sichtlich, dass die aus der Ehrfurcht vor allem Leben erwachsene Mitleidsethik kaum eine zufriedenstellende Lösung für lebensprak­ tische Probleme darstellen dürfte. Auch wenn Schweitzer anmerkt, dass uns die Natur durch Notwendigkeit das Recht, Leid zuzufü­ gen gibt, soll jenes Zufügen von Leid für den Menschen immer ein „schweres Müssen“73 sein. Es muss dabei immer ein ausreichender Zweck gegeben sein, der das Leid der Lebewesen aufwiegt. Hier mutet Schweitzers Theorie fast utilitaristisch an (s. unten). Die Vernichtung unsympathischer Tiere (man kann wohl hier die Ka­ tegorie der Lästlinge anbringen) verurteilt er als reine Willkür.74 Man muss durchaus anerkennen, dass eine Mitleidsethik nach die­ sem Muster zumindest ein verstärktes Bewusstsein für die Umwelt hervorbringt, das mit Sicherheit einer grundsätzlichen Sensibilisie­ rung für tierethische und ökologische Probleme zuträglich ist. Der Mensch ist dabei aber zu einem permanenten schlechten Gewissen verurteilt, dessen Beseitigung ihm im Falle der Bekämpfung von 70 71 72 73 74

Vgl. Libell 2001, S. 308-309. Vgl. ebd., S. 71. Ebd., S. 96. Schweitzer 2006, S. 72. Vgl. ebd., S. 81.

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Krankheitserregern und Schädlingen nicht möglich ist. Schweitzer schafft im Grunde genommen eine eigene Variation der christlichen Erbsünde, die den Menschen ebenfalls in eine unangenehme Lage bringt, für die er nichts kann (weil er qua Menschsein in sie hinein­ geboren wird) und die er auch nicht tilgen kann. Norbert Hoerster kritisiert ebenfalls, dass Schweitzers Theorie im Konfliktfall durch die Verweigerung einer irgendwie gearteten Hierarchisierung keine befriedigende Lösung anbieten kann.75 Auch sind die Voraussetzun­ gen, die bei Schopenhauer quasi-religiöser Natur sind, bei Schweit­ zer wieder dezidiert von dem Glauben an einen Schöpfergott nach christlichem Muster abhängig. Damit darf auch hier bezweifelt werden, dass sich die Theorie verlustfrei in andere Kulturkreise oder ins Säkulare übersetzen lässt. Ihren Grad an metaphysischen, zum Mystischen tendierenden Voraussetzungen teilt Schweitzer also mit Schopenhauer. Hoerster bemerkt dazu recht schnippisch, eine Wendung von Schweitzer selbst verwendend „[i]m ‚Irrationa­ len der Mystik‘ erübrigen sich alle Argumente“76. Die Mitleidsethik wird derzeit vor allem in feministisch orien­ tierten Theorien weiterentwickelt und mit dem Begriff der „Für­ sorge“ verknüpft. Vor allem Carol Gilligan setzt mit der FürsorgeEthik (care) einen komplementären Punkt zur Gerechtigkeitsethik (justice) und verortet erstere psychologisch eher bei Frauen und letztere bei Männern.77 Im Sinne einer Erweiterung der Fürsorge auch auf nicht-menschliche Tiere fordert Josephine Donovan, Tiere­ thik müsse „ihre Grundlage im Mitgefühl finden […], in der leiden­ schaftlichen Sorge um das Wohlergehen der Tiere.“78 Nun haben wir im Falle der Hygieneschädlinge eben das Problem, dass ihnen gegenüber wohl eher leidenschaftliche Abscheu oder starker Ekel empfunden wird. Und die Sorge um das Wohlergehen der Tiere dürfte sich spätestens mit der Sorge um das Wohlergehen der Mit­ menschen auflösen. Ursula Wolf, die die Mitleidsethik als Basis ih­ rer eigenen Theorie verwendet und von dem faktisch empfundenen zum universalisierten Mitleid führt (s. o.), kommt zu einem Schluss, der sich gerade in Bezug auf Schädlinge in besonders starker Aus­ 75 Vgl. N. Hoerster, Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der Tierethik, München 2004, S. 23. 76 Hoerster 2004, S. 31. 77 Vgl. C. Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, Mün­ chen 1999. 78 J. Donovan, „Aufmerksamkeit für das Leiden. Mitgefühl als Grundlage der mo­ ra­lischen Behandlung von Tieren“, in: Wolf 2008, S. 120.

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prägung feststellen lässt: „Im Verhältnis der Spezies untereinander lässt sich der Naturzustand nicht überwinden. Hier stoßen wir auf eine Grenze der Moral und der Gerechtigkeit.“79 Diese Feststellung mag für die klassischen kontraktualistischen und viele logozentri­ sche Theorien zutreffend sein. Auch die Orientierung am Mitleid oder der Ehrfurcht kann für Schädlinge nicht viel leisten. Wie steht es aber mit Theorien, die nicht Mitleid, also den Reflex von Leiden, sondern Leid als solches ins Zentrum der Überlegungen stellen? 3.3 Der Schädling im Utilitarismus Utilitaristische Theorien folgen in der Tierethik der „… but can they suffer?“-Formel von Jeremy Bentham.80 Peter Singer vertritt diese Position am prominentesten und hat die Tierethik und Tier­ schutzbewegung mit seinem Werk „Animal Liberation“ in den 70er Jahren des 20. Jhdts. bis heute entschieden beeinflusst.81 Seine Position bezeichnet man als „pathozentrischen Präferenzutilitaris­ mus“. Dabei müssen alle leidensfähigen Lebewesen in ethischen Überlegungen berücksichtigt werden.82 Im Gegensatz zum klassi­ schen Utilitarismus, der an einer zuweilen recht abstrakten Nut­ zensumme orientiert ist, konzentriert sich der Präferenzutilitaris­ 79 U. Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Frankfurt a. M. 2012, S. 170. 80 Ausgehend von der Frage, ob die Hautfarbe eines Menschen ein relevantes Kri­ terium für seine moralische Andersbehandlung ist, erörtert Bentham weiter „[…] It may come one day to be recognized, that the number of legs, the villosity of the skin, or the termination of the os sacrum, are reasons equally insufficient for abandoning a sensitive being to the same fate? What else is it that should trade the insuperable line? Is it the faculty of reason, or, perhaps the faculty of discourse? But a full grown horse or dog, is beyond comparison a more rational, as well as a more conversible animal, than an infant of a day, or a week, or even a month, old. But suppose the case were otherwise, what would it avail? the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?“, J. Bentham, introduction to the principles of morals and legislation, London 1970, S. 283. (Gross- und Kleinschreibung sic.) Bei Bentham findet sich diese für die Tierethik paradigmatisch gewordene Passage wohlgemerkt in einer Fußnote gegen Ende seiner „Principles“. 81 Vgl. P. Singer, Animal Liberation, New York 2002. 82 „Pathozentrismus“ bezieht sich dabei auf das griechische „Pathos“, dass so viel wie Schmerz bedeutet. Da Leid aber nicht zwangsweise Schmerz beinhaltet, trifft m. E. der von Richard Ryder geprägte Begriff „Sentientismus“ den Kern der Probematik besser. Vgl. etwa R. D. Ryder, „Sentientism“, in: P. Cavalieri/P. Singer (Hrsg.), The Great Ape Project. Equality beyond Humanity, New York 1993, S. 220-222.

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mus auf die Summe der erfüllten Präferenzen, wobei verschiedene Präferenzen unterschiedlich stark gewichtet werden. Eine Präferenz kommt einem Lebewesen nach Singer dann zu, wenn es in der Lage ist, Schmerz zu empfinden (die basale Präferenz, Schmerz zu ver­ meiden oder zu beenden).83 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der Utilitarismus, gleich in welcher Ausformung, nicht in der Lage ist, generelle Ver­ bote, etwa ein Verbot der Tierquälerei (oder gar des Mordes) aus­ zusprechen. Alles, was im Utilitarismus, auch im Präferenzutili­ tarismus gut oder schlecht ist, ist nur kontingenterweise gut oder schlecht. Sollte es der Mehrzahl der einbezogenen Präferenzen ent­ sprechen, können (ja, müssen sogar) grundlegende gesellschaftliche Regeln umgeworfen werden. Paradoxerweise letztlich auch der Uti­ litarismus als Berechnungsgrundlage gesellschaftlichen Wohls und ethischen Sollens selbst. Von diesen generellen Überlegungen abge­ sehen, muss man zugeben, dass utilitaristische Abwägungen sich in pragmatischer Hinsicht nicht so schnell in Dilemmata verstricken wie viele deontologische Theorien. Ob dieser Faktor allerdings zwangs­ weise als eine Stärke der Theorie ausgelegt werden muss, ist alles andere als ausgemacht. Mit den Schwierigkeiten, die eine an klas­ sischer Mitleidsethik orientierte Theorie in Bezug auf Krankheitsund Schädlingsbekämpfung hat im Hinterkopf bewegen wir uns im Utilitarismus aber auf lebenspraktischer orientiertem Terrain. Unsere im Fokus der Untersuchung stehenden Hygieneschäd­ linge erfüllen jedenfalls das Kriterium der Leidensfähigkeit und ihre Interessen müssen in ethischen Erwägungen berücksichtigt wer­ den. Dabei stehen ihre basalen Interessen (das Interesse an Leben und Schmerzfreiheit) gegen die basalen Interessen der Menschen (das Interesse an Leben und Schmerzfreiheit/Gesundheit). Was al­ lerdings in Singers Theorie zum Problem wird, ist das sogenannte „Ersetzbarkeitsargument“. Tiere, die etwa schmerzlos getötet und durch andere Tiere ersetzt werden, können die Gesamtheit der er­ füllten Präferenzen stabil halten oder sogar erhöhen. Nun ist die schmerzlose Tötung von Tieren weder in der Schädlingsbekämp­ fung, noch in der Lebensmittelindustrie Standard und Singer, der seine Theorie als praxisorientiert versteht, verweist darauf, dass es eben nicht darum geht, wie Tiere theoretisch getötet werden könn­ ten, sondern wie sie faktisch getötet werden. Im Falle der Schäd­ lingsbekämpfung, wenn wir zu der Überzeugung gelangt sind, dass 83 Vgl. P. Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1994, S. 85.

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die menschlichen Interessen überwiegen und eben diese nötig wird, stellt sich also vor Allem die Frage von Zweck und Mitteln. Der Einsatz von Lebendfallen dürfte dabei ethisch relativ unproblema­ tisch sein. Man müsste natürlich noch das Leid der Tiere, dass durch ihre Trennung von der Population, den Stress in der Falle und die Aussetzung in einer fremden Umgebung, in der sie sich möglicher­ weise als Kulturfolger gar nicht zurechtfinden, in die Waagschale legen. Es ist allerdings anzunehmen, dass das menschliche Interesse an der Vermeidung von Krankheiten in diesem Fall den ausschlag­ gebenden Faktor bei der Handlungsorientierung ausmacht. Singer selbst äußert sich nur am Rande zum Problem der Schädlingsbe­ kämpfung. Er vermerkt allerdings, dass im Falle eines Konflikts zwischen nicht-trivialen Interessen von Menschen und nicht-tri­ vialen Interessen nicht-menschlicher Tiere der Mensch berechtigt ist, seinen Interessen den Vorrang zu geben.84 Singer baut hier eine Hierarchie der Interessenabwägung auf, die den Präferenzen per­ sonaler Lebewesen den Vorrang vor denen nicht-personaler und bloß empfindender Lebewesen einräumt. Andreas Fleury kritisiert diese Position als für Singers Theorie inkonsequent. So sei im Falle der Schädlingsbekämpfung für einen Präferenzutilitaristen nicht zwangsweise von vornherein festgelegt, dass nicht die Zahl der Menschen anstatt der Zahl der Tiere limitiert werden müsse. Dazu kommt eine Schwierigkeit, auf die Martha Nussbaum hinweist; ist der Vergleich von Nutzensummen (oder auch individuellen Präfe­ renzen) schon schwer interpersonal anzustellen, so wird er inter­ spezifisch mindestens noch schwieriger, wenn nicht gar unmöglich.85 Das Einfühlungspotential dürfte dabei neben der phylogenetischen Nähe zur Spezies „homo sapiens“ auch durch die soziozoologische Sympathiestufe einer anderen Art gegenüber gesteuert werden. Damit stehen Schädlinge per se im Abseits der Einfühlungsskala. In Singers Animal Liberation findet sich eine explizite Passage zur Schädlingsbekämpfung: 84 Vgl. A. Fleury, Der moralische Status der Tiere. Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan, Freiburg i. Br., München 1999, S. 140. 85 Vgl. Nussbaum 2010, S. 466. Nussbaum selbst vertritt einen an Aristoteles orien­ tierten Fähigkeiten-Ansatz in der Ethik. Sie versucht dabei, aufgrund der bio­ logischen, psychologischen und sozialen Fähigkeiten und Bedürfnisse eine Kon­ zeption eines „guten Lebens“ zu entwickeln, und das für Menschen wie auch für Tiere. Dieser entelechiale Ansatz setzt sich zwar einerseits schnell dem Vorwurf eines Sein-Sollen-Fehlschlusses aus, birgt aber auch nicht von der Hand zu wei­ sende Vorteile bei der Rahmenabsteckung der Bedingungen eines guten Lebens.

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„When we have to defend our food supplies against rabbits, or our houses and our health against mice and rats, it is as natural for us to lash out violently against the animals that invade our proper­ ty as it is for the animals themselves to seek food where they can find it. At the present stage of our attitudes to animals, it would be absurd to expect people to change their conduct in this respect. Perhaps in time, however, when more major abuses have been re­ medied, and attitudes to animals have changed, people will come to see that even animals who are in some sense ‚threatening‘ our welfare do not deserve the cruel deaths we inflict upon them; and so we may eventually develop more humane methods of limiting the numbers of those animals whose interests are genuinely incompa­ tible with our own.“86 Singer gibt hier also als Lösung einer unauflöslichen Inkompa­ tibilität menschlicher und tierlicher Interessen dezidiert eine Wahl geeigneterer Mittel zur Schädlingsbekämpfung an. Der oben diskutierte Ansatz von Donaldson und Kymlicka dürf­ te dabei Singers Verständnis humaner Methoden alles in allem ent­ sprechen. Jedoch sieht Singer explizit kein generelles Problem in der schmerzlosen Tötung von Lebewesen, die keinen Bezug zu ihrer Biographie haben und deren Extermination kein weiteres, indirek­ tes Leid in ihrer Gemeinschaft (Familie, Population oder welcher Art diese auch immer sein mag) auslöst. Dass er die Schädlingsbe­ kämpfung von offensichtlicheren Fällen des Missbrauchs von Tie­ ren (er konzentriert sich hauptsächlich auf die Nahrungsprodukti­ on und Tierversuche) abkapselt, scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass er im Falle der Schädlingsbekämpfung tatsächlich so etwas wie ein Dilemma der Tierethik sieht, obwohl es im Utilitarismus, wie bereits angemerkt, keine Dilemmata im eigentlichen Sinne geben kann. Es müsste zu einer genauen Angleichung der Interessen der Schädlinge und der Menschen kommen, bevor ein Präferenzutili­ tarist ein solches Dilemma anerkennen könnte. Offenbar ist gerade die Schädlingsbekämpfung ein Gebiet, in dem eben das der Fall sein könnte.

86 Singer 2002, S. 233-234.

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4. Fazit und Ausblick Es sieht so aus, als sei das Gebiet der Schädlingsbekämpfung ein besonders geeignetes Feld, um darin die Ambivalenz und ethisch oft inkonsequente Haltung, die Menschen manchen nicht-mensch­ lichen Tieren gegenüber einnehmen, aufzuzeigen. Selbst ausgewie­ sene Tierrechtler und Tierethiker bekommen mit der Schädlings­ bekämpfung ihre Probleme. Die Geschichte der Schädlingsbekämp­ fung zeugt davon, wie schillernd der Begriff „Schädling“ ist. Von göttlicher Strafe oder teuflischen Interventionen, denen man mit Magie beizukommen versucht, über Bekämpfungsmethoden, die letztlich dem Menschen mehr Schaden zufügen als die bekämpften Schädlinge (zuvorderst DDT) bis hin zum politischen oder ideolo­ gischen Missbrauch des Begriffs zeigen sich die vielfältigen Dimen­ sionen menschlichen Lebens, die von tatsächlichen oder vermeintli­ chen Schädlingen tangiert werden. In einem Abriss (wenn auch nur einiger weniger) wichtiger tie­ rethischer Positionen zeigt sich die Unsicherheit, die auch Philoso­ phen beim Umgang mit Hygieneschädlingen empfinden. Kantische Konzeptionen haben generell Schwierigkeiten, Tiere zu erfassen, wenn diese Tiere dann auch noch vernünftigen Wesen (Menschen) Schaden zufügen, scheint es bei Kant, der Haustieren, die sich mit ihrer Arbeit „verdient gemacht“ haben, durchaus Respekt zollt, schwierig zu werden. Der klassische Kontraktualismus ist aufgrund seiner rechts- und staatstheoretischen Grundstruktur und der an­ genommenen Übereinkunft zwischen mündigen Lebewesen (oder deren Projektionen in einen fiktiven Naturzustand) nicht für tie­ rethische Belange nutzbar zu machen. Donaldson und Kymlicka zeigen aber mit ihrem Versuch der Erarbeitung von Grundlagen zur Etablierung einer Mensch-Tier-Gesellschaft, dass man, durch­ aus auch mit pragmatischer Absicht, das Nebeneinander-Existieren von Menschen und Schädlingen (die dann möglicherweise gar nicht mehr in diese Kategorie gehören müssen) möglich machen oder verbessern kann. Die klassische Mitleidsethik steht Konflikten zwischen Mensch und Tier entweder inkonsequent (Schopenhauer) oder hilflos (Schweitzer) gegenüber. Während diese Theorien durchaus das Be­ wusstsein für Umweltprobleme und tierethische Belange zu schär­ fen vermögen, bieten sie doch im Konfliktfall keine weitere Lösung als ein betroffenes Schulterzucken an. Auch wenn man Schopen­ hauers Einstellung, die Melancholie sei die einzig angemessene https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen

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Art, dem Leben zu begegnen sympathisch findet oder sich in der mystisch-religiösen Verbundenheit mit allen Lebewesen (von denen man manche leider, wenn auch mit schlechtem Gewissen, vernichten muss) wohl fühlt, so ist der Nutzen der Mitleidsethik in Fragen der Schädlingsbekämpfung allenfalls minimal. Unnötige Grausamkeit werden mitleidsethisch orientierte Menschen aber vermeiden. Der pathozentrische Präferenzutilitarismus hat den Vorteil, dass er sich auf die Aufnahme leidensfähiger Lebewesen in die ethische Gemeinschaft beschränkt. Der Nachteil einer solchen Theorie ist die ihm inhärente Kontingenz beim Ausgang der Rechnung. Auch wenn viele Utilitaristen diese als Flexibilität in praktischen Fragen als Stärke ihrer Position herausstellen werden, scheint selbst Peter Singer dem Problem der Schädlingsbekämpfung mit einem gewis­ sen Unbehagen gegenüber zu stehen. Der „expanding circle“ scheint hier, zumindest auf dem derzeitigen Stand der Gesellschaft, an seine Grenzen zu stoßen. Man kann als Fazit der Untersuchung feststellen, dass viele Tiere in existenzieller Hinsicht von der Einordnung in menschengemach­ te Kategorien abhängen. Dass die Kategorie „Schädling“ keine starre Kategorie ist und viele Tierarten neben dieser Kategorie in anderen Kontexten der geschätzten, ja sogar von vielen Menschen gelieb­ ten Gruppe der „Haustiere“ oder „Gefährten“ angehören oder die Grundlage menschlicher Ernährung sichern, zeigt, wie stark unsere Wahrnehmung nicht-menschlicher Tiere anthropozentrisch geprägt ist. Die Bekämpfung von Hygieneschädlingen ist um der Menschen willen notwendig. Aber schon der Begriff „Bekämpfung“, der sich in die stark ausgeprägte Kriegsmetaphorik im Hygienediskurs ein­ reiht87, schließt eine friedlichere Lösung, wie wir sie in „Zoopolis“ durchaus präsentiert bekommen, aus.

Literatur A. Arluke/C. R. Sanders, regarding animals, Philadelphia 1996. H. Baranzke, „Tierethik, Tiernatur und Moralanthropologie im Kontext von § 17 Tugendlehre“, in: Kant-Studien, 96. Jg., S. 336-363. H. Baranzke/H. W. Ingensiep, Das Tier, Stuttgart 2008. J. Bentham, introduction to the principles of morals and legislation, London 1970. P. Cavalieri/P. Singer (Hrsg.), The Great Ape Project. Equality beyond Humanity, New York 1993. 87 Vgl. den Beitrag von Romfeld/Buschlinger in diesem Band.

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S. Donaldson/W. Kymlicka, Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Berlin 2013. A. Fleury, Der moralische Status der Tiere. Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan, München 1999. C. Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1999. T. Hobbes, Leviathan, Stuttgart 1986. N. Hoerster, Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der Tierethik, München 2004. H. W. Ingensiep (Hrsg.), Das Tier in unserer Kultur. Begegnungen, Beziehungen, Probleme, Interdisziplinäre IOS-Schriftenreihe, Band III, Essen, 2015. F. Kafka, Die Erzählungen. Originalfassung, Frankfurt a. M. 2001. I. Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie. Herausgegeben von Werner Stark, Berlin/ New York 2004. H. Kemper, Kurzgefasste Geschichte der tierischen Schädlinge, der Schädlingskunde und der Schädlingsbekämpfung, Berlin 1968. K. Köchy/M. Norwig (Hrsg.), Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Natur­ philosophie und Umweltethik, Freiburg i. Br. 2006. C. M. Koorsgaard, „Kantian Ethics and Our Duties to Animals“, in: Tanner Lectures on Human Values 25/26/2005, S. 77-110. M. Libell, Morality beyond humanity.Schopenhauer, Grysanowski and Schweitzer on Animal Ethics, Lunds 2001. T. Nagel, „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“, in: Nagel, Thomas, Letzte Fragen. Mortal Questions, Hamburg 2008. M. C. Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezi­ eszugehörigkeit, Berlin 2010. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979. J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 2011. P. Sandøe/S. B. Christiansen, Ethics of animal use, Oxford 2008. P. Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1994. P. Singer, Animal Liberation, New York 2002. T. Voigt, Haus- und Hygieneschädlinge, 2. Aufl., PZ-Schriftenreihe, Band 3, Frank­ furt a.M. 1995. D. F. Wallace, Am Beispiel des Hummers, Köln 2010. U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008. U. Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Frankfurt a. M. 2012.

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III. Andere Kulturen und Religionen

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Hygiene in China Von der Einführung westlicher Wissenschaften in China bis zur Hygiene in der harmonischen Gesellschaft

1. Hygiene – (k)ein Konzept in der chinesischen Medizin? Hygiene und Prävention gab es auch schon vor Einführung der westlichen Wissenschaften in China, sie waren jedoch vor allem individuell und nicht wie die westliche Hygiene bevölkerungsorientiert1. Trotzdem war das Konzept übertragbarer Krankheiten in der chinesischen Medizin bekannt. Während die Bevölkerung vor allem Dämonen für die Übertragung von Krankheiten verantwortlich machte, entwickelten konfuzianisch geprägte Denker ein theoretisches Gerüst, in dem kosmologische und meteorologische Faktoren für das Auftreten von (Infektions-) Krankheiten verantwortlich gemacht wurden.2 Die konfuzianische Familienmoral wurde auf die Ordnung des zentralistischen Staates übertragen, um so Beamte loyal an die Regierung zu binden.3 Diese staatlichen Ordnungsstrukturen hatten auch auf die Systematik in der chinesischen Medizin einen bedeutenden Einfluss.4 1 2 3

4

Vgl. J. Needham, L. Gwei-Djen, „Hygiene and preventive medicine in ancient China“, in: J Hist Med Allied Sci 17/1962, S. 429-478. Vgl. B. Volkmar, „The Concept of Contagion in Chinese Medical Thought: Em­ pirical Knowledge versus Cosmological Order“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 22 (2)/2000, S. 147-165. DOI: 10.2307/23332241. Vgl. R. Moritz, M. Li, G. Goldfuss, T. Jansen, Der Konfuzianismus: Ursprünge, Entwicklungen, Perspektiven, Leipzig 1998, S. 20. Der Schriftsteller Lin Yutang (林语堂, 1895–1976) schreibt dazu in „Mein Land und mein Volk“, einer Art Charakterstudie der Chinesen: „Die Chinesen sind ein Volk von Individualisten. Ihre Gesinnung ist auf die Familie gerichtet, nicht auf die soziale Gemeinschaft, und ein solcher Familiensinn ist ja nichts anderes als eine vergrößerte Art von Selbstsucht. Auffallenderweise kommt im chinesischen Geistesleben das Wort „Gesellschaft“ als ein gedanklicher Begriff gar nicht vor. In der sozialen und politischen Philosophie des Konfuzianismus finden wir einen unmittelbaren Übergang von der Familie (chia) zum Staat (kuo), die also als zwei ineinander übergehende Stufen menschlicher Ordnung empfunden werden (...)“, Lin, Mein Land und mein Volk, Stuttgart 1946, S. 217. Vgl. P. U. Unschuld, Medizin in China: Eine Ideengeschichte, München 1980, S. 60.

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2. Einführung westlicher Wissenschaften in China „We desire to introduce the different departments of science, already in a high condition of development, among a people whose language has not been developed along these lines, and which in its present condition is inadequate for their proper expression.“5 Das westliche Konzept der Hygiene kam in der Qing-Zeit Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Einführung westlicher Wissenschaften über verschiedene Wege nach China. Christliche Missionare eröffneten Gesundheitsstationen in chinesischen Städten. In diesen Gesundheitsstationen wurde vor allem individualmedizinisch und kurativ behandelt, die öffentliche Gesundheit und Aufklärung der Bevölkerung hatten nur wenig Bedeutung.6 Trotzdem spielten die Missionare eine wichtige Rolle für die Einführung des westlichen Verständnisses von Hygiene, u. a. durch die Übersetzung zahlreicher westlicher Fachbücher in das Chinesische.7 Mit dem Angebot der Gesundheitsversorgung und Hygiene war jedoch auch der Gedanke an Missionierung der chinesischen Bevölkerung, und auch das Eindringen westlicher Mächte verbunden. Um die Jahrhundertwende gab es immer mehr Intellektuelle, die im Ausland (Europa, USA, Japan) studiert hatten, und das dort erworbene Wissen genauso wie neue Denkkonzepte zurück nach China brachten.8 Zeitgleich 5 6 7

8

S. A. Hunter, „Medical nomenclature“, in: The Medical Missionary Journal, 1890, S. 148-149. Vgl. K. Yip, Health and national reconstruction in Nationalist China: The de­ velopment of modern health services, 1928–1937, Ann Arbor, Mich 1995, S. 21. Vgl. J. L. Barton, „The Modern Missionary“, in: The Harvard Theological Re­ view 8 (1)/1915, S. 1-17, DOI: 10.2307/1507310, S. 13: „Beyond this, medical missions have introduced ideas of hygiene and sanitation. It would seem as if the East must have been long ere this completely depopulated through universal violation of every known law of sanitation.“ Lu Xun (鲁迅, 1881–1936), einer der berühmtesten Schriftsteller Chinas, schil­dert seine Motivation und Erfahrungen mit dem Auslandsstudium folgendermaßen: „Aus übersetzten Geschichtswerken erfuhr ich auch, daß die Umgestaltung Japans in großem Ausmaß auf die Einführung der medizinischen Wissenschaft des Westens nach Japan zurückzuführen war. Diese Hinweise veranlaßten mich zum Übergang in die medizinische Fakultät in einer Provinzstadt Japans. Ich träumte, ich würde, nach China heimgekehrt, Patienten wie meinen Vater, der falsch behandelt worden war, heilen können; und wenn ein Krieg ausbräche, wollte ich als Arzt im Heer dienen und gleichzeitig den Glauben meiner Landsleute an die Umgestaltung stärken (...) In Tokio gab es damals viele chi­ nesische Studenten; sie studierten Jura, Staatswissenschaften, Physik und Chemie, sogar Polizeitechnik, aber kein einziger studierte Literatur oder Kunst.“, X. Lu 鲁迅 Na han 呐喊. Aufruf zum Kampf. 第1 版, Beijing 北京 2002, S. 2-3.

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drängte auch Japan nach China, das während der Meiji-Periode (1868–1912) im Zuge der Modernisierung und Stärkung des Staates westliche Wissenschaften eingeführt und auch in China verbreitet hat.9 Die damit verbundene Skepsis der Bevölkerung gegenüber den neuen Methoden konnte erst nach und nach überwunden werden. Es gab drei Möglichkeiten Begriffe und Konzepte aus europäischen Sprachen ins Chinesische zu übersetzen. Es konnte auf bereits bestehende Begriffe zurückgegriffen werden, indem man auf die chinesischen Werke zu Wissenschaft und Kultur zurückgriff. Man konnte neue Begriffe erschaffen, indem man neue Zeichen (-Kombinationen) benutzte oder neue beschreibende Begriffe verwendete. Schließlich konnte man auch die Aussprache des westlichen Begriffs phonetisch mit Hilfe chinesischer Silben nachahmen.10 Dies lässt sich am Begriff „Wissenschaft“ bzw. der englischen Übersetzung „science“ sehr gut darstellen. Bis ins 19. Jahrhundert verwendeten sowohl westliche als auch chinesische Übersetzer das Konzept gewu zhizhi (格物致知).11 Dieses Konzept wurde später von Chinesen, die im Ausland studiert hatten und dort das westliche Konzept der Wissenschaft erfahren haben, als ungeeignet identifiziert, sodass zum Ende des 19. Jahrhunderts viele lieber auf die auch im Japanischen verwendete Übersetzung von Wissenschaft als die „in Kategorien eingeteilte Lehre“ (kexue 科学) zurückgriffen. 9 Vgl. R. C. Croizier, Traditional medicine in modern China: Science, nationalism, and the tensions of cultural change, Cambridge 1968. 10 Vgl. B. A. Elman, On their own terms: Science in China 1550–1900, Cambridge Mass 2005, S. 363. 11 Vgl. R. Moritz, M. Li, G. Goldfuss, T. Jansen, Der Konfuzianismus: Ursprünge, Entwicklungen, Perspektiven, Leipzig 1998, S. 20: „Ge wu – dies wird als Mittel genannt, um die Einsicht zu gewinnen, daß den Dingen eine einheitliche in­tegrative Normativität zugrunde liegt, die der mit bewußter moralischer Ver­antwortlichkeit ausgestattete Mensch als Teil dieser Welt in seinem Ver­ halten auszuprägen hat.“ Beim neokonfuzianischen Philosophen Zhu Xi (朱熹, 1130-1200) wurde gewu zhizhi als Möglichkeit zu moralischen Verbesserung verstanden: „Es setzt voraus, daß der Mensch sein eigentliches Wesen bewahrt, denn das ist die Öffnung des ego zum alter. Voraussetzung dafür ist ge wu zhi zhi (den Dingen auf den Grund gehen und Einsicht gewinnen), mit Hilfe von Lehrern und Büchern. Dies bedeutet, daß sich der Mensch eben nicht von der singulären Existenz der ihn affizierenden Dinge leiten läßt, daß er eben nicht nur Dinge sieht, wie sie sich empirisch darstellen – das würde zu einem naturwissenschaftlichen Zugang führen-, sondern daß er begreift, wie die Dinge sein müssen, wie sich in ihrer empirisch wahrnehmbaren Existenz ihr Sollen manifestiert und wie dieses Sollen auf das identische Wesen aller Dinge verweist.“, Moritz 1998, S. 32.

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Im politischen Diskurs wurde „science“ während der Vierte-MaiBewegung auch phonetisch als saiyinsi 赛因斯 oder auch als Mr. Science (Sai xiansheng 赛先生 [Herr Wissenschaft]) übersetzt.12, 13 In China wird für Hygiene der Begriff weisheng (卫生) verwendet. Der Begriff setzt sich aus den Bestandteilen wei für verteidigen, beschützen oder bewahren und sheng14 für Leben zusammen. Dieser Begriff wurde von dem japanischen Arzt Nagayo Sensai (長与 専斎, 1838-1902) gewählt, nachdem er in Europa und Amerika sowohl die verschiedenen Konzepte von Hygiene als auch Begriffe in den verschiedenen Sprachen kennen gelernt hatte. Wobei er bei der Wahl des Begriffes auf den daoistischen Klassiker „Zhuangzi“ (莊子) zurückgriff, in dem ein Kapitel auch die Mittel zur Wahrung des Lebens behandelt15. Für das neu eingeführte Konzept der Hygiene wurde ein Begriff gewählt, der neben der neuen Bedeutung auch noch alte Konnotationen mit sich führt. Hygiene (卫生, japanische Aussprache: eisei) war nach Ansicht von Nagayo Sensai ein wichtiger Schlüssel für die Schaffung einer wohlhabenden und mächtigen Nation.16 Seit der Qing-Zeit wurden viele wissenschaftliche Werke zur Hygiene in das Chinesische übersetzt, die Auswahl der übersetzten Werke prägt heute teilweise noch immer den wissenschaftlichen Diskurs in China. Der Begriff Hygiene erfuhr um die Jahrhundertwende eine Bedeutungserweiterung. Es ging nicht mehr nur um die verschiedenen individuellen Hygienepraktiken, sondern er war eng mit dem Konzept der wissenschaftlichen Forschung auf den Gebie12 Vgl. Franke 1957, S. 49. 13 Ein weiteres Beispiel ist die Übersetzung für Tuberkulose: Während Benjamin Hobson Schwindsucht mit dem chinesischen Begriff lao 痨 beschreibt, hat er sich bei Tuberkel für eine phonetische Übersetzung entschieden (dubikali 都 比迦力). Aus dem Japanischen hat sich dann später die Neuschöpfung aus der Zusammensetzung von Lunge (fei 肺) und Knoten (jiehe 结核) durchgesetzt (vgl. B. J. Andrews, „Tuberculosis and the assimilation of germ theory in China, 1895–1937“, in: J Hist Med Allied Sci 52 (1)/1997, S. 114-157, S. 123-124 und S. 131). 14 Vgl. W. Bauer, China und die Hoffnung auf Glück: Paradiese, Utopien, Ideal­ vorstellungen in der Geistesgeschichte Chinas, München 1989, S. 66: Im Ge­ gensatz zur europäischen Philosophie und entsprechend in den Sprachen wird im chinesischen Denken zwischen zwei Konzepten von Leben unterschieden. Sheng (生) ist dabei „das Leben als Kraft, das die gesamte ‚lebendige‘ Natur vereint“, im Gegensatz zu ming (命), „das Leben als eine individuell ‚erlebte‘, vom Schicksal oder vom eigenen Willen geformte Zeitspanne“. 15 Vgl. R. Rogaski, Hygienic modernity, Berkeley 2004, S. 136, R. Wilhelm, Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, München 2004, S. 304. 16 Vgl. Rogaski 2004, S. 137.

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ten der Chemie, Physiologie und Bakteriologie verbunden. Der eigentliche Zweck für die Umsetzung der Hygiene, der Gesundheitsschutz der Bevölkerung, war jedoch die Stärkung der Nation.17 „Zwar war die westliche Medizin, im Rückblick besehen, um die Jahrhundertwende noch weit von den diagnostischen und therapeutischen Leistungen unserer Gegenwart entfernt, doch scheint es, als hätten vor allem zwei Aspekte den nach Reformen strebenden Chinesen das naturwissenschaftliche Heilsystem ihren eigenen medizinischen Traditionen überlegen erscheinen lassen. Es waren dies zum einen der Bereich der Gesundheitspolitik und der öffentlichen Hygiene.“18 In der chinesischen Kosmologie wurden übertragbare Krankheiten mit gesellschaftlichen Spannungen und sozialer Unordnung gleichgesetzt. Die Neokonfuzianer sahen in den übertragbaren Krankheiten eine Gefahr für die Einheit der Familie und des Staates sowie der gesamten sozialpolitischen Ordnung.19 Im 20. Jahrhundert wurde andersherum argumentiert. Die engen Familienbeziehungen wurden als begünstigender Faktor für die Ausbreitung von Tuberkulose in China angesehen. Dementsprechend haben sich die Public-Health-Maßnahmen auf die Individualisierung der Verhaltensweisen fokussiert.20

3. Wie Hygiene und Public Health sich in China durchgesetzt haben China galt unter den Missionaren als kranker Mann Asiens. Der kranke Körper China musste durch Hygiene gerettet werden.21 Dennoch konnte sich die westliche Medizin und Hygiene nicht sofort nach Einführung bei der chinesischen Bevölkerung durchsetzen, Vorzüge gegenüber dem eigenen Medizinsystem wurden zunächst nicht gesehen. Die Gesundheitsstationen der Missionare 17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 160. Unschuld 1980, S. 203. Vgl. Volkmar 2000, S. 162. Vgl. S. Lei 雷祥麟, „Habituating Individuality: The Framing of Tuberculosis and Its Material Solutions in Republican China“, in: Bulletin of the History of Medicine 84 (84)/2010, S. 274: „As a metaphor, tuberculosis in China did not symbolize the pathological cost of modernity but rather the weight of traditional habits and family structures, which prevented China from entering the modern individualistic society.“ 21 Vgl. Rogaski 2004, S. 304.

