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German Pages 264 [266] Year 2020
Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG 38
Franz Steiner Verlag Stuttgart
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte Redaktion: Dr. Pierre Pfütsch Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-MEDGG Publikationsrichtlinien unter: www.igm-bosch.de/content/language1/downloads/RICHTL1-neu.pdf www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/medizin-gesellschaft-undgeschichte/publikationsrichtlinien.html Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE.
Medizin, Gesellschaft und Geschichte
Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 38 (2020) herausgegeben von Robert Jütte
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351X ISBN 978-3-515-12800-1 (Print) ISBN 978-3-515-12802-5 (E-Book)
Inhalt Anschriften der Verfasser Editorial I.
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Zur Sozialgeschichte der Medizin Themenschwerpunkt: Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften (1949–2018) Martin Dinges Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften (1949–2018)
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Stefan Offermann und Pierre Pfütsch Gesundheitsaufklärung als citizenship project. Die staatliche Anleitung zu gesunder Ernährung in BRD und DDR in den 1970er Jahren
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Martin Dinges Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
43
Nina Kleinöder Arbeiterschaft und Gesundheit in der Bundesrepublik Deutschland. Vom »Wirtschaftswunder« zur »Humanisierung«
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Andreas Weigl Alt nach »Gastarbeit« in Österreich. Zur gespaltenen Gesundheit, Altenbetreuung und Lebenserwartung von Arbeitsmigranten und Einheimischen infolge der »Gastarbeiterwelle«
83
Gabriele Lingelbach Die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderungen in intersektionaler Perspektive
105
6
Inhalt
Alexander Querengässer »[…] doch seine Wunde erwies sich als unheilbar«. Verwundung und Tod auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges
127
Mathias Schütz Vier Ermittlungen und ein Verdienstkreuz. Der Hygieniker Hermann Eyer, der nationalsozialistische Fleckfieberkomplex und die Grenzen der Aufarbeitung
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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen Martin Dinges Homöopathische Vereine: große Vergangenheit – welche Zukunft? Zum 150. Jahrestag der Gründung der Hahnemannia
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Ines Winterhagen Die Löwen-Apotheke in Hall und ihre Rezeptsammlung. Fallbeispiel einer staatlich anerkannten homöopathischen Einrichtung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts
201
Joel Piqué Buisan Homeopathy and/or how to survive medical orthodoxy, Barcelona 1890–1924
237
Arnold Michalowski und Florian Barth Transkription und Digitalisierung von Samuel Hahnemanns Krankenjournalen. Ein Werkstattbericht
259
Anschriften der Verfasser Florian Barth Georg-August-Universität Göttingen Göttingen Centre for Digital Humanities (GCDH) Papendiek 16 37073 Göttingen [email protected] Martin Dinges, Prof. Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Nina Kleinöder, Dr. Philipps-Universität Marburg Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Wilhelm-Röpke-Straße 6 35032 Marburg [email protected] Gabriele Lingelbach, Prof. Dr. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Historisches Seminar Leibnizstraße 8 24118 Kiel [email protected] Arnold Michalowski Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Stefan Offermann Universität Leipzig Institut für Kulturwissenschaften Beethovenstraße 15 04081 Leipzig [email protected]
Pierre Pfütsch, Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Joel Piqué Buisan, Dr. Carrer Sembrador, 22 ES-17800 Olot [email protected] Alexander Querengässer, Dr. [email protected] Mathias Schütz, Dr. Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin Lessingstraße 2 80336 München [email protected] Andreas Weigl, Univ. Doz. Dr. Universität Wien Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Universitätsring 1 A-1010 Wien [email protected] Ines Winterhagen, Dr. Frühlingstraße 7 67434 Neustadt/Weinstraße [email protected]
Editorial Der vorliegende Band markiert eine Zäsur. Nach dem Tod von Frau Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach hat Dr. Pierre Pfütsch die Redaktion der Zeitschrift übernommen. Gleichzeitig fungiert der langjährige Institutsleiter letztmalig als Herausgeber, da er am 1. Juni 2020 in den Ruhestand geht. Die Mehrheit der Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin hat diesmal einen Themenschwerpunkt, der auf eine Sektion auf dem Deutschen Historikertag 2018 in Münster zurückgeht: »Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften (1949–2018)«. Das Editorial von Martin Dinges weist darauf hin, dass einige gesellschaftliche Gruppen (Frauen, Arbeiter, alte Menschen, Behinderte) ungleichen Zugang zum Gesundheitswesen hatten und immer noch haben. Am Beispiel von Aufklärungskampagnen zur gesunden Ernährung zeigen Stefan Offermann und Pierre Pfütsch, wie Übergewicht zu Exklusionsprozessen in beiden deutschen Staaten führen konnte. Martin Dinges untersucht, wie im Falle der männlichen Bevölkerung in den letzten 40 Jahren eine »nachholende Medikalisierung«, die mit einem Verhaltenswandel einhergeht, zu beobachten ist. Nina Kleinöder geht der Frage nach, wie sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte die gesundheitlichen Belastungen in einzelnen Industriebranchen entwickelt haben. Am österreichischen Beispiel analysiert Andreas Weigl, wie sich die Nutzung von Gesundheitsdiensten durch Migranten von der ersten zur zweiten Generation ändert. Gabriele Lingelbach zeigt auf, dass die Gesundheitschancen von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik durchaus differieren und dass dabei auch Alter und Geschlecht eine Rolle spielen. Außerhalb des Themenschwerpunktes gibt es zwei Aufsätze, die sich zum einen mit dem Umgang mit Gefallenen und Verwundeten auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges (Alexander Querengässer) und zum anderen mit der Rolle des Hygienikers Hermann Eyer im »Dritten Reich« befassen (Mathias Schütz). Wir freuen uns, dass der letztgenannte Beitrag während der Drucklegung mit dem Herbert-Lewin-Preis ausgezeichnet wurde. In der zweiten Sektion, die traditionell Themen aus der Geschichte alternativer Heilweisen enthält, macht der Beitrag von Martin Dinges deutlich, welche Chancen zur Gesundheitsbildung sich in den homöopathischen Laienvereinen, die auf eine über 150-jährige Geschichte zurückblicken können, auftaten. Ines Winterhagen, die für ihre Dissertation zu homöopathischen Apotheken in Württemberg im letzten Jahr mit dem Hans-Walz-Preis ausgezeichnet wurde, spürt anhand der umfangreichen Rezeptsammlung einer staatlich anerkannten homöopathischen Apotheke in Schwäbisch Hall dem Kundenspektrum, der Verschreibungspraxis ansässiger Ärzte sowie dem Apothekenumsatz um die Wende zum 20. Jahrhundert nach. Joel Piqué Buisan lenkt den Blick auf die Geschichte der Homöopathie in Spanien, genauer gesagt in Katalonien, wo sich die von Hahnemann begründete Heilweise ebenfalls gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die an Dominanz gewinnende naturwissenschaftliche Richtung der Medizin behaupten musste.
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Editorial
Den Abschluss bildet ein Werkstattbericht von Florian Barth und Arnold Michalowski. Dieser zeigt am Beispiel der Transkription eines Hahnemannschen Krankenjournals (DF 5), welche Chancen digitale Texteditionen, auch in Hinblick auf Langzeitarchivierung, bieten. Stuttgart, im April 2020
Robert Jütte
I.
Zur Sozialgeschichte der Medizin
MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 11–12, FRANZ STEINER VERLAG
Themenschwerpunkt: Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften (1949–2018) Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften (1949–2018) Martin Dinges Die folgenden fünf Beiträge gehen auf eine Sektion des 52. Historikertages in Münster zurück, der 2018 unter dem Motto »Gespaltene Gesellschaften« stand. Im Aufruf zu dieser Veranstaltung wurde das gefühlte »Bröckeln« des gesellschaftlichen Zusammenhalts angesprochen. Eines der Fundamente für soziale Kohäsion war schon seit der Frühzeit der Sozialstaaten und ist auch weiterhin das Versprechen, die sozialen und ökonomischen Risiken von Krankheit, Betriebsunfall, Invalidität, Alter und neuerdings auch Pflegebedürftigkeit durch die Sozialversicherung abzusichern. Zentral war und ist dabei eine gute Gesundheitsversorgung. Gerade innerhalb der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz wurde der Hinweis auf die Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme ein zentrales Argument für die jeweilige Überlegenheit. Insbesondere seit 1990 wurden gesellschaftliche Brüche erneut und deutlicher sichtbar, von denen der genannte Aufruf »die Spaltung zwischen arm und reich oder zwischen ›fremd‹ und ›einheimisch‹« nennt. In den hier vorgestellten Beiträgen geht es darum, die Bedeutung gesundheitlicher Ungleichheit als einen fundamentalen Aspekt gesellschaftlicher Spaltungen herauszuarbeiten. Die gleichzeitig höchst persönliche, aber auch familien-, gruppen- und klassenspezifische Erfahrung gesundheitlicher Ungleichheit ist für dieses Ziel besonders aufschlussreich. Um die individuelle Erfahrung und die Ebene gesellschaftlicher Systeme im Hinblick auf die praktizierte »Biopolitik« zu verbinden, steht zunächst die Frage nach spezifischen Wirkungen gesundheitlicher Ungleichheit bei den Individuen im Vordergrund. Damit einher geht die Adressierung bestimmter Gruppen oder Kollektive. Diese wurden (sozial-)politisch anhand von fünf ausgewählten Kategorien, nämlich Staatsangehörigkeit, Geschlecht, »Klasse«, Migration und »Behinderung«, definiert und werden hier entsprechend analysiert. Wie weit derartige Klassifikationen bei den betroffenen Personen(-gruppen) jeweils gesundheitliche Ungleichheit mit verursachen oder beeinflussen können, ist zu
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Martin Dinges
überprüfen. Dabei zeigt sich, dass durchgehend nur eine intersektionale Betrachtung anhand weiterer Ungleichheitskategorien es möglich macht, den Zusammenhang von sozialer und kultureller Konstruktion dieser (Kollektiv-) Subjekte mit ihren Gesundheitserfahrungen und den Effekten gesellschaftlicher Spaltung präziser zu fassen. Da im öffentlichen Diskurs die Bedeutung von Gesundheit seit der Nachkriegszeit stetig gewachsen ist, lag eine Beschränkung auf die Zeitgeschichte nahe. Außerdem werden ausschließlich deutschsprachige Länder dargestellt. Durch diese Eingrenzungen kann eine höhere thematische Kohärenz erreicht werden.
MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 13–42, FRANZ STEINER VERLAG
Gesundheitsaufklärung als citizenship project. Die staatliche Anleitung zu gesunder Ernährung in BRD und DDR in den 1970er Jahren Stefan Offermann und Pierre Pfütsch Summary Health education as a ‘citizenship project’ – State guidelines on healthy eating in West and East Germany in the 1970s In the 1970s, both West and East Germany increased their efforts to provide education on healthy eating. Based on these findings, this essay argues that the project was not just about the ‘right’ diet. The food education project rather aimed at the political regulation of social and self-relations. This dimension has been assessed and analytically operationalized on the basis of Nikolas Rose’s concept of ‘citizenship’. According to Rose, the subjects of health education were always also addressed as citizens, in other words as members of a community and a polity. In comparing the two German states we investigate the notions and standards of good and productive citizenship that informed the health education project, the requirements it imposed in what way on individuals within a community, given the problems of ‘overeating and malnutrition’, and the citizens’ response to this. We argue that this nutritional education used the stigmatization of fat bodies as a means of behavioural control. Referring to nutritional science, it inspired ideas of a body that could be shaped and optimized through self-techniques. In social interactions, the visible body shape was consequently seen with new intensity as proof of successful (or unsuccessful) self-control which, in turn, could result in processes of either inclusion or exclusion. In both German states health education therefore contributed to fat bodies being rigorously presented as a symbol of personal failure in the good citizenship project, which focused primarily on the ability and willingness to exercise self-control responsibly, sensibly and efficiently.
Einleitung 1971, im letzten Jahr seiner Amtszeit als Gesundheitsminister der DDR, hielt Max Sefrin (1913–2000) zur Eröffnung der IV. Nationalen Konferenz für Gesundheitserziehung, die sich mit dem Thema »Die Erziehung der Bevölkerung zur gesundheitsfördernden Ernährung« beschäftigte, eine Rede zur »Rolle der Ernährung beim Gesundheitsschutz der Bevölkerung«. Darin konstatierte er: »Förderung und Erhaltung der Gesundheit der Bürger durch gesunde Ernährung gehen alle an, Ärzte wie Pädagogen, Hausfrauen wie Köche. Vor allem aber ist die Ernährung ureigenste Angelegenheit jedes Bürgers.«1 Diese 1
Sefrin (1972), S. 13. Die Beiträge der Konferenz wurden 1972 in der vom Zentralinstitut für Ernährung herausgegebenen Zeitschrift Ernährungsforschung publiziert.
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Stefan Offermann und Pierre Pfütsch
Aussage gab nicht nur Sefrins eigene Überzeugung wieder, die er mit vielen gesundheitspolitischen Experten und Expertinnen teilte, sondern sie hatte zugleich Aufforderungscharakter. Sie formulierte den gesundheitspolitischen Anspruch, die genannten Akteure dazu zu bewegen, ihre jeweilige Verantwortung für die Realisierung einer gesunden Ernährungsweise zu erkennen und wahrzunehmen. Ein zentrales Instrument hierfür war die Gesundheitsaufklärung.2 Ihre massenmediale Breitenwirksamkeit sollte es ermöglichen, alle Bürgerinnen und Bürger3 anzuleiten, eine gesunde Ernährungsweise zu praktizieren, die – so Sefrin – ja ihre »ureigenste Angelegenheit« sei. Nimmt man den Doppelcharakter von Sefrins Aussage ernst, die sowohl eine Feststellung als auch eine Aufforderung darstellte, so wird deutlich, dass sie eine Bedingung für die Anerkennung als Bürger formulierte.4 Als gute Bürger – so impliziert seine Aussage – konnten nur jene Individuen gelten, die Sefrins Aufforderung Folge leisteten und auf diese Weise seine Äußerung wahr werden ließen. Sefrin formulierte also das (gesundheits-)politische Vorhaben, eine gesunde Ernährungsweise als einen Aspekt der Rollenerwartung an gute Bürger zu implementieren. Damit erklärte er eine gesunde Ernährungsweise zugleich zu einer Gelegenheit, die es allen im rechtlichen Sinne Angehörigen des ostdeutschen Staates erlauben sollte, soziale Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu erlangen. Theoretischer Rahmen Die Verwendung von ›Bürger‹ bei Sefrin zeigt, dass der Begriff semantisch nicht allein auf einen binär codierten formal-rechtlichen Status eines Individuums abhebt. Als Bürger oder Bürgerin eines Gemeinwesens zu gelten, stellt vielmehr einen abstufbaren Zustand dar. Jemand kann – auch hinsichtlich der Ausstattung mit Rechten – mehr oder weniger als vollwertiger Bürger gelten und entsprechend historisch wandelbaren Kriterien als ein besserer 2
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›Gesundheitsaufklärung‹, ›Gesundheitserziehung‹ und ›Gesundheitspropaganda‹ sind Quellenbegriffe mit je spezifischen semantischen Prägungen. Wir haben uns entschieden, ›Gesundheitsaufklärung‹ als analytischen Oberbegriff zu verwenden. Sein Vorteil besteht darin, dass er die im Falle der DDR immer noch mit den Begriffen ›Erziehung‹ und ›Propaganda‹ verbundenen Assoziationen einer totalitären Zurichtung der Bürger zu umgehen erlaubt. Vor allem jedoch verweist er begrifflich auf das Projekt der Aufklärung und ermöglicht es damit, die ambivalente und dialektische Grundstruktur dieses Projekts zwischen Ermächtigung und Unterwerfung einzufangen, die eben auch die hier behandelte staatliche Anleitung zu gesunder Ernährung durchzog. Vgl. zur Etablierung einer sich als ›Gesundheitserziehung‹ verstehenden Gesundheitsaufklärung, die sich von einer wissenszentrierten ›medizinischen Aufklärung‹ abzusetzen bestrebt war, Sammer (2019); Linek (2016), S. 64–67. Aufgrund der häufigen Verwendung des Begriffs ›Bürger‹ in diesem Text wird wegen der besseren Lesbarkeit in der Regel die männliche Form verwendet, es sind aber ausdrücklich alle Geschlechter gemeint. Zur einflussreichen Bestimmung des Verhältnisses von konstatierenden und performativen Äußerungen durch John L. Austins Sprechakttheorie vgl. Krämer (2001).
Gesundheitsaufklärung als citizenship project
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oder schlechterer Bürger angesehen werden. Ausgehend von der Einsicht in diese, wenn man so will, praxeologische Qualität des Bürgerseins hat sich insbesondere in der angloamerikanischen Forschung ein interdisziplinäres Forschungsfeld entwickelt, in dem citizenship als vielfältiges analytisches Werkzeug genutzt wird.5 Citizenship meint hier weniger einen bestimmten formal-rechtlichen Status im Sinne ziviler, politischer oder sozialer Rechte. Vielmehr verlagern diese Forschungen die Perspektive auf diskursive und soziale Praktiken und fragen nach normativen Anforderungen, die Individuen erfüllen müssen, um als vollwertige und produktive Mitglieder einer Gesellschaft anerkannt zu werden.6 Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass Sefrin mit seiner Forderung in einer langen Traditionslinie stand, denn der Wille und die Befähigung des Individuums zur eigenverantwortlichen Sorge um die eigene Gesundheit waren seit der Aufklärung zentrale Elemente des modernen Verständnisses von Bürgerschaft.7 Angesichts dieses Befundes kann der Gedanke aufkommen, ob hier die Frage nach dem Subjektstatus nicht lediglich durch diejenige nach dem Bürgerstatus ersetzt wird. Tatsächlich jedoch lässt sich mit Hilfe dieser Forschungsperspektive der zentrale Gegenstand der Gouvernementalitätsforschung, nämlich die Untersuchung der gemeinsamen Genealogie von modernem Subjekt und moderner Staatlichkeit, noch einmal präziser fassen.8 Die Frage nach historisch spezifischen Formen von citizenship bringt zum Ausdruck, dass Subjekte immer auch als Mitglieder eines Staatswesens gebildet werden – bzw. sich als solche konstituieren. Die Frage nach den sich wandelnden Prozessen der Bildung von Bürgersubjekten und den Bedingungen einer Anerkennung als guter Bürger ermöglicht es, das Interaktionsverhältnis von (Sozial-)Staat, einzelnen Bürgern und dem Kollektiv der Staatsbürgergemeinschaft systematisch in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus lässt sich nach den Rechten und Pflichten der Bürger, nach Mechanismen der Inklusion und Exklusion sowie nach Grundlagen, Formen und Grenzen gesellschaftlicher Partizipation fragen.9 Der britische Soziologe Nikolas Rose verwendet den Begriff citizenship project, um Felder zu bezeichnen, auf denen von staatlicher Seite aus versucht wird, Leitvorstellungen von guter und produktiver Bürgerschaft durchzusetzen, also aus Individuen Bürger zu machen.10 Wir begreifen die staatliche Gesundheitsaufklärung über gesunde Ernährung als ein solches citizenship pro5
Als deutschsprachiger Einstieg sinnvoll: Lemke/Wehling (2009); für die Überführung des Begriffs von einer rechtlichen in eine kulturell-soziale Kategorie vgl. Geoff/Palmowski (2008); für den Ansatz einer Gesundheitsgeschichte aus der Perspektive der Frage nach Formen von citizenship vgl. Huisman/Oosterhuis (2014). 6 Vgl. Mackert/Martschukat (2019). 7 Vgl. Sarasin (2011), S. 42. 8 Vgl. als Einstieg in ein kaum mehr zu überblickendes Forschungsfeld Dean (2010). 9 Vgl. Lemke/Wehling (2009), S. 72. 10 Vgl. Nikolas Rose (2007), S. 131 f. Rose nennt verschiedene Beispiele, u. a. ein nationales Schulsystem oder »developing social insurance systems to bind national subjects together in the sharing of risks«. Folglich ließe sich auch der gesamte Sozialstaat als ein umfassendes citizenship project verstehen.
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Stefan Offermann und Pierre Pfütsch
ject, denn mit der gesundheitsaufklärerischen Anrufung der Bevölkerung formulierten der west- und ostdeutsche Sozialstaat spezifische Anforderungen an ihre Bürger und Bürgerinnen. Die Gesundheitsaufklärung zielte darauf ab, soziale Verhaltensnormen zu implementieren bzw. zu stärken, deren Befolgung ihren Subjekten die Generierung von symbolischem Kapital erlaubte und soziale Anerkennung versprach.11 In dieser Konstellation stellte auch »der Staat« selbst keine Konstante dar. Indem er sich für die Lösung des Problems »Übergewicht« verantwortlich fühlte und dabei unter anderem auf die Regierungstechnik der Gesundheitsaufklärung zurückgriff, konstituierte sich erst eine bestimmte Form von Staatlichkeit.12 Die Umgangsweise staatlicher Organe mit dem Problem »Übergewicht« war ein Projekt sozialstaatlich regulierter Vergesellschaftung und genau damit zugleich ein Projekt der Aushandlung und (Neu-)Konstitution von Sozialstaatlichkeit.13 Wie zu zeigen sein wird, stand also bei der gesundheitsaufklärerischen Anleitung zu »richtiger« Ernährung wesentlich mehr auf dem Spiel als die individuelle und kollektive Gesundheit. Es ging um die Frage, wie die wechselseitigen Beziehungen zwischen Sozialstaat, einzelnem Bürger und dem Kollektiv der Staatsbürgergemeinschaft gestaltet werden sollten. Eine solche Perspektivierung der Ernährungsaufklärung in beiden deutschen Staaten erlaubt es, die dezidiert machtförmige und normative Dimension von Gesundheit genauer in den Blick zu nehmen.14 Vorgehen Vor dem Hintergrund dieser Perspektivierung wenden wir uns in einem ersten Schritt der Wissensproduktion über »Über- und Fehlernährung« und »Übergewicht« in beiden deutschen Staaten zu, welche zu einer forcierten Problematisierung dieses Themas seit den 1960er Jahren führte. Hier geht es uns zunächst darum, die spezifischen gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten und die involvierten Akteure sichtbar zu machen. Im zweiten Teil widmen wir uns der Frage, welche Akteure an der Lösung des Problems beteiligt waren. Insbesondere wird hier auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Selbstverständnisses staatlicher Akteure in Ost und West abgezielt. Auf diese Weise wollen wir auf11 Zur sozialen Dynamik von Anerkennung vgl. Honneth (2018), S. 182–235. Honneth untersucht die »Abhängigkeit eines jeden Subjekts von der Anerkennung durch seine Mitmenschen« (S. 182). Damit sind soziale Beziehungen in der Moderne maßgeblich durch Akte der Gewährung oder Verweigerung von Anerkennung organisiert. 12 Vgl. Lessenich (2003), S. 83 f. Die Frage nach der Konstitution spezifischer Formen von Sozialstaatlichkeit stellt auch Malte Thießen bei seiner Untersuchung der Geschichte des Impfens in DDR und BRD, vgl. Thießen (2013), S. 412–420. 13 Damit ist zugleich ausgesagt, dass wir die binäre Unterscheidung von liberaler Demokratie und staatssozialistischer Diktatur als Ausgangspunkt unserer Analyse aufgeben. Stattdessen versuchen wir einen umfassenderen Ansatz zur Erforschung unterschiedlicher Formen von Gouvernementalität zu praktizieren. 14 Zu Gesundheit als sozialer Norm vgl. Metzl (2010).
Gesundheitsaufklärung als citizenship project
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schlüsseln, welche Form von Staatsbürgergemeinschaft bzw. von Gesellschaftsvertrag jeweils angesichts des gesundheitspolitischen Problems »Übergewicht« entworfen wurde. Diese Entwürfe gilt es dann ins Verhältnis zur gesundheitsaufklärerischen Praxis zu setzen. Daher analysieren wir in einem dritten Teil einschlägige Materialien der Ernährungsaufklärung hinsichtlich ihrer Adressierungsstrategien. Dadurch wollen wir der Frage nachgehen, welche Form von citizenship jeweils praktiziert wurde, und zeigen, welche Implikationen dies mit sich brachte. In einem letzten Teil wird ein exemplarischer Blick auf die Erfahrungen einer Bürgerin geworfen, um so den Auswirkungen der Gesundheitsaufklärung nachzuspüren. Hier wird deutlich, welche stigmatisierenden und damit letztlich unterwerfenden und ausschließenden Effekte der von der Ernährungsaufklärung praktizierte Entwurf von citizenship haben konnte.15 Unser Text bietet aufgrund der Quellenauswahl keinen durchgängig symmetrischen Vergleich zwischen der Ernährungsaufklärung in Ost und West in den 1970er Jahren. Nichtsdestotrotz eröffnet sich aus unserer analytischen Perspektive ein neuer Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich des Verständnisses von guten Bürgern und sozialstaatlichen Gesellschaftsentwürfen. Auf diese Weise wollen wir auch einen Beitrag dazu leisten, sowohl die Relevanz geteilter Traditionsbestände und Pfadabhängigkeiten als auch die vielfältige Eingebundenheit beider Staaten in transnationale Verflechtungen zu akzentuieren. Forschungsstand Eine als Gesellschaftsgeschichte verstandene Geschichte von Prävention und Gesundheitsförderung erfährt seit einigen Jahren einen regelrechten Boom, da hierüber die verschiedensten biopolitischen Aushandlungsprozesse von Staat, Gesellschaft und Subjekt analysiert werden können.16 Lagen die Themenschwerpunkte zunächst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts17, verschiebt sich dies zunehmend in die Zeit nach 1945 mit einem besonderen Fokus auf die Phase »nach dem Boom«18. Zu denken ist hier an die Arbeiten von Henning Tümmers zu Aids19, Malte Thießen zum Impfen20, Maik Tändler zur Psychotherapie21 oder auch die Studien von Jeannette Madarász-Lebenhagen zur Prävention kardiovaskulärer Krankheiten22. In diesen Zusammenhängen wird immer wieder auf die Gesundheitserziehung bzw. -aufklärung als öffentli15 Kompatibel mit einem anerkennungstheoretischen Zuschnitt versteht Erwing Goffman Stigma als »die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist«. Goffman (1975), S. 7. 16 Etwa Lengwiler/Madarász (2010); Stöckel/Walter (2002). 17 Vgl. Weinert (2017). 18 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2008). 19 Vgl. Tümmers (2017); Tümmers (2015). 20 Vgl. Thießen (2017). 21 Vgl. Tändler (2016). 22 Vgl. Madarász (2010); Madarász-Lebenhagen (2015).
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Stefan Offermann und Pierre Pfütsch
ches Steuerungselement für Prävention abgehoben. Grundlegend für eine Geschichte der Krankheitsprävention in der DDR sowie in der alten und neuen Bundesrepublik sind die Studien von Jenny Linek und Pierre Pfütsch.23 Des Weiteren hat Christian Sammer zum einen die Institutionengeschichte der Gesundheitsaufklärung im deutsch-deutschen Vergleich aufgearbeitet24 und zum anderen die internationale Verwissenschaftlichung dieses Feldes analysiert25. Ebenso ist die Geschichte des Zusammenhangs von Ernährung und Gesundheit derzeit ein beliebtes Thema der historischen Forschung. Grundlegend für unseren Zugriff sind die Arbeiten von Jürgen Martschukat und Nina Mackert, da sie in ihren Forschungen zur Geschichte von gesunder Ernährung, Fitness sowie gesunden und befähigten Körpern explizit nach der Bedeutung von citizenship fragen. Indem sie den Dynamiken der Anerkennung als guter und produktiver Bürger nachspüren, zielen sie im Kern auf ein genaueres Verständnis zentraler Funktionsmechanismen sich als liberal verstehender Gesellschaftsformationen.26 Diese Perspektive wird hier auf eine sich als staatssozialistisch verstehende Gesellschaft erweitert.27 Unverzichtbar für einen körper- und subjektgeschichtlichen Blick auf Ernährung sind des Weiteren die Forschungen von Maren Möhring.28 Mit Verschiebungen des Konnexes von Ernährung und Gesundheit hat sie sich sowohl in zeitgeschichtlicher Perspektive als auch mit Blick auf die Phase um 1900 auseinandergesetzt.29 Aus gesundheits- und körpergeschichtlicher Perspektive sind zudem die Studien von Ulrike Thoms hervorzuheben. So hat sie beispielsweise gezeigt, wie sich die Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit seit 1800 im öffentlichen Diskurs gewandelt hat.30 Darüber hinaus sind die Forschungen von Alice Weinreb zu nennen, die sich unlängst in vergleichender Perspektive mit der Geschichte der Bekämpfung von »Übergewicht« in der DDR und BRD beschäftigt hat.31 Äußerst materialreich und anregend ist zudem Neula Kerr-Boyles Studie zur Geschichte der Anorexia nervosa in Ostdeutschland, in deren Rahmen sie sich eingehend mit der gesundheitlichen Regulierung von Ernährung und der Normierung des essenden Körpers auseinandergesetzt hat.32 Sehr instruktiv für eine kritische Historisierung der Problematisierung von »Übergewicht«, ungesunder Ernährung und Körperfett ist außerdem das interdisziplinäre Forschungsfeld der ›Fat Studies‹.33 Auch Jakob Tanner hat sich in einem Aufsatz 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Vgl. Linek (2016); Pfütsch (2017); Linek/Pfütsch (2016). Vgl. Sammer (2013). Vgl. Sammer (2019). Vgl. Mackert/Martschukat (2019); Martschukat (2016); Mackert (2015). Vgl. dazu Offermann (2019). Vgl. als knappen konzeptionellen Einstieg Möhring (2012). Vgl. Möhring (2016); Möhring (2018). Vgl. Thoms (2000). Vgl. Weinreb (2017). Vgl. Kerr-Boyle (2012); Kerr-Boyle (2013). Vgl. als deutschsprachige Einführung Lotte Rose/Schorb (2017); vgl. als englischsprachiges Standardwerk Rothblum/Solovay (2009); vgl. zudem den interdisziplinären Blog »Food, Fatness and Fitness – Critical Perspectives«.
Gesundheitsaufklärung als citizenship project
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dem expliziten Zusammenhang von Ernährung und Gesundheitsprävention gewidmet.34 Geschlechterspezifische Aspekte des Zusammenhangs von Gesundheit und Ernährung wurden in einem Themenschwerpunkt von Medizin, Gesellschaft und Geschichte eingehend thematisiert.35 Als Standardwerk zur Geschichte der Ernährung in Deutschland kann gegenwärtig zudem Uwe Spiekermanns 2018 veröffentlichte Studie »Künstliche Kost« betrachtet werden.36 Die verstärkte Problematisierung von »Über- und Fehlernährung« seit den 1960er Jahren Die in den 1960er Jahren intensiver werdende Problematisierung von »Übergewicht« und damit zusammenhängend von »Über- und Fehlernährung« zeigte sich auf verschiedenen Ebenen. Ein sichtbarer Ausdruck hierfür ist die stärkere Etablierung der Felder Sozialmedizin und soziale Medizin als wissenschaftliche Disziplinen.37 In der Bundesrepublik fasste v. a. die Sozialmedizin Fuß, die sich explizit auf die amerikanische Soziologie berief. Eigene Zeitschriften wurden gegründet und neue Lehrstühle eingerichtet. In der DDR hingegen war seit der Staatsgründung die soziale Medizin stärker, die an die Ideen Alfred Grotjahns zur Sozialhygiene in der Weimarer Republik anschloss. Trotz aller Unterschiedlichkeit war es das Anliegen beider Disziplinen, mittels diverser Maßnahmen Krankheiten präventiv entgegenzutreten. Die Sozialmedizin entlehnte hierfür das aus der amerikanischen Epidemiologie stammende Risikofaktorenmodell, welches spätestens in den 1970er Jahren zum Leitmodell schlechthin avancieren sollte.38 Im Jahr 1947 begann in der amerikanischen Kleinstadt Framingham eine großangelegte Studie, die die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen dokumentieren sollte. Auf Grundlage der Ergebnisse dieser Studie wurden statistisch Faktoren berechnet, die den Eintritt einer Herz-Kreislauf-Erkrankung in ihrer Wahrscheinlichkeit vorhersagen sollten. Die Initiatoren der Framingham-Studie publizierten ihre Ergebnisse nicht nur in Fachzeitschriften, sondern sahen es auch als ihre Aufgabe an, die breite Öffentlichkeit mit Hilfe ihrer Erkenntnisse von der Richtigkeit gesundheitsbewussten Handelns zu überzeugen. Da die epidemiologische Forschung in erster Linie individuelle Risikofaktoren in den Blick nahm, trug das Risikofaktorenmodell auf der Ebene der Umsetzung maßgeblich zu einer Verstärkung der Verhaltensprävention gegenüber der Verhältnisprävention bei.39 Ernährungsbezogenen Risikofaktoren kam in diesem Modell eine zentrale Bedeutung zu, was zu einer verstärkten Problematisierung des Themas führte.40 Besonders relevant und wirkmächtig war die sogenannte diet-heart hypothe34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Tanner (2010). Vgl. die einführenden Überlegungen von Fischer (2017). Vgl. Spiekermann (2018). Vgl. Lengwiler (2018), S. 119–126. Vgl. Timmermann (2010), S. 253–256. Vgl. Lengwiler (2018), S. 122, sowie Pfütsch (2017), S. 146. Vgl. Spiess (2019).
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sis, die prominent durch den US-amerikanischen Ernährungswissenschaftler Ancel Keys vertreten und popularisiert wurde.41 Dieser Ansatz ging davon aus, dass insbesondere ein zunehmender Konsum von gesättigten Fettsäuren zu einer Erhöhung des Blutcholesterinspiegels führt, was wiederum arteriosklerotische Veränderungen der Koronararterien begünstigen würde. Framingham und andere epidemiologische Studien zeigten, dass ein als erhöht begriffener Cholesterinspiegel zudem oft mit »Übergewicht« einherging, das wiederum auf eine positive Energiebilanz aufgrund einer Zunahme der verzehrten Kalorien, oft verbunden mit einer Abnahme der körperlichen Bewegung, zurückgeführt wurde. Der Faktor »Übergewicht« galt darüber hinaus nicht nur als eine wichtige Ursache von Bluthochdruck, welcher wiederum als zentraler Risikofaktor für die Entstehung einer Herz-Kreislauf-Erkrankung angesehen wurde, sondern auch von Diabetes, wodurch er zusätzliche Relevanz erfuhr.42 Die US-amerikanischen Forschungen wurden von der Ernährungswissenschaft in beiden deutschen Staaten intensiv rezipiert, wobei die Sicht auf die Entwicklungen in den USA oft als warnender Blick in die eigene mögliche Zukunft erschien.43 Im zentraler strukturierten Wissenschaftssystem der DDR nahmen das 1946/47 in Potsdam-Rehbrücke gegründete Institut für Ernährungsforschung und Verpflegungswissenschaft und seine Nachfolger eine Leitfunktion für die Wissensproduktion und -popularisierung über gesunde Ernährung ein.44 Als westdeutsches Pendant kann am ehesten die 1953 gegründete Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) gelten. Beide Institutionen waren bedeutende Schrittmacher einer gesundheitsbezogenen Problematisierung von sich wandelnden Ernährungs- und Lebensweisen.45 In der Bundesrepublik ebnete bereits in den 1950er Jahren das »Wirtschaftswunder« den Weg in die Wohlstands- und Konsumgesellschaft der 1960er Jahre. Im Rückblick sprach man auch von einer »Fresswelle«.46 Trotz der oft beschworenen Klassifikation der DDR als Mangelgesellschaft stellte sich auch hier im Verlauf der 1960er Jahre eine Zunahme des Konsums ein; eine Entwicklung, die durch Honeckers »Konsumsozialismus« ab 1971 weiter an Dynamik gewann.47 Bereits mit dem jeweiligen Ende der Lebensmittelrationierung – 1951 in der BRD und 1958 in der DDR – kam es zu ersten Warnungen vor einer gesundheitsschädlichen »Über- und Fehlernährung«.48 Doch 41 42 43 44
45 46 47 48
Vgl. Rothstein (2003), S. 295–314. Vgl. Thoms (2009). Vgl. Kerr-Boyle (2012), S. 71–73. Das Institut für Ernährung und Verpflegungswissenschaft entstand 1946 zunächst als Ableger der gleichnamigen Einrichtung in Berlin-Dahlem. Zum 1. Juli 1947 wurde es auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration vom Institutsteil im Westberliner Sektor getrennt und verselbständigt. 1957 fusionierte die Einrichtung mit der Anstalt für Vitaminforschung und Vitaminprüfung zum Institut für Ernährung. Aus diesem wiederum entstand 1969 im Zuge der Akademiereform das Zentralinstitut für Ernährung. Vgl. Thoms (2011), S. 103. Vgl. Wildt (1993). Für einen Überblick zur Konsumpolitik in der DDR vgl. Merkel (2009). Vgl. Thoms (2009), S. 211; Thoms (2011), S. 98 f.
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gelten die ausgehenden 1960er und frühen 1970er Jahre in der Forschung als Anfangsphase einer forcierten und nachdrücklichen Problematisierung von ungesunden Konsumweisen. Dies lässt sich für die BRD beispielsweise an der Publikation des ersten Ernährungsberichtes durch die DGE 196949 festmachen und für die DDR daran, dass die bereits erwähnte IV. Nationale Konferenz für Gesundheitserziehung sich 1971 mit dem Problem der Ernährungsaufklärung beschäftigte50. Neben konsumgeschichtlichen Entwicklungen wurden Veränderungen der Arbeitswelt mit der Entstehung des Problems »Übergewicht« in Verbindung gebracht. Gesundheitsexperten und -expertinnen im Osten wie im Westen waren davon überzeugt, dass der Rückgang an arbeitsbedingter körperlicher Bewegung einen gesundheitsschädlichen Mangel an körperlicher Aktivität erzeugen würde. Dabei hatte man nicht nur die Zunahme von Angestellten und Büroarbeitern, sondern auch den Rückgang an schwerer körperlicher Arbeit in Industrieberufen aufgrund der verstärkten Mechanisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse im Blick.
Abb. 1: »Ist Sattsein richtig ernährt?«, DDR 1967
Ein DDR-Gesundheitsaufklärungsfilm von 1967, der die Frage stellte: »Ist Sattsein richtig ernährt?«, fand eine pointierte Darstellung für den problematisierten Zusammenhang zwischen Arbeit, Essen und Gesundheit. Zu sehen ist ein Büroarbeiter, der eben nicht mehr Bauarbeiter ist. Wenn die Bratwurst 49 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1969). 50 Vgl. Thoms (2011), S. 101 f.; Kerr-Boyle (2013), S. 163–166.
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»nicht ansetzen soll« – so der Off-Kommentar –, müsse man sie »mit einer Stunde Bauholz-Sägen bezahlen«.51 Der gesellschaftliche Wandel erforderte also in der Perspektive der Gesundheitsaufklärung eine Anpassung des individuellen Verhaltens an diese neue gesellschaftliche Umwelt. Sowohl die »wissenschaftlich-technische Revolution« – unter diesem Schlagwort wurden in der DDR die verstärkte Verwissenschaftlichung, Mechanisierung und Automatisierung der Produktion diskutiert – als auch die Zunahme der Konsummöglichkeiten wurden von vielen als gesellschaftliche Modernisierung, als Fortschritt hin zur Verwirklichung des sozialistischen Projekts interpretiert. Damit ergab sich eine Konstellation, in der Konsumpraktiken, die von Ernährungswissenschaftlern und Gesundheitspolitikern als »Über- und Fehlernährung« gedeutet wurden, nicht nur ein möglichst zu vermeidendes Problem darstellten, sondern auch als ein Zeichen für Modernisierung, als ein Ausweis für die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung erscheinen konnten.52 Dieses Fortschrittsnarrativ einer gesicherten Versorgungslage und eines zunehmenden Konsums findet sich auch in der bereits zitierten Rede von Max Sefrin über »Die Erziehung der Bevölkerung zur gesunden Ernährung«. Nachdem Sefrin das Narrativ zunächst affirmierte, hob er es – wenn man so will – dialektisch auf eine höhere Ebene, indem er die Problematisierung eines »Über- und Fehlkonsums« und dessen Bearbeitung zu einer weiteren Stufe der Modernisierung erklärte. So akzentuierte er zuerst ausführlich die Fortschritte bei der Versorgung der Bevölkerung in der DDR, indem er die Lage von jener in »Entwicklungsländern« unterschied, in denen »der Imperialismus sein verhängnisvolles Erbe hinterlassen«53 habe: Hunger und Unterernährung. Doch dann änderte seine Argumentation mit dem Pathos der Selbstzufriedenheit die Richtung: »Es spricht wohl für sich, wenn der Gesundheitsminister sich in unserem Land nicht um eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, sondern vielmehr um eine gesundheitsförderliche Gestaltung der Ernährung zur Vermeidung von Über- und Fehlernährung sorgen muß.«54 Schließlich entledigte er sich der negativen, nun nicht mehr zeitgemäßen Aspekte dieses konsumbasierten Fortschrittsnarrativs, indem er sich von einer Haltung distanzierte, die den »wachsende[n] Verbrauch von Genußmitteln […] als Zeichen eines hohen Lebensniveaus, eines wachsenden Lebensstandards unserer Bürger« werte.55 Demgegenüber zwinge der gesellschaftliche Wandel »mit Notwendigkeit«56 zur Herausbildung neuer Lebensund Ernährungsgewohnheiten. Wen sah der Gesundheitsminister hierfür in der Verantwortung?
51 52 53 54 55 56
»Ist Sattsein richtig ernährt?«, DDR 1967, Timecode: 9:48–10:04. Zu diesem Spannungsverhältnis vgl. Weinreb (2017), S. 204–207. Sefrin (1972), S. 15. Sefrin (1972), S. 15. Sefrin (1972), S. 15 f. Sefrin (1972), S. 16.