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waren meist spärlich ausgestattet und viele Methoden stießen in der Bevölkerung auf Skepsis. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts hat die US-amerikanische Rockefeller-Foundation das Peking Union Medical College (PUMC) gegründet. Das PUMC war im Gegensatz zu den Gesundheitsstationen der Missionare nicht nur ein modernes Krankenhaus, sondern auch Ausbildungsort für Medizin und Public Health.22 Mit der Niederlage im Sino-Japanischen Krieg (1894–1895) und der Besetzung der Mandschurei durch Japan wurde jedoch bei einigen Intellektuellen der Wunsch nach der Stärkung Chinas geäußert. Durch die Adaption westlicher Wissenschaften hofften die Chinesen, sich wie Japan gegen die imperialen Mächte behaupten zu können. Dabei wurde sich stark an Japan orientiert. Im Bereich der Medizin haben die Japaner viele Theorien aus Deutschland, darunter auch die von den übertragbaren Krankheiten, übernommen.23 3.1 Pest in der Mandschurei „Out of China’s plague did come changes that began to modernize its medicine and public health.“24 Als einer der Durchbrüche westlicher Medizin in China gilt die Bekämpfung der Lungenpest in der Mandschurei (1910–11). In westlicher Medizin ausgebildete Ärzte wie Wu Liande (伍连德, 1879–1960) setzten erfolgreich Quarantänemaßnahmen ein und demonstrierten die Überlegenheit der westlichen Medizin.25 Der erfolgreiche Einsatz von Hygienemaßnahmen, die auf westlichen Theorien beruhten, war aber auch eng verknüpft mit den politischen Konflikten zwischen den chinesischen Qing-Herrschern und japanischen und russischen Besatzern.26 In den von Japan besetzten Gebieten in China war Hygiene durch

22 Vgl. Yip 1995, S. 23-4: „PUMC also pioneered public-health education.“ 23 Vgl. Andrews 1997, S. 149: „In general, those who studied from Japanese learned the western medicine of early twentieth-century Germany, with a strong em­ phasis on germ theory and laboratory science.“ 24 E. Chernin, „Richard Pearson Strong and the Manchurian Epidemic of Pneu­ monic Plague, 1910–1911.“ In: J Hist Med Allied Sci 44/1989, S. 318. 25 Vgl. B. A. Elman, A cultural history of modern science in China, Cambridge, Mass 2006, S. 209. 26 Vgl. S. Lei 雷祥麟, „Habituating Individuality: The Framing of Tuberculosis and Its Material Solutions in Republican China“, in: Bulletin of the History of Medicine 84 (84)/2010, S. 248-279.

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die Möglichkeit der Kontrolle der Bevölkerung auch ein Mittel zur Umsetzung der Interessen der Besatzer.27

4. Hygiene als politisches Instrument im 20. Jahrhundert in China 4.1 Vierte-Mai-Bewegung In der Republikzeit (1912–1949) wurde der Diskurs über individuelle Hygiene mit der Diskussion über den „chinesischen Charakter“ verbunden. Die Umsetzung moderner, in diesem Fall westlicher individueller Hygienemaßnahmen sollte auch zur Formung des Individuums und so zur Bildung und Festigung der neuen Nation beitragen.28 Unter dem Begriff „Vierte-Mai-Bewegung“ werden verschiedene Denkansätze zusammengefasst, die teilweise widersprüchlich sind. Die chinesischen Intellektuellen waren sowohl nationalistisch, indem sie sich gegen die kulturellen Traditionen, aber auch die ausländischen imperialistischen Mächte wandten, als auch internationalistisch, indem sie Denkkonzepte und Werte, von denen sie einen universellen Charakter annahmen, aus dem Ausland übernahmen. Daraus entwickelten sich Spannungen, Probleme und Kontroversen, die bis heute zum Teil ungelöst sind. Dazu zählt unter anderem der Widerspruch zwischen dem Nationalismus, der eine bedeutsame Beziehung zur eigenen nationalen Vergangenheit voraussetzt, und der totalen, ikonoklastischen Ablehnung der chinesischen Vergangenheit, sowohl auf dem Gebiet der Geschichte, als auch der Kultur.29 Chen Duxiu (陈独秀, 1879–1942), einer der wichtigsten Vertreter der Bewegung, schrieb in seinem Aufruf an die Jugend: 27 Vgl. Rogaski 2010, S. 156: „The history of biomedicine and public health (weisheng) has in fact inextricably combined the two: health and violence, cleanliness and coercion, religious benevolence and scientific objectification.“ Chernin 1989, S. 296-297: „The epidemic also provided Russia and Japan with a potential excuse to take over plague control – and perhaps more – in Chinese territory, incursions the Chinese Government obviously wished to avoid. 28 Vgl. S. Lei 雷祥麟, „Moral Community of Weisheng: Contesting Hygiene in Re­publican China.” In: East Asian Science 3 (4)/2009, S. 475-504. DOI: 10.1007/ s12280-009-9109-2. 29 Vgl. Meisner 1973, S. 21.

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„Unsere Ärzte kennen keine Wissenschaft; sie verstehen weder etwas von menschlicher Anatomie, noch die Zusammensetzung von Arzneien; Bakterien und übertragbare Krankheiten, davon haben sie noch nie gehört.“30 Die Abkehr vom traditionellen Wissen und die Hinwendung zu den westlichen Wissenschaften, einschließlich Medizin und Hygiene, wurde als notwendige Bedingung für die Modernisierung des Staates angesehen. 4.2 Koreakrieg Im Jahr 1952 gab es Berichte darüber, dass im Koreakrieg Biowaffen von den USA eingesetzt worden wären. Angeblich hatte man zahlreiche Vektoren gefunden, in denen nach Aussagen der chinesischen Behörden verschiedenste Krankheitserreger, die Pest und Cholera verursachen, nachgewiesen wurden.31 In der Folge wurden Komitees zur Prävention von Epidemien gegründet, die die ersten Strukturen für die Mobilisierung der Massen und die Durchführung von Hygienekampagnen bildeten.32 So konnte auch die bis dahin in der Allgemeinbevölkerung wenig bekannte Theorie von den Krankheitserregern und Infektionskrankheiten weite Verbreitung finden.

30 D. Chen 陈独秀, „Jinggao qingnian“ 敬告青年 [Aufruf an die Jugend], in: Qing­ nian zazhi 青年杂志 [Jugend-Zeitschrift], 1卷1号/1915, Übersetzung M. D. 31 Vgl. N. Yang, „Disease prevention, social mobilization and spatial politics. The anti germ-warfare incident of 1952 and the ‚patriotic health campaign‘.“ In: The Chinese historical review 11 (2)/2004, S. 155-182; S. C. Lynteris, The spirit of selflessness in Maoist China: Socialist medicine and the new man, Basingstoke 2013, S. 19: „Since 28 January the enemy has furiously employed continuous bacterial warfare in Korea and in our Northeast (...), dropping flies, mosquitoes, spiders, ants, bedbugs, fleas in a very wide area ... Examination confirms that the pathogenic micro-organisms involved are plague bacillus, cholera, meningitis, paratyphoid, salmonella, relapsing fever, spirochaeta bacteria, typhus rickettsia etc (...)“. 32 Vgl. Lynteris 2013, S. 20, Yang 2004, S. 169: „Nationalistic and anti-imperialist emotions could awaken and mobilize the masses, as well as channel mass actions toward desired political goals, but it would take a more stable institutional arrangement to consolidate these gains.“

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4.3 Patriotische Hygienekampagne Nach Gründung der Volksrepublik China (1949) gehörten zu den Leitprinzipien, die zu einer Verbesserung des Gesundheitswesens beitragen sollten, neben der Versorgung der Bauern und Arbeiter und der Verbindung von westlicher und chinesischer Medizin auch Präventionsmaßnahmen sowie Massenkampagnen. Dies führte zur Durchführung der „Patriotischen Hygienebewegung“ (aiguo wei­ sheng yundong 爱国卫生运动). Neben der Bekämpfung von Infektionskrankheiten sollte damit auch die Mobilisierung der Bevölkerung und so eine Politisierung der Massen zur Verbreitung der maoistischen Ideologie erreicht werden.33 „Die politischen Exzesse und negativen Erfahrungen (...) haben das Gesundheitsministerium ihres effektivsten politischen Steuerungsinstruments beraubt.“34 Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik Chinas, die 1978 zwei Jahre nach dem Tod Mao Zedongs (毛 泽东, 1893–1976) begann, steht das Wirtschaftswachstum im Fokus der politischen Maßnahmen. Die Gesundheit der Bevölkerung sichert den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas, Gesundheit ist also nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht, die es während Epidemien (z. B. SARS) u. a. mit hygienischen Maßnahmen aufrechtzuerhalten galt:35 „Under the current regime of medical police, health in China constitutes an enduring debt, which encloses an ever expanding range of social and individual activities, behaviours and relations in a biopolitical regime of exception whose role is to guarantee the perpetuation of the Party-State and its ‚harmonious society‘.“36

33 Vgl. F. R. Sandbach, „Farewell to the god of plague – the control of schistosomiasis in China“, in: Soc Sci Med 11 (1)/1977, S. 27–33; Yang 2004. 34 S. Klotzbücher, Das ländliche Gesundheitswesen der VR China: Strukturen – Akteure – Dynamik, Frankfurt a. M. 2006, S. 141. 35 Vgl. C. Lynteris, „State of exception, culture of medical police. SARS and the law of no rights in the People’s Republic of China“, in: Alex Mold und David Reubi (Hrsg.), Assembling health rights in global context. Genealogies and anthropologies, London 2013, S. 169. 36 Ebd., S. 183.

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5. Harmonische Gesellschaft durch Hygiene Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Ungleichheit, die im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik der 1980er Jahre und dem daraus resultierenden Wirtschaftswachstum in China entstanden ist, führte Hu Jintao (胡锦涛, geboren 1942), 2002 bis 2012 Präsident der Volksrepublik China, das Konzept der „harmonischen Gesellschaft“ (hexie shehui 和谐社会) ein.37 Auch dieses Konzept wurde auf die Hygiene (hexie weisheng 和谐卫生[harmonische Hygiene]) übertragen, um zu einer größeren Harmonie im Gesundheitswesen zu führen. Denn das chinesische Gesundheitswesen sieht sich mit vielen Problemen konfrontiert. Dazu gehören u. a. die kommerzielle Ausrichtung der Versorgungseinrichtungen, unzureichende Krankenversicherungssysteme und Korruption, die zu einem Vertrauensverlust im Verhältnis von Arzt und Patient geführt haben.38 Auch deshalb ist ein wichtiger Teil der hexie wei­ sheng die harmonische Beziehung zwischen Arzt und Patient (hexie yihuan guanxi 和谐医患关系), die als ein wichtiger Bestandteil der Reformen des chinesischen Gesundheitssystems von der Vorsitzenden der Staatlichen Kommission für Gesundheitswesen und Familienplanung Li Bin (李斌, geboren 1954) identifiziert wurde.39

6. Fazit Zusammenfassend kann man sagen, dass seit Einführung des Konzepts Hygiene in China Hygiene nicht nur zur Verhütung von Infektionskrankheiten eingesetzt wurde, sondern Hygienemaßnahmen stets auch vor einem politischen Kontext mit bestimmten Zielen wie der Formung oder Politisierung des Individuums durchgeführt wurden. Es wird deutlich, dass die verschiedenen Autoren die Be37 Vgl. L. Song, „Walking towards Harmonious Society from ‚Risk Society‘“, in: Jianghai Academic Journal (4)/2007, S. 154-161. 38 Vgl. O. Döring, „Chinesisches Gesundheitswesen: Eine Kultur ohne Vertrauen“, in: Dtsch Arztebl International 105 (34-35)/2008, S. 1782-. Online verfügbar unter http://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=61242. 39 Vgl. B. Li 李斌, „Shenhua yiyao weisheng tizhi gaige“ 深化医药卫生体制改革 [Die Reform des Gesundheitssystem vertiefen]. 2013. Online verfügbar unter http://www.gov.cn/jrzg/2013-12/02/content_2539927.htm, zuletzt geprüft am 01.03.2014.

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Hygiene in China

griffe „Hygiene“ und „weisheng“ sehr unterschiedlich verstehen, definieren und in ihrer Argumentation einsetzen. Dabei werden die vielfältigen Dimensionen, unter denen die Hygiene betrachtet werden kann deutlich. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Konzepte von Individuum und Masse, die je nach politischer Absicht mit Hygiene in Verbindung gebracht werden können. Wurde in der Vierte-Mai-Bewegung Hygiene noch als moderne Technik, den Individualismus zu fördern, angesehen, trug die Hygiene während der Patriotischen Hygienebewegung zur Mobilisierung der Massen bei.

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Hygiene in der Mongolei

Die Mongolei, der flächenmäßig zweitgrößte Binnenstaat der Welt, befindet sich zwischen Zentral- und Ostasien und grenzt nur an zwei Nachbarn: nördlich an Russland und südlich an China. Das Wetter in der Mongolei ist sehr trocken und hart, die Temperaturen reichen von minus 40° Celsius im Winter bis plus 40°C im Sommer. In der Mongolei wird hauptsächlich nomadische Viehwirtschaft betrieben. Die Hauptglaubensformen sind Buddhismus und Schamanismus.

Abb. 1: http://de.wikipedia.org/wiki/Mongolei.

Das Land ist reich an Bodenschätzen und gilt als eines der zehn rohstoffreichsten Länder der Welt. In der Mongolei finden sich u. a. Kohle, Kupfer, Uran, Erdöl, Gold, Silber und Seltene Erden. Daher besteht die Chance auf eine deutliche Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards, besonders in Anbetracht der sehr kleinen Bevölkerung des Landes. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Auf einer Fläche viereinhalbmal so groß wie Deutschland wohnen 3 Millionen Menschen. Der drei-millionste Bürger wurde im Januar 2015 geboren und jährlich begrüßt die Mongolei etwa 70.000 Neugeborene. Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt bei Frauen 75 und bei Männern 65 Jahre (Stand: 2013). In der Hauptstadt Ulaanbaatar wohnt rund die Hälfte der Bevölkerung der Mongolei und jeden Tag kommen mehr Menschen hinzu. Die Infrastruktur, die lediglich für etwa 500.000 Bürger aufgebaut wurde, kann nicht so schnell für die wachsende Einwohnerzahl ausgebaut werden. Die Stadt ist umringt von Siedlungen (Ger districts) aus Jurten oder Ger. Ein Ger ist die traditionelle, nomadische Behausung. Sie besteht aus einem runden Holzgerüst, das mit Filztextilien eingedeckt wird. 60 % der Einwohner von Ulaanbaatar hausen darin, ohne fließendes Wasser und ohne zentrale Sanitäranlagen. Im Jahr 1206 gelang es Chinggis Khan, den alle Mongolen verehren, die heterogenen Stämme zu einen und das mongolische Reich zu gründen, das als größtes zusammenhängendes Reich der Geschichte bis nach Europa reichte. Die Mongolei war über Jahrhunderte unter chinesischer Herrschaft, 1911 gelang ihr die erfolgreiche Unabhängigkeitserklärung. Nach erneuter Besetzung erlangte die Mongolei unter Sukhbaatar 1921 endgültig die Unabhängigkeit, wurde 1924 nach Russland als zweites Land kommunistisch und blieb es bis 1989. Seit 1990 ist die Mongolei eine parlamentarische Demokratie, die als stabilste Demokratie Zentralasiens gilt.

Das Gesundheitswesen der Mongolei Im Gesundheitssektor arbeiten 41.000 Angestellte in 1646 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Sie behandeln im Jahr mehr als 4,5 Millionen ambulante und 730.000 stationäre Patienten. Der durchschnittliche Aufenthalt im Krankenhaus beträgt etwa 9 Tage. Mongolen mögen einen stationären Aufenthalt, weil sie aus weit entfernten Orten zum Krankenhaus kommen und außerdem die Verwandten die Patienten sehr oft besuchen, was das Krankenhaus allerdings sehr belastet. Vor 1921 kannten die Mongolen nur buddhistisch-tibetische traditionelle Medizin. Durch die Revolution und die Russen kam https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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die moderne Medizin und damit auch die ersten Schritte in eine moderne Hygiene- und Infektionskontrolle. Von 1941 bis 1990 wurden das zentral organisierte Gesundheitssystem und dessen Infrastruktur erweitert und das Land wurde unter Einfluss der Sowjetunion entwickelt. Der Film „Сэрэлт“ (Aufwachen) von 1957 zeigt die beschwerliche Einführung der modernen Medizin in der Mongolei. Die Geschichte spielt im Jahr 1928 und erzählt von der Auseinandersetzung einer Familie mit der „richtigen“ Behandlung der unter einer Infektion leidenden Tochter. Dabei bestehen die einen auf traditionell-religiösen Methoden, wohingegen die anderen für die westliche Schulmedizin plädieren. Die Geschichte der Entwicklung der Hygiene und der medizinischen Infektionskontrolle kann man in 4 Etappen einteilen: • 1921 wurde erstmals ein Public-Health-Sektor etabliert, nach der Revolution und unter dem Einfluss der UdSSR. Die Russen brachten erstmals westliche moderne Medizin in das Land, in dem bis dahin nur buddhistisch-tibetische Medizin betrieben wurde. • 1960 wurden sanitäre und epidemiologische Dienste in der Mongolei etabliert und die ersten Empfehlungen dazu veröffentlicht. • 1997 wurde am National Center for Communicable Disease die erste Infection Prevention Control Management Unit etabliert und es erschien eine ministerielle Verordnung zum Umgang mit Infektionskrankheiten. Die Verordnung wurde bis heute mehrfach geändert und angepasst. • 2011 wurde eine Infection Prevention and Control Strategy erlassen für die Jahre 2012 bis 2016. Ein Staatssekretär ist Vorsitzender des National Infection Prevention and Control Committee (IPC) beim Gesundheitsministerium. Gleichzeitig mussten alle Einrichtungen des Gesundheitswesens eine Hygienekommission einrichten. Seit 2011 führt die General Agency for Specialized Inspection regelmässige, Checklisten-basierte Audits in Einrichtungen des Gesundheitswesens durch. So wurden einige Erfolge erzielt, aber weiter gibt es Probleme, die noch gelöst werden müssen. Die Grafik auf der folgenden Seite gibt die grundsätzliche Struktur des Hygienemanagements in der Mongolei wieder. Allerdings ist die Kooperation zwischen den Entscheidungsträgern, den Ärzten und den Hygiene-Verantwortlichen überwiegend gering. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Die Verbesserung der Infektionsprävention und -verhütung wird auch durch internationale Geldgeber und Initiativen unterstützt, so die Asian Development Bank (ADB), den Global Fund (GF – in der Mongolei insbesondere bezüglich AIDS und Tuberkulose), die WHO und das deutsch-mongolische Mongolian Emergency Service Hospital Hygiene Project (MeshHp). Bisher wird relativ wenig Geld in das Gesundheitswesen investiert. Die Gesundheitsausgaben in der Mongolei machen nur 3,3 % des Bruttosozialproduktes aus1 – zum Vergleich: Sie betragen 15,4 % in den USA, 10,4 % in Deutschland, 9,1 % in Schweden, 5,4 % in Russland und 4,3 % in China. Die Laborqualität und generell die medizinische Qualität wird von den meisten Mongolen als fragwürdig eingeschätzt. Daher lassen Mongolen, die es sich leisten können, sich sehr oft lieber im Ausland – z. B. Korea, Thailand, USA, Deutschland oder auch Japan – behandeln.2

1 2

Vgl. M. Rimmele, Challenges to the establishment of universal health systems. A case study of Mongolia and Central Asian Countries, Master of Public Policy (MPP) Thesis, Berlin 2011. Vgl. B.-E. Ider, A. Clements, J. Adams, M. Whitby, T. Muugolog, „Organisation of hospital infection control in Mongolia“, in: J Hosp Infect 2010a, 75, 209-213.

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Infektiologische Situation in der Mongolei Die häufigste Infektionskrankheit in der Mongolei ist die Tuberkulose mit über 4.000 Neuerkrankungen im Jahr 20093. Bezüglich der Resistenzsituation der Tuberkulose liegen keine sicheren Erkenntnisse vor, da kaum entsprechende Laborabklärungen erfolgen. Weiterhin findet sich ein Anstieg der sexuell übertragbaren Krankheiten, von denen im Jahr 2009 über 17.000 Fälle gemeldet wurden.4 Schließlich treten auch Durchfallerkrankungen häufig auf.5 HIV und AIDS scheinen bisher unbedeutend, wahrscheinlich unter anderem deshalb, weil es kaum Drogenkonsum gibt. So sind offiziell keine zweihundert Fälle bekannt, externe Schätzungen gehen von 800 Fällen aus. Allerdings ist ein Anstieg zu befürchten – vor allem durch die steigende Prostitution –, wie die Zunahme der sexuell übertragbaren Krankheiten in den letzten Jahren andeutet.6 Ein zentrales Problem ist die hohe Durchseuchung der Bevölkerung mit Hepatitis B und C.7 Die validesten Daten sprechen für eine Rate der Virusträgerschaft (= Infektiosität) im Bereich von 20 %, wobei die Hepatitis B zu dominieren scheint8. Zum Vergleich: In Deutschland sind 0,6 % der Bevölkerung Träger des Hepatitis BVirus und 0,4 % des Hepatitis C-Virus.9 Dementsprechend ist der primäre Leberkrebs, der typische Folge einer Hepatitis sein kann und der eine sehr schlechte Prognose hat, die häufigste Tumorerkrankung bei beiden Geschlechtern.10 Die Mongolei ist das Land in der Welt mit der höchsten Rate von Leberkrebserkrankungen. Das Risiko wird noch erhöht durch den verbreiteten starken Konsum von Wodka, der vor allem innerhalb des ärmeren Teils der Bevölkerung oft mindere Qualität hat.11 Af3 Vgl. Rimmele 2011; Implementing Agency of the Government of Mongolia, Department of Health, Health Indicators 2009. 4 Vgl. Rimmele 2011. 5 Vgl. Health Indicators 2009. 6 Vgl. Rimmele 2011; Health Indicators 2009; T. Alcorn, „Mongolia’s struggle with liver cancer“, in: Lancet 2011, 377, S. 1139-1140. 7 Vgl. Health Indicators 2009. 8 Vgl. Rimmele 2011; persönl. Mitteilung aus einem gemeinsamen Projekt der Bundeswehr mit der Mongolischen Armee. 9 Vgl. „Virushepatitis B, C, und D im Jahr 2010“, in: Epidem Bull, 25. Juli 2011. 10 Vgl. Rimmele 2011, Health Indicators 2009. 11 Vgl. T. Sandagdorj, E. Sanjaajamts, U. Tudev, D. Oyunchimeg, C. Ochir, D. Roder, „Cancer incidence and mortality in Mongolia – national registry data“, in: Asian Pacific J Cancer Prev 2010, 11, S. 1509-1514, Alcorn 2011.

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latoxine – wie in anderen Bereichen der Welt – scheinen dagegen keine große Rolle in der Leberkrebs-Genese zu spielen.12 Da die Hepatitis B überwiegt, könnte man durch die grundsätzlich vorhandene Hepatitis-B-Impfung das Risiko der Bevölkerung innerhalb einer Generation zügig reduzieren. Seit 1991 gibt es eine generelle Impfempfehlung für alle Kinder, die inzwischen angeblich zu weit über 90 % befolgt wird. Demgegenüber gab es bis vor einigen Jahren bei Erwachsenen kaum ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Impfung, auch nicht beim Personal im Gesundheitswesen. Eine Kontrolle der Impfung mit Bestimmung des Antikörpertiters gibt es bisher nicht. Auch dies trägt dazu bei, dass die Erwachsenen sich nicht ausreichend um die Impfung kümmern, obwohl die Impfung (die Kosten für 3 Impfungen liegen bei insgesamt 15.000 Mongolischen Tugrik, etwa 10 €) erschwinglich ist. Nach den Auswertungen eines der Krankenhäuser findet sich in den typischen Risikoabteilungen Chirurgie und Zentralsterilisation eine Hepatitis-Virus-Trägerschaft von 34 % und 41 %. Für die hohe Hepatitis-B- und C-Durchseuchung werden verschiedene Ursachen angenommen: • Blutprodukte, die infundiert werden, werden zumindest im ländlichen Bereich unzureichend auf Hepatitis-Viren untersucht. • Im ländlichen Bereich gibt es noch Aderlass, Akupunktur, Tattooing mit unzureichenden Instrumenten. • In den Familien wurden zumindest früher Selbst-Injektionen vorgenommen, Zahnbürsten wurden gemeinsam genutzt. In früheren Jahrzehnten wurden offensichtlich familieneigene Glasspritzen von Ärzten eingesetzt, die für alle Familienmitglieder verwendet und lediglich ausgekocht wurden. • Die Aufbereitung von Medizinprodukten, z. B. für Operationen, ist nicht sicher, sodass vom Einsatz unsteriler Produkte auszugehen ist. Dies wird ganz besonders angenommen für den zahnärztlichen Bereich. Für zahnärztliche Kliniken in Ulan Bator kann dies zwar nicht bestätigt werden, es könnte aber durchaus für private Zahnärzte gerade im ländlichen Bereich gelten. • Es scheinen generell sehr viele intravenöse therapeutische Injektionen verabreicht zu werden, die natürlich das Risiko von Nadelstichverletzungen grundsätzlich erhöhen. So wurde be12 Vgl. W. Popp, T. Gantumur, B. Ross, K. Zorigt, D. Davaadorj, M. Rossburg, J.-P. Sowa, A. Canbay, „Aflatoxin exposure may not play a role in liver cancer development in Mongolia“, in: Digestion 2014, 89, S. 268-271.

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richtet, dass auf manchen Stationen Patienten am Tag 5 bis 10 Injektionen erhalten – oft mit fragwürdigen Substanzen wie Vitaminen.13 Exkurs: Pest in der Mongolei Die letzte große Pest-Pandemie in Europa grassierte von 1347 bis 1351. Man schätzt, dass in diesen vier Jahren 20 Millionen Menschen starben, fast ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Ihren Ausgang nahm die Epidemie in China, wo 1333 die Pest wütete. Sie breitete sich über die mittelasiatischen Karawanenstraßen und durch die Feldzüge der Mongolen aus. 1340 kam es zu einem Massensterben unter Tataren, die auf der Flucht nach Armenien waren. 1346 erreichte die Pest die Krim, wo die Hafenstadt Kaffa, das heutige Feodosija, durch die Tataren belagert wurde. Eingeschlossen in der Stadt waren vor allem Genueser, die hier Schutz gesucht hatten. Drei Jahre lang wurde Kaffa von Dschanibeg, dem Khan der Kyptschak-Tataren belagert. Als unter den Tataren die Pest zu wüten begann, musste sich Dschanibeg zurückziehen. Zurück blieben Berge unbestatteter Leichen. Nach Überlieferungen wurden die infizierten Leichen mit Katapulten über die Stadtmauer geschossen. Zwar warfen die Belagerten die Leichen wieder zurück, doch die Pest blieb in der Stadt. 1347 zogen sich die Tataren endgültig zurück. Die Genueser konnten nun die Stadt verlassen und segelten nach Italien zurück – mit der Pest an Bord. 1347 erreichte die Pest Genua und ganz Südeuropa, 1348 wütete sie bereits in England. Die Feldzüge der Mongolen hatten also wesentlich zur Ausbreitung der Pest aus China beigetragen. 13 Vgl. S. Logez, G. Soyolgerel, R. Fields, S. Luby, Y. Hutin, „Rapid assessment of injection practices in Mongolia“, in: Am J Infect Control 2004, 32, S. 3137, M. Kakizaki, N. Ikeda, M. Ali, B. Enkhtuya, M. Tsolmon, K. Shibuya, C. Kuroiwa, „Needlestick and sharps injuries among health care workers at public tertiary hospitals in an urban community in Mongolia“, in: BMC Res Notes 2011, 4, S. 184; persönliche Mitteilungen, G. Togoobaatar, N. Ikeda, M. Ali, M. Sonomjamts, S. Dashdemberel, R. Mori, K. Shibuya, „Survey of non-prescribed use of antibiotics for children in an urban community in Mongolia“, in: Bull World Health Organ 2010, 88, S. 930-936, W. Popp, U. Badarch, A. Tsevegjav, L. Natsagdorj, B. Ross, O. Tsend-Ochir, M. Tsolmon, M. Baval, B. Byambadorj, T. Purevdash, K. Zorigt, S. Ariunbold, J. Spors, T. Lembeck, P. Kreuz, C. Bodart, E. Nagel, „Hospital hygiene in Mongolia and the MeshHp project“, in: Int J Infect Control 2013, v9:i2.

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Auch heute noch gibt es die Pest in der Mongolei. Jedes Jahr erkranken etwa 20 Personen an der Pest, auch Todesfälle treten auf. Die Dunkelziffer wird höher geschätzt. Zurückzuführen ist die Pest vor allem auf Murmeltiere, die in hohem Masse durchseucht sind und die zumindest bei vielen Nomaden immer noch gerne gegessen werden und bei deren Zubereitung (z. B. ausgehend vom Fell) die Infektion erfolgt. Dementsprechend finden sich Antikörper gegen Pest in manchen Landstrichen der Mongolei bei der Hälfte der Bevölkerung.14

Krankenhaushygiene in der Mongolei Krankenhausinfektionen müssen nach geltendem mongolischem Recht den Aufsichtsbehörden gemeldet werden, was aber unzureichend erfolgt. Nach den offiziellen Zahlen beträgt die Rate der Krankenhausinfektionen 0,01 bis 0,05 %15. Eine australisch-mongolische Gruppe konnte mithilfe von Eintagesprävalenzen eine Quote von 5,4 % ermitteln16, was ungefähr einem westlichen Standard entspräche und realistisch erscheint: Schwere „Fälle“, wie wir sie in westlichen Krankenhäusern kennen, sieht man kaum in den Krankenhäusern in Ulaanbaatar. Auf den Intensivstationen sind besondere Risikokonstellationen für Infektionen, wie zentrale Venenkatheter oder Beatmungen, noch selten. Außerdem werden Antibiotika sehr freizügig verabreicht und sind zudem frei verkäuflich in Supermärkten erhältlich.17 10-20 % der Medikamente in der Mongolei sind gefälschte Produkte.18 Angeblich werden so gut wie bei allen Operationen prophylaktisch Antibiotika gegeben. Auf Grund dessen mag derzeit tatsächlich die Zahl der Wundinfektionen ge14 Vgl. J. M. Riehm, D. Tserennorov, D. Kiefer, I. W. Stuermer, H. Tomaso, L. Zöller, D. Otgonbaatar, H. C. Scholz, „Yersinia pestis in small rodents, Mongolia“, in: Emerg Infect Dis 2011, 17, S. 1320-1322; persönl. Mitteilung aus einem gemeinsamen Projekt der Bundeswehr mit der Mongolischen Armee. 15 Vgl. Ider et al. 2010a. 16 Vgl. B.-E. Ider, A. Clements, J. Adams, M. Whitby, T. Muugolog, „Prevalence of hospital-acquired infections and antibiotic use in two tertiary Mongolian hospitals“, in: J Hosp Infect 2010b, 75, S. 214-219. 17 Vgl. Togoobaatar et al. 2010. 18 Vgl. D. Khurelbat, G. Dorj, E, Bayarsaikhan, M, M. Chimedsuren, T. Sanjjav, T. Morimoto, M. Morley, K. Morley, „Prevalence estimates of substandard drugs in Mongolia using a random sample survey“, in: SpringerPlus 2014, 3, S. 709.

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ring sein, allerdings ist mit einer hohen Rate von multiresistenten Bakterien zu rechnen. Dazu liegen aber keinerlei Statistiken vor. Bei der genannten Studie19 wurden mikrobiologische Untersuchungen nur in 19 % der Infektionen durchgeführt und in 92 % wurden die Antibiotika ohne Sensitivitätstest verabreicht. Generell gibt es in der Mongolei – und insbesondere auch in der Krankenhaushygiene – ein Umsetzungsproblem: Durch vielfältige Auslandskontakte weiß man, dass die Situation in den Krankenhäusern schlecht ist. Es werden auch Ministeriumsverordnungen erlassen, jedoch ohne deren Umsetzungsmöglichkeiten zu bedenken. So fehlen dann oft den Krankenhäusern die Budgets für die notwendigen Anschaffungen. Staatliche Inspektions-Agenturen führen reichlich Checklisten-basierte Begehungen durch, ohne jedoch diesen Missstand zu benennen. Ein Beispiel Die Mongolei ist Partner des WHO-Programms „Clean care is safer care“. Überall in den Krankenhäusern sind WHO-Poster zu finden, die den Einsatz alkoholischer Händedesinfektionsmittel propagieren. Allerdings: Nirgendwo sind diese Präparate vorhanden und das Waschen der Hände mit Stückseife ist allgemein üblich, auch die Verwendung von Textilhandtüchern. Wenn Mongolen in Deutschland zum Training waren, fahren sie oft zurück mit Schwarzlichtlampen und Desinfektionsmitteln mit Fluoreszenzfarbstoffen. Zuhause führen sie dann beim gesamten Personal und auf allen Stationen Schulungen zur Händedesinfektion durch – aber weiterhin sind die Händedesinfektionsmittel auf den Stationen nicht vorhanden. Allerdings konnten im Rahmen des deutsch-mongolischen Mongolian Emergency Service Hospital Hygiene Projects (MeshHp) seit 2010 diverse Erfolge erzielt werden: • In den Pilotkrankenhäusern wird die Ausstattung mit alkoholischen Händedesinfektionspräparaten besser. • Die Durchimpfung des Personals gegen Hepatitis B konnte von 10 % auf inzwischen über 50 % gesteigert werden. • Eine mongolische Firma (MedClean) führt inzwischen deutsche Hygieneprodukte ein. 19 Vgl. Ider et al. 2010b.

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Aber weiterhin gibt es viele Bereiche, die dringend verbessert werden müssen: • Die Situation in den allermeisten Zentralsterilisationen ist desolat. Die Aufbereitung von Medizinprodukten (Reinigung, Desinfektion, Sterilisation) wird überwiegend noch per Hand durchgeführt. Sterilisations-Container sind altmodisch und unsicher, die Filter in den Containern fehlen oder sind nie erneuert worden. • Die Qualität der allermeisten mikrobiologischen Labore ist fragwürdig. • In den Krankenhäusern gibt es weiterhin kein Budget für Verbrauchsgüter – daher können Händedesinfektionsmittel oder Chemikalien für Laborgeräte überwiegend nicht angeschafft werden, selbst wenn teilweise modernste Geräte aus Spenden vorhanden sind. • In den Krankenhäusern gibt es keine Haustechnik wie bei uns, ebenso keine Regelungen zu Reparaturen oder Geräte-Unterhalt. Neue Geräte werden so teilweise nicht angeschlossen bzw. liegen brach, da sie niemand reparieren kann. Ausblick Die Mongolei ist ein hochinteressantes Land, in dem teilweise jahrhundertealte bodenständige Strukturen einer völlig anderen Kultur existieren. Gleichzeitig besteht die Chance, dass in den nächsten Jahren viel Geld in das Land fließt und die Mongolei könnte in zehn Jahren völlig anders aussehen als derzeit.

Literatur T. Alcorn, „Mongolia’s struggle with liver cancer“, in: Lancet 2011, 377, S. 11391140. Implementing Agency of the Government of Mongolia, Department of Health, Health Indicators 2009. G. Dorj, B. Sunderland, D. Hendrie, R. Parsons, „Parenteral medication prescriptions, dispensing and administration habits in Mongolia“, in: PLOS ONE, December 22, 2014. B.-E. Ider, A. Clements, J. Adams, M. Whitby, T. Muugolog, „Organisation of hospital infection control in Mongolia“, in: J Hosp Infect 2010a, 75, S. 209-213.

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Hygiene in der Mongolei

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„Wasche dich, denn Islam ist Sauberkeit!“ Hygiene, Körperpflege, rituelle Reinheit im Islam

„Ihr Gläubigen! Wenn ihr euch zum Gebet aufstellt, dann wascht euch vorher das Gesicht und die Hände bis zum Ellbogen und streicht euch über den Kopf und wascht euch die Füße bis zu den Knöcheln! Und wenn ihr unrein seid, dann nehmt eine entsprechende Reinigung vor! Und wenn ihr krank seid und deshalb nicht die regelrechte Waschung vornehmen könnt oder wenn ihr euch auf einer Reise befindet oder wenn einer von euch vom Abort kommt oder wenn ihr mit Frauen in Berührung gekommen seid und kein Wasser findet, um die Waschung vorzunehmen, dann sucht einen sauberen hoch gelegenen Platz auf und streicht euch mit etwas Erde davon über das Gesicht und die Hände! Gott will euch nichts auferlegen, was euch bedrückt. Vielmehr will er euch rein machen und seine Gnade an euch vollenden. Vielleicht würdet ihr dankbar sein.“ (Koran, Sure 5, Vers 6) Jedem, der eine Moschee betritt, fallen die Waschstellen auf, die dort eingerichtet sind, damit der Gläubige vor dem Gebet die rituelle Waschung durchführen kann. Dies macht den Zusammenhang von Waschung und Gebet augenfällig, denn im rechtlichen Sinne ist die Ausführung des Gebetes nur gültig, wenn der Muslim vorher in den Zustand der rituellen Reinheit eingetreten ist. Die Kriterien dafür werden durch das islamische Recht bestimmt.

Die Quellen: Koran und Prophetenworte Bereits der Koran enthält grundlegende Anweisungen zur rituellen Reinheit, die zum Beispiel in Sure 5, Vers 6, und Sure 4, Vers 43, zum Ausdruck gebracht werden. Aber vor allem in den Sammlungen der Prophetenworte finden sich zahlreiche Überlieferungen zur rituellen Reinheit und zu der Frage, wann man als Muslim rituell unrein ist und wie der jeweilige Zustand der Unreinheit aufgehoben https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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werden kann. Der Ausspruch „Wasche dich, denn Islam ist Sauberkeit!“ wird von dem Propheten Mohammed überliefert. Rituelle Reinheit im Islam In den Werken des islamischen Rechts nehmen sich alle Autoren dieser Frage an und setzen sich in umfangreichen Abhandlungen mit der rituellen Reinheit auseinander. Das Gebet ist eine der fünf kultischen Handlungen, die die Grundlage des Islam bilden. Es sind dies Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosen, Fasten und Pilgerfahrt. Da der Muslim fünf Mal am Tag beten muss und das Gebet im Zustand ritueller Unreinheit nach islamischem Recht nicht gültig ist, kommt der rituellen Reinheit besonders große Bedeutung zu. Von den Rechtsgelehrten werden die kleine und die große rituelle Unreinheit unterschieden, die durch rituelle Waschungen aufgehoben werden. Da es im Islam jedoch keine zentrale, für alle Muslime verbindliche Lehrautorität gibt, gehen sowohl unter den islamischen Rechtsschulen als auch unter ihren Gelehrten die Ansichten über den Themenkomplex der Reinheit auseinander. Manche werten beispielsweise auch das Berühren oder Rezitieren des Korans und das Betreten einer Moschee im Zustand der Unreinheit als schariarechtlich verboten, wobei sie sich auf die Verse 77 bis 79 von Sure 56 des Korans berufen: „Es ist ein vortrefflicher Koran, in einer wohlverwahrten Schrift, die nur von Gereinigten berührt wird, nunmehr als Offenbarung vom Herrn der Menschen in aller Welt herabgesandt.“ Aber auch in der Art und Weise, wie die Waschungen vorgenommen werden sollen, unterscheiden sie sich voneinander.

Was macht rituell unrein? Trotz der Unterschiede in den Auffassungen islamischer Rechtsgelehrter, was Unreinheit bewirkt, ist dennoch eine Art gemeinsamer Kernbestand auszumachen. Im islamischen Recht gelten einige Dinge als grundsätzlich unrein; sie führen bei Kontakt stets zu ritueller Unreinheit. Es sind Alkohol und alles, worin Alkohol enthalten ist, Schweine und Hunde, tote Tiere, menschliche und tierische Ausscheidungen (Kot, Urin, Sperma, Menstruations- und Wochenfluss) und Blut. Speichel, Tränen und Schweiß und Leichen werden hinhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Hygiene, Körperpflege, rituelle Reinheit im Islam

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gegen nicht als unrein gewertet. Manche islamische Rechtsgelehrte erweitern diese Liste zum Beispiel auch um Schlaf, Bewusstlosigkeit, Abfall vom Glauben, die Berührung von Personen des anderen Geschlechts oder von Ungläubigen. Im Volksglauben ist zudem die Vorstellung verbreitet, dass rituelle Unreinheit den Teufel und Dschinnen anzieht.

Kleine Waschung Die sogenannte kleine Waschung hebt den Zustand kleiner ritueller Unreinheit auf. Sie ist vor jedem Gebet obligatorisch, da es nahezu unmöglich ist, zwischen zwei Gebeten nicht rituell unrein zu werden. Vor der Waschung muss grober Schmutz entfernt werden, da die Waschung ohne Seife und nur mit klarem Wasser durchgeführt wird. Der vorgeschriebene Ablauf einer kleinen Waschung kann beispielsweise so aussehen: Zunächst wird in einer Formel die Absicht ausgedrückt, die Waschung durchzuführen. Dann wird als Erstes das Gesicht gewaschen, darauf die beiden Hände, dann wird mit den feuchten Händen über den Kopf gestrichen und schließlich werden beide Füße gewaschen. Am Ende steht die formalisierte Vergewisserung, dass bei der Waschung die richtige Reihenfolge beachtet worden ist. Vielfach wird auch gefordert, dass der Mund ausgespült oder die Zähne geputzt werden.

Große Waschung In den Zustand der sogenannten großen rituellen Unreinheit gelangt der Muslim durch Ejakulation, die Muslima durch Samen-, Menstruations- und Wochenfluss und beide allgemein durch Geschlechtsverkehr. Dieser Zustand kann nicht durch eine kleine Waschung beseitigt, sondern muss durch eine große Waschung aufgehoben werden. Dabei muss der gesamte Körper gewaschen und mit klarem Wasser übergossen werden, einschließlich der Haare, davor steht jedoch auch hier die formelhafte Absichtserklärung. Die große Waschung ist für den Freitag, vor dem Antritt der Pilgerfahrt und vor den großen islamischen Festen dem Muslim empfohlen und bei der Leichenwaschung obligatorisch. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Die große Waschung ist traditionell mit dem Besuch des Dampfbades verbunden. Allerdings sind die Hammame fast vollständig aus dem Stadtbild der modernen Städte des Nahen und Mittleren Ostens verschwunden. Denn die große Waschung ist nicht an das Hammam gebunden und kann auch im Badezimmer vollzogen werden, deshalb hat sich die Zahl der Hammame verringert. Die verbliebenen Hammame sind auch für Muslime zur Touristenattraktion und zu gesellschaftlichen Treffpunkten geworden, wo man mit Freunden nach der Arbeit hingeht. Für viele Muslime ist jedoch der Besuch des Hammams vor der Hochzeit noch immer eine feste Tradition. Allerdings haben die europäischen orientalistischen Bilder vom Hammam mit der Realität kaum etwas gemeinsam. Das Motiv verführerischer unbekleideter Frauen in lasziven Posen entspringt der übersteigerten Vorstellung orientalischer Sinnlichkeit. Stattdessen baden Männer und Frauen nicht nur getrennt, sondern sind auch in Badetücher gehüllt. Den Badegästen werden neben dem klassischen Programm aus Dampfbad und Massage auch Schönheitsbehandlungen geboten. Insgesamt herrscht dort ein routinierter Badebetrieb, die Atmosphäre ist gemütlich, aber züchtig und nüchtern.

Rituelle Reinheit ohne Wasser auf Reisen und im Weltall Da in den islamischen Ländern nicht immer genügend Wasser verfügbar ist, um die Waschungen vornehmen zu können, hat schon der Prophet Mohammed die rituelle Reinigung mit Erde bzw. Sand praktiziert. Sie wird auch im Koran in Sure 5, Vers 6, vorgeschrieben und in einer Vielzahl von Prophetenworten erwähnt. Innerhalb der Rechtsschulen gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, welches Material geeignet ist, wie genau und lange nach Wasser gesucht werden soll und wie die Waschung ohne Wasser (tayammum) schließlich durchzuführen ist. Durch tayammum kann sowohl der Zustand der großen als auch der kleinen rituellen Unreinheit aufgehoben werden. Der Prophet Mohammed und seine Gefährten praktizierten ihn unter anderem auf Feldzügen und Reisen. Wenngleich Wasser heutzutage nahezu überall verfügbar ist, hat die Praxis des tayammum auch heute noch Relevanz für den Muslim auf Reisen und in Gebieten oder Situationen, wo wenig Wasser vorhanden ist. Auf einer Konferenz von islamischen https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

Hygiene, Körperpflege, rituelle Reinheit im Islam

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Rechtsgelehrten über islamische religiöse Praxis im Weltraum, die in Malaysia stattfand, wurde auch darüber beraten, wie Muslime auf Expeditionen im Weltraum ihre rituellen Waschungen verrichten sollen. Da an Bord von Raumschiffen Wasser strikt rationiert wird, muss der muslimische Raumfahrer bei seinen Waschungen auf den tayammum zurückgreifen. Da er an Bord jedoch nicht mit Erde oder Sand durchgeführt werden kann, sollen die Hände an einer trockenen und sauberen Oberfläche, wie zum Beispiel an der Bordwand oder einem Spiegel, gerieben und der tayammum praktiziert werden.

Rituelle Reinheit oder Körperpflege Die rituelle Waschung darf nicht mit der alltäglichen persönlichen Hygiene verwechselt werden. Es wird zwar von islamischen Rechtsgelehrten der Standpunkt vertreten, die vorausschauende Weisheit Gottes sei der Grund für die islamischen Gebote zur Reinheit. Es wird auch die Ansicht geäußert, dass der Prophet Mohammed die Vorschriften zur Reinheit erlassen habe, da er den Nutzen der Hygiene für die Gesundheit erkannt habe. Durch die religionsrechtliche Festlegung der Waschungen seien im Islam hygienische Mindeststandards gesetzt worden. Vor allem fromme Muslime betonen, dass die moderne Wissenschaft bestätige, wie vernünftig die islamischen Hygienevorschriften seien und dass sie günstige Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Darin liegt für sie der Beweis der Weisheit der göttlichen Weisungen. Aber in dem einen Fall geht es darum, in den Zustand der rituellen Reinheit einzutretenum beispielsweise das Pflichtgebet durchzuführen, und in dem anderen Fall um profane Körperpflege. Allerdings setzen sich die islamischen Rechtsgelehrten auch mit der täglichen Körperpflege und ihren Mitteln auseinander. Dabei geht es beispielsweise um die Frage, ob Frauen ihre Augenbrauen in Form zupfen und Männer den Bart rasieren dürfen. Gleichgültig, welche Stellung die islamischen Rechtsgelehrten in ihren Antworten auf diese Fragen beziehen, betonen sie, dass der Islam eine Religion sei, in der Hygiene und Reinheit eine wichtige Rolle spielen.

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Literatur A. Bouhdiba, Islam et sexualité (Diss. Univ. Paris 1972), Lille 1973. M. Buhārī, Sahīh al-Buhārī. Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, Ausgewählt, aus dem Arabischen übers. und hrsg. von Dieter Ferchl, Stuttgart 2006. Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, 8. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln 2001. M.-H. Nabavi, Hygiene und Medizin im Koran, Stuttgart 1967. K. A. Reinhart, „Impurity/no danger“, in: History of religions, Band 30 (1990), Heft 1, S. 1-24.

Der Erstabdruck des Beitrages erfolgte in dem Bildband: intimacy! Baden in der Kunst, hrsg. von Burkhard Leismann und Martina Padberg, Kunstmuseum Ahlen 2010, S. 288-293.

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Mathias Wirth

„Wasch ab meine Schuld, von meinen Sünden mache mich rein“ Zur bleibenden Mythologie von Hygiene und Waschung

Hygiene in aufklärerischen Zeiten ist so omnipräsent wie kirchlichreligiöses Brauchtum im Europa (vor)aufklärerischer Zeiten und erstreckt sich ebenso auf alle Bereiche menschlichen Lebens, auf Arbeit, Nahrung, Sexualität, Wohnen und Waschen; sie ist „Zauberwort der Moderne“1 und ein durch Hygiene gesundes Leben wird zur Bestimmung des Lebens und nicht wie vormals ein gottgefälliges.2 Gemeinsam ist Hygiene und religiöser Praxis ihre Deutungsfunktion über menschliche Widerfahrnisse wie Gesundheit und Krankheit sowie ihr apotropäischer Charakter zur Prävention von Übel. Figuriert Hygiene mit ihrem Ausgreifen auf sämtliche Lebensräume als Derivat naturwissenschaftlich-aufklärerischer Weltsicht, so verweist sie nicht allein begriffsgeschichtlich auf den Mythos der Religion und die Göttin der Gesundheit, Hygieia, Tochter des Asklepios, die wie ihre Schwester Panakeia, Göttin der Medizin, im Eid des Hippokrates angerufen wird. Insbesondere Wasser und seine Verwendung erinnert die Hygiene an ihre bleibende Nähe zum Mythos des Numinosen und der Religion3, Ivan Illich bringt es auf die Formel „Wasser ist ungleich H20.“4 Damit ist keinesfalls behauptet, der Gebrauch von Wasser bei Hygienemaßnahmen sei ein Rückfall in ein mythisches Weltbild, notabel ist allerdings die ungebrochene Symbolizität von Wasser und Waschung, die sich nicht selten perichoretisch zur Hygienizität einer Waschung verhalten kann.5 Um es konkret zu sagen: Das 1 2 3 4 5

P. Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frank­ furt a.M. 2001, S. 17. Vgl. A. Labisch, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neu­zeit, Frankfurt a. M., New York 1992, S. 315. Vgl. M. Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997, S. 50. I. Illich, H20 und die Wasser des Vergessens, Hamburg 1987, S. 7. Vgl. S. Hähner-Rombach, „Einführung“, in: dies. (Hrsg.), „Ohne Wasser ist kein Heil“. Medizinische und kulturelle Aspekte der Nutzung von Wasser,

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Duschen mit Wasser und Seife kann ganz im Dienst der Körperhygiene, Reinigung und Hautpflege stehen. Eine Dusche kann aber auch in einem anderen Sinne als Reinigung und Abwaschung verstanden werden, der nichts mit dem engeren Begriff medizinischer Hygiene gemein hat, sondern mythologischer Natur ist, sowie die Urgewalt Wasser6 im Duschbad ephemer beherrscht und ihr ängstigend, numinoser Charakter (mysterium fascinosum et tremendum) gebrochen wird.7 Dabei folgt der Mythos nicht der Logik der Vernunft und des Begriffs, sondern der Logik des Symbols, das auf eine Wahrheit rekurriert, die insofern jenseitig ist, als sie menschliches Empfinden rituell und außerhalb des Raums der Gründe tangiert.8 Das Symbol des regenartig herabfließenden, den ganzen Körper umschließenden, noch dazu heiß-dampfenden Wassers wird aus vielen anderen Gründen gesucht als denen der Hygiene9, insofern es als Symbol der Natur ein vitalisierendes Einheitsgefühl ebenso evoziert wie das Gefühl des Neuanfangs und der Reinigung von Schuld und Scham; ein Zusammenhang, den am signifikanten Grenzfall das psychiatrische Krankheitsbild des Waschzwangs belegt. Mythisch bleibt das Duschbad außerdem durch ein gefühltes Austreten aus dem Raum-Zeit-Kontinuum als Begegnung mit der

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Stuttgart 2005, S. 7 und Illich 1987, S. 47. Ein passables Beispiel für den nicht seltenen Doppelcharakter von Waschungen bietet die Fußwaschung in der Hos­pitalgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bevor Kranke in entsprechende Einrichtungen aufgenommen wurden, wusch ihnen das Or­­denspersonal die Füße, um damit einerseits eine Geste aus dem Neuen Testament aufzugreifen (Joh 13,1-20), das Jesus die Füße der Jünger waschen lässt, um die neue Ordnung seiner basileia zu prinzipieren, andererseits um eine übermäßige Verschmutzung der Betten zu verhindern, vgl. C. Watzka, „Zur Sozialgeschichte des Hospitals/Krankenhauses. Voraussetzungen, Methoden, Themen und Erkenntnismöglichkeiten historischer Forschung zur menschlichen Vergesellschaftung bezogen auf Fürsorge- und Heilanstalten“, in: G. Stollberg, C. Vanja, E. Kraas (Hrsg.), Krankenhausgeschichte heute. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hospital- und Krankenhausgeschichte?, Berlin 2011, S. 13. Vgl. K. Hübner, „Mythische und wissenschaftliche Denkform“, in: H. Poser (Hrsg.), Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin 1979, S. 77. Vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 72 und H. Timm, „Remythologisierung? Der akkumulative Symbolismus im Christen­ tum“, in: K. H. Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 1983, S. 437-438. Vgl. M. Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt a. M. 1986, S. 41. Vgl. H. Böhme, „Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt a. M. 1988, S. 24.

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Zur bleibenden Mythologie von Hygiene und Waschung

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Macht Wasser, die beinahe überweltlich die erlebte Pein und Scham des Körpers zurückzunehmen vermag. In dieser Weise sakralisiert das mythische Empfinden Naturgegenstände wie Wasser und tritt rituell mit ihnen in Beziehung. Die morgendlichen Dusche und das Händewachen nach der Berührung diverser Schambezirke, wie dem der Haut des Penis, haben nicht allein hygienische, sondern ebenso psychologische, symbolische und sogar transzendental-religiöse Bedeutung, insofern sie mit Schuld und ihrer Überwindung zu tun haben. In der gegenwärtigen Mythosforschung sind diese drei Dimensionen als Logik des Mythos erkannt, die Segmente der Wirklichkeit möglicherweise besser ergreifen als die rationale Logik der Begriffe. Offenbar ist Hygiene nicht gänzlich aufzuklären, insbesondere ihr Instrument Wasser inkorporiert Elemente aus Mythos und Religion, zuweilen erscheint Hygiene sogar als säkularisierte Form religiöser Praxis. Diese These soll durch folgende Argumentationsschritte validiert und konkretisiert werden: (1) Zunächst dient eine religionswissenschaftliche Erinnerung verschiedener, gegenwärtig praktizierter Wasserrituale (Taufen, Segnungen, Wasserweihen, Wunderwasser, religiöser Bäder, Fußwaschung, Händewaschung als Schuld, bzw. Pilatus-Ritual etc.) als Beleg einer Wasser-Praxis außer­halb des aufklärerischen Logos. (2) In analoger Weise wird im folgenden Punkt nach profanen Wasserpraktiken gefragt, die nur augenscheinlich dem naturwissenschaftlichen Paradigma folgen und Wasser und Seife gegen andere Bedrohungen einsetzen als gegen die, die aus der Welt der Mikrobiologie drohen. Die beiden ersten Punkte befassen sich also mit solchen Wasserpraktiken außer­halb der aufklärerischen Logos und seiner modernen Allianz mit den experimentellen Naturwissenschaften. (3) Das Portrait religiöser Rituale mit Hygiene-Bezügen gibt Anlass zur Begriffsbestimmung, denn Mythos, Aberglaube und Symbolik fungieren als Interpretationsmuster. Insbesondere die Mythos-Forschung kann für eine Verhältnisbestimmung von Aufklärung und Hygiene befragt werden, weil hier der Mythos in seiner Bedeutung zur Wirklichkeitserschießung gewürdigt wird. Die These von der Aktualität des Mythos (M. Eliade/K. Hübner/L. Kolakowski/C. Lévi-Strauss) soll expliziert und auf die Wasser-Hygiene-Problematik appliziert werden. (4) In diesem und dem folgenden Unterpunkt erfolgt eine Zusammenführung der beiden zuvor eröffneten Horizonte und bringt zunächst religiöse Waschungen ins Gespräch mit MythosAberglaubens- und Symbolforschung, sowie unter (5) Selbiges https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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für die profanen Wasserpraktiken erfolgt, die sich bei Licht besehen als Hygiene zu nicht-hygienischen Zwecken erwiesen haben. Beide Teiluntersuchungen verstehen sich als Beitrag zu einer Aufklärung der Hygiene und ihrer in das Vorrationale reichender Bezirke. (6) Diese Aufklärung bringt eine Art magis hervor, das in naturwissenschaftlichem Ambiente der Hygiene ein Schattendasein fristet, allerdings, so die These, notorisch die Hygiene um Wasser und Reinigung begleitet und alle Aufklärung über Hygiene unvollständig bliebe, wenn sie nicht auch die Symbolizität des Wassers mitbedächte, weil sie humanisierende aber auch destruktive Potentiale aufweist.

1. „aqua religiosa“ außerhalb des aufklärerischen Logos Kaum eine Religion, in der Wasser (aqua religiosa) zu heilenden, rituellen und sonstigen religiösen Zwecken keine entscheidende Rolle spielt, zur Initiation, zur rituellen Reinigung, zur Segnung und Heilung, zur Schuldtilgung (Purifikation) und aus apotropäischen Gründen.10 Das Judentum wie das Christentum unterscheidet sich hier kaum von anderen Religionen, insbesondere das römische und orthodoxe Christentum kennt eine Vielzahl religiöser Riten mit Wasser, in denen es als „sakrales Fluid“11 erscheint. Besonders dort, wo sie Schuld nehmen wollen, wie im Lavabo, bzw. PilatusGestus des Priesters in der katholischen Messliturgie („Herr, wasch ab meine Schuld, von meinen Sünden mache mich rein“)12 oder wo Quellgewässer zur Heilung gebraucht werden, geraten diese religiösen Wasser und Waschungen unter Mythologie- oder sogar Magieverdacht. Auch die biblische Tradition kennt eine Vielzahl inkorporierter Mythologeme13 und mythologisch-geprägter Wasserrituale zur Heilung, Heiligung und Reinigung. So regelt der Pentateuch den Umgang mit Ausfluss beim Mann, bei Aussatz und Verunreinigung, 10 Vgl. Frey 1997, S. 53-56; A. Grabner-Haider, Strukturen des Mythos. Theorie einer Lebenswelt, Würzburg 1993, S. 62ff. und Hähner-Rombach 2005, S. 7. 11 Böhme 1988, S. 28. 12 Vgl. Sarasin 2001, S. 260. 13 Vgl. W. Pannenberg, „Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung“, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der My­ thenrezeption, München 1971, S. 497-509.

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Zur bleibenden Mythologie von Hygiene und Waschung

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etwa durch die Berührung eines Toten. Beim ausflüssigen Mann reicht die Gabe von „fließendem Wasser“ (Lev 15,13), bei Aussatz muss dieses mit Zedernholz, Schildlaus-Kamesin sowie Ysop und Vogelblut vermischt werden (Lev 14,16). Bei Unreinheit ist ein „Reinigungswasser“ zu erstellen, dem alle oben genannten Ingredienzen beizugeben sind, aber auch die Asche einer Kuh (Num 19,9).14 Genauso bekannt sind Bäder in der hebräischen Tradition, etwa die warmen Quellen von Tiberias, die gegen Hautkrankheiten halfen und deren Wasser für besseren Stuhlgang getrunken wurde.15 In

14 Vgl. R. H. W. Wolf, Mysterium Wasser. Eine Religionsgeschichte zum Wasser in Antike und Christentum, Göttingen 2004, S. 108. Allerdings ist der Übergang von Mythos zu Logos hier schwer zu sondieren, denn sollten die Heilungspraktiken auch quasi-empirische Erfahrungen beinhalten, könnte nicht mehr einfach von mythologischer Durchprägung ausgegangen werden, zumal insgesamt die jü­dische Religion als mythoslos betrachtet wurde, vgl. J. Assmann, „Die Zeugung des Sohnes. Bild, Spiel, Erzählung und das Problem des ägyptischen Mythos“, in: ders., W. Burkert, F. Stolz (Hrsg.), Funktionen und Leistungen des Mythos. Drei altorientalische Beispiele, Göttingen 1982, S. 13; M. Buber, „Der Mythos der Juden“, in: P. Menders-Flohr, B. Witte (Hrsg.), Martin Buber Werkausgabe. Bd. 2.1, Gütersloh 2013, S. 171 und P. Koslowski, Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 185. Heute allerdings Mythisches in den Texten der Bibel erkannt, vgl. Blumenberg 1990, S. 242; Pannenberg 1971, S. 473 und P. Tillich, „Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II“, in: R. Albrecht (Hrsg.)., Gesammelte Werke, Bd. VIII, Stuttgart 1970, S. 145. Gleichzeitig findet aber eine Zurückdrängung des Mythischen statt, was mit dem Bilderverbot (Ex 20,7) zusammenhängt, wie Hans Blumenberg über das Verhältnis des hebräischen Denkens und des Mythischen herausgestellt hat, vgl. H. Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 16: „Das Verbot des Dekalogs […], den Gottesnamen unnütz zu gebrauchen, ist die eigentliche und strikte Gegenposition zu aller Mythologie und ihrer Leichtigkeit, mit der unfixierten Gestalt und Geschichte des Gottes und der Götter umzugehen.“ Aber auch Erklärungswille, Geschichtlichkeit der Heilsereignisse und die Differenz zwi­ schen Schöpfer und Geschöpf heben bleibend das biblische vom mythischen Denken ab, vgl. W. Pannenberg, Christentum und Mythos. Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung, Gütersloh 1972, S. 33ff., S. 48. Allerdings bedeutet das Bilderverbot den Beginn des „Triebverzichts“ (S. Freud), den der Mythos in seiner Dogmenlosigkeit nicht abverlangt, vgl. Blumenberg 1971, S. 19f. In dieser psychologischen Perspektive betont allerdings Eugen Drewermann, die biblische Theologie unterschiede sich nicht aufgrund ihres Dogmen-Index vom Mythos, sondern aufgrund der „[…] Entdeckung der Personalität und Individualität des Göttlichen ebenso wie jedes einzelnen Menschen“, E. Drewermann, Heilende Religion. Überwindung der Angst, Frei­ burg i. Br. 2013, S. 151. 15 Vgl. Wolf 2004, S. 240.

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einer ganz anderen Tradition stehen die klosterähnlichen Anlagen der Essener mit ihren vielen Möglichkeiten zu rituellen Bädern.16 Den Konnex von Waschung und Heilung findet man an diversen Stellen der biblischen Tradition, etwa in der Perikope von der Heilung des Aramäers Naaman (2 Kön 5,10-15), der aufgefordert wird, sich siebenmal im Jordan zu waschen und „darauf hin wurde er gesund und sein Leib wie der eines Kindes“ (V. 10).17 Von heilkräftigen Gewässern berichtet im Neuen Testament besonders das Johannesevangelium. Einmal wird von einem mythisch anmutenden Teich Betesda bei der Fünf-Säulenhalle berichtet, über den es heißt: „Ein Engel des Herrn steigt nämlich von Zeit zu Zeit in den Teich hinab und ließ das Wasser aufwallen. Wer dann als Erster nach dem Aufwallen des Wassers hineinstieg, wurde gesund, von welcher Krankheit er auch befallen sein mochte“ (Joh 5,4); ein Zusammenhang, von dem der Autor des Johannesevangelium deshalb berichtet, weil ein Kranker Jesus ersucht, weil ihn keiner zum Teich trage, damit er der Erste sei. Es folgt Jesu berühmtes Heilungs-Wort vom Aufstehen, Bahre nehmen und Weggehen (Joh 5,8-9). Der andere Teich heißt Schiloach. Dorthin schickte Jesus einen Blinden zum Waschen seiner Augen, nachdem er sie mit einem Brei seines Speichels und Erde behandelt hatte (Joh 9, 6-7).18 Eine gewisse Konjunktur des Mythischen, Religiösen und Rituellen entspringt der Sehnsucht nach einfachen Zusammenhängen in einer hochdifferenzierten Welt, in der scheinbar nur noch ein elitärer Szientismus das Wort hat, das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Emotionen ebenso ungebrochen ist wie die bleibende Angst.19 Ein solches ersehntes Gefühl der Geborgenheit und Heimat, des Schutzes und des Schauders über den Einfall des Heiligen und ganz Anderen überkommt auch heute noch Menschen, die sich religiösen Waschungen und Bädern unterziehen und sich dabei leicht den Vor-

16 Vgl. ebd., S. 111ff. 17 Vgl. ebd., S. 242. 18 Vgl. ebd., S. 244-247 und zur Bedeutung der (Wasser-)Symbolik und My­ thologie bei Johannes, vgl. T. Söding, „Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Anmerkungen zur Symbolsprache des Johannesevangeliums am Beispiel des Nikodemusgesprächs (Joh 3,1-21)“, in: K. Kertelge (Hrsg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testa­ment, Freiburg i. Br. 1990, S. 170ff., S. 216-219. 19 Vgl. Blumenberg 1990, S. 72; I. U. Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg i. Br. 1993, S. 14f. und P. Tillich, „Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik“, in: R. Albrecht, Gesammelte Werke, Bd. X, Stuttgart, S. 293.

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wurf einhandeln, einer atavistischen Illusion und einer mentalité primitive zu erliegen. Frappierend, um dies heute zu beobachten, ist keinesfalls eine lange Reise zu den Religionen des Ostens nötig, es würde eine Fahrt in die Nähe von München reichen, nach Wemding, wo seit dem 17. Jahrhundert eine Quelle fließt, über der heute die Wallfahrtkirche Maria Brünnlein steht. Hierher kommen Pilger, trinken vom Wasser, berühren ihre Augen.20 Auch im französischen Wallfahrtort Lourdes, einer der größten Wallfahrtorte der Welt, mit jährlich über sechs Millionen Besuchen21, kann eine katholische Pilgerbewegung zur Quelle von Massabielle nebst religiö­ sem Obskurantismus beobachtet werden, in deren 14 Grad kaltem Wasser jährlich 400.000 Pilger baden22, um an Seele und Leib zu gesunden23. Die Autorin einer größeren Studie zu Lourdes hält nach Nennung der großen Pilgerzahl gleich den Hinweis bereit, dass für längere Wartezeiten an den Bädern „Gebetshilfen“ zur Verfügung stünden.24 Eine solche Tradition des Bades zu Reinigung, Heilung und Heiligung ist im römischen Katholizismus keine Seltenheit25, so empfiehlt Hildegard von Bingen Bäder, in die Blut der menses gegeben wurde (Causae et curae 4). Üblich war es außerdem, am Festtag des Johannes des Täufers ein Johannisbad zu nehmen, eine Praxis, die die Synode von Stuttgart 1602 als katholischen Aberglauben einstuft und über die eine zeitgenössische Quelle aus dem Jahr 1607 aus Schlesien mit gewisser Häme festhält: „Denn an S. Johannis Abendt, vnd an Johannis Tage vberaus viel Volckes von nahen und fernen Orthen, dagin sich findet, Gesunde, gesunden Leib vbers Jahr zu behalten, Krancke, Lahme, Krätzige, Außsetzige, Gichtbrüchige, jre Krankheit zu wenden. Fellethauffenweisevbereinander in Brun-

20 Vgl. M. Schwelien, „Quelle/Wasser in der Kunst“, in: E. Moltmann-Wendel, dies., B. Stamer (Hrsg.), Erde, Quelle, Baum. Lebenssymbole in Märchen, Bibel und Kunst, Stuttgart 1994, S. 159f. 21 Vgl. I. Jehle, Der Mensch unterwegs zu Gott. Die Wallfahrt als religiöses Be­ dürfnis des Menschen – aufgezeigt an der Marienwallfahrt nach Lourdes, Würz­ burg 2002, S. 288. 22 Vgl. ebd., S. 389. 23 Vgl. J. Dierkes, Auf dem Weg zu Heilung und Heil? Eine qualitative Unter­ suchung zur Wallfahrt nach Lourdes, Hamburg 1999, S. 269 und B. Pfleiderer, „Vom guten Wasser. Eine kulturvergleichende Betrachtung“, in: H. Böhme (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt a. M. 1988, S. 268. 24 Vgl. Jehle 2002, S. 389. 25 Vgl. D. Harmening, Art. „Bad“, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch des Aberglaubens, Stuttgart 2007, S. 58ff.

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nen wie die Gänse, gäntzlichermeinung, daß Warme Bad were diesen tag viel kräfftiger, als andere Zeiten des Jahres […].“26 Jedenfalls scheint die Quelle in Lourdes Wirkungen nur für Gläubige bewirken zu können, denn ihr Wasser heile nicht ohne Glauben27 und Analysen des Wassers ergaben keine Auffälligkeiten28, dessen Quelle angeblich am 25.2.1858 durch die junge Bernadette Soubirous im Rahmen einer Marienerscheinung entdeckt wurde, deren Botschaft an diesem Tag lautete: „Gehe zur Quelle, trinke und wasche Dich dort. Bitte Gott für die Sünder. Iß das Gras, das Du dort findest“.29 Meist wohl Katholiken machen reichlich Gebrauch von diesem Wasser, 70.000 Liter spendet die Quelle von Massabielle täglich, Pilger nehmen es in Flaschen mit und es wird in alle Welt verschickt. In offiziellen Stellungnahmen darf natürlich der Hinweis nicht fehlen, das Wasser nicht magisch zu deuten: „Wasser mitzunehmen, muss als Ziel haben, bei sich zu Hause diese Bußhandlung des Trinkens und sich Waschens zu wiederholen und nicht, es als eine Art ‚Glücksbringer‘ aufzubewahren.“30 Konkrete Heilung habe das Quellwasser seit seiner Entdeckung in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einer angeblichen Marienerscheinung bewirkt, die erste am 2.5.1858 an einem schwerstkranken Kleinkind, Justin Bouhorts, den seine Mutter im Quellwasser badete und der von einer vollständigen Lähmung im Zusammenhang mit einer Tuberkulose geheilt worden sein soll.31 Bis heute sind 60 Heilungen gelistet, die eine Expertenkommission begutachtet hat, darunter sehr viele tuberkulöse Erkrankungen, aber auch Erblindungen, Lähmungen, Fisteln, sogar eine offene Fraktur des Beins.32 In den meisten Fällen werden die Kranken nach Bädern für geheilt erklärt, wie die einzige Deutsche auf der Liste der wundersam Geheilten von Lourdes, Thea Angela, die in den 1950er Jahren mit multipler Sklerose in Lourdes war, nach ihrer Heilung 26 Zitiert nach A. Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen. Nebst einem Beitrag zur Geschichte der deutschen Wasserheilkunde, Jena 1906,S. 22f. Vgl. auch Frey 1997, S. 56. 27 Vgl. Jehle 2002, S. 322. 28 Vgl. A. Läpple, Die Wunder von Lourdes. Berichte, Tatsachen, Beweise, Augsburg 1995, S. 246-250. Die Wirkung des Wassers von Massabielle lässt sich so nicht wie in anderen Heilquellen durch Radioaktivität, erhöhte Temperatur, Mi­ne­ral­ gehalte etc. erklären, vgl. Wolf 2004, S. 251. 29 Zitiert nach Läpple 1995, S. 36. 30 Zitiert nach Jehle 2002, S. 324. 31 Vgl. ebd., S. 478. 32 Vgl. ebd., S. 478ff.

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als Schwester Maria-Mercedes Ordensfrau wurde, und über deren Heilung es im Dekret des Bischofs von Tarbes und Lourdes, Pierre Marie Théas, vom 28. Juni 1961 heißt, die wunderbare Heilung der Thea Angela müsse einer „besonderen Machterkundung der Allerseligsten und Unbefleckten Jungfrau Maria und Gottesmutter“ zugeordnet werden.33 Heute hat das Nackt-Baden anscheinend stets folgenden Ablauf, wobei das Wasser wohl zwei Mal am Tag ausgetauscht wird: „Die Helfer fragen den Pilger, ob er seine Anliegen laut nennen möchte. Dann wird er in das Wasser getaucht. Als Erinnerung an seine Taufe wird er aufgefordert, ein Kreuzzeichen zu machen, und wer möchte, kann die Statue der Gottesmutter als Zeichen seiner Verehrung berühren oder küssen.“34

2. Profane Waschungen außerhalb des aufklärerischen Logos Im folgenden Abschnitt erfolgt eine exemplarische Sicht auf die Wasser-Hygiene-Praxis, die einen besonderen Fokus auf solche Praktiken wählt, die in medizinisch-aufklärerischem Ambiente aus symbolischen, psychologischen oder sogar parareligiösen Gründen stattfinden. Insbesondere der Umgang mit Ermattung, Schuldresiduen, Scham und Ekel als außerhygienische Topoi soll ebenso eruiert werden wie das bereits genannte Krankheitsbild des Waschzwangs. Nimmt man Literatur als Hinweis auf ein allgemeines Verständnis von Dingen, weil sie in Literatur abgebildet werden oder durch Literatur erzeugt werden, dann geben die Texte der Brüder Grimm erste Hinweise auf die besondere Bedeutung, die Wasser zugesprochen wird, etwa in der Erzählung Das Wasser des Lebens (KHM Nr. 97) werden die drei Söhne eines kranken Königs aufgefordert, dieses gesundmachende Wasser zu finden, das am Ende das Leben des Königs rettet. Auch im Zusammenhang mit dem ältesten Märchen der Gebrüder Grimm, dem vom Froschkönig, weiß die Hessische Erzählvariante des Froschkönigs (KHM Nr. 1) davon zu berichten, dass eine Tochter des König deshalb an den Brunnen im Hofe trat, weil sie zu dessen Genesung Wasser holen sollte. Insgesamt scheint Wasser in der Volksseele als Ort des Numinosen, im Wasser woh33 Zitiert nach und vgl. Läpple 1995, S. 156-161. 34 Jehle 2002, S. 390.