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Formen sozialstaatlicher Verantwortungsverteilung Der ostdeutsche Gesundheitsminister Max Sefrin ging davon aus, dass alle gesellschaftlichen Kräfte dafür mitverantwortlich seien, eine gesunde Ernährungsweise zu realisieren. Unhintergehbare Voraussetzung und zugleich Zielscheibe der Lösungsstrategien und Steuerungsmaßnahmen war das eigenverantwortliche Individuum. Wie bereits erwähnt, forderte er »Ärzte wie Pädagogen, Hausfrauen wie Köche«57 auf, sich des Problems anzunehmen. Doch er betonte: »Vor allem aber ist die Ernährung ureigenste Angelegenheit jedes Bürgers.«58 Von Sefrin und anderen gesundheitspolitisch Verantwortlichen wurde immer wieder betont, dass es bei der Lösung des Problems nicht zu einer einseitigen Abwälzung der Verantwortung für eine gesunde Ernährung vom Staat auf das Individuum kommen dürfe – dies wurde in Abgrenzungsdiskursen gerne dem kapitalistischen Westen vorgeworfen.59 Und tatsächlich versuchte die Regierung, die Verantwortung auf viele Schultern zu verteilen, indem relevante Akteure angehalten wurden, zur Stärkung einer gesunden Ernährungsweise beizutragen. Hier zeigte sich, dass die Regierung der zentralistisch aufgebauten DDR im Unterschied zur BRD über umfangreichere Steuerungsmöglichkeiten verfügte.60 Die ernährungswissenschaftliche Forschung, insbesondere im Zentralinstitut für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke, wendete sich verstärkt der Erforschung des Problems »Über- und Fehlernährung« zu, wodurch sie wiederum – wie gesehen – die Problematisierung selbst vorantrieb. Ärzte und andere medizinische Berufe wurden im Bereich der Ernährungserziehung fortgebildet. Ein wichtiges Interventionsfeld waren zudem die Organisationen der Gemeinschaftsverpflegung, vor allem in Schulen und Betriebskantinen. Darüber hinaus brachte die Lebensmittelindustrie neue Produkte heraus, insbesondere die kalorien- und fettreduzierten Lebensmittel der Dachmarke »ON – Optimierte Nahrung«, um die Bedürfnisse der Konsumenten in die »richtige« Richtung zu lenken.61 Und die Institutionen der Gesundheitsaufklärung, insbesondere das Dresdener Hygiene-Museum, aber auch das Nationale Komitee für Gesundheitserziehung, wandten sich bis Ende der 1960er Jahre verstärkt der Erziehung der Bürgerinnen und Bürger zu einer gesunden Ernährungsweise zu. Das Selbstverständnis des Staates als umfassende Steuerungsinstanz ging einher mit einer bestimmten Vorstellung über das Wesen eines Bürgers, seiner Rechte und Pflichten – und damit der Gesellschaft als Staatsbürgergemeinschaft. In für die SED typischer Art und Weise wies Sefrin darauf hin, dass er die Gesundheit des einzelnen Bürgers »nicht allein als persönlichen Be57 58 59 60
Sefrin (1972), S. 13. Sefrin (1972), S. 13. Vgl. Sefrin (1972), S. 20; Lämmel/Schmidt (1978), S. 10. Für einen Überblick über die Maßnahmen in BRD und DDR in Reaktion auf die Problematisierung von »Über- und Fehlernährung« vgl. Thoms (2011), S. 104–112. 61 Zur zunehmenden Akzeptanz der konsumtiven Bedürfnisse der Bevölkerung durch die Konsumpolitik der SED vgl. Merkel (2009), S. 294.
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sitz, sondern […] zugleich in ihrer gesellschaftlichen Bezogenheit«62 sah. Als idealer Bürger schwebte ihm die »sozialistische Persönlichkeit« vor, die sich durch die »Entwicklung persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung auszeichnet« und demnach »verantwortungsbewußt handelt und sich sowohl für die eigene Gesundheit als auch für die der Mitmenschen, der Gemeinschaft verantwortlich fühlt«.63 Die spezifische Ausprägung der DDR-Staatsbürgergemeinschaft scheint zum einen darin zu bestehen, dass man von einer im Grundsatz symmetrischen Reziprozität zwischen der Verpflichtung des Staates, die Gesundheit des Einzelnen zu schützen, und der Verpflichtung des Einzelnen, für die eigene Gesundheit und damit das Wohl des gesamtgesellschaftlichen Kollektivs Sorge zu tragen, ausging.64 Dementsprechend sah es Sefrin als Aufgabe des Staates, alle gesellschaftlichen Instanzen so zu regieren, dass diese zur Lösung des Problems der »Übergewichtigkeit« beitrügen. Dem Prinzip der Wechselseitigkeit folgend, leitete er daraus die Legitimität seiner Forderung ab, dass eben auch jeder Bürger Verantwortung für die eigene Ernährung zu übernehmen und sie gesundheitsförderlich zu gestalten habe. Ein zweites Charakteristikum der politischen Rationalität ist aufs engste mit dieser symmetrischen Konstellation verbunden. Aus der Perspektive Sefrins und anderer gesundheitspolitischer Funktionäre galt die Pflege und Steigerung der individuellen und kollektiven Gesundheit als ein zentrales und unverzichtbares Element des sozialistischen Modernisierungsprojekts. Daher war die individuelle Lebensführung – auch im Kontext der Problematisierung von »Übergewichtigkeit« – explizit und in hohem Maße politisiert. Damit stellte die individuelle Gesundheitspflege immer schon einen Ansatzpunkt für moralisierende Zuschreibungen dar, wie Sefrins Forderung nach sozialer Verantwortung bei der Gestaltung der eigenen Ernährungsweise zeigt. Auch die westdeutsche Regierung sah sich hinsichtlich des Schutzes der Bevölkerung vor dem Gesundheitsrisiko »Übergewicht« in der Verantwortung, wenngleich ihr nicht die gleichen zentralen Steuerungsmöglichkeiten wie der DDR-Regierung zur Verfügung standen bzw. sie diese nicht beanspruchte und damit eine Einwirkung auf andere Akteure weniger unmittelbar erfolgte. Trotzdem zeigt sich auch hier ein sehr ähnliches Verständnis von citizenship. Am 7. Mai 1974 sprach die damalige Ministerialdirektorin des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit, Helga Elstner, auf dem »Milchforum« in Bonn über die Verantwortung der Bundesregierung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger: Die Bundesregierung ist sich der großen Verantwortung bewußt, die sie für die Gesundheit der Bürger zu tragen hat. Die Tatsache, daß Gesundheit, eine gesunde Lebensführung und eine gesunde Umwelt an der Spitze der Wunschskala der Bevölkerung stehen,
62 Sefrin (1972), S. 19. Sefrin ließ es sich darüber hinaus nicht nehmen, auf den großen Gewährsmann Lenin zu verweisen, der Gesundheit »einmal scherzhaft als Staatseigentum« bezeichnet habe. 63 Sefrin (1972), S. 18. 64 Vgl. Süß (1998), S. 60; Jenny Linek folgt dieser Einschätzung, vgl. Linek (2016), S. 41–43.
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ist für sie Ansporn und Verpflichtung zugleich, die vorbeugende Gesundheitssicherung auszubauen.65
Im Unterschied zur DDR wurde hier der von Seiten des Staates vorausgesetzte Wunsch der Bürger nach Gesundheit argumentativ als Ausgangspunkt für staatliches Handeln genannt. So fühlte der Staat sich verpflichtet, Bedingungen zu schaffen, die dem Bürger die Realisierung des als selbstverständlich vorausgesetzten Wunsches nach Gesundheit ermöglichten. Zwar wurde – ganz ähnlich wie in der DDR auch – der staatlichen Verpflichtung zur präventiven Fürsorge die Verpflichtung der Bürger im Hinblick auf eine gesunde Lebensführung zur Seite gestellt. Ein wichtiger Unterschied bestand jedoch darin, dass der sozialstaatlich organisierte Gesellschaftsvertrag insofern asymmetrisch ausgerichtet war, als dass sich der Staat als Instanz der Verwirklichung individueller Wünsche seiner Bürger verstand, anstatt – wie in der DDR – eine prinzipielle Kongruenz zwischen staatlichen und individuellen Interessen vorauszusetzen. Dieses Selbstverständnis der Bundesregierung, bis zu einem gewissen Grad die Verantwortung für die Gesundheit der Bürger zu übernehmen, verstärkte sich in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund einer Kostenexplosion des Gesundheitssystems immens. Aufgrund fehlender Strukturen, steigender Kosten und ausbleibender Reformen wurde auch von einer »Krise des Gesundheitswesens« gesprochen.66 Die Einsicht, dass durch eine intensivere Fokussierung auf Prävention viele Kosten des kurativen Systems noch vor ihrer Entstehung verhindert werden könnten, war auch für die Bundesregierung ein entscheidender Faktor zum Umdenken. In den 1950er und 1960er Jahren war man auf allen Seiten noch vom Fortschrittsoptimismus der Medizin überzeugt. Immer neue Erfolge und Machbarkeitsversprechungen ließen es zunächst wohl nicht nötig erscheinen, über gesundheitsbewusstes Verhalten nachzudenken. Die aufkommende Medizinkritik und ökonomische Untersuchungen wie die 1973 vom Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften (GWI) veröffentlichte Studie »Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland« leiteten eine offene und lang anhaltende Diskussion über die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in der BRD ein. Vor diesem Hintergrund ist auch der Hinweis Elstners zu verstehen, »die vorbeugende Gesundheitssicherung auszubauen«. Die konkrete Umsetzung dieser Aufgabe sollte auf politischer Ebene durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erfolgen. Die BZgA ging im Jahr 1967 aus dem Deutschen Gesundheits-Museum e. V. hervor und ist seitdem als Fachbehörde dem Bundesgesundheitsministerium zugeordnet. Zu ihren Aufgaben gehören die »Erarbeitung von Grundsätzen und Richtlinien für Inhalte und Methoden der praktischen Gesundheitserziehung/-auf-
65 BArch, Bestand B 310/45, gekürztes Referat der Ministerialdirektorin Frau H. Elstner, BMJFG, Bonn, vorgetragen auf dem »Milchforum«, Bonn am 7. Mai 1974. 66 Ruckstuhl (2011), S. 38.
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klärung«67 sowie »die Koordinierung und Verstärkung der gesundheitlichen Aufklärung und Gesundheitserziehung im Bundesgebiet«68. Insbesondere die zweite Aufgabe deutet aber bereits an, dass die BZgA lediglich einer von vielen Akteuren, wenngleich wohl der wichtigste, auf dem Gebiet der Gesundheitsaufklärung war. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die die Arbeit der BZgA aufbaute, stammten in erster Linie von medizinischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Experten und Expertinnen. Im Bereich der Ernährung arbeitete man eng mit der 1953 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Ernährung zusammen, die sich als Fachgesellschaft der deutschen Ernährungswissenschaft verstand. Eine Vielzahl weiterer Akteure war mehr oder weniger damit befasst. Zunächst ist hier die niedergelassene Ärzteschaft zu nennen, die in den 1950er Jahren schnell den Kampf um die Vormachtstellung auf dem Feld der Prävention gegen den Öffentlichen Gesundheitsdienst gewann und diesen zu einem Nischendasein verurteilte. Weiterhin zählten Selbsthilfegruppen oder auch gemeinnützige Organisationen zu den Akteuren der Gesundheitsaufklärung. Noch wichtiger, gerade im Bereich der Ernährung, erscheinen aber marktwirtschaftlich orientierte Akteure wie Lebensmittelkonzerne oder auch die Pharmaindustrie, die im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung der BRD weniger stark angeleitet werden konnten als in der planwirtschaftlich-zentralistischen DDR. Sie erkannten schnell ›gesunde Ernährung‹ oder auch den Wunsch nach Schlankheit als lukrative Märkte und übten mit ihren Werbebotschaften Einfluss auf das Ernährungsverhalten der Bürgerinnen und Bürger aus. Dabei ging es ihnen aber nicht primär um die Veränderung der Gewohnheiten hin zu einer gesünderen Ernährung, sondern in erster Linie um Gewinnmaximierung. Wie bereits erwähnt, waren volkswirtschaftliche Überlegungen ein wichtiger Grund für die Verstärkung der Gesundheitsaufklärung durch die Bundesregierung. »Vorbeugen ist besser, nicht zuletzt weil es billiger ist«, so bringt der Soziologe Ulrich Bröckling einen zentralen Aspekt präventiver Rationalität auf den Punkt.69 Diese Überzeugung war auch einer der Gründe, warum die ostdeutsche Gesundheitspolitik bereits frühzeitig und systematisch Maßnahmen zum präventiven Schutz der individuellen und »Volksgesundheit« ergriff. Die Stärkung der individuellen Gesundheit versprach die Erhaltung und Reproduktion von Arbeitskraft, einer zentralen ökonomischen Produktivkraft. Darüber hinaus – so die Überlegung – generieren gesunde Bürger weniger Ausgaben für die kurativen und rehabilitativen Arme des Gesundheitssystems. So sprach auch Sefrin diese volkswirtschaftliche Dimension an, als er darauf hinwies, dass »Übergewichtigkeit […] große volkswirtschaftliche Belastungen durch Kosten für ärztliche Behandlung, soziale Ausgaben sowie durch nicht unerhebliche Produktionseinbußen [verursacht]«.70 Das gleiche volkswirt-
67 68 69 70
Pott (2002), S. 204. Pott (2002), S. 204. Bröckling (2008), S. 46. Sefrin (1972), S. 17.
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schaftliche Argumentationsmuster findet sich auch in der BRD. Eine gesunde Ernährung des Einzelnen trägt zur Reduktion gesamtgesellschaftlicher Kosten bei, was wiederum positiv für den Staat ist. So hielt beispielsweise ein Mitarbeiter der DGE in einem Gutachten fest: Nun könnte man etwas herzlos sagen, der Einzelne sei für seine Dummheiten auf dem Ernährungsgebiet selbst verantwortlich. Aber es handelt sich keineswegs nur um einen Schaden für den Einzelnen, sondern auch um einen großen Schaden für die Allgemeinheit. Zu diesem gehören erhöhte Kosten der Krankenversicherung, erhöhte Renten für frühzeitige Invalidität und schließlich auch die Arbeitsausfälle durch größere Krankheitsanfälligkeit, gar nicht zu reden von der geringeren Leistungsfähigkeit, die auch auf unsere Volkswirtschaft drückt.71
An anderer Stelle wurde von 3,5 Milliarden DM Behandlungskosten gesprochen, die durch falsche Ernährung jährlich entstünden.72 Hier verwies citizenship konkret eben nicht nur auf Rechte und Freiheitsspielräume der Bürger, sondern auch auf Zwänge und Verpflichtungen innerhalb der Gesellschaft. Ganz ähnlich wie in der DDR wurde die implizite moralische Pflicht zur Gesunderhaltung immer wieder durch die Betonung der gesamtgesellschaftlichen Kosten, die durch eine ›falsche‹ Ernährung entstünden, thematisiert. Auffällig ist nun, dass Aussagen über den gesellschaftlichen und ökonomischen Wert der individuellen Gesundheit sowie über die soziale Verantwortung der einzelnen Bürger für die Gesellschaft nur intern, in der gesundheitsaufklärerischen Adressierung aber so gut wie nicht anzutreffen waren. Eine in volkswirtschaftlichen Bilanzen ausgedrückte Verknüpfung zwischen einzelnem Bürger und dem Kollektiv der Staatsbürgergemeinschaft erschien den Gesundheitsaufklärern offenbar als wenig zielführend. Ein Grund war sicher, dass derartige Kosten-Nutzen-Rechnungen an das nationalsozialistische Verständnis von Gesundheit erinnern konnten, welches immer wieder die uneingeschränkt vorrangige Bedeutung des »Volkskörpers« propagierte, und man potentielle Kritik dieser Art verhindern wollte. In Verbindung damit wurde das Einstehen des Einzelnen für die Gesellschaft von den Gesundheitsaufklärern offensichtlich als wenig effizientes Argument betrachtet.
71 BArch, Bestand B 310/38, Bericht über die Sitzung des erweiterten Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Ernährung am 12.11.1971, Vorschlag von Prof. Dr. Heinrich Kraut zur Eröffnung eines Feldzuges für richtige Ernährung und körperliche Betätigung. 72 »Die Krankheiten, die durch falsche Ernährung verursacht oder begünstigt werden, bedeuten auch volkswirtschaftlich eine erhebliche Belastung: In einem Bericht der deutschen Forschungsgemeinschaft werden die durch sie entstehenden Behandlungskosten auf jährlich rund 3,5 Milliarden DM, die Verminderung des Brutto-Sozialproduktes unter Berücksichtigung der entstehenden Unkosten durch Arbeitsausfall auf rund 16 Milliarden DM pro Jahr geschätzt.« BArch, Bestand B 310/37, Troost KG Werbeagentur GWA: Konzeptionelle Überlegungen und Lösungsansätze für die Kampagne »Ernährung und Bewegung« für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Düsseldorf, 15. November 1974.
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Anrufungen: Die gesundheitsaufklärerische Praxis Zwar wurde in gesundheitspolitischen Debatten hinter den Kulissen ausgiebig über volkswirtschaftliche Aspekte diskutiert, und auch in massenmedialer Berichterstattung über das Problem der »Über- und Fehlernährung« spielten sie eine gewisse Rolle. Doch in der Gesundheitsaufklärung findet sich so gut wie keine Kopplung an ein überindividuelles Kollektiv, so gut wie keine Form von sozialer Verantwortung des Individuums, die über den sozialen Nahbereich hinausgehen würde. Vielmehr rief die Gesundheitsaufklärung alle Adressaten zu eigenverantwortlicher Selbstsorge auf sowie Eltern und Ehefrauen zu verantwortlicher Fürsorge. Das Problem der »Über- und Fehlernährung« wurde in der Gesundheitsaufklärung auf diese Weise zuallererst als ein privates Problem inszeniert. Dies soll zunächst für die BRD anhand von einschlägigen Kampagnen der BZgA verdeutlicht werden. Im Jahr 1974 stand der Weltgesundheitstag, der 1954 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufen worden war, unter dem Motto »Ernährung«, was auch als eine transnationale Reaktion auf die konstatierten Probleme der »Über- und Fehlernährung« in den Industrieländern gedeutet werden kann. Die BZgA nahm dies zum Anlass, ein langjährig angelegtes Schwerpunktprogramm zu initiieren. An dessen Anfang stand die Aktion »Esskapaden schaden – vernünftig Essen hält in Form«, welche dann von der Kampagne »Essen und Trimmen – beides muss stimmen« abgelöst wurde. Die letzte Aktion in diesem Bereich war dann »fit statt fett«. In all diesen Kampagnen ging es inhaltlich darum, die Bürgerinnen und Bürger zu einer gesunden Ernährung anzuleiten. Auf welche Weise dies geschehen sollte und damit letztendlich die Frage, welche Form der Gesundheitsaufklärung erfolgreich sei, wurde auf konzeptioneller Ebene diskutiert: »Erstens sollte Gesundheit mit Lebensfreude in Zusammenhang gesehen werden. Daher ist Gesundheitserziehung konstruktiv, nicht restriktiv zu verstehen. Sie muß dem Individuum zur vollen Selbstentfaltung und zum Glücklichsein verhelfen«73, heißt es dazu in einem Bericht über einen Workshop der BZgA aus dem Jahr 1974. In eine ähnliche Richtung geht auch die Aussage aus dem Protokoll einer Besprechung der BZgA mit einer Werbeagentur: »Eine positive Darstellung des Themas sollte bei sämtlichen Medien berücksichtigt werden, wobei nicht die Gesundheit hervorgehoben werden sollte, sondern vielmehr Freude und Spaß am richtigen Essen und Bewegen.«74 Über die positive Art der Gesundheitsaufklärung sollte sich der Einzelne im Idealfall zum ›präventiven Selbst‹ entwickeln – also zu einem »sich ständig beobachtenden Individuum, das fähig 73 BArch, Bestand B 310/38, Bericht über das III. internationale Seminar für Gesundheitserziehung »Ernährung und Bewegung« veranstaltet von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Regionalbüro für Europa der Weltgesundheitsorganisation. Köln, 18.–22. November 1974. 74 BArch, Bestand B 310/330, Ergebnisprotokoll der Besprechung zu den von Troost neu konzipierten Vorschlägen für Maßnahmen 1975 am 2.10.1975, im Haus des Deutschen Sports, Frankfurt.
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und willens ist, auf der Basis medizinischer Informationen in sich selbst zu intervenieren, um langfristig eine bessere Gesundheit zu erzielen«.75 Gesundheit war, sowohl in der BRD als auch in der DDR, eben längst nicht mehr nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern bereits stark mit Wohlbefinden verknüpft. Dieses Wohlbefinden sollte von der Gesundheitsaufklärung als unhinterfragbare Wunschvorstellung propagiert werden und damit für den Einzelnen als Argument für gesundheitsförderliches Verhalten dienen. Um das Ziel einer gesunden Ernährung zu erreichen, sei zudem – so ein Planungspapier für eine Aufklärungsaktion – »die Nutzung gruppendynamischer Prozesse erforderlich«.76 Denn: »Was man gemeinsam tut, trägt sich leichter und fördert die Fremdbeobachtung und damit eine wünschenswerte soziale Kontrolle, bei der als Belohnung soziale Achtung zu erwarten ist.«77 Hier zeigt sich, dass bei dieser Form der Gesundheitsaufklärung auch ein bestimmter moralischer und sozialer Druck inkludiert war. Und wenn von »sozialer Achtung als Belohnung« gesprochen wurde, muss man sich unweigerlich fragen, was wohl geschieht, wenn man sich nicht im Sinne der Gesundheitsaufklärer verhält. Durch die angesprochene »soziale Kontrolle« konnte Stigmatisierung und Diskriminierung weiter Vorschub geleistet werden, was wiederum gesellschaftliche Exklusionsprozesse verstärken konnte. Eindrücklich zeigt sich das in einem Entwurf für die Kampagne »Eßgeschichten«. Folgende Story sollte als Einleitung dafür fungieren, Eltern für die vermeintlich falsche Ernährung ihrer Kinder zu sensibilisieren: Beginn der Turnstunde für die 3b. Die neun- und zehnjährigen Jungen und Mädchen stehen erwartungsvoll in Reih und Glied. Unter ihnen jemand, für den die folgenden 45 Minuten mal wieder zum Alptraum werden: Susanne Föllmer, die dicke Susi, oder auch kurz »Dicke« gerufen. Ihre 15 Pfunde Übergewicht, das damit verbundene unförmige Aussehen und ihre Unbeweglichkeit lassen sie zwar von der ersten bis zur letzten Schulstunde sowieso zum Gespött der Klasse werden. Nie aber spürt sie Verachtung und Ablehnung der anderen so vernichtend wie im Turnunterricht. »Na los!« will die Turnlehrerin anfeuern, »bring deine Massen mal ein bißchen in Schwung, lauf doch nicht so träge!« Die Kinder grinsen.78
Bemerkenswerterweise wurde im weiteren Verlauf der Geschichte nicht das ausgrenzende und diffamierende Verhalten der anderen Kinder oder der Lehrerin als Problem gedeutet, sondern lediglich Susannes Übergewicht. Ihren Eltern und ihr wurde die Verantwortung dafür zugeschrieben, die Situation zu verändern. 75 Niewöhner (2010), S. 309. 76 BArch, Bestand B 310/37, Troost KG Werbeagentur GWA: Konzeptionelle Überlegungen und Lösungsansätze für die Kampagne »Ernährung und Bewegung« für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Düsseldorf, 15. November 1974. 77 BArch, Bestand B 310/37, Troost KG Werbeagentur GWA: Konzeptionelle Überlegungen und Lösungsansätze für die Kampagne »Ernährung und Bewegung« für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Düsseldorf, 15. November 1974. 78 BArch, Bestand B 310/274, Entwurf: ESSGESCHICHTEN. Ernährungsschwierigkeiten, was dahinter steckt und was man tun kann. Sechs wahre Geschichten von Familien mit Eßproblemen (1977).
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Auch in der DDR-Gesundheitserziehung wurden nahezu die gleichen Prinzipien der Moralisierung und sozialen Anerkennung, aber auch der Stigmatisierung angewendet. Diese Form der gesundheitsaufklärerischen Adressierung zeigt sich beispielsweise in einem Gesundheitsaufklärungsfilm aus dem Jahr 1974.79 Das Fernsehen gewann in beiden deutschen Staaten seit den 1960er Jahren enorm an Bedeutung als Medium der Gesundheitsaufklärung.80 Der etwa sechsminütige Kurzfilm war Bestandteil der Reihe »Wegweiser Gesundheit«, die im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums vom DEFA-Studio für Kurzfilme, Bereich Wirtschafts- und Informationsfilme, produziert und im Fernsehen an prominenter Stelle abends vor dem Gruß des Sandmännchens ausgestrahlt wurde.81 Anliegen des Films war es, ausgehend von der Problematisierung von »Übergewicht« über die Maßeinheit der Kalorie zu informieren und zu ihrer Nutzung als Hilfsmittel zur Kontrolle und Steuerung der eigenen Ernährung, der eigenen Gesundheit und Körperform anzuregen. Zu diesem Zweck wurden – auf Basis des kalorischen Energiebilanzmodells – geschlechtlich und nach Tätigkeit differenzierte Kalorienbedarfe einerseits und der Kaloriengehalt unterschiedlicher Lebensmittel andererseits vorgestellt. In diesem Zusammenhang wurden zudem die bereits erwähnten kalorien- und fettreduzierten »ON«-Produkte angepriesen. Für die vorliegende Argumentation besonders relevant sind verschiedene fiktionale Szenen, die dazu dienen sollten, die Kalorie in alltägliche Handlungszusammenhänge einzubetten und so ihre alltagspraktische Tauglichkeit vorzuführen. Eine dieser Szenen wird eingehender analysiert. Dabei wird insbesondere auf die Lenkung des Zuschauerblicks durch die Kameraführung und die sinnstiftende Funktion des für Gesundheitsfilme typischen Off-Kommentars eingegangen. Auf diese Weise soll der medialen Spezifik dieser audiovisuellen Quelle Rechnung getragen werden. Die erste Szene des Films: Zu sehen ist in einer nahen Einstellung ein Eisbein, das auf einem Tablett von einem normschlanken Mann im Anzug von links nach rechts quer durchs Bild zu einem Tisch getragen wird, an dem er sich niederlässt. Offenbar befinden wir uns in einer Kantine. Der Blick des Mannes grüßt zwei Frauen, die an einem anderen Tisch sitzen. »Hast du das Eisbein gesehen?«, fragt die links im Bild sitzende Frau. »Der kann es sich ja erlauben. Der wird ja nicht dick«, antwortet ihre Tischnachbarin mit einem leichten, aber deutlichen Anflug von Bedauern und Neid angesichts ihrer scheinbar natürlichen Neigung zum Dicksein. Postwendend meldet sich der allwissende Off-Kommentar zu Wort, denn diese Bürgerinnen gilt es über die Modellier- und Optimierbarkeit des menschlichen Körpers aufzuklären: »Was sie nicht wissen: Es ist noch gar nicht lange her, da war auch er übergewichtig.« Schnitt auf den Mann, wie er einen Bissen Eisbein sorgfältig mit Soße veredelt, in seinen Mund steckt und mit einem Nicken den geschmacklichen Genuss goutiert. Um deutlich zu machen, dass es sich bei der Fähigkeit, ab79 »Kalorien (Wegweiser Gesundheit Nr. 6)«, DDR 1974. 80 Vgl. Osten (2018), S. 226–229; Schwarz (2011), S. 42. 81 Vgl. Schneider (2011), S. 120.
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nehmen zu können, nicht um eine rein männliche Kompetenz handelt, wird nun eine junge, normschlanke Frau gezeigt, die »vor einem Jahr noch 23 Kilogramm Übergewicht« hatte. Doch »jetzt isst sie Buttercremetorte und trotzdem nimmt sie nicht zu«. Kurze Spannungspause, dann wird das Geheimnis ihres Erfolges gelüftet: »Was beide gemeinsam haben? Sie leben mit der Kalorie. Kontrollieren und steuern die Menge, die sie täglich zu sich nehmen.« Ein zentrales Anliegen der audiovisuellen Gesundheitsaufklärung über das Thema »Übergewicht« war, für das Publikum bestimmte Sichtweisen auf Körper für die Zuschauer vor-zusehen. Sichtweise meint hier sowohl eine epistemische Operation, die einen Gegenstand sinnlich verständlich und wahrnehmbar macht, als auch eine hierarchisierende und moralische Operation, die das Blickobjekt einer Bewertung unterzieht. Als ordnende Schemata tragen sie zur Regulierung sozialer Interaktionen bei, indem sie die Wahrnehmung von sich selbst und anderen strukturieren. Vor diesem Hintergrund besonders aufschlussreich, da fast zu übersehen, ist ein kurzer Abwärtsschwenk, der bis zur Höhe des Unterschenkels den Körper der rechts am Tisch sitzenden Frau ins Bild setzt – und zwar in jenem Augenblick, als sie gerade äußert, dass der Mann mit dem Eisbein »ja nicht dick« würde.
Abb. 2: »Kalorien (Wegweiser Gesundheit Nr. 6)«, DDR 1974
Im Zusammenwirken von Bild und Tonspur zielt diese Inszenierung zunächst darauf ab, einen Körper als einen »dicken« Körper sichtbar und lesbar und so von anderen, nicht dicken Körpern unterscheidbar zu machen. Hierarchisierend ist die Unterscheidung zum einen deshalb, weil dieser Körper einem normalistischen Regime unterstellt wird, indem der allwissende Off-Kommentar
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ihn als »übergewichtig« kategorisiert. So erscheint die Unterscheidung als die Differenz zwischen »normalen« normschlanken und normabweichenden Körpern. Zum anderen deutet diese Kameraeinstellung jene Ikonographie an, die seit den 2000er Jahren im Kontext einer sich erneut verschärfenden Problematisierung von »Übergewicht« und der Furcht vor einer vermeintlich drohenden »Adipositas-Epidemie« an Bedeutung gewinnen sollte: die bzw. der »Headless Fatty«.82 Mit und in dieser Darstellungsweise werden dicke Menschen auf ihre vermeintlichen »Problemzonen« reduziert. Lag der Fokus des durch die Kamera geführten Zuschauerblicks zunächst auf dem Gesicht der Protagonistin, wird sie nun durch den Abwärtsschwenk der Kamera symbolisch geköpft: Der Kopf als biologisch-symbolischer Ort des Willens wird entfernt. Seine Abwesenheit konnotiert fehlende Selbstdisziplin und Handlungsmacht, die Unfähigkeit oder den Unwillen, mit Hilfe der Selbsttechnik des Kalorienzählens den eigenen Körper zum Objekt einer willentlichen Gestaltung und Optimierung zu machen. Die Frau hat zwar eine Stimme, doch diese reflektiert lediglich die Sichtweise der Kamera, die ihr keine Anerkennung zuteilwerden lässt. Die Stimme äußert nur das Unwohlsein dieser Frau in ihrem eigenen Körper und ein Begehren nach einem anderen Körper, und zwar einem normschlanken, wie ihn der Mann mit dem Eisbein hat. Ihr Körper gilt ihr selbst als Stigma – sie hat sich den stigmatisierenden Kamerablick zu eigen gemacht und diese Sichtweise als ein zentrales Element in ihr Selbstverhältnis eingelassen.83 Wie auch im Falle von Susanne Föllmer, der Protagonistin der Ernährungskampagne der BZgA, werden die stigmatisierende Sichtweise auf diesen Körper und ihre subjektivierenden Effekte vom Film nicht problematisiert, sondern als selbstverständlich reproduziert und dadurch bestärkt. Der einzige Ausweg, den der Gesundheitsaufklärungsfilm anbietet, besteht darin, sich über wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenhangs von Ernährung und Körpergewicht zu informieren, indem man sich beispielsweise diesen Film anschaut. Dann würde die Frau – und vor ihr das Publikum, das sich auf diese Weise über sie erheben kann – lernen, dass mit Hilfe der Selbsttechnik des Kalorienzählens das eigene Gewicht und die eigene Körperform kontrollier- und steuerbar sind. Beide würden verstehen, dass diese Technik es ihnen ermöglicht, Essen wirklich, d. h. kontrolliert und daher sorgenfrei, zu genießen. Die Technik des Kalorienzählens verspricht, die neuen Möglichkeiten des Konsums gesundheits- und damit verantwortungsbewusst wahrzunehmen und zu nutzen. Hier zeigen sich wieder deutliche Parallelen zur Bundesrepublik, denn auch dort wurde das Kalorienzählen als eine zentrale Kompetenz im Bereich der Ernährung beschrieben und damit die gleichen Machbarkeitsverspre82 Vgl. Cooper (2007). Cooper pointiert: »There’s a symbolism, too, in the way that the people in these photographs have been beheaded. It’s as though we have been punished for existing, our right to speak has been removed by a prurient gaze, our headless images accompany articles that assume a world without people like us would be a better world altogether.« 83 Vgl. Luck-Sikorski (2017).
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chungen gegenüber der Bevölkerung gegeben. Daher fand sich in fast jeder Publikation der Aufklärungskampagnen eine Anleitung zur Errechnung der richtigen Energiemenge. In diesem Zusammenhang wurden neben Zucker Fette als das Hauptproblem dargestellt. Hier setzte man v. a. auf Informationsverbreitung über die Gefahr »unsichtbarer« Fette, wie sie beispielsweise in Wurst-, Fleisch- oder Fischprodukten vorkommen, um so einer übermäßigen Kalorienzufuhr vorzubeugen. Dadurch sollte für jeden sichtbar gemacht werden, wie viel Energie jedes Lebensmittel eigentlich enthält. Auf diese Weise sollte es den Menschen zudem sukzessive erschwert werden, auf einen Zustand mangelnden Wissens zu verweisen, um begründen zu können, warum man die vermeintlich allen offenstehenden Möglichkeiten der Gesundheitsprävention nicht nutzte.
Abb. 3: Nährwertangaben aus Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (1973), S. 23
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Ringen um Anerkennung: Umgangsweisen mit der gesundheitsaufklärerischen Anrufung In welchem Verhältnis diese Form der Gesundheitsaufklärung zu Alltagserfahrungen und Selbstverhältnissen der Bürgerinnen und Bürger stehen konnte, soll exemplarisch anhand eines Leserbriefes an die Berliner Zeitung von 1971 gezeigt werden. Genaugenommen handelt es sich um eine veröffentlichte »Antwort auf einen Leserbrief«84, also eine – vermutlich – selektive Wiedergabe einer Zuschrift, die so arrangiert wurde, dass ein medizinischer Experte auf die Aussagen antwortet: Unsere Leserin Frau J. beklagt sich darüber, daß Menschen, die an Fettsucht leiden, als Fresser dargestellt werden, die den ganzen Tag damit beschäftigt sind, recht viel und möglichst Kalorienhaltiges in sich hineinzustopfen. Sie schreibt weiter: »Ich selbst gehöre zu den Fettsüchtigen, obwohl ich von früh bis spät abends auf den Beinen bin, einen großen Haushalt zu versorgen habe, daneben voll beschäftigt bin und gerade noch ein dreijähriges Frauensonderstudium absolviert habe.« Weiter weist Frau J. darauf hin, daß man den Fettsüchtigen nicht immer ihren Körperumfang vorwerfen darf, »keiner sollte glauben, daß es für uns Dicke ein Vergnügen ist, dick zu sein.«
Die Aussagen von Frau J. belegen, dass sie in ihrem Alltag mit Stigmatisierungen, die an ihrer Körperform ansetzten, konfrontiert war. Um Anerkennung ringend, wollte sie diesem Zustand mit dem Verfassen eines Leserbriefs entgegentreten. Dabei versuchte sie nicht, (ihr) Körperfett positiv umzudeuten und der Stigmatisierung eine positive Identifikation mit dem eigenen dicken Körper entgegenzustellen: Dick zu sein sei für sie eben kein Vergnügen. Dieser Umstand verweist einerseits auf die Übermacht des medizinischen »Übergewicht«-Diskurses, der »übermäßiges« Fett zu einem Problem erklärte, das es auszumerzen galt. Andererseits macht dies darauf aufmerksam, dass Frau J. offenbar noch keine alternativen Diskurse zur Verfügung standen, die ihr die Konstruktion einer eigensinnigen Identität an den Rändern vorherrschender Diskurse erlaubt hätten.85 Angesichts dessen wählte sie zwei andere Strategien. Zum einen unterzog sie sich einer Selbstpathologisierung, indem sie herausstrich, dass sie zu den »Fettsüchtigen« gehöre. Indem Frau J. auf die widerspenstige ›Agency‹ der biologischen Materialität ihres Körpers verwies, versuchte sie der zur Moralisierung neigenden Annahme eines durch Selbstdisziplin modellier- und optimierbaren Körpers die Grundlage zu entziehen. Ihre Selbstpathologisierung zielte damit auf eine Abwehr von Zuschreibungen individueller Verantwortung, also auf eine Entresponsibilisierung: Sie versuchte sich aus der Schusslinie der Stigmatisierung zu bewegen, indem sie ihr Körperfett von einem Stigma der mangelnden Selbstdisziplin in einen Effekt unverschuldet pathologischer Körpervorgänge umdeutete. Aufschlussreich ist, dass der rahmende Kommentar des Arztes – genau wie der Off-Kommentar des Gesundheitsaufklärungsfilms – gerade dieser Argumentation der Entrespon84 Fiedler (1971). 85 Vgl. zu den Anfängen einer identitätspolitischen Organisation dicker Menschen in den USA seit den späten 1960er Jahren Schorb (2017), S. 35–40.
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sibilisierung entgegentrat. Aus der Sprecherposition des Experten stimmte er ihrer Selbstbeschreibung zwar verhalten zu, indem er konstatierte, dass »manche Menschen zur Korpulenz neigen« und »es in der Tat nicht leicht [haben], das Gewicht zu halten«. Doch führte er dann – wesentlich ausführlicher – aus, dass und wie sich mit Hilfe einer noch genaueren Anwendung der Technik des Kalorienzählens und einer »Steigerung des Energieverbrauchs durch Sport« das Körpergewicht doch erfolgreich kontrollieren ließe. Diese Konstellation macht deutlich, dass im Kontext des in Ost und West ausgerufenen Kampfes gegen »Übergewicht« gerade die Zuschreibung von Handlungsmacht und Eigenverantwortung unterdrückende und ausschließende Macht entfaltete.86 Die grundsätzliche Ambivalenz von Subjektivierung im Feld der individuellen Gesundheitsprävention wird durch die zweite Strategie von Frau J. offensichtlich, denn auch sie konnte bei ihrem Ringen um Anerkennung nicht auf die Demonstration von personaler ›Agency‹ und damit ihres Subjektstatus verzichten. So kombinierte Frau J. den Verweis auf ihre begrenzte Handlungsfähigkeit hinsichtlich der Kontrolle ihres Gewichts mit dem deutlichen Hinweis auf ihre erfolgreiche Selbstführung in Haushalt, Erwerbsarbeit und Bildung. Frau J. rückte diese Artikulationsformen von Leistungsfähigkeit und Leistungswillen in den Vordergrund, um von ihren Mitbürgern das Maß und die Form von Anerkennung als gute und produktive Bürgerin zu erhalten, zu der ihr aufgrund der erfahrenen Gewichtsdiskriminierung sonst der Zugang versperrt war. Gerade der Bezug auf ihre erfolgreiche Hausarbeit und ihr dreijähriges Frauensonderstudium verweist darauf, dass sich die an Frau J. herangetragenen Anforderungen und ihr widerständiges Ringen um Anerkennung im Rahmen eines intersektionalen Gefüges artikulierten und vollzogen. Neula Kerr-Boyle hat sich auf Grundlage von Quellen der zeitgenössischen Umfrageforschung der DDR mit der Verschränkung von ›Gender‹ und ›Class‹ in alltäglichen Ernährungs- und Diätpraktiken auseinandergesetzt.87 Mit ihren Befunden lässt sich Frau J.s Intervention in einen größeren Rahmen einordnen. Umfragen aus den 1970er und 1980er Jahren, die vom Zentralinstitut für Ernährung und vom Zentralinstitut für Jugendforschung durchgeführt wurden, zeigen bezüglich der Häufigkeit von »Übergewicht« und des Praktizierens von Diäten deutliche Unterschiede entlang von Geschlecht und Schicht. Vereinfacht formuliert hatten Frauen, die sich qua beruflicher Stellung und Bildungsabschluss der Mittelschicht zuordnen ließen, im Vergleich zu Arbeiterinnen sowie Männern aller Schichten einen signifikant geringeren Anteil an »Übergewicht« bei gleichzeitig stärkerer Beschäftigung mit Praktiken der Gewichtskontrolle und des Abnehmens. Um diese Ergebnisse zu erklären, argumentiert Kerr-Boyle, dass es Frauen bei der Pflege und Kontrolle ihres Körpergewichts nicht allein um eine 86 Vgl. zu diesem Aspekt Mackert (2015), S. 21–24. Nina Mackert plädiert für einen Bezug auf Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie und damit eine Akzentuierung der ›Agency‹ von (körperlicher) Materialität, um diesem Problem einer historischen Machtanalytik, die sich als kritische Geschichte der Gegenwart versteht, zu begegnen. 87 Vgl. Kerr-Boyle (2013), S. 166–172.
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Orientierung an vorherrschenden Schönheitsidealen ging. Vielmehr – und hier zeigen sich die Überschneidungen mit unseren Grundannahmen – ging es darum, durch die äußerlich sichtbare Modellierung und Optimierung des eigenen Körpers Tugenden der Selbstkontrolle und -disziplin zu demonstrieren und dadurch symbolisches Kapital und Anerkennung zu generieren.88 Unter den trotz der offiziellen Gleichberechtigungspolitik weiterhin herrschenden patriarchalen Verhältnissen hätten Frauen in stärkerem Maße als Männer den Druck erfahren, ihren Körper auf diese Weise ins Feld führen zu müssen. Ähnlich verhielt es sich auch in der Bundesrepublik. In seiner Analyse von Schönheitspraktiken kann Otto Penz zeigen, dass der Zugang zu sozialer Macht auf vielfache Weise durch geschlechts- und klassenspezifische Gegebenheiten determiniert ist. So spielt bei Frauen die Schönheit und damit auch der Körper eine viel wichtigere Rolle auf dem Arbeitsmarkt, was wiederum den Druck auf die Intensivierung der Schönheitsarbeit erhöht.89 Dass sich Frauen der Mittelschicht stärker als Arbeiterinnen in der Optimierung ihres Körpers engagierten, bringt Kerr-Boyle mit einem besonders kompetitiven und sexistischen Arbeitsumfeld in Verbindung: It is feasible that, faced with the inherent sexism of patriarchal GDR, women who sought to enter, or who were already employed in, highly skilled professional jobs in typically male-dominated environs felt under particular pressure to ›prove‹ themselves by embodying these values [of self-control and self-discipline].90
Diese vorsichtige Deutung versucht Kerr-Boyle durch die Ergebnisse einer Umfrage von 1986 zu beruflichen Erfahrungen junger Frauen zu untermauern. Diese zeigen, dass sich Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen in höherem Maße geschlechtsspezifischen Widerständen gegenübersahen als Arbeiterinnen. Auf die Frage, ob sie sich bei der Arbeit genauso ernst genommen fühlten wie ihre männlichen Kollegen mit gleicher Qualifikation, antworteten 50 Prozent der Arbeiterinnen zustimmend, während es unter weiblichen Hochschulkadern lediglich 40 Prozent waren.91 Es muss offenbleiben, ob Frau J. im Anschluss an ihr Studium ganz ähnliche Erfahrungen machte oder ob ihr angesichts der erlebten Gewichtsdiskriminierung der Erwerb von symbolischem Kapital durch ein zusätzliches Studium nichtsdestotrotz als besonders attraktiv erschien. Klar ist jedoch, dass sich die unterwerfenden Effekte der Problematisierung von »Übergewicht« 88 Kritisch anzumerken ist, dass Kerr-Boyle bei ihrer Interpretation der Umfrageergebnisse, ohne es zu explizieren, einen kausalen Kurzschluss zwischen der Häufung von Schlankheit und Diätpraktiken unter Mittelschichtsfrauen herstellt. Auf diese Weise reproduziert sie jedoch die zentrale Annahme eines durch Selbsttechniken modellier- und optimierbaren Körpers, welche ja die Grundlage der Moralisierung und Stigmatisierung von dicken Körpern war und immer noch ist. 89 Penz (2010), S. 200. 90 Kerr-Boyle (2013), S. 171. 91 Vgl. Kerr-Boyle (2013), S. 171 f. Zudem stimmte im Unterschied zu den befragten Arbeiterinnen (93 Prozent) ein signifikant geringerer Anteil der Befragten mit höherem Bildungsabschluss (85 Prozent) der Aussage zu, dass Frauen in Führungspositionen erfolgreich sein können.
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und der Stigmatisierung von »Übergewichtigen«, an denen die Gesundheitsaufklärung maßgeblich beteiligt war, auf Frauen besonders stark auswirkten. Die Ambivalenz und Polyvalenz des sich verschärfenden »Übergewicht«-Diskurses bestand jedoch darin, dass er zugleich ein Feld eröffnete, auf dem sich durch die Pflege der körperlichen Gesundheit auch Anerkennung und (symbolisches) Kapital generieren ließen. Dabei kann der Umstand, dass der Anteil derjenigen, die sich aktiv und erfolgreich um die Pflege ihrer Gesundheit und Körperform kümmerten, unter Mittelschichtsfrauen höher war, auch darauf verweisen, dass diese Gruppe in stärkerem Maße um die Sicherung ihrer sozialen Stellung besorgt war als Arbeiterinnen.92 Angesichts der Relevanz dieses Feldes für Prozesse der gesellschaftlichen Positionierung und Verteilung von Ressourcen waren besonders jene Menschen im Nachteil, die nicht dazu imstande waren, den normativen Anrufungen zu folgen und die Möglichkeiten des Feldes zu nutzen – wie Frau J., deren eigensinniger Körper der Nutzung der vermeintlich jeder und jedem offenstehenden Möglichkeit zur Pflege der eigenen Gesundheit und Modellierung des Körpers Grenzen setzte. Fazit Ausgangspunkt unserer Untersuchung war die verstärkte Problematisierung von »Übergewicht« bzw. »Über- und Fehlernährung« als Gesundheitsrisiken in BRD und DDR in den 1960er und 1970er Jahren. Für beide Gesundheitssysteme stellte die Gesundheitsaufklärung ein wichtiges Instrument dar, um dieses Problem zu bearbeiten. Konzeptionell haben wir Gesundheitsaufklärung als ein citizenship project verstanden, durch welches nicht nur die Frage nach der richtigen Ernährung, sondern auch Vorstellungen, Werte und Normen des Bürgerseins in den jeweiligen Gesellschaften verhandelt wurden. Gesundheitsaufklärung war somit eine Regierungstechnik, die auf die Durchsetzung spezifischer Anforderungen an und Anerkennungspraktiken als gute Bürgerinnen und Bürger abzielte. In Ost und West strebte die Ernährungsaufklärung also nicht allein nach einer Modifikation der individuellen Lebensführung. Indem die Gesundheitsaufklärung eine gesunde Ernährungsweise mit neuem Nachdruck zu einem Aspekt von citizenship erklärte, zielte sie vielmehr auf die »politische Regulierung sozialer Beziehungen«.93 Sie war maßgeblich daran beteiligt, ein Feld ermöglichender, aber auch begrenzender moralischer Zwänge zu entwerfen, das sowohl die Beziehungen zu sich selbst als auch zu anderen strukturierte. Gesunde Ernährung versprach nicht nur die Pflege und Steigerung der eigenen Gesundheit, sondern auch die aktive Generierung sozialer Anerkennung. Der Erwartungshaltung gesunder Ernährung nicht nachzukommen, gefährdete dagegen – so die Gesundheitsaufklärung – nicht nur 92 Vgl. zum gegenwärtigen Zusammenhang von »Übergewicht« und sozialer Ungleichheit Kim/Rösler/Knesebeck (2017). 93 Lessenich (2012), S. 48, zur »Relationierung« von Bürgern als Funktion und Effekt sozialstaatlichen Handelns vgl. S. 47–52.
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die eigene Gesundheit, sondern wurde zugleich zu einem Risiko für die soziale Akzeptanz und Inklusion. Von entscheidender Bedeutung war, dass die Körperform in sozialen Interaktionen mit neuer Intensität als ein sichtbarer Ausweis einer erfolgreichen oder eben erfolglosen Selbstregierung wahrgenommen wurde. Der dicke Körper erschien als ein Symbol dafür, dass man die ernährungswissenschaftlich verbriefte »Tatsache der Modellierbarkeit und Optimierbarkeit des Körpers und des Selbst nicht produktiv zu nutzen« verstand.94 Beim Blick auf so verstandene Körper griff die Gesundheitsaufklärung Diskriminierungs- und Stigmatisierungsmuster auf und verstärkte diese. Sie nutzte Stigmatisierung dezidiert als eine Technik der Verhaltenssteuerung. So avancierte der dicke Körper in beiden deutschen Staaten mit neuer Wucht zu einem Symbol für persönliches Scheitern im Projekt guter Bürgerschaft, in dessen Zentrum zunehmend die Befähigung und Bereitschaft zu verantwortlicher, vernünftiger und effizienter Selbstregierung stand. »Dünn und dick sind die zentralen Kennzeichen zweier Bürgerkriegsparteien«95, konstatiert der Psychologe Christoph Klotter für die Gegenwart und verdeutlicht damit die ungebrochene Konjunktur dieses Themenfeldes. Gleichzeitig zeigt seine Aussage aber auch, dass gegenwärtig die Frage nach guter Bürgerschaft qua Gewicht neu verhandelt wird. Die sinnbildliche Formierung dicker Menschen zu einer »Bürgerkriegspartei« macht deutlich, dass der Kampf um die Deutungshoheit noch längst nicht entschieden ist und sein Ausgang momentan offener zu sein scheint als noch in den 1970er Jahren. Bibliographie Archivalien Bundesarchiv Koblenz (BArch) – Bestand B 310/37 – Bestand B 310/38 – Bestand B 310/45 – Bestand B 310/274 – Bestand B 310/330
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 43–66, FRANZ STEINER VERLAG
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018) Martin Dinges Summary The importance of the gender category for health chances (1980–2018) The importance of gender as a category for predicting health chances, life expectancy in particular, has risen in the last two centuries. This was driven partly by circumstances such as societal division of labour and the corresponding exposition to risks, and partly by male and female behaviours. In the twentieth century, the high male excess mortality, which continued in many industrialized countries into the 1980s, was caused by smoking and an increase in traffic accidents. Since then, the gap in the statistical life expectancy of men and women has started to close again. Part of the reason for this is the increased risk behaviour in women (smoking). We ask whether a change in male behaviours can be observed that could be seen as delayed medicalization. In addition, we analyse the structure of health resources, the reduction of practices that are harmful to health and the increased integration into the health system. Many of these parameters point in fact to considerable changes in behaviour that could be interpreted as delayed medicalization.
Einleitung: Verhalten – Verhältnisse – Versorgung in der »Gesundheitsgesellschaft« Geschlecht ist eine entscheidende Variable, um den Gesundheitsstatus einer Person vorherzusagen. Ich werde im vorliegenden Beitrag der Frage nachgehen, ob diese Kategorie auch in Zukunft so bedeutsam für gesundheitliche Ungleichheit bleiben wird. Die gesellschaftlichen Angleichungsprozesse der Anforderungen an Männer und Frauen könnten eher dagegen sprechen. Ein besonders aussagekräftiger Indikator für Ungleichheit ist der geschlechtsspezifische Unterschied in der Lebenserwartung. Um 1830 hatten Männer und Frauen in Deutschland noch eine etwa gleich hohe Lebenserwartung bei der Geburt. Die Differenz stieg seither in einigen Schüben bis in die 1980er Jahre an.1 Frauen konnten damals in der Bundesrepublik ein um 6,7 Jahre längeres Leben als Männer erwarten.
1
Detaillierter dazu Dinges (2008); Dinges/Weigl (2016). Überblicke über lange Zeiträume bieten für die Schweiz Kohli (2016), für Schweden Willner (2016).
44
Martin Dinges
Jahr mehr Lebensjahre
1850 0,4
1871/81 2,9
1901/10 3,5
1950 4
1980 6,6
2000 6,1
2013 4,9
Abb. 1: Zusätzliche Lebenserwartung der Frauen in Deutschland (1850–2013)2
Die Gründe lagen früher vor allem in den gesellschaftlichen Verhältnissen: Wegen der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung waren Männer, insbesondere während der Industrialisierung und der schnellen Urbanisierung, höheren Risiken ausgesetzt, weshalb die Übersterblichkeit der Männer nach 1850 bis etwa 1900 stark anstieg. Für den Zeitraum von 1960 bis 2000 schätzte man den Anteil der Auswirkungen des Arbeitslebens auf die männliche Übersterblichkeit bei den externen Todesursachen in entwickelten Industriegesellschaften noch auf etwa 20 Prozent.3 Während der Massenmotorisierung und bis zum Beginn ernsthafter Verkehrssicherheitsmaßnahmen Anfang der 1970er Jahre gab es fünfmal mehr tödliche Verkehrsunfälle als heutzutage.4 Diese 2 3 4
Luy, Marc: Lebenserwartung in Deutschland. Aktuelle Daten zu Trends und Unterschieden, URL: https://www.lebenserwartung.info/index-Dateien/geschdiff.htm (letzter Zugriff: 6.5.2020). So für Industrieländer und die Zeit funktionierender Wohlfahrtsstaaten (1960/1985) geschätzt von Ingrid Waldron und Örjan Hemström, vgl. Luy (2016), S. 21. Für Schweden während der 1990er Jahre s. Hemström (2016). Siehe auch Weigl (2016), S. 62 f. Für 1970 wird ein Höchststand mit 21.332 Verkehrstoten gemeldet (weicht von späteren Angaben des Statistischen Bundesamtes leicht ab). Die Liste der sukzessive ergriffenen Maßnahmen war lang: 1970–1975: Höchstgeschwindigkeit auf Landstraßen 100 km/h (1972); 0,8-Promillegrenze (1973); Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen 130 km/h (1974). Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.): Unfallentwicklung auf deutschen Straßen 2012. Wiesbaden 2013, S. 11, online unter https://www. destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_derivate_00027073/ Unfallentwicklung_2012.pdf (letzter Zugriff: 24.3.2020). Es folgten die Helmpflicht für Motorradfahrer seit 1976, die Einbaupflicht für Dreipunktgurte 1974, Anlegepflicht auf Vordersitzen 1976. Die Nutzung des Gurtes senkte Todesfolgen bei Unfällen um 70 Prozent; bußgeldbewehrte Pflicht wurde das erst 1984. Später kam es zu einer weiteren
45
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
über 20.000 Todesfälle betrafen zu drei Vierteln Männer und hingen übrigens auch mit deren Berufstätigkeit zusammen. Die Verkehrsunfälle verursachten 1970 noch fast die Hälfte der externen Todesursachen bei Männern, mittlerweile ist es nur noch ein Achtel (ca. 13 Prozent).5
5
Absenkung der Promillegrenze auf 0,5 (1988): https://de.wikipedia.org/wiki/Straßen verkehrssicherheit#Entwicklung_der_Straßenverkehrssicherheit_in_Deutschland (letzter Zugriff: 24.3.2020). Die ersten Leitplanken wurden in Deutschland bereits seit 1955 installiert, zunächst an Schnellstraßen, Autobahnen und an besonderen Gefahrenstellen: https://www.passco. de/aktuelles/details/?L=0&tx_news_pi1[news]=278&tx_news_pi1[controller]=News&tx_ news_pi1[action]=detail&cHash=e88ddfb055b9a965bb94d600a6a30277 (letzter Zugriff: 24.3.2020). Tödliche Transportmittelunfälle von Männern (1970–2015): Jahr
Sämtliche
Männer
Prozent der Gesamtsterblichkeit
1970
20.059
14.702
3,05
Gesamtsterblichkeit 482.696
1980
15.719
11.315
2,48
455.917
1985
10.778
7.708
1,78
433.749
1995
9.574
6.970
1,70
410.663
2005
5.635
4.111
1,06
388.554
2015
3.688
2.758
0,61
449.512
Jahr
Äußere Todesursachen
davon Verkehrsunfälle (in Prozent)
1970
32.843
44,76
1980
33.726
33,55
1995
24.679
28,24
2005
20.353
20,20
2015
21.591
12,77
Quelle: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/data (letzter Zugriff: 24.3.2020). Für das Jahr 1970: Statistisches Bundesamt: Fachserie A: Bevölkerung und Kultur, Reihe 7: Gesundheitswesen 1970. Stuttgart; Mainz 1971, S. 106–112 (Verkehrsunfälle: Kategorien 800–845 der Klassifikation). Transportmittelunfälle verursachten um 1970 auch in der Schweiz und in den Niederlanden noch die Hälfte der externen Todesursachen bei Männern, mittlerweile sind es bei unserem westlichen Nachbarn noch etwa zehn Prozent, in der Schweiz noch weniger. Anteil der tödlichen Verkehrsunfälle an den externen Todesursachen von Männern: Land Schweiz, Niederlande
Zeitraum/Zeitpunkt
Anteil
1920er Jahre
10 %
Niederlande
1965
50 %
Niederlande
1996
28,7 %
Niederlande
2014
11,2 %
46
Martin Dinges
Abb. 2: Anteil der Verkehrsunfälle an den äußeren Todesursachen bei Männern (1970–2015, in Prozent)6
Seit dem Ersten Weltkrieg wurde das Verhalten immer wichtiger. Männlichkeit, Soldatsein und Rauchen wurden damals soziokulturell sehr eng verknüpft, und dies galt bis in die jüngste Vergangenheit.7 Männer rauchten seither viele Jahrzehnte lang sehr viel mehr als Frauen, was sich mit 40 Jahren Zeitverzögerung in einer überproportionalen Lungenkrebssterblichkeit seit ca. 1950 niederschlug. Diese erklärt bis in die 1990er Jahre fast die Hälfte ihrer gesamten Übersterblichkeit.
Land
6
7
Zeitraum/Zeitpunkt
Anteil
Schweiz
1974
50 %
Schweiz
1996
18,5 %
Schweiz
2007
12,5 %
Schweiz
2016
7,6 %
Quellen: Poppel/Janssen (2016); für Schweiz 1974 und den Kontext s. Junker (2016). Schweiz 1996–2016: eigene Berechnungen nach »Sterbefälle und Sterbeziffern wichtiger Todesursachen, Männer, seit 1970«: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statisti ken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.assetdetail. 7008079.html (letzter Zugriff: 24.3.2020). Vgl. https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/data (letzter Zugriff: 24.3.2020). Für das Jahr 1970: Statistisches Bundesamt: Fachserie A: Bevölkerung und Kultur, Reihe 7: Gesundheitswesen 1970. Stuttgart; Mainz 1971, S. 106–112 (Verkehrsunfälle: Kategorien 800–845 der Klassifikation). Dinges (2012).
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
47
Tab. 1: Anteil des Rauchens an der Übersterblichkeit der Männer8 Land
Zeitraum
Anteil
Niederlande
1931
58 %
Deutschland
1985/1989
46,6 %
Deutschland
1975/1994
über 45 %
Niederlande
1950/1975
80 %
Belgien, Niederlande
1950/1999
fast 60 %
Demgegenüber erklärt die Biologie derzeit etwa ein Jahr – das entspräche etwa 20 Prozent – der höheren Lebenserwartung von Frauen. Dieser Faktor ist auch über längere Zeiträume hinweg ziemlich konstant. Tab. 2: Konstanter Einfluss biologischer Faktoren auf den Gender-Gap in »Industrieländern«9 Bevölkerungsgruppe
Zeitraum
biologischer Vorteil der Frauen
Nonnen und Mönche in Deutschland und Österreich
1910–1985
ein, maximal zwei Jahre
19./20. Jahrhundert
nie mehr als 25 %
Erwachsene in Industrieländern
Die folgende Tabelle zeigt an einem Beispiel, dass sich »die Biologie« aufgrund veränderter Gesundheitsverhältnisse sehr unterschiedlich auf die Übersterblichkeit der Männer ausgewirkt hat. Ende des 19. Jahrhunderts verursachte sie noch fast ein Drittel der verlorenen Lebensjahre. Mittlerweile ist zumindest die Übersterblichkeit männlicher Säuglinge für den Gender-Gap praktisch bedeutungslos. Tab. 3: Sehr variabler Einfluss biologischer Faktoren auf den Gender-Gap in Schweden10 Bevölkerungsgruppe
Zeitpunkt
Anteil biologischer Faktoren
Übersterblichkeit männlicher Säuglinge
1895
30 % vom Gender-Gap
Übersterblichkeit männlicher Säuglinge
2010
1 % vom Gender-Gap
Die Rolle der Gesundheitsversorgung für die Erhöhung der Lebenserwartung von Männern und Frauen wird überschätzt. Entscheidend waren Bildung (Hygiene), Ernährung und Infrastrukturen.11 Nun lässt sich seit Mitte der 1980er Jahre ein Trend zur Reduzierung des Unterschieds in der Lebenserwartung, also eine genderspezifische Anglei8
Quellen: für Deutschland Luy (2016), S. 34; für die Niederlande Poppel/Janssen (2016), S. 120; für Belgien Deboosere (2016), S. 93, 106 ff. 9 1. Zeile: Luy (2016), S. 31, 33; 2. Zeile: Überblick bei Luy (2016), S. 27. 10 Hemström (2016), S. 152. 11 Mercer (2014), S. 130 und passim.
48
Martin Dinges
chung beobachten. Das liegt beim Rauchen auf der Hand. Seit den 1960er Jahren wurden die Frauen erfolgreich als Konsumentinnen beworben.12 Rauchen sollte Emanzipation signalisieren. Damals sanken die Raucherquoten bei den Männern stark, während sie bei den Frauen etwas anstiegen. Tab. 4: Gegenläufige Trends der Raucherquoten bis 1985 (Bevölkerung über 14 Jahre)13 Jahr
Männer
Frauen
1950
88 %
21 %
1985
47 %
28 %
1996
39 %
27 %
Mittlerweile schlägt sich das massiv in ihrer Lungenkrebssterblichkeit nieder. Sie stieg vom 22. auf den siebten Rang sämtlicher Todesursachen und damit von unter einem Prozent 1980 auf mittlerweile fast 3,4 Prozent. Tab. 5: Lungenkrebssterblichkeit bei Frauen14 Jahr
Gesamtsterblichkeit
davon Lungenkrebs
Anteil
Rang
1980
496.439
4.762
0,96 %
22
1990
496.352
6.795
1,37 %
14
1998
458.935
9.285
2,02 %
11
2007
436.016
12.374
2,84 %
7
2015
475.688
15.870
3,34 %
7
Zwar steuerten seit den 1970er Jahren auch viel mehr Frauen Kraftfahrzeuge, aber ihre Beteiligung an tödlichen Verkehrsunfällen blieb seit 1970 ziemlich konstant bei etwa 25 bis 28 Prozent.15 Gleichzeitig sank die Unfallzahl auf weniger als ein Fünftel, so dass diese Todesursache insgesamt und für den Gender-Gap keine große Rolle mehr spielt. Auch sonst nähern sich die Todesursachen von Männern und Frauen (immer mehr) an.
12 Dinges (2012), S. 139. 13 Walter/Lux (2007), S. 100, zum starken Schichtgradienten S. 101. Außerdem begannen Frauen während der Dekade 1950–1959 zum gleichen Zeitpunkt zu rauchen wie die männlichen Jugendlichen, während ihr Einstiegsalter während der Dekade 1930–1939 noch vier Jahre später lag. 14 Quellen: Todesursachen 1980–1998 nach http://www.gbe-bund.de unter Verwendung der (gestaltbaren) Tabelle »Sterbefälle, Sterbeziffern« (letzter Zugriff: 6.5.2020). Todesursachen 2007–2015: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/ Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/HaeufigsteTodesursachen.html (letzter Zugriff: 24.3.2020). 15 Vgl. Angaben in Anm. 5.
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
49
Abb. 3: Häufigste Todesursachen 201616
Zwar ist der Zusammenhang zwischen der Lebensführung und der zum Tod führenden Krankheit überaus komplex. Es besteht allerdings Konsens, dass die Veränderungen in der Lebenserwartung (während der letzten Generation) immer stärker mit dem Verhalten zusammenhängen. Bekannte Stichworte sind Bewegungsmangel, unausgeglichene Ernährung, Substanzmissbrauch. Männer stehen dabei besonders in der Kritik – und deshalb im Zentrum dieses Beitrages.17 Der auf sie bezogene »Defizitdiskurs« ist in sich aber ausge16 https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Todesur sachen/Tabellen/HaeufigsteTodesursachen.html (letzter Zugriff: 24.3.2020). 17 Männer haben im aktuellen Gesundheitsdiskurs in den Massenmedien einen besonders schlechten Ruf. Dort funktioniert dieser Diskurs immer noch nach dem Motto »Männliches Geschlecht ist ein Gesundheitsrisiko«. Die Gesundheitswissenschaftler Heidrun Bründel und Klaus Hurrelmann formulierten 1999 ihren Buchtitel geradezu klassisch
50
Martin Dinges
sprochen widersprüchlich: Entweder müsste die biologistische Zuschreibung, dass »das männliche Geschlecht« Ursache des Übels sei, gelten oder die neoliberal wirkende Anforderung an die Männer, sich »einfach« für ein besseres Gesundheitsverhalten zu entscheiden.18 Beides zugleich ist nicht möglich. Darüber hinaus werden die Wirkungen sozialer Ungleichheit im öffentlichen Diskurs fast völlig übersehen. Statt problematische Verhältnisse, etwa in der Arbeitswelt19, zu diskutieren, spricht man lieber ausschließlich von individueller Verantwortung, etwa nach dem Motto »Die Erklärung für die geringere Lebenserwartung ist also: Männer leben ungesund«20 – so Prof. Dr. med. Curt Diehm im »gesuendernet.de, Deutschlands Online Gesundheitsangebot Nr. 1«. Unmittelbar darauf folgen Empfehlungen für die angeblich so wichtigen Vorsorgeuntersuchungen. Diese Diskussionen geben Anlass, die Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu analysieren. Ihr Kontext ist die von Gesundheitssoziologen diagnostizierte »Gesundheitsgesellschaft«.21 Diese zeige sich zuerst an steigenden Gesundheitsausgaben. Tab. 6: Gesundheitsgesellschaft Deutschland (Ausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP))22 Jahr
Gesundheitsausgaben
1970
6,3
1980
8,4
1992
9,4
2000
10,1
2010
11,3
2017
11,5
18 19
20
21 22
»Konkurrenz, Karriere, Kollaps«: Bründel/Hurrelmann (1999). Vgl. zu diesem Defizitdiskurs Dinges: Geschichte (2018). Männer leben weiterhin risikoreicher, ernähren sich schlechter, rauchen mehr, trinken mehr Alkohol, konsumieren mehr Drogen, bringen sich viel häufiger um etc. Zuletzt Robert Koch-Institut (2014). Motto »Eine Krankheit namens Mann«: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28591080. html (letzter Zugriff: 24.3.2020). Siehe dazu DGB-Index Gute Arbeit: http://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++614dfaeabee1-11e7-98bf-52540088cada (letzter Zugriff: 24.3.2020); Arbeitsverdichtung ist eine konstante Feststellung dieser Berichte seit 2007. Der Gesamtindex bewegt sich seit 2007 (58 Prozent) bis 2017 (63 Prozent) wenig. Prof. Dr. med. Curt Diehm: Männergesundheit – warum Männer früher sterben (29. April 2016): https://www.gesuendernet.de/gesundheit/koerper-a-geist/item/1314-maenner gesundheit-warum-maenner-frueher-sterben.html (letzter Zugriff: 24.3.2020). Das ist nur ein beliebiges Beispiel von sehr vielen. Kickbusch/Hartung (2014). Angaben für 1970 und 1980: http://www.e-fi.de/fileadmin/Abbildungen_2014/TAB_02_ 2014.pdf (letzter Zugriff: 24.3.2020). Angaben für 1992 bis 2017 nach http://www.gbe-
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
51
Damit geht eine zweite Medikalisierung einher, die durch Angebote stark regulierter Märkte, eine massive Ausweitung des Sortiments pharmazeutischer Produkte und die Nachfrage aus der Bevölkerung gekennzeichnet ist.23 Teilweise handelt es sich um eine für beide Geschlechter parallel laufende Medikalisierung, bei der mehr Gesundheits- und Wellnessangebote gemacht werden und alle Bürger mit Appellen zu gesundheitsförderlichem Verhalten befasst und vom Gesundheitssystem mit Vorsorgeangeboten adressiert werden.24 Dabei wird die Verantwortlichkeit für Gesundheit zunehmend auf Individuen verlagert.25 Gesundheitsförderliches Verhalten wird so zu einem Kernbestand moderner Selbstsorge – ob als Selbstermächtigung, Biopolitik oder Selbstzwang, sei dahingestellt.26 Daneben gibt es aber auch geschlechterspezifisch unterschiedliche (De-) Medikalisierungstendenzen – wie etwa die HPV-Impfung für weibliche Jugendliche, die mittlerweile auch für männliche angeboten wird, der Wegfall der ärztlichen Untersuchung bei der Musterung wehrpflichtiger Männer oder die Hormonbehandlung bei Wechseljahresbeschwerden von Frauen oder Viagra für Männer. Man kann also auch gegenläufige Medikalisierungstendenzen beobachten. Während sich die Konkurrenz auf Arbeits- und Partnerschaftsmärkten generalisiert, sinken Sicherheiten hinsichtlich der Dauer von Beschäftigungsverhältnissen (seltenere lebenslange Arbeitsverhältnisse) und bei Beziehungen (hohe Scheidungsquote). Das verweist Menschen stärker als früher auf den eigenen Körper und seine gute – gesundheitliche und ästhetische – Form. Körperliche Attraktivität ist neben dem Gehalt, das Frauen nun öfter selbst verdienen, auch für den Marktwert von Männern wichtiger geworden.27 Die im Folgenden präsentierte Medikalisierung der Männer ist Teil dieses ambivalenten Prozesses. Ich bezeichne sie dann als nachholend, wenn
23
24 25 26 27
bund.de unter Verwendung der (gestaltbaren) Tabelle »Gesundheitsausgaben in Deutschland als Anteil am BIP und in Mio. €« (letzter Zugriff: 6.5.2020). Demgegenüber wurden die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Mitte der 1980er Jahre bis 2008 bei 6,4 Prozent vom BIP gedeckelt und stehen derzeit (2017) bei 6,6 Prozent, die der privaten Krankenversicherung bei einem Prozent (eigene Berechnung). Etwas andere Daten bieten http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/ sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Gesundheitswesen/Datensammlung/PDF-Dateien/ abbVI23.pdf (letzter Zugriff: 24.3.2020); http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/ sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Gesundheitswesen/Datensammlung/PDF-Dateien/ tabVI14.pdf (letzter Zugriff: 24.3.2020). Unter Medikalisierung wird der seit etwa 1770 ablaufende Prozess verstanden, in dem medizinische Deutungen von Phänomenen immer dominanter werden, die nicht unbedingt medizinisch erklärt werden müssten. Medikalisierung stärkt die Deutungsmacht und Rolle von Ärzten; außerdem besteht sie auch in einer immer umfassenderen Inklusion aller in das Gesundheitssystem. Die erste Medikalisierung war deutlich stärker durch staatliche Intervention geprägt. Kritisch zu Tendenzen der Gesundheitsgesellschaft Schmidt (2018), bes. S. 51 ff., und Schäfer (2018), S. 124 f. Kickbusch/Hartung (2014), S. 76 ff. Wolff (2013). Dinges (2013), S. 45 ff.
52
Martin Dinges
Männer mit einer höheren Geschwindigkeit als die Frauen Gesundheitsangebote aufgreifen und in Leistungen des medizinischen Systems inkludiert werden. Sie könnten sich dadurch dem seit langem höheren Versorgungsgrad der Frauen annähern. Nachholende Medikalisierung der Männer während der letzten 30 Jahre? Ich werde drei Aspekte herausgreifen: zunächst den Aufbau von Gesundheitsressourcen, dann den Verzicht auf gesundheitsschädliche Praktiken und schließlich die Inklusion ins Gesundheitssystem. Grundlage sind die mittlerweile regelmäßig erhobenen Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Das Robert Koch-Institut befragt dazu je nach Erhebungswelle zwischen 10.000 und 20.000 repräsentativ ausgewählte Bundesbürger. Das wird durch zwischenzeitliche Zusatzbefragungen per Telefon ergänzt. Methodik, Konfidenzintervalle etc. werden in entsprechenden Publikationen ausführlich reflektiert. Literaturstudien und internationale Vergleiche vertiefen den Kenntnisstand. Stärkung von Gesundheitsressourcen? Körperliche Bewegung ist eine wichtige Gesundheitsressource. Sie wirkt sich erwiesenermaßen risikosenkend auf koronare Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Diabetes mellitus (II), Adipositas, Osteoporose, Kolonkrebs und Rückenleiden aus; außerdem möglicherweise auf Lungenkrebs, Brustkrebs, Schlaganfall, Depression.28 Noch in den 1980er Jahren betätigten sich deutlich mehr Männer als Frauen sportlich. Aktuell ergibt sich ein erstaunliches Bild: »Sportliche Aktivität«, also mindestens zwei Stunden Sport pro Woche, stieg bei Frauen der Altersgruppe zwischen 18 und 69 bzw. 79 Jahren seit 1991 bis 2008/2011 mit 12,4 Prozent sogar etwas schneller an als bei Männern mit 10,7 Prozent. Tab. 7: Sportliche Aktivität der (18- bis 69- bzw. 79-jährigen) Befragten (in Prozent)29 Sportlich aktiv (≥ 2 Stunden)
Männer
Frauen
1991
18,6
1998
22,6 (+4,0)
15,1 (+5,9)
2008/2011
29,3 (+6,7)
21,6 (+6,5)
+10,7 %
+12,4 %
Veränderung 1991/2008–2011
9,2
28 Mensink (2003), S. 3. 29 Angaben in der Tabelle zu 1998 nach Krug u. a. (2013), S. 768; Angaben zu 1991 errechnet aus Mensink (1999), S. 129: Vergleich des Nationalen Gesundheitssurveys für
53
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018) Tab. 8: Sportliche Inaktivität der (18- bis 69- bzw. 79-jährigen) Befragten (in Prozent)30 Sportlich inaktiv
Männer
Frauen
1991
44,6
55,6
1998
46,9 (+2,3)
52,1 (-3,5)
2008/2011
33,0 (-13,9)
34,3 (-17,8)
-11,6 %
-21,3 %
Veränderung 1991/2008–2011
Außerdem sank die Zahl sportlich inaktiver Frauen mit 21,3 Prozent fast doppelt so schnell wie bei den Männern. Nunmehr befinden sich beide Geschlechter auf fast identischem Niveau: Ein Drittel der jeweiligen Population ist inaktiv. Betrachtet man sämtliche sportliche Aktivitäten, also auch die von weniger als zwei Stunden Betätigung, dann ergibt sich ein sehr ähnliches Bild: Beschleunigtes Aufholen der Frauen um die Jahrtausendwende führte praktisch zu einer gleich starken »Sportbeteiligung«. Tab. 9: Sämtliche sportliche Aktivitäten der (18- bis 79-jährigen) Befragten (in Prozent)31 Jahr
Männer
Frauen
1998
56,0
50,3
2003
61,4
60,3
2009
64,6
65,4
+8,6 %
+15,1 %
Veränderung 1998/2009
Frauen steigerten seit 1990 ihre Gesundheitsressourcen also schneller als die Männer. Damit hat sich die in den Schulen bereits während der 1970er Jahre beobachtbare »Versportlichung der Jugendphase« von Frauen längerfristig ausgewirkt und seit der Jahrtausendwende in der Alterskohorte der heute 50bis 60-Jährigen durchgesetzt. Außerdem dürften gesellschaftliche Anforderungen an das Körperbild auch älterer Frauen gewachsen sein. Neben der Bewegung wirkt sich die Ernährung auf die Gesundheit aus, insbesondere durch Vermeidung von Übergewicht. Beim Ernährungsverhalten von Frauen sind Attraktivitäts- und Gesundheitsinteressen oft schwer zu 1990/1992, der nur bis 69-Jährige einschloss, mit dem Bundesgesundheitssurvey von 1998, für den erstmals auch bis 79-Jährige befragt wurden. Angaben zu 2008/2011 nach Lampert/Mensink/Müters (2012). Siehe auch Rütten u. a. (2005), die den Status 1998 mit dem Telefonsurvey 2003 anhand folgender Fragen vergleichen: »körperlich so aktiv, dass Sie ins Schwitzen oder außer Atem geraten«; »Und wie lange (fünfstufige Antwort)«; ergänzend gefragt: »wie oft treiben Sie Sport?« Dort auf S. 9 ein Schaubild zu schichtspezifischem und geschlechterspezifischem Verhalten für 2003. 30 Angaben in der Tabelle zu 1998 nach Krug u. a. (2013), S. 768; Angaben zu 1991 errechnet aus Mensink (1999), S. 129. Angaben zu 2008/2011 nach Lampert/Mensink/Müters (2012). Siehe auch Rütten u. a. (2005). 31 Lampert/Mensink/Müters (2012), S. 108.
54
Martin Dinges
entwirren. Das gilt übrigens auch bei dem schnell wachsenden zweiten Gesundheits- und insbesondere beim Wellnessmarkt, der ganz überwiegend Frauen anspricht. Dies sollte Anlass sein, die implizite These des Männergesundheitsdiskurses zu relativieren, das Verhalten von Frauen sei durchgehend stärker auf Gesundheitsziele ausgerichtet, denn oft stehen Attraktivitätsziele im Vordergrund, die lediglich nebenbei auch Gesundheitseffekte haben. Tab. 10: Übergewicht und Adipositas in der 18- bis 69- bzw. 79-jährigen Bevölkerung (in Prozent)32 Übergewicht Jahr
Adipositas
Männer
Frauen
Männer
Frauen
1984/1986
66,0
49,5
15,5
17,1
2010
67,1
53,0
23,3
23,9
1984/1986–2010
+1,1 %
+4,5 %
+7,8 %
+6,8 %
Bei der Ernährung lässt sich im letzten Vierteljahrhundert allerdings keine entscheidende Veränderung zwischen den Geschlechtern feststellen, wie der Blick auf die Tabelle zeigt: Männer waren 1984 und sind 2010 deutlich häufiger übergewichtig, Frauen etwas häufiger adipös. Fettleibigkeit nimmt bei beiden Geschlechtern kräftig zu – von gesundheitsgesellschaftlichem Wandel keine Spur! Als Ergebnis dieses ersten Teils lässt sich festhalten: Es gab keine nachholende Medikalisierung der Männer durch Aufbau von Gesundheitsressourcen; stattdessen holten Frauen bei der Sportbeteiligung stark auf. Das galt übrigens gerade für die Älteren. Längerfristig könnte das auch ihren Vorsprung bei der Lebenserwartung stabilisieren. Reduzierung gesundheitsschädlicher Praktiken? Bei den gesundheitsgefährdenden Praktiken sind deutliche Veränderungen erkennbar. Sowohl das Rauchen wie das Alkoholtrinken waren in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts zunächst sehr stark mit Bildern von Männlichkeit assoziiert. Die Raucherquoten in der Gesamtbevölkerung sinken insgesamt seit 1992 kontinuierlich. Männer hörten seither wesentlich häufiger auf zu rauchen.33 32 Die älteren Angaben bis zum Jahr 2003 beziehen sich nur auf die bis zu 69-Jährigen. Mensink/Lampert/Bergmann (2005), S. 1354; Mensink u. a. (2013), S. 789; frühere Angaben: 1980 waren etwas mehr Männer (36,7 Prozent) als Frauen (33,9 Prozent) über 14 Jahre übergewichtig, während Adipositas insbesondere ältere Frauen betraf und häufiger als bei Männern war; fünf Prozent und mehr über dem mit dem sogenannten Broca-Index errechneten »Normalgewicht« einer Person. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1980), S. 102 f. 33 Lampert/Lippe/Müters (2013), S. 805; das sind nach der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (gbe) die aktuellsten Daten.
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
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Nach einem Vierteljahrhundert rauchten 2017 10,4 Prozent weniger, bei den Frauen lediglich 2,9 Prozent. Tab. 11: Raucherquoten (in Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre)34 Jahr
Männer
Frauen
Gesamt
1992
36,8
21,5
28,8
1995
35,6
21,5
28,3
1999
34,7
22,2
28,3
2003
33,2
22,1
27,4
2005
32,2
22,4
27,2
2009
30,5
21,2
25,7
2013
29,0
20,3
24,5
2017
26,4
18,6
22,4
1992–2017
-10,4 %
-2,9 %
-6,4 %
Dass dieser stärkere Trend bei den Männern schon früher begann, wurde oben bereits gezeigt. Der Verhaltenswandel ist besonders bei den Jüngeren sichtbar. Rauchten 1979 noch 33,4 Prozent männliche und 26,8 Prozent weibliche Jugendliche von zwölf bis 18 Jahren, so waren es 2011 nur noch 11,1 Prozent männliche und 12,4 Prozent weibliche Jugendliche. Bei den männlichen Jugendlichen ist der Rückgang seit 1979 anderthalb mal so stark wie bei den weiblichen. Mittlerweile fangen männliche sogar etwas seltener als weibliche Jugendliche an zu rauchen. Tab. 12: Raucherquoten bei Jugendlichen (12–18 Jahre, in Prozent)35 Jahr
männlich
weiblich
1979
33,4
26,8
2011
11,1
12,4
1979–2011
-22,3 %
-14,4 %
Die Geschlechterspezifik dieser gesundheitsschädlichen Praktik hat sich also innerhalb einer einzigen Generation so stark verändert, dass sie weitgehend verschwand. Bei Mädchen und jungen Frauen wirkt sich nunmehr der Wunsch, schlank zu bleiben, häufig sogar gegen eine Beendigung des Rauchens aus.36 Hier zeigt sich beispielhaft, wie das Attraktivitätsziel in Konkurrenz zu Gesundheitszielen treten kann. 34 http://www.gbe-bund.de unter Verwendung der (gestaltbaren) Tabelle »Verteilung der Bevölkerung nach ihrem Rauchverhalten« (letzter Zugriff: 6.5.2020). 35 http://www.gbe-bund.de unter Verwendung der (gestaltbaren) Tabelle »Raucherquote, Nichtraucherquote und Nieraucherquote bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Prozent der Befragten« (letzter Zugriff: 6.5.2020). 36 Dinges (2012), S. 141 f.