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nen Nixen und Fähen, oder anonyme Mächte35, wie im Märchen Brüderchen und Schwesterchen (KHM Nr. 11) deutlich wird. Hier säuseln die drei Brunnen im Geplätscher das furchtbare Omen „Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger/Wolf/Reh“ und der Bruder trinkt, wird ein Rehkalb und erst der Tod der Hexe bringt ihn zurück.36 Besonders die Geschichte der Hygiene gibt Aufschluss über das Konnotat von Wasser und Reinigung.37 Garantiert Hygiene „Gesundheit und ein langes Leben“, wird ihr parareligiöser Nimbus deutlich, denn sonst sind es religiöse Doktrinen mit diversen TunErgehen-Zusammenhängen, die Auskunft darüber gegeben, was für oder gegen Krankheit, für oder gegen den Tod zu tun ist und im Rahmen ihrer Futorologien Zukunft benennen. Durch Maßnahmen einer hygiène privée nehmen Menschen selbst ihr Schicksal nicht nach religiöser, sondern hygienischer Einweihung in die Hand.38 Für die Säkularisierungshypothese spricht weiter, dass der hygienische Mensch, der zugleich der Bürger des 19. Jahrhunderts ist, zu permanenter Selbstbeobachtung gezwungen war, wenn er die Segnungen der Hygiene auch erlangen wollte39; wie vormals der Mensch sein Verhalten beobachtete, um seine Sünden benennen zu können, von denen er in der Beichte befreit werden konnte, ist nun seine Haut im Fokus und mit ihr die neue Sünde, die crasse, die Schmiere, die sich auf der Haut bildet, wenn diese nicht gereinigt wird.40 So verschoben sich Aufmerksamkeiten auf den Körper und besonders auf anfällige Regionen wie den Intimbereich nicht material, sondern formal; allein der Grund für strikte Observanz änderte sich zunehmend, da aus einer religiösen „Sorge um sich“ (souci de soi) eine hygienische souci de soi wurde, um mit Philipp Sarasin an ein Diktum Michel Foucaults zu erinnern.41 Gerade internalisierte Praktiken der Hygiene scheinen im Sinne Foucaults bereits als ein additum gegenüber hygienischen Absich35 Vgl. B. Stamer, Quelle/Wasser im Märchen, in: E. Moltmann-Wendel, M. Schwe­ lin, dies. (Hrsg.), Erde, Quelle, Baum. Lebenssymbole in Märchen, Bibel und Kunst, Stuttgart 1994, S. 117. 36 Insgesamt zu den genannten Märchen vgl. Stamer 1994, S. 109-114. 37 Wobei Wasser keineswegs immer schon als Agens der Reinigung, Hygiene und Gesundheit verstanden wurde. Oftmals galt Wasser geradezu als schädlich, weil es etwa beim Baden in den Körper eindringe und durch Feuchtigkeit geradezu Krankheiten evoziere, vgl. Frey 1997, S. 36-37. 38 Vgl. Sarasin 2001, S. 19 und Labisch 1992, S. 70. 39 Vgl. Sarasin 2001, S. 22. 40 Vgl. ebd., S. 283-284. 41 Vgl. ebd., S. 23.

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ten im Sinne der hygiène privée. Foucault hat mit seiner These zur „Mikrophysik der Macht“ die eigentliche Absicht einer hygiène publique im Blick, die den Einzelnen etwas tun lässt, damit das Gesamt und nicht der Einzelne profitiert.42 Vielfach ist aber auch eine Säkularisierung konkreter Wasserund Reinigungspraktiken zu beobachten: So das Lavabo, wie bereits gesehen, verbunden mit dem Pilatus-Gestus des Priesters zur Reinigung von Schuld, und hält innerhalb der Hygiene-Bewegung Einkehr in das Leben der profanen Welt; Philipp Sarasin betont hier explizit, dass Diskurs und Praxis der Hygiene teilweise am römischkatholischen Ritus orientiert sind.43 Der Gestus des Händewaschens bleibt so zugleich religiös und hygienisch konnotiert, er scheint Keime und Bakterien ebenso abzuwaschen wie Schuld. Ähnlich verhält es sich mit dem Frottieren, der trockenen, aber robusten Abreibung, bei der verschmutzte Haut abgerieben werden sollte. Mit „Frottez ferme“zitiert Sarasin einen frühen Hygieniker44, und es ist nicht schwer, in der Züchtigung und Abreibung der Haut durch ein rauhes Badetuch eine säkularisierte Geißelung (flagellatio) zu erkennen, die den Körper spüren lässt, dass er traktiert werden muss, um kein Einfallsort des Bösen oder der Krankheit zu sein. Alfons Labisch skizziert mit dem Homo Hygienicus einen ganz areligiösen, der Wissenschaft zugeneigten Menschen, der ab der Industrialisierung in Deutschland auftritt: „Gesundheit wurde nun ausschließlich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten gedeutet. Jedweder offene oder verdeckte Bezug zur Religion […] wurde aufgegeben.“45 Diese These wird durch diverse angedeutete Hygienemaßnahmen außerhalb dieses von Labisch genannten wissenschaftlichen Logos falsifiziert, denn das unbesehene Waschen der Hände nach Berührung des Penis nach dem Toilettengang, oder die berühmte heiße Dusche folgen eben nicht alleine hygiene-theoretischen Vorschriften, sondern verweisen sehr wohl auf Residuen einer Interpretation von Wasser und Waschung, die sich einer naturwissenschaftlichen Sichtweise entziehen.46 42 43 44 45 46

Vgl. ebd., S. 21 und Labisch 1992, S. 169. Vgl. Sarasin 2001, S. 260. Vgl. ebd. S. 291f., S. 306. Labisch 1992, S. 134. Vgl. E. Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt a. M. 1996, S. 41. Diese biologisch-medizinale Sicht wird schon des­halb überstiegen, weil es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Hygiene und Gesundheit gibt, die zwar in einem engen Verhältnis zueinander stehen, jedoch

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Gegen Labischs These spricht außerdem die Bewegung der Naturheilkunde, die mit ihrem Erzvater, Vinzenz Prießnitz (1799–1851), ebenfalls aufs heilende Wasser gekommen ist47, der als 12-Jähriger ein Reh beobachtete, wie es sein verletztes Bein im Quellwasser kurierte. Prießnitz wurde zum „Wasserarzt“ und damit zu einem Nestor einer Bewegung, die in der Natur eine versöhnende und heilende Kraft sah, die zwar synkretistisch-religiös, aber doch von einem göttlichen Funken in ihr ausging, der als letzter Grund für die Lehren der Naturheilkundler firmiert.48

3. Deutungsmuster außerhalb des aufklärerischen Logos: Mythos, Superstition, Symbolizität Gegen das Terna der Zwischenüberschrift aus Mythos, Aberglaube und Symbolizität kann man prima facie sogleich einwenden, dass insbesondere Ersteres und Letzteres sich nicht so disparat zum Anliegen der Aufklärung verhalten, wie es scheint. Dieser These wird im Folgenden nachzugehen sein, dieses Unterkapitel steht mithin bewusst unter einer provozierend-simplifizierenden Überschrift. a) Mythos in Philosophie und Theologie Der Mythos ist nur eine erledigt geglaubte Aufgabe von Philosophie, Theologie, Religionswissenschaften, Volkskunde etc. und stellt heute keineswegs eine Randfrage in den genannten DiskursbereiVerstöße gegen Hygieneregeln außerhalb infektiöser Bereiche medizinischer Ver­ sorgung in der Regel nicht mit signifikanter Penetranz zu Krankheiten führen. Weil das Ausbleiben einer sicheren Penetranz schon Kindern auffällt, macht es wenig Sinn, sie pauschal nach dem Toilettengang zum Händeaschen aufzufordern; es sei denn, man etabliert den dortigen Besuch als Gelegenheit gegen generelle Verschmutzung. Der alleinige Kontakt aber mit dem Intimbereich rechtfertig keine gesteigerten Hygienemaßnahmen und scheint als recht unaufgeklärtes Kulturem und Schuldresiduum. 47 Vgl. E. Klatte, Wasser schafft der Heilkraft Bahn. Ein Tagebuch aus der Prieß­ nitzschen Wasserkuranstalt,in: S. Hähner-Rombach (Hrsg.), „Ohne Wasser ist kein Heil“. Medizinische und kulturelle Aspekte der Nutzung von Wasser, Stuttgart 2005, S. 137-140 und Pfleiderer 1988, S. 267. 48 Vgl. U. Heyll, Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt a. M., New York 2006, S. 9-12.51.

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chen dar.49 Kaum ein Philosoph oder Theologe, der keine Einlassungen zur Verhältnisbestimmung von Mythos und Logos vorgenommen hat.50 So unübersichtlich die pluriforme Geschichte und Theorie des Mythos, die nicht zu erlauben scheint, überhaupt von dem Mythos zu sprechen51, so scheint wenigstens innerhalb der interdisziplinären Mythosforschung52 darin Einigkeit, dass Mythologeme wenn auch unterschwellig, so doch nachhaltig bis in die Gegenwart menschliches Denken und Empfinden (homo mythicus) prägen.53 Die klassische Gräzität differenziert entgegen kontemporärem Sprachgebrauch nicht so scharf zwischen Mythos und Logos, wie man annehmen müsste. Beide Lexeme umfassen den Bedeutungshof um „Rede und Wort“, wobei Mythos, etwa bei Homer (wahrscheinlich 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr.), ein machtvolles Wort ist (Homer, Od. 4,675) und Logoi eher dialogische und mithin positiver konnotierte Worte sind (Homer, Od. 1, 56-57). Erst Herodots (490– 430 v. Chr.) Schriften seien dann die gewesen, die einen scharfen Unterschied zwischen Mythos und Logos eintragen und den Mythos gegenüber dem Logos als negativen Gegenbegriff installieren (Herodot, Hist. II, 45). Auch Heraklit hat einen weiteren wichtigen Beitrag zur Verständigung über den Logos im Gegensatz zum Mythos geleistet, denn sein Logos ist tatsächlich das allen Menschen zugängliche Wort, das alleine auf Überzeugung und nicht auf der Artikulation von Macht basiert. Es scheint, als sei der Logos ab Heraklit (535–475 v. Chr.) zunehmend ein Wort der Argumentation, wohingegen der Mythos der Logik der Autorität folgt (DielsKranz-Fragment 22 B, 2; 113;116).54 Für ein heutiges Verständnis des Mythischen kann zwischen Mythos im archaischen und dem Mythos im modernen Sinn unterschieden werden, was man auch als eine Unterscheidung zwischen einem engen und weiteren Sinn fassen kann, denn material und formal haben die Götterepen der Antike wenig mit dem gemein, was heute als Mythos beschrieben wird. Im Anschluss an Rudolf 49 Vgl. Angehrn 1996, S. 13; Assmann 1982, S. 13; Hübner 1979, S. 75; Marquard 1971, S. 257f. und Timm 1983, S. 432. 50 Vgl. Blumenberg 1971, S. 12. 51 Vgl. ebd., S. 12. 52 Vgl. Koslowski 1991, S. 179. 53 Vgl. Marquard 1979, S. 41; Tillich 1970, S. 146 und Timm 1983, S. 441. 54 Vgl. Angehrn 1996, S. 17-18; H.-G. Gadamer, „Mythos und Wissenschaft“, in: F. Böckle (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1981, S. 9 sowie Timm 1983, S. 433f.

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Bultmann kann man ebenso zwischen einem kosmologischen und einem anthropologischen, bzw. existentiellen Mythos unterscheiden.55 Dies wiederum hat Robert A. Segal im Anschluss an Bultmann und Ernst Cassirer pointiert: „Im demythologischen Zustand handelt der Mythos nicht mehr von der Welt, sondern vom menschlichen Erleben der Welt. Ein demythologisierter Mythos ist kein Erklärungsmodell, sondern ein Ausdruck dessen, wie es sich ‚anfühlt‘, in der Welt zu leben.“56 In diesem zweiten, weiteren, modernen, anthropologischen, existentiellen und demythologisiertem Zustand des Mythos lassen sich die apostrophierten religiösen und profanen Wasserpraktiken umstandlos diesem Mythosschema zuordnen, weil es ein bestimmtes Bild des Selbst, des Menschen und der Welt präludiert, wenn Hygiene nicht aus Gründen der Hygiene, sondern zur Bewältigung des Menschseins angesichts von Krankheit, Schuld und Scham erfolgt. Darauf wird zurück zu kommen sein. Eine deutliche Distinktion vom Mythos antiker Polytheismen ist deshalb mehr als gelehrte Subtilität, weil sonst moderne Mythen nicht als solche in den Blick kommen, was hier für das Beispiel des Wassers gezeigt werden soll, hinter dem die Wenigsten das Wirken der Göttin Hygieia glauben, auch wenn in einem diffusen Sinn die körperliche Anwendung von Wasser in einem weiteren Sinn zugleich mehr meint und bewirkt als allein hygienische Maßnahme 55 Vgl. R. Bultmann (1941), „Neues Testament und Mythologie“, in: H.-W. Bartsch (Hrsg.), Kerygma und Mythos, Hamburg 1967, S. 22: „Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der, ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch – besser: existentiell interpretiert werden.“ Auf diese Weise ist der Mythos nicht von einer Starrheit, wie es das Dogma nicht selten vorgibt, nach Hans Blumenberg sind es daher „Leichtigkeit“, „Unverbindlichkeit und Plastizität“, aber auch „Spielbarkeit“ und der Aus­ fall der Möglichkeit einer Häresie, der das Mythologische charakterisiert, vgl. Blumenberg 1971, S. 17-18. Damit ist zugleich die Gefahr des Mythos an­ ge­sprochen, denn nach Peter Koslowski sei es nicht der Mythos per se, der Gefahren berge, vielmehr orientierend wirkt, wenn er nicht zu einem starren und dogmatischen Weltbild stilisiert werde, vgl. Koslowski 1991, S. 183. In der Regel ist es allerdings die faktische Vielheit der Mythen (Polymythie), die die Gefahr einer Verabsolutierung bannt, vgl. Marquard 1979, S. 41.53-58, was Hermann Timm wiederum kritisiert, denn der „anthropomorphe Polytheismus“ sei ja der Grund für die philosophische Kritik des Mythos gewesen, vgl. Timm 1983, S. 440. 56 R. A. Segal, Mythos. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2007, S. 69. Cassier hat dies auf die Formel „Myth is an objectification of man’s social expericence“ gebracht, vgl. E. Cassirer, The Myth of the State, New York 1955, S. 57 und dazu Blumenberg 1971, S. 14.

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zu sein; eben dieses magis verweist auf den Gehalt des Mythos im modernen Sinn, ist aber – das soll hier weder verschwiegen noch verharmlost werden – nach Kurt Hübner eben ein „unbestimmtes Gefühl“ und irrational, sieht sich also immer dem Einspruch des Logos als „aufgeklärter Vernunft“ ausgesetzt57 und ist so von fragiler Natur. Dieser kann übrigens auch nicht einfach in psychosomatische Denkmodelle überführt und aufgelöst werden, denn obwohl die in diesem Paradigma luzide gesehenen Verhältnisse einen Teil des Phänomens des magis ausmachen, so beschriebt die Psychologie, ohne die Frage allein beantworten zu können58, warum Wasser als Urelement empfunden wird, das etwa Schuld und Scham tangiert, obwohl diese mit Wasser nur in einem mythischen Sinn zu traktieren sind. Vielleicht versteht man den Charakter des Mythos am besten, wenn man ihn als eine Erzählung versteht59, die zum Denken und Weiterdenken animiert, wie Martin Leiner vorgeschlagen hat und daran erinnert, wie manche Heldengeschichte nicht nur ein Kinderherz weckte, sondern zur (unreflexen) Motivation des Erwachsenen wurde. Noch verbreiteter sind besonders in religiösen Zusammenhängen Kindgottes-Annahmen, die ebenfalls das Grundgefühl eines Lebens prägen können wie Vorstellungen von Gott als einem Richter, vor dem es sich letztlich zu verantworten gilt. Einem atheistischen Geist wird dies als Aberglaube und religiösmythisches Schwärmen vorkommen, dennoch sind es performative „metaphor[s] we live by“ (Mark Johnson/George Lakoff). Ähnlich betont auch Ingolf U. Dalferth gegen den Obskurantismus-Verdacht die bleibende kulturelle Bedeutung des Mythos: „Mythen sind nicht einfach prärationale Produkte primitiver Gesellschaften […]. Mythen sind Phänomene mit Gegenwartsgeltung, Denk- und Deutegewohnheiten unserer eigenen Kultur, in denen sich der nie ganz aus-

57 Vgl. K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos. Freiburg/München 2011, S. V. 58 Vgl. Hübner 2011, S. 45-49, der der psychologischen Deutung des Mythos keineswegs ein Interpretationsprimat zuspricht und sie neben transzendentale (49-56), strukturalistische oder symbolische Deutungen des Mythos (56-68) stellt. 59 Hans-Georg Gadamer und Odo Marquard erinnern in diesem Zusammenhang an Aristoteles, der sich als Liebhaber von Geschichten (mythophilos) und Erzähler von Geschichten (mythologikos) gezeigt hat und mithin eine ganz rudimentäre Definition von Mythen bietet, insofern er sie schlicht als Geschichten versteht, die offenbar Interesse wecken und nicht selten unvergessen bleiben, vgl. Gada­ mer 1981, S. 10 und Marquard 1979, S. 42.

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zuleuchtende, nie völlig konsistente, aber gerade so kreative Sinnhintergrund ausdrückt, dem Kulturen ihre spannungsvolle Einheit und Dynamik verdanken.“60 Mythen, verstanden als große Erzählungen, sind von vornherein nicht an historische Plausibilität gebunden, vielmehr artikulieren sie im Sinne des Bonmot des Neuplatonikers Sallust, „was nie geschehen ist, aber immer schon gilt“ (De diis et mundo, c4), indem sie Orientierung in der Frage bieten, was sinnvolles Leben genannt werden kann.61 Die neuere Mythosforschung ist besonders darum bemüht, die Ähnlichkeit zwischen Mythos und Logos herauszustellen und somit historisch einzuholen, was semantisch in der griechischen Terminologie schon angelegt war, eine enge Verwandtschaft zwischen beiden Lexemen. Mythen können nämlich als sehr frühe Form des Denkens und Artikulierens des Unzugänglichen verstanden werden und werden heute keinesfalls mehr als das „Andere der Vernunft“ degradiert, sondern bilden eine Rationalität sui generis: „Sie erzählen das Selbstverständliche als das schon immer Gültige und versuchen nicht wie der Logos, angesichts der Entdeckung der Nichtselbstverständlichkeit des Überkommenen für oder gegen dessen Geltung zu argumentieren.“62 Der rationale Mythos erscheint deshalb nicht als Oxymoron, weil er nicht einfach dispersa fragmenta bespricht, vielmehr eine eigene Systematik bereithält, die zwar nicht nach Naturgesetzen fragt, aber stets nach den archai der Dinge und so Ordnung schafft, die analog argumentiert, wenn sie das Donnern etwa mit dem Grollen der Götter in Verbindung bringt. In diesem arche-Denken ist jeweils eine arche an ein numinoses Wesen, also an Gottheiten, Nymphen, Heroen etc. gebunden.63 Kurt Hübner geht deshalb soweit, von einer gleichen Erklärungs-Struktur des archaisch-mythischen und aufgeklärt-mythischen Denkens zu sprechen,

60 I. U. Dalferth, „Von der Mythenkritik zur Entmythologisierung. Eine Erinnerung an unverzichtbare Aufgaben der Theologie“, in: V. Hörner, M.Leiner (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Mythos. Eine theologische Spurensuche, Gütersloh 1998, S. 57. 61 Vgl. Dalferth 1993, S. 20 und Dalferth 1998, S. 59 sowie Buber 2013, S. 178f. Vor diesem Diktum Sallusts ist zu fragen, ob nicht das biblisch intonierte in illo tempore auf eben solche Zusammenhänge verweist, die viel mehr in theo­ logisch-anthropologischer als in historischer Absicht berichtet werden, vgl. Pan­nenberg (1971), S. 492f. 62 Dalferth 1998, S. 60. Vgl. auch Dalferth1993, S. 21-22 und Marquard 1979, S. 42. 63 Vgl. Angehrn 1996, S. 26; Gadamer 1981, S. 14; Hübner 2011, S. 284 und Hübner 1979, S. 80-89.

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denn in beiden Zugangsweisen gäbe es eine „reine Erfahrung“, die ihren Grund verbirgt, der wiederum durch das Prinzip trial and error sondiert wird.64 Die Erklärungsmuster des archaischen Mythos können also nicht einfach als willkürliche Irrationalität besprochen werden, anders als das vorherrschende naturwissenschaftlich-technische Natur- und manchmal Menschenbild herrscht hier das durch das Wirken von Göttern geprägte antike Weltkonzept vor65: „[…] Ich sehe keine theoretische Möglichkeit, zwischen Mythos und Wissenschaft zu unterscheiden und etwa zu sagen, der Grieche lebte im Irrtum, wir aber seien in der Wahrheit.“66 Dabei ist das Welterschließungs- und tatsächliche Problemlösungspotential des gegenwärtigen Weltbildes und seines trial and error ungleich erfolgreicher, weil ein Blitzableiter wirksamer gegen Blitze wirke und ein Chemotherapeutikum gegen Krebs als ein Opfer im Tempel.67 Dennoch bleibt weiterhin ein signifikanter Problemüberstand, der jede Verabsolutierung von Weltbildern untersagt.68 Theologie als Kritik des Religiösen, die zunächst nicht aus dem Raum der Religionen selbst kommt, evoziert einen dreifachen Bruch mit dem Mythos, der dann zunehmend das religiöse Denken in Griechenland und auch Israel beeinflusst, wie Paul Tillich herausgearbeitet hat: (1) Im Sinne einer negativen Theologie wird die Transzendenz und Aseität Gottes betont, der nicht einfach ein Agens in der Welt ist, sondern das schlechthinnige Gegenüber zur Welt; (2) daraus folgt die Einsicht in die Losgelöstheit der Welt von Gott, die sich theologisch als Differenz zwischen Schöpfer und Schöpfung ausdrückt. Ist sie als das Andere gegenüber Gott intendiert, dann hat sie Eigenstand und ist nicht allein Bühne göttlicher Epiphanie und dem demiurgisch-dämonischen Kampf ausgeliefert; (3) schließlich ist es eine Kritik des Lebenswandels der Götter der Antike, die intrigant und unmoralisch ein sehr anthropomorphes 64 65 66 67 68

Vgl. Hübner 2011, S. 313. Vgl. ebd.,S. 279-283. Hübner 1979, S. 90. Timm 1983, S. 438. Allerdings wirkt Hübners Versuch, den Mythos dadurch zu nobilitieren (auch wenn er behauptet, keineswegs für ihn zu plädieren, wie er im letzten Satz seiner Mythos-Forschung notiert), als er eine Welt bedeute, die den Menschen nicht kalt und desinteressiert betrachtet, wie es das naturwissenschaftlich-technische Weltbild tue, wie ein Missverständnis seiner Würde, vgl. Hübner 2011, S. 279. Das Gefühl, nicht fremd in der Welt zu sein, weil sie von Göttern, Heroen und Feen bevölkert ist, richtet den Menschen nicht in einer Weise auf, wie es das am Logos der Vernunft orientierte wissenschaftliche Denken vermag.

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Dasein fristen und dabei wenig divine Attribute auf sich beziehen können, womit die Frage unvermeidlich wird, ob es sich bei dem, was den Olymp bewohnt, überhaupt um Gottheiten handelt.69 Wichtig erscheint noch eine Bemerkung zum Verhältnis von Mythos und Ritus, denn die hier angestrebte Untersuchung zu religiösen und profanen Waschungen verbunden mit der Frage nach deren Worumwille, der mythologischer und hygienischer Art sein kann, zielt auf die Interpretation von Praktiken, die sich dann als Ritus erweisen, wenn sie keinen strikt hygienischen Gründen folgen, mithin an einen Mythos gebunden sein könnten, denn gerade dies macht das angefragte Verhältnis aus: In Riten wird das in Gesten, Gebärden, Tänzen und Zelebrationen ausgedrückt, was Mythen sprachlich transportieren, die zugleich den Ritus legitimieren70; die Frage, ob nun der Ritus vom Mythos oder der Mythos vom Ritus abhängt, muss hier nicht geklärt werden.71 Da aber das bloß unterschwellige und nicht selten unreflex-nebulöse Empfinden des Mythos im modernen Sinn, anders als die klare, aber ahistorische Ätiologie des archaischen Mythos, immer nur passager kognitiv und emotional zu beruhigen vermag, bedarf es offenbar der regelmäßigen Wiederholung des Ritus als Aktualisierung des Mythos. Ingolf U. Dalferth hebt hervor, die Krux des Mythos wie des Ritus liege alleine in ihrem Vollzug, keineswegs aber in einem davon unabhängigen Resultat.72 Übertragen auf das Thema Wasser und Hygiene: Nur im Moment des Kontakts mit aqua religiosa wie Weihwasser, Wasser aus heiligen Quellen etc.73 stellt sich möglicherweise ein Gefühl des Segens und der Vereinigung ein, was aber stets wiederholt werden muss, weil das Gefühl nicht anhält, sondern direkt wieder durch die notorische Bedrohung all dessen, was Menschen beginnen, destruiert wird. Selbiges gilt dann mutatis mutandis auch für die profane Wasserpraxis, das belebende oder schamnehmende Duschbad belebt nicht dauerhaft und das Problem der Scham ist durch das Davonrinnen und Abperlen des Wassers keineswegs gelöst, allein für den Moment verhilft der Wasserstrahl zu einer Linderung, die eben im Sinne Dalferths kein vom Wasser unabhängiges Resultat, etwa in der Schamfrage, bedeutet. 69 70 71 72 73

Vgl. Blumenberg 1971, S. 13; Drewermann 2013, S. 150 und Tillich 1970, S. 144. Vgl. Angehrn 1996, S. 37 und Pannenberg 1971, S. 476. Vgl. Dalferth 1993, S. 181; Hübner 2011, S. 42-45 und Segal 2007, S. 86-108. Vgl. Dalferth 1993, S. 185. Vgl. Grabner-Haider 1993, S. 64.

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b) Aberglaube in Geschichte und Gegenwart Folgt man Kurt Hübner weiter, entsteht die abendländische Magie aus einer Verquickung von archaischem Mythos, aufklärerischem Logos der griechischen Philosophie und metaphysischem Denken. Nicht so sehr im Mittelalter, vielmehr in der Renaissance hätte Magie in Europa ihre Blütezeit gehabt, in der sie die bestimmende Macht zur Wirklichkeitsbeherrschung darstellte und von Protagonisten wie dem italienischen Rennaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola, Paracelsus und Giordano Bruno befördert wurde, so Hübner, der allerdings die Schriften des Hermes Trismegistros die Hauptquelle der abendländischen Magie nennt, deren zentraler Gedanke die Durchflutetheit der Welt („substantielle Emmanation“) ist, die es dem Menschen dienstbar zu machen gelte.74 Im Gegensatz zum mythischen Denken, das ebenfalls vom Numinosen in allen Weltbezügen ausging, unterscheidet sich nach Hübner das magische Denken fundamental vom Mythischen, weil es von einem „Herrschaftswillen“ geprägt ist, der sich nicht mehr einfach der Wut und der Gunst der Götter unterstellt, sondern direkten Einfluss auf die Abläufe der Welt nehmen will, was dem antiken Menschen als Sakrileg erschienen wäre, wie Kurt Hübner weiter ausführt: „In der homerischen Welt gibt es nichts mit Hexen, Zauberern, Schamanen oder Magiern Vergleichbares, im Gegenteil, jeder Versuch, sich durch bestimmte Praktiken numinose Wesen dienstbar zu machen, wäre als das schwerste Verbrechen betrachtet worden, das der antike Mensch kannte: Nämlich als Hybris vor den Göttern.“75 Insgesamt warnt Hübner vor Verächtlichkeit gegenüber dem magischen Denken der Renaissance, denn gerade diese Epoche werde als die des „aufgehenden Lichtes“ verstanden und nicht als Rückfall in „finsteren Aberglauben“.76 Aberglaube (superstitio) kann heute als Begriff verstanden werden, der die Bereiche „Wahrsagerei“, „Zeichendeutung“ (Observation), „magisches Wissen“ und „zauberische Praxis“ umfasst und wie folgt definiert wird: „A.[berglaube] heißt jener Glaube, der hin-

74 Vgl. Hübner 2011, S. 382-383. 75 Hübner 2011, S. 387. Vgl. auch Blumenberg 1971, S. 23. Zugleich wird dabei deutlich, dass der Mensch des antik-mythischen Weltbildes zur reinen Passivität verdammt war, insofern er also nur Epiphänomen göttlichen Wollens war, er­ scheint er nicht als eigenständig handelnde Person, vgl. Hübner 1979, S. 78. 76 Vgl. Hübner 2011, S. 386.

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ter u. in den Dingen verborgene, rational nicht begründbare, anonyme o. personifizierte Kräfte vermutet, die zum Zwecke der Zauberei u. des Wahrsagens aktiviert werden können.“77 Auch hier wird, wie in Reclams Wörterbuch des Aberglaubens, behauptet, es handelte sich bei Magie keineswegs um Unlogik, wie oben schon die Mythenforschung betonte, sondern um eine andere Form des Denkens, die dem Logos dadurch nahe ist, als auch sie Zusammenhänge untersucht: „Denn auch der Aberglaube verknüpft die Erscheinungen im Bewusstsein mit Notwendigkeiten. Auch die Verknüpfung nach dem Schema von Gold und Gelbsucht, Rot und Feuer, Springen und Wachsen, Fließen und Vergehen, gründet in einer apriorischen Synthesis“78; wobei insbesondere das naturwissenschaftliche Denken, das sich auf den gleichen Bereich wie die Magie bezieht, also die belebte Welt, gerade nicht mit apriorischen Synthesen operiert, sondern sie post-experimentell formuliert, also aposteriori, mithin ist die hier bei Reclam und durch Dieter Harmening insinuierte Nähe von Magie und Logos falsch. Den entscheidenden Grund aber, warum abergläubige Praxis im Christentum als Unglaube rubriziert wird, hat Hegel pointiert, der die dort angenommene Nähe zwischen Gott und Menschen im Christentum als tiefen Grund der Absage der Superstition begreift: „Der Mensch ist jetzt nicht mehr im Verhältnis der Abhängigkeit, sondern der Liebe, in dem Bewusstsein, dass er dem göttlichen Wesen angehört […]. Dadurch fällt aller Aberglaube der Orakel und des Vogelflugs fort, der Mensch ist als unendliche Macht des Entschließens anerkannt.“79

77 Harmening 2007, S. 21. Eine eher am Akteur abergläubiger Praxis orientierte einschlägige Definition lautet, vgl. K. E. Scheibe, Theodore R. Sabin, Towards a Theoretical Conceptualisation of Superstition, in: D.-R. Moser (Hrsg.), Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens, Darmstadt 1992, S. 26: „A superstition may be said to exist whenever an individual persistently or repeatedly behaves as if his subjective estimate of the result of that behaviours is significantly different from an objective (scientific) estimate of the effect of that behavior.“ 78 Harmening 2007, S. 12-13. Vgl. auch D. Harmening, Superstition – ‚Aberglaube‘, in: D.-R. Moser (Hrsg.), Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aber­ glaubens, Darmstadt 1992, S. 389ff. 79 G. W. F. Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, hrsg. v. E. Mol­ denhauer, K. Markus Michel (Hegel in 20 Bänden, Bd. 12), Frankfurt a. M. 1989, S. 404.

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c) Der Mensch als „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer) Auch von einer engen Verwandtschaft zwischen Mythos und Symbol ist auszugehen, Paul Tillich definiert Mythen als „Symbole des Unbedingten“80 und Ingolf U. Dalferth summiert, Mythen würden per analogiam Gegensätze symbolisch versöhnen.81 Mythen können als solche Symbole verstanden werden, die nicht irgendetwas, sondern Grundwahrheiten des Menschseins artikulieren, die nicht einfach auf den Begriff zu bringen sind und deshalb auf das Symbol angewiesen sind. Man kann das Verhältnis aber auch umkehren und eher von einer Abhängigkeit des Mythos vom Symbol ausgehen, wie es der Mythosforscher J. J. Bachofen getan hat und von der mythischen Grunderfahrung der Mütterlichkeit der Erde ausgeht. Diese Grunderfahrung werde in der Geschichte in vielen Symbolen zum Ausdruck gebracht, insbesondere an Grabstätten, wo Symbole der Fruchtbarkeit, z. B. das Ei, auf die Maternität der Erde verweisen. Der Mythos folgt bei Bachofen nach dem Symbol und kann als „Exegese des Symbols“ aufgefasst werden.82 In einer solchen symboltheoretischen Interpretationsweise konnte die kritische Theologie die biblische „Literarizität des Heiligen“83 in ihrer Nähe zum Mythos dadurch retten, als narrative Symbolisierung anthropologischer Grundstrukturen dechiffriert wurde; eine Strategie der Mythenhermeneutik, wie sie besonders im Deutschen Idealismus Schule gemacht hat und sich bis in die neuere Philosophie, Psychologie und Theologie erhalten hat.84 Rudolf Bultmann etwa meint, im Mythos sei das symbolisch präsent, was später als existenzphilosophsiche Erkenntnis über das Dasein des Menschen bekannt wurde und Carl G. Jung ähnlich wie Eugen Drewermann 80 P. Tillich, „Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie“, in: R. Albrecht (Hrsg.), Gesammelte Werke, Bd. V, Stuttgart 1964, S. 188. 81 Vgl. Dalferth 1993, S. 185. 82 Vgl. Hübner 2011, S. 65. Damit ist jedenfalls symboltheoretisch deutlich, dass Symbole anders als Zeichen an der Wirklichkeit partizipieren, die sie in nuce enthalten, Symbole stehen als Abbilder in einer Beziehung zu Urbildern, vgl. Blumenberg 1971, S. 37. Ein Stopp-Schild ist eine ganz willkürliche Abmachung und hat mit dem Vorgang des Bremsens und Haltens nichts zu tun, da Rot, Weiß und Vieleck eigentlich nichts mit dem Anhalten gemein haben, ein ter­ t­ium comparationis fehlt gänzlich. Dies scheint bei Symbolen anders, das Ei als Symbol für das Leben ist selbst ein Mikrokosmos des Lebens und fungiert hier als pars pro toto. 83 Timm 1983, S. 443. 84 Vgl. Pannenberg 1971, S. 474f.

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haben dargestellt, dass es seelische Grundbedingungen (Archetypen) seien, die im Mythos Ausdruck gefunden haben und immer wieder finden.85 Hält Bultmann den Mythos allerdings für substitutionswürdig86, so betont Friedrich Nietzsche in Die Geburt der Tragödie die bleibende Bedeutung des Symbolhaften des Mythos und leistet so einen Beitrag zum vielfach affirmierten Ansinnen einer Rehabilitierung des Mythischen: „Ohne Mythus […] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig; erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Kulturbewegung zu einer Einheit ab […]. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen sich der Mann sein Leben und seine Kämpfe deutet.“87

4. Aufklärung der Hygiene I: Bleibende Mythologie oder Magie religiöser Waschung? Folgt man der Unterscheidung der klassischen Gräzität, die das Wort des Mythos als Wort der Macht vom Wort des Logos als dem argumentativ Kommunikablen unterscheidet, so erscheint der Usus von aquae religiosae von mythologischer Herkunft, denn universal-argumentativ ist nicht zu belegen, dass divin-numinoses Agieren an dieses oder jenes Wasser gebunden ist. Nur der Gestus der Autorität, etwa aus der Volksfrömmigkeit oder der liturgisch-rituellen Praxis, verbürgt ein göttliches commercium durch das Wasser. Eine solche Sicht entspricht auch einem allgemeinen Verständnis von Mythologie, wie Wilhelm Nestle schon Mitte des 20. Jahrhunderts definierte: „Genauer charakterisiert sich das mythische Denken durch den völligen Mangel einer Prüfung seiner Vorstellungen an der Wirklichkeit, also einer Abgrenzung von Schein und Sein […].“88 85 Vgl. Buber 2013, S. 178. 86 Vgl. Bultmann 1965, S. 134-135. 87 F. Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, in: G. Colli, M. Montinari (Hrsg.), Kri­ tische Gesamtausgabe, Bd. 1, Berlin/München 1980, S. 145. 88 W. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 2. Aufl., Stuttgart 1941, S. 1f. Dagegen be­ tont Ernst Cassirer in seiner Symbol-Philosophie die strukturelle Nähe von my­ thischem und naturwissenschaftlichem Projekt der Zusammenschau des Man­ nig­faltigen, vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, Darm­stadt 1964, S. 78: „Wenn man das empirisch-wissenschaftliche und das mythische

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Gegen eine mythologische Interpretation mythisch-anmutender religiosidad popular in den Weltreligionen spricht allerdings die Inklination des archaischen Mythos zur Tragik, wohingegen dargestellte religiöse Riten Heilung bewirken wollen.89 Ihnen daher aber alle Verschwisterung mit dem Mythos absprechen gelänge nur, wenn man alleine das archaische Modell der Mythos rezipierte und die diversen Formen des Mythos im modernen und weiteren Sinn übersähe. In einer solchen Topik verliert dann auch der Verweis auf den bloßen Symbolcharakter religiöser Wasserpraktiken seinen harmlosen Klang, denn es ist gerade Eigenart des Symbol, anders als dass willkürlich vereinbarte Zeichen, einen Anteil an dem zu haben, was es, wenn auch in nuce, repräsentiert. Die dargelegte enge Verbindung von Mythos, Symbol und Ritual belegt diese Nähe, sodass die im religiösen und profanen Sinn ausweisbare Symbolizität keineswegs bedeutet, hier sei alles mythologische Denken abgelegt. Dies wäre im Sinne der Entmythologisierungsthese Rudolf Bultmanns erst dann geschehen, wenn die christliche Liturgie als „verbum visibile“ verstanden würde und Brot, Wein oder eben Wasser nicht als sakrale Substanzen, sondern als äußerliche Bekräftigung einer inneren Wirklichkeit, nicht aber bewirken, was sie bezeichnen.90 Paul Tillich diagnostiziert in diesem Zusammenhang, eine „magisch-sakramentale Wirklichkeitsanschauung“ sei selbst in „radikal-kritischen Religionen wie Judentum und Protestantismus“ ewiger Companion des „religiösen Bewusstseins“ – „von den übrigen großen Religionsformen zu schweigen“ – und faktisch kaum zu entmythologisieren.91 Fraglich ist allerdings, ob die Wasserpraktiken einer religiosidad popular im Christentum, wie am Beispiel des Wallfahrtortes Lourdes exemplifiziert, Derivat solcher Erzählungen und DenkgeWeltbild miteinander vergleicht, so wird alsbald deutlich, dass der Gegensatz zwischen den beiden nicht darauf beruht, dass sie in der Betrachtung und Deutung des Wirklichen ganz verschiedene Kategorien verwenden. Nicht die Beschaf­ fenheit, die Qualität dieser Kategorien, sondern ihre Modalität ist es, worin der Mythos und die empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis sich unterscheiden. Die Verknüpfungsweisen, die beide gebrauchen, um dem sinnlich-Mannigfaltigen die Form der Einheit zu geben […] zeigen eine durchgehende Analogie und Entspre­ chung.“ 89 Vgl. Dalferth 1993, S. 187. 90 Vgl. R. Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung. Glauben und Verste­ hen, Bd. IV, Tübingen 1965, S. 180f. Zur Kritik an Bultmanns Vorstoß, vgl. Pannenberg 1971, S. 477-482. 91 Tillich 1964, S. 210.