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Martin Dinges
Auch der riskante Alkoholkonsum sank bei 18- bis 59-jährigen Männern von 1995 bis 2012 massiv. Tab. 13: Riskanter Alkoholkonsum bei 18- bis 59-Jährigen (in Prozent)37 Jahr
Männer
Frauen
1995
26,8
15,3
2012
16,0
13,9
1995–2012
-10,8 %
-1,4 %
Abb. 4: Der schneller sinkende riskante Alkoholkonsum bei 18- bis 59-jährigen Männern38
37 Robert Koch-Institut (2015), S. 224. Der Anteil alkoholbedingter Todesfälle stieg bei Frauen schneller als bei Männern: bei Frauen von 1980 (5,6 Fälle pro 100.000) bis 2005 auf 9,0 Fälle um etwa 61 Prozent; bei Männern betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum nur noch 31 Prozent (allerdings von 19,5 auf 25,6 Fälle). Vgl. gesundheitsziele.de: Kooperationsverbund zur Weiterentwicklung des nationalen Gesundheitszieleprozesses (2015), Nationales Gesundheitsziel »Alkoholkonsum reduzieren«: http://gesundheitsziele.de//cms/medium/1246/Alkoholkonsum_reduzieren_Veroef fentlichung_150626.pdf (letzter Zugriff: 24.3.2020), S. 4. Alkoholbedingte Todesfälle pro 100.000 Einwohner: Jahr
Männer
Frauen
1980
19,5
5,6
2005 1980–2005
25,6 +31,5 %
9,0 +61 %
38 Robert Koch-Institut (2015), S. 224.
Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
57
Bleibt auch das Niveau beim Rauchen und beim Alkoholabusus bei den Männern immer noch höher als bei den Frauen, so entwickelt sich ihr Verhalten jedoch viel schneller auf gesundheitsförderliche Praktiken wie das Nichtrauchen hin. Gesundheitsschädliche Praktiken gehen bei den Männern viel stärker zurück. Man kann hier auf eine gestiegene Bereitschaft schließen, Gesundheitsbotschaften so ernst zu nehmen, dass sie sogar zu einem Verhaltenswandel führten. Das lässt sich als nachholende Medikalisierung deuten. Inklusion in die medizinische Versorgung Innerhalb der Medikalisierung gilt die Integration in die medizinische Versorgung als ein wichtiger Indikator. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland an der Spitze der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, die außerdem noch weiter steigt.39 Männer machen in Arztpraxen seit etwa 1860 ziemlich konstant nur zwei Fünftel, also 40 Prozent der Patienten aus.40 Gegenüber diesem sehr langfristigen Ungleichgewicht weist die Inanspruchnahme ärztlichen Rats bei psychiatrischen Indikationen während der letzten Jahrzehnte interessante Veränderungen auf. Survey-Daten zu den von der Person selbst bestimmten Behandlungen beim Psychotherapeuten sind besonders aussagekräftig, da sie zumeist auf freiwillige Entscheidungen zurückgehen. Tab. 14: Inanspruchnahme niedergelassener Psychotherapeuten in den letzten zwölf Monaten (18- bis 79-Jährige, in Prozent)41 Jahr
Gesamt
Frauen
Männer
Höhere Inanspruchnahme durch Frauen
1998
2,6
3,4
1,8
88,9
2010
4,3
5,3
3,2
65,6
Tab. 15: Inanspruchnahme ambulanter und stationärer Versorgung bei niedergelassenen Psychiatern in den letzten zwölf Monaten (18- bis 79-Jährige, in Prozent)42 Jahr
Gesamt
Frauen
Männer
Höhere Inanspruchnahme durch Frauen
1998
5,7
6,8
4,6
47,8
2010
8,2
9,6
6,8
41,2
39 Reibling/Schaller (2018). 40 Dinges (2007), S. 296. Zu den aktuellen altersgruppenspezifischen Unterschieden s. Grobe/Steinmann/Szecsenyi (2017), S. 57 ff. 41 Rattay u. a. (2013), S. 835. Die zum Bundes-Gesundheitssurvey 1998 gehörigen Daten wurden mir freundlicherweise von Frau Rattay vom Robert Koch-Institut übermittelt. 42 Rattay u. a. (2013), S. 835. Die zum Bundes-Gesundheitssurvey 1998 gehörigen Daten wurden mir freundlicherweise von Frau Rattay vom Robert Koch-Institut übermittelt.
58
Martin Dinges
Zunächst fällt eine erhebliche Zunahme der Inanspruchnahme von Psychologen und Psychiatern sowie Neurologen (2010) durch die gesamte Bevölkerung auf. Das verweist auf eine Entstigmatisierung psychischer Krankheit.43 Zweitens verändert sich langsam die Geschlechterverteilung: Gingen 1998 3,4 Prozent der Frauen zum Psychologen, so war es zwölf Jahre später mit 3,2 Prozent fast der gleiche Bevölkerungsanteil bei den Männern. Bei der Inanspruchnahme der Psychiater oder Neurologen wiederholt sich dieses Bild noch genauer: 6,8 Prozent der weiblichen Bevölkerung suchten sie 1998 auf, 2010 waren es 6,8 Prozent der Männer. Schon dies legt den Schluss auf eine nachholende Medikalisierung der Männer nahe. Allerdings gingen zwischenzeitlich noch mehr Frauen zu diesen Behandlern. Deshalb wird das Verhältnis zwischen den Inanspruchnahmedaten von Männern und Frauen wichtig: Gegenüber dem Ausgangsjahr 1998 verringerte sich der Vorsprung der Frauen bei beiden Spezialisten, besonders aber bei den zumeist freiwillig aufgesuchten Psychotherapeuten.
Abb. 5: Höhere Inanspruchnahme von niedergelassenen Psychotherapeuten und Psychiatern durch Frauen sinkt44
43 Dass das tatsächlich auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen hinweisen soll, ist sehr umstritten; eher handelt es sich um eine zutreffendere Diagnostizierung von Symptomen, die früher als körperlich verbucht wurden, so z. B. »Rückenschmerzen« bei Männern. Zum Hintergrund dieser Diagnosepräferenzen Schmid-Ott/Jäger (2007). 44 Rattay u. a. (2013), S. 835. Die zum Bundes-Gesundheitssurvey 1998 gehörigen Daten wurden mir freundlicherweise von Frau Rattay vom Robert Koch-Institut übermittelt.
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Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
Das spricht dafür, dass die Entstigmatisierung psychischer Krankheit bei den Männern angekommen ist: Sie hat besonders bei ihnen die Inanspruchnahme erhöht. Man könnte das auch als Lackmustest für die Veränderung von Männlichkeits(selbst)bildern deuten: Die traditionell überwiegend weiblich markierten Bilder psychischer Krankheit, die mit Schwäche assoziiert sind, werden nun eher akzeptiert. Die Mediziner erkennen und behandeln offenbar auch bei Männern diese Krankheiten jetzt häufiger.45 Es wundert nicht, dass im Gefolge solcher Behandlungen auch bei der Verschreibung von Psychopharmaka ein ähnlicher Trend zu beobachten ist. Tab. 16: Verordnungen von Psychopharmaka46 Jahr
Tagesdosen
Tagesdosen pro Frau und Jahr
Tagesdosen pro Mann und Jahr
Mehrverschreibung für Frauen
1995
1,120 Mrd.
keine Angabe
keine Angabe
»etwa doppelte Menge« = ca. 100 %
2005
1,157 Mrd.
21,3
12,6
70 %
2013
1,929 Mrd.
35,7
23,2
54 %
2015
2,200 Mrd.
37,1
24,2
53 %
2016
2,200 Mrd.
37,0
23,8
55 %
Erhielten Frauen Mitte der 1990er Jahre noch »etwa die doppelte Menge« Psychopharmaka wie die Männer, waren es 2013 nur noch 54 Prozent mehr. Dort pendelt sich der Wert seit einigen Jahren ein. Inwieweit sich längerfristig die stärkere Verschreibung von Stimulanzien für Jungen bei der Diagnose ADHS auswirken wird, ist schwer abzuschätzen. 45 Dinges: Geschichte (2018). Die Gründe für den geschlechterspezifischen Bias von – damals fast ausschließlich männlichen – Ärzten, bei Männern weniger psychiatrische Diagnosen zu stellen, sind mittlerweile für die Zeit bis 1980 in England gut untersucht durch Haggett (2015), bes. S. 144–148; S. 46 zu Konzepten über Frauen. Grundsätzlich sei die statistische Überrepräsentation der Frauen nicht aussagekräftig für Prävalenz; strukturell habe die naturwissenschaftliche Prägung der Ärzte dazu geführt, dass sie die psychischen Probleme von Männern nicht erkannten; die Ärzteausbildung thematisierte das auch nicht. Diagnosen waren stattdessen Magenprobleme wie Magenschleimhautentzündungen und Magengeschwüre. Alkoholismus wurde systematisch verkannt (das ganze Vereinigte Königreich hatte angeblich bis in die 1970er Jahre kein derartiges Problem), da Ärzte seit ihrer Ausbildung selber viel tranken und deshalb sich dahinter verbergende Probleme großzügig übersahen; psychische Gründe für gefährlichen Alkoholkonsum wurden nicht einbezogen, nur organische (Leber-)Schäden, oft im Endstadium behandelt und nur als solche betrachtet. Die Einweisung in eine Klinik erfolgte nur als Alkoholikerbehandlung, nicht aufgrund psychischer Ursachen. Generell wurden statt psychiatrischer Diagnosen, selbst wenn sie geboten waren, eher andere vergeben. 46 Schwabe/Anlauf (1996), S. 504; Schwabe/Paffrath (2007), S. 976; Schwabe/Paffrath (2014), S. 1089 (mit Werten für 2013); Schwabe/Paffrath (2016), S. 664, 772; Schwabe u. a. (2017), S. 791, S. 683–686 mit massiver Kritik an mangelnder Wirksamkeit (Placeboeffekt steht im Vordergrund) und an nicht leitliniengemäßer Verschreibung.
60
Martin Dinges
Gewöhnungseffekte an die Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten oder Stress mit Arzneimitteln werden diskutiert. Jedenfalls steigt die Neuverschreibungsrate seit 2012 nicht mehr, die Diagnose wird nunmehr häufiger durch Fachärzte gestellt und eine medikamentöse Behandlung in den Leitlinien nur noch nachrangig empfohlen.47 Die gesellschaftliche Debatte hat die Tendenz zur pharmaindustriell dominierten Medikalisierung, die durch unterschiedliche Interessen von Eltern, Lehrern und Pharmaindustrie getragen wurde und wird, offenbar abgeschwächt.
47 Die Frage einer Hypermedikalisierung der Jungen mit einer ADHS-Diagnose wäre ein eigenes Thema – dessen Skandalisierungspotential im Lichte der mittlerweile vorliegenden Daten aber etwas sinkt. Den Ausgangspunkt der späteren deutschen Debatte fasst exzellent Hart (2006) zusammen. Nach Barkmann/Schulte-Markwort (2004) lässt sich für die Zeit von 1953 bis 2007 eine steigende psychische Auffälligkeit von Kindern nicht nachweisen (n = 29 Studien). Schlack u. a. (2014), S. 822: »Die Prävalenz der ADHS in der KiGGS Welle 1 betrug 5,0 % (95 %-KI: 4,3–5,7), für Verdachtsfälle: 5,8 % (5,1–6,6). Für Jungen wurde mehr als viereinhalbmal so häufig eine ADHS-Diagnose berichtet wie für Mädchen, Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus waren mehr als zweieinhalbmal so häufig betroffen wie solche aus Familien mit hohem Sozialstatus. ADHS-Verdachtsfälle waren bei Jungen zweimal und bei Kindern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus knapp dreimal häufiger. Insgesamt wurden gegenüber der KiGGS-Basiserhebung (2003–2006) keine statistisch signifikanten Veränderungen der Diagnosehäufigkeit für ADHS beobachtet. Die aus den Krankenkassendaten berichteten Zunahmen der ADHS-Diagnosehäufigkeit spiegeln sich damit in den Daten von KiGGS Welle 1 nicht wider.« Die Krankenkassendaten belegen nach Abbas u. a.: Psychopharmaka-Verordnungen (2016) allerdings durchgehend höhere Verschreibungsraten für Jungen, insbesondere bei den bei ADHS ggf. indizierten Stimulanzien: Neuempfänger von Psychopharmaka im Jahr 2012 und Veränderung gegenüber 2006: Arzneimittelgruppe
Jungen
Mädchen
Gesamt
mehr für Jungen (Veränderung gegenüber 2006)
Psycho(ana)leptika*
21.289
14.222
35.511
19,9 %
Antipsychotica
3.149
1.479
4.628
36,1 %
Antidepressiva
2.608
3.956
6.564
weniger: 20,5 %
11.401
3.740
15.141
50,6 %
Stimulanzien
*ohne pflanzliche/homöopathische Mittel Abbas u. a.: Psychopharmaka-Verordnungen (2016), S. 396: »Nur die Neuverordnungsraten der Stimulanzien nahmen signifikant zu, und die der Hypnotika sowie Sedativa signifikant ab von 2006 auf 2012 […].« Stimulanzien: Die Prävalenzen haben sich von 2004 auf 2009 von 10,5 auf 19,1 Promille erhöht und dort nun eingependelt (also weitergeführte Dauermedikation), Inzidenzen (Neuverordnungen) sinken seit 2008 von 4,6 auf 3,6 Promille und werden immer häufiger von Fachärzten verschrieben. Die Hauptgruppe der Betroffenen sind 7- bis 10-jährige Jungen; Jungen bekamen in allen Arzneigruppen außer den Antidepressiva mehr als Mädchen verschrieben (Hauptgruppe der Betroffenen sind 14- bis 17-jährige Mädchen). Siehe auch Abbas u. a.: Antipsychotika (2016).
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Die Bedeutung der Kategorie Gender für Gesundheitschancen (1980–2018)
Sehen wir uns abschließend sämtliche Arzneiverschreibungen für die gesetzlich Versicherten unter geschlechterspezifischen Gesichtspunkten an. Auch hier bestätigt sich diese Tendenz, sogar für einen noch längeren Zeitraum. Tab. 17: Arzneiverschreibungen für GKV-Versicherte (in definierten Tagesdosen = DDD, nur erstattungsfähige Medikamente)48 Jahr
durchschnittl. DDD
Männer
Frauen
Mehrverschreibung für Frauen
1987
358
276
429
56 %
1992
422
327
505
54 %
1995
430
355
496
40 %
2005
403
361
439
22 %
2013
549
501
592
18 %
2016
575
522
621
19 %
Die Mehrverschreibung für Frauen lag im Jahre 1987 bei 56 Prozent, sank seither auf derzeit noch 19 Prozent. Männer bekommen mittlerweile von Ärzten nicht mehr so viel weniger Arzneien verschrieben wie noch vor einem Vierteljahrhundert.49 Möglicherweise wurde auch hier in der Dekade ab 2005 mit knapp 20 Prozent Mehrverschreibung für Frauen ein Sockel erreicht.
48 Schwabe/Paffrath (1988), S. 385 (für 1987); Schwabe/Paffrath (1993), S. 502, 504 (für 1992); Schwabe/Anlauf (1996), S. 499, 503 (für 1995); Schwabe/Paffrath (2007), S. 966, 974; Schwabe/Paffrath (2014), S. 1080, 1087; Schwabe u. a. (2017), S. 785, 790. 49 Die besonders starke Annäherung zwischen 1995 und 2005 erklärt sich teilweise durch das Ausscheiden vieler Mittel aus der Erstattungsfähigkeit der GKV, was die Frauen besonders betraf. Alle Aussagen beziehen sich auf die Mengen, nicht die Preise. Inwieweit sich hier auch die Alterung der Bevölkerung auswirkt, ist schwer abzuschätzen. Alte Menschen bekommen insgesamt mehr Arzneimittel verschrieben, vor allem im letzten Lebensjahr – das wirkt sich lediglich auf die Gesamtmenge aus. Die Anzahl der Hochbetagten stagnierte zwischen 1990 und 2000, stieg aber zwischen 2000 und 2010 in der Gesamtbevölkerung erheblich von 3,8 Prozent auf 5,2 Prozent (4,2 Mio. Personen) an: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Alter-Rente/ Datensammlung/PDF-Dateien/abbVIII1d.pdf (letzter Zugriff: 24.3.2020). Das kann einen Teil der Mehrverschreibung erklären. Wegen der Übersterblichkeit der Männer gab es 2011 doppelt so viele hochbetagte Frauen (2,92 Mio.) in der Gesamtbevölkerung wie Männer (1,48 Mio.), allerdings steigt deren relativer Anteil nun langsam an und verdoppelt sich etwa in der Bevölkerungsvorausberechnung bis 2060. Die Angaben zu 2011, dort fälschlich verzehnfacht, bei Roloff, Juliane: Hochbetagte Frauen und Männer in Deutschland – ein statistischer Vergleich: https://www.dasgleichstellungswissen.de/hoch betagte-frauen-und-männer-in%C2%A0deutschland-ein-statistischer-vergleich-teil-1. html?wa=IPGLB18 (letzter Zugriff: 24.3.2020).
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Martin Dinges
Fazit Während der letzten 30 Jahre lässt sich einerseits eine fortgesetzte parallele Medikalisierung beobachten: Die Inanspruchnahme des medizinischen Systems steigt bei beiden Geschlechtern; Männer und Frauen treiben mehr Sport, Letztere haben die Gesundheitsressource Bewegung sogar schneller weiterentwickelt als Männer. Eine nachholende Medikalisierung der Männer zeigt sich vor allem bei der Beendigung oder der Reduzierung gesundheitsschädlicher Praktiken wie Rauchen und riskanter Alkoholkonsum. Außerdem suchten sie vermehrt Hilfe bei psychischen Problemen nach, auch wenn dort seit einigen Jahren ein gewisser Schwellenwert erreicht zu sein scheint. Im Rahmen der sich ändernden Geschlechterverhältnisse haben demnach offenbar viel mehr Männer das Thema Gesundheit für sich entdeckt, als das bisher im Männergesundheitsdiskurs in den Medien wahrgenommen wird.50 Dieser betont weiterhin einseitig die Defizite. Statt männliches Geschlecht essentialistisch zum Gesundheitsrisiko zu erklären, wäre eine stärkere Beachtung von geschlechterspezifischen Gesundheitslebensstilen wünschenswert.51 Dabei müsste stark sozial differenziert werden, denn die nachholende Medikalisierung der Männer ist bisher in der Unterschicht noch (fast) nicht angekommen.52 Das zeigt sich bei den immer noch geringeren Gesundheitsressourcen, beim Übergewicht und der Adipositas, schon bei Kindern, bei gesundheitsschädlichen Praktiken, bei der geringeren Inanspruchnahme der psychologisch-psychiatrischen Versorgungsangebote, bei der höheren Suizidrate und insbesondere beim Rauchen. Auch generell nimmt die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland – wie in vergleichbaren Ländern – seit der Jahrtausendwende zu.53 Jedenfalls ist das Geschlecht allein während der letzten 30 Jahre zur Vorhersage des Gesundheitsstatus einer Person eine weniger aussagekräftige Variable geworden.54 Das dürfte an der beschleunigten Angleichung gesellschaftlicher Erwartungen an Männer und Frauen und an ähnlicher werdenden Anforderungen in Arbeitswelt und Familien liegen. Damit geht offenbar ein 50 Engels/Seikowski (2018), S. 248, betonen anhand der Ergebnisse einer kleinen Umfrage auch, dass gesundheitsbewusstes Verhalten in einem Bereich nicht unbedingt Rückschlüsse auf andere Bereiche zulässt. 51 Zu Gesundheitslebensstilen s. Hoffmann (2010), S. 398–406. 52 Den aktuellen Hintergrund zu Armut und Gesundheit bieten Lampert u. a. (2017); weitere Daten in Robert Koch-Institut (2015), S. 148–156. Für die längerfristige Entwicklung detailliert Robert Koch-Institut (2007), S. 83–90; S. 84 mit dem Befund, dass Zigarettenkonsum, Übergewicht und Adipositas in den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen seit Mitte der 1980er Jahre überproportional gewachsen seien. 53 Lampert u. a. (2018), S. 6 zur Selbsteinschätzung, S. 11 zur Lebenserwartung, S. 13 zum Rauchen, S. 17 Gesamtergebnis. Sehr ähnliche Befunde liegen auch für Österreich vor: Klotz/Doblhammer (2008), S. 1775; Klotz/Asamer (2014), S. 213 (Dank an Andreas Weigl für diesen Hinweis). 54 Dinges: Paradigmen (2011).
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eher gesundheitsförderlicher Verhaltenswandel einher.55 Diese grundlegenden Trends dürften sich in den nächsten Jahren fortsetzen. Wie groß demgegenüber die Bedeutung des schnell wachsenden zweiten Gesundheitsmarkts mit Wellness, Gesundheitsprodukten, Schönheitsoperationen etc. ist, in dem fast ausschließlich Frauen adressiert werden, steht dahin.56 Bibliographie Abbas, Sascha u. a.: Psychopharmaka-Verordnungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesweite Auswertung von über 4 Millionen gesetzlich Versicherten von 2004 bis 2012. In: Deutsches Ärzteblatt International 113 (2016), S. 396–403, DOI: 10.3238/arztebl. 2016.0396. Abbas, Sascha u. a.: Antipsychotika bei Kindern in Deutschland. In: Klauber, Jürgen u. a. (Hg.): Versorgungsreport 2015/2016. Schwerpunkt: Kinder und Jugendliche. Stuttgart 2016, S. 117–135. Barkmann, Claus; Schulte-Markwort, Michael: Prävalenz psychischer Auffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – ein systematischer Literaturüberblick. In: Psychiatrische Praxis 31 (2004), S. 278–287, DOI: 10.1055/s-2003–814855. Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus: Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Stuttgart 1999. Deboosere, Patrick: The evolution of the gender gap in life expectancy in Belgium and the smoking epidemic (1841 to 2013). In: Dinges, Martin; Weigl, Andreas (Hg.): Gender-Specific Life Expectancy in Europe (1850–2010). Stuttgart 2016, S. 89–109. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V (Hg.): Ernährungsbericht 1980. Frankfurt/Main 1980. Dinges, Martin: Immer schon 60 % Frauen in den Arztpraxen? Zur geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme des medizinischen Angebotes (1600–2000). In: Dinges, Martin (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800-ca. 2000. Stuttgart 2007, S. 295–322. Dinges, Martin: Veränderungen der Männergesundheit als Krisenindikator? Deutschland 1850–2006. In: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 19 (2008), S. 107–123. Dinges, Martin: Die Gesundheit von Jungen und männlichen Jugendlichen in historischer Perspektive (1780–2010). In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29 (2011), S. 97–121. Dinges, Martin: Medizin- und gesundheitsgeschichtliche Paradigmen zur geschlechterspezifischen Ungleichheit in der Zeit seit ca. 1750: Von kontrastiv konzipierter Ungleichheit zu intersektional bestimmten Gesundheitsstilen? In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22 (2011), S. 8–49. 55 Ob Verstädterung bzw. das Leben in »Metropolen« – immerhin ein globaler Trend – weiterhin mit einem erhöhten Gender-Gap zusammenhängen wird, wäre weiter zu verfolgen. Die aktuellen schwedischen Daten deuten in diese Richtung. Hemström (2016), S. 161, beziffert die Erhöhung des Gender-Gaps für schwedische Großstädte für die Periode 2006/2010 mit 15 bis 20 Prozent. Sam Willner hatte für die 20- bis 49-jährige Bevölkerung in Schweden während der 1910er Jahre sogar einen ca. 50 Prozent größeren Gender-Gap errechnet: Willner (2016), S. 138. 56 Definition des zweiten Gesundheitsmarkts: alle gesundheitsrelevanten Dienstleistungen und Waren, die nicht von einer privaten oder gesetzlichen Krankenkasse im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen oder durch Steuern finanziert werden. Umsatz mittlerweile (2017) fast ein Viertel des gesamten Gesundheitsmarktes: http:// www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-gesundheitsbranche-floriert-14917294.html (letzter Zugriff: 24.3.2020).
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 67–82, FRANZ STEINER VERLAG
Arbeiterschaft und Gesundheit in der Bundesrepublik Deutschland. Vom »Wirtschaftswunder« zur »Humanisierung« Nina Kleinöder Summary Workforce and health in the Federal Republic of Germany. From ‘economic miracle’ to ‘humanization’ While the Federal German workforce participated in multiple ways in the ‘economic miracle’ of the 1950s, the question as to whether this also applies to the health of the working population remains open. An epidemiological examination of the world of work does indeed reveal an opening gap. This essay examines which particular risks divided the (industrial) workforce from the remaining working population. In principle, all workers benefitted long-term from the social changes that occurred in the working world between the 1950s and the 1980s, but the health risks changed considerably and industry-specifically over the decades.
Einführung Spätestens mit dem sogenannten Wirtschaftswunder partizipierte auch die bundesrepublikanische Arbeiterschaft – wie es etwa jüngst Marcel Boldorf formulierte – an »ungekannte[n] Wohlfahrtseffekte[n]«, die sich nicht nur in materieller Lohn- und Konsumsteigerung, sondern sukzessive auch in qualitativer Lebenszeit, unter anderem durch eine verkürzte Arbeitszeit, niederschlugen.1 In den folgenden Jahrzehnten verbesserter Normalarbeitsverhältnisse, einer neuen sozialen Sicherheit, einer wachsenden betrieblichen Mitbestimmung und von Flächentarifverträgen schien auch das ehemalige »Proletariat« in der deutschen Wohlstandsgesellschaft angekommen zu sein.2 Doch gilt dieses vielfach als »Fahrstuhleffekt« (Ulrich Beck) beschriebene Phänomen breiter gesellschaftlicher Schichten auch für die Gesundheit der Erwerbstätigen?3 HansUlrich Wehler hat in seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (2008) die seit den 1980er Jahren in der Forschung intensiv diskutierte Frage der sozialen 1 2
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Boldorf (2018), S. 117. Vgl. u. a. in der Übersicht Wehler (2008); mit Blick auf den Forschungsstand v. a. der 1980er Jahre zu sozialen Unterschieden und Angleichungsprozessen zwischen Arbeitern und Angestellten u. a. Mooser (1993), S. 362 f.; vgl. zum sinkenden Arbeitsvolumen in der langfristigen Perspektive der Industrialisierung Schildt (2006). Beck (1986), S. 122. Vgl. zu »Schichtungsanalysen« sozialer Ungleichheit und Gesundheit in der Übersicht der Soziologie Hradil (2006), S. 34–43.
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Ungleichheit für die gesellschaftlichen Neuordnungsprozesse noch einmal zusammengefasst. Er verweist auf die Diskrepanz vom »Aufstieg der Arbeiterschaft aus dem Proletariat« zwischen unleugbaren »Wohlfahrtsgewinn[en]«4 und der Kontinuität von Gesundheitsrisiken sowie auf die Benachteiligungen in der Erwerbstätigkeit von Frauen, Migranten und insbesondere Migrantinnen5. Nicht zuletzt im Kontext aktueller Debatten um Wertewandel, Individualisierung, aber auch des neuen Forschungsbooms um Konzepte von »Prävention« und »Vorsorge«6 ist eine Dynamik in der Bearbeitung arbeits- und arbeiterhistorischer Fragestellungen zu beobachten. Daher scheint es angebracht, auch nach den Auswirkungen auf die Arbeitergesundheit im und »nach dem Boom«7 zu fragen. Tatsächlich offenbart sich bei einer epidemiologischen Betrachtung der Arbeitswelt bis heute eine Spreizung der Erwerbstätigen: Wie Rainer Müller bereits in den 1980er Jahren herausstellte, unterscheidet sich die (industrielle) Arbeiterschaft durch ihre körperlich belastende Tätigkeit in ihren Gesundheits- und Lebensrisiken signifikant von anderen Teilpopulationen. Dies findet seinen statistischen Niederschlag vom unmittelbaren Unfallgeschehen bis in die durchschnittliche Lebenserwartung.8 Höchstwerte von bis zu knapp drei Millionen Arbeitsunfällen jährlich (1961) zeigen ein grundlegendes gesundheitliches Risiko durch die Ausübung einer gewerblichen Erwerbstätigkeit. Besonders drastisch war und ist dabei das Risiko eines tödlichen Arbeitsunfalles vor allem in den gewerblichen Berufsgenossenschaften (um 1960 noch über 3.000 jährlich).9 In diesem Beitrag wird daher im Anschluss an die bisherige Forschung skizziert, ob und welche besonderen Risiken die (industrielle) Arbeiterschaft von der übrigen Erwerbsgesellschaft möglicherweise unterscheiden – oder zugespitzt gefragt: Waren sie Träger des gesamtgesellschaftlichen, wirtschaftlichen Aufschwungs auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit?10 Oder stimmt es, dass mit Annäherung von (klein-)bürgerlichen Schichten und Arbeitermilieus die klassische Trennlinie zwischen Arbeitern und Angestellten auch im Bereich der Gesundheit zunehmend verschwand?11 Dabei werden Quellen- und Methodenprobleme herausgearbeitet.
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Wehler (2008), S. 157. Vgl. Wehler (2008), S. 153–162. Vgl. u. a. Lengwiler/Madarász (2010); Pfütsch (2017); Schenk/Thießen/Kirsch (2013); Thießen (2017). 7 Doering-Manteuffel/Raphael (2008). 8 Vgl. Rainer Müller (1985), S. 224. Siehe u. a. auch Himmelreicher u. a. (2008); zur »sozialen Ungleichheit vor Krankheit und Tod« grundsätzlich Spree (1981), insbesondere S. 93–115. 9 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2017), Abb. 6, S. 32, und Abb. 9, S. 34. 10 Vgl. auch Kuhn/Göbel (2003). 11 Vgl. dazu auch Widerspruch bzw. Relativierung u. a. bei Wehler (2008), S. 153–162; Löffler (2007), S. 30–36.
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Historischer Ausgangspunkt In der historischen Betrachtung der Gesundheitsgefahren im Arbeitsleben ist zunächst grundsätzlich zwischen plötzlich eintretenden Verletzungen durch Arbeits- und Wegeunfälle sowie den langfristigen gesundheitlichen Schädigungen durch Berufserkrankungen zu unterscheiden. Die Gefahren für das höchste »Gut« des Arbeiters, nämlich seine körperliche Unversehrtheit, sind vielfältig: Dies reicht von starken körperlichen Belastungen und damit verbundenen unmittelbaren Schäden etwa des Muskel-Skelett-Systems bis zu einer langfristigen Schädigung der Organe (etwa über die Einwirkung von Giftstoffen oder auch Emissionen wie Lärm). Hinzu kommen vor allem Krankheiten des Kreislaufsystems und psychische Störungen, die u. a. als Folgen von Stress, Monotonie, Schichtarbeit und ähnlichen Begleiterscheinungen der Erwerbstätigkeit zugeordnet werden.12 Am Ausgangspunkt des Betrachtungszeitraumes, den 1950er Jahren, befand sich die bundesrepublikanische Wirtschaft in einem Stadium höchster Wachstumsraten.13 Dies blieb nicht ohne Folgen für die Beschäftigten: Spätestens mit der Vollbeschäftigung seit Ende der 1950er Jahre stieg nicht nur der Arbeitsdruck des Einzelnen, sondern mit zunehmendem Arbeitskräftemangel änderte sich die grundsätzliche Zusammensetzung der Erwerbstätigen mit der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch einmal gewaltig.14 Hinzu kamen wachsende Tendenzen einer Technisierung und Automation, die den Wandel der täglichen Arbeitswelt verstärkte.15 Zum Ende des Betrachtungszeitraumes, also den 1980er Jahren, waren viele körperlich belastende Tätigkeiten maschinell ersetzt worden, dafür jedoch andere Tätigkeiten und Belastungen, etwa im Umfeld der EDV, aufgekommen. Dieser Wandel schlug sich auch in einer wachsenden Thematisierung von Ergonomie und einer sogenannten Humanisierung der Arbeitswelt nieder, die schließlich in neue Wege der Prävention und Individualisierung16 mündete: Glichen sich Arbeitswelten von Angestellten im Büro und Maschinenführern in Produktionshallen dabei sogar zunehmend an? Klar ist: Die Gesundheitsgefahren waren nicht gänzlich verschwunden, sie verschoben sich vielmehr zusehends in den Bereich psychischer Belastungen. Und auch die Anzahl schmutziger und gefährlicher Arbeitsplätze wurde zwar verringert, sie waren jedoch keineswegs
12 Vgl. in der Übersicht die jährlich von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) publizierten Berichte »Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit«; aus historischer Sicht u. a. Ahlheim (2018); Kury (2012); Radkau (1998). 13 Vgl. zu den unterschiedlichen Erklärungsansätzen des »Wirtschaftswunders« in der Übersicht u. a. Abelshauser (2005), S. 275–288. 14 Vgl. u. a. ausführlich zu den »Arbeitswelten türkischer Migranten« Hunn (2005), S. 212– 276; sowie mit explizitem Bezug zu gesundheitlichen Fragestellungen u. a. jüngst TopalCevahir (2018). 15 Vgl. u. a. zu den Auswirkungen in der praktischen Arbeitswelt Hindrichs u. a. (2000). 16 Vgl. dazu etwa Lengwiler/Madarász (2010).
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vollständig verschwunden.17 Insgesamt deutet sich an, wie komplex die Frage des Zusammenhangs zwischen Erwerbstätigkeit und Krankheit ist. In der Anerkennung von Berufskrankheiten spielte die Nachweispflicht und damit die unmittelbare Kausalität von Gefahr bzw. Schädigung und Entschädigung eine zentrale Rolle, die etwa von Rainer Müller und Dietrich Milles seit den 1980er Jahren kritisch hinterfragt wurde: Die historische Entwicklung der Gutachtermedizin im Kontext des Berufskrankheitenverfahrens zeigte, wie schwierig die Etablierung einer systematischen Prävention von arbeitsbedingten Erkrankungen war und ist. Sie beschäftigte sich in dem langwierigen, oft Jahre dauernden Verfahren wesentlich mit Rekonstruktionen. Im Sinne der klinischen Medizin wird im Nachhinein nach monokausalen Zusammenhängen zwischen Lohnarbeit und Krankheit geforscht, und zwar immer im Einzelfall.18
Dieser Hinweis ist auch für die historische Aufarbeitung äußerst wichtig, denn es ist schwierig, retrospektiv eindeutige Aussagen über den Zusammenhang von Erwerbstätigkeit und konkretem Gesundheitszustand zu treffen. Dies gilt umso mehr für den statistischen Bereich: Wie kann man Auswirkungen und Bezüge von Erwerbstätigkeit und Gesundheitsbelastung überhaupt messen? Zahlreiche Studien belegen historisch wie aktuell die »soziale[] Ungleichheit der Lebenserwartung in Deutschland«19, denn »[m]it der beruflichen Stellung und der Position innerhalb der betrieblichen Hierarchie sind typische Ungleichheiten im Hinblick auf die Belastungen in der Arbeitswelt verbunden«20. Eine jüngere Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2008 zeigte, »dass GRV-Rentner [gesetzliche Rentenversicherung] mit höheren Anwartschaften und/oder höherem sozialen Status tendenziell höhere Lebenserwartungen aufweisen«. Dies gilt auch im Vergleich europäischer Staaten, indem generell »die Lebenserwartung mit höherer Bildung und einer höheren beruflichen Stellung steigt«.21 Die Analysen zeigen aber auch, dass Gesundheitsrisiken und die damit verbundene Lebenserwartung eben nicht nur an die unmittelbare Tätigkeit selbst, sondern auch an weitere Begleitumstände gekoppelt sind, wie etwa Eingangstests und Selektion zu Beginn einer Beamtenlaufbahn, aber auch eine bessere Krankenversorgung der privaten Krankenversicherung. Wichtig ist, dass die generell höhere Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit auch Auswirkungen auf Lebensführung und Lebenserwartung haben: Denn, so stellte der Bericht auch fest, bei einem »höheren Lebensarbeitseinkommen« ist davon auszugehen, »dass sie [die Rentner und Pensionäre – N. K.] während ihres Erwerbslebens weniger existenziellen Risiken ausgesetzt waren«.22 Es ist also 17 Vgl. Wehler (2008), S. 155. 18 Milles/Müller (2002), S. 47. 19 Himmelreicher u. a. (2008), S. 274. Vgl. u. a. auch Unger (2003), S. 15; Lampert/Kroll (2015); historiographisch Rainer Müller (1985). 20 Schneider (2002), S. 51. 21 Himmelreicher u. a. (2008), S. 274. 22 Himmelreicher u. a. (2008), S. 279.
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Vorsicht geboten, Lebenserwartung und Lebensarbeitseinkommen und die Stellung im Beruf in ein direktes kausales Verhältnis zu setzen, das sich allein auf die Arbeitsbedingungen stützt. Dies gilt auch für die Berücksichtigung von (Früh-)Invaliditäts-Risiken.23 Neben den »[p]rimäre[n] Effekte[n]« mit »unmittelbare[n] Wirkungen von Arbeitsbedingungen und Belastungen«24 sind vielmehr alle Komponenten bei der unterschiedlichen gesundheitlichen Risikobewertung zu berücksichtigen, auch wenn sie unzweifelhaft miteinander verwoben sind25. So ist »die Forschung bis heute noch weit davon entfernt […], eine eindeutige Erklärung für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit liefern zu können«.26 Branchenspezifische Zugänge Daher lohnt der Blick in die Statistiken, um als ersten historiographischen Zugang eine Tendenz dieser Entwicklungen nachzuzeichnen. Dies ist zugleich ein problematisches Unterfangen, da aufgrund einer fehlenden »berufsbezogene[n] Sterblichkeitsstatistik«27 sich schon die oben zitierte Forschung der 1980er Jahre allein auf Zahlen aus Großbritannien und Frankreich beziehen musste28. Dieses Desiderat dauert bis heute weiter an.29 Zwar ist wiederholt in der Literatur die in der Darstellung für England und Wales eindeutige Ungleichheit im Sterblichkeitsindex auch für Deutschland konstatiert worden. Eine ähnlich eindeutige Übersicht bzw. regelmäßige Berichterstattung zu Sterblichkeitsziffern besteht in Deutschland jedoch nicht.30 Ich versuche in diesem Beitrag daher, dieses Desiderat vorläufig mit spezifischen Daten zu Berufskrankheiten und Unfällen der einzelnen Berufsgenossenschaften in einem ersten Ansatz weniger quantitativ als vielmehr qualitativ zu schließen.31
23 Vgl. Oppolzer (1993), S. 133–135. 24 Oppolzer (1993), S. 140. 25 Vgl. zu den »sekundäre[n] Effekte[n] der Arbeitswelt auf die Gesundheit« Oppolzer (1993), S. 147–156. 26 Richter/Hurrelmann (2007), S. 6. Vgl. dazu auch das Zusammenwirken von »materielle[n], verhaltensbezogene[n] und psychosoziale[n] Faktoren« in der schematischen Übersicht bei Richter/Hurrelmann (2006), S. 20 f. Die Daten basieren dabei jedoch vorwiegend auf jüngeren Erhebungen wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), die jedoch nicht in den hier betrachteten Zeitraum zurückreichen. Vgl. exemplarisch etwa Unger/ Schulze (2013); Lampert/Kroll (2015). 27 Rainer Müller (1985), S. 224. 28 Rainer Müller (1985), Tab. 8, S. 225. 29 Vgl. für aktuelle, verfügbare Datenreihen das Statistikportal der Deutschen Rentenversicherung, URL: https://statistik-rente.de/drv/ (letzter Zugriff: 23.3.2020). 30 Vgl. Rainer Müller (1985), S. 224. Siehe zu dieser Lücke in der amtlichen Statistik auch Oppolzer (1993), S. 128. 31 Folgende Datengrundlage: Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), Übersicht Arbeitsunfälle usw. und Berufskrankheitengeschehen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften, 1950–2016 (Auskunft der DGUV vom 13.6.2018).
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Die gewerblichen Arbeitsunfälle stiegen absolut und relativ (bezogen auf 1.000 Vollarbeiter) jährlich von 1950 bis zu einem Höchststand von fast 2,5 Millionen im Jahr 1961 an (137,8 Unfälle je 1.000 Vollarbeiter). Entsprechend vervielfachten sich auch die neuen Arbeitsunfallrenten bis 1962 auf über 60.000 Neufälle jährlich (3,515/1.000 Vollarbeiter). Zeitgleich wurde auch der letzte Höchststand der tödlichen Arbeitsunfälle (über 3.500 im Jahr 1962) erreicht. Spätestens seit Beginn der 1960er Jahre wuchs damit der Handlungsdruck auf Politik und Arbeitgeber. Entsprechend wurden ab den 1960er Jahren umfassende Reformen in der Arbeitsschutzgesetzgebung angekündigt, die dann in den 1970er Jahren etwa in der Verabschiedung des Arbeitssicherheitsgesetzes (1973) oder dem neuen Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA, 1974) gipfelten.32 Interessant bei dieser Entwicklung ist aber auch, dass die Zahlen seit Beginn der 1960er Jahre bereits rückläufig waren, noch bevor die eigentlich umfassende legislative Intervention einsetzte. Die Hochkonjunktur der deutschen Wirtschaft setzte sich in diesem Zeitraum (mit Ausnahme der Bergbaukrise) zunächst noch weiter fort.33 Der Rückgang der Unfallzahlen ist also auch auf andere Ursachen als ein rein legislatives Eingreifen oder das Nachlassen des allgemeinen Produktionsdrucks zurückzuführen. Diese ersten statistischen Überlegungen deuten damit an, wie wichtig ein differenziertes Bild des Ursachenzusammenhangs und die Trennung der tatsächlichen Unfallentwicklung von politischen Reaktionen und Maßnahmen sind. Hier steht die historische Forschung gerade erst am Anfang. Noch deutlicher wird dies bei der folgenden exemplarischen Betrachtung der einzelnen Berufskrankheiten. Im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre waren die Zahlen der von einer Berufskrankheit betroffenen Personen hoch und schwankend. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Jahre mit der Neuanerkennung von bestimmten Krankheiten, z. B. 1953. Die 1952 erlassene fünfte Berufskrankheitenverordnung »erleichterte vor allem die Entschädigung der Silikose. […] Die Zahl der entschädigten und gemeldeten Berufskrankheiten nahm in der Nachkriegszeit zu und erreichte nach Inkrafttreten der Fünften Verordnung ihren Höchststand.«34 Fast drei Viertel der angezeigten (rund 55.000) und entschädigten (rund 15.000) Erkrankungen waren Silikosefälle.35 Diese gingen zum großen Teil noch auf Ursachen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit zurück, und damit war eine Vielzahl der Entschädigungen der frühen BRD also das Ergebnis eines gewissen Verzögerungs- und Nachholeffekts: Grundsätzlich hatte sich damit 32 Vgl. dazu als Überblick die Beiträge von Stefan Müller und Nina Kleinöder in Kleinöder/Müller/Uhl (2019). Die Planungen zum Forschungsprogramm setzten bereits 1972 ein. 33 Vgl. Abelshauser (2005), S. 288. 34 Dietrich (1999), S. 7. 35 Dietrich (1999), S. 308. Aufgrund der einsetzenden technischen Entstaubung wurde die Silikose jedoch auch bis zum Ende der 1950er Jahre ein stark rückläufiges Phänomen. Vgl. Dietrich (1999), S. 309 f., und ausführlicher Trabalski (2017).
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[d]as Risiko, an einer Berufskrankheit zu erkranken, […] in der Bundesrepublik, verglichen mit der Vorkriegszeit, erhöht. Dies galt nicht nur für Erkrankungen, die durch längerfristige Einflüsse entstanden, sondern auch für Erkrankungen durch kurzfristige Einflüsse, wie Hauterkrankungen und Vergiftungen.36
Rückläufig dagegen waren insbesondere die Zahlen der schwereren Erkrankungen; ein Trend, der sich auch bei der Betrachtung der Arbeitsunfälle bestätigt. Dieser Rückgang wurde dann in den 1960er Jahren besonders deutlich, da gerade den kurzfristig auftretenden Erkrankungen damals neue Schutzmaßnahmen effektiv entgegentraten. Längerfristige Probleme und dauerhafte Belastungen blieben in dieser Zeit vor allem Lärm und Asbest. Die bis dahin geringen Erkrankungs- bzw. Anerkennungszahlen verzögerten ein umfassendes Risikoverständnis. Die Folgen zeigten sich dann in den 1970er Jahren umso deutlicher.37 Eine grobe Orientierung bietet auch die Betrachtung der Entschädigungsquote, also das Verhältnis von gemeldeten und tatsächlich entschädigten Fällen mit Hinweisen auf die jeweilige Entschädigungspraxis. Grob kann hier festgehalten werden, dass sich die Quote insbesondere nach verabschiedeten Verordnungen erhöhte, wie in den 1950er Jahren die Nachholeffekte der Silikosefälle, zu Beginn der 1970er Jahre die zunehmende Anerkennung von Lärmschwerhörigkeit sowie in den späten 1980er Jahren die wachsende Zahl der Asbestfälle zeigen. Generell lag die Entschädigungsquote in der BRD dabei zunächst höher als vor dem Zweiten Weltkrieg, nämlich bei rund 20 bis 25 Prozent. Seit Ende der 1960er Jahre zeichnet sich jedoch eine fallende Tendenz ab, und die Quote sank zuletzt (im Jahr 2015) auf unter sieben Prozent.38 Der Wandel der Arbeitswelt zeigt sich auch in der Verteilung der Berufskrankheiten nach Geschlechtern: So waren Frauen 1965 insgesamt noch deutlich seltener von Berufskrankheiten betroffen (etwa jede zehnte gemeldete Berufskrankheit). Ihre häufigsten Erkrankungen lagen im Bereich der Infektionskrankheiten (v. a. Tuberkulose, insbesondere auch als Spätfolgen schlechter hygienischer Verhältnisse, etwa während des Krieges). Dies ist auch auf ihre anteilig erhöhte Tätigkeit im Gesundheitswesen zurückzuführen, hinzu kam die wachsende Bedeutung etwa von Sehnenscheidenentzündungen als Folge der zunehmenden Büroarbeit.39 Insgesamt, so stellte Gerhilt Dietrich bereits in den 1990er Jahren fest, wurde »[d]as Berufskrankheitengeschehen […] im gesamten Zeitraum (1925 bis 1965) von wenigen Berufskrankheiten dominiert. Auf nur sieben Berufskrankheiten entfielen 79 % aller gemeldeten und 93 % aller entschädigten Berufskrankheiten […].«40 Den Schwerpunkt bildete die Silikose, gefolgt von Hauterkrankungen und Infektionen usw. als »Folge der 36 Dietrich (1999), S. 325. 37 Vgl. Dietrich (1999), S. 326 und S. 339. Vgl. zur Verbreitung der persönlichen Schutzausrüstung ausführlich Kleinöder (2015), S. 158–168. 38 Vgl. Dietrich (1999), S. 336, und eigene Berechnungen nach Statistik der DGUV, Übersicht Arbeitsunfälle usw. und Berufskrankheitengeschehen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften, 1950–2016 (Auskunft der DGUV vom 13.6.2018). 39 Vgl. Dietrich (1999), S. 340 f. und S. 356 f. 40 Dietrich (1999), S. 341.
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schlechten Arbeitsbedingungen in den 1930er und 1940er Jahren«.41 Doch insbesondere die hohe Anzahl der gemeldeten Hauterkrankungen stand einer niedrigen Entschädigungsquote von nur fünf bis acht Prozent gegenüber.42 Bezogen auf Berufsgruppen betraf dies insbesondere gesundheitliche Schädigungen bei Bergarbeitern, aber auch Beschäftigte in der keramischen und Glas-Industrie: Noch 1965 waren Formen der Silikose mit Abstand das größte Risiko mit den meisten Anzeigen und Entschädigungen mit allein knapp 5.500 Betroffenen (Rentenbestand) in diesem Jahr.43 Dies änderte sich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte jedoch zunehmend. Ab den 1970er und 1980er Jahren lag der statistische Schwerpunkt im Bereich der Lärmschädigungen und von Asbest: Während die Zahl der Silikosefälle deutlich sank, traten Infektionskrankheiten und vor allem Lärmschwerhörigkeit seit Beginn der 1960er Jahre mit wachsender Anerkennung und mit deutlich ansteigenden Fallzahlen hervor. Wichtig ist dabei der Blick über die gewerblich-industriellen Bereiche hinaus, insbesondere mit Hinweisen auf die Gesundheitsdienste und die Wohlfahrtspflege. Durch Infektionserreger verursachte Berufskrankheiten und insbesondere der Anteil der Hepatitis-Erkrankungen stechen als Risiko der Erwerbstätigkeit in diesem Bereich eklatant hervor.44 Dagegen wurden Gehörschäden durch Lärm in diesem Zeitraum statistisch besonders signifikant und entwickelten sich zur neuen Massenerkrankung in der gewerblichen Erwerbstätigkeit.45 Die steigenden Fallzahlen zeichneten sich in der Anerkennung und vor allem auch in der Untersuchung und (systematischen) Erkennung von Lärmschwerhörigkeit in den 1960er Jahren durch neue Regelungen ab.46 Auch hier zeigt sich damit der nachgelagerte Effekt bei den Berufskrankheiten: Die grundsätzliche Schädigung im Arbeitsleben konnte zeitlich gesehen bereits eine ganze Weile zurückliegen. Die nun steigenden Zahlen waren eben nicht durch neuartige Belastungen im Wandel der Arbeitswelt, sondern durch die steigende Anerkennung als Berufskrankheit bedingt. Die Lärmschädigung erhielt zu diesem Zeitpunkt eine gänzlich neue öffentliche Aufmerksamkeit, flankiert durch legislative Reaktionen wie die »Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm« (1968) und die »Arbeitsplatzlärmschutzrichtlinie« (1970). Entsprechend konstatierte der Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung für das Jahr 1973: Eine Berufskrankheit mit steigenden Zahlen bei den angezeigten Fällen in den letzten zehn Jahren ist die Lärmschwerhörigkeit […], die seit 1959 mit zum Teil großen Zuwachsraten zugenommen hat, während sie bis dahin von nur geringer Bedeutung war. Die Entwicklung bei dieser Berufskrankheit wird außer durch die Zunahme des Betriebslärms in vielen Bereichen der Wirtschaft vor allem durch eine ständige Verbesserung der Über-
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Dietrich (1999), S. 342. Vgl. Dietrich (1999), S. 347. ADFS, Sign. 15/9818, S. 23 f. Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung (1984), S. 8; ADFS, Sign. 11/76, S. 14. Vgl. zu Lärmschädigungen aus Arbeitsschutzsicht allgemein Lazarus/Bien (1993). Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung (1974), S. 48.
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wachung lärmgefährdeter Personen und damit eine frühere Erkennung der Anzeichen einer beginnenden Erkrankung dieser Art verursacht.47
Und noch gut 15 Jahre später galt auch bei den Berufsgenossenschaften das Problem zwar als erkannt und rückläufig, jedoch keinesfalls als gelöst. So bemerkte eine der besonders betroffenen Berufsgenossenschaften, die Nordwestliche Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft Hannover, noch im Jahr 1986: »Die Lärmschwerhörigkeit ist nach wie vor Spitzenreiter bei den erstmals entschädigten Berufskrankheiten.«48 Zentral ist es, hier auf den konkreten Effekt der Epidemiologisierung hinzuweisen: Wichtig war zunächst die Erkenntnis, dass Lärm eine berufsbedingte Schädigung ist, so dass diese dann im zweiten Schritt auch versicherungsrechtlich anerkannt wurde. Das grundsätzliche Risiko einer Lärmschädigung für die Erwerbstätigen und die damit verbundene gesundheitliche Ungleichheit sind dabei natürlich viel älter. Sie sind aber ein gutes Beispiel dafür, in welcher komplexen Weise bei den Berufskrankheiten das Kausalitätsprinzip wirkte. Neben dem Bewusstsein musste eine Anerkennungspraxis geschaffen werden, die dann in eine systematische Lärmbekämpfung mündete. Hier ist schließlich auch der Übergang zur Bekämpfung von Ungleichheiten zu erkennen. Sie wird in Anlehnung an Ulrich Bröckling und konzeptionelle Überlegungen zur Prävention durch »Risikomanagement« (also die Anerkennung als Berufskrankheit) und »Risikovermeidung« (durch technischen Schutz und Aufklärungskampagnen) erkennbar.49 Somit können die steigenden Anerkennungszahlen in den 1970er und 1980er Jahren durchaus als Phänomen einer zunehmenden »Versicherheitlichung« gedeutet werden. Dies meint in diesem Zusammenhang nicht (nur) die monetäre Entschädigung über ein Konzept der Versicherung, sondern vielmehr die durch öffentlichen und politischen Druck ausgelöste Praxis, Lärmschädigungen zu einem (politischen) Sicherheitsproblem (Sicherheit am Arbeitsplatz) zu erheben und in einen öffentlichen Diskurs (insbesondere über die Berufsgenossenschaften) zu überführen.50 In der Folge kam es zu technischen Lärmschutzmaßnahmen und Aufklärungskampagnen im Kontext eines umfassenderen Präventionsverständnisses.51 Ein praktisches Beispiel ist hierfür noch einmal die keramische und Glas-Industrie, in der der Anteil von Lärmschädigungen an Berufskrankheiten in den 1980er Jahren infolge umfassender Präventionsmaßnahmen deutlich sank. Dies eliminierte jedoch keineswegs die grundsätzliche Gesundheitsgefährdung an diesen Arbeitsplätzen. Die Risiken verschoben sich nach Silikose und Lärmschwerhörigkeit vielmehr erneut: So stieg der Anteil der »sonstigen« Berufskrankheiten stark an. Dies kann zugleich als ein Zeichen für stärkere
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Unterrichtung durch die Bundesregierung (1973), S. 48. ADFS, Sign. 5/50, S. 23. Bröckling (2008), S. 41. Vgl. dazu in der Übersicht Conze (2018), S. 42–45 und S. 82 f. Vgl. z. B. Johann (1976).
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Ausdifferenzierung des Berufskrankheitenbildes und vor allem ihrer Entschädigungspraxis dienen.52 An diese Beobachtungen knüpfte auch das Aktions- und Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« von Bundesarbeits- und Bundesforschungsministerium (1972–1989) an. Konfrontiert mit den vielfältigen politischen, sozialen und technischen Folgen des Wandels der Arbeitswelt, wollte das Programm die (gesellschaftliche) Spaltung und insbesondere auch strukturelle gesundheitliche Benachteiligung in der Beschäftigungswelt aufarbeiten. Im Zentrum standen daher auch zunächst die Schwerstarbeitsplätze mit enormen Belastungen wie etwa im Bergbau oder auch die zunehmend gekoppelten Belastungsszenarien von körperlicher Arbeit und Schichtarbeit53: Die Art der Betroffenheit der Beschäftigten, die in Schichten arbeiten, berührt das Unfallgeschehen ebenso wie den Krankenstand, den Gesundheitsverschleiß, das frühzeitige Ausscheiden aus der Schicht. Sie berührt aber auch Fragen der Verschlechterung der Chancen, bei der betrieblichen Mitbestimmung aktiv mitzuwirken, die Verminderung der Möglichkeiten, sich beruflich zu qualifizieren, oder der Einschränkung der beruflichen Mobilität. Schließlich werden die Schichtarbeiter mehr als die anderen Arbeitnehmer in ihrem Freizeit- und Familienbereich betroffen, sei es durch besondere Schwierigkeiten im Familienbereich, sei es durch die Erschwerung der Inanspruchnahme von öffentlichen Diensten und Gütern oder sei es durch die Verminderung der Möglichkeiten der staatsbürgerlichen Beteiligung.54
In diesem erweiterten sozialen Kontext wurde auch die konkrete Frage der drängenden Lärmbelastungen und daraus resultierenden -schädigungen an den rund zwei Millionen Lärmarbeitsplätzen in der Bundesrepublik aufgegriffen und in einen breiteren sozialen Kontext eingeordnet: »Verständigung in Lärmbereichen ist kaum möglich, die dort Arbeitenden fühlen sich sozial isoliert. Dies gilt verstärkt noch für die Lärmschwerhörigen, die auch in der Familie und ihrer sonstigen sozialen Umwelt außerhalb des Arbeitsplatzes von jeglicher Kommunikation praktisch ausgeschlossen bleiben.«55 Diese unmittelbaren Gesundheits(schutz)fragen wurden mit einem umfassenderen Verständnis von Arbeit, Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit verwoben, hervorgegangen aus einer breiteren politischen Diskussion um die »Qualität des Lebens«.56 Dies verweist eben auch auf das wachsende Bewusstsein von der Interdependenz von Arbeit, Zufriedenheit, allgemeinem Lebensstil, Freizeitverhalten usw. über den engeren Rahmen der Arbeitsbelastungen hinaus als ein ganzheitlicheres Verständnis von Belastungen und Zufriedenheit am Arbeitsplatz und nicht zuletzt ihrer Auswirkungen auf die Mortalität. Als vorläufig abschließendes Beispiel zählte zu den wachsenden Risiken in den 1980er Jahren auch die Ablösung der Lärm-Thematik durch die Frage der Asbest-Belastungen: Zwar trat im Eisen- und Stahlbereich die Dominanz 52 Vgl. ADFS, Sign. 15/9817, S. 52. 53 Vgl. dazu ausführlich die Beiträge von Stefan Müller und Nina Kleinöder in Kleinöder/ Müller/Uhl (2019). 54 Herzog (1981), S. 146. 55 Herzog (1981), S. 125. 56 Vgl. Stefan Müller (2016), S. 256–261.
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des Problems der Lärmschwerhörigkeit noch 1986 deutlich hervor. Zugleich zeichnete sich das wachsende Problem der Asbest-Belastungen bereits perspektivisch ab und gab Anlaß zur Sorge. […] Ein wesentlicher Grund für die vermehrten Entschädigungen im Bereich der durch Asbest verursachten Erkrankungen dürfte allgemein auch die verbesserte Information der Ärzteschaft sein. […] Die Asbestosefälle werden auch in absehbarer Zukunft bei der Entschädigung eine Rolle spielen, da die Verwendungsbeschränkung von asbesthaltigen Isoliermaterialien oder Dämmstoffen durch Unfallverhütungsvorschriften erst ab April 1982 wirksam geworden ist.57
Zwischenergebnis und Ausblick Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen ersten empirischen Ergebnissen für die ungleichen Gesundheitschancen in der Erwerbstätigkeit ziehen? Grundsätzlich ist im sogenannten Wirtschaftswunder durchaus ein wachsendes Risiko, in der Erwerbstätigkeit gesundheitlich geschädigt zu werden, sowohl im Bereich der Unfälle als auch über eine Berufskrankheit, zu erkennen. Mit Blick auf die zeitliche Verzögerung gerade bei den Berufskrankheiten betraf dies aber hauptsächlich Fälle von Asbest- und Hörschädigungen. Die bis dahin hervorstechenden Zahlen der Silikose waren vor allem ein Phänomen des Nachholeffekts aus der Vorkriegs- und Kriegszeit. Die besondere Gefährdung durch Schwerstarbeitsplätze und schmutzige Arbeiten nahm durchaus ab, dafür erfolgte jedoch insgesamt eine breitere Streuung der Belastungen etwa durch Lärm oder Infektions- und Hauterkrankungen quer durch die Branchen. Es zeichnete sich also eine deutliche Differenzierung der Ungleichheiten der Arbeitswelt mit neuen Gefahren und Belastungen ab. Mit Blick auf die Unfallzahlen ist hervorzuheben, dass sich deren Rückgang bereits seit den frühen 1960er Jahren, also noch vor Beginn der legislativen Maßnahmen und noch mitten in der westdeutschen Hochkonjunktur, abzeichnete. Eine unmittelbare Korrelation muss hier also vorsichtig bewertet werden – sie folgen offenbar komplexeren Zusammenhängen, die branchenweise unbedingt näher untersucht werden müssen. Eine These wäre daher, die eigentliche Trendwende schon vorher zu terminieren, die dann aber durch die wachsende (öffentliche) Aufmerksamkeit flankiert wurde und in ein nachhaltiges Absinken der Gesundheitsgefahren einschwenkte. Durch präventive Maßnahmen gelang es dabei also durchaus, die besonderen Gefahren (industrieller) Arbeit sukzessive einzudämmen: Besonders gefährdete Arbeitsplätze profitierten dann auch entsprechend von den eingeleiteten Schutzmaßnahmen. Dies gilt z. B. für eine umfassende Schwerpunktarbeit im Programm »Humanisierung des Arbeitslebens«, die zu Beginn etwa die besonders belasteten Arbeitsplätze im Bergbau in den Blick nahm. Zugleich ist es aber auch wichtig festzuhalten, dass der Wandel der Arbeitswelt mit ihren neuen Belastungsformen zu diesem Zeitpunkt nur langsam buchstäblich »auf den Schirm« 57 ADFS, Sign. 5/50, S. 23.
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geriet, was dann die Schwerpunktarbeit der 1980er Jahre im EDV-Bereich, insbesondere im Programm »Humanisierung des Arbeitslebens«, zeigt.58 Industrielle Arbeit wurde nicht nur gesünder, sondern Büroarbeitsplätze waren infolge von Zwangshaltungen (erzwungene Körperhaltungen im ergonomischen Sinne) und Arbeitsintensivierung zugleich ebenso risikobehaftet. Bis heute liegen hier die neuen Risikogruppen v. a. als Massenphänomen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Erkrankungen usw. begründet.59 Neben der allgemeinen Steigerung des Gesamtlebenshaltungsniveaus der Wohlstandsgesellschaft insbesondere durch Technisierung und Automation kam es also durchaus zu einer sukzessiven Reduzierung starker körperlicher Beanspruchungen (»Abschied vom Malocher«)60 hin zu neuen Belastungsformen der Monotonie und Stresssituationen, aber auch körperlichen Fehlhaltungen (z. B. der Massenkrankheit Rückenleiden)61. Insgesamt erfolgte eine Ausdifferenzierung der Risiken und neue Faktoren traten hervor, die bislang aus historiographischer Sicht kaum untersucht wurden und auch in der aktuellen Entschädigungsfrage schwer zu fassen sind: Die Kombination von Belastungsfaktoren mit der Rolle des jeweiligen Einsatzortes und der Art der Erwerbstätigkeit ist bislang kaum berücksichtigt worden. Hinzu kommt auch die Frage der weiteren Ausdifferenzierung einzelner Beschäftigtengruppen (wie z. B. Migrantinnen aus den ehemaligen Anwerbestaaten) und inwieweit sie in unterschiedlichem bzw. geringerem Maße von den neuen Maßnahmen, etwa im Programm zur »Humanisierung des Arbeitslebens« der 1970er und 1980er Jahre, profitierten. Auch in Fragen der gesundheitlichen Belastung und Ungleichheit in der Erwerbstätigkeit bestätigt sich also der Trend der neueren Forschung, dass es nicht nach Helmut Schelsky um eine Angleichung im Sinne einer grundsätzlich »nivellierten Gesellschaft« ging.62 Zwar erfolgte durchaus eine »Anhebung des Gesamtniveaus«63, indem besonders schwere Belastungen gefährlicher Arbeiten für die Gruppe der Arbeiter als Folge des langfristigen Wandels der Arbeitswelt zurücktraten. Dies zeigt etwa das Beispiel der nachhaltigen Bekämpfung der Silikose. Zugleich trat eine relative Verschlechterung bei den Angestellten ein, die insbesondere an einer zunehmenden Anerkennung neuer Risiken, wie etwa der wachsenden Verbreitung der Bildschirmarbeitsplätze, sichtbar wird. Die neuen Differenzierungsprozesse der Konsumgesellschaft bewirkten somit für die Frage der Gesundheit der Beschäftigten eine Pluralisierung und Angleichung der Belastungen und Gefährdungen. Diese 58 Vgl. dazu ausführlich die Beiträge von Stefan Müller und Nina Kleinöder in Kleinöder/ Müller/Uhl (2019). 59 Vgl. Bericht »Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit«, Daten: Deutsche Rentenversicherung, hier: Auskunft der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin vom 12.06.2018. 60 Hindrichs u. a. (2000). 61 Vgl. zur Kontinuität der Differenzierung beruflicher Belastungen nach beruflicher Stellung Oppolzer (1993), S. 129. 62 Vgl. dazu u. a. ausführlich Braun (1989). 63 Löffler (2007), S. 36.
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Unterschiede und Ähnlichkeiten müssen nicht zuletzt auch innerhalb der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen zukünftig viel stärker beachtet werden, wenn es etwa um die Kombination verschiedener Belastungsfaktoren geht. Abschließend ist durchaus ein quantitativer wie auch qualitativer Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und wachsenden Risiken für die Nachkriegsgesellschaft zu erkennen; dabei müssen jedoch einzelne Berufsgruppen und Tätigkeitsfelder zukünftig noch trennschärfer in den Blick genommen werden. Grundsätzlich zeichnete sich ein Trend zur Verringerung des allgemeinen Risikos seit den 1960er Jahren ab, der sich in allen Gruppen niederschlug. Dies steht sowohl in einem engen Zusammenhang mit einer veränderten Präventionsarbeit im Schnittfeld von Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin und Arbeitsgestaltung, aber auch Effekte des generellen Wandels der Arbeitswelt wie Technisierung und Automation sind zu berücksichtigen. Der grundlegende Zusammenhang zwischen beruflicher Stellung und Lebenserwartung und damit auch die unterschiedlichen Chancen gesellschaftlicher Gruppen blieben grundsätzlich bis heute bestehen: »Menschen mit hohen Einkommen leben länger«, titelte etwa 2012 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.64 Differenziertere statistische Aussagen lassen sich aufgrund der fehlenden amtlichen Statistik in Deutschland in langen Reihen über den gesamten Betrachtungszeitraum von den 1950er zu den 1980er Jahren nur schwer treffen. Demgegenüber steht jedoch ein Ausblick am Schluss: Die Kohorte der Geburtsjahrgänge 1934 bis 1952 bildet im Betrachtungszeitraum den Kern der Erwerbstätigen. Wenngleich also berufsspezifische Mortalitätsdaten fehlen, so werden doch Unterschiede anhand der Parameter Berufsgruppe, Bildung und Einkommen mehr als deutlich: Bei einer insgesamt steigenden Lebenserwartung tritt die sozioökonomische Ungleichheit mit einem Unterschied zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten von bis zu sechs Jahren noch immer deutlich hervor.65 Bibliographie Archivalien Archiv der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger (sv:dok), Bochum (ADFS) – Sign. 5/50: Nordwestliche Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft Hannover: Jahresbericht 1986 – Sign. 11/76: Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienste und Wohlfahrtspflege: Bericht sechste Amtsperiode der Selbstverwaltung ’80-’86 – Sign. 15/9817: Berufsgenossenschaft der keramischen und Glas-Industrie: Jahresbericht 1988 – Sign. 15/9818: Berufsgenossenschaft der keramischen und Glas-Industrie: Verwaltungsbericht für das Geschäftsjahr 1965 64 Kroh u. a. (2012). 65 Luy (2006), S. 26, Tab. 2. Vgl. auch allgemeiner Lampert/Kroll/Dunkelberg (2007).
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Nina Kleinöder
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 83–104, FRANZ STEINER VERLAG
Alt nach »Gastarbeit«1 in Österreich. Zur gespaltenen Gesundheit, Altenbetreuung und Lebenserwartung von Arbeitsmigranten und Einheimischen infolge der »Gastarbeiterwelle« Andreas Weigl Summary Old age after working as migrants in Austria. ‘Divided’ health, elderly care and life expectancy of migrant workers and natives as a result of the ‘workers’ immigration wave’ Including subsequent family reunifications, the migration of workers (‘Gastarbeiterwanderung’) from Yugoslavia and Turkey to Austria was concentrated on the period between around 1965 and 1985. This first generation gradually reached retirement age after the millennium. The final biographical decisions required caused mental stress which, in conjunction with a frequently heavy physical workload, resulted in a higher incidence of specific health problems at retirement age than among the native population. Convincing evidence of this ‘divided health’ phenomenon can be derived from numerous interviews carried out since the late 1990s that also asked about subjective wellbeing and the use of social and health services. According to these surveys, this migrant group tended to rely almost entirely on spouses and family in later life if they required nursing, care or everyday support. They rarely used social or preventive medical services. The reasons for this were language and information deficits and the lack of culturally sensitive approaches. Despite the higher morbidity, education-specific mortality tables suggest that life expectancy was, and is, clearly higher, particularly in female pensioners with a Turkish migration background, than in native women with a comparable level of education. While the ‘healthy migrant effect’ may have been partly responsible for this, traditional practices relating to the use of alcohol and nicotine in the original culture will have been a major contributor.
Ausgangshypothesen Die sogenannte Gastarbeiterwelle hat in Österreich wie in anderen westlichen Industriestaaten trotz jahrzehntelangem Aufenthalt der Arbeitsmigranten im Zielland zu einer verfestigten sozialen und ethnischen Unterschichtung geführt. Die Migrantinnen und Migranten übernahmen von den autochthonen Unterschichten überwiegend die untersten sozialen Positionen des sozialen Schichtsystems, was von Einheimischen zu einer relativen sozialen Aufwertung 1
Bei dem Begriff handelt es sich bekanntlich um einen Euphemismus. Aufgrund seiner Verbreitung in den damaligen zeitgenössischen Diskursen wird in der Folge auf die Verwendung von Anführungszeichen bei Benennung dieser Gruppe von Migranten verzichtet.
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genutzt wurde und mit einer strikten, dauerhaften Abgrenzung verbunden war.2 Dies beförderte Mechanismen der Viktimisierung mit Bezug auf prekäre Arbeitsverhältnisse und Entlohnung, gesellschaftliche Diskriminierung und die Mächtigkeit traditioneller Lebenszusammenhänge.3 Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, welche Konsequenzen daraus im Rentenalter in Hinsicht auf Gesundheit, Krankheit und Tod resultierten und welche Rolle dabei aus der ursprünglich als temporär gedachten Arbeitsmigration sich ergebende Einflüsse und aus der Herkunftsregion übernommene gesundheitsrelevante Praktiken spielten. Als Ausgangshypothese lassen sich mehrere Faktoren anführen, die eine »geteilte Gesundheit« von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern und autochthoner Bevölkerung erwarten lassen: – Die überwiegende Mehrheit der Migranten erhielt Beschäftigung im sekundären Segment des Arbeitsmarktes, welches durch unterdurchschnittliche Einkommen und geringe Arbeitsplatzsicherheit gekennzeichnet ist. Dies führte im Lebenszyklus zu einer Verdichtung von Problemlagen im Alter.4 – Die physische Belastung der Migranten besonders im Baugewerbe und im Rahmen niedrig qualifizierter Jobs in der Industrie und einzelnen Dienstleistungsbranchen (Reinigung, Gastgewerbe) war überdurchschnittlich hoch. – Aus der Herkunftskultur wurden Rauch- und Trinkgewohnheiten oder aber auch Traditionen der innerfamilialen Krankenbetreuung beibehalten, die den Gesundheitszustand im Alter beeinflussen. – Migrationsentscheidungen führten zu Selektionsprozessen, weil Personen mit gesundheitlichen Problemen in der Regel das Wagnis der Arbeitsmigration nicht eingingen oder ihnen aus institutionellen Gründen (Gesundheitschecks in Anwerbestellen) diese ohnehin verwehrt blieb. Aufgrund der nach der Ankunft im Zielland bestehenden befristeten Aufenthaltsbewilligung ist zudem davon auszugehen, dass Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die in den ersten Jahren ihres Aufenthalts chronisch erkrankten, in ihre Heimatländer zurückkehren mussten. – Das Bildungsniveau der Gastarbeiterpopulation bewegte sich im Wesentlichen auf der Ebene von Pflichtschulabschlüssen oder darunter. Da Morbidität und Mortalität durch einen ausgeprägten Bildungsgradienten gekennzeichnet sind, erhöhte das Bildungsdefizit das Risiko chronischer Leiden und das Sterblichkeitsrisiko. – Sprachliche Defizite und kulturelle Distanz zur Mehrheitsgesellschaft beförderten Wissensdefizite rund um Fragen der präventiven Medizin, das
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Hoffmann-Nowotny (1973), S. 52; Treibel (2008), S. 179–182; Oswald (2007), S. 118; für Österreich: Pflegerl (1977), S. 69–100; Weigl (2009), S. 64–78. Reinprecht (2012), S. 187. Warnes/Williams (2006); Lanari/Bussini (2011); Baykara-Krumme/Motel-Klingebiel/Schimany (2012).
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Angebot an sozialen Diensten und von der öffentlichen Hand finanzierter offener und geschlossener Pflege. Im Folgenden werden Indikatoren des subjektiven Gesundheitsbefindens, der Morbidität und Mortalität zwischen Rentnern aus der Gastarbeiterpopulation und solchen ohne Migrationshintergrund aus österreichischen Studien der Jahre 1999–2016 verglichen. Deren Befunde werden zur Lage der Altenbetreuung, Pflegesituation und zur Akzeptanz sozialer Dienste in Beziehung gesetzt. Abschließend werden die aus der Unterschichtung resultierenden Benachteiligungen mit den Daten zur Lebenserwartung kontrastiert und ein Ausblick auf den zu erwartenden zukünftigen sozial- und gesundheitspolitischen Handlungsbedarf gegeben. Zur Geschichte der »Gastarbeiterwanderung« in Österreich Wie im Fall der Bundesrepublik stand auch in Österreich die Geschichte der Gastarbeiterwanderung mit dem langen Wirtschaftsaufschwung im Zeitraum 1953–1973 in engem Zusammenhang.5 Im Gegensatz zu Westdeutschland setzte die Arbeitsmigration nach Österreich aber später ein, weil besonders in den 1950er Jahren die »Landflucht« – 1951 waren von 3,3 Millionen Berufstätigen noch 1,1 Millionen in der Land- und Forstwirtschaft tätig, 1970 nur noch 450.0006 – den dank Hochkonjunktur beträchtlichen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf im Produktions- und Dienstleistungssektor befriedigte. Zudem lag das wirtschaftspolitische Augenmerk auf Exportförderung auf Basis eines vergleichsweise niedrigen Lohnniveaus, besonders für (Hilfs-)Arbeiter, welches deutlich unter jenem der westlichen Nachbarländer lag. Noch 1972 verdienten Industriearbeiterinnen und -arbeiter in Österreich nur etwa 50 Prozent der Löhne in der Bundesrepublik, und auch in den übrigen westeuropäischen Ländern war das Lohnniveau durchwegs höher.7 Für Arbeitsmigranten aus Italien oder Griechenland bot das kaum genügend Anreize. Zu Beginn der 1960er Jahre machte sich allerdings auch in Österreich der Arbeitskräftemangel immer mehr bemerkbar, worauf sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte im Kontingentverfahren nach dem Vorbild des Schweizer »Saisoniermodells« einigten. Ein erstes bilaterales Abkommen mit Spanien zeitigte jedoch keinen größeren Erfolg.8 Erst Abkommen mit der Türkei 19649 und Jugoslawien 1966 änderten diesen Zustand. Die Österreichische Bundeswirtschaftskammer richtete Anwerbestellen10 in den beiden Ländern ein, und nun kam es im Zeitraum 1967–1973 zu 5 6
Butschek (2004), S. 69–82. Österreichisches Statistisches Zentralamt (1953), S. 58; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 27 (1976), S. 84. 7 Banjeglav (2016), S. 75. 8 Arbeitskreis für ökonomische und soziologische Studien (1973), S. 11. 9 Hahn/Stöger (2014). 10 Muradoğlu/Ongan (2004); Wollner (2010), S. 84 f.
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einem sprunghaften Anstieg der Ausländerbeschäftigung. Schon zu Beginn der 1970er Jahre hatte das Ausmaß der Ausländerbeschäftigung das Niveau anderer europäischer Industriestaaten erreicht.11 Im Jahr 1971 stammten im Jahresdurchschnitt von 150.000 ausländischen Arbeitskräften 116.000 aus Jugoslawien und lediglich 22.000 aus der Türkei.12 Die Arbeitsmigration aus der Türkei nahm erst ab 1972 sprunghaft zu, blieb allerdings weiterhin deutlich unter der jugoslawischen Zuwanderung.13 Die durch die Ölpreisschocks von 1973 und 1982 ausgelösten Rezessionen führten zu Aufnahmestopps und »Beschäftigtenabbau«. 1974–1976 sank die Zahl der Gastarbeiter um 55.000, 1982–1984 um 33.000, weil Beschäftigungserlaubnisse nicht verlängert wurden. Tatsächlich muss der Rückgang noch größer gewesen sein, weil es sich dabei um einen Saldo handelt.14 Die Gesamtzahl der jugoslawischen und türkischen Einwohner sank jedoch nicht, da eine Phase des Familiennachzugs einsetzte. Nach einer Befragung aus dem Jahr 1983 lebten bereits fast 80 Prozent der Ehefrauen jugoslawischer Gastarbeiter bei ihren Ehemännern in Österreich, bei den türkischen Migranten 70 Prozent.15 Was die regionale Verteilung der jugoslawischen Gastarbeiterpopulation anlangt, nahm bis 1983 der Anteil Serbiens und der Vojvodina auf fast 50 Prozent zu, ebenso der Anteil Bosniens auf 30 Prozent. Gastarbeiter aus den wirtschaftlich entwickelten jugoslawischen Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien) spielten nun praktisch keine Rolle mehr.16 Zudem kam es noch vor Ausbruch des jugoslawischen Bürgerkriegs zu einer weiteren Zuwanderungswelle, die als späte Folge der ersten betrachtet werden kann. Es macht daher analytisch Sinn, lediglich die Zuwanderung aus Jugoslawien und der Türkei im Zeitraum von ca. 1965 bis 1985/1990 als Gastarbeiter-Migration zu betrachten.17 Unter den Zugewanderten blieb ein nicht unbeträchtlicher Teil dauerhaft in Österreich. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2008 lebten rund 87.500 bis 1984 zugewanderte Migrantinnen und Migranten aus Jugoslawien und 41.400 aus der Türkei in Österreich.18 Diese Alterskohorten rückten nun etwa ab der Jahrtausendwende in das Rentenalter auf. Um 2010 war der Anteil dieser Altersgruppe an der jeweiligen Teilpopulation bei Personen mit Geburtsland Jugoslawien (ohne Slowenien) auf 9,5 Prozent gestiegen, bei jenen aus der Türkei allerdings erst auf 4,3 Prozent.19
11 12 13 14 15 16 17 18 19
Butschek (1992), S. 197. Eigene Berechnungen nach Fassmann/Münz (1996), S. 218. Lichtenberger (1984), S. 89; Biffl u. a. (1985), S. 237. Bauböck/Perchinig (2006), S. 730; Davy/Gächter (1993), S. 166 f. Achatz u. a. (1985), S. 55 f. Achatz u. a. (1985), S. 47 f. Weigl (2009), S. 38–40 und S. 45. Statistik Austria (2009), S. 93. Statistik Austria: Migration (2012), S. 29.
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Ausgangsbedingungen Sowohl die jugoslawischen als auch die türkischen Gastarbeiter kamen ganz überwiegend aus bildungsfernen ländlichen Schichten. Nach einer Erhebung stammten 85 Prozent der Ende 1983 in Österreich lebenden jugoslawischen Migrantinnen und Migranten aus Dörfern. Die türkischen Gastarbeiter kamen großteils aus ruralen rückständigen Gebieten der Küstenzonen Marmara und Thrazien, der Ägäis, der Schwarzmeerregion und Nordzentralanatoliens.20 Der Bildungsstand der ersten Generation war auch für zeitgenössische europäische Standards ausgesprochen niedrig. Unter jugoslawischen Gastarbeitern hatten zu Beginn der 1970er Jahre 57 Prozent keinen vollständigen Pflichtschulabschluss, weitere 20 Prozent nur Pflichtschulabschlüsse. Lediglich 23 Prozent hatten eine Berufslehre, Beruf- oder Fachschule oder höhere Bildungsabschlüsse aufzuweisen. An diesem Bildungsprofil änderte sich kaum etwas. Im Jahr 1981 betrug der Anteil der Personen mit höchstens Pflichtschulabschluss unter den jugoslawischen Staatsbürgern in Österreich 86 Prozent. Nach Untersuchungen für die Jahre 1974 und 1981 hatten neun Prozent der Wiener Gastarbeiter keine Schule besucht.21 Das Bildungsniveau der türkischen Zuwanderer lag sogar noch deutlich unter jenem der jugoslawischen. Von den 50-jährigen und älteren Personen, die in Jugoslawien geboren waren, besaßen im Jahr 2001 73 Prozent höchstens einen Pflichtschulabschluss, unter den türkischen 89 Prozent, hingegen 31 Prozent unter den Autochthonen.22 Unter den in Österreich lebenden Staatsbürgern beiderlei Geschlechts im Alter von 60 und mehr Jahren aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens besaßen im Jahr 2001 88 Prozent maximal einen Pflichtschulabschluss, unter den türkischen Staatsbürgern 95 Prozent.23 Der Bildungsstand hatte sich während des Aufenthalts in Österreich auch in der Regel nicht verbessert. Von den Männern mit ausländischem Pflichtschulabschluss absolvierten nur vier Prozent eine weiterführende Ausbildung, bei den Frauen nur zwei Prozent.24 Dies verwundert nicht weiter, denn die österreichischen Arbeitgeber suchten in erster Linie Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter. Im Herbst 1983 waren von den jugoslawischen Beschäftigten 43 Prozent als Hilfsarbeiter, 38 Prozent als angelernte Arbeiter tätig. Unter den türkischen Migranten waren die entsprechenden Anteile noch höher. Zu einer Verbesserung der beruflichen Stellung kam es praktisch nicht25 – müßig zu betonen, dass die Gastarbeiter ganz überwiegend in Niedriglohnbranchen beschäftigt waren und bei den schlecht Gebildeten die Aufenthaltsdauer keinen positiven Einfluss auf die Einkommenshöhe hatte26. Lohndiskriminierung und durch Perioden der Arbeitslo20 21 22 23
Bauböck (1986), S. 192 f.; Achatz u. a. (1985), S. 48 f. Lichtenberger (1984), S. 98; Gächter (2016), S. 46 f. Reinprecht: Altern (2010), S. 170. Eigene Berechnungen nach Statistik Austria STATcube – Statistische Datenbank, URL: http://statcube.at/statcube/home (letzter Zugriff: 28.4.2020). 24 Gächter (2007), S. 246 f. 25 Gächter (2016), S. 47 f. 26 Biffl (2002), S. 541 f.; Leitner (1983), S. 184.
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sigkeit unterbrochene Erwerbsbiographien führten in der Folge vielfach zu geringen Rentenansprüchen und überproportional hoher Armutsgefährdung im Alter.27 Nach einer Wiener Befragung war die Armutsgefährdung bei den Ex-Jugoslawen dreimal, bei Türken achtmal so hoch wie bei den älteren Einheimischen.28 Der »Bildungs-Gap« und der damit in Verbindung stehende »Pay-Gap« und die hohe physische Beanspruchung in der überwiegenden Mehrzahl der Gastarbeiter-Jobs konnten nicht ohne gesundheitliche Konsequenzen für die Betroffenen bleiben, zumal von einem Raubbau an der Gesundheit durch schwere körperliche und gesundheitsschädigende Arbeit mit hoher Stressbelastung und erhöhtem Unfallrisiko ausgegangen werden kann.29 Empirisch wurde auf Basis von Erhebungen in den Jahren 1994 und 1997 klar nachgewiesen, dass ausländische Arbeitnehmer eindeutig höheren Umweltbelastungen mit Bezug auf Staub, Schmutz und Industrielärm ausgesetzt waren.30 Mangelnde Bildung und Einkommen beförderten zudem einen Lebensstil, der generell zu einer unterdurchschnittlichen Lebenserwartung beiträgt.31 Mit Bezug auf erhöhte Morbidität konnte das auch aus einem Matching der Daten des österreichischen Gesundheits- und Haushaltssurveys 1999 für Personen mit ex-jugoslawischer und türkischer Staatsbürgerschaft im Vergleich zu österreichischen Staatsbürgern in der Altersgruppe der 45- bis unter 60-Jährigen belegt werden. Die höhere Morbidität war nach dieser Studie nicht auf die Anzahl, sondern auf die Dauer der Krankenstände zurückzuführen. Besonders Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie auch gastrointestinale Krankheiten und Allergien traten häufiger unter den beiden großen Gastarbeitergruppen auf, und das speziell bei Erwerbstätigen im Bauwesen, in der Maschinen- und Elektroindustrie und im Tourismus.32 Angesichts der bis in die frühen 1990er Jahre aufrechterhaltenen Fiktion vom »temporären« Aufenthalt der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter – Österreich wurde daher zutreffend als ein »Einwanderungsland wider Willen« bezeichnet33 – verwundert es nicht weiter, dass spezifische Probleme der Gesundheitsversorgung und Altenbetreuung dieser Bevölkerungsgruppe lange Zeit kein sozialpolitisches Thema waren. Neben der impliziten Annahme der Rückkehr in die Heimat spätestens nach dem Erreichen des Rentenalters und/ oder eines weitestgehend sprachlich-kulturellen Assimilierungsprozesses nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Zielland sorgte die zunächst sehr geringe Zahl der Betroffenen dafür, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle spielten. Dazu kam, dass von den bis 1973 Zugewanderten selbst ursprünglich mindestens ein Drittel nur kurze Zeit bleiben wollte und ein weiteres Drittel hinsichtlich der weiteren Migrationsentscheidung unschlüssig war. Gegen die 27 28 29 30 31 32 33
Fassmann/Reeger (2007), S. 197 f. Unterwurzacher (2006), S. 96. Reinprecht: Gesundheit (2010), S. 144. Hammer (1999), S. 974–976. Biffl (2003), S. 7 f.; Klotz (2007), S. 303 f. Biffl (2003), S. 6–10. Fassmann/Münz (1996); Cinar (2004).