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wohnheiten im Sinne Ingolf U. Dalferths und Martin Leiners sind (siehe 3), die das Denken über fundamental-anthropologische Zusammenhänge animieren oder zu den gewohnten Deutungsmustern zählen können. In einem rudimentären Sinne konnte auch unter Rekurs auf profane Waschung mit ihren religiös-rituellen Residuen die Deutungsgewohnheit Wasser erschlossen werden, die deutlich über hygienische Intention hinaus gehende Bedeutung im Zusammenhang mit Schuld, Scham und Krankheit, bzw. insgesamt vitalisierende Bedeutung hat. Insofern bedeutet die Begegnung mit Wasser auch die Begegnung mit einem Grundelement, das im Sinne des narrativen Mythos Assoziationen weckt und zu Ritualen animiert, die das Menschsein als schuldhaft aber waschbar, als ermattet aber erregbar, interpretieren. Damit ist genau das konkretisiert, was oben im Anschluss an Rudolf Bultmann Mythos im anthropologisch-existentiellen Sinn genannt wurde, bzw. Mythos im archaischen und modernen, im engen und weiten Sinn. Bietet der „demythologisierte Zustand des Mythos“ nach Robert Segal Auskunft über die Frage, wie es sich anfühlt, Mensch zu sein und ist gerade dies die bleibende anthropologische Relevanz des Mythos, dann geben religiöse Wasserpraktiken darauf eine dezidierte Antwort: Beängstigend scheint die Welt dem Menschen zu sein, der die Nähe zum Sakralen sucht, von dem er apotropäische Wirkung erhofft. Ist Wasser das Element der Initiation in die religiöse Gemeinschaft der Christen, dann erinnert ihn die Berührung mit Weih- oder Taufwasser daran, dass man Teil der Gemeinschaft ist, die sich zum schützenden Gott rechnet. Zugleich fühlt der Mensch sich klein und unterlegen, der nach dem heiligen Wasser von Priesterschaften verlangt, das er selbst nicht erstellen kann, für das der Priester nur ein einfaches Gebet und einen Segensgestus benötigt.92 Klein fühlt sich der Mensch auch deshalb, weil er es nur empfangen kann, weil er nur so dastehen kann, sein Haupt neigen kann und erhofft, dass etwas von dem aqua benedicta auch sein Leben heilt. Auch weil Wasser Leben und Fruchtbarkeit bedeutet, fühlt der Mensch sich klein, weil er von einem Höheren dieses Leben zugesprochen bekommt. Dieser Mensch unter dem Weihwasser fühlt sich vor allem aber unrein, denn wie sonst sollte die immer und immer zu wiederholende Waschung, wenn sie auch nur partiell erfolgt, verstanden werden? Die Aspergis-Prozession, das anerzogene, regelmäßige Nehmen von Weihwasser erinnert an eine bleibende 92 Vgl. Tillich 1970, S. 146.

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Schuld, die scheinbar nicht getilgt werden kann, denn die Waschung hört niemals auf. Die Bäder von Lourdes sind sicher ein besonderer Fall, aber auch sie können leicht als mythische Handlungen im anthropologischen Sinn gedeutet werden. Wie es sich für sie anfühlt, ein Mensch in dieser Welt zu sein, kann kaum deutlicher als durch das herzzerreißende beschwerliche Steigen von Alten und Kranken in das kalte Wasser der Wannen gesagt sein; sie fühlen sich alt und krank in dieser Welt, aber sie sind nicht ohne Hoffnung und glauben an das letztlich Gute der Welt, deren Kräften sie zutrauen, selbst das Unmögliche zu leisten. Schmerzhaft fühlt es sich an, in der Welt zu sein, aber es gibt Inseln des Aufatmens, wenn auch keine Enklaven des Heils. Das nackte Untertauchen in die Wannen von Lourdes mit einem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Wunsch bedeutet aber auch das Zugleich von: Zurück in den kalten Schoß der Erde, Tod, aber auch Geborenwerden und letztlich, das Mythische aktiv ins Magische übersteigend: Durch das Herabsteigen in dieses heilige Wasser aus der Quelle soll Übel abgewehrt werden, obwohl das Wasser und das Bad keinerlei, wenigstens bis heute entdeckter Wirkstoffe gegen das Übel enthält. Wie es sich anfühlt, Mensch zu sein und wie es sich in den Bädern von Lourdes ausdrückt, hat eine Helferin bei den Bädern so zusammengefasst: „Ich habe das Leiden der Kinder, der Mütter und aller an Leib und Seele Erkrankter hier kennengelernt. An anderen Orten sind sie in allen möglichen Krankenhäusern und Altenheimen verborgen.“93 All dies bleibt allerdings, etwas anders als die religiösen Bäder in Lourdes, ebenso vage wie der Mythos selbst, der mehr ein Gefühl über den Menschen und die Welt ausdrückt, zumal Theodor W. Adorno auf die regelmäßige Inkonsistenz des Mythos hingewiesen hat94, was aber seiner Bedeutung für das Erleben von Sinnzusammenhängen keinen Abbruch tut, worin nach Martin Buber aber gerade der Skopus des Mythos liegt.95 Die indemonstrablen noumena, die heute das kennzeichnen, was Mythos meint, da keiner mehr tatsächlich von Nymphen und Nixen in Gewässern ausgeht, aber noch den Zauber zu spüren vermag, den die Quelle und der See bedeuten, werden im religiösen Wasserritus in Lourdes gemessen an der verständlichen Hoffnung von Kranken auf Heilung ihrer Transzendenz 93 Zitiert nach Jehle 2002 S. 467. 94 Vgl. T. W. Adorno, „Frühschriften“, in: G. Adorno, R. Tiedemann (Hrsg.), Gesam­ melte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1973, S. 363. 95 Vgl. Buber 2013, S. 177 und Koslowski 1991, S. 179.

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beraubt. In der Bitte um mirakulöse Vorgänge in den Quell-Bädern des Wallfahrtorts erhofft sich ein gewisser Volksglaube das direkte Hervortreten und Intervenieren des Göttlichen zugunsten eigener Gebrechen und Ohnmächte. Die Geschichte und Gegenwart erlebter Heilungen führt zu einem down-to-earth der Erwartung an das Wasser der Marienquelle und bedeutet zugleich ein far out, denn das unterscheidet ja gerade den Mythos von der Magie, dass er ohne Beschwörung und Zauber auskommt und vielmehr eine Interpretation für die Zusammenhänge menschlichen Empfindens bietet, wenn auch vorläufig, korrigierbar und nicht selten diffus. Mithin kann der Usus der aqua religiosa in Lourdes nicht dadurch legitimiert werden, als dort ebensolche mythische, wenn auch idiosynkratische Reminiszenzen an das Wasser beobachtet würden, wie insgesamt für den Zusammenhang Wasser und Hygiene dargestellt werden kann. Gesundung wird von Menschen gesucht und versucht und ist kaum rechtfertigungsbedürftig. Sie allerdings in nachweislich wirkstofflosem, kühlem Quellwasser im kirchlich-katholischem Ambiente zu suchen, ist mehr als nur eine Symbolisierung der Hoffnung auf die von Gott als gut rubrizierte Schöpfung und schlichter Götzendienst, wie mit Paul Tillich notiert werden muss: „Ein Glaube, der seine Symbole wörtlich versteht, wird zum Götzenglauben. Er nennt etwas unbedingt, was weniger ist als unbedingt.“96 Kippt der kulturinvariante Mythos von der Lebendigkeit des Wassers zu superstitiosen Wasserpraktiken, ist von einem theologisch-kirchlichen Versagen insofern auszugehen, als das Christentum Europas nach Ingolf U. Dalferth zwar nicht „antimythisch“, aber „mythenkritisch“ argumentiert und keinesfalls einer „religiösen Remythisierung des Lebens“ das Wort redet.97 In Lourdes ist eine solche im Ausmaß des Aberglaubens geschehen, die zugleich das theologisch-christliche Erbe verhöhnt, schon weil theodizeetheoretisch nicht einzusehen ist, warum Gott (übrigens durch Maria) einen solchen unzuverlässigen Brunnen der Heilung nicht im Garten einer pädiatrisch-onkologischen Klinik sprudeln lässt, anstatt vornehmlich tuberkulöse Erkrankungen von Nonnen und

96 P. Tillich 1970, S. 147. 97 Dalferth 1998, S. 63 und Gadamer 1981, S. 13.

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volkfrommen Katholiken zu heilen?98 Ein Gott, der in einem bloß kontingenten Rhythmus Krankheit nimmt, ist ein grausamer Gott. Man wird nicht allen Pilgern in Lourdes Aberglauben unterstellen dürfen, wenn man nicht das gesamte priesterlich-sakramentale Denken des römischen Christentums so auffasst.99 Wer aber hinter dem Wasser in Lourdes verborgene und mithin personifizierte Kräfte auch nur vermutet und sie für Zauberei nutzen will, wie anders sollte das Eintauchen erkrankter und unheilbarer Körper verstanden werden und die Praxis, vor dem Eintauchen laut sein „Anliegen“ zu nennen, der hängt einem abergläubigen Denken an, wie der Definition von Dieter Harmening zu entnehmen ist.100 Auffallend besonders für den Bereich des Christentums ist eine signifikante et-et-Struktur von mythischen und zum Teil abergläubigen Elementen neben einer vehementen Kritik des Mythos und der Superstition, wie sie etwa im Prophetenbuch des Jesaja enthalten ist, als Spott und Drohung gegen Babel und ihre „Zaubersprüche“ (Jes 47,9) oder in den Pastoralbriefen des neutestamentlichen Briefcorpus: „Gottlose Altweiberfabeln weise zurück!“ (1 Tim 4,7). Auch wichtige Konzilien definieren kritische Sentenzen, etwa in Chalcedon, wo eine mythos-typische Vermischung von Göttlich und Menschlich in der Christologie vermieden werden soll, in dem Gottheit und Menschheit in Christus unvermischt seien, wenn auch ungeteilt und untrennlich.

5. Aufklärung der Hygiene II: Säkularisierte Religiosität von Waschungen? Lassen sich mythische und religiös-anmutende Hygienepraktiken nachweisen, stellt sich die Frage nach dem genauen Verhältnis von Religion und Hygiene. Dieses soll hier im Modell der Säkularisie98 In dieser Hinsicht ist das behauptete außerordentliche Handeln Gottes in Lourdes zu partikular um wahr zu sein, denn das Leid aller kann nicht warten; die ubiquitäre Logik der Bergpredigt enttarnt jeden Heilspartikularismus als fatales Missverständnis des hic et nunc des Anbruchs des Reiches Gottes, vgl. Drewermann 2013, S. 154: „Aber die Leidenden können nicht warten. Die Ge­ schundenen können nicht warten. Die den Tod vor Augen haben, müssen die Erlösung jetzt spüren. Und in deren Namen redet Jesus. Darum gibt es für ihn kein warten. Alles bei ihm ist jetzt oder nie: so die Bergpredigt.“ 99 Vgl. Timm 1983, S. 440. 100 Vgl. Harmening 2007, S. 21.

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rung beschrieben werden, das von Elementen ausgeht, die von ihrer religiösen Ligatur befreit, in profanen Kontexten revitalisiert werden. Exemplarisch kann dies an der Geschichte der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts gezeigt werden, die Wasserkuren und Bäder als physikalische Therapie anbietet, um eine Art Sozial- und Psychohygiene zu etablieren, die in der Zeit vor der Aufklärung kirchliche Rituale sicherte. Insbesondere das katholische Weihwasser fungierte beim Betreten von Kirchen und Privatwohnungen, aber auch bei Aspergis-Prozessionen und im Rahmen von Exorzismen, als Mittel zur Reinigung von Schuld und zur religiösen Besänftigung von Angst und Besessenheit. Schützte den katholischen Christen das Bekreuzigen mit Weihwasser auch vor moralischem Verfall, so ist es in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts das Kälte- oder Säurebad, das Leiden an Onanie heilen soll. Auch gegen Tobsüchtige wird in der Psychiatrie säkularisiertes Wasser angewandt, nicht mehr das Weihwasser des Exorzismus, sondern regelmäßige kalte Spritzbäder.101 Ähnliche Analogien lassen sich vor dieser Säkularisierungsmatrix auch für die Gegenwart ausmachen, deren Hygienevorstellungen auf das 19. Jahrhundert zurückgehen, in dem die religiöse Praxis durch das Kältebad der Vernunft besonders unter Intellektuellen an Bedeutung verliert, zugleich aber die Praxis des wöchentlichen Badens und regelmäßigen Händewaschens etc. in einem analogen Verhältnis zum wöchentlichen Beichten und regelmäßigen Weihwasserkontakt in Haus und Kirche steht, wenn man Bäder und Waschung eben nicht allein aus hygienisch-medizinischen, sondern auch aus Gründen der Scham-Schuld-Bewältigung und zur Abwehr von Krankheit und Schaden praktiziert. Ist aber der säkularisierte Gehalt nie frei vom Mythos, dann sind Residuen auch in den neuen, profanen Adaptionen zu erwarten. Folgt man in Anlehnung an die oben getroffene Unterscheidung zwischen archaischem und modernem Mythos, der nach Robert Segal etwas darüber aussagt, wie es sich für Menschen anfühlt, in der Welt zu sein, dann geben die Wasserpraktiken der profanen Welt in neuerer Geschichte und Gegenwart darüber Auskunft. Die Wasser- und Badtherapien in der Psychiatrie wurden exemplarisch angeführt, weil sie Auskunft darüber geben, wie es sich anfühlt, dem Nicht-Normativen zu begegnen, das man glaubt durch

101 Vgl. S. Braun, Heilung mit Defekt. Psychiatrische Praxis an den Anstalten Hof­heim und Siegburg 1820-1878, Göttingen 2009, S. 319-322.

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Wasserkuren zu bewältigen, wiederum durch Abwaschung, durch Neubeginn, durch Reizung, durch Besänftigung. Der sich waschende Mensch, der sich frottierende Mensch, der sich lange badende Mensch fühlt sich schmutzig und schuldig in dieser Welt, will durch das Frottieren neu und anders werden, will die von der Welt berührten Schichten seiner Haut loswerden, will im Bad zurück zu uteriner Geborgenheit und Wärme, fühlt sich in der Welt zuweilen einsam und schutzlos. Im Sinne des weiteren, existentiellen Mythosbegriffs im Anschluss an Bultmann kann hier von mythischen Wasserpraktiken gesprochen werden, weil Schuld nicht abwaschbar ist, Menschen nicht neu werden durch Frottierung und weil Badewannen nicht in den Uterus und seine Geborgenheit zurückführen, mithin kein Stück der Vulnerabilität des Menschen zurücknehmen. Aber im mythischen Ritus wird ein passageres Gefühl des Ausstiegs erzeugt, der zugleich anerkennt, woraus die Sehnsucht auszusteigen erhofft.

6. Fazit: Das „magis“ der Hygiene und das notwendige „magis“ der Aufklärung über Hygiene Nach dem Dafürhalten Paul Tillichs gibt es keine mythologemfreie Welt, auch wenn ihre Gehalte durch die Hegemonie des naturwissenschaftlich-technischen Denkens immer sublimer werden: „Eine wirklich unmythische Geisteslage gibt es nicht. Und in immer neuen Schöpfungen religiöser und kultureller Art, auch in der Gegenwart, wird der verborgene Mythos manifest: vielleicht immer unsymbolischer, immer realistischer und wirklichkeitsnäher. Aber er bleibt Mythos“.102 Wer nicht erkennt, dass Hygiene auch vorrationale Anteile beinhaltet, wird übersehen, wenn diese gegen Leben und Würde des Menschen in Stellung gebracht werden; was nicht zuletzt eine bleibende Gefahr nicht nur des Religiösen darstellt, wenn eine „heilige Hygiene“ zwischen Reinen und Unreinen, Menschen und Nicht-Menschen unterscheidet.103 Es ist eine bleibende Gefahr den Mythos für längst überwunden und durch den Szientismus aus102 Tillich 1964, S. 195. 103 Vgl. A. Margalit, „Menschenwürdige Gleichheit“, in: A. Krebs (Hrsg.), Gleich­ heit und Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, S. 111.

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getrieben zu halten104, obwohl ein moderner Mythos im weiteren Sinne längst das Erbe des archaischen Mythos angetreten hat und unerkannt nun als Logos missverstanden werden kann, was die Geschichte des Nationalsozialismus als mörderische Gefahr belegt. Man muss den Mythos erkennen und verstehen, um ihm nicht zu verfallen.105 Folgt man der gegenwärtigen interdisziplinären Mythos-Forschung, dann ist der Mythos keinesfalls per se inhuman106, aber es wäre fatal die Frage für erledigt zu halten, aus welchen Mythen, bzw. Denkgewohnheiten wir leben107, denn dies werden Menschen immer tun, um das Pluriforme zu systematisieren. Mit anderen Worten: Nie kann der Mythos als Denkgewohnheit überwunden werden, als gäbe es einen puren Blick auf die Dinge; was die Aufklärung noch meinte, von Adorno und Horkheimer aber selbst als Mythos, eben als Mythos der Aufklärung, enttarnt wurde.108 Mythen und Denkgewohnheiten können sich ändern, Kulturen sind ihnen nicht völlig ausgeliefert.109 Auch Riten werden religiöses wie profanes Leben stets prägen und ohne sie blieben wichtige Erfahrungen des sakralen und profanen Heiles und Wohlergehens aus.110 So kann eine umfassende Entritualisierung und eine damit zusammenhängende Entmythisierung nur um den Preis des Verlustes von, wenn auch passageren Heilserfahrungen, geschehen. Dies bedeutet aber keinesfalls, den einzelnen Ritus nicht kritisch daraufhin befragen zu können, ob angemessene Aspekte menschlichen Leidens und Hoffens angesprochen sind und besonders, den Ritus als Ritus und seine modern-mythische Firnis zu erkennen. Paul Tillich hat mit dem Begriff des „gebrochenen Mythos“ genau dies zu sagen versucht, da nur Gott alleine als Gott verehrt werden dürfe, der „ungebrochene Mythos“ aber das Profane mit dem Sakralen verwirre. Mythologisches begreift Tillich aber weiterhin als Konstituens des Religiösen, es kommt nur alles darauf an, die Transparenz des mythologischen Stoffs auf Gott hin bewusst zu halten und 104 105 106 107 108

Vgl. Hübner 2011, S. V. Vgl. Marquard 1971, S. 259. Vgl. Hübner 1979, S. 92. Vgl. Dalferth 1998, S. 60 und Tillich 1964, S. 194, S. 203. Vgl. J. Habermas, „Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkun­ gen zur Dialektik der Aufklärung – nach einer erneuten Lektüre“, in: K. H. Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frank­furt a.M. 1983, S. 406-409, 413-421. 109 Vgl. Dalferth 1993, S. 25. 110 Vgl. ebd., S. 191.

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Mythen insofern nicht zu verabschieden, aber zu brechen und das heißt, sie zu durchschauen, ohne ihr „unbedingtes Angehen“ für erledigt zu halten.111 Problematisch bleiben alle Mythen auch im nicht-archaischen Sinn dort, wo sie sich allein auf das „menschliche Erleben der physischen Welt“ beziehen und nicht auch auf die Zustände der psychischen Welt, was den Mensch in den Konflikt zwischen zwei Wahrheiten brächte.112 Genau dies geschieht im Zusammenhang mit der Wallfahrt nach Lourdes und einem götzendienstlichen Verhältnis zum Wasser der dortigen Quelle. Hier wird gerade nicht konsequent zwischen physischer und psychischer Welt unterschieden, der Mythos Wasser wird im Sinne Tillichs nicht gebrochen, stattdessen erhofft man numinose Mächte des Göttlichen im Wasser, die bei Licht besehen, wiederum im Sinne Tillich, Ausdruck römisch-katholischer Machtlust sind: „Denn es liegt in ihrem [gemeint sind autoritäre Systeme in Religion und Politik] Interesse, die Menschen unter ihrer Herrschaft in Sicherheit zu wiegen und denen, die die Herrschaft ausüben, unbestrittene Macht in die Hand zu geben. Der Widerstand gegen die Entmythologisierung zeigt sich im starren Festhalten am Buchstaben. Die Symbole und Mythen werden wörtlich genommen. […] Das Wesen des Symbols, das über sich hinaus auf etwas anderes verweist, wird verkannt. Man versteht dann die Schöpfung als einen magischen Akt […].“113 Alles Nachdenken über den Mythos und seine mehr oder weniger offensichtliche Persistenz entlarvt das naturwissenschaftlichtechnische Phantasma eines God’s point of view, ein Gedanke übri­ gens, den nur die Theologie entwickeln konnte, als sie Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf schied114, der jedenfalls eine Position reinen Überblicks und Neutralität bedeutet, den Menschen schlech111 Vgl. Tillich 1970, S. 146ff. 112 Segal 2007, S. 72. 113 Tillich 1970, S. 146. Tillichs Kritik bezieht sich dabei nicht vorrangig auf die Naivi­tät des Volksglaubens, sondern auf die, die diesen animieren, vgl. ebd. 147: „Der Feind der kritischen Theologie ist darum nicht das naive, sondern das bewußte Wörtlichnehmen der Symbole in Verbindung mit einer kämpferischen Unterdrückung selbstständigen Denkens.“ Zum Problem einer „mütterlichen, priesterlichen Kirche“, vgl. Tillich 1968, S. 75. 114 Es lassen sich weitere Beispiele anführen die die terminologische und ge­ dankliche Verwandtschaft von mythischem und naturwissenschaftlichem Denken belegen. So stammt der Begriff der Materie etymologisch von mater als mythischer Grundfigur des Fruchtbaren und Lebendigen. Der Begriff Zukunft kommt von adventus und meint die Ankunft Gottes, für Energie und Kausalität ließen sich ähnliche Zusammenhänge darstellen.

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terdings nicht haben können.115 Schon deshalb nicht, weil menschliches Denken an Begriffe gebunden ist, die keinesfalls neutrale Terminologie sind, vielmehr, darauf hat Leszek Kolakowski besonders hingewiesen, entstammen viele Grundbegriffe unseres Denkens, wie Leib, Liebe, Seele etc. dem mythischen Denken und sind bei allen Transformationsprozessen nicht gehaltlose Livree geblieben.116 Kolakowski betont die bleibende mythologische Firnis menschlichen Denkens, die überall dort ignoriert wird, wo etwa Forschung für neutral gehalten wird, obwohl sie stets bestimmten Interessen und Vorannahmen folgt.

Literatur T. W. Adorno, Frühschriften, in: G. Adorno, R. Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1973. E. Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt a. M. 1996. J. Assmann (1982), „Die Zeugung des Sohnes. Bild, Spiel, Erzählung und das Problem des ägyptischen Mythos“, in: ders., W. Burkert, F. Stolz (Hrsg.), Funktionen und Leistungen des Mythos. Drei altorientalische Beispiele, Göttingen 1982, S. 13-61. H. Blumenberg (1971), „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11-66. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1990. H. Böhme, „Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt a. M. 1988, S. 7-42. S. Braun, Heilung mit Defekt. Psychiatrische Praxis an den Anstalten Hofheim und Siegburg 1820–1878, Göttingen 2009. M. Buber, „Der Mythos der Juden“, in: P. Mendes-Flohr, B. Witte (Hrsg.), Martin Buber Werkausgabe, Bd. 2.1 (Mythos und Mystik, Frühe religionswissenschaftliche Schriften), Gütersloh 2013, S. 171-179. R. Bultmann, „Neues Testament und Mythologie“ (1941), in: H.-W. Bartsch (Hrsg.), Kerygma und Mythos, Hamburg 1967, 15-48. R. Bultmann (1965), Zum Problem der Entmythologisierung. Glauben und Verstehen, Bd. IV, Tübingen 1965. E. Cassirer, The Myth of the State, New York 1955. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, Darmstadt 1964. I. U. Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg i. Br. 1993. 115 Überall dort, wo menschliche Rationalität die Kompetenz zur umfassenden Aufklärung und Sinnstiftung zugesprochen wird, wird sie überschätzt und gefährlich, vgl. Dalferth 1998, S. 61. 116 Vgl. Kolakowski 1974, S. 32-39.

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IV. Literatur und Medien

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„Iiiieh! Wie eklig!“ Kinderliteratur als Medium der Hygieneaufklärung

1. Fiktionale Prophylaxe Die Grundsteine für soziale Normen werden im Kindesalter gelegt. Adäquate und kindgerechte Aufklärung über Körperhygiene als ein zentrales gesellschaftliches Normengeflecht stellt dabei ein wesentliches Element der Erziehungspflichten dar. Das Wissen über Basismaßnahmen zur Infektionsprävention variiert jedoch stark sowohl bei den Erziehungsberechtigten, denen in Deutschland am stärksten die Gesundheitserziehung obliegt, als auch bei pädagogischen Akteuren in Kindergärten oder Schulen und nimmt zudem in der Regel einen zu geringen Stellenwert ein.1 Die Hinzuziehung kindgerechterer medialer Formen hat sich als Unterstützung für die kindliche Hygieneaufklärung bewährt, ist Kinderliteratur doch von jeher untrennbar verknüpft mit dem Aspekt des Erziehungsmediums, und so tut es nicht wunder, dass auch der deutsche Buchmarkt seit einigen Jahren einen regelrechten Boom an entsprechenden Werken zu Haar-, Mund- und weiterer Körperhygiene verzeichnet.2 Die vermeintlich so harmlose, auf den ersten Blick rein auf den kindlichen Rezipienten ausgerichtete Gattung darf dabei keinesfalls auf einen bloßen Unterhaltungswert reduziert werden. Denn als „Medium der Sozialisation“3 entspricht Kinderliteratur in gewissen 1 2

3

Vgl. J. Gebel et al., „Hygiene-Tipps für Kids: Konzept und Umsetzungsbeispiele“, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 51(11)/ 2008, S. 1304-1313, hier: S. 1304 sowie S. 1312. Für einen Überblick über die historische Entwicklung der medizinischen Kinderund Jugendliteratur siehe A. H. Murken, „Kind, Krankheit und Krankenhaus: Zur Geschichte der medizinischen Kinder- und Jugendbücher: Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, in: ders., M. Linsmann, B. Schmitz (Hrsg.), Kind, Krankheit und Krankenhaus im Kinder- und Jugendbuch: Die Sammlung Professor Dr. Dr. Axel Hinrich Murken, Troisdorf 2004. G. Velthaus, Die Pädagogik der Kinderliteratur: Szenen einer narrativen Er­ ziehungsgeschichte oder Partituren des Umgangs mit Kindern, Hohengehren 2003, S. 36.

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Zügen der Reinform des Horaz’schen prodesse-et-delectare-Prinzips: Abhängig von ihrer historischen und soziokulturellen Verankerung diente Kinderliteratur beispielsweise zur Flankierung religiöser Erbauungsintentionen, moralisch-aufklärerischer Bestrebungen, der nationalen Gesinnungsbildung oder, seit dem 20. Jahrhundert, als Wegweiser für Wissensvermittlung und Identitätsfindung.4 So „spiegeln Bilderbücher und Kinderliteratur in unverfälschter und anschaulicher Form die Erziehungsabsichten und Reformbestrebungen einer Epoche wieder, da das Kinderbuch über den kindlichen Unterhaltungswert hinaus stets ein Mittel zur Erziehung und allgemeinen Moralisierung war und ist.“5 Gerade die auf das Kleinkindalter gerichtete Gattung des Bilderbuches, das sich neben der intermedialen Interdependenz von Text und Bild durch die generationenübergreifende Kommunikation zwischen erwachsenem Vermittler und kindlichem Zuhörer auszeichnet, vermag Erziehende bei der Hygienesozialisierung eines Kindes zu unterstützen, bis dieses entsprechende Normen internalisiert hat.6 Mit einem vergleichenden Blick auf soziokulturelle und historische Entwicklungen des kinderliterarischen Hygienediskurses ist somit von besonderem Interesse, welchen „prophylaktischen“ Beitrag Bilder- und Kinderbücher zur Verhütung von Krankheit sowie zur Etablierung und Stabilisierung von Gesundheit leisten können. Dies umfasst Fragen, die einerseits auf die inhaltliche Ebene zielen, genauer auf Hygienebewertung, -motivation und -begründung, andererseits auf die Dimension der Rezeption gerichtet sind, genauer 4

5

6

Vgl. B. Kümmerling-Meibauer, „Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs“, in: J.-F. Leonhard et al. (Hrsg.), Medienwissenschaften. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kom­ munikationsformen, Tl. 2., Handbücher zur Sprach- und Kommunikations­ wissenschaft, Bd. 15, Berlin, New York 2001, S. 1585-1594, hier: S. 1586. C. Murken-Altrogge, „Das kranke Kind im Bilderbuch – ein Bild vom kranken Kind?“, in: A. H. Murken (Hrsg.), Kind, Krankheit und Krankenhaus im Kinderund Jugendbuch seit 1800, 2. Aufl., Herzogenrath 1983, S. 63-84, hier: S. 63. Vergleiche in diesem Kontext auch Gerhard Velthaus’ Postulat der Kinderliteratur als „konkrete Auslegung der Erziehungsbedürftigkeit und Bildsamkeit des Men­ schen. In ihr kommt das erzieherische Verhältnis des Erwachsenen zum Kinde zum Vorschein, das sich immer mehr von der schulmeisterlichen Belehrung zur Hilfe beim Selbstständigwerden entwickelt.“ (Velthaus 2003, S. 8). Vgl. hierzu auch Reinhold Bergler: „Hygiene- und Sauberkeitsverhalten ist das Ergebnis eines Lernprozesses, der mit dem Toilettentraining im Elternhaus beginnt und an dem im Laufe der menschlichen Entwicklung eine Vielzahl von Sozialisationsagenten einschließlich der Medien beteiligt sind.“ (R. Bergler, Psy­ chologie der Hygiene, Heidelberg 2009, S. 83).

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auf die gattungsspezifische Doppeladressierung von Erwachsenem und Kind.

2. Hygienekonditionierung im Angesicht des Ekels Nimmt man auf Verbotssymbolen und -farben basierende Piktogramme und entsprechend imperativ fordernde Formulierungen in Blick, welche Hygiene nicht als Vorschlag, sondern Vorschrift betonen, scheint in der „erwachsenen“ Hygieneaufklärung derzeit ein Negativfokus auf Deshygiene als Erkrankungsfaktor vorzuherrschen. In seiner Drohgeste erinnert dieser Duktus an Kinderliteratur vergangener Zeiten: Man denke nur an die Text-Bild-Drastik in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter7, der eine über Ängstigen und Strafen gestützte Hygieneerziehung zu erkennen gibt und als „hygienisches Warnbild“ so „anschaulich und lebendig vor die Augen der Kinder“ gestellt werden soll, „bis es gleichsam die kleinen hygienischen Unarten der Kinder alle abgesaugt hat und die damit befreiten Gemüter auf Abhilfe für die Zukunft sinnen läßt.“8 Solche Abschreckungskonzepte, bei welchen über das Darstellen negativer Folgen gesundheitswidrigen Verhaltens Furcht, Angst und Schuldgefühle geweckt werden sollen, führen bei Kindern allerdings nur zu kurzfristigen Verhaltensänderungen, ehe schnell wieder in alte Muster zurückgefallen wird.9 Und so entsteht auch im literaturhistorischen Vergleich der Eindruck, dass die einstige Droh- und Mahngebärde grosso modo der Maxime „Hygiene macht Spaß“ gewichen ist, welche die heutige Kinderliteratur mit der sozialpädagogischen Fachliteratur teilt.10

7 H. Hoffmann (Text u. Illustrationen), Der Struwwelpeter, 1., unveränd. Aufl., Köln 2013 [zuerst 1845]. Derzeitige Altersempfehlung: 3–7 Jahre. 8 R. Wegmann, „Wie kann man Kindern der verschiedenen Altersstufen Fragen der Gesundheit nahebringen?“, in: Zeitschrift für Präventivmedizin, 9(1)/1964, S. 330-340, hier: S. 334-335. 9 Vgl. C. Popp, Gesundheitserziehung in der Grundschule: Theoretische Grundle­ gung und explorative Studie, Hamburg 2006, S. 82. 10 Vergleiche bspw. Caroline Popps Postulat, dass gelingende Gesundheitserziehung von Kindern und Jugendlichen auf der Zusammenführung der pädagogischen Maßnahme mit Erfahrungen und Erlebnissen von Lebensfreude basiere (vgl. Popp 2006, S. 81).

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Häufig erfolgt das kinderliterarische prodesse-et-delectareKonzept durch komisches Vorführen von Negativbeispielen, die den Rezipienten beispielsweise lehren, welche Emotionen adäquate Reaktionen auf mangelnde Hygiene bilden. Exemplarisch sei hier verwiesen auf David Roberts für mehrere Preise nominiertes Werk Iiiieh! Wie eklig, Berti!11 – ein ab vier Jahren empfohlenes Bilderbuch über den hygienisch noch nicht sonderlich enkulturierten Protagonisten Berti –, dessen Programm im Klappentext auf den Punkt gebracht wird: „Kinder werden sich wegwerfen vor Lachen über Bertis eklige Angewohnheiten – und Erwachsene ebenso.“ Die Koppelung der Hygiene an Ekel ist evolutionsbiologisch durchaus naheliegend, liegt doch der Empfindung des Ekels die hochrelevante Funktion der Krankheitsvermeidung zugrunde.12 Durch seine gezielte Aufrufung lässt sich Ekel zudem eine soziomoralische Komponente zuweisen, da die Verbindung von Gefühlen mit guten bzw. schlechten Verhaltensweisen zur moralischen Bewusstseinsbildung beiträgt.13 Dementsprechend ist der ungebrochene Einsatz von Ekel (wie auch Angst) im Kontext körperlicher Hygieneerziehung bis heute keine ungewöhnliche pädagogische Maßnahme: „The use of moralization via disgust to change behaviour is also emerging as a useful tool to promote hand washing.”14 Die Psychologin Brigitte Boothe sieht hierbei Parallelen zur klassischen Konditionierung: Gleich dem Pawlow‘schen Hund lernt das zu erziehende Kind, zuvor noch verlockende oder interessante Reize als „eklig-aversiv“ wahrzunehmen und als unhygienisch suggeriertes Verhalten zu

11 D. Roberts (Text u. Illustrationen), Iiiieh! Wie eklig, Berti!, übers. v. U. Tanne­ berger, Leipzig, Frankfurt a. M. 2004 [zuerst 2002]. Altersempfehlung: 4–6 Jahre. 12 „A central component of the behavioural immune system is the emotion of disgust. A disgust-like response is present in many species (certainly most mammals), and functions to rid the mouth of noxious tasting substances (notably probable poisons – bitter tasting foods). In humans this emotion seems to have been co-opted into a disease avoidance role. As Siegel et al. describe in this issue, humans seem to learn to respond to disease-relevant cues (i. e. faeces, body products, gore, etc.) with disgust. This is acquired via parent-child transmission alongside specific knowledge relating to disease, contamination and germtheory. Once acquired, disgust reactions provide a potent emotional force to avoid cues signalling disease.“ (Stevenson, R. J., T. I. Case, M. J. Oaten, „Proactive strategies to avoid infectious disease“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, 366(1583)/2011, S. 3361-3363, hier: S. 3362). 13 Vgl. Velthaus 2003, S. 41. 14 Stevenson, Case, Oaten 2011, S. 3363.