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Jahrtausendwende standen nun mit Heranrücken des Rentenalters biographische Entscheidungen an, die komplexe Unsicherheiten eher noch vertieften.34 In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts scheinen diese allerdings wohl aufgrund der mehr oder minder endgültigen Entscheidung zum Verbleib abgenommen zu haben. Eine Befragung aus dem Jahr 2017 belegt, dass sich von den Zugewanderten, die sich bereits über 20 Jahre in Österreich aufhielten, 56 Prozent als »völlig heimisch« empfanden, allerdings immer noch etwa neun Prozent als wenig bis überhaupt nicht heimisch.35 Etwa ab der Jahrtausendwende begann sich auch die öffentliche Wahrnehmung zu ändern. Der »Seniorenbericht 2000« widmete der Lebenssituation älterer Migrantinnen und Migranten ein Kapitel, in dem die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Wohnsituation, Familie und soziale Beziehungsnetze sowie die Präsenz in Betreuungseinrichtungen skizziert wurden. Der Bericht betonte die stark divergierende Problemsituation älterer Migrantinnen und Migranten im Vergleich mit der autochthonen Bevölkerung.36 Damit war in gewisser Weise ein Startschuss für die nähere Befassung mit älteren Migrantinnen und Migranten mit Bezug auf die Sozial- und Gesundheitspolitik gegeben. Gesundheitsverhalten Aufgrund der bereits erwähnten höheren Morbidität der nichteingebürgerten älteren Gastarbeiter verwundert es nicht weiter, dass diese ihren Gesundheitszustand subjektiv schlechter beurteilten, als das bei österreichischen Staatsbürgern der Fall war. Im Jahr 1999 meinten 62 Prozent der Letzteren im Alter von 55 bis 64 Jahren, sich in einem sehr guten oder guten Gesundheitszustand zu befinden, jedoch nur 49,5 Prozent unter den Personen mit ex-jugoslawischer oder türkischer Staatsbürgerschaft. Daher konsultierten Immigranten auch häufiger Allgemeinmediziner.37 Diese Praxis mündete aber nicht in einen besseren Zugang zur Vorsorgemedizin. Vielmehr lässt sich aus dem Gesundheitssurvey aus dem Jahr 1999 zumindest für jene älteren Gastarbeiter, die die österreichische Staatsbürgerschaft nicht angenommen oder deren Erwerb gar nicht angestrebt hatten, eine unterdurchschnittliche Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen feststellen.38 Dass dies nicht auf Nichteingebürgerte beschränkt blieb, bestätigen zwei Gesundheitssurveys von Statistik Austria aus den Jahren 2006/07 und 2014. Der erste Survey differenzierte allerdings nur sehr bedingt nach Altersgruppen, wie generell die vergleichsweise noch geringe Zahl der Befragten in den Stichprobenerhebungen häufig Aussagen nur für ex-jugoslawische und türkische Personen gemeinsam erlaubt. Dennoch
34 35 36 37 38
Reinprecht (2006), S. 47–75. Statistik Austria (2017), S. 95. Fernández de la Hoz/Pflegerl (2000), S. 470 f. Amesberger/Halbmayr/Liegl (2003), S. 173 und S. 181. Biffl (2003), S. 12 f.
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kann, wie die Konsistenz der Ergebnisse der beiden Erhebungen belegt, von statistisch signifikanten Resultaten dieser Erhebungen ausgegangen werden. Neben Bildungsdefiziten dürften aus der Herkunftsgesellschaft übernommene Verhaltensmuster dazu beigetragen haben, dass Personen mit Migrationshintergrund aus Ex-Jugoslawien und der Türkei ein riskanteres Gesundheitsverhalten an den Tag legten, als das bei der übrigen Bevölkerung der Fall war. So waren im Jahr 1999 Nichtraucher unter ex-jugoslawischen und türkischen Staatsbürgern signifikant seltener als unter Österreicherinnen und Österreichern (20 gegenüber 36 Prozent).39 Nach der Erhebung aus dem Jahr 2014 wiesen Frauen mit ex-jugoslawischem (ohne Slowenien und Kroatien) oder türkischem Migrationshintergrund einen Anteil täglich Rauchender von 38 Prozent auf, Männer von 31 Prozent (ohne Migrationshintergrund: 24 und 20 Prozent). Auch bei der Adipositas-Prävalenz waren die Werte zumindest bei den Männern überdurchschnittlich.40 In der Rentnerpopulation bildet sich dieses Verhaltensmuster vor allem in Form mehr als achtfach höherer Raucheranteile bei den Frauen gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund und mehr als doppelt so häufiger Adipositas bei den Männern ab.41 Mit Bezug auf das Rauchverhalten (und Alkoholmissbrauch) dürften diesbezüglich allerdings religiös begründete und herkunftsspezifische Unterschiede zwischen älteren Frauen mit türkischem und (ex-)jugoslawischem Migrationshintergrund bestehen. Diese sind empirisch bisher nicht untersucht worden. Teilweise auf die Bildungsschicht, teilweise aber auch auf Unkenntnis von Angeboten des öffentlichen Gesundheitswesens aufgrund sprachlicher Defizite war und ist die unterdurchschnittliche Inanspruchnahme von allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen durch Migrantinnen und Migranten zurückzuführen. Geringer, wenn auch nicht ganz bedeutungslos waren nach der Erhebung von 2014 die Unterschiede bei der Inanspruchnahme von Mammographie und Krebsabstrich. Auch ein aufrechter Impfschutz bestand unter Migrantinnen und Migranten seltener. Hingegen schnitten beim Diabetesrisiko trotz Adipositas bei den Männern die älteren Gastarbeiter wesentlich besser ab als die autochthonen Rentnerinnen und Rentner. Wie zahlreiche vergleichende Studien belegt haben, besitzt insbesondere der Nikotinkonsum für die differentielle Lebenserwartung bestimmter sozialer und ethnischer Schichten eine ganz zentrale Rolle.42 Insofern muss zumindest dieser Aspekt des Gesundheitsverhaltens der ersten Gastarbeitergeneration einen merkbar negativen Einfluss auf Morbidität und Mortalität dieser Bevölkerungsgruppe gehabt haben. Auch bei der unterdurchschnittlichen Inanspruchnahme der Präventivmedizin ist ein solcher wahrscheinlich.
39 40 41 42
Amesberger/Halbmayr/Liegl (2003), S. 180. Klimont/Baldaszti/Ihle (2016), S. 111 f. Vgl. dazu Tabelle 1. Vgl. dazu etwa zahlreiche Beiträge in Dinges/Weigl (2016).
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Chronische Erkrankungen Eine überdurchschnittliche Prävalenz von chronischen Beeinträchtigungen bzw. Krankheiten bei älteren Gastarbeitern war und ist in ganz Europa festzustellen.43 Differenzierungen sind bei der Analyse dieses und ähnlicher Ergebnisse allerdings vonnöten. So erbrachte die 2006/07 durchgeführte Gesundheitsbefragung in Österreich keinen besonders ausgeprägten Unterschied zwischen 55-jährigen und älteren Personen mit ex-jugoslawischem und türkischem Migrationshintergrund und Personen ohne Migrationshintergrund, was die Prävalenz insgesamt betrifft, jedoch bei einzelnen psychischen Krankheiten statistisch signifikant höhere Raten.44 Wie auch aus einer Erhebung aus dem Jahr 1999 hervorgeht, führte bei Zuwanderern mit diskontinuierlicher Erwerbsbiographie vielschichtige Unsicherheit zu psychosozialer Belastung. Von den damals befragten über 50-jährigen Arbeitsmigranten fühlten sich 46 Prozent psychosozial belastet, jedoch nur 26 Prozent bei der autochthonen Referenzgruppe.45 Nach dem Gesundheitssurvey von 2014 war die Selbsteinschätzung als »depressiv« bei erwerbstätigen Frauen, von denen beide Elternteile in (Ex-)Jugoslawien (ohne Slowenien und Kroatien) und der Türkei geboren wurden, doppelt so hoch wie bei in Österreich geborenen Frauen aus der autochthonen Bevölkerung. Aber auch Männer dieser Gruppe schätzten sich in überdurchschnittlichem Ausmaß als depressiv ein. Im Rentenalter war dieser Effekt statistisch nur bei den Männern nachweisbar, bei diesen aber in Form des 5,7-Fachen der autochthonen Referenzgruppe sehr ausgeprägt.46 Was nun die physischen Beschwerden anlangt, wiesen bereits Untersuchungen in den 1990er Jahren eine überdurchschnittlich häufige stationäre Behandlung von gastrointestinalen Erkrankungen, von Diabetes, Bluthochdruck, chronischer Bronchitis und Erkrankungen des Bewegungsapparates unter Immigrantinnen und Immigranten nach.47 Nach dem Survey 2006/07 traten bei Männern Migräne, chronische Kopfschmerzen und Wirbelsäulenbeschwerden signifikant häufiger auf, bei Frauen Diabetes, Bluthochdruck, Arthrose, Arthritis, Gelenksrheumatismus und Wirbelsäulenbeschwerden.48 Im Jahr 2014 litten an chronischen Kreuzschmerzen Seniorinnen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei 21-mal häufiger als die österreichische Referenzgruppe, bei Männern mehr als doppelt so häufig. Ein ähnliches Bild ergab sich bei chronischen Nackenschmerzen. Hier hatten Frauen aus Ex-Jugoslawien (außerhalb der EU) und Türkinnen als Rentnerinnen ein 7,5-fach erhöhtes Risiko.49 Die erhöhte Morbidität resultierte demnach sowohl aus körperlicher Überbeanspruchung als auch aus besonderen psychischen Belastungen. 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. dazu Lanari/Bussini (2011). Statistik Austria (2009), S. 84 f. Reinprecht (2006), S. 58. Vgl. dazu Tabelle 1. Ammesberger/Halbmayr/Liegl (2003), S. 174 f. Klimont u. a. (2008), S. 85. Klimont/Baldaszti/Ihle (2016), S. 141 und S. 145.
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Tab. 1: Gesundheitsindikatoren bei österreichischen Rentnern mit ex-jugoslawischem (ohne Slowenien/Kroatien) und türkischem Migrationshintergrund 2014 Wahrscheinlichkeit: Referenzgruppe: kein Migrationshintergrund = 1 (n = 15.771) Indikator
Frauen
Männer
Diabetes
0,11
0,67
Depressionen
0,70
5,65
Allergien
5,82
0,84
20,81
2,35
chronische Nackenschmerzen
7,53
0,58
chronische Kopfschmerzen
6,09
1,53
starkes Übergewicht
1,07
2,11
tägliches Rauchen
8,28
2,61
körperliche Inaktivität in der Freizeit
2,12
11,02
kein aufrechter Impfschutz
2,58
0,86
geringe soziale Unterstützung
0,84
2,65
chronische Kreuzschmerzen
Quelle: Klimont/Baldaszti/Ihle (2016), S. 129, S. 133, S. 137, S. 141, S. 145, S. 149, S. 153, S. 157, S. 161, S. 165, S. 169
Betreuung und Pflege Bekanntlich stehen Migrationsentscheidungen in enger Verbindung mit Netzwerken im Familienverband und Freundeskreis, die auch nach der Ankunft im Zielland weiterbestehen. Entsprechend stützen sich ältere Migrantinnen und Migranten besonders auf »networks of necessity«.50 Nach den Ergebnissen der Wiener Studie »Aktiv ins Alter«51 aus dem Jahr 2003 verfügten ältere Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter über ein signifikant höheres Maß an funktionalen Hilfsnetzwerken im Krankheitsfall und generell bei der Hilfe im Haushalt, als das bei Autochthonen der Fall war. Vor allem bei Älteren aus der Türkei dominierte mit 73 Prozent die Hilfe innerhalb der Familie (hingegen nur 39 Prozent bei jenen aus Ex-Jugoslawien und 47 Prozent bei Einheimischen). Bei den Älteren aus Ex-Jugoslawien war es mit 60 Prozent der Freundeskreis, der den höchsten Anteil am Netzwerk hatte. Dieser spielte bei Zuwanderern aus der Türkei mit 18 Prozent eine geringe Rolle, bei Autochthonen hatte er mit 36 Prozent einen durchschnittlichen Anteil.52 Die informellen Netzwerke der Migrantinnen und Migranten erwiesen sich allerdings als durchaus fragil – zumindest für den männlichen Teil. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2014 war die Wahrscheinlichkeit geringer sozialer Unterstützung 50 Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 24 (2016), S. 19. 51 Stichprobengröße n = 335. 52 Reinprecht (2006), S. 96–98.
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im Alter bei ehemaligen Gastarbeitern etwa 2,65-mal so hoch wie bei der Vergleichspopulation ohne Migrationshintergrund. Hingegen hatten ehemalige Gastarbeiterinnen weiterhin eine höhere Chance, unterstützt zu werden, als dies bei Rentnerinnen ohne Migrationshintergrund der Fall war.53 Geht es nach den Wunschvorstellungen der Betroffenen, dann bevorzugten Migrantinnen und Migranten im höheren Alter im Fall von Krankheit und Gebrechlichkeit fast ausschließlich Hilfe durch Ehepartner und Familie. Etwa zwei Drittel der befragten Personen der Studie »Senior Plus« aus dem Jahr 199954 präferierten die Pflege durch den Ehepartner in der eigenen Wohnung, das galt noch etwas mehr bei Migranten aus der Türkei und Bosnien55. Generationsübergreifende Verpflichtungsnormen waren und sind in manchen migrantischen Milieus sehr verbreitet.56 Die Erwartung, im Bedarfsfall von den eigenen Kindern gepflegt zu werden, war und ist besonders bei aus der Türkei stammenden Migranten sehr ausgeprägt und Teil eines zumeist unausgesprochenen moralischen Codes. Die Pflegeleistung der Kinder wird durch die Vererbung des Familienvermögens »abgegolten«, ein »Deal«, der freilich an Attraktivität verliert, wenn die zweite Generation kaum mehr Bindungen an das Heimatland der Eltern besitzt.57 Eine gewisse diesbezüglich mittlerweile eingetretene Desillusionierung zeigte etwa eine Wiener Befragung aus dem Jahr 2015.58 Nunmehr gab nur ein Viertel der aus der Türkei stammenden Befragten an, zu erwarten, von den Kindern im Alter gepflegt zu werden, aber immerhin 56 Prozent wollten mit den Kindern wohnen.59 Die Alternative zur familiären Pflege bieten soziale Dienste, doch, wie auch vergleichbare Befunde aus anderen europäischen Ländern belegen, nahmen und nehmen Angehörige der »Gastarbeitergeneration« öffentliche Angebote aus diesem Bereich kaum an.60 Als Barrieren bei der Inanspruchnahme von sozialen Einrichtungen und Diensten wurden bei der Wiener Studie »Aktiv ins Alter« zu 84 Prozent das fehlende muttersprachliche Angebot, zu 60 Prozent fehlende Kenntnis über Zuständigkeiten, zu 43 Prozent Verständigungsschwierigkeiten, aber nur zu 23 Prozent Angst vor Diskriminierung genannt.61 Im Jahr 2015 zeigte sich ein ähnliches Bild. 48 Prozent der Personen mit Geburtsland Türkei gaben als Grund für die Unkenntnis von Angeboten und Einrichtungen an, dass keine Informationen in der Muttersprache zur Verfügung standen, ebenso viele die Angst, die Formulare nicht zu verstehen
53 54 55 56 57 58 59 60
Klimont/Baldaszti/Ihle (2016), S. 169. n = 241. Reinprecht (2006), S. 193. Nauck (2004); Carnein/Baykara-Krumme (2013). Korkutan (2011), S. 62–65. Stichprobengröße n = 429. Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 24 (2016), S. 86. Okken/Spallek/Razum (2008); Sirlinger/Kröß (2013); PRIAE (2005); Lanari/Bussini (2011). 61 n = 120. Reinprecht (2006), S. 206.
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oder etwas falsch zu machen. Bei Bosniern und Serben waren die entsprechenden Anteile mit rund 35 Prozent niedriger, aber doch auch beträchtlich.62 In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass für die Akzeptanz von sozialen Diensten und Versorgungsangeboten herkunftsbedingte Einflussfaktoren eine Rolle spielen. So bilden stationäre Einrichtungen für Migrantinnen und Migranten aus der Türkei in weit geringerem Ausmaß eine Option als für die anderen Migrantengruppen. Das liegt nicht unbedingt an grundsätzlich fehlender Akzeptanz dieser Einrichtungen. Als entscheidender Punkt erwies sich vielmehr, inwieweit eine Wohn- und Pflegeeinrichtung auch den kulturellen Bedürfnissen der Älteren entgegenkommt. So gaben 2015 40 Prozent der in der Türkei geborenen Befragten als Grund für mangelnde Akzeptanz des Angebots an, niemanden zu kennen, der in der Einrichtung lebt oder arbeitet.63 Tab. 2: Kenntnis und Akzeptanz sozialer Dienste unter älteren Wiener Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern 1999 (in Prozent) Angebote
bekannt
Akzeptanz nach Herkunft Türkei
Ex-Jugoslawien
Essen auf Rädern
60
26
28
Heimhilfe
55
21
23
mobile Krankenschwester
47
31
29
Pensionistenklub
59
22
8
Pflegeheim
70
15
12
Quelle: Reinprecht (2006), S. 208 (n = 241)
Zwischen theoretischer Akzeptanz und gelebter Praxis bestand zudem noch ein erheblicher Unterschied. Noch 2015 stammten nur rund neun Prozent der im Ausland geborenen Empfänger von mobilen und stationären Diensten in Wien aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo. Leistungsbezieher, die aus der Türkei stammten, gab es kaum.64 Dieser Befund verweist auf die zwar nachvollziehbare, aber letztlich doch defizitäre Orientierung öffentlicher Sozial- und Gesundheitsleistungen auf existentielle Bedürfnisse Pflege benötigender älterer Personen. Diese bringen vor allem soziale und kulturelle Vorstellungen mit ein. Das gilt für alte Menschen türkischer Herkunft offensichtlich in besonders ausgeprägter Form, weniger für Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien.65 Die Ablehnung österreichischer Altenheime ist bei Ersteren, wie eine Studie zeigte, vor allem auf das Fehlen kultursensibler Angebote mit Bezug auf Körperpflege, Essen und Sprache begründet. Nur eine 62 63 64 65
Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 24 (2016), S. 52. Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 24 (2016), S. 52. Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 24 (2016), S. 34. Ziegelwanger (2008).
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Minderheit lehnte jede Art von Altenheim ab.66 In den letzten Jahren scheint sich allerdings unter der »Diktatur des Faktischen« (Berufstätigkeit der Kinder) die Akzeptanz sozialer Dienste und der Pensionisten- oder Pflegeheime erhöht zu haben, wobei allerdings bedeutende Unterschiede zwischen ex-jugoslawischer und türkischer Herkunft bestehen blieben. Tab. 3: Wo könnten Sie sich vorstellen zu leben, falls Sie einmal stärker auf Hilfe angewiesen sind? (in Prozent) Ort
Staatsbürgerschaft (1999)
Geburtsland (2015)
eingebürgert
Türkei
Ex-Jugoslawien
Türkei
Serbien
Bosnien
eigene Wohnung, soziale Dienste helfen
27
22
19
69
63
72
Wohnung meines Kindes
6
9
17
Pensionisten- oder Pflegeheim
25
3
12
35
50
46
21
48
45
Pensionisten- oder Pflegeheim nur für Landsleute n = 241 (1999), 429 (2015)
Quellen: Reinprecht (2006), S. 193; Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 24 (2016), S. 56
Ein »Healthy-Migrant-Effekt«? Unter dem Healthy-Migrant-Effekt versteht man, dass sich Personen mit gutem bis sehr gutem Gesundheitszustand eher zur Abwanderung aus der Heimat entschließen als Personen mit gesundheitlichen Problemen. Nach dieser These begünstigt also ein guter Gesundheitsstatus die individuelle Migrationsentscheidung, ebenso wie er bei der Rekrutierung von Arbeitskräften eine Rolle zu spielen vermag. Daraus können zumindest temporär positive Selektionseffekte für die Population der Arbeitsmigrantinnen und -migranten entstehen.67 Im Fall der Gastarbeiterwanderung nach Österreich ist zumindest, was die Praxis der Anwerbestellen anlangt, von einer – wenn auch kruden – Selektion mit Bezug auf den Gesundheitszustand der angeworbenen Arbeitskräfte auszugehen, die etwa den Charakter einer Stellungskommission beim Militärdienst hatte.68 Allerdings kamen wie erwähnt ab etwa 1970 nur noch wenige Zuwanderer im Kontingent, weil der Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt in der Praxis liberalisiert wurde. Jedenfalls ist es aber einleuch66 Altintop (2010). 67 Razum (2006); Razum/Rohrmann (2002); Swallen (1997). 68 Hahn/Stöger (2014), S. 22.
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tend, dass chronisch kranke Personen wohl kaum den Entschluss zur Arbeitsmigration gefasst hätten. Auf Basis der österreichischen Sterbetafeln der Jahre 2011/12 lässt sich belegen, dass tatsächlich die Sterblichkeit von Personen ex-jugoslawischer und türkischer Herkunft69 bis etwa zum 55. Lebensjahr eindeutig niedriger als bei der einheimischen Bevölkerung war, was zumindest für die Existenz eines temporären Healthy-Migrant-Effekts spricht. In den Altersstufen der 70-Jährigen und Älteren waren die Sterbewahrscheinlichkeiten jedoch tendenziell bei den ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern um einige Prozentpunkte höher als bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.70 Wenn es den Healthy-Migrant-Effekt gab, dann schwand er offensichtlich im Lauf des Lebens und kehrte sich schließlich in Übersterblichkeit um. Das wird auch am Beispiel der Gastarbeitergeneration deutlich. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich aber nicht unbeträchtliche Unterschiede nach Herkunft und Geschlecht. Bei den jugoslawischen Gastarbeitern war der Effekt in den mittleren Altersgruppen nie sehr ausgeprägt und kehrt sich ab der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen in eine deutliche Übersterblichkeit um. Hingegen wiesen die türkischen Gastarbeiter bis fast zum 70. Lebensjahr kleinere Sterberaten im Vergleich zu Männern inländischer Herkunft auf, und die Übersterblichkeit im höheren Alter war auch geringer. 12,0
10,0
8,0
6,0
4,0
Ex-Jugoslawien Türkei
2,0
0,0
40-44
45-49
50-54
55-59
60-64
65-69
70-74
75-79
80-84
-2,0
-4,0
-6,0
Abb. 1: Untersterblichkeit (-) und Übersterblichkeit (+) der männlichen Bevölkerung mit ex-jugoslawischer und türkischer Herkunft 2011/12 (altersspezifische Sterberaten auf 1.000)
69 Personen mit ausländischem Geburtsort oder ausländischer Staatsbürgerschaft. 70 Eigene Berechnungen nach Statistik Austria (2011); Statistik Austria: Demographische Indikatoren (2012), S. A6.
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Das bemerkenswerteste Ergebnis zeigte sich aber bei den Migrantinnen. Bei den Jugoslawinnen gab es den Healthy-Migrant-Effekt praktisch nicht. Ab dem Alter von etwa 65 Jahren war ihre Sterblichkeit höher als die der Frauen inländischer Herkunft, wenngleich die Unterschiede geringer ausfielen als bei der männlichen Bevölkerung. Die weibliche Bevölkerung türkischer Herkunft wies im Gegensatz zur (ex-)jugoslawischen erst ab dem Alter von etwa 75 Jahren eine höhere Sterblichkeit als Frauen inländischer Herkunft aus, ab dem 80. Lebensjahr hingegen eine sehr ausgeprägte Untersterblichkeit, doch ist dabei die geringe Zahl der Angehörigen dieser Altersgruppe zu berücksichtigen, was die statistische Aussagekraft dieser Rate sehr beschränkt. 15,0
10,0
5,0
0,0
-5,0
-10,0
40-44
45-49
50-54
55-59
60-64
65-69
70-74
75-79
80-84
Ex-Jugoslawien Türkei
-15,0
-20,0
-25,0
-30,0
Abb. 2: Differenz zwischen den altersspezifischen Sterberaten (auf 1.000) der weiblichen Bevölkerung mit österreichischer zu ex-jugoslawischer und türkischer Herkunft 2011/12
Zu erinnern ist bei der Interpretation der altersspezifischen Sterberaten der weiblichen Bevölkerung daran, dass ein Teil der Frauen mit (ex-)jugoslawischer und türkischer Herkunft ja nicht als Gastarbeiterinnen nach Österreich zuwanderte, sondern im Zuge des Familiennachzugs. Der Healthy-MigrantEffekt mag daher nicht seine volle Wirkung erzielt haben. Ganz abgesehen davon, dass es keine Bauarbeiterinnen und keine Arbeiterinnen in der Schwerindustrie gab, sind auch die unterschiedlichen Erwerbsquoten der Migrantinnen zu beachten. Diese lagen zwar bei den Ex-Jugoslawinnen nicht sehr unter dem Niveau der einheimischen Frauen, bei den Türkinnen jedoch deutlich darunter. Migrantinnen, die Hausfrauen waren und blieben, unterlagen zwar auch und vielleicht sogar in höherem Maß spezifischen psychischen Belastungen von Gastarbeiterinnen, was auch zu einer höheren Morbidität beitrug, doch galt das offensichtlich nicht für die mit Industriearbeit verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen.
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Aber abgesehen von der spezifischen Lebens- und Arbeitssituation vieler türkischer Migrantinnen ist auf das doch etwas überraschende Gesamtergebnis der Berechnungen von Lebenserwartungen nach Herkunft hinzuweisen. In Summe unterschied sich die Lebenserwartung bei der Geburt zwischen Migrantinnen und Migranten und der einheimischen Bevölkerung nicht sehr ausgeprägt, zwischen türkischer und (ex-)jugoslawischer Herkunft bestanden jedoch erhebliche Differenzen. Bei Personen österreichischer Herkunft lag im Jahr 2011 die Lebenserwartung bei der Geburt bei 78,0 Jahren für Männer und 83,4 Jahren für Frauen. Die Lebenserwartung von Männern türkischer Herkunft lag mit 79,4 Jahren über dem Vergleichswert österreichischer Männer. Bei Frauen türkischer Herkunft fiel die Differenz zu deren Gunsten gegenüber österreichischen Frauen mit 2,3 Jahren noch etwas größer aus. Auch 2018 war die Lebenserwartung von Personen mit türkischer Herkunft bei der männlichen Bevölkerung etwas höher als bei Personen österreichischer Herkunft, bei der weiblichen jedoch nurmehr um ein Jahr höher. Hingegen wiesen Personen mit Herkunft Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien eine signifikante, um 1,5–2,5 Jahre geringere Lebenserwartung auf.71 Nun könnte die Abwanderung von Rentnern in das Heimatland die Ergebnisse verzerrt haben, was jedoch wenig wahrscheinlich ist. Zum einen ist die statistische Erfassung von in Österreich versicherten und im Ausland verstorbenen Personen mittlerweile nahezu lückenlos, zum anderen erscheint es auch wenig plausibel, dass schwerkranke Personen zur medizinischen Betreuung in das Heimatland rückwanderten, wenn sie dort nicht versichert waren. Zudem fehlte es in den kleineren Heimatgemeinden an einer medizinischen Infrastruktur.72 Immerhin mag es aber in einer kleineren Zahl der Fälle vorgekommen sein, dass chronisch kranke Personen sich zur Rückwanderung entschieden haben, weil sie in der Heimatgemeinde über verwandtschaftliche Hilfe verfügten und dort sterben wollten. Der Healthy-Migrant-Effekt kann für die differentielle Lebenserwartung nur von untergeordneter Bedeutung gewesen sein, da ja die Sterblichkeit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, wie gezeigt, im höheren Alter über jener der autochthonen lag. Demnach müssen noch weitere mit dem Lebensstil in Verbindung stehende Faktoren in Betracht gezogen werden. Dass deren Einfluss erheblich war und ist, zeigt ein Vergleich bildungsspezifischer Sterbetafeln. Der Bildungsgradient der Mortalität Bei der Betrachtung der differentiellen Sterblichkeit migrantischer Bevölkerungsteile und der übrigen Bevölkerung blieb bisher der Einfluss der Bildung unberücksichtigt. Dass dieser von großer Bedeutung ist, lässt sich statistisch eindeutig belegen. Im Jahr 2001 bewegte sich die fernere Lebenserwartung bei Männern im Alter von 35 Jahren, also nach Abschluss der Bildungskarriere, 71 Statistik Austria (2018), S. 69. 72 Korkutan (2011), S. 120.
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zwischen 46,4 Jahren unter Akademikern und 40,2 Jahren bei Personen mit oder ohne Pflichtschulabschluss. Bei den Frauen betrugen die entsprechenden Werte 49,4 und 46,6. Die Spannweite war also sowohl in Jahren als auch prozentuell (bezogen auf das Gesamtmittel) bei der weiblichen Bevölkerung wesentlich niedriger als bei der männlichen. Nach Altersjahren differenziert nahm die Spannweite in Prozent des Gesamtmittels mit steigendem Alter bei beiden Geschlechtern zu. Bei den 65-Jährigen betrug dieser Wert 20 Prozent bei den Männern und zehn Prozent bei den Frauen.73 Dieser Bildungsgradient zwischen der höchsten und niedrigsten Bildungsstufe erwies sich in Österreich nicht nur als weitgehend stabil, er vergrößerte sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends bei der männlichen Bevölkerung sogar noch auf sieben Jahre, während er bei der weiblichen Bevölkerung konstant blieb.74 Von der Wirkungsweise dieses Bildungsgradienten, der auch in zahlreichen internationalen Studien belegt ist, kann auch bei der Gastarbeiterbevölkerung ausgegangen werden. Ein Vergleich der Lebenserwartung nach Erreichen des 35. Lebensjahres nach höchster abgeschlossener Ausbildung für die Jahre 2011/12 zeigt nun, dass Personen mit jugoslawischer und türkischer Herkunft eine höhere Lebenserwartung aufwiesen, als dies ihr Bildungsgrad hätte erwarten lassen. Dies traf für Männer mit (ex-)jugoslawischer Herkunft und besonders für Männer und Frauen mit türkischer Herkunft zu. Im letzteren Fall lag die Lebenserwartung um rund zweieinhalb Jahre über der durchschnittlichen Lebenserwartung von Personen mit oder ohne Pflichtschulabschluss. Hingegen hatten Ex-Jugoslawinnen selbst gegenüber dem Durchschnitt aller Personen mit geringer Bildung nicht nur keinen Überlebensvorteil, sondern sogar eine geringfügig niedrigere Lebenserwartung. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass aus der Herkunftskultur übernommene Lebensstile eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Tab. 4: Lebenserwartung nach Erreichen des 35. Lebensjahres nach Migrationshintergrund und Bildungsgrad 2011/12 Herkunftsland 1)
männlich
weiblich
Ex-Jugoslawien
78,1
82,8
Türkei
79,4
85,7
Gesamtbevölkerung
79,3
84,0
Pflichtschule
76,9
83,1
Lehre, berufsbildende Schule
79,2
84,5
nach abgeschlossener Ausbildung:
1) nichtösterreichische Staatsangehörige und im Ausland geborene österreichische Staatsangehörige Quelle: Statistik Austria (2011), Statistik Austria: Migration (2012); Klotz/Asamer (2014), S. 214 73 Klotz (2007), S. 300. 74 Klotz/Asamer (2014), S. 213.
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Harte Arbeit – langes Leben? Wie eingangs erwähnt, war mit der Gastarbeiterwanderung eine Unterschichtung verbunden, die mit sozialer und ökonomischer Diskriminierung einherging. Die ökonomische Situation und das Bildungsniveau von Rentnerinnen und Rentnern der Gastarbeitergeneration, die von ca. 1965 bis 1985 nach Österreich zugewandert waren und dauerhaft im Land verblieben, ließe eine deutlich unterdurchschnittliche Lebenserwartung dieser Bevölkerungsgruppe erwarten. Doch bestand eine solche nur für Teilgruppen. Beispielsweise hatte im Durchschnitt der Jahre 2009/2011 lediglich die weibliche Bevölkerung ex-jugoslawischer Herkunft eine niedrigere Lebenserwartung bei der Geburt als jene österreichischer Herkunft, die männlichen Teilpopulationen lagen gleichauf. Die Bevölkerung türkischer Herkunft wies eine eindeutig höhere Lebenserwartung auf, im Fall der weiblichen Bevölkerung von mehr als zwei Jahren. Hinsichtlich der ferneren Lebenserwartung nach dem Erreichen des 65. Lebensjahres bestand dieser Vorteil ausschließlich bei der weiblichen Bevölkerung türkischer Herkunft.75 Der Befund wird noch überraschender, wenn der niedrige Bildungsgrad der Gastarbeiterpopulation berücksichtigt wird. Aufgrund des hohen Anteils von Personen mit Pflichtschulbildung unter den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern aus Ex-Jugoslawien und der Türkei wäre eine geringere bildungsspezifische Lebenserwartung zu vermuten gewesen, als sie tatsächlich vorlag. Auch das im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund problematische Gesundheitsverhalten der Migrantinnen und Migranten im Rentenalter besonders mit Bezug auf Nikotinkonsum und Gesundheitsprävention hätte eine geringere Lebenserwartung vermuten lassen, als die Bevölkerungsstatistik sie ausweist. Diese vergleichsweise hohe Lebenserwartung kann wiederum nicht oder allenfalls nur sehr bedingt auf den Healthy-Migrant-Effekt zurückgeführt werden, denn dieser bestand in den höheren Altersklassen nicht mehr und war vielmehr einer Übersterblichkeit gewichen.76 Demnach müssen für die relativ günstige Lebenserwartung der Migrantinnen und Migranten andere Faktoren maßgeblich gewesen sein. Zumindest im Fall der Bevölkerung türkischer Herkunft könnte ein aus der Heimatskultur übernommenes, religiös fundiertes, geringeres Suchtmittelmissbrauchsrisiko eine Rolle gespielt haben. Dies ist allerdings bisher noch nicht empirisch belegt worden, nicht zuletzt weil die betreffenden Stichprobengrößen dies nicht zuließen. Auch ein langes Nachwirken des Healthy-Migrant-Effekts mit Bezug auf die Mortalität, nicht die Morbidität, wäre denkbar. Dichtere familiäre Netzwerke im Krankheitsfall könnten diesen Effekt verstärkt haben. Für die hohe Lebenserwartung von Frauen türkischer Herkunft mag auch eine Rolle gespielt haben, dass die Erwerbsquote unter dieser Bevölkerungsgruppe erheblich niedriger war als bei der übrigen weiblichen Bevölkerung. Im Jahr 2011 betrug diese unter der weiblichen Bevölkerung türkischer Herkunft im 75 Statistik Austria: Migration (2012), S. 67. 76 Statistik Austria: Migration (2012), S. 66.
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Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) lediglich 37 Prozent, unter den in Serbien Geborenen jedoch 56 Prozent, unter den in Kroatien Geborenen 62 Prozent und unter den in Österreich Geborenen 66 Prozent. Nun ist bei der Interpretation dieses Ergebnisses auch das unterschiedliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit zu beachten, doch kann kein Zweifel bestehen, dass Hausfrauen unter den in der Türkei Geborenen weit überproportional vertreten waren.77 Zwar ist Hausarbeit per se nicht notwendigerweise gesünder als Erwerbsarbeit, und einschlägige Studien haben belegt, dass gesundheitsmindernde Faktoren wie Übergewicht besonders unter nichtberufstätigen Türkinnen in Wien zu beachten sind78, aber die spezifischen Umweltbelastungen der Gastarbeiterpopulation am Arbeitsplatz fielen für einen Teil dieser Bevölkerungsgruppe jedenfalls aus. Trotz dieser vergleichsweise günstigen Befunde bestehen in naher Zukunft erhebliche gesundheitspolitische Herausforderungen. Älteren Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern mangelt es vielfach an Information zu Angeboten des Gesundheitswesens, und besonders bei der aus der Türkei stammenden Bevölkerung fehlt es an kultursensibler Altenbetreuung. Abgesehen von der psychischen Belastung der Betroffenen selbst besteht die Gefahr zunehmender Konflikte innerhalb von Migrantenfamilien, was die Altenbetreuung und die Betreuung im Krankheitsfall anlangt, da die kollektivistische Orientierung in der Familie mit der Arbeits- und Lebenswelt der zweiten und dritten Generation zunehmend nicht mehr kompatibel ist.79 Die Geschichte der Gastarbeiterwanderung wirft also auch noch ein halbes Jahrhundert danach ihren langen Schatten. Bibliographie Achatz, Thomas u. a.: Ausländische Arbeitskräfte in Österreich – Sozialwissenschaftlicher Teil. In: Bundesministerium für soziale Verwaltung (Hg.): Ausländische Arbeitskräfte in Österreich. (=Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 9) Wien 1985, S. 31–227. Altintop, Nevin: Wie sich türkischsprachige Migranten in Wien ihre Zukunft im Alter vorstellen. [Ungedr. Dipl.-Arb.] Wien 2010. Amesberger, Helga; Halbmayr, Brigitte; Liegl, Barbara: Gesundheit und medizinische Versorgung von ImmigrantInnen. In: Fassmann, Heinz; Stacher, Irene (Hg.): Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht. Klagenfurt 2003, S. 171–194. Arbeitskreis für ökonomische und soziologische Studien: Gastarbeiter. Wirtschaftsfaktor und soziale Herausforderung. Wien 1973. Banjeglav, Sanja: Familiensituation der ersten jugoslawischen »Gastarbeiter« in Österreich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. In: Özbaș, Ali; Hainzl, Joachim; Özbaș, Handan (Hg.): 50 Jahre jugoslawische Gastarbeit in Österreich. Graz 2016, S. 74–90. Bauböck, Rainer: Demographische und soziale Struktur der jugoslawischen und türkischen Wohnbevölkerung in Österreich. In: Wimmer, Hannes (Hg.): Ausländische Arbeitskräfte in Österreich. Frankfurt/Main 1986, S. 181–239. Bauböck, Rainer; Perchinig, Bernhard: Migrations- und Integrationspolitik. In: Dachs, Herbert u. a. (Hg.): Politik in Österreich. Das Handbuch. Wien 2006, S. 726–742. 77 Statistik Austria (2013), S. 85 f. 78 Kilaf (2004). 79 Korkutan (2011), S. 65 f.; Gapp (2007).
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Andreas Weigl
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 105–126, FRANZ STEINER VERLAG
Die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderungen in intersektionaler Perspektive Gabriele Lingelbach Summary The development of Federal German healthcare for people with disabilities from an intersectional perspective Health policies and services, and consequently the health prospects of people with disabilities, used to vary widely within the Federal Republic of Germany. While physically disabled war invalids and victims of work accidents would benefit at an early stage, it took much longer for lawmakers to include people with congenital physical or intellectual disabilities, or people whose disability was not caused by their work, into the healthcare provision. As a result, women, children and youngsters as well as people with mental health issues and learning disabilities received rehabilitation measures only later on and the welfare state agreed rather late to cover the extra disability-related costs for these groups. Intersectional analysis of the health policies casts light on these differences and allows for two conclusions to be drawn: firstly, disability history should differentiate to a greater extent on the basis of other inequality categories such as gender and age, and secondly, not only discriminatory but also privileging mechanisms were at work within the group of people with disabilities.
Einführung Betrachtet man die Entwicklung von Gesundheitspolitik, -versorgung und auch von Gesundheitschancen, so wird deutlich, dass soziale Ungleichheitskategorien erheblichen Einfluss auf diesen Prozess genommen haben. So hatten beispielsweise das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit von Individuen oder Gruppen enorme Auswirkungen darauf, wer in welchem Maße welche gesundheitsbezogenen Vor- und Fürsorgemaßnahmen erhielt und dementsprechend gesundheitspolitisch privilegiert oder diskriminiert wurde.1 In der Forschung ist in diesem Zusammenhang der Ungleichheitskategorie Behinderung bzw. Nichtbehinderung allerdings erst relativ wenig Beachtung geschenkt worden. Zwar etabliert sich der Ansatz der Disability History, also der Erforschung der Geschichte von Menschen mit spezifischen körperlichen, psychischen oder kognitiven Andersartigkeiten, mittlerweile seit einigen Jahren in der deutschen
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Siehe hierzu die anderen Beiträge zum Thema in diesem Band.