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vermeiden.15 Durch seine gattungsspezifische Intermedialität zeigt sich das Bilderbuch als eindrücklich unterstützendes Medium solcher gewünschter Hygienekonditionierung: Durch die Engführung von Text und Bild16 ist es im Stande, die pädagogische Botschaft zu verdoppeln – ein mit hoher Verantwortung einhergehendes Potenzial, das schnell zum Gefahrenherd werden kann. Auf textlicher Ebene wird beispielsweise durch die Verwendung eines extradiegetischen Erzählers – als einer Art allwissenden Stimme aus dem Off, welche der kindliche Rezipient keiner konkreten Figur zuordnen kann – die Hygienemaßnahme zum höheren Gebot, der die Emotionsreaktion verursachende Verstoß indiskutabel sanktionierbar: „Dieser äußerlichen, entpersönlichten Stimme ist nichts entgegenzusetzen, sie duldet keinen Widerspruch. So ist es und damit basta. Hier wird Fehlverhalten eindeutig, ist durch nichts entschuldbar. Man weiß genau, wie man richtig handeln soll.“17 Mantraartige Wiederholungen eingängiger Sätze wie im Falle Roberts – allein der Buchtitel Iiiieh! Wie eklig, Berti! wird im eigentlichen Text immer wieder wortwörtlich aufgerufen – tragen als eine Art konditionierender Stimulus ihr Übriges zur Koppelung von Verhaltensweise und emotionaler Reaktion bei. Die verbalisierte pädagogische Botschaft wird durch die den Text umschließende Bebilderung stabilisiert. Denn der Ekel ob des unhygienischen Verhaltens des kleinen Protagonisten Berti steht den fiktionalen Erziehenden ins Gesicht geschrieben und erweist sich durch die Macht des Bildes als zusätzliche Verstärkung der kindlichen Hygienesozialisierung.18 Als populäres Erziehungsmedium kommt das elterliche Ekelgesicht oft15 Vgl. B. Boothe, „Psychoanalyse des Schmutzes. Das Ekelregime”, in: Figuratio­ nen, 9(2)/2008, S. 7-25. 16 Einen Überblick der Theorieangebote zur für das Bilderbuch konstitutiven TextBild-Beziehungen siehe J. Thiele, Das Bilderbuch. Ästhetik – Theorie – Analyse – Didaktik – Rezeption, m. Beitr. v. J. Doonan, E. Hohmeister, D. Reske, R. Tabbert, 2., erw. Aufl., Oldenburg 2003, S. 36-89. Zur Erweiterung des Terminus „Illustra­ tion“ zur Kategorie „Bild“ für eine Stärkung der Autonomie der bildnerischen Ebene gegenüber dem Text siehe ebd., S. 45-46. 17 Velthaus 2003, S. 49. 18 Um die nachhaltig bewusstseinsprägende Macht des Bildes wusste auch der Kinderbuchsammler Walter Benjamin: „Selbst wenn es des Lesens schon kundig ist, bleiben ihm [dem Kind, K. F.] die Bilder lange noch das Primäre am Buch, tritt es über die Illustrationen in es ein.“ (aus Walter Benjamins Zu einer Arbeit über die Schönheit farbiger Bilder in Kinderbüchern. Bei Gelegenheit des Lyser (datiert auf 1918/19), zitiert nach H.-H. Ewers, „Walter Benjamin als Sammler und Theoretiker des Kinderbuchs“ [2000], in: ders.: Erfahrung schrieb’s und reicht’s der Jugend. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur

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mals auch dann zum Einsatz, wenn sich gar nicht geekelt wird: „Das Ekelgesicht ist eine Art Liebesentzug, Bestrafung, auf die das Kind mit Beschämung reagiert.“19 Dementsprechend wird die kindliche Hygienescheu im Bilderbuch gerne mit Ungehorsam begründet, auf welchen die fiktionalen Eltern in Bild und/oder Text neben Ekel mit Traurigkeit/Ärger/Enttäuschung usw. reagieren. In Greta Carolats und Susanne Mais’ Komm Haare waschen, Buddy Bär!20 mischen sich in der väterlichen Reaktion auf den schmutztriefenden Zögling so Ekel und Zorn („Das stinkt ja schon! Pfui Teufel! Ich muss dir den Kopf waschen.“21). Die Hygienemaßnahme des Waschens wird damit zur Strafe, die kindliche Deshygiene mündet in ekelverursachtem Liebesentzug. Über die Aufrufung des Ekels wird Deshygiene somit als negative Normabweichung ausgewiesen, die geahndet werden muss, etwa durch das Ausstellen des Protagonisten als ekelhaft oder Witzfigur, indes in jedem Falle als das zu distanzierende Andere – wie bereits bei dem vor grob 150 Jahren erschienenen Struwwelpeter, der mit Pfui und Schimpf auf den Pranger gestellt wird: „Auf den Anruf: ‚Sieh einmal, hier steht er!‘, mit dem er [der Text, K. F.] auf die monströse Erscheinung lenkt, folgt das starke ‚Pfui!‘, ein Wort, im dem das Geräusch des Ausspuckens nachklingt und das auf fast physische Weise Aufmerksamkeit erzwingt. Am Schluß, wenn dies nicht mehr nötig ist, ertönt das ‚Pfui!‘ erneut, und zwar als Ausruf ‚eines jeden‘. Indem es den spontanen Abscheu aller konstatiert, behauptet es die Geltung einer kollektiven Norm, die das Abweichende zum Verächtlichen stempelt.“22

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20 21 22

vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Gesammelte Beiträge aus drei Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 2010, S. 243-255, hier: S. 250). C. Pernlochner-Kügler, Körperscham und Ekel – wesentliche menschliche Ge­ fühle, Münster 2004, S. 60. Schon Charles Darwin beschrieb den typischen mimischen Ausdruck des Ekels: „The nose may be slightly turned up, which apparently follows from the turning up of the upper lip; or the movement may be abbreviated into the mere wrinkling of the nose. The nose is often slightly contracted, so as partly to close the passage; and this is commonly accompanied by a slight snort or expiration.” (C. Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals, London 1872, S. 255–256). G. Carolat (Text), S. Mais (Illustrationen), Komm Haare waschen, Buddy Bär!, Würzburg 2010 [zuerst 2000]. Altersempfehlung: 3–6 Jahre. Carolat, Mais 2010, o. S. R. Klein, ‚Sie einmal, hier steht er!‘ Struwwelpeters beschädigte Kinderwelt, Frankfurt a. M., Leipzig 2005, S. 19. Bezogen auf die erste Strophe der Titel­ geschichte: „Sieh einmal, hier steht er, / Pfui! Der Struwwelpeter! / An den Hän­ den beiden / Ließ er sich nicht schneiden / Seine Nägel fast ein Jahr; / Kämmen

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Solchen literarisierten Stigmatisierungen kindlicher Deshygiene stehen heutige Ausgrenzungstendenzen kaum nach. Durch den hochpopulären Griff zur komischen Darstellungsweise mutet die Verzahnung von Deshygiene und Ekel dabei zunächst verharmlost an. Doch muss sich gefragt werden, welche Botschaft eigentlich transportiert wird, wenn in der kindlichen Hygieneaufklärung die Emotion des Ekels zum pädagogischen Instrumentarium erkoren wird. Folgt man in diesem Kontext dem Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus, so ist das elementare Muster des Ekels „die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird. Eine sich aufdrängende Präsenz, eine riechende oder schmeckende Konsumtion wird spontan als Kontamination bewertet und mit Gewalt distanziert. Die Theorie des Ekels ist insofern ein Gegenstück – wenn auch kein symmetrisches – zur Theorie der Liebe, des Begehrens und des Appetits als Formen des Umgangs mit einer Nähe, die gewollt wird.“23 Nach Friedrich Nietzsche impliziert Ekel als spontane, starke Abwehrhandlung dabei nicht nur die Fähigkeit, sondern gar den Zwang zum Nein-Sagen.24 Ekelerregende Deshygiene offenbart sich als elterlicher Impuls für ein liebeentziehendes „Nein“ – eine Assoziation, die das Bilderbuch durch seine Intermedialität noch zu intensivieren vermag und die weitreichende Folgen haben kann: „The emotion of disgust may also be a contributory factor to psychopathologies such as eating disorders, post-traumatic stress disorder, sexual dysfunctions, hypochondrias, height phobia, claustrophobia, separation anxiety, agoraphobia and schizophrenia […]“.25 Sicherlich wird ein einzelnes Buch in einem ansonsten ausgeglichenen Umfeld keine derart langfristigen Effekte nach sich ziehen. Ein leichtfertiger, übermäßiger oder generell unreflektierter Gebrauch auch des literarisierten Ekelgesichts erscheint dennoch problematisch. Denn führt man den Gedanken zu Ende, birgt die Nachließ er nicht sein Haar. / Pfui! Ruft da ein jeder: / Garst’ger Struwwelpeter!“ (Bei Hoffmann 2013 bereits so abgedruckt auf dem Coverbild). 23 W. Menninghaus, Ekel: Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frank­ furt a. M. 2002, S. 7. Für einen historischen Überblick über die Theorie des Ekels von Immanuel Kant über Friedrich Nietzsche zu Jean-Paul Sartre siehe ebenda. 24 Vgl. ebd., S. 8. Judith Danovitch und Paul Bloom vertreten in diesem Zusam­ menhang die These, dass all das, was uns an animalische Aspekte des Menschseins erinnere, Ekel auslöse und verweisen auf die daraus ableitbare Verknüpfung von Inhumanität und soziomoralischem Ekel (J. Danovitch, P. Bloom, „Children’s Extension of Disgust to Physical and Moral Events“, in: Emotion, 9(1)/2009, S. 107-112). 25 Stevenson, Case, Oaten 2011, S. 3362.

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haltig- und Eindrücklichkeit frühkindlicher Text-Bild-Erfahrungen eben nicht nur das Potenzial, sondern auch die Gefahr, die Folgen eines auf der Emotion des Ekels beruhenden Erziehungskonzeptes zu unterstützen. Es bleibt offen, ob die Disposition einer Kinderliteratur mit Tendenz zu einem bestrafenden ekelerzeugenden hygienischen Ungehorsam nicht bereits das Fundament für realweltliche Stigmatisierungen und Psychopathologien legt.

3. Aufklärung im Tarnmantel ästhetikzentrierter Sauberkeitserziehung Der Absage an Deshygiene mittels komischer Negativbeispiele stehen Kinderbücher gegenüber, in welchen das eingangs renitente Kind durch Suggerieren eines Vergnügungsaspekts – beispielsweise durch ein als spaßbringend gekennzeichnetes Hilfsmittel – doch noch affirmativ zu freiwilliger Hygiene motiviert wird.26 Nicht selten bleibt eine konkrete Erklärung für die Notwendigkeit der hygienischen Maßnahme jedoch aus, wodurch die Verknüpfung von Hygiene mit dem Topos Gesundheit/Krankheit fehlt – das Prädikat „kindgerecht“27 mutet in dieser Hinsicht bisweilen fast als Ent26 Beispielsweise über die in einen sprechenden Drachen verwandelte Zahn­bürste in Katja Burkhards (Text) und Andrea Hebrocks (Illustrationen) Rund­herum und hin und her – Zähneputzen ist nicht schwer, München 2012. Altersempfehlung: 4–6 Jahre. Eine ähnliche Funktion lässt sich auch der in Bilderbüchern häufigen Verwendung von Tier- oder sonstigen nicht-menschlichen Figuren zuschreiben. So sieht Axel Hinrich Murken in diesen „vertrauenserweckende[n] Symbolfiguren“ eine „didaktisch geeignete Methode, mit Hilfe eines kindgemäßen Ciceros“ auch medizinische Themenkreise für den jungen Leser adäquat aufzubereiten (A. H. Murken, „Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendbuch: Eine Einführung“, in: ders. (Hrsg.), Kind, Krankheit und Krankenhaus im Kinderund Jugendbuch seit 1800, 2. Aufl., Herzogenrath 1983, S. 13-56, hier: S. 43-44). 27 Hinsichtlich der in Textverständlichkeit und -attraktivität auseinanderzu­divi­ die­renden Kindgerecht- bzw. Kindergemäßheit ist die historisch-kul­turelle Be­ dingtheit dieser Variable dabei natürlich stets im Blick zu behalten: „Von Kindund Jugendgemäßheit kann sinnvoll nur innerhalb bestimmter historischer Zeiträume, im Horizont bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsepochen ge­ sprochen werden. Was den einschlägigen Fachleuten im späten 18. Jahrhundert bspw. als kind- und jugendgemäß gegolten hat, ist bereits im frühen 19. Jahr­ hundert als für Kinder und Jugendliche ganz und gar ungeeignet bezeichnet worden. Der bei solchen historischen Einschnitten üblicherweise auftretende Vorwurf, die vorausgegangene Epoche hätte keinerlei Verständnis für den kind­ lichen und jugendlichen Leser besessen, erklärt sich aus der – zumeist unbewusst

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schuldigung für Begründungsarmut oder gar ‑freiheit an. Der literaturhistorische Vergleich lässt auch diesbezüglich nur eine geringe Entwicklung vermuten: Zwar informierten die Kundi-Comics des Deutschen Hygiene-Museums in den 1960er Jahren darüber, wie Hygienemaßnahmen richtig durchzuführen sind, warum man sich nun aber beispielsweise die Hände zu waschen hat, wurde nicht erläutert.28 Heute leckt David Roberts Berti seinen Hund letztendlich nicht mehr ab, weil er sonst der Ekeljunge ist und der kleine Klaus in Heinz Kahlaus und Elizabeth Shaws Schaumköpfe29 wäscht sich die Haare aus just jenem Grund, um dann so eine witzig weiße Haarpracht zu haben wie Opa – in beiden Fällen funktioniert zwar die Umsetzung hygienischer Standards, doch wenn die Konnotierung eines bakterienbevölkerten Körpers als Bedrohung für das Immunsystem unterlassen wird, unterbleibt zugleich nachhaltige Aufklärung. Begründungsfreie Reize sind schnell verflogen; wird dann kein tieferer Sinn hinter der an sich unangenehmen oder auch einfach langweiligen Hygienedirektive gesehen, wieso sollte sie dann überhaupt aufrechterhalten werden? Eine so geartete Kinderliteratur könnte sich als eine unnötige Erschwerung wichtiger kindlicher Transferleistungen gestalten: Denn wenn sich das Kind die Hände wäscht, weil: die Eltern dann nicht böse sind, das Händewaschlied so lustig klingt, es dann nicht zu den Ekelkindern gehört etc., nicht jedoch aus dem eigentlichen Grund, Krankheitserreger zu beseitigen, wie kann es das Erlernte dann auf andere Hygienemaßnahmen übertragen? Auf solch tönernen Füßen gebaute Kinvorgenommenen – Hypostasierung des eigenen Kindheits- und Jugendbildes zur anthropologischen Norm.“ (H.-H. Ewers, Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung, UTB, Bd. 2124, 2., überarb. u. aktual. Aufl., Paderborn 2012, S. 171). 28 Man denke nur an die allseits bekannte, nicht weiter begründete Regel: „Macht’s von nun an immer so. / Nach dem Spiel und nach dem Klo / und auch stets vor jedem Essen: / Hände waschen nicht vergessen!“ (R. Hambach (Text u. Illustra­tionen), Und dann kam Kundi, Dresden 1967, o. S.) Die auch über Trickfilme verbreiteten Kundi-Comics richteten sich dabei nicht nur an Kinder, sondern sollten auch erwachsenen Rezipienten das Einmaleins der Hygiene vermitteln (vgl. U. Schwarz, „‚Der Schmutzfink‘ und ‚Großalarm bei Kundi‘: Film und Gesundheitsaufklärung nach 1945“, in: S. Roeßiger, H. Merk (Hrsg.), Hauptsache gesund! Gesundheitsaufklärung zwischen Disziplinierung und Eman­ zi­pation: Ein Publikation des Deutschen Hygiene-Museums, Dresden und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln, Marburg 1998, S. 154168, hier: S. 164). 29 H. Kahlau (Text), E. Shaw (Illustrationen), Schaumköpfe, 4. Aufl., Weinheim, Basel 2013 [zuerst 1972]. Altersempfehlung: 3–6 Jahre.

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derliteratur droht in puncto Hygieneerziehung zu einer höchstens unreflektierten Übernahme kaum verstandener Gebote zu führen und ihren eigentlichen Aufklärungsanspruch letztlich möglicherweise zu verfehlen. Zum Verständnis für die oftmals fehlende Korrelierung literarisierter Hygieneaufklärung mit dem Topos Gesundheit/Krankheit lohnt ein Blick auf die unterschiedlichen Ziele elterlicher Sauberkeitserziehung, die der Psychologe Reinhold Bergler in drei Dimensionen unterteilt: (1) Hygiene und Gesundheit, (2) Sauberkeit und (3) Pünktlichkeit und gepflegtes Äußeres.30 Angesichts dieser konzeptionellen Unterscheidung stellt sich die Frage, inwiefern solche Kinderliteratur überhaupt den Zweck verfolgt, durch Hygieneaufklärung zur Krankheitsprophylaxe beizutragen – oder ob nicht vielmehr die Funktionen der Sauberkeit und des gepflegten Äußeren überwiegen. Lautet die Gleichung also nicht: Schmutz

=

Gefährdung körperlicher Gesundheit

Bilderbuch

=

Mittel kindlicher Krankheitsprophylaxe

Hygieneaufklärung

=

Ausdruck elterlicher Fürsorge(-pflicht)

sondern vielmehr: Schmutz

=

Gefährdung soziokultureller Sauberkeitsnormen

Bilderbuch

=

Mittel kindlicher Ästhetiksozialisation

Hygieneaufklärung

=

Ausdruck elterlicher Außenrepräsentation?

Eine solche Formel mag die eingangs erwähnte Funktionalisierung des elterlichen Ekelgesichts als bestrafende und schamvermittelnde Erziehungsmaßnahme erklären. So soll das Kind „den Ekel im Antlitz des bedeutsamen Anderen wahrnehmen und diesem zuliebe den Schmutzkontakt meiden. Es soll das ‚Ekelgesicht‘, das Naserümpfen, den Ekel im Antlitz des Anderen fürchten lernen, d. h. es soll lernen, sich eigenen Schmutzes vor anderen und sogar vor sich selbst zu schämen.“31 Der Wunsch nach Scham vor dem Anderen lässt die Vermutung aufkommen: Nicht dem kindlichen Körper zuliebe, nicht der kindlichen Gesundheit willen, sondern wegen des ästhetischen Wohl30 Vgl. Bergler 2009, S. 84. 31 Boothe 2008, S. 9.

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befindens des Gegenübers ist das schmutzende Kind zu reinigen. „Sauber ist der Mensch vorzeigbar. Das reinliche Haus kann Gäste empfangen. Eltern, die Kind und Haus nicht pflegen, sind verwahrlosende und vernachlässigende Personen.“32 Das Kind – hier dem Prestigeobjekt „Haus“ gleichgesetzt – rückt in den Hintergrund. Sauberkeit verkommt zum Statussymbol, das die Außenrepräsentation der Erwachsenenwelt sichert. Entsprechende Sauberkeitserziehung dient somit nicht des Gesundheits-, sondern Ästhetikerhalts, nicht der Krankheits-, sondern Schmutzprophylaxe. „Schmutz ist der Feind menschlicher Tadellosigkeit. Schmutz beleidigt. […] Wer die Sitten der Körperhygiene, der Haar- und Kleidungs- und Küchenpflege missachtet, verstößt gegen Regeln der Höflichkeit, Verträglichkeit und Dezenz und läuft Gefahr, Platzverweis zu erhalten und Zutrittsrechte zu verwirken.“33 Bei einer solchen Priorisierung von Sauberkeit vor Hygiene, von Ästhetik vor Gesundheit steht nicht länger die Sorge im Vordergrund, das Kind vor Schmutz als Krankheitsherd zu bewahren. Statt eines solchen Fürsorgeaspekts präsentiert sich die pädagogische Hygienemaßnahme vielmehr als Vorwurf, nimmt durch Schmutz doch nicht etwa das Kind, sondern der Erziehende Schaden. Angesichts einer Kinderliteratur dieser Façon vermag man sich also zu der These versteigen, dass ihr primärer Fokus stellenweise weniger auf dem Kind und der Natur, dem Körperlichen liegt, sondern dem Erwachsenen und der durch ihn repräsentierten Kultur, der Ästhetik. Zwar scheint es an sich nicht verwerflich, mithilfe von Bilderbüchern auch Scham und Ekel zu vermitteln und so zum kindlichen Wissen um soziokulturelle Normen beizutragen. Problematisch wird es dagegen, wenn dabei etwas ebenfalls Wesentliches – der Aspekt von Hygiene im Kontext von Gesundheit und Krankheit – in Vergessenheit gerät. Dabei müsste sich die gleichgewichtete Berücksichtigung beider Aspekte durchaus nicht ausschließen. Dass Gesundheitserziehung „normative und sozialkulturelle Rahmenbedingungen“ einbezieht, also auch auf die Wertorientierungen und Verhaltensmuster vorbereitet, die in der Erwachsenenwelt vorherrschen,34 wird zum kategorischen Gebot, sobald man bedenkt, dass eine derartige Hygieneerziehung sowohl Ausgrenzungstendenzen als auch psychosomatischen Erkrankungen 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Vgl. Popp 2006, S. 81.

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vorbeugen kann: „Gepflegtheit führt zu Sympathiewertigkeit und Wohlbefinden, Ungepflegtheit (Hässlichkeit) zu Antipathie, sozialer Isolierung und damit zu psychosomatischen Krankheitsrisiken […]“.35 Mit dieser Potenzialität negativer Auswirkungen auf die individuelle Psychohygiene birgt mangelnde Körperhygiene ergo ein doppeltes Erkrankungsrisiko in sich: (1) durch pathogene Erreger bedingte somatische Auswirkungen fehlender körperlicher Hygiene, die (2) ihrerseits psychosomatische Folgeerscheinungen nach sich ziehen können. Eine Kausalkette, in deren Lichte sich eine dezidierte Erläuterung der illustrierten Hygieneüberlegungen als umso wichtiger erweist. Und zwar eine, die für das Kind selbst, statt (nur) für den erwachsenen Vorleser nachvollziehbar ist – nicht umsonst forderte Walter Benjamin in vernichtender Absage an „die trostlose verzerrte Lustigkeit der gereimten Erzählungen und die grinsenden Babyfratzen, die von gottverlassenen Kinderfreunden dazu gemalt werden“ eine „deutliche und verständliche, doch nicht kindliche Darstellung. Am wenigsten aber das, was dieser [der Erwachsene, K. F.] dafür zu halten pflegt.“36

4. Hygienevermittler als Symbolfiguren zwischen Identifikation und Pathologisierung Da Kinder aufgrund ihrer altersgemäßen Entwicklungsstufe „noch nicht über die kognitiven, sozialen und kulturellen Kompetenzen [verfügen], die für die Übernahme der Rolle eines selbständigen, nur nach eigenem Ermessen handelnden literarischen Konsumenten erforderlich sind“37, scheinen sie in besonderem Maße abhängig von literarisch bereits sozialisierten (erwachsenen) Vermittlerin­ stanzen.38 Dadurch laufen junge Adressaten des Kinderbuches leicht Gefahr, dass sie durch die Gewichtung des erwachsenen Vermittlers 35 Bergler 2009, S. 3. 36 W. Benjamin, „Alte Kinderbücher“, in: ders.: Über Kinder, Jugend und Erziehung. Mit Abbildungen von Kinderbüchern und Spielzeug aus der Sammlung Ben­ jamin, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1973, S. 39-46, hier: S. 42. 37 Ewers 2012, S. 35. 38 Ewers unterscheidet zwischen Vermittlern mit professionellem (bspw. Biblio­ thekaren) und nicht-professionellem Hintergrund (bspw. Eltern), die wahlweise in einer neutralen Position verbleiben oder in das kindliche Lektüreverhalten eingreifen können, also als „Gatekeeper“ fungieren (vgl. Ewers 2012, S. 38–40).

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in den Hintergrund geraten: In der Expertentrias aus Autor, Illustrator und Vorleser wird der pädagogische Werkanspruch zunächst durch die textuelle Information darüber kommuniziert, welche Hygienemaßnahmen wann und wie geboten sind; durch die bildhafte Unterstützung lässt sich der übermittelten Aussage doppeltes Gewicht verleihen; der Vorleser trägt schließlich mittels stimmlicher und gestischer Hervorhebungen als letzte Instanz zur kindlichen Text-Bild-Sozialisierung bei. Erwachsene Vermittler steuern dabei nicht nur die Rezeptionswahrnehmung des Kindes und transportieren oder verstärken eine kindgerichtete Botschaft, sondern werden oftmals selbst adressiert. Dies kann ganz explizit erfolgen, beispielsweise durch paratextuelle Aufklärungsanleitungen:39 In gesonderten Textfeldern halten beispielsweise die Klappentexte der Jakob-Bilderbuchreihe (nicht weiter begründete) Informationen für den (direkt angesprochenen) erwachsenen Vorleser zu adäquaten Hygienemaßnahmen bereit und unterrichten dabei auch über entsprechende Erziehungspflichten.40 Mit dieser direkten Adressierung des Vorlesers kristallisieren sich solche Cave-Kästchen als Dialog zwischen erwachsenem Produzenten und erwachsenem Rezipienten heraus. Das Kind wird dabei vom Adressaten zum Adressierten. Illustriert wird dies implizit durch intradiegetische Erwachsenenfiguren, die nicht nur dem Kind, sondern auch (oder vielmehr vor allem) dem Erwachsenen zur Identifikation dienen. Der Blick auf den Inhalt verstärkt die Frage, wie erwachsenengerecht das Kindgemäße zu sein hat. Exemplarisch sei verwiesen auf den Klappentext41

39 Die Platzierung von Reizsignalen auch im den eigentlichen Text umgebenden Paratext (bspw. Titelei, Schutzumschlag, Vor- und Nachwort, Klappentexte) zur Kommunikation mit dem erwachsenen Vermittler ist nicht unüblich, ist es doch häufig dieser, der das kinderliterarische Medium zunächst in Händen hält und gegebenenfalls über die Weitervermittlung an das Kind entscheidet (vgl. Ewers 2012, S. 43–56). 40 Wie in folgendem exemplarischen Auszug aus den in Aufzählungsform präsen­ tierten „Tipps für die Eltern“ in Jakob und seine Zahnbürste: „2x täglich 2 Minuten Zähne putzen – nach dem Frühstück und nach dem Abendbrot / Kon­ trolle der ersten eigenen Putzversuche und ‚Nachputzen‘ durch die Eltern bis zum Schulalter / Zuckerhaltige Lebensmittel und Getränke vermeiden […] / Weitere wichtige Informationen zur Zahngesundheit Ihres Kindes erhalten Sie bei Ihrem Kinderarzt oder Zahnarzt“ (T. Roloff, N. Banser (Text), P. Friedl (Illus­trationen), Jakob und seine Zahnbürste, Hamburg 2009 [zuerst 2004], Klappentext. Altersempfehlung: 2–3 Jahre). 41 Man bedenke die funktionale Verknüpfung eines Klappentextes mit Verkaufs­ animation und marktstrategisch-ökonomischen Faktoren.

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von Ruth Löbners und Christiane Hansens Haarwaschtag42, der Beruhigung für elterliche Nerven verspricht: „Ein lustiges Bilderbuch aus dem Kinderalltag, mit dem jede Haarwäsche gelingt.“ Wie auch in Sandra Grimms und Peter Friedls Jakob, Haare waschen!43 wird das Aufsetzen einer vor der brennenden Seife schützenden Taucherbrille zum probaten Rüstzeug, welches die an sich lästige Waschprozedur letztlich doch noch zum Erfolg führt. Ein wasserscheuer Zögling, der selbst am besten weiß, was ihm nicht gefällt, braucht hierfür wohl keine Identifikationsfigur – es scheinen vielmehr die leidgeplagten Vorleser, die sich in solchen Elternfiguren als fiktionalem Gegenüber wiederfinden und in derlei illustrierten Tricks und Geschichten anschauliche Anweisungen erhalten, wie es mit verweigerten Hygienemaßnahmen doch noch funktionieren mag. Fast wirkt es daher, als wäre das Horaz’sche Prinzip in solchen Aufklärungsbilderbüchern aufgespalten in ihre zwei Rezipientengruppen: dem erwachsenen Vorleser zum Nutzen, dem Kind zur Unterhaltung. Kommt es tatsächlich zu einer Zusammenführung von Hygiene mit Gesundheit und Krankheit, dreht sich dieses Verhältnis allerdings oftmals wieder um: Über die fiktionalisierte Krankheit als die Ultima Ratio kinderliterarischer Hygieneaufklärung wird mit der Figur des Arztes ein neuer Akteur kindlicher Hygieneerziehung eingeführt. In einer literaturhistorischen Abspaltung des zahn- vom weiteren körperhygienischen Kinderliteraturdiskurs kommt hierbei Thorbjørn Egners Karius und Baktus44 besonderer Stellenwert zu, ein Kinderbuch, das in Deutschland rund 50 Jahre als Inbegriff des Zahnputzbuchs galt, den einstigen Prädikatsstatus wegen seiner furchterregenden Darstellung von Zahnpflege aber inzwischen eingebüßt hat. So befördert die anthropomorphe Skizzierung der Krankheitserreger Karius und Baktus das Identifikationspotenzial der von Kindern als sympathisch und bemitleidenswert empfundenen Bakterien, als nicht minder problematisch gestaltet sich zu-

42 R. Löbner (Text), C. Hansen (Illustrationen), Haarwaschtag, Stuttgart, Wien 2011. Altersempfehlung: 4–6 Jahre. 43 S. Grimm (Text), P. Friedl (Illustrationen), Jakob, Haare waschen!, Hamburg 2013. Altersempfehlung: 1–4 Jahre. 44 T. Egner (Text u. Illustrationen), Karius und Baktus: Eine Geschichte mit far­ bigen Bildern, lustigen Liedern und Noten, 44. Aufl., übers. v. T. Dohrenburg, München 2005 [zuerst 1949]. Derzeitige Altersempfehlung: ab 4 Jahren.

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dem die Präsentation des Zahnarztes als das personifizierte Böse.45 Wie die Pädagogin Cordula Buschmann hervorhebt, suggeriert die werkimmanente Konzeption von Karius und Baktus als eigentliche Identifikationsfiguren Kindern, „dass Süßigkeiten überlebensnotwendig, Zahnbürsten hingegen ‚gräulich‘ oder ‚grässlich‘ sind, dass Mohrrüben und Schwarzbrot zum Hungertod führen und ‚grässliche Zahnpasta‘ Erstickungsanfälle auslöst […]. Damit nicht genug: Zahnärzte sind ‚gefährlich‘. Sie sind ‚die Schlimmsten, die es gibt‘. Sie […] lassen Baktus verzweifelt ausrufen: ‚Oh, Karius, ich habe Angst!‘“46 Während der Kontroverse um Egners Klassiker mittlerweile eine kritische Reflexion der vorliegenden Bilderbücher zur Zahngesundheit folgte,47 scheinen andere kinderliterarische Aufklärungsformen 45 Vgl. bspw. R. Hinz, „Der Wert des Einsatzes von Medien zur Patientenaufklärung und Motivation“, in: Fortschritte der Kieferorthopädie, 47(3)/1986, S. 221-228 oder C. Buschmann, Rote Karte für Imagekiller von Zahnpflege und Zahn­ ärzten, hrsg. v. Arbeitskreis Jugendzahnpflege, Landesarbeitsgemeinschaft Ju­ gend­zahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn. de/faq_lagh/I00171841.1/2012_Rote_Karte_Imagekiller.pdf (letzter Zugriff: 12.7.2014), 2012. Vgl. auch den Kriterienkatalog der LAGH zur adäquaten Zahngesundheitsförderung: „Es ist nicht leicht, die Wirkungsweise der Bakterien in der Mundhöhle für Kindergartenkinder plausibel darzustellen und begreifbar zu machen. Dennoch wird es häufig versucht bis zu einem Punkt, dass die Bakterien zu den eigentlichen Helden der Geschichte mutieren, mit denen die Kinder mitfühlen und -leiden, obwohl ihre Wirkungsweise eigentlich zahnzerstörend ist.“ (C. Buschmann, A. Thumeyer, Kriterien für die Bücher- und Medienempfehlungen der hessischen Jugendzahnpflege, hrsg. v. d. Landesarbeitsgemeinschaft Jugend­ zahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn.de/ medien/I00CB4481.2/_B %C3 %BCcherliste %20Kriterien %20zur %20 Bewertung %20von %20Medien %202014.pdf (letzter Zugriff: 11.11.2014), 2009, hier: S. 2). 46 Buschmann 2012, o. S. 47 Vgl. bspw. Broschüren der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), in welchen für Erzieher, zahnmedizinisches Personal und in­ teressierte Eltern der aktuelle an Kinder gerichtete Medienmarkt zur Zahnge­ sundheitserziehung einer kritisch kommentierten Analyse unterzogen wird: C. Buschmann, A. Thumeyer, A. Heinen, Kinderbücher und andere Medien „Rund um den Mund“ für unter 3-jährige Kinder 2014, hrsg. v. d. Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege. hzn.de/medien/I00CB4481.0/B %C3 %BCcherhits %20rund %20um %20 den %20Mund %202014.pdf (letzter Zugriff: 12.7.2014), 2014a und C. Buschmann, A. Thumeyer, A. Heinen, Nicht empfehlenswerte Kinderbücher rund um den Mund für Klein- bis Grundschulkinder, hrsg. v. d. Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn.de/ medien/I00CB4481.1/B %C3 %BCcher %20Nicht %20empfehlenswert %20 2014.pdf (letzter Zugriff: 12.7.2014), 2014b).

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zur Körper-, Hand- und Haarhygiene von entsprechenden Überlegungen viel zu häufig unberührt. Parallel zu dem ganze 60 Jahre vorher erschienenen Karius und Baktus wird in Wanja und Manuela Oltens 2009 veröffentlichtem Bilderbuch Kein bisschen dreckig48 ungebrochen mit einer sympathie- und identifikationsfördernden Vermenschlichung von Bakterien gearbeitet. Die bildliche Konzeption der Krankheitserreger steht dabei im Widerspruch zur textuellen Aufklärung über die Folgen mangelnder Körperhygiene: Die kindgerecht verbalisierte Warnung „Bakterien sind winzig klein. Wenn du dir nicht die Hände wäschst, werden es immer mehr. Dann wirst du krank!“49 ist so flankiert von einer bunten Reihe spielender, sportelnder und spaßhabender Bakterien, die sich in Familien- oder Freundeskonstellationen auf der Handfläche der kleinen Protagonistin tummeln. Die wenigen explizit als „böse“ deklarierten und damit die textuelle Botschaft stützenden Symbolfiguren der Deshygiene befinden sich bildlich klar in der Unterzahl gegenüber Bakterienpersonifikationen, deren Zeichnung Assoziationen wie Urlaub, Freizeit, Harmonie und Zwischenmenschlichkeit weckt – und den Krankheitserreger damit als paradoxes Symbol des Gesunden zeigt. Kommt es schließlich doch zum Krankheitsfall, tritt die Figur des Arztes hinzu: in einer Negativkonzeption als Vertreter des Kranken, des Ängstigenden, statt einer möglichen Unterstützung zur Wiederherstellung eines gesundheitlichen Normalzustands. In Kein bisschen dreckig erscheint der Arzt als gesichtsloser Vollstrecker furchteinflößender Untersuchungen, repräsentiert nur durch einen Instrumente haltenden Arm (Stethoskop, Reflexhammer, Holzstäbchen). Durch aneinandergereihte Bilder von Urinproben, Arzneien oder einem als pathologisch ausgewiesenen Magen präsentiert sich das ärztliche Milieu als Ort der Entkörperung, als Sinnbild des sowohl in Bezug auf Patient als auch Arzt in unzusammenhängende Entitäten desintegrierten Menschen. Frei von Konnotationen des Trost-, aber auch Heilspendenden scheint zudem die Arztszene in Tony Ross’ Die kleine Prinzessin: Wasch deine Hände!:50 Ein pustelnübersätes Kind mit grünfahler Gesichtsfarbe, dessen Körperhaltung Angst und Abwehr ausdrückt, 48 W. Olten (Text), M. Olten (Illustrationen), Kein bisschen dreckig, 2. Aufl., Zürich 2009. Altersempfehlung: 4–6 Jahre. 49 Ebd., o. S. 50 T. Ross, Die kleine Prinzessin: Wasch deine Hände!, übers. v. N. Träbing, Frank­ furt a. M., Zürich 2002 [zuerst 1998]. Altersempfehlung: 3–6 Jahre.

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duckt sich zitternd vor einer Ärztin, die mit einer Zange in der Kitteltasche und einem unter den Arm geklemmten geköpften Teddybären zum furchterregenden Vertreter des Krankhaften selbst stilisiert ist. Es sind die Untersuchungen und Spritzen, die „grässlich weh“51 tun, und damit nicht die Erkrankung selbst, sondern der Arztbesuch, der Leiden verursacht. Sowohl bei Olten als auch Ross ist das medizinische Setting zudem verbunden mit einer Trennung von den mit Sicherheit und Geborgenheit verbundenen Eltern: Wenn das erkrankte Kind in Kein bisschen dreckig per Blaulicht fort gebracht wird, ist ihm die Mutter nicht etwa als Begleitperson zur Seite gestellt, sondern winkt der Ambulanz aus dem Fenster des vertrauten Zuhauses lediglich mit einem Taschentuch nach. Die elterliche Verantwortung wird kommentarlos auf den Arzt übertragen,52 mit dem das kranke Kind sodann alleine gelassen wird. In beiden Fällen endet der Kontakt mit dem ärztlichen Milieu nicht mit einem Heilungserfolg – die Antwort auf die Frage nach dem Ausgang bleibt vielmehr offen. Wer sich nicht die Hände wäscht, muss von Zuhause fort und kehrt vielleicht nicht mehr zurück, so die Devise, die dazu führt, dass Arzt und Krankenhaus als Strafe für die Schuldhaftigkeit des Kindes erscheinen, dem der malade Zustand durch sein eigenes hygienisches Fehlverhalten selbst anzulasten ist. Ein ärztlicher Imageverlust, der dem inzwischen auf den zahnärztlichen Index gesetzten Karius und Baktus in nichts nachzustehen droht.

5. Potenzial und Verantwortung Während dem heutigen Umgang mit zahnhygienischer Kinderliteratur durch die reflektierte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen fiktionaler Gesundheits-/Krankheits-Topoi auf die zahngesundheitliche Hygieneerziehung eine gewisse Vorbildfunktion zukommt, droht die Kinderliteratur zur sonstigen Körperpflege phasenweise weiterhin stark mit den Prämissen des realweltlichen Hygienediskurses zu konfligieren. Eine Phalanx größtenteils stati51 Olten, Olten 2009, o. S. 52 Siehe hierzu auch Christa Murken-Altrogges Analyse von Werner Kopps (Text) und Gertraud Neumeiers (Illustration) Florian im Krankenhaus, o. O. 1978, in welchem der kleine Protagonist im Krankheitsfall quasi kommentarlos in ärztliche Hände übergeben wird (vgl. Murken-Altrogge 1983).

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scher, gleichermaßen unfehl- wie unantastbar wirkender Erwachsenenfiguren, die dem breiten Charakterisierungsspektrum kindlicher Protagonisten entgegenstehen, erwecken mitunter den Anschein, dass Deshygiene und (korrelierende) Krankheiten vor allem auf ein Vergehen des Kindes, nicht jedoch des Erwachsenen zurückzuführen sind (bspw. als Verstoß gegen die Erziehungspflicht, das Kind in Bezug auf gesundheitsbezogene Hygienenormen zu sozialisieren)53 – eine textuelle Entbindung elterlicher Verantwortung, die in Widerspruch zu ihrer paratextuellen Betonung steht. Es lässt sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier sowohl der sich im Kindesalter befindenden Figur wie auch dem altersgemäß äquivalenten Rezipienten bisweilen eine enorme – nicht mehr kindgemäße – Verantwortung aufgebürdet wird, die sich in zusätzlicher Opposition zur Begründungsarmut kinderliterarischer Hygieneaufklärung befindet. Aufgrund der ausgeprägten Vorstellungs- und Identifikationsfähigkeit des Kindes und dem für die seine Entwicklungsphase kennzeichnenden Bedürfnis nach Wiederholungen (man denke nur an durch Repetition ritualisierte Reime und Lieder oder bis zur Zerfledderung gelesene Bücher) kann gerade die Gattung des Bilderbuchs mit seiner Nahführung von Text, Bild und Stimme somit zu einer mimetisch-spielerischen Übernahme fiktionalen Hygieneverhaltens anleiten und die kindliche Hygienesozialisierung tiefgreifend beeinflussen – was sich letztlich erweist als hochdiskutables Spannungsverhältnis aus Potenzial und Verantwortung kinderliterarischer Hygieneaufklärung.

Literatur W. Benjamin, „Alte Kinderbücher“, in: ders.: Über Kinder, Jugend und Erziehung. Mit Abbildungen von Kinderbüchern und Spielzeug aus der Sammlung Benjamin, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1973, S. 39-46. R. Bergler, Psychologie der Hygiene, Heidelberg 2009. Boothe, B., „Psychoanalyse des Schmutzes. Das Ekelregime”, in: Figurationen, 9(2)/ 2008, S. 7-25. 53 So vermerkt beispielsweise die LAGH: „[…] dass alle Kinder so lange abends von ihren Bezugspersonen die Zähne von allen Seiten zusätzlich sauber ge­ putzt bekommen müssen, bis sie in der Lage sind, flüssig Schreibschrift zu schrei­ben. Diesen Punkten, besonders dem letzten, werden bisher die aktuellen Kinderbücher selten gerecht; Eltern schicken reihenweise ihre Kinder allein zum Zähneputzen, aber wer im Kinderbuch putzt die Kinderzähne abends zusätzlich sauber?“ (Buschmann, Thumeyer 2009, o. S.; Hervorhebung im Original).

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K. Burkhard (Text), A. Hebrock (Illustrationen), Rundherum und hin und her – Zähneputzen ist nicht schwer, München 2012. C. Buschmann, A. Thumeyer, A. Heinen, Kinderbücher und andere Medien „Rund um den Mund“ für unter 3-jährige Kinder 2014, hrsg. v. d. Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn.de/medien/I00CB4481.0/B %C3 %BCcherhits %20rund %20 um %20den %20Mund %202014.pdf (letzter Zugriff: 12.7.2014), 2014a. C. Buschmann, A. Thumeyer, A. Heinen, Nicht empfehlenswerte Kinderbücher rund um den Mund für Klein- bis Grundschulkinder, hrsg. v. d. Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn.de/medien/I00CB4481.1/B %C3 %BCcher %20Nicht %20empfehlenswert %202014.pdf (letzter Zugriff: 12.7.2014), 2014b. C. Buschmann, A. Thumeyer, Kriterien für die Bücher- und Medienempfehlungen der hessischen Jugendzahnpflege, hrsg. v. d. Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn.de/ medien/I00CB4481.2/_B %C3 %BCcherliste %20Kriterien %20zur %20Bewertung %20von %20Medien %202014.pdf (letzter Zugriff: 11.11.2014), 2009. Buschmann, C., Rote Karte für Imagekiller von Zahnpflege und Zahnärzten, hrsg. v. Arbeitskreis Jugendzahnpflege, Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege in Hessen (LAGH), URL: http://www.jugendzahnpflege.hzn.de/faq_lagh/ I00171841.1/2012_Rote_Karte_Imagekiller.pdf (letzter Zugriff: 12.7.2014), 2012. G. Carolat, (Text), S. Mais (Illustrationen), Komm Haare waschen, Buddy Bär!, Würzburg 2010 [zuerst 2000]. J. Danovitch, P. Bloom, „Children’s Extension of Disgust to Physical and Moral Events“, in: Emotion, 9(1)/2009, S. 107-112. C. Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals, London 1872. T. Egner (Text u. Illustrationen), Karius und Baktus: Eine Geschichte mit farbigen Bildern, lustigen Liedern und Noten, 44. Aufl., übers. v. T. Dohrenburg, München 2005 [zuerst 1949]. H.-H. Ewers, „Walter Benjamin als Sammler und Theoretiker des Kinderbuchs“, in: ders.: Erfahrung schrieb’s und reicht’s der Jugend. Geschichte der deutschen Kinderund Jugendliteratur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Gesammelte Beiträge aus drei Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 2010 [Originalaufsatz zuerst 2000], S. 243-255. H.-H. Ewers, Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung, UTB, Bd. 2124, 2., überarb. u. aktual. Aufl., Paderborn 2012. J. Gebel, U. Teichert-Barthel, S. Hornbach-Beckers, A. Vogt, B. Kehr, M. Littmann, F. Kupfernagel, C. Ilschner, A. Simon, M. Exner, „Hygiene-Tipps für Kids: Konzept und Umsetzungsbeispiele“, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 51(11)/2008, S. 1304-1313. S. Grimm (Text), P. Friedl (Illustrationen), Jakob, Haare waschen!, Hamburg 2013. R. Hambach (Text u. Illustrationen), Und dann kam Kundi, Dresden 1967. R. Hinz, „Der Wert des Einsatzes von Medien zur Patientenaufklärung und Motivation“, in: Fortschritte der Kieferorthopädie, 47(3)/1986, S. 221-228. H. Hoffmann (Text u. Illustrationen), Der Struwwelpeter, 1., unveränd. Aufl., Köln 2013 [zuerst 1845]. H. Kahlau (Text), E. Shaw (Illustrationen), Schaumköpfe, 4. Aufl., Weinheim, Basel 2013 [zuerst 1972]. R. Klein, ‚Sie einmal, hier steht er!‘ Struwwelpeters beschädigte Kinderwelt, Frankfurt a. M., Leipzig 2005.

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„Schwulenseuche“ und „Homopest“? (Ent-)Stigmatisierung von Homosexualität und HIV/Aids im Medium Spielfilm

Homosexualität – lange und teilweise bis heute als Abweichung von der Norm verstanden – hat eine lange Geschichte, ja fast schon Tradition der Stigmatisierung. In der modernen Gesellschaft waren Homosexuelle immer eine stigmatisierte Minderheit, die in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert mit der Todesstrafe, später mit Zuchthaus bestraft wurde. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand der Homosexualität ist für nahezu alle Epochen unzureichend.1 Daran spiegelt sich das Tabu, mit welchem Homosexualität in unserer Gesellschaft belegt ist. Bekannt ist, dass Homosexualität bereits im Mittelalter unter Strafe stand und teilweise mit der Todesstrafe geahndet wurde.2 1871 wurde der preußische Paragraph 175 als Gesetz aufgenommen und behielt in folgender Form bis zum 1. September 1935 Gültigkeit: „§ 175. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“3 Die Todesstrafe wurde also in eine Freiheitsstrafe umgewandelt, die strukturelle Diskriminierung wurde jedoch aufrechterhalten. Erst 1994 wurde der § 175 nach mehrmaliger Änderung abgeschafft.4 Allerdings ist das nicht überall so, denn in vielen Ländern steht Homosexualität bis heute unter Strafe: Uganda z. B. hatte im Februar 2014 ein neues Anti-Homosexuellen-Gesetz verabschiedet, wonach „‚schwere homosexuelle Handlungen‘ in dem Land nun 1 2 3 4

Vgl. B.-U. Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Tübingen 1999. Vgl. ebd. 1999, S. 64-75. lexetius.com, 11.07.14. Vgl. ebd.

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mit lebenslanger Haft bestraft werden. Dazu zählt wiederholter Geschlechtsverkehr zwischen homosexuellen Erwachsenen sowie homosexueller Sex mit Minderjährigen oder HIV-Positiven. Ein erstes homosexuelles Vergehen wird mit bis zu 14 Jahren Haft geahndet.“5 Ursprünglich sei sogar die Todesstrafe im Gespräch gewesen. Bezeichnend ist hier, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Homosexualität und HIV hergestellt wird. Auf großen Druck und internationale Kritik hin, hat Uganda das Gesetz wieder kippen müssen. Es sei „im Parlament mit einer unzureichenden Stimmenzahl beschlossen worden“, so der Richter des Verfassungsgerichtes. Das Gesetz ist also nicht mehr in Kraft, aber Ugandas Präsident Yoweri Museveni, der das Gesetz aus Überzeugung in Kraft gesetzt hatte, bleibt im Amt.6 Gesetzliche Regelungen sind eine Seite, aber das Menschenbild, das dahinter steht, eine ganz andere, die ihre Kraft auch behält, wenn Gesetze gekippt werden. Auch in Deutschland gibt es immer noch Vorschriften, die Homosexuelle diskriminieren: Bis zum heutigen Tag dürfen homosexuelle Männer kein Blut spenden, weil davon ausgegangen wird, dass sie ungeschützten Analverkehr – der das höchste Infektionsrisiko birgt – mit wechselnden Partnern haben. Beim Deutschen Roten Kreuz heißt es: „Ein Blutspender […] darf auf keinen Fall eine Infektionskrankheit (z. B. AIDS, Hepatitis o. Ä.) haben oder aufgrund seiner Lebensumstände bzw. persönlichen Kontakte ein erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen“7. Unter diese Personengruppe fallen auch Prostituierte, Drogenabhängige und generell Personen mit häufig wechselnden Sexualpartnern.8 Wobei sich natürlich hier die Frage stellt, was denn „häufig wechselnde Sexualpartner“ bedeutet? Wieso werden homosexuelle Männer pauschal, Heterosexuelle (ggf. mit häufig wechselnden Sexualpartnern) jedoch nicht generell ausgeschlossen? Neben der strukturellen Diskriminierung in Form homosexuellen-feindlicher Gesetze, hat ein weiterer Aspekt maßgeblich zur Diskriminierung und daraus folgenden Stigmatisierung der Homosexuellen beigetragen: Der Tatbestand, dass Homosexualität lange als Geisteskrankheit kategorisiert wurde, die per se starker Stigma5 6 7 8

zeit.de, 11.07.14. Vgl. spiegel.de, 16.10.14. blutspendedienst-west.de, 11.07.14, vgl. auch Preuß 2004. Vgl. http://www.n-tv.de/politik/Warum-Schwule-nicht-Blut-spenden-duerfenarticle12153261.html, 11.07.14.

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tisierung unterliegen. Erst 1973 entfernte die American Psychiatric Association Homosexualität aus ihrem Diagnosemanual für Krankheiten DSM-III, die WHO behielt Homosexualität als psychische Störung in der ICD (Interational Classification of Diseases) sogar bis 1992 bei. Bis heute scheinen vor allem die männlich-homosexuellen Sexualpraktiken das zu sein, was das Negative und Abstoßende für viele ausmacht. Analverkehr gilt vielen als unsauber und unhygienisch. Exkremente verursachen Ekel (wobei anzumerken ist, dass Analverkehr keine rein homosexuelle Praktik ist. Gemeinhin wird sie aber mit der Gruppe der männlichen Homosexuellen assoziiert). Zudem ist der homosexuelle Geschlechtsakt nicht reproduktiv und da viele (u. a. religiös geprägte Menschen) den ursprünglichen Sinn des Geschlechtsverkehrs in Vermehrung sehen, erscheint ihnen der homosexuelle Akt widernatürlich. Und dann kam Aids … Ausgelöst durch das Humane Immundefizienz-Virus, kurz HIV, gilt sie als die „schwerste Infektionsepidemie der neueren Zeit.“9 1981 wurde Aids erstmals identifiziert, 1983 der Erreger – das HI-Virus – beschrieben.10 Ende 2010 waren etwa 34 Millionen Menschen weltweit infiziert11, wobei die Neuerkrankungen weltweit seit 2001 um 50 % auf 2,3 Mio. im Jahr in 2012 zurückgegangen sind.12 Wie Davison, Neale und Hautzinger richtig formulieren, „wurde Aids zuerst als Krankheit von Homosexuellen angesehen. Aber Aids war nie eine Krankheit der Homosexuellen […].“13 In den USA wurde die Krankheit anfänglich sogar als „Gay related immun deficiency“ bezeichnet und die deutsche Presse bezeichnete sie bereits im Jahr der ersten Todesfälle in Deutschland, 1983, als „Homosexuellen-Seuche“, „Gay-Plague“, „Schwulenpest“ oder „Homo-Pest“ und „Schwulenkrebs“.14 „Da die ersten Patienten, die in den USA bzw. der Bundesrepublik an Aids erkrankt und gestorben waren, überwiegend männliche Homosexuelle waren und das medizinisch-biologische Wissen um 9 Davison/Neale/Hautzinger, Klinische Psychologie, Weinheim/Basel/Berlin 2007, S. 266. 10 Erstmalige Beschreibung des HIV-Typ 1 1983 durch Luc Montagnier und Fran­ çoise Barré-Sinoussi. 11 Vgl. gib-aids-keine-chance.de, 06.04.14. 12 Vgl. aidsinfoonline.org, 06.04.14. 13 Davison/Neale/Hautzinger 2007, S. 266. 14 Eitz 2003, S. 90ff.

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die Krankheit […], die Übertragungswege […], ihre Verbreitung und ihre Letalität (noch) beschränkt war, wurde eine direkte kausale und sprachliche Verbindung zwischen männlicher Homosexualität und Aids hergestellt. Aids galt als ‚Krankheit der Stigmatisierten‘ und wurde […] als ‚selber verschuldet‘ infolge eines sexuellen Fehlverhaltens betrachtet.“15 Die Zeitung „Die Zeit“ nimmt bereits im Oktober 1983 das – hier sogar als solches bezeichnet – voreilige Abstempeln von Aids als „Homopest“ zurück, „‚[d]enn die Seuche greift auch – wenngleich sehr viel seltener als befürchtet – auf andere Bevölkerungsgruppen über.‘“16 Im August 1985 schreibt „Der Spiegel“, die Theorie von Aids als ‚Homosexuellen-Krankheit‘ sei überholt.17 Trotz des Wandels im Sprachgebrauch und trotz besseren Wissens wird das HI-Virus bis heute von vielen hauptsächlich mit Homosexuellen – vorranging mit homosexuellen Männern – in direkte Verbindung gebracht und abschätzig als „Schwulenseuche“ bezeichnet. Auch wenn Aufklärungskampagnen sowohl zu HIV als auch zu Homosexualität viel Unwissenheit in der Bevölkerung beseitigen konnten, begegnet Homosexuellen noch immer Stigmatisierung und auch die Erkrankung hat durch die Verbindung zu der stigmatisierten Gruppe eine Stigmatisierung erfahren, die bis heute anhält.18 Wie audiovisuelle Medien mit der Stigmatisierung von Homosexualität und HIV umgehen, ob sie entstigmatisierend wirken oder stereotype Einstellungen und Vorurteile eher aufrechterhalten, wird im Folgenden exemplarisch anhand der Spielfilme „Philadelphia“ von 1993 (Erstaufführung in Deutschland 1994) und „Dallas Buyers Club“ untersucht (USA 2013). Beide Filme sind oscar-prämiert, unter anderem für den besten Hauptdarsteller, was eine gewisse Wertschätzung dem Thema gegenüber erkennen lässt. Das Thema HIV und Aids ist spätestens seit dem Tod des Schauspielers Rock Hudson, der 1985 an Aids starb, in Hollywood präsent. Wie Eitz ausführt, hat die mediale Darstellung dieses Todes zu einem weit-

15 T. Eitz, AIDS – Krankheitsgeschichte und Sprachgeschichte, Hildesheim 2003, S. 91, vgl. auch W. Popp/H. W. Ingensiep, „Hygiene und Stigmatisierung von Lepra bis EHEC“, in: Krh.-Hyg. + Inf.verh. 33 Heft 5, 2011, S. 130-143, S. 135. 16 Eitz 2003, S. 92. 17 Ebd., S. 158. 18 Vgl. J. Hutter/V. Koch-Burghardt/R. Lautmann, Ausgrenzung macht krank. Homo­sexuellen-Feindschaft und HIV-Infektionen, Wiesbaden 2000.

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greifenden Umdenken – zumindest im Sprachgebrauch im Hinblick auf HIV und Aids geführt.19

Philadelphia Andrew Beckett, gespielt von Tom Hanks, arbeitet als Anwalt und ist in seinem Beruf sehr erfolgreich. Gleich zu Anfang des Films sieht man ihn im Krankenhaus, wo eine ihm bekannte Ärztin mit ihm seine Blutwerte bespricht. Er ist also bereits an HIV erkrankt und weiß es. Andrew transportiert als homosexuell und HIV-positiv dargestellt, genau das Stereotyp des „typischen Aidskranken“. Durchbrochen wird diese zunächst negative Darstellung jedoch dadurch, dass schnell klar wird, dass er einen festen Partner hat. Die Stigma-Bereiche Homosexueller, wie bei Hutter et al.20 aufgezeigt (Abb. 1), werden bei Andrew als weitestgehend positiv und nicht stigmatisierend dargestellt: Seine Verwandtschaft weiß sowohl über seine Homosexualität als auch über seine Erkrankung Bescheid und unterstützt ihn, das schließt seine Eltern mit ein. Der Bereich Medizin, hier repräsentiert durch Ärzte, die dargestellt werden, zeigt einen offenen und eher positiven, zumindest nicht ablehnenden Umgang, auch mit Andrews sexueller Orientierung. So fragt der Arzt im Krankenhaus, als Miguel – Andrews Partner – sich vehement zu Wort meldet, wer er sei. Als Andy mit „Er ist mein Freund“ antwortet, reagiert der Arzt nur mit einem „na und?“. Natürlich ist Freund erst mal ein neutraler Begriff, in der Art und Weise, wie Miguel sich einbringt, scheint das Verhältnis der beiden zueinander jedoch klar zu sein. Andy pflegt eigentlich einen offensiven Umgang mit seiner Krankheit, nur bei seinem Arbeitgeber spricht er nicht darüber, denn er weiß, dass dieser schwulenfeindlich eingestellt ist. Kurz nachdem einer seiner Kollegen einen Flecken auf Andys Stirn entdeckt, wird er entlassen. Angeblich habe er ein großes Projekt gefährdet, ist sich aber keiner Schuld bewusst. Als er seinen wenig erfolgreichen Anwaltskollegen Joe Miller darum bittet, dass er ihn als Anwalt gerichtlich vertreten möge, antwortet er auf die Frage, wie es ihm gehe, ganz offen mit „Ich habe Aids“ (Philadelphia 1993, 21:40 – 19 Vgl. Eitz 2003. 20 Hutter et al. 2000, S. 36.

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Abb. 1: Stigma-Management Homosexueller, entnommen aus Hutter et al 2000, S. 36.

22:54). Joe, der bereits der zehnte Anwalt ist, den Andrew anfragt, repräsentiert die Angst und das daraus resultierende Verhalten der Bevölkerung: Er ist erschreckt, fühlt sich sichtbar unwohl. Sein Arzt, den er von Panik ergriffen noch am selben Tag aufsucht, klärt ihn auf, dass HIV nur durch die Übertragung von Körperflüssigkeiten ansteckend sei (28:40). Trotzdem lässt ihn sein Unwohlsein nicht gänzlich los und er spricht am Abend mit seiner Frau darüber. „Du hast n Problem mit den Schwulen, Joe!“ (29:41), sagt sie und bringt die Problematik auf den Punkt. Mit dieser Einstellung spiegelt Joe den Stigma-Bereich Öffentlichkeit, die zu dieser Zeit weitestgehend anti-schwul eingestellt war. Das wird u. a. durch die Presse und Demonstranten vor dem Gericht dargestellt, deren Plakate Aufschriften wie „Aids cures homosexuality“ (51:00) tragen. Als Joe eine Szene in der Bibliothek mitbekommt, bei der der Bibliotheksangestellte Andy gegenüber deutlich kommuniziert, wie unwohl er sich mit dessen Anwesenheit im allgemeinen Lesesaal fühlt, entschließt Joe sich entgegen seiner Vorurteile doch, Andy zu vertreten (Philadelphia 32:30 – 34:30). Im Gerichtssaal werden typische Vorurteile aufgedeckt: Andy wird von der Gegenpartei – seinem Arbeitgeber – ein leichtsinniger Lebenswandel unterstellt (47:40), ohne dass dieser tatsächlich über sein Privatleben Bescheid wüsste. So ist die Rede davon, ob er mit

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anderen Homosexuellen „verkehre“, denn schließlich habe er Aids in die Büroräume eingeschleust (39:30). Hier wird deutlich, dass dem Erkrankten die Schuld an seiner Erkrankung gegeben wird, da ihm ein angebliches Fehlverhalten in Form seiner homosexuellen Sexualpraktiken vorgeworfen wird. Im Verlauf des Films und Prozesses wechselt Joe aus dem Stigmabereich Öffentlichkeit in den der Peergroup. Er baut nach und nach seine (Berührungs)ängste ab und erkennt selbst, dass das Problem weniger die Krankheit an sich, als die Verbindung zu den verhassten Homosexuellen ist, wenn er vor Gericht sagt „Denn in diesem Fall geht es doch nicht nur um Aids!“ (63:40). An Joes Charakter wird der Prozess der Aufklärung und Entstigmatisierung gezeigt, denn im Endeffekt baut er seine Vorurteile ab und kämpft für Andrew. (Hier möchte ich an die zumindest ersten beiden Stufen der Aufklärung erinnern, 1) kognitiv > Wissen und 2) affektiv > Gefühl, die Prof. Ingensiep in seinem Impulsreferat im Rahmen dieser Tagung vorgestellt hat.) Trotzdem gibt es Aspekte in „Philadelphia“, die eine bestehende Stigmatisierung – besonders zum Zeitpunkt des Entstehens, 1993, als man mit der Akzeptanz Homosexueller noch nicht so weit vorangeschritten war wie heute – aufrechterhalten könnten: Der Erkrankte ist männlich und schwul, lebt zwar in einer festen Partnerschaft, hatte allerdings einmalig ungeschützen Sex außerhalb dieser. Zugleich finden sich Gegenstrukturen, die versuchen mit gängigen Vorurteilen aufzuräumen. So ist eine Zeugin, die zu Andrews Gunsten herbeigeholt wird, ebenfalls aidskrank, aber weiblich und nicht homosexuell. Andrew Beckett wird als ein liebenswürdiger, „normaler“ Mensch dargestellt, dergestalt, dass er eine feste Partnerschaft, einen guten Job, eine gesunde Familienstruktur etc. hat. Der Film Philadelphia bemüht sich also meiner Meinung nach durchaus, antistigmatisierend zu wirken, indem er ex negativo Vorurteile und Stereotype offenlegt.

Dallas Buyers Club Hier geht es um Ron Woodroof, der eine historische Person ist.21 Im Film gespielt von Matthew McConaughey ist Woodroof ein Lebemann und Frauenheld, der Mitte der 1980er Jahre an Aids erkrankt. 21 Vgl. biography.com, 14.07.14.

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Seine Prognose ist sehr schlecht, er habe nur noch kurz zu leben, und er beginnt, verschiedene Präparate im Selbsttest auszuprobieren, um sein Leiden zu lindern und sein Leben zu verlängern, was ihm auch gelingt. Er gründet den „Dallas Buyers Club“, um auch anderen Erkrankten über die zu dieser Zeit sehr beschränkten Möglichkeiten der Schulmedizin hinaus diese Chance zu ermöglichen. Diese sogenannten Buyers Clubs bildeten sich tatsächlich in vielen Großstädten, vorrangig in den USA.22 Ron entspricht dem Bild des texanischen Cowboys, männlich, potent und machohaft, verkörpert also das Gegenteil des „typischen“ Aidskranken, der homosexuell, weich und verweiblicht ist. Er selbst gibt seiner homophoben Einstellung eindeutig Ausdruck, als er seine Diagnose bekommt und den Arzt beschimpft (Dallas Buyers Club, 9:13 – 10:06): „Sie wollen mich doch jetzt verscheißern! Sie erzählen mir so einen Rock-Schwanzlutscher-Hudson-Blödsinn […] Homo? Haben Sie das gerade gesagt? Homo? Das haben Sie tatsächlich gerade gesagt! […] Ich bin keine Schwuchtel, Sie blöder Wichser!“ Der Arzt fragt, ob Ron je intravenös Drogen injiziert oder homosexuelle Kontakte gehabt habe – stellt also gleichwertig zwei Infektionsmöglichkeiten nebeneinander und beschränkt sich NICHT auf Homosexualität als Infektionsweg. Auch hier ist der Stigmabereich Medizin also eher neutral bis positiv zu werten. Ron’s Arbeitskollege Tucker repräsentiert die Gesellschaft, die damals nicht viel über HIV und Aids wusste. Als Ron ihm von seiner Diagnose erzählt, die er noch immer für einen Irrtum hält, reagiert Tucker mit dem, was er weiß: „Ich hab gehört, das kann man kriegen, wenn man jemand nur anfasst. Schwule kriegen das. Scheiß Schwuchteln!“ (Dallas Buyers Club 13:35 – 14:09). Auch er vertritt also eine eindeutig schwulenfeindliche Einstellung. Hier finden wir die Stigma-Bereiche Öffentlichkeit, Arbeit und Peer-Group, die alle stark negativ belastet sind. Im Krankenhaus lernt Ron Rayon kennen, einen transsexuellen Mann, begegnet „ihr“ sehr feindlich und abweisend (30:40) und lehnt jegliche Nettigkeit mit dem Kommentar „Heilige Scheiße, ich bin hetero!“ (33:30) ab. Später nimmt Rayon außerhalb des Krankenhauses wieder Kontakt zu ihm auf (48:09), weil auch sie etwas von seinen Präparaten ausprobiert hat und es ihr besser geht. Sie möchte für sich und noch weitere Kranke Nachschub besorgen. Da 22 Vgl. GEO 1993.

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Ron sich immer noch feinselig zeigt, reagiert sie vorerst unerwartet aber konsequent „Weißt Du was? Du verdienst unser Geld nicht, Du homophobes Arschloch!“ (48:43). Sie werden schließlich doch Geschäftspartner und ab diesem Zeitpunkt kommen sie sich auch menschlich näher. Das wird zum ersten Mal in folgender Szene deutlich: Rayon und Ron sind einkaufen. Ron weist Rayon darauf hin, keinen „Industriefraß“ zu kaufen. Er wolle so etwas nicht essen und sie solle das auch nicht tun. Sie treffen Tucker, der auf Rayon mit „Überall beschissene Schwuchteln!“ reagiert. Ron stellt ihm Rayon vor und zwingt ihn dazu, Rayon die Hand zu geben – als ein Zeichen des Respekts (Dallas Buyers Club 57:11 – 59:13). Er bezieht eindeutig Stellung für Rayon und sogar mehr als das. An dieser Stelle wird klar, dass Ron seine Homophobie abgelegt hat. Auch wenn er nach außen hin sein Verhältnis zu Rayon immer als rein geschäftlich erscheinen lassen will, wird spätestens dann deutlich, wie sehr er ihr auch emotional zugetan ist, als sie verstirbt (01:35:12). Er verliert seine Vorurteile dadurch, dass er Rayon und durch den Dallas Buyers Club auch andere Homosexuelle kennenlernt. Das Kennen eines Homosexuellen spielt tatsächlich eine ausschlaggebende Rolle bei der Einstellung, die man gegenüber dieser Personengruppe hat, wie Steffens und Wagner belegen.23 Auch Ron Woodroof geht mit seiner Erkrankung offensiv um, wobei er Tucker in dem Glauben davon erzählt, es sei eine Fehldiagnose. Alle weiteren Menschen, mit denen er zu tun hat, sind selbst Betroffene, Ärzte oder Personen, mit denen er geschäftlich zu tun hat. In diesem Zusammenhang spielt seine persönliche Erkrankung meist keine Rolle. „Philadelphia“ und „Dallas Buyers Club” zeigen Vorurteile und Stereotype gegenüber Homosexuellen und HIV-/Aidskranken auf, entkräften sie jedoch im Laufe der Handlung. Warum, so habe ich mich gefragt, beschäftigen sich Filmemacher überhaupt mit dem Thema HIV/Aids, welches zumindest in den beiden hier analysierten Filmen mit Homosexualität in Zusammenhang gebracht wird? In erster Linie ist die Filmindustrie eine Unterhaltungsindustrie und wie Jarvie sagt, ist der Film eine Kunst. Und eine Funktion der Kunst sei es, „unser Erleben durch Unterhal-

23 Vgl. M. C. Steffens/C. Wagner, „Attitudes toward lesbians, gay men, bisexual women and bisexual men in Germany“, in: The Journal of Sex Research, Vol. 41, No. 2, 2004, S. 137-149, S. 139.

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tung zu bereichern“ und er bedürfe, soziologisch gesehen, keinerlei Rechtfertigung.24 Wie bei jedem Produkt bestimmen sich Angebot und Nachfrage. Allerdings – so Jarvie – sei es beim Film so, dass die Nachfrage vorausgeschätzt werde.25 Zu mutmaßen wäre also, dass gesellschaftlich interessante und relevante Themen ihren Eingang in Filme finden, weil eine Auseinandersetzung mit und Präsentation von diesen Themen früher oder später gefordert werden. HIV und Aids waren, und sind noch immer, eine nie dagewesene Herausforderung für Gesellschaft und Menschheit. Sie zerstören, wie Monica S. Pearl erklärt, Individuen, Gemeinschaften und die Art und Weise, wie über Dinge nachgedacht, wie sie gesagt oder ausgedrückt werden können.26 Diese „many levels of disruption“27, die Aids mit sich bringt und auch die Zerstörung des Körpers und der Identität mit einschließen, werden in Filmen zu diesem Thema aufgezeigt und es werden Vorschläge angeboten, damit umzugehen. Das bis dato dienliche Narrativ ‚das Selbst gegen das Fremde‘, ist nicht mehr brauchbar, denn der aidskranke Körper beginnt irgendwann, sich selbst zu bekämpfen: „Das Selbst als Ganzes, Unantastbares, Unverwundbares, genau Bestimmbares wird, auch für diejenigen, die nicht krank sind, eine Illusion des Selbst und der Selbstwahrnehmung, die nicht aufrecht erhalten werden kann.“28 Durch Filme, die sich mit diesem Thema beschäftigen, können also Hilfestellungen zur Identitätsarbeit angeboten werden. Was Pearl zufolge für die frühen Aids-Videos galt, kann zudem auch heute noch Geltung haben: Sie füllten (und füllen?) Wissenslücken, leisten Aufklärungsarbeit, „educate the ‚general population‘“ und geben sonst ungehörten Gruppen eine Stimme und öffentliche Wahrnehmung.29 So auch der Gruppe der Homosexuellen. In den beiden hier vorgestellten Filmbeispielen wird durch die Arztfiguren deutlich Hygiene-Aufklärung betrieben, indem reelle Übertragungswege des HI-Virus aufgezeigt werden. In jedem Fall wirkt das Medium Film, denn es gibt eine „Wechselwirkung zwischen Film und Gesellschaft“. Der Film unterstütze, schildere und attackiere die gesellschaftlichen Verhältnisse, so 24 Vgl. I. C. Jarvie, Film und Gesellschaft. Struktur und Funktion der Filmindustrie, Stuttgart 1974, S. 10. 25 Vgl. ebd., S. 22. 26 Vgl. Pearl in: M. Aaron, New queer cinema. A critical reader, Edinburgh 2004, S. 23. 27 Ebd., S. 24. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd., S. 26.

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Jarvie.30 Und auch, wenn man die Wirkung eines Mediums auf den Rezipienten nicht eindeutig nachvollziehen und belegen kann, so kann das gezeigte Fehlverhalten zumindest wahrgenommen werden und zum Umdenken beitragen. Literatur M. Aaron, New queer cinema. A critical reader, Edinburgh 2004. T. Eitz, AIDS – Krankheitsgeschichte und Sprachgeschichte, Hildesheim 2003. GEO – Das neue Bild der Erde, Nr. 3/März 1993, Titelthema „Aids-Therapien – Aufstand der Patienten“. B.-U. Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Tübingen 1999. J. Hutter/V. Koch-Burghardt/R. Lautmann, Ausgrenzung macht krank. Homosexuellen-Feindschaft und HIV-Infektionen, Wiesbaden 2000. I. C. Jarvie, Film und Gesellschaft. Struktur und Funktion der Filmindustrie, Stuttgart 1974. K. Kanzog, Einführung in die Filmphilologie, München 1997. W. Popp/H. W. Ingensiep, „Hygiene und Stigmatisierung von Lepra bis EHEC“, in: Krh.-Hyg. + Inf.verh. 33 Heft 5, 2011, S. 130-143. A. Preuß, „Zum Ausschluss schwuler Männer von der Blutspende“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 25, Heft 1, 2004, S. 35-62. M. C. Steffens/C. Wagner, „Attitudes toward lesbians, gay men, bisexual women and bisexual men in Germany“, in: The Journal of Sex Research, Vol. 41, No. 2, 2004, S. 137-149.

Internetquellen Der Paragraph 175: http://lexetius.com/StGB/175, 11.07.14 Artikel auf Zeit.de vom 27.02.2014 „Erste europäische Länder bestrafen Uganda“ http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-02/uganda-homosexualitaet-gesetzkonsequenzen, letzter Zugriff am 11.07.14 Blutspendedienst des Deutschen Roten Kreuzes: http://www.blutspendedienst-west. de/blutspende/spenderinformationen/wer_darf_blutspenden.php, letzter Zugriff am 11.07.14 Artikel auf n-tv.de vom 27.01.2014 „Lieber sicher als politisch korrekt – Warum Schwule nicht Blut spenden dürfen“ http://www.n-tv.de/politik/WarumSchwule-nicht-Blut-spenden-duerfen-article12153261.html, letzter Zugriff am 11.07.14 Gib Aids keine Chance: https://www.gib-aids-keine-chance.de/wissen/aids_hiv/verbreitung_von_hiv_und_aids.php, letzter Zugriff am 06.04.14 Aidsinfo online: http://www.aidsinfoonline.org/devinfo/libraries/aspx/Home.aspx, letzter Zugriff am 06.04.14 Ron Woodroof: http://www.biography.com/people/ron-woodroof-21329541, 14.07.14

30 Vgl. Jarvie 1974, S. 7.

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Uganda: Verfassungsgericht kippt Anti-Homosexuellen-Gesetz: http://www.spiegel. de/politik/ausland/uganda-anti-homosexuellen-gesetz-gekippt-von-verfassungsgericht-a-984031.html, 16.10.14

Filme Dallas Buyers Club (2013, D 2014), Regie: Jean-Marc Vallée, 117 Min. Philadelphia (1993, D 1994), Regie: Jonathan Demme, 125 Min.