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Geschichtswissenschaft.2 Doch jenseits der grundlegenden Arbeiten zum umfassenderen Thema der bundesrepublikanischen Behindertenpolitik von Wilfried Rudloff3, Ferdinand Schliehe4 und Elsbeth Bösl5 ist die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen nur selten in den Blick genommen worden. Die genannten Autoren und Autorinnen haben bereits betont, dass hinsichtlich der Behindertenpolitik der BRD nicht pauschal von ›den‹ Menschen mit Behinderungen gesprochen werden sollte und nicht vorausgesetzt werden kann, dass sie gleiche Lebenslagen oder Interessen miteinander teilten. Ebenso wenig sollte davon ausgegangen werden, dass alle Menschen mit Behinderungen stets ausschließlich Diskriminierungserfahrungen gemacht hätten. Neuere Arbeiten zur Geschichte einzelner Betroffenengruppen wie etwa erblindeten Menschen6 oder contergangeschädigten Personen7 verdeutlichen, dass sich nicht nur die Lebenslagen je nach Art und Ursache der Behinderung sehr unterschiedlich gestalteten, sondern dass außerdem bestimmte Gruppen wie etwa kriegsversehrte Männer nicht nur Diskriminierungen, sondern auch Privilegierungen erfahren haben8. Mithin hat die Forschung den Blick zunehmend auf die Binnendifferenzierung gelegt. Dabei wurde nicht nur nach Behinderungsformen und -ursachen unterschieden, sondern zudem innerhalb der Gesamtheit der Menschen mit Behinderungen intensiver danach gefragt, inwiefern weitere Ungleichheitskategorien auf Lebens- und Interessenlagen sowie gesellschaftliche Teilhabechancen einwirkten. Swantje Köbsell hat zum Beispiel in einer Fallstudie zur Geschichte der deutschen Behindertenbewegung den Blick sowohl auf die Ungleichheitskategorie Behinderung als auch auf jene des Geschlechts gerichtet. Sie wies darauf hin, dass Frauen innerhalb der sogenannten Krüppelbewegung unterrepräsentiert waren und ihre Anliegen bei den männlich dominierten Bewegungsakteuren kaum Berücksichtigung fanden.9 Zugleich hat sie herausgestellt, dass sich sowohl Weiblichkeitsund Männlichkeitskonstruktionen als auch -identitäten spezifisch ausformten, wenn sie in Bezug zu Behinderung gesetzt wurden. Dass ein solches Aufeinandertreffen von verschiedenen Ungleichheitskategorien bei Kollektiven oder Individuen mittlerweile auch im Rahmen der Disability History untersucht wird, liegt u. a. daran, dass der ebenfalls relativ junge Ansatz der Intersektionalität das methodische und teilweise auch das begriffliche Rüstzeug zur Verfügung stellt, um stärker nach Binnendifferenzierungen
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Zum Ansatz der Disability History siehe Bösl (2013); Lingelbach (2018). Neuere Forschungsergebnisse fassen zusammen: Baar (2017); Lingelbach (2019); Schmuhl (2013). Rudloff (2005); Rudloff (2007); Rudloff (2006); Rudloff/Schliehe (2008). Zusammenfassend: Rudloff: Sozialstaat (2003); Rudloff: Überlegungen (2003). Schliehe (2005). Bösl (2006). Klettner/Lingelbach (2018). Freitag (2005). Schlund (2017). Köbsell (2016). Zur Behindertenbewegung im Allgemeinen siehe Stoll (2016).
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fragen zu können.10 Unter Intersektionalität wird dabei das gleichzeitige Zusammenwirken mehrerer Ungleichheitskategorien wie Ethnizität, Geschlecht oder Klasse verstanden. Intersektionale Forschung widmet sich folglich den Überkreuzungen und Verwobenheiten derartiger kategorialer Zuschreibungen und deren Folgen auf der Ebene von Identitätskonstruktionen, Zuschreibungspraktiken oder auch gesellschaftlicher Hierarchisierungen. Dabei unterscheidet man zwei verschiedene Perspektivierungen: Intra-kategoriale Analysen fragen nach den Binnendifferenzierungen, welche innerhalb einer Personengruppe bestehen, die eine gemeinsame kategoriale Zuschreibung teilen. So werden etwa bei der Untersuchung von Personengruppen wie Muslimen in Deutschland oder Afroamerikanern in den USA Differenzierungen vorgenommen, wenn zusätzliche Kategorisierungen wie etwa Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad in die Analyse einbezogen werden. Mit Hilfe des intra-kategorialen Ansatzes werden somit die innerhalb der jeweiligen Personengruppe durch Selbstbeschreibungen oder kategoriale Fremdzuweisungen produzierten Binnendifferenzierungen sowie deren Folgen analysiert. Eine zweite analytische Herangehensweise stellt der inter-kategoriale Ansatz dar. Dieser untersucht die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Kategorien. Erforscht wird beispielsweise, wie die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht und gleichzeitig zu einer Ethnie zusammenwirkt und spezifische Identitäten oder Zuschreibungen generiert werden. Dies kann in Form etwa von Konstruktionen ›weißer‹ oder ›schwarzer‹ Männlichkeit oder Weiblichkeit bzw. männlichen oder weiblichen ›Schwarz-Seins‹ oder ›Weiß-Seins‹ erfolgen. Zentrale Überlegungen des Intersektionalitätsansatzes werden im Folgenden heuristisch eingesetzt, um in einer historischen Perspektive nach Hierarchisierungen innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen zu fragen.11 Dabei wird in erster Linie eine intra-kategoriale Perspektive eingenommen und die Entstehung und der Wandel von Binnenhierarchisierungen analysiert. Gefragt wird mithin sowohl nach Privilegierungen als auch nach Diskriminierungen anhand des Fallbeispiels der Gesundheitsfürsorge und der medizinischen Rehabilitation für Menschen mit Behinderungen. Untersucht wird, nach welchen Kriterien diese Binnenhierarchien aufgestellt wurden. Entscheidend ist somit, welche Kategorisierungen eine Rolle dabei spielten, dass innerhalb der Gesamtheit der Gruppe der Menschen mit Behinderungen Privilegierungs- und Diskriminierungsmechanismen griffen. Im Zentrum steht die staatliche Gesundheitspolitik für Menschen mit Behinderungen von 1949 bis in die 1970er Jahre. Es handelt sich also um einen Zeitraum, in dem die westdeutsche Behindertenpolitik vor allem noch Rehabilitationspolitik war. Genauer liegt der Fokus auf der medizinischen Rehabilitation: Anhand dieser 10 Einführend in den Intersektionalitätsansatz: Bührmann (2009); Meyer (2017); Walgenbach (2012); Winker/Degele (2009). 11 Aus der Gegenwartsperspektive siehe dazu Baldin (2014). Zur Anwendbarkeit des Intersektionalitätsansatzes im Bereich der Geschichtswissenschaft siehe Griesebner/Hehenberger (2010); Schnicke (2014). Geschichtswissenschaftliche empirische Umsetzungen finden sich u. a. in Bähr/Kühnel (2018).
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wird paradigmatisch eruiert, wann welche Gruppe von Menschen mit Behinderungen privilegiert bzw. diskriminiert wurde. Es soll ermittelt werden, durch wen, durch welche Maßnahmen und warum es zu ungleicher Behandlung kam. Als Kriterium für Diskriminierung und Privilegierung im Bereich des Gesundheitswesens wird der Zugang zu wiederherstellenden und präventiven Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge und medizinischen Rehabilitation festgelegt. Dabei geraten jene drei Bereiche des deutschen Sozialstaats in den Fokus, in denen auf behinderte Menschen bezogene Maßnahmenkataloge verhandelt wurden: erstens die beitragsfinanzierte Versicherung, zweitens die aus Steuern finanzierte Versorgung und drittens die Fürsorge bzw. Sozialhilfe. Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit Blickt man auf die Genese der Gesundheitsfürsorge und medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen seit der Gründung der Bundesrepublik, dann lässt sich feststellen, dass einige Gruppen früher, andere später von solchen Maßnahmen profitieren konnten. Der Aufmerksamkeitsradius von (gesundheits-)politischen Entscheidungsträgern sowie der entsprechenden Experten im politischen, aber auch medizinischen und rehabilitativen Bereich verbreiterte sich sukzessive, so dass immer mehr Personenkreise inkludiert wurden. Wenn diese Inklusionsbewegung im Folgenden nachvollzogen wird, so sollte dabei allerdings mitgedacht werden, dass die medizinische und gesellschaftliche Entwicklung dazu führte, dass sich die Zusammensetzung der adressierten Gruppe ›Menschen mit Behinderungen‹ in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg umfassend veränderte: Während beispielsweise der Anteil der Kriegsversehrten über die Jahrzehnte hinweg quantitativ abnahm, konnten andererseits durch neue medizinische Behandlungsmethoden immer mehr Schwerverletzte am Leben erhalten werden. Dies ließ u. a. die Zahl der Querschnittsgelähmten ansteigen.12 Während in Deutschland nach 1945 wegen der Euthanasiemorde zunächst nur noch wenige Menschen mit schweren geistigen und psychischen Beeinträchtigungen lebten, führte die medizinische Entwicklung im Zeitverlauf dazu, dass immer mehr Kinder mit Geburtsschädigungen oder genetischen Defekten überlebten und einer umfänglichen medizinischen Versorgung bedurften.13 Wegen der zunehmenden Motorisierung gab es zudem mehr Verkehrsunfallopfer mit dauerhaften Schädigungen, außerdem stieg die Zahl der gemeldeten Arbeitsunfallopfer u. a. wegen der Tendenz zur Vollbeschäftigung an.14 Andere Ursa12 Einen Überblick über die bundesrepublikanische Geschichte von Menschen mit Behinderungen gibt beispielsweise Poore (2007). Siehe auch den Sammelband Lingelbach/ Waldschmidt: Kontinuitäten (2016). 13 Zu den Euthanasiemorden siehe einführend die Sammelbände Hamm (2005); Henke (2008). 14 Bösl (2017).
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chen für Behinderungen verschwanden hingegen: Nach der Einführung der Polioschluckimpfung Ende der 1950er Jahre erkrankten zum Beispiel weniger Personen an Kinderlähmung. Auf diese Entwicklungen musste mit gesundheitspolitischen Maßnahmen reagiert werden, was die Inklusion und Exklusion von behinderten Menschen dynamisierte.15 Sieht man sich die Ausgangssituation in der jungen Bundesrepublik an, so wird deutlich, dass die Versorgung für Menschen mit Behinderungen im Prinzip nur rudimentär war: Es gab zum einen die Unfall- und zum anderen die Krankenversicherung, die Menschen mit Behinderungen gegebenenfalls eine medizinische Versorgung bezahlten.16 Wer aber keiner Erwerbstätigkeit nachging, war nicht unfallversichert. Dies galt auch (bis zur Einbeziehung von nicht erwerbstätigen Familienmitgliedern) für die Krankenversicherung. Letztere kam zudem nicht für einen behinderungsbedingten Mehraufwand auf, was im Alltag der Betroffenen zu großen Problemen führen konnte. Jenseits der Unfall- und der Krankenversicherung existierte die Fürsorge, die allerdings erst unterhalb eines bestimmten Einkommensniveaus griff. Sie stellte somit ebenfalls kaum Mittel für den behinderungsbedingten Mehraufwand bereit. Dies bedeutete letztlich, dass viele Menschen mit Behinderungen nicht vom Sozialversicherungssystem erfasst wurden. Sie wurden in Fürsorge- und Wohlfahrtsverbandsanstalten eingewiesen, weil sie nicht die finanziellen Mittel und die Unterstützung erhielten, die ihnen ein Leben außerhalb der Anstalt ermöglicht hätten. Innerhalb der Anstalten waren therapeutische bzw. gesundheitsbezogene Angebote für Menschen mit Behinderungen aber meist kaum oder gar nicht vorhanden. Doch es gab bedeutende Ausnahmen, das heißt Gruppen von Menschen mit Behinderungen, für die in der frühen Bundesrepublik sozialpolitisch mehr getan wurde als für andere. Diese Personen wurden darüber auch gesundheitspolitisch privilegiert. Die bedeutendste dieser Gruppen waren die Kriegsopfer: Genauer handelte es sich um die körper- und sinnesbehinderten Opfer. Dies wird anhand des Bundesversorgungsgesetzes von 1950 ersichtlich, das sich ausschließlich der Kriegsopferversorgung widmete. Laut diesem Gesetz war nur anspruchsberechtigt, wer durch eine »militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes […] eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat«.17 Es sah neben Rentenzahlungen sowie Arbeits- und Berufsförderungsmaßnahmen einen umfassenden Katalog gesundheitsbezogener Maßnahmen vor, die auch den behinderungsbedingten Mehraufwand umfassten.18 Darunter fielen heilgymnastische Kuren, Versehrtensport oder die orthopädische Versorgung, die Ausstattung mit Prothesen, für Blinde die Stellung eines Blindenführhunds, im Bedarfsfall auch die Finanzierung von Krankenpflegern 15 Zur Anwendung der analytischen Begrifflichkeiten von Exklusion und Inklusion im Bereich der Disability History siehe Schmuhl (2009). 16 Siehe zu diesem Zeitraum insbesondere Rudloff (2005). 17 Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (1950), § 1,1. 18 Siehe dazu ausführlich Rudloff (2005), S. 527–535.
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oder -schwestern für die Pflege zu Hause. Zudem gewährte das Bundesversorgungsgesetz Heilbehandlungen für Nichtschädigungsleiden. Die Maßnahmen- und Behandlungsdauer wurde dabei ohne zeitliche Begrenzung gewährt. Ausgaben wurden aus Steuern – das heißt nicht aus Versicherungsbeiträgen – finanziert, und die Maßnahmen waren für die Betroffenen kostenlos. Neben den Kriegsbeschädigten gab es mit den Arbeitsunfallopfern eine zweite Gruppe von behinderten Menschen, die ebenfalls früh in vergleichsweise großem Umfang medizinische und rehabilitative Maßnahmen erhalten konnte. Hier waren es die Berufsgenossenschaften, die behinderten oder von Behinderung bedrohten Arbeitsunfallopfern entsprechende Maßnahmen finanzierten. Dazu gehörten wie bei der Kriegsbeschädigtenversorgung beispielsweise heilgymnastische Kuren oder auch Versehrtensport. Die Berufsgenossenschaften wirkten des Weiteren darauf hin, dass Unfallkrankenhäuser unter anderem heilgymnastische Abteilungen erhielten, die die Aufgabe hatten, die Berufsfähigkeit der Betroffenen möglichst wiederherzustellen. Damit war das Angebot der Berufsgenossenschaften (wie auch der Kriegsopferversorgung) deutlich umfangreicher als das der Krankenkassen, die solche zusätzlichen Maßnahmen nicht bezahlten. Wichtig war, dass die Gesundheitspolitik für Menschen mit Behinderungen, wie allgemein die Behindertenpolitik in der frühen Phase der Bundesrepublik, vor allem ein Ziel verfolgte: die Wiederherstellung der Fähigkeit zur Erwerbsarbeit und die berufliche Integration der Betroffenen. So hieß es im Bundesversorgungsgesetz etwa: »Heilbehandlung wird gewährt, um die Gesundheitsstörung oder die dadurch bewirkte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen oder wesentlich zu verbessern […].«19 Hinter den erwerbszentrierten Gesundheitsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen stand mithin eine utilitaristisch-ökonomische Logik.20 Darüber hinaus schrieb sich in dieser Phase die traditionelle Bismarck’sche Verknüpfung zwischen sozialen Rechten einerseits und Erwerbsstatus andererseits fort: Unfallversichert war nur derjenige, der erwerbstätig war. Für den Konnex zwischen Erwerbstätigkeit und gesundheitlicher Versorgung war zusätzlich relevant, dass die Rentenversicherung einen bedeutenden Teil der medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen finanzierte (um 1960 war die Rentenversicherung der größte Kostenträger der medizinischen Rehabilitation)21 – galt doch für diesen Versicherungszweig das Prinzip, Frühverrentung wegen Invalidität möglichst durch medizinische Maßnahmen vorzubeugen. Allerdings lag das Niveau der seitens der Rentenversicherung finanzierten Leistungen unter jenem der Kriegsopferoder der Arbeitsunfallopferversorgung. Aus der Kopplung von sozialen Rechten entweder an die Erwerbstätigkeit oder an den Status als Kriegsopfer ergab sich, dass bestimmte Gruppen behinderter Menschen in der frühen Bundesrepublik kaum Anspruch auf rehabilitative Maßnahmen, geschweige denn auf Erstattung eines behinderungsbeding19 Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (1950), § 10,1. 20 Siehe dazu ausführlich Bösl (2009). 21 Rudloff (2005), S. 549.
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ten Mehraufwandes hatten: Hausfrauen sowie Kinder und Jugendliche mit angeborenen, aber auch erworbenen Leiden wie der Kinderlähmung, außerdem Männer, deren Beeinträchtigung nicht kriegs- oder arbeitsunfallbedingt war, darunter vor allem jene Frühinvaliden, für die keine Chance zur Reintegration in den Arbeitsprozess bestand. Diese Personengruppen mussten sich bei erhöhtem Versorgungsbedarf in den 1950er Jahren an die Fürsorge wenden, die diese Versorgung aber qua knapper Mittel nicht ausreichend gewährleistete. Solange unter Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderungen Rehabilitation mit dem Ziel der Arbeitsreintegration verstanden wurde, bedeutete dies mithin, dass all jene, die nicht in den Arbeitsprozess integriert werden sollten oder konnten, beim Zugang zur Gesundheitsversorgung benachteiligt wurden. Geschlecht, Alter, Erwerbsstatus, Ursache, Art und Schwere der Behinderung – dies waren Kategorien, die innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen folglich zu Anknüpfungspunkten von Diskriminierungsmechanismen werden konnten. Den Zeitgenossen war das durchaus bewusst. So schrieb ein Protagonist 1967 rückblickend, dass bei der Rehabilitation und bei den Hilfen für Menschen mit Behinderungen derjenige in den 1950er Jahren benachteiligt worden war, der »entweder kein Arbeitnehmer im statistischen Sinne ist, sondern nur arbeitet (zum Beispiel eine Hausfrau), wer noch zu jung ist, um Arbeitnehmer zu sein, wer zu alt ist, um zu arbeiten, schließlich alle diejenigen, die das schwere Los zu tragen haben, überhaupt nicht arbeitsfähig werden zu können«.22 Dies sollte zumindest ansatzweise das Körperbehindertengesetz von 1957 ausgleichen, das sich nun einigen jener körperlich Behinderten zuwandte, die weder von der Kriegsopferversorgung noch von der Sozial- inklusive der Unfallversicherung unterstützt wurden.23 Inkludiert wurden nun Personen mit einer »Fehlform oder -funktion des Stütz- und Bewegungssystems« oder mit »Spaltbildungen des Gesichts oder des Rumpfes«.24 Zudem nannte das Gesetz auch »Seelentaube« und »Hörstumme«, also Menschen, die an einer auditiven Agnosie litten. Angesprochen waren damit vor allem behinderte Menschen mit angeborenen oder früh erworbenen körperlichen Leiden. Ihnen sollte ermöglicht werden, die im Vergleich zu ›gesunden‹ Menschen erhöhten und auch dauerhaften Kosten einer Behandlung tragen zu können. Innovativ war das Gesetz auch dahingehend, dass es präventive Maßnahmen bereits bei drohender Behinderung vorsah. Aber immer noch war die Erlangung oder Bewahrung der Erwerbstätigkeit das Ziel der Unterstützung. Laut Gesetzestext galten nämlich nur Personen als körperbehindert, die »dauernd in ihrer Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt sind oder in Zukunft voraussichtlich sein werden«.25 Ebenso bestand die Ungleichbehandlung je nach Ursache der 22 Aichinger (1972), S. 23. 23 Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte (1957). Das Körperbehindertengesetz blieb allerdings nur wenige Jahre in Kraft, mehrere Bestandteile wurden in das 1961 erlassene Bundessozialhilfegesetz integriert. 24 Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte (1957), § 1,1. 25 Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte (1957), § 1,1.
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Behinderung fort: Weiterhin blieben die Kriegsbeschädigten gegenüber den Zivilbehinderten bessergestellt, da die Ansprüche, die aus dem Bundesversorgungsgesetz von 1950 resultierten, umfassender waren als jene des Körperbehindertengesetzes von 1957. Vor allem aber blieben große Gruppen von Menschen mit Behinderungen insbesondere in Bezug auf medizinische Rehabilitationsmaßnahmen und die Erstattung des behinderungsbedingten medizinischen Mehraufwandes auch künftig außen vor, darunter geistig behinderte Menschen und psychisch Kranke jeden Alters. Da die Wiederbefähigung zur Erwerbsarbeit bei ihnen nach damaliger Auffassung nicht als Ziel gelten konnte, wurden außerdem behinderte alte Menschen, Schwerstgeschädigte und Pflegebedürftige nicht von dem Gesetz erfasst. Späte Inklusion von Menschen mit geistigen Behinderungen Blickt man genauer auf die Lage der geistig behinderten Menschen, so lässt sich allerdings im Zeitverlauf ein Wandel feststellen. In den 1950er Jahren hatten sie kaum Zugang zu gesetzlich geregelten medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen. Lediglich bei Mittellosigkeit griff die Fürsorge, aber auch diese legte keinen Akzent auf medizinische Rehabilitation. Die Kosten einer sachgemäßen Versorgung, etwa für geistig behinderte Kinder, überstiegen meist die finanziellen Möglichkeiten durchschnittlich verdienender Familien, so dass viele ihre Angehörigen der Anstaltspflege überantworten mussten. Wenn geistig behinderte Menschen in Anstalten unterkamen, fanden sie dort aber nur ein desaströs zu nennendes therapeutisches und medizinisches Angebot vor. Die Heime waren in den 1950er Jahren überbelegt, zudem herrschte ein akuter Pflegekräftemangel.26 Die Pflegesätze waren darüber hinaus skandalös niedrig. An medizinische Rehabilitation war hier kaum zu denken. Doch langsam änderte sich auch für die Menschen mit geistiger Behinderung die Lage. Es waren vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen wie die von Eltern und Experten getragene »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« und die freien Wohlfahrtsverbände, die auf die schlechten Lebenschancen von Menschen mit geistiger Behinderung aufmerksam machten. Ihnen gelang es, öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren und politisch Einfluss zu nehmen.27 Sie erreichten Veränderungen über die Reform des Fürsorgebereiches, sprich über das 1961 erlassene Bundessozialhilfegesetz (BSHG).28 Die Sozialhilfe war für jenen Personenkreis gedacht, bei dem Einkommen und Vermögen nicht ausreichten, um nichtwirtschaftliche Mangelsituationen zu überbrücken. Das BSHG unterstützte, gab mithin Hilfen in besonderen Lebenslagen und sah daher auch für Menschen mit Behinderungen Unter26 Neuere Darstellungen zur Geschichte einzelner Heime für geistig behinderte Menschen sind u. a. Frings (2012); Schmuhl/Winkler (2012); Schmuhl/Winkler (2013). 27 Stoll (2014); Stoll (2017), S. 125–206. 28 Zur Genese des Bundessozialhilfegesetzes siehe Föcking (2007). Zum Gesetzestext: Bundessozialhilfegesetz (1961).
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stützung, darunter auch gesundheitsbezogene Hilfen, vor. So waren im Maßnahmenkatalog des BSHG für Menschen mit Behinderungen beispielsweise spezielle ärztliche Maßnahmen sowie die Versorgung etwa mit Prothesen oder Rollstühlen enthalten, der Mehrbedarf für erblindete Personen wurde anerkannt.29 Vorbeugende Hilfen wurden zudem gewährt, wenn eine Behinderung drohte. Insbesondere wurde der Empfängerkreis solcher Maßnahmen erweitert: Da die Ursache der Behinderung wie etwa Kriegsschädigung oder Unfall nun nicht mehr ausschlaggebend war, wurden auch von Geburt an behinderte Menschen, nicht erwerbstätige Frauen, Kinder und Jugendliche sowie dauerhaft erwerbsbehinderte Personen vom BSHG berücksichtigt. Insbesondere galt das Gesetz nicht mehr nur für Körperbehinderte wie das Gesetz von 1957, sondern bezog sich auch auf taube, stumme und blinde Personen sowie Menschen mit sogenannten schwach entwickelten geistigen Kräften, die nun einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfen erhielten (1964 wurden die Pflichtleistungen auf alle Menschen mit geistiger Behinderung ausgeweitet). Das BSHG belegt, dass Menschen mit geistiger Behinderung später als andere Betroffenengruppen in gesundheits- und rehabilitationsspezifische Maßnahmen inkludiert wurden. Diese Tendenz zur Inklusion erklärt sich unter anderem darüber, dass in der bundesrepublikanischen Sozialpolitik der Primat der Erwerbsarbeit zu bröckeln begann. So sah das BSGH Hilfen nicht mehr lediglich zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Arbeitskraft vor, sondern definierte als Ziel der eigenen Leistungen, »die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht«.30 Die Hilfe sollte dem Empfänger »Beziehungen zur Umwelt und die Teilnahme am kulturellen Leben«31 ermöglichen. Speziell die Hilfen für behinderte Menschen hatten das explizite Ziel, »die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern«.32 Dass die enge Korrelation zwischen Anspruch auf Hilfe einerseits und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit andererseits aufgelöst wurde, war auch daran ersichtlich, dass beispielsweise Körperbehinderung im BSHG über die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit und nicht mehr der Erwerbsfähigkeit definiert war.33 »Der Rehabilitationsbegriff verlor seine sozialutilitaristische Schlagseite und gewann eine allgemeiner gefasste sozialethische Dimension«, charakterisiert Wilfried Rudloff diese Entwicklung treffend.34 Davon profitierten insbesondere auch Menschen mit geistiger Behinderung. Dass das Angebot des BSHG von den Betroffenen auch genutzt wurde, zeigt der Anstieg der Zahl der Empfänger von Eingliederungshilfen: Allein zwischen 1963 und 1966 kletterte diese von 67.000 auf 98.000, wobei knappe drei Fünftel der Empfänger körperlich behinderte 29 Allerdings wurden Personen, die über die Sozialhilfe Leistungen erhielten, an den Kosten einiger Maßnahmen beteiligt, wenn sie über ein bestimmtes Einkommen bzw. Vermögen verfügten. 30 Bundessozialhilfegesetz (1961), § 1,2. 31 Bundessozialhilfegesetz (1961), § 12,1. 32 Bundessozialhilfegesetz (1961), § 39,3. 33 Bundessozialhilfegesetz (1961), § 39,1. 34 Rudloff (2007), S. 477.
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Menschen waren, etwa ein Zehntel Hörgeschädigte, aber bereits ein weiteres Fünftel Menschen mit verringerten geistigen Fähigkeiten.35 Lange Vernachlässigung von psychisch kranken bzw. behinderten Menschen Neben der Gesundheitsversorgung für Menschen mit geistiger Behinderung hatte auch jene von psychisch Kranken eine eigene Rhythmik aufzuweisen. Ihnen wandte sich die Gesundheitspolitik sogar noch später zu als den Menschen mit verringerten geistigen Fähigkeiten. Für diese Personengruppen gilt, dass sie, wenn ihre Familien nicht für sie aufkommen wollten oder konnten, nach 1945 zunächst meist in psychiatrischen Großkrankenhäusern in abgelegenen Regionen untergebracht wurden.36 Doch bis in die späten 1960er Jahre hinein gestalteten sich die Zustände in den Psychiatrien in der Regel katastrophal: Es gab wenig Therapieangebote, der Personalschlüssel ermöglichte kaum mehr als eine simple Verwahrung, die Pflegesätze lagen deutlich unterhalb der Krankenhaussätze. Außerhalb der Anstalten war die Versorgung keineswegs besser. Vorrangig war hier die Versorgung mit Psychopharmaka, doch bei Dauermedikation erhielten die Patienten wiederum nur selten Nachsorge- und Betreuungsmaßnahmen. Bis weit in die 1960er Jahre hinein kam psychisch behinderten Menschen mithin weder von Seiten der gesundheitspolitischen Entscheidungsträger noch von den Experten oder der Öffentlichkeit umfassende Aufmerksamkeit zu. Dieses Aufmerksamkeitsdefizit äußerte sich im Fehlen von Maßnahmenkatalogen und Finanzmitteln zur Behandlung dieser Betroffenengruppe. Erst als einige Medien in den späten 1960er Jahren die verheerenden Zustände in den Psychiatrien anprangerten, Experten ebenfalls öffentlich zu Reformen drängten und der Rückstand gegenüber Entwicklungen in anderen Ländern auch den politisch Verantwortlichen negativ auffiel, änderte sich die Grundsituation.37 Ersichtlich wurde dies u. a. daran, dass der Deutsche Bundestag 1971 eine Sachverständigenkommission einrichtete und in der Folge 1975 die Psychiatrie-Enquete erschien, die auf Missstände in der Versorgung psychisch Behinderter und Kranker aufmerksam machte.38 Allmählich erweiterte sich zudem der Maßnahmenkatalog. Bereits 1969 wurden psychisch Beeinträchtigte in den Empfängerkreis von Pflichtleistungen der Eingliederungshilfen, die das BSHG vorsah, aufgenommen – also nochmals fünf Jahre später als Menschen mit geistiger Behinderung. Gesundheitspolitische Reformen der 1970er Jahre reichten dann von einer Dezentralisierung der Versorgungsange35 Rudloff (2007), S. 478. 36 Zur Geschichte der westdeutschen Psychiatrie siehe u. a. Brink (2010); Coché (2017); Kersting (2004). 37 Zur Psychiatriereform siehe insbesondere den Sammelband Kersting (2003); außerdem Brink (2006). 38 Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (1975).
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bote über den Ausbau psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern und ambulanter Hilfen bis zur Gründung von speziellen Übergangseinrichtungen. In vielen Kliniken setzte ein Wandel dahingehend ein, dass Patienten nicht mehr nur verwahrt und beaufsichtigt, sondern zunehmend auch therapiert wurden. Allerdings konzentrierten sich viele Maßnahmen auf jene Personen, die als gesellschaftlich reintegrierbar galten, so dass die chronisch Kranken nun in Heime abgeschoben wurden. Der Gender-Gap Wenn geistig und psychisch behinderte Menschen lange Zeit gesundheitspolitisch gegenüber Menschen mit körperlichen Behinderungen diskriminiert wurden, so gilt dies auch für behinderte Frauen in Relation zu behinderten Männern. Dabei war der zu Beginn des hier betrachteten Zeitraums vorherrschende Unterschied hinsichtlich der Gesundheitsversorgung und der medizinischen Rehabilitation am eklatantesten zwischen körperbehinderten Männern einerseits und körperbehinderten Frauen andererseits: Da es nur wenige Frauen gab, die ihre Körperbehinderung auf kriegsbedingte Ursachen zurückführen konnten, griff das Kriegsversorgungsgesetz von 1950 für sie nicht. Da Frauen zudem seltener erwerbstätig waren und viele Unfälle während der Hausarbeit geschahen, waren sie auch nicht über die Unfallversicherung etwa für den Mehraufwand medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen versichert. Sie konnten sich mithin, falls sie krankenversichert waren, an ihre Krankenversicherungen wenden (die aber nach dem Krieg zunächst nicht erwerbstätige Familienmitglieder, in der Regel also vor allem die Ehefrauen, nicht mitversicherten). Falls sie nicht krankenversichert waren, blieb ihnen die Fürsorge. Deshalb hatten sie in der Regel keinen Zugriff auf Rehabilitationsmaßnahmen, da diese auch nicht von den Krankenversicherungen oder der Fürsorge finanziert wurden. Frauen, die durch Unfall oder Krankheit eine Behinderung erlitten, konnten sich daher beispielsweise nicht an Einrichtungen wenden und von Maßnahmen profitieren, die sie auf die Rückkehr in die Haushalts- und Kindererziehungsarbeit ausreichend vorbereitet hätten: »Sie konnten nicht üben, wie sie ihren Alltag mit ihrer Behinderung bewältigen konnten.«39 Auch deshalb wurden Frauen mit Behinderungen oft dauerhaft in Anstalten eingewiesen, kamen sie doch im häuslichen Bereich häufig nicht mehr zurecht. Aus diesen Gründen galten Hausfrauen mit Behinderungen in den 1950er Jahren als »Sonderproblem der Rehabilitation«.40 Teilweise abgemildert wurde dies, wie bereits erwähnt, ab 1961 durch das BSHG, das behinderten Frauen nun ebenfalls behinderungsbezogene medizinische Maßnahmen gewährte. Doch blieb das Niveau der Rehabilitationsmaßnahmen für nicht Erwerbstätige und damit für Frauen über das Sozialleis39 Bösl (2006), S. 12. 40 Zitat aus einer Sitzung des Ständigen Ausschusses für gemeinsame Fragen der Fürsorge und der Arbeitsverwaltung, 28.11.1955, zit. n. Rudloff (2005), S. 556.
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tungsrecht reguliert und folglich niedriger, als dies etwa bei der Unfallversicherung oder der Kriegsbeschädigtenhilfe der Fall war. Die meisten behinderten Frauen blieben somit weiterhin gegenüber Männern diskriminiert, zumal die Hilfen des BSHG immer noch nur von weitgehend mittellosen Frauen in Anspruch genommen werden konnten. Zudem neigten die Rehabilitationsträger bei Frauen zu einer zurückhaltenderen Bewilligung von Maßnahmen als bei Männern. Dies zeigte sich auch darin, dass die Nutzung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen lange Zeit männlich dominiert blieb. Erst seit den frühen 1960er Jahren begann der Frauenanteil in den Rehabilitationseinrichtungen zu wachsen, da mit der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen nun auch ihnen mehr Arbeitsunfälle zustießen, so dass sie die entsprechenden Institutionen und Einrichtungen zu nutzen begannen. Letztlich verringerte sich die Diskriminierung von behinderten Frauen aber vor allem über den Wandel der Zielsetzung von Rehabilitation: weg von der reinen Konzentration auf die Erwerbsarbeit hin zu der Vorstellung, dass Rehabilitation wie auch Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen auch soziale Teilhabe ermöglichen sollten. Und dies geschah nicht nur über das BSHG von 1961, sondern vor allem über das RehabilitationsAngleichungsgesetz von 1974, das die ehemals starke Verkoppelung von Rehabilitation und Erwerbsarbeit auflöste, indem es Menschen mit Behinderungen unterschiedlicher Art und Ursache sozialrechtlich gleichstellte und damit das sogenannte Kausalprinzip durch das Finalprinzip ablöste.41 Das Maß der Hilfen sollte sich nun, soweit möglich, nur noch daran ausrichten, dass jemand, wie auch immer, behindert war und ob er oder sie über die Maßnahmen wieder zur Erwerbstätigkeit befähigt werden sollte. Warum der oder die Betreffende behindert war (oder werden könnte – das Gesetz sah auch präventive Maßnahmen vor), war irrelevant. Als medizinische Leistungen deckte das Gesetz neben den üblichen Behandlungs- und Arzneikosten zusätzlich die Kosten für Krankengymnastik, Bewegungs-, Sprach- und Beschäftigungstherapien, Prothesen und weitere Hilfsmittel, Belastungserprobung und Arbeitstherapien ab, die in Krankenhäusern oder speziellen Heil- und Kuranstalten angeboten werden konnten.42 Zusätzlich gab es Kostenerstattungen für Behindertensport unter ärztlicher Betreuung. Zwar galten die bisherigen einzelnen Gesetze weiterhin, doch der Leistungsrahmen wurde für alle Betroffenen vereinheitlicht. Dies traf beispielsweise auf die Sachleistungen bei der medizinischen Rehabilitation zu. Deren Umfang wurde unabhängig von der Ursache der Behinderung festgelegt, selbst wenn die Leistungen noch über verschiedene Kostenträger abzurechnen waren. Wichtig war darüber hinaus, dass Frauen und Kinder nun als mitversicherte Familienmitglieder von den medizinischen Rehabilitationsleistungen profitieren konnten, da die gesetzliche Krankenversicherung die medizinische Rehabilitation in ihren Maßnahmenkatalog aufnahm. Dies entlastete wiederum die Sozialhilfe. Einen gewissen Abschluss erfuhr der Prozess in der 41 Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (1974). 42 Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (1974), § 10.
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Überarbeitung des BSHG 1974, da fortan allen dauerhaft körperlich, geistig oder psychisch behinderten Menschen inklusive der Personen mit inneren Krankheiten ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe gewährt wurde. Es gab also keine Privilegierungen oder Diskriminierungen je nach Behinderungsart oder -gruppe mehr. Ungleichbehandlungen, ob man nun über die Sozialversicherung oder über die Sozialhilfe Ansprüche anmeldete, blieben allerdings de facto bestehen. Bei der Gewährung von Maßnahmen über die Sozialhilfe gab es ein Gefälle zwischen wohlsituierten und eher armen Kommunen. Zwischen dem Anspruch der Reformen von 1974 auf Angleichung der Leistungsprofile und der Umsetzung dieses Anspruches offenbarten sich mithin noch einige Diskrepanzen – was sich auch daran zeigte, dass Mitte der 1970er Jahre weiterhin Männer mit zwei Dritteln die Mehrheit der Empfänger von Rehabilitationsmaßnahmen stellten.43 Zudem klafften noch einige Lücken bei der medizinischen Versorgung und den Rehabilitationsmaßnahmen für bestimmte Betroffenengruppen wie etwa Querschnittsgelähmte, Hirnverletzte oder Mehrfachbehinderte sowie Geriatriepatienten, für die die spezifischen Angebote nur langsam ausgebaut wurden. Behinderungspolitisch relevante Wirkungsgrößen Trotz dieser bestehenden Lücken können die 1960er und frühen 1970er Jahre in Bezug auf die Gesundheitspolitik und -versorgung und damit auch auf die Gesundheitschancen von Menschen mit Behinderungen als Zeitraum der Reformen bezeichnet werden. Treibendes Moment war ein Wandel der Auffassung und Definition von Behinderung bei den Gesetzgebern: In der Frühphase der Bundesrepublik wurde Behinderung über den Grad der Erwerbsfähigkeit definiert. So ließ etwa das Bundesinnenministerium 1958 verlauten: Als ›behindert‹ gilt ein Mensch, der entweder auf Grund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit […] eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig). Die Behinderung kann eine körperliche, geistige oder psychische (seelische) sein.44
Daraus wurde geschlossen, dass es Aufgabe der Sozialpolitik sei, »Maßnahmen zur bestmöglichen Wiederherstellung der verbliebenen Leistungsfähigkeit nach Krankheit oder Verletzung mit dem Ziel einer optimalen Anpassung an die Lebensumstände durch Umschulung und beruflichen Wiedereinsatz« anzubieten.45 Dementsprechend war die medizinische Rehabilitation der erste Schritt, den Menschen mit Behinderungen zu absolvieren hatten, bevor sie Angebote der beruflichen Rehabilitation wahrnehmen sollten. Diese Auffassung änderte sich langsam in der Umbruchsphase während der 1960er 43 Rudloff (2006), S. 585. 44 Vermerk des Referats V A 1 des Bundesinnenministeriums, 12.8.1958, zit. n. Rudloff (2005), S. 518. 45 Definition des Beirats für die Neuordnung der sozialen Leistung aus dem Jahr 1954, zit. n. Rudloff (2005), S. 518.
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und frühen 1970er Jahre: Sukzessive wurde Behinderung über den Grad an gesellschaftlichen Teilhabechancen definiert und nicht mehr allein über die Erwerbsfähigkeit. Chancen zur selbständigen Freizeitgestaltung, Partizipation an der Gesellschaft usw. wurden nun ausschlaggebender für die Ausrichtung von Gesundheits- und Rehabilitationsmaßnahmen. Dies bedeutete auch, dass die medizinische Betreuung zwar immer noch wichtig war, der Maßnahmenkatalog für Menschen mit Behinderung aber breiter wurde, ging es doch nun auch um Aspekte wie Barrierefreiheit öffentlicher Räume etc. Nachdem das BSHG 1961 den Wandel in diese Richtung bereits angedeutet hatte, gewann der Prozess seit der Regierungsbeteiligung der SPD an Dynamik. Damit partizipierte auch die Behindertenpolitik am inneren Reformklima der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, in denen Lebensqualität und Chancengleichheit vor dem Hintergrund des endgültigen Endes der Nachkriegszeit, des Generationskonflikts und -wandels, der Pluralisierung von Lebensentwürfen, des Wertewandels usw. zu zentralen Achsen, insbesondere der sozialliberalen Politik, wurden.46 Im Verlauf der späten 1970er Jahre erlahmte der politische Reformwille im Bereich der Gesundheitspolitik für Menschen mit Behinderungen allerdings wieder: In Zeiten der Sparpolitik und der entsprechenden Maßnahmen zur Ausgabenreduzierung und Kostendämpfungsverordnungen seitens der Bundesregierung in den Jahren 1975, 1977, 1978 und 1981 griffen Einschränkungen etwa bei den Rehabilitationsmaßnahmen für behinderte Menschen. Wichtig war aber, dass diese Kürzungen nicht mehr mit Diskriminierungen bestimmter Gruppen einhergingen – die während der sozialpolitischen Expansionsphase durchgesetzte prinzipielle Gleichstellung aller Menschen mit Behinderungen wurde nicht mehr zurückgenommen. Stellt man zusammenfassend eine chronologische Reihenfolge auf, welche Gruppen von Menschen mit Behinderungen insofern privilegiert wurden, als ihnen früher als anderen Zugang zu medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen und zusätzlichen medizinischen Maßnahmen gewährt wurde, so lässt sich festhalten, dass diese zunächst den prinzipiell erwerbsfähigen Kriegsbeschädigten und den Arbeitsunfallgeschädigten zuteilwurden. In einem weiteren Schritt profitierten die prinzipiell erwerbsfähigen zivilgeschädigten Körperbehinderten bzw. von Behinderung Bedrohten von den entsprechenden Maßnahmen. Dann erst wurden einkommens- und vermögensschwache, seit Geburt behinderte Menschen, unversicherte Frauen, Kinder und Jugendliche sowie dauerhaft erwerbsbehinderte Personen inkludiert, darunter auch ›geistig Schwache‹ (1964 erweitert um Menschen mit geistiger Behinderung). Als letzte namhafte Gruppe fanden die einkommens- und vermögensschwachen Menschen mit psychischer Behinderung Aufnahme.
46 Zu den Wandlungsprozessen in den ›langen‹ 1960er Jahren siehe vor allem die Sammelbände Frese/Paulus/Teppe (2003); Schildt/Siegfried/Lammers (2000); Herbert (2002). Speziell zum Wertewandel siehe Dietz/Neumaier/Rödder (2014).