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Hygiene in Arzt- und Krankenhausserien Leitfaden für die Praxis oder Zerstreuung für das Abendprogramm?1

1. Einleitung: Hygiene in Film und Fernsehen Bevor wir uns der Frage zuwenden, ob und wie weit sich Arzt- und Krankenhausserien zur Hygieneaufklärung eignen, lohnt es sich, einen Blick auf die Behandlung des Themenfeldes „Hygiene“ in der Film- und Fernsehgeschichte zu werfen. Die vielfältigen Herangehensweisen an dieses auf den ersten Blick unterhaltungsferne Thema zeigen Aycha Riffi und Edgar Weiß in einem kompakten, aber weit gefächerten Überblicksessay auf.2 Neben der dokumentarischen und belehrenden oder propagandapolitischen Herangehensweise an die Hygiene dient selbige auch als Metapher oder Stilmittel in verschiedensten Genres. In der Werbebranche wird so, was angesichts des Zieles von Werbung, der Umsatzsteigerung für ein Produkt nicht verwunderlich ist, hauptsächlich die elementare Angst des Zuschauers vor Krankheit und Tod angesprochen. Der menschliche Körper wird dann oft als Festung dargestellt, die von Mikroben, Bazillen oder Viren belagert und im schlimmsten Falle (den es durch Erwerb und Nutzung des beworbenen Produktes zu verhindern gilt) schließlich eingenommen wird. Dabei werden die Krankheitserreger in der Regel als Monster dargestellt, deren erklärtes Ziel es ist, dem Menschen Schaden zuzufügen. Das kann in pädagogischer Hinsicht auch ins Gegenteil umschlagen und, wie im Falle der Figuren „Karius und Baktus“, die eigentlich zur Förderung der Mundhygiene von Kindern gedacht waren, zu einer Sympathie für die Antihelden oder sogar zu Mitleid mit ihnen führen.3 Die

1 2 3

Dieser Aufsatz behandelt methodische Fragen und stellt den Zwischenstand einer Dissertation zum Thema dar. Vgl. A. Riffi/E. Weiß, „„Millions of Germs Will Die“. Hygiene in Film und Fern­ sehen“, in: H. W. Ingensiep/W. Popp (Hrsg.), Hygiene und Kultur, Essen 2012, S. 189-208. Vgl. auch den Beitrag von Katharina Fürholzer in diesem Band.

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suggerierte Schutzlosigkeit des Körpers in hygienischer Hinsicht, die, wie die Werbung uns belehrt, mit bestimmten Mitteln abstellbar ist, die man auch noch einfach im Supermarkt kaufen kann, wird in anderen Genres aufgegriffen und zur Erzeugung von Spannung genutzt. Dabei dient das Badezimmer als der Ort, an dem der Mensch am angreifbarsten ist und der sich daher besonders gut für die Darstellung von Morden eignet. Die hier paradigmatische Szene für das Thriller- und Horrorgenre ist die Duschszene in Alfred Hitchcocks „Psycho“ von 1960. Dass die Protagonistin unter der Dusche steht und damit tatsächlich nackt ist, verstärkt das Gefühl ihrer Wehrlosigkeit dabei noch. In Komödien wird der Ekeleffekt im Zusammenhang mit mangelnder Hygiene noch nicht so lange genutzt und schlägt sich hier hauptsächlich in Form von Fäkalhumor nieder. Das Element des „Unbewusste[n] unter dem Rand der Toilettenschüssel“4, das auch in der Werbung Verwendung findet, erscheint auch in einer der bekanntesten Toilettenszenen der Filmgeschichte, manifestiert in der „dreckigsten Toilette Schottlands“, in die der Protagonist Mark Renton in Danny Boyles Heroin-Drama „Trainspotting“ von 1996 eintaucht um dort seine Katharsis zu erleben. In der Symbolik des Waschens und der Hygiene schwingt in der Film- und Fernsehgeschichte oftmals das Abwaschen auf sich geladener Schuld mit. Arzt- und Krankenhausserien eignen sich durch ihre Szenerie besonders gut für die Behandlung von „letzten Dingen“, Geburt, Tod, Krankheit, Heilung und ähnliche „großen“ Themen. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich aber mit der Zeit neben den Halbgöttern in weiß auch immer mehr Antihelden, die mit der ihr zugedachten Rolle kämpfen, angefangen bei den Militärärzten in „M*A*S*H“ (1972–1973) bis zum drogensüchtigen, aber genialen Misanthropen Dr. Gregory House (2004–2012). In diesen Serien wird auch die ständige Bedrohung durch Keime im Krankenhaus thematisiert, ein in Zeiten immer häufiger auftretender Zwischenfälle mit antibiotikaresistenten Erregern auch die öffentliche Wahrnehmung immer stärker einnehmendes Thema. Die Darstellung von unhygienischen Zuständen und Verwahrlosung kann aber beim Zuschauer auch ein angenehm affirmatives Gefühl des „Normalseins“ hervorrufen. Das Genre des Seuchenfilms thematisiert die generelle Unmöglichkeit einer vollständigen Keimfreiheit für Lebewesen generell. Der vollständige Reinraum und der Raum

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Riffi/Weiß 2012, S. 195.

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des Organischen können sich eben nicht überschneiden.5 Die Bedrohung durch schwer oder gar nicht mehr kontrollierbare Pandemien, die etwa in Wolfgang Petersens „Outbreak“ von 1995 zum Thema wird, zieht sich in der Filmgeschichte auch durch das Genre des Zombiefilms.6 Die Unmöglichkeit totaler Hygiene und die Schwierigkeiten, die ein Mensch mit dieser Tatsache haben kann, wird in Film und Fernsehen auch oft durch die Thematisierung zwanghaften Verhaltens oder von Verhaltensstörungen thematisiert, etwa in „As good as it gets“ mit Jack Nicholson (1997) oder immer wieder in der Krimiserie „Monk“ (2002–2009). Riffi und Weiß zitieren hier Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“, „[d]er zwanghafte Mensch kann es schwer annehmen, dass es im Bereich des Lebendigen keine Absolutheit […] gibt.“7 Für den Bereich der Arzt- und Krankenhausserien, die im Folgenden im Fokus stehen, lassen sich nach Riffi/Weiß zwei Gefahren ausmachen, die in unserem Sinne eine genaue Sondierung von Szenen zur potentiellen Hygieneaufklärung noch wichtiger machen: Zum einen besteht die Gefahr, dass ein falsches Bild vom Krankenhausalltag erzeugt wird, das den Zuschauer, der zum Patienten wird, äußerst enttäuscht und unzufrieden mit den Gegebenheiten in realen Kliniken zurücklassen wird. Das wiederum kann auf das Krankenhauspersonal zurückschlagen. Zweitens, und potentiell sogar gesundheitsgefährdend, kann der Zuschauer die Überzeugung von Expertise in medizinischen und hygienischen Fragen aufgrund eines exzessiven Serienkonsums entwickeln. Im Extremfall könnte dies in Selbstmedikation oder falscher Hilfeleistung im Notfall münden. Mit der Tatsache im Hinterkopf, dass Film- und Fernsehproduktionen in erster Linie im Spektrum des Kunstwerkes zu verordnen und deshalb nicht zuallererst auf ihre Realitätsnähe festzunageln sind, lohnt es sich nun dennoch, die tatsächliche Korrektheit in Arzt- und Krankenhausserien durchgeführter Hygienemaßnahmen, auf die viele Produzenten inzwischen großen Wert legen, genauer zu untersuchen.

5 6 7

Vgl. auch den Beitrag von Romfeld/Buschlinger in diesem Band. Diese interessante Interpretation ist Aycha Riffis Vortrag „Hygiene im Film“ am 1.8.2014 während der diesem Sammelband vorangehenden Klausurwoche entnommen. F. Riemann zit. nach Riffi/Weiß 2012, S. 203.

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2. Hygiene in amerikanischen Arzt-/ Krankenhausserien8; Fragestellungen (1) Eignen sich Arzt-/ Krankenhausserien potentiell zur Aufklärung bzw. zum Schaffen eines Problembewusstseins der Allgemeinbevölkerung zum Thema Hygiene? (2) Kann man gezielt Episoden der Serien auswählen, um damit Personen aus dem Gesundheitswesen zu schulen? 2.1 Hintergrund Auch durch die landesweite Kampagne „Keine Keime. Keine Chance für multiresistente Erreger“ der „Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen e.V.“(KGNW) wird noch einmal deutlich wie wichtig es ist die Allgemeinbevölkerung zu Themen wie Infektionsschutz, Krankenhaushygiene und insbesondere zu multiresistenten Erregern aufzuklären. Zudem informiert auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unter anderem auf ihrer Internetpräsenz „infektionsschutz.de“ zu diesen Themen. Beispielsweise werden dort Hygienetipps, die Relevanz der Hände als Überträgermedium von Mikroorganismen und hygienische Verhaltensmaßnahmen in Alltagssituationen veranschaulicht. 2.2 Kriterien zur Vorauswahl Bei der Vielzahl an Arzt- bzw. Krankenhausserien, die aktuell im deutschen und amerikanischen TV ausgestrahlt werden und in der Vergangenheit ausgestrahlt wurden, ist es notwendig eine vorherige Auswahl zu treffen, denn nicht alle genügen dem Anspruch, für eine medizinische und insbesondere hygienische Betrachtung und Auswertung tauglich zu sein. Film- und Fernsehmacher lassen sich jedoch verstärkt in medizinischen und wissenschaftlichen Fragen beraten, um möglichst realitätsnahe Szenarien entwerfen zu können.9 Im Voraus wurden Serien ausgewählt, die einen relativ hohen Bekanntheitsgrad haben, gemessen an der Dauer und Häufigkeit 8 9

Bei dem diese Fragestellungen behandelnden Dissertationsprojekt werden auch deutsche Serien in die Betrachtung einbezogen. Im deutschsprachigen Raum seien hier etwa www.thedox.de genannt.

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der Präsenz im deutschen Fernsehen. Es ist anzunehmen, dass durch diese Auswahl ein großer Teil der Gesellschafft erreicht wird, und somit ein Problembewusstsein bei möglichst vielen Menschen geschaffen werden kann. Ein weiteres Kriterium ist, dass der Fokus der Serie auf der Darstellung medizinischer Sachverhalte liegt. Es gibt einige Serien bei denen der Fokus eher auf zwischenmenschlichen Beziehungen liegt und der medizinische Aspekt als erzählerischer Rahmen genutzt wird, um eine bestimmte Atmosphäre zu kreieren. Der letzte wichtige Punkt für die Auswahl ist, dass das Set die typische Umgebung einer Krankenhausstation oder einen sonstigen klinischen Bereich, wie zum Beispiel einen OP-Saal oder einen Untersuchungsraum zeigt. Idealerweise werden in einer Serie alle oben genannten Bereiche dargestellt. Mit Hilfe dieses Sets können alltägliche klinische Tätigkeiten und die damit verbundenen hygienischen Maßnahmen am wirklichkeitsgetreuesten visualisiert werden, um so einen größeren Effekt bei den Zielgruppen erzielen. Sind alle drei Kriterien erfüllt, kommen sie in die endgültige Auswahl an TV-Serien.

3. Amerikanische TV-Serien 3.1 Scrubs – Die Anfänger Die Serie „Scrubs – Die Anfänger“ ist in den Jahren 2001–2010 produziert worden. Der typische Schauplatz ist das „Sacred Heart Hospital“ und es werden sowohl typische Patientenzimmer, als auch OP-Säle dargestellt. Des Weiteren ist jedes medizinische Personal in die Serie integriert, vom Reinigungspersonal bis hin zum Chefarzt über Studenten, mit der Besonderheit, dass sie immer ihre speziellen Bereichskleidungen tragen, was eine genauere Betrachtung ihres hygienischen Verhaltens erlaubt. Zunächst sollen zwei ärztliche Mitarbeiter abgebildet werden, die sich auf das Fach Innere Medizin spezialisiert haben. Zum einen wäre da John Dorian, kurz J.D. und zum anderen Elliot Reid. Beide Protagonisten eignen sich bestens zur Evaluation ihres hygienischen Verhaltens, da sie häufigen Patientenkontakt pflegen und sie zusätzlich bei einer Vielzahl von medizinischen Interventionen gezeigt werden. Beispielsweise treten https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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beide Charaktere häufiger bei Verbandswechseln und Wundversorgung in Erscheinung. Dann wäre da noch Christopher Turk, auch ärztliches Personal, allerdings im Bereich Chirurgie. Als Chirurg wird Dr. Turk häufiger, über die Staffeln hinweg, auch im OP-Saal gezeigt. Wegen der besonderen hygienischen Anforderungen in OP-Sälen, sowohl in Bezug auf die räumlichen Gegebenheiten, als auch an die persönliche Hygiene der Mitarbeiter, kann dort gezielt nach richtigem bzw. falschem Verhalten bewertet werden. Abschließend soll noch auf eine weitere Berufsgruppe aus dem „Sacred Heart Hospital“ hingewiesen werden, den Hausmeister. Der Hausmeister erfüllt neben Instandsetzungen auch Reinigungsaufgaben, was eine zusätzliche Betrachtung der Hygiene in diesem Gebiet erlaubt. 3.2 Grey’s Anatomie Seit 2005 wird „Grey’s Anatomie“ in den USA produziert und wird seitdem auch im deutschen Fernsehen mit Unterbrechungen und Senderwechseln ausgestrahlt. Das Set spiegelt das fiktive Seattle Grace Hospital wider. Was diese Serie so interessant für eine Auswertung macht ist die Tatsache, dass es sich bei dem dargestellten medizinischen Personal nahezu ausschließlich um Chirurgen handelt, die häufig im typischen Operationsumfeld gezeigt werden. Den Produzenten gelingt m. E. eine sehr realitätsnahe Darstellung medizinischer Inhalte.

4. Methode Zu Fragestellung (1): Zunächst werden zufällig je zehn Episoden aus diversen Staffeln jeder TV-Serie zusammengestellt und mehrfach betrachtet. Bei der Durchsicht der Serien werden alle Tätigkeiten von Mitarbeiten vor dem Hintergrund bewertet, ob hygienische Maßnahmen durchgeführt oder weggelassen werden. Es spielt dabei keine Rolle, ob durchgeführte hygienische Maßnahmen richtig oder falsch erledigt wurden, denn in beiden Fällen können daraus später Schlüsse gezogen werden. Bei allen Serien werden die deutschen Hygienestanhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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dards als Richtlinie angewandt. Um eine objektive und vergleichbare Auswertung zu gewährleisten wurde ein Auswerteschema erstellt. In dem Auswerteschema werden Personengruppen (Personal, Patienten und Angehörige), durchgeführte hygienische Maßnahmen oder die Vernachlässigung dieser, sowie deren Häufigkeiten erfasst und summiert, sowohl für die einzelne Episode, als auch für alle zehn Episoden der jeweiligen Serie. Betrachtet wird auch die Haustechnik (Wasser, RLT etc.), sowie Einrichtungsgegenstände im klinischen Umfeld unter hygienischen Gesichtspunkten. Die Auswertung erfolgt pro Szene und beteiligter Person. 4.2 Das Auswerteschema Zunächst wird die Häufigkeit der durchgeführten hygienerelevanten Maßnahmen ermittelt. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich um Standardprozeduren in Krankenhäusern (wie oben bereits erwähnt, an deutschen Hygienestandards gemessen). Eine angemessen häufige Darstellung dieser Prozeduren kann bereits einen Hinweis darauf geben, wie viel Wert die Serienmacher auf die Realitätstreue ihrer Darstellung legen. Beim Krankenhauspersonal werden hier erfasst: 1. Die Händedesinfektion 2. Die Verwendung von Handschuhen 3. Die Blutentnahme/Die Versorgung von Zugängen 4. Die Wundversorgung 5. Der Umgang mit Infusionen (Anlage/Wechsel) 6. Die Durchführung von Injektionen (subcutan/intramuskulär) 7. Auswahl und Anlage von Kleidung und Schmuck 8. Der Umgang mit/Die Aufbereitung von Medizinproduktten 9. Der Kontakt zu Patienten und deren Angehörigen 10. Die Durchführung von Operationen Auch das alltägliche Verhalten von Patienten im Krankenhaus ist hochgradig hygienerelevant. Die Items, die hier erfasst werden sind: 1. Persönliche Hygiene 2. Umgang mit spezieller Kleidung 3. Aufnahme von Informationen zu korrektem hygienischen Verhalten 4. Kontakt zu Angehörigen und medizinischem Personal

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Eine Auswertung, die alle hygienerelevanten Aspekte eines Krankenhausaufenthaltes erfasst, muss auch das Verhalten von Angehörigen, die durch ihr Kommen und Gehen einen besonders kritischen Hygienefaktor darstellen, erfassen. Dabei besonders: 1. Umgang mit/Kontakt zu dem jeweiligen angehörigen Patienten 2. Hygienisches Verhalten im klinischen Umfeld Das klinische Umfeld, das nicht direkt mit Behandlung oder Pflege zu tun hat, kann dennoch hygienisch relevant werden. Keime übertragen sich schließlich nicht nur im direkten Umgang mit den Patienten, sondern auch über infrastrukturelle Faktoren wie: 1. Die Haustechnik, etwa Wasser, RLT (Lüftung) etc. 2. Die Einrichtung 3. Die Küchen-/Lebensmittelhygiene Zu Fragestellung (2): Es wird eine große Auswahl an Episoden pro Serie ausgewertet, um dann potentielle Szenen herauszufiltern, die sich für eine direkte Schulung von Personen aus dem Gesundheitswesen eignen. Auch dabei werden sowohl positive, als auch negative Beispiele berücksichtigt.

5. Auswertung 5.1 Personal Die Hauptakteure des Krankenhausalltages sind die Mitarbeiter, die sowohl quantitativ, als auch qualitativ am häufigsten in medizinisches Prozedere involviert sind. Eine hervorzuhebende Beobachtung gilt der Händedesinfektion, denn mit den Händen werden nicht nur die meisten medizinischen Tätigkeiten ausgeübt, sondern auch eine Vielzahl von Keimen auf den Patienten übertragen. Es werden zwei Arten der Händedesinfektion unterschieden. Die chirurgische Händedesinfektion auf der einen Seite, welche sich durch eine längere Durchführungszeit von drei Minuten und die Tatsache, dass zusätzlich die Unterarme und die Ellenbogen desinfiziert werden, auf der anderen Seite die hygienische Händedesinfektion, bei der nur die Hände mit einer Durchführungszeit von dreißig Sekunden desinfiziert werden. Um die Händedesinfektion aussagekräftig https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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bewerten zu können wird auf zwei Dinge besonders geachtet. Zum einen wird die Durchführung der Händedesinfektion fokussiert, also die Darstellung der einzelnen Schritte und deren Genauigkeit. Und zum anderen wird sie dahingehend untersucht, zu welchem Zeitpunkt im klinischen Alltag, zum Beispiel vor und nach Betreten des Patientenzimmers, die Händedesinfektion zum Einsatz kommt. Ein weiterer, wichtiger Eckpfeiler der Prävention von Infektionen ist die korrekte Anwendung von Handschuhen. In Abhängigkeit von der Art der medizinischen Intervention kommen entweder sterile oder unsterile Handschuhe zum Einsatz. Beispielsweise werden bei der Versorgung von Wunden sterile Handschuhe verwendet, wo hingegen bei einer Blutentnahme aus peripheren Venen unsterile Handschuhe, die primär dem Eigenschutz dienen, ausreichend sind. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass eine hygienische Händedesinfektion vor und nach der Anwendung von beiden Arten von Handschuhen durchgeführt werden soll. Zusätzlich kann man bei entsprechender Darstellung auch die Entsorgung von Handschuhen dokumentieren. Gerade in den Krankenhausserien, die einen Fokus auf die notfallmedizinische oder chirurgische Versorgung, wie „Grey´s Anatomie“, legen, lässt sich die Wundversorgung gut bewerten. Besonders großflächige und invasive Wunden bedeuten für den Patienten ein erhöhtes Infektionsrisiko. Zusätzlich bedeuten insbesondere offen traumatische oder verschmutzte Wunden ein erhöhtes Risiko. Zunächst einmal werden zu diesem Zwecke die oben genannte Händedesinfektion und die Anlage von Handschuhen bewertet, denn durch präventive Maßnahmen in der Wundversorgung können Infekte oft vermieden werden. Als nächstes werden Verbandswechsel und Wundversorgung unter hygienischen Gesichtspunkten analysiert. Dort wird insbesondere darauf geachtet, ob der Verband Wundbereiche nicht bedeckt oder Wundsekret und Blut durch das Verbandsmaterial gesickert sind. Häufig kommt es vor, dass Patienten im Rahmen von diagnostischen Prozeduren auch Blut abgenommen wird. Dies geschieht entweder aus zentralen oder peripheren Zugängen, oder aber bei kleineren Blutmengen, zum Beispiel bei der Blutzuckermessung, als kapilläres Blut aus der Fingerkuppe. Insbesondere Blutentnahmen aus den zentralen Kathetern stellen ein höheres Infektionsrisiko für den Patienten dar, weil sich potentielle Krankheitserreger schnell über das Herz in den systematischen Blutkreislauf verteilen können. Neben den diagnostischen Möglichkeiten bietet ein Zugang auch die Möglichkeit zu therapeutischen Interventionen. Unter anderem kann man dem Pahttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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tienten über einen solchen Katheter Infusionen applizieren, die häufig auch Medikamente beinhalten. Da diese Zugänge über einen längeren Zeitraum im Patienten verbleiben sollen, ist eine Infektionsprävention hier von besonderer Bedeutung. Eine Möglichkeit den Patienten mit Medikamenten zu versorgen ist, wie oben erwähnt, über eine intravenös verabreichte Infusionslösung. Sollten die gebotene Darreichungsform und ihre therapeutisch, pharmakokinetischen Eigenschaften es bedingen, können Medikamente auch in Form von Injektionen appliziert werden. Die meisten Injektionen werden entweder intramuskulär (i.m.), beispielsweise bei vielen Impfungen oder subcutan (s.c.), so wie es unter anderem bei Thromboseprophylaxen der Fall ist, verabreicht. Diesem Item wird bei der Betrachtung der Krankenhausserien ein herausragender Fokus eingeräumt, da es im klinischen Ablauf eine häufig durchgeführte Tätigkeit ist, aber auch oft unter Vernachlässigung der hygienischen Empfehlungen von statten geht. Ein weiterer, umfangreicher Themenschwerpunkt des Infektionsschutzes in Krankenhäusern ist die persönliche Hygiene des medizinischen Personals. Diese umfasst unter anderem die korrekte Anlage von Bereichskleidung der einzelnen Gruppen. Zu einer korrekten Anlage gehört auch, dass die passende Kleidung für den entsprechenden Bereich ausgewählt wird. Beispielsweise werden in einigen Krankenhäusern auf der Intensivstation eine blaue Hose und ein blauer Kasack getragen und in den Einrichtungen des Operationsbereiches werden eine grüne Hose und ein grüner Kasack angelegt. Bei diesen Arten der Bereichskleidung ist selbstverständlich insbesondere darauf zu achten, dass es im Falle einer Verschmutzung, zum Beispiel durch Blut oder Sekrete des Patienten, zu einem Austausch der Kleidung kommt, um potentielle Keimübertragung zu verhindern. In Krankenhäusern lauern oft auch Gefahren durch Keime, die Resistenzen gegen eine Vielzahl der zur Verfügung stehenden Antibiotika entwickelt haben, was eine Behandlung deutlich erschwert und auf der anderen Seite gerade bei immunsupprimierten Patienten einen rasch progredienten Krankheitsverlauf zur Folge haben kann. Aus diesen Gründen ist es notwendig, dass diese Patienten in ihren Zimmern isoliert werden und die Personen, die dieses Zimmer betreten, besondere Schutzmaßnahmen zur Verhütung von Keimübertragung treffen müssen, was durch spezielle Einmalkleidung theoretisch gewährleistet werden soll. Grundsätzlich besteht diese aus einer Kopfbedeckung, einem Mundschutz, einem Schutzkittel https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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und Einmalhandschuhen. Diese werden vor Betreten des Patientenzimmers angelegt und die korrekte Anlage geprüft. Wichtig bei der medizinischen Betreuung von isolationspflichtigen Patienten ist der Gebrauch von patientenbezogenen Medizinprodukten, wie zum Beispiel ein Stethoskop, oder Geräte zur Überwachung der Vitalfunktionen. Hat der zuständige Mitarbeiter die Tätigkeit beendet, entledigt er sich der Einmalkleidung im Patientenzimmer in spezielle Abfallbehälter und verlässt dieses. Immer wieder wird bei Hygienebegehungen festgestellt, dass Mitarbeiter ihren persönlichen Schmuck vor Dienstbeginn nicht abgelegt haben. Ein besonderes Problem stellen Ringe und Uhren da. Diesbezüglich treten zwei Probleme auf. Zunächst kommt es durch das Milieu unter Ringen und Uhren, welches durch eine feuchte Wärme charakterisiert ist, zu einem erhöhten Risiko für bakterielle und virale Besiedelung, zusätzlich bieten die Umgebungsbedingungen auch humanpathogenen Pilzarten einen potentiellen Unterschlupf. Das anschließende Problem stellt eine nur unzureichend durchführbare Händedesinfektion dar, denn unter die Ringe bzw. Uhren gelangt nur eine ungenügende Menge an Desinfektionsmittel, auch die Wirksamkeit durch das anschließende Auftragen auf die gesamte Hand ist durch Schmuck reduziert. Auch ein Großteil der betrachteten Krankenhausserien bildet dieses Problem ab, sodass häufig medizinisches Personal, insbesondere ärztliche Mitarbeiter, mit Uhren, auch bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen gezeigt werden. Ein weiteres hygienisches Problem stellen Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen mit künstlichen und/oder zu langen Fingernägeln dar, denn dabei handelt es sich um Prädilektionsstellen für die Ansammlung von Mikroorganismen, welche zusätzlich noch schwer zu reinigen bzw. desinfizieren sind. Logischerweise ist die beste Prävention in diesem Fall das Kürzen der Fingernägel. Abschließend zur Gruppe des Personals soll, neben Hygiene auf einer üblichen Station, noch auf den hygienischen Aspekt in Operationssälen eingegangen werden. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten in den ausgewählten Krankenhausserien das hygienische Verhalten in Operationssälen zu bewerten. Es gibt zahlreiche Gründe dafür, einen strukturierten Ablauf für hygienisches Verhalten in Operationen zu initiieren, denn der Patient hat nicht nur aus nachstehenden Gründen ein deutlich erhöhtes Risiko, sich mit Mikroorganismen zu infizieren, sondern auch reduzierte Ressourcen einen potentiellen konsekutiven Infekt zu unterdrücken und letztlich adäquat zu eliminieren. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Angefangen bei der Operationseinleitung hat der Patient mit vielen Mitarbeitern aus der Medizin Kontakt. Es sind Anästhesisten, Anästhesiepflegekräfte in der Einleitung damit beschäftigt den Patienten auf die Operation vorzubereiten. Der Patient wird mit einer Vielzahl von Zugängen bestückt, um Medikamente applizieren zu können, oder um Diagnostik wären der Operation, insbesondere der Vitalparameter, betreiben zu können. Jeder einzelne Zugang, zumal häufig auch zentral gelegen, bedeutet für den Patienten ein erhöhtes Risiko für eine Infektion bzw. eine Sepsis. Des Weiteren benötigt der Patient, um suffizient beatmet werden zu können, eine endotracheale Intubation, welche für eine Reihe an nosokomialen Atemwegsinfekten verantwortlich ist. Folgerichtig ist es also auch schon zu Beginn der Operation wichtig, hygienisch zu arbeiten. Während der Operation kommt es mehr oder weniger zu invasiven Eingriffen in den menschlichen Körper mit einer Reduktion der physiologischen Barrieren zur Infektabwehr, zumal viele Patienten durch ihre operationsbedürftige Grunderkrankung zusätzlich ein supprimiertes Immunsystem aufweisen, oder physiologische Risikofaktoren, wie zum Bespiel ein hohes Alter, mitbringen. Folglich ist es also sehr wichtig, dass hygienische Vorschriften in Operationen eingehalten werden. 5.2 Patienten In Krankenhausserien werden nicht nur Mitarbeiter der einzelnen Bereiche dargestellt, sondern auch eine Vielzahl an Patienten und in der Regel auch eine Interaktion dieser beiden Gruppen. Auch das hygienische Verhalten von Patienten ist bei der Untersuchung der Serien von großer Bedeutung, denn im klinischen Alltag haben Patienten eine besondere Rolle in Bezug auf die Hygiene inne. In der Mehrheit der Fälle haben die Patienten keine Vorkenntnisse zu hygienischem Verhalten in Krankenhäusern, sind aber auf der anderen Seite umso mehr in das Geschehen integriert. Fangen wir bei der persönlichen Hygiene des Patienten an: Die persönliche Hygiene beschreibt im Wesentlichen die alltägliche Körperpflege des Patienten und dient nicht in erster Linie der Infektionsprävention, da bei dem Großteil der Bevölkerung keine desinfizierenden, also keimreduzierenden, Pflegeprodukte eingesetzt werden. Insbesondere in Krankenhäusern kommen aber vermehrt Erreger vor, die durch eine mangelnde persönliche Hygiene verstärkt übertragen werden könhttps://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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nen, beispielsweise gastrointestinale Erreger bei der gemeinsamen Nutzung der Toilette auf den Patientenzimmern. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass insbesondere bei alten Menschen generell verstärkt Diarrhöe auftritt und folglich oft eine nosokomiale Infektion schlicht nicht als solche erkannt wird und infolgedessen auch keine gesonderten Maßnahmen, wie die Benutzung eines patientenbezogenen Toilettenstuhls, ergriffen wird. Auch die korrekte Durchführung von Desinfektionsmaßnahmen, unter anderem die hygienische Händedesinfektion, stellt die Patienten vor einige Hürden. Denn sowohl der vorgeschriebene Zeitpunkt, zum Beispiel nach Benutzung der Toilette, als auch der Ablauf der Händedesinfektion oder die Dauer sind den meisten Patienten entweder nicht bekannt, oder das Problembewusstsein für die Gefahr einer Keimübertragung ist nicht ausreichend ausgeprägt. Anschließend stellt sich die Frage, an welchen Stellen sich Patienten überhaupt Informationen zu hygienischem Verhalten oder zu den Gefahren, die von humanpathogenen Mikroorganismen ausgehen, beschaffen können. Auch die Übertragungswege von Keimen sind den Patienten oft nicht bekannt. Bei Sichtung der Krankenhausserien wird auch auf den Informationsfluss ein Augenmerk gelegt, denn nur wenn Patienten mit den nötigen Informationen ausgestattet sind, haben sie die Möglichkeit, sich dementsprechend zu verhalten. Besonders wichtig sind diese Informationen, wenn sich der Patient wegen einer hochansteckenden, gefährlichen Krankheit in Isolation befindet. An dieser Stelle seien noch kurz die verschiedenen Isolationsformen erwähnt, denn diese haben einen gesonderten Einfluss auf das hygienische Verhalten des Patienten. Allen gemeinsam ist aber, dass sie die Ansteckungskraft des Erregers abschwächen sollen und die Übertragungswege, vor allem direkte und indirekte Kontaktübertragung und Tröpfchenübertragung, unterbrochen werden sollen. Bei der Standardisolierung werden alle Patienten einzeln untergebracht und ein Betreten des Zimmers ist nur bei dringenden Maßnahmen indiziert, zusätzlich müssen sich die Mitarbeiter, wie zuvor beschrieben, mit Einmalkleidung ausstatten und diese nach der Intervention wieder ablegen. Die Patienten können das Zimmer nur unter besonderen Umständen verlassen, von ihnen geht folglich wenig Gefahr aus, weitere Patienten anzustecken. Im Gegensatz dazu besteht bei der Kohortenisolation ein Restrisiko, den Zimmernachbarn zu infizieren. Bei der Kohortenisolation werden Patienten, die mit dem gleichen Erregen infiziert sind, in einem gemeinsamen Zimmer isoliert. Ein Vorteil https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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dieser Methode ist, dass man diese Zimmer weiterhin mit mehr als einer Person belegen und somit einer Überlastung der Station vorbeugen kann. Auf der anderen Seite besteht der Nachteil, dass sich Patienten, die sich in unterschiedlichen Phasen der Erkrankung bzw. Infektion befinden, gegenseitig wieder anstecken können. Abschließend sei noch ein Wort über die zwischenmenschlichen Interaktionen zwischen Patienten und ihren Angehörigen und ihre hygienische Relevanz verloren. Wenn sich Menschen wegen einer Erkrankung oder Verletzung in einen Krankenhausaufenthalt begeben, bedeutet dies zumeist eine emotionale Ausnahmesituation und der Kontakt zu Angehörigen bietet oft eine psychische Entlastung. Dieser Kontakt ist oft auch durch körperliche Nähe, etwa Umarmungen, gekennzeichnet, ungeachtet dessen, ob dieser Patient möglicherweise auf der einen Seite ein geschwächtes Immunsystem hat und somit durch die externen Mikroorganismen infiziert werden kann und auf der anderen Seite möglicherweise selbst einen leicht übertragbaren Keim in sich trägt. Hier wird deutlich, dass der verständliche, emotional stabilisierende Kontakt zwischen dem Patient und den Angehörigen auch im Gegensatz zur Infektionsprävention stehen kann. Aus oben genannten Gründen muss eine Untersuchung der Relevanz von Krankenhausserien für die Hygieneaufklärung von einer Beschränkung auf das Verhalten des Krankenhauspersonals Abstand nehmen und auch das Patientenverhalten fokussieren.

6. Fazit „Hygiene“ ist kein unbeackertes Feld in Film- und Fernsehgeschichte. Arzt- und Krankenhausserien sind in dieser Hinsicht nur das offensichtlichste Beispiel. Ihre Popularität in der Gesellschaft und ihre starke Rezeption machen sie, bei sorgfältiger Auswahl der betreffenden Szenen, zu einem geeigneten Medium der Hygieneaufklärung. Die emotionale Identifikation mit den bekannten Serienfiguren könnte eine zusätzliche Triebfeder zum korrekten Hygieneverhalten bei Krankenhauspersonal, Patienten und Angehörigen darstellen. Die Untersuchung der ausgewählten Serien ist noch im Gange und wird hoffentlich ein nützliches Arsenal an geeigneten Szenen bereitstellen, die, zusätzlich zu den gängigen Methoden der Hygieneaufklärung, ein nützliches Werkzeug zur Infektionsprävention sein können. https://doi.org/10.5771/9783495818305 .

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Literatur A. Riffi/E. Weiß, „‚Millions of Germs Will Die‘. Hygiene in Film und Fernsehen“, in: H. W. Ingensiep/W. Popp (Hrsg.), Hygiene und Kultur, Essen 2012, S. 189-208.

Internetquellen www.thedox.de

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Die Autorinnen und Autoren

Bergdolt, Klaus, Prof. em. Dr. med. Dr. phil., Universität zu Köln Bergler, Reinhold, Prof. em. Dr. phil. Dipl.-Psych., Universität Bonn Buschlinger, Wolfgang, Dr. phil., Wiesbaden Chaberny, Iris F., Prof. Dr. med., Medizinische Hochschule Hannover Diercke, Michaela, M.Sc., M.A., Robert-Koch-Institut, Berlin Fiebach, Constanze, Dr. phil., Universität Duisburg-Essen Fischer, Nils, M.A., PTH Vallendar Fürholzer, Katharina, M.A., Universität Münster Gantumur, Tsagaan, Dr. rer. nat., MedClean Ulaanbaatar, Mongolei Graf, Karolin, Dr. med., Medizinische Hochschule Hannover Höller, Thomas, M.A., Universität Duisburg-Essen Ingensiep, Hans Werner, Prof. Dr. rer. nat., Universität DuisburgEssen Jüttemann, Andreas, Dipl.-Psych., Universität Halle-Wittenberg Krauth, Christian, Prof. Dr. rer. pol. Dipl.-Volksw., Medizinische Hochschule Hannover Kröning, Barbara, MPH., Medizinische Hochschule Hannover Lange, Karin, Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych., Medizinische Hoch­ schule Hannover von Lengerke, Thomas, PD Dr. phil. Dipl.-Psych., Medizinische Hochschule Hannover Lieske, Tim Tobias, Stud. Med., Universitätsklinikum Essen Liggieri, Kevin, M.A., Universität Bochum Lutze, Bettina, M.Sc., Medizinische Hochschule Hannover Popp, Walter, Prof. Dr. med., Universitätsklinikum Essen

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Die Autorinnen und Autoren

Romfeld, Elsa, M.A., Universitätsmedizin Mannheim Schneider, Alfred, Dr. iur., Anwaltskanzlei Pforzheim Schwadtke, Laura, Dr. med., Medizinische Hochschule Hannover Stahmeyer, Jona T., Dr. PH Dipl.-Oec., Medizinische Hochschule Han­nover Wirth, Mathias, Dipl. Theol., Dr. des., Universitätsklinikum Hamburg

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