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Die Interaktion von Ungleichheitskategorien Nun bleibt aber zu fragen, warum diese Reihenfolge zustande kam. Über was mussten die jeweiligen Betroffenengruppen verfügen, um die Aufmerksamkeit von Entscheidungsträgern und Experten auf sich zu ziehen und diese zu veranlassen, in ihrem Sinne tätig zu werden? Wilfried Rudloff hat in seinen Untersuchungen zur bundesrepublikanischen Behindertenpolitik hierfür mehrere Wirkungsgrößen identifiziert, welche die »Stufenleiter des Aufgreifens behindertenpolitischer Themen« beeinflussten.47 Dazu zählten das Wählergewicht der Betroffenen, deren interessenpolitische Organisationsfähigkeit und Durchschlagskraft, das moralische Kapital der jeweiligen Betroffenengruppen, das Medieninteresse, das ihnen zuteilwurde, der Einfluss der Experten auf die behinderungsspezifischen Debatten sowie die Binnenlogik des Systems sozialer Sicherung. Diese Wirkungsgrößen erklären, warum beispielsweise Kriegsversehrte früh die behindertenpolitische Aufmerksamkeit auf sich zogen: Sie verfügten über ein hohes moralisches Kapital, hatten sie doch im Krieg ihr Leben ›für das Vaterland‹ eingesetzt. Nach 1945 konnten sie mit Hilfe dieses sogenannten Aufopferungstatbestands stärker als behinderte Frauen, als geistig oder psychisch Behinderte gesellschaftliche Solidarität und politische Fürsorge einfordern. Außerdem verfügten Kriegsversehrte über eine umfassende Organisationsfähigkeit, so dass sie ihre Anliegen über Lobbyarbeit in den Gesetzgebungsprozess einbringen und zudem öffentliche Aufmerksamkeit generieren konnten. Sie hatten darüber hinaus, anders als Kinder und Jugendliche, ein hohes Wählergewicht. Und nicht zuletzt war ihnen lange Zeit ein großes Medieninteresse bzw. mediales Wohlwollen relativ sicher. Allerdings gilt es gegenüber Wilfried Rudloff einige Aspekte zu ergänzen: Aufmerksamkeitsökonomien und politische Handlungsmacht docken sich an weitere Kapitalien jenseits der von Rudloff genannten Wirkungsgrößen an – bzw. die von Rudloff angegebenen Wirkungsgrößen sind ihrerseits Derivate ebensolcher Kapitalien. Sie resultieren aus der Zugehörigkeit zu Gruppen, denen gesellschaftlicherseits jeweils unterschiedliche Wertigkeiten zugeschrieben werden. So ist es nicht verwunderlich, dass behinderte Frauen in den ersten Nachkriegsjahren weniger Handlungsmacht besaßen und ihre Interessen daher auch weniger berücksichtigt wurden. In einer nach dem Krieg remaskulinisierten Gesellschaft, in der traditionelle Geschlechterrollen und -hierarchien eine Renaissance erlebten und Frauen weitgehend in die häusliche Sphäre verwiesen wurden bzw. sie selbst die Wahl trafen, ›Hausfrau‹ zu sein, waren ihre Möglichkeiten zur Interessenartikulation und -durchsetzung qua Geschlechtszugehörigkeit beschränkt.48 Erst mit der wachsenden Erwerbstätigkeit von Frauen und der langsam sich verstärkenden Formulierung frauenspezifischer Belange in der Öffentlichkeit gerieten auch Frauen in den Fokus behinderungspolitischer Debatten und Entscheidungen. 47 Rudloff: Überlegungen (2003), S. 866. 48 Zur Remaskulinisierungsthese siehe Moeller (2001); Poiger (2001). In Bezug auf behinderte Männer: Schleiermacher (2017). Siehe außerdem Niehuss (1997).
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Erst die Aufwertung und Umdefinition der Kindheit, wie sie in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren stattfand, generierte den Ruf nach verbesserten Rehabilitationsmaßnahmen auch für behinderte Kinder.49 Als die bestmögliche Förderung und Entfaltung der individuellen Anlagen des Nachwuchses zu einer zentralen Aufgabe von Elternschaft wurde, lenkte man Aufmerksamkeit auch auf den Förderbedarf behinderter Kinder. Dies erklärt u. a. den Aufstieg der »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« zu einem öffentlichkeitswirksamen Akteur. Der Contergan-Skandal führte 1961/62 dazu, dass mediales und darüber auch politisches Interesse auf behinderte Kinder gelenkt wurde, denen in der Folge vermehrt rehabilitations- und gesundheitspolitische Aufmerksamkeit zukam.50 Nun wurde auch das Argument vorgebracht, behinderte Kinder seien – anders als angeblich viele Erwachsene – nicht an ihrer Behinderung ›schuld‹. Ihnen wurde nun also moralisches Kapital zugewiesen, das seinerseits mediale Aufmerksamkeit auf sie lenkte.51 Die genannten Entwicklungen im Bereich der Gesundheitsversorgung passen sich mithin in Aufmerksamkeitskonjunkturen der Bundesrepublik ein, wenn sie sich auch in Bezug auf Menschen mit Behinderungen nochmals zeitversetzt vollzogen. Schlussfolgerungen Überblickt man die oben beschriebene Entwicklung, so sind aus einer intersektionalen Perspektive Zweifel angebracht, dass man überhaupt von ›der‹ Gesundheitspolitik und damit ›den‹ Gesundheitschancen für Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik sprechen kann. Denn es zeigt sich, dass die Verschränkung der Ungleichheitskategorie Behinderung mit jener des Geschlechts und der des Lebensalters zu jeweils spezifischen Entwicklungslogiken führt. Diese lassen es als obsolet erscheinen, Menschen mit Behinderungen als homogene Gruppe zu konzeptualisieren.52 Neben den genannten Ungleichheitskategorien waren zudem noch weitere Achsen der Differenz innerhalb der Gruppe von Menschen mit Behinderungen wirksam: Nach 1949 war die wesentliche Achse zunächst die Ursache der Behinderung – ob sie beispielsweise kriegs- oder arbeitsunfallbedingt war oder bereits seit der Geburt existierte. Diese Differenz hatte lange Zeit entscheidenden Einfluss auf die Ausprägung von Unterschieden in Hinblick auf den Zugang zu gesundheitsfürsorgenden oder rehabilitativen Maßnahmen. Privilegiert waren hier diejenigen, deren Behinderung kriegsverursacht war. Zugleich war aber genau diese Achse der Differenz eine gegenderte: Die Mehrheit der kriegsbedingt behinderten Menschen war nun einmal männlich und natürlich auch kein Kind oder Jugendlicher. Das Ursachenprinzip diskriminierte mithin auf indi49 50 51 52
Gebhardt (2012); Honig/Oster (2014); Neumaier (2013). Zum Contergan-Skandal siehe u. a. Crumbach (2017); Günther (2016); Mecking (2017). Lingelbach (2010). Siehe dazu auch Lingelbach/Waldschmidt: Einleitung (2016).
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rektem Wege Frauen sowie Kinder und Jugendliche, die zusätzlich wirksamen Ungleichheitskategorien waren Geschlecht und Lebensalter. Dies war durchaus im Sinne der privilegierten Gruppen von Menschen mit Behinderungen: Die Kriegsversehrtenverbände protestierten lautstark nicht nur gegen die Aufnahme von geistig oder psychisch Behinderten in den Empfängerkreis umfassender medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen, sondern auch gegen die Aufnahme von behinderten Frauen. Sie pochten auf ihre Bevorzugung, indem sie auf den Aufopferungstatbestand verwiesen. Beide Ungleichheitskategorien – Lebensalter und Geschlecht – griffen aber auch über den Primat der Erwerbsarbeit: Wer zu alt oder zu jung war, um über medizinische Rehabilitationsmaßnahmen gegebenenfalls in den Erwerbsprozess integriert werden zu können, der wurde ebenfalls in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik beim Zugang zur Gesundheitsversorgung deutlich diskriminiert. In Zeiten, in denen Erwerbsarbeit von Frauen gesellschaftlich kaum erwünscht war und deutlich geringer ausfiel als bei den Männern, interagierte die Ungleichheitskategorie Geschlecht auch im Rahmen der versicherungsbasierten Versorgung mit der Kategorie Behinderung in Richtung einer doppelten Diskriminierung von behinderten Frauen. Zugleich erfolgte eine Privilegierung von behinderten Männern. Diese Formen von ›Sexism‹ und ›Ageism‹ wurden mithin durch die Ausrichtung des Sozialstaates der frühen Bundesrepublik auf Erwerbstätige verstärkt. Letztere sollten in der Adenauerzeit Männer sein, gemäß der allgemein vorherrschenden Vorstellung zu den Rollenaufteilungen zwischen den Geschlechtern.53 Neben der Ursache für die Behinderung war aber auch die Art der Behinderung eine wesentliche Ungleichheitskategorie in der Gesundheitspolitik, und diese koppelt sich nicht an weitere Ungleichheitskategorien wie Geschlecht oder Lebensalter: Dass Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen längere Zeit gesundheitspolitisch vernachlässigt und gegenüber den Körperbehinderten und Sinnesgeschädigten diskriminiert wurden, ist auf andere Ursachen zurückzuführen. Hier ist Wilfried Rudloffs Katalog der sechs Wirkungsgrößen zuzustimmen. Letztere sind ihrerseits Derivate von Vorurteilsstrukturen und Berührungsängsten, die in der Bundesrepublik vorherrschten: Vorbehalte gegen geistig behinderte Menschen bauten sich wesentlich langsamer ab als jene gegenüber körperlich Behinderten. Ressentiments gegenüber psychisch Kranken, so zeigen zeitgenössische Umfragen, hielten sich sogar noch länger. Die Gründe für die Existenz solcher Vorurteilsstrukturen sind relativ schwierig zu ermitteln. Eugenische Traditionen, die in der Nachkriegszeit nicht kritisch hinterfragt wurden, können ebenso angeführt werden wie die Tatsache, dass durch die institutionelle und räumliche Separierung von geistig und psychisch behinderten Menschen in Krankenhäusern, Anstalten und Heimen Alltagskontakte fehlten, die zum Abbau von Vorurteilsstrukturen hätten führen können.54
53 Budde (1997); Ruhl (1994). 54 Argast (2012).
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Die vorliegende Analyse kann nur ein erster Schritt sein, die Frage nach den Binnendifferenzierungen innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen im Bereich der Gesundheitsversorgung zu verfolgen. Große Forschungslücken bestehen weiterhin: So harrt die Frage nach gesundheitsbezogenen Diskriminierungen und Privilegierungen hinsichtlich der Thematisierung durch medizinische Experten noch der Aufarbeitung. Eine solche Untersuchung würde allerdings ebenso wie die hier vorliegenden Erörterungen eine Perspektive einnehmen, die Menschen mit Behinderungen eher als Objekte des Handelns nichtbehinderter Menschen darstellt. Insofern wäre es wichtig, systematisch zu eruieren, inwieweit zu welchen Zeitpunkten die verschiedenen Gesundheits- und Rehabilitationsangebote auch von den Betroffenen selbst genutzt wurden. Es müsste hinterfragt werden, ob sie gegebenenfalls Kritik an den Angeboten geübt und Alternativen vorgeschlagen haben, wie Gesundheitsfürsorge und -vorsorge ihren Bedürfnissen und Interessenlagen entsprechend besser hätten gestaltet werden sollen. Denn sicherlich hatten Frauen und Männer, junge und alte behinderte Menschen diesbezüglich jeweils spezifische Vorstellungen. Des Weiteren wäre es möglich, die intersektionale Perspektive weiterzuentwickeln: Es wäre danach zu fragen, inwieweit der konfessionelle bzw. religiöse Hintergrund, die Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit, Einkommen und Vermögen, der Bildungsstand oder weitere Kategorien eine Rolle dabei spielten, welche gesundheitsbezogenen Vorsorge- und Fürsorgeangebote debattiert, zur Verfügung gestellt und von Menschen mit Behinderungen jeweils spezifisch genutzt und beurteilt wurden. Bibliographie Quellen (in chronologischer Reihenfolge) Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz) vom 20.12.1950. In: Bundesgesetzblatt Teil I vom 21.12.1950, Nr. 53, S. 791–806, online unter https://www.bgbl. de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl150s0791.pdf#__ bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl150s0791.pdf%27%5D__1546361942830 (letzter Zugriff: 23.3.2020). Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte und von einer Körperbehinderung bedrohte Personen (Körperbehindertengesetz) vom 27.2.1957. In: Bundesgesetzblatt Teil I vom 28.2.1957, Nr. 5, S. 147–150, online unter https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundes anzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl157s0147.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27 bgbl157s0147.pdf%27%5D__1584978682691 (letzter Zugriff: 23.3.2020). Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30.6.1961. In: Bundesgesetzblatt Teil I vom 5.7.1961, Nr. 46, S. 815–841, online unter https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundes anzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl157s0147.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_ id%3D%27bgbl161s0815.pdf%27%5D__1584979641224 (letzter Zugriff: 23.3.2020). Aichinger, Hans: Die Gesellschaft und die Behinderten. In: Thimm, Walter (Hg.): Soziologie der Behinderten. Neuburgweier 1972, S. 23–29. Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7.8.1974. In: Bundesgesetzblatt Teil I vom 15.8.1974, Nr. 92, S. 1881–1926, online unter https://www.bgbl. de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl157s0147.pdf#__
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 127–144, FRANZ STEINER VERLAG
»[…] doch seine Wunde erwies sich als unheilbar«. Verwundung und Tod auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges Alexander Querengässer Summary “[…] his wound proved incurable, however […]” – Wounding and death in the battlefields of the Thirty Years’ War This essay examines the treatment of those killed or injured in the battlefields of the Thirty Years’ War. While research generally tends to highlight the deficits of military medicine in the early seventeenth century, this contribution tries to focus on its effectivity. Based on ego-documents as well as the investigations of battlefield archaeology it can be shown that physicians trusted themselves to carry out very complex operations and that many soldiers survived even very serious injuries. The second part examines the approach to fallen soldiers, where three categories can be distinguished. While ordinary soldiers were usually buried in mass graves without Christian funeral rites, lower-ranking officers had individual funerals in local parish churches, and high-ranking officers were transferred to their home country or to prestigious burial sites.
Einführung »[W]ir lagerten in der Nacht auf dem Schlachtfeld, die Lebenden fröhlich und vergnügt, jedoch ohne Trunk, während dieser Nachtwache, ihrer toten Kameraden und Freunde wegen, die auf dem Feld der Ehre lagen.«1 So schildert Robert Monro den Abend nach der Schlacht bei Breitenfeld, dem größten Waffengang des Dreißigjährigen Krieges. Die Schlachten des Dreißigjährigen Krieges waren zwar vergleichsweise seltene, dafür aber ungeheuer kostspielige Angelegenheiten. Über die Dauer des Krieges hinweg nahm die Professionalität der Söldnerheere und damit ihre Fähigkeit, Verluste zu ertragen, sogar noch zu.2 Tod und Verwundung bildeten daher ständige Begleiter für die Söldner dieser Zeit, auch wenn die Gefahr, an Krankheiten und Seuchen zu sterben, wesentlich höher war.3 Die kameradschaftliche Fürsorgepflicht für Gefallene und Verwundete schildert Monro sehr eindringlich:
1 2 3
Mahr (1996), S. 139. Vgl. Parrott (1995), S. 239–245. Als grundlegende Studie mit Fokus auf den Körper des Soldaten vgl. Dinges (1996).
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Alexander Querengässer In so einem Kampf ist es angebracht, daß wir, wenn wir Zeit dafür haben, Sorge tragen, die Leichen unserer im Kampf ums Leben gekommenen Kameraden, die ehrenvoll vor dem Feind gefallen sind, wegzubringen, sie in das Bett der Ehre zu legen und sie zu begraben, wie es Christen verdienen. Ebenso sind wir es unseren Kameraden schuldig, die mit uns die Gefahr teilen, daß wir, soweit dies in unserer Macht liegt, für ihre Sicherheit sorgen, wenn sie verwundet oder verstümmelt werden. Wir dürfen daher auf die Sicherheit unserer eigenen Person nicht mehr Wert legen als auf die Pflicht, die wir unseren lebenden oder toten Kameraden und Landsleuten gegenüber haben. Vielmehr sollten wir die Toten und Verwundeten unter dem Einsatz unseres eigenen Lebens wegbringen.4
Was der Schotte hier schildert, ist ein soldatisches Ideal, dessen Einhaltung ihm zweifellos wichtig war. Inwiefern es jedoch umgesetzt werden konnte, soll im folgenden Beitrag näher analysiert werden. Dabei geht es zunächst um den Umgang mit Verwundeten, wobei auch die Möglichkeiten der damaligen Militärmedizin beleuchtet werden müssen. In einem zweiten Abschnitt geht es dann um den Umgang mit Gefallenen. In beiden Abschnitten sollen vor allem auch Unterschiede zwischen Offizieren und Gemeinen, Freund und Feind einer genauen Betrachtung unterzogen werden. Verwundung Obwohl die Feuerkraft der Infanterie im Dreißigjährigen Krieg immer mehr an Bedeutung gewann, konnte die Wirkung von Schusswaffen stark begrenzt sein, wie Christian II. von Anhalt-Bernburg in seinem Tagebuch eindrucksvoll schildert. Darin berichtet er vom Sturm kaiserlicher Soldaten auf seinen Stammsitz im Jahr 1636: »Mein kammerJuncker [Ernst Dietrich von] Röder, wirdt am Fenster vorn kopf geschoßen, daß er vbern hauffen fellet. Ist aber Gott lob, nur ein starcker Streifschoß zwischen byden augen gewesen, so ihn etwas verwundet.«5 Röder überlebte diese Verwundung zwar um 50 Jahre, dennoch konnte auch so ein vermeintlich leichter Treffer durch eine schwere Bleikugel schwere innere Verletzungen verursachen, auch wenn diese oberflächlich nicht zu bemerken waren. Eine noch kuriosere Episode überliefert der schottische Oberst Robert Monro. Der Soldat Hugh Murray war gerade dabei, den Kugelvorrat seines gefallenen Bruders zu verschießen. »Da wurde er selbst ins Auge getroffen, aber auf eigenartige Weise zu seinem Vorteil, denn die Kugel kam einige Tage später bei seiner Nase wieder zum Vorschein. Das klingt zwar unglaublich, ist aber dennoch wahr.«6 Auch in Murrays Fall scheint die Kugel nur noch wenig Kraft besessen zu haben. Dennoch muss die Verletzung, auch wenn Monro keine Details schildert, sehr schwer, wenngleich nicht tödlich gewesen sein. Historiker neigen nach wie vor dazu, die moderne Medizin als Maßstab für die Frühe Neuzeit zu nehmen und anschließend den (Äskulap-)Stab über 4 5 6
Mahr (1996), S. 46 f. Dieser Teil der umfangreichen Tagebücher des Fürsten ist bereits ediert: http://diglib. hab.de/edoc/ed000228/start.htm (letzter Zugriff: 11.3.2020). Mahr (1996), S. 45.
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die Ärzte dieser Zeit zu brechen. So lautet der Titel des Kapitels über Feldmedizin im Katalog zur Ausstellung über das Wittstocker Massengrab »Schlechte Fürsorge für Blessierte«.7 Doch ein solches Vorgehen wird den Medizinern des Dreißigjährigen Krieges und ihrer Leistungsfähigkeit nicht gerecht. Statt klar erkennbare Defizite zutage zu fördern, muss die Forschung versuchen, den theoretischen und praktischen Kenntnisstand der Zeit zu rekonstruieren.8 Auf dem Feld der Chirurgie hatte das europäische Medizinwesen bereits um 1500 bedeutende Fortschritte gemacht. Durch den Buchdruck wurden Traktate über die Behandlung schwerer Wunden, insbesondere für den Feldverbrauch, weit verbreitet. 1517 erschien Hans von Gersdorffs »Feldtbuch der Wundartzney«, welches in etlichen Auflagen gedruckt wurde. Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät, dass die Abhandlung nicht zuletzt für den militärischen Gebrauch gedacht gewesen ist: »Die yngeschlagenen Hyrnschal wider zu bringen«, »Cura und Heylung der abgeschnittenen Glieder«, »Ußzyehung des Geschosses« und »Abgeschossen Glieder« bilden die Themen einzelner Kapitel.9 Auch die Illustrationen, die im Hintergrund meist kriegerische Ereignisse oder Behandlungen von Landsknechten zeigen, verdeutlichen die Zielgruppe des Werkes. Gersdorff erklärt hierin, wie Knochenbrüche geschient oder Schussverletzungen behandelt werden sollen. Revolutionär ist vor allem sein Vorgehen bei Amputationen. Anstatt wie bisher durch den kräftigen Hieb mit einer Axt – ein enorm schmerzhaftes und oftmals nicht auf Anhieb erfolgreiches Verfahren – empfiehlt er den Gebrauch einer Amputationssäge. Vorher sollten zudem Haut und Muskelfleisch sorgfältig ein Stück über den Knochen gezogen werden, um mit ihrer Hilfe die Wunde besser verschließen zu können.10 Dieses Verfahren wird im Wesentlichen auch heute noch bei Amputationen angewendet. Narkotika wurden zu jener Zeit noch nicht verwendet. Mit etwas Glück wurde das Opfer mit Alkohol betäubt oder fiel irgendwann in Ohnmacht. Dagegen beschäftigen sich zahlreiche Darstellungen intensiv mit der Verhinderung von Wundbrand, der viele Landsknechte, die ihre unmittelbare Verwundung überlebt hatten, dahinraffte. Die Verwendung von Feuerwaffen führte zu einer sofortigen Wundverschmutzung, da an den Bleikugeln noch große Mengen Pulverschmauch hafteten. Hieronymus Brunschwig empfahl bereits in seinem »Buch der Cirurgia« von 1497, Schusswunden mit Hilfe von Seidenfäden von Pulverresten zu reinigen.11 Gersdorffs Abhandlung enthält einen umfangreichen Anhang zur Kräuterkunde, der etlichen Infektionen vorbeugen sollte. Im frühen 17. Jahrhundert beschrieb Wilhelm Fabry das erste chirurgische Besteck für Feldchirurgen, das wahrscheinlich auf jenem beruhte, welches Moritz von Nassau 1612 in der niederländischen Armee einführte.12 7 8
Eickhoff/Grothe/Jungklaus (2012), S. 119. Zum frühneuzeitlichen Militärsanitätswesen allgemein: Vollmuth (2001); Vollmuth (1991); Gurlt (1964); Gabriel/Metz (1992); Gabriel (2013), S. 65–86. 9 Vgl. Gersdorff (1517), S. III. 10 Vgl. Gersdorff (1517), S. LXXX f. 11 Brunschwig (1497), S. XII f. 12 Vgl. Gabriel (2013), S. 72.
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Der anatomische Kenntnisstand und die chirurgischen Fähigkeiten der Ärzte dieser Zeit waren durchaus bemerkenswert. Allerdings stellt es nach wie vor noch ein Desiderat der Forschung dar, was von diesem theoretischen Wissensstand die einzelnen Feldärzte tatsächlich verinnerlicht hatten. Wie viele hatten ein Studium der Medizin absolviert, wie viele ihren Beruf eher als Handwerk erlernt? Richard A. Gabriel sieht die Nutzung theoretischen Wissens ín der damaligen Militärmedizin eher skeptisch: »Although a number of fundamental medical discoveries had been made in the previous century, the application of this knowledge to military surgery was marginal at best.«13 Die französischen, österreichischen, schwedischen oder sächsischen Archive verfügen über teilweise sehr detaillierte Musterlisten einzelner Regimenter, deren Auswertung aussagefähige statistische Werte hervorbringen könnte. Generell verfügten die meisten Regimenter nur über einen einzigen studierten Arzt auf Regimentsebene und einen ungelernten Feldscher14 in jeder Kompanie. Sprachlich wurde dieser Unterschied nicht immer differenziert. So wurde in der kursächsischen Armee auch der Arzt auf Regimentsebene als Regimentsfeldscher bezeichnet, über den es hieß: »Sollen Rechtschaffende, kunstreiche, erfahrene und wohlgeübte Leute sein, und nit nur schlecht Bartschärer und Baderknechte.«15 Diesen Ärzten oblag auch die weitere Ausbildung der Kompaniefeldschere. Diese Grundstruktur blieb in der sächsischen Armee bis ins 18. Jahrhundert erhalten.16 In der schwedischen Armee erhöhte Gustav II. Adolf die Zahl der Chirurgen und Barbiere auf Regimentsebene von zwei auf vier.17 Ein weiteres Problem ergab sich aus der Trennung von Medizinern und Chirurgen. Rivalitäten zwischen beiden Berufsgruppen an den Universitäten führten dazu, dass Mediziner oft schlechte chirurgische Kenntnisse besaßen, während die Zusammenfassung von Chirurgen und Barbieren – gerade beim Militär – wenig dazu beitrug, das soziale Ansehen der Chirurgie gegenüber der übrigen Medizin zu steigern.18 Bis zu einer genaueren Analyse der medizinischen Ausbildung der Regimentsärzte und Kompaniefeldschere muss eine Betrachtung der Leistungsfähigkeit damaliger Militärmediziner auf alternative Quellen zurückgreifen. Die eher anekdotischen Schilderungen einzelner Tagebücher gewähren hier erste interessante Einblicke. Robert Monro berichtet von einem Arzt, der sich nach der Schlacht an der Alten Veste eine durchaus schwierige Operation an einem Schädel zutraute: Auch ein junger Mann, Hector Monro Catvals Sohn, hatte, ohne Befehl zu haben, eine Muskete genommen und war mitgezogen. Er bekam einen Schuß ins Gehirn und lebte 13 14 15 16 17 18
Vgl. Gabriel (2013), S. 74. Zum Feldscher vgl. Ohry (1992). Zit. n. Sennewald (2013), S. 538. Kroll (2006), S. 454. Vgl. Gabriel (2013), S. 80. Vgl. Gabriel (2013), S. 71.
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noch 14 Tage. Die Verletzung war eigenartig, denn auf der Seite, wo ihn die Kugel getroffen hatte, war das Schädeldach noch ganz. Aber er litt furchtbare Schmerzen durch den Eingriff des Feldschers, der, um zu sehen, ob der Schädel verletzt sei, ihm die andere Seite geöffnet hatte, sie aber zertrümmert fand. Man konnte sein Gehirn sehen, doch seine Wunde erwies sich als unheilbar.19
Es war demnach die Schwere der Verletzung, nicht die mangelnden Fähigkeiten des Feldschers, die den Eingriff scheitern ließ. Natürlich lässt sich der medizinische Wissensstand nicht mit dem heutigen vergleichen. Probleme bei der Verwundetenversorgung entstanden jedoch weniger aus mangelnden Kenntnissen als aus der Notwendigkeit, nach der Schlacht eine große Zahl Verwundeter durch eine viel zu kleine Zahl an Ärzten behandeln zu lassen, ein Problem, welches auch in modernen Kriegen nur schwer in den Griff zu bekommen war. So war beispielsweise die Medizin in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Lage, komplizierte Knochenfrakturen mit Hilfe von Resektionen zu heilen, dennoch blieb die Amputation das bevorzugte Mittel der Feldärzte, da sie schneller durchführbar war.20 Für die Masse an Verwundeten, die ein seltenes Großereignis wie eine Schlacht hervorbringen konnte, reichte der Personalbestand an Medizinern natürlich bei weitem nicht. Zudem verfügte nicht jede Armee über eigene Feldlazarette, auch wenn Maximilian von Bayern solche 1620 für die Armeen der Katholischen Liga einführen ließ.21 Daher wurden nach einem Gefecht auch immer wieder zivile Ärzte bemüht, wie Oberst Monro beispielsweise für den Nachgang der Schlacht bei Breitenfeld schildert: »Die Verwundeten brachten wir in Dörfer, wo Chirurgen beauftragt wurden, sich um ihre Heilung zu bemühen.«22 Städte boten hierfür wesentlich bessere Möglichkeiten, denn hier konnten mehr und meist bessere Quartiere, mehr Ärzte und vor allem auch Sanitätsmaterial beschafft werden, wie der Chevalier de Ramsay in seiner Turenne-Biographie über die zweite Schlacht bei Nördlingen schreibt: »Wir blieben sieben oder acht Tage in Nördlingen, welches eine recht schöne und große Stadt ist, wo wir uns gut erholen konnten; wir fanden dort einige Waffen, Pferdegeschirr, einen Überfluss an Pferden für den Tross, und ausreichend Medizin für die Verwundeten.«23 Die Städte hingegen hatten wenig Interesse daran, kranke Soldaten innerhalb ihrer Mauern zu beherbergen, da von ihnen eine erhöhte Seuchengefahr ausging. So beschloss der Magistrat der Stadt Leipzig am 19./29. November 1632 in Bezug auf die hierher verlegten Verwundeten der Schlacht bei Lützen: »Die Soldaten sollen eingetheilet werden, alldieweil sie trohten, wenn Sie gesund weren, [die Stadt] anzustecken,
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Mahr (1996), S. 187. Vgl. Stolz (2012), S. 432. Vgl. Gabriel (2013), S. 82. Mahr (1996), S. 141. Chevalier de Ramsay (1735), S. XXXII: »On demeura sept ou huit jours à Nortlingen, qui est une assez grande & bonne ville, ou l’on se racommoda beaucoup: on y trouva des armes, assez des cheveaux pour les équipages, des harnois, & beaucoup des médicaments pour les blesses.«
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statraus in der gaßen beym thore.«24 Möglicherweise war dies jedoch nur ein Versuch, die Verwundeten aus den innerstädtischen Bürgerhäusern herauszutreiben, die ja eigentlich von der Einquartierung befreit waren.25 Eine andere Ratsmitteilung offenbart nämlich, dass die Verletzten nicht nur in eigens errichteten Lazaretten und den städtischen Hospitälern, sondern auch bei einfachen Bürgern untergebracht waren: 24 Personen gnelus: die Officirer befinden sich theils gesund, theils aber noch verwundet im Lazareth vor dem Randstedtischen Thore, weil sie nothleiden müssen, bitten sie Vft. Vmb gnedigste endledigung / ferner / 2 Personen ein Feldwebel und ein Einsfenniger liegen bey Caspar Michel Welschen und Andreas Heidenreichen.26
Leipzig war nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch wegen der dortigen Universität besonders attraktiv für die Unterbringung von Verwundeten. Mehrfach wurden Professoren zur Verwundeten- und Krankenversorgung herangezogen.27 Nicht immer endete die Feindschaft mit einer Verwundung oder dem Ende der Schlacht. Eine Relation (Mitteilung) über die erste Schlacht bei Nördlingen schildert: »Beynebens war auch der Spanier Eifer so groß, daß sie auf der niedergemachten schwedischen Soldaten Kleyder Pulver gestrewet und angezündet haben, mit vermelden, weils Ketzer seyen, so müsse man sie mit Feuer verfolgen und verbrennen.«28 Allerdings sind Relationen dieser Art in ihrer Authentizität nur schwer einzuschätzen, gerade wenn es um Spanier geht, die vielleicht (je nach Standpunkt) gute Katholiken gewesen sein mögen, aber von den meisten Reichsständen unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit als Bedrohung der deutschen Freiheit wahrgenommen wurden. Glaubhafter scheint dagegen die Beschreibung der Schlachtfeldbegehung des ungarischen Königs und des spanischen Kardinalinfanten: Nach geendigter Schlacht ist der König und der Infante hin und wieder auf der Wahlstatt herumgeriten, und die toden Körper in grosser Anzahl zerhackt und durchschossen liegen sehen; der Prince Don Matthias [Mattero di Medici, Prinz von Toskana] ist mitgeritten, dessen Pferd auf einen toden Cörper getreten, so noch eine brennende Lunde bey sich gehabt, die in die Pulver-Flaschen kommen, und einen solchen Stoß gethan, daß ihm sein Roß gantz aufgehoben und niedergeworfen.29
Gefahr drohte vielen Verwundeten auch von der Landbevölkerung, auf deren Kosten sie zuvor gelebt hatten und die nun ihrerseits wohl auch gehofft haben dürften, sich an der Habe der Soldaten zu bereichern. So berichtet der Erfurter Priester Caspar Heinrich Marx über den Nachgang der Schlacht bei 24 Zit. n. Stahl (2015), S. 389. 25 So das Fazit von Bernhard R. Kroener, wonach die ummauerten Innenstädte im Dreißigjährigen Krieg selten mit Einquartierungen belastet wurden, sondern diese gegen Kontributionszahlung auf die ärmeren Vorstädte verlagerten; vgl. Kroener: Soldat (2008), S. 138–140. 26 Zit. n. Stahl (2012), S. 259. 27 Vgl. Zirr (2014), S. 110–112. 28 Zit. n. Engerisser/Hrncirik (2009), S. 145; Anonymus (1885). 29 Zit. n. Engerisser/Hrncirik (2009), S. 145.
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Breitenfeld: »Alß unterschiedlige Verwun[de]te, auch krancke undt geschlagene Soldaten keiserische Soldaten in hiesigen ohrten ankommen, daß Landt Volck auf sie verbittert gewesen, undt als [sie] ihnen ziemblich zuegesetzt.«30 Aber auch die feindlichen Armeen nahmen auf die Verwundeten des Gegners wenig Rücksicht. Im Gegenteil, oft bildeten sie ein bevorzugtes Ziel für schnelle Reitertrupps. So berichtet Monro aus den Feldzügen im Norden Brandenburgs im Frühjahr 1631: Als Tillys Armee weg war, kehrten wir nach Friedland zurück, von wo aus Fähnrich Greame mit einigen Dragonern nach Neu-Brandenburg geschickt wurde und Befehle bezüglich der Kranken und Verwundeten erhielt, die Tilly zurückgelassen hatte. Sie wurden ausgeplündert, einige wurden auch vom Fähnrich und seinen Soldaten getötet.31
Offiziere verfügten oftmals über Mittel und Gelegenheit, sich bei Bedarf bessere medizinische Versorgung zu suchen. So berichtet Robert Monro, der während der Belagerung von Stralsund von einer Musketenkugel im Knie getroffen wurde: In der Zeit des Waffenstillstandes nahm ich mit Unterschrift und Siegel meines Obersts Urlaub und wollte auf dem Seewege nach Kopenhagen, um mich dort behandeln zu lassen. Ich sah nämlich, daß kein Arzt in Stralsund es auf sich nehmen wollte, mir die Kugel aus meinem Knie herauszuschneiden, weil das Risiko zu groß war, daß ich dabei lahm werden würde. Um das zu vermeiden, wählte ich lieber das kleinere Übel und ließ die Kugel 14 Tage im Knie, obwohl ich von unaufhörlichen Schmerzen geplagt wurde, bis ich nach Kopenhagen kam, wo ich glücklicherweise eine bessere Behandlung erfuhr.32
Bereits vom Feldzug seines Regiments in Oldenburg 1627 berichtete Monro, »daß sich ja unser Oberstleutnant, Sir Patrick Mackay, und Hauptmann Forbesse, die verwundet waren, bereits lange zuvor zu ihrer Sicherheit über die Insel Fehmarn nach Dänemark zurückgezogen hatten, um sich dort auszuheilen«.33 Gottfried Heinrich von Pappenheim, der in der Schlacht am Weißen Berg 1620 schwer verwundet wurde – Ärzte schätzten gleich mehrere seiner Wunden als tödlich ein –, überlebte dank der Hilfe eines protestantischen Mediziners aus Prag und des Leibarztes von Herzog Maximilian von Bayern.34 Auch einfachen Soldaten oder ihren Angehörigen aus dem Tross stand es anscheinend frei, sich zivile Ärzte zu suchen, wenn sie es sich leisten konnten. Peter Hagendorf berichtet aus dem Jahr 1642, in der Nähe von Nördlingen »habe Ich mein weieb wieder geholt zu engelstat, die war wieder, frichs und gesundt, aber viel gelt gekostet«.35 Seine Frau spielte dabei, wie viele weibliche Mitglieder des Trosses, selbst eine große Rolle bei der Verwundetenversorgung.36 Keine Darstellung in Hagendorfs Tagebuch ist so ausführlich wie 30 31 32 33 34 35 36
Medick/Winnige (2008), Marx, fol. 8r. Hervorhebung im Original. Mahr (1996), S. 106. Mahr (1996), S. 80. Mahr (1996), S. 47. Vgl. Querengässer (2014), S. 14. Peters (2012), S. 83. Vgl. Kroener (1998); Kroener: Jammer (2008), S. 116–118.
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die der Betreuung durch seine Frau nach seiner Verwundung bei Magdeburg 1631: wie Ich nun verbunden bin, Ist mein wieb In die stadt gegangen, da sie doch vber all gebrunnen hat, vndt hatt wollen ein kussen holen, vndt tucher zu ver // binden, vndt wo auff Ich liegen köndte, so habe Ich auch, das kindt, allso krang, bei mir liegen gehabet […] so hat mich das weieb mehr bekummert, wehgen des krangke kindt, als (Mein) Schaden, doch hatt sie godt behutet, vndt kombt In Anderhalb stunde, gezogen mit einer alten frauwen, aus der stadt, die hatt sie mit sich ausgefuhret, Ist einnes seglers weiebn gewessen, vndt hat Ihr helffen tragen, bedtgewandt, so hat sie mir auch gebracht eine grosse // Kante, von 4 mas, mit wein […].37
Auch die bereits erwähnte Auflistung des Leipziger Rats über die Unterbringung der Verwundeten nach der Lützener Schlacht bestätigt dieses Bild, indem sie fortfährt: 30 Personen incl: wenig Offizirer, darunter auch etzliche vnter Königl. Schwed. Armee gehörig, seind noch beschedigt vndt nurt einer heil, 20 Weiber, denen Ire männer in der Schlacht blieben, befinden sich alle im neuen Hospitahl / vnd / 1 Weib eines Musquetieres witbe, bey dem Balbier Barthel Tillischen.38
Tatsächlich zwang der Mangel an medizinischem Pflege- und Hilfspersonal viele Armeen dazu, dieses aus den Reihen des Trosses zu rekrutieren. In England erließ König Charles I. 1628 sogar ein entsprechendes Edikt, welches die weiblichen Trossmitglieder dazu verpflichtete, Pflegeaufgaben zu übernehmen.39 Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum verwunderlich, dass viele Verwundete ihren Verletzungen oder den Folgen einer Operation erlagen, dagegen umso erstaunlicher, wie viele schwere Verletzungen überlebten. Neben den anekdotischen Tagebuchberichten liefern Statistiken der wenigen westeuropäischen Militärhospitäler und neuerdings auch Massengrabfunde interessante Hinweise. Von 41 Verwundeten der spanischen Flandernarmee im Jahr 1574 hatte einer beide Beine und drei beide Arme verloren. Fünf weitere hatten dauerhafte Schäden an einem Bein davongetragen, 13 einen Arm oder zumindest eine Hand verloren, elf Männer waren durch Schusswunden im Gesicht entstellt worden, hatten ein Auge verloren oder litten an einem steifen Glied. Vier Männer hatten Gliedmaßen durch Kanonenkugeln eingebüßt. Insgesamt gesehen mag die Zahl von 41 Verwundeten angesichts der Gesamtverluste der Flandernarmee gering erscheinen, aber allein die Art dieser Verwundungen zeugt von einer gewissen Qualität der Ärzte.40 Zwischen 1596 und 1599 entließ der Generalkapitän der Flandernarmee 386 spanische und italienische Soldaten in die Heimat. 142 (37 Prozent) waren durch Verletzungen im Gesicht schwer entstellt. Fünf Prozent hatten ein oder beide Augen eingebüßt, sieben Prozent hatten ihr Bein verloren oder waren
37 38 39 40
Peters (2012), S. 41. Zit. n. Stahl (2012), S. 259. Vgl. Gabriel (2013), S. 79. Vgl. Parker (2004), S. 142.
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so schwer verletzt, dass sie es nicht mehr nutzen konnten. 17 Prozent hatten ihren Arm verloren oder dauerhafte Schädigungen davongetragen. Auch die Untersuchung von Massengräbern erhärtet den Befund, dass die Söldner dieser Zeit teils schwere Verletzungen überlebt haben. So weisen 20 der 47 Skelette aus dem Lützener Massengrab insgesamt 27 teils schwere, aber verheilte Verwundungen auf41, beim Wittstocker Massengrab konnte bei mindestens sechs Soldaten eine verheilte Verwundung vorherigen Kampfhandlungen zugeschrieben werden42. Peter Hagendorf, der im Laufe seiner langen Soldatenlaufbahn mehrfach im Lazarett weilte oder mit dessen Schutz beauftragt war, überliefert in seinem Tagebuch ebenfalls vergleichsweise positive Statistiken zur Genesungsquote von Kranken und Verwundeten. So schildert er, wie er nach seiner Verwundung bei Magdeburg ins Stift Halberstadt verlegt wurde, »da sindt von vnsern Regemendt 300 In einen dorff gelehgen, vndt sindt alle wieder geheilet«.43 Im Sommer 1645 war Hagendorf mit dem Schutz eines Würzburger Lazaretts betraut: Alhir // bin Ich wieder, mit den geschediegeten, welche fur Khirchhahn, sindt beschedieget worden, comedirt, nach wurdtzbergk […] Der geschediegeten sindt gewesen 71 Man, den 10 zu wurdtzbergk, ankommen, Ahir, hatt es schön spital, des Iuliger spittal, Alda sindt edliche eingelossichiret worden, etliche auff dörffern, alhir sidt wir gelehegen bis auff den 20 augusti dessen 1645 gars Von dieser manschafft, sindt gestorben 8 die ander alle wieder zum regemendt gebracht […]44
Schließlich, 1646, sicherte er einen Verwundetenzug im Spessart: »Alhir, vber den spessert, den 3 Sebtember auff gemude am meigen, den 4 bin Ich wieder mit den krangken vndt geschediegeten, nach wurdtzbergk, geschiegket worden von allen Regemedter, sindt gewessen 100 vndt 43 man Aber von dieser manschafft sindt gestorben 42 man […].«45 Die Überlebenschancen wirken mit 100 Prozent, 88,7 Prozent und selbst 70,6 Prozent durchaus hoch. Die Nutzung des Würzburger St. Julius-Stiftes verweist zudem auf die große Bedeutung, die kirchliche Stiftungen für die Pflege von Verwundeten und Kranken besaßen. Insbesondere Offiziere dienten auch nach der Amputation von Gliedmaßen weiterhin in der Armee. Christian von Halberstadt wurde in der Schlacht von Fleurus (1622) durch eine Kugel am linken Arm so schwer verwundet, dass er sich wenige Tage später im Lager von Breda unter Trommelwirbel vor seinen Truppen amputieren ließ.46 Dem schwedischen Oberst Axel Lillie wurde 1631 bei der Belagerung von Mainz von einer Kanonenkugel das linke
41 42 43 44 45 46
Nicklisch u. a. (2015), S. 409. Vgl. Eickhoff/Grothe/Jungklaus (2012), S. 123 f. Peters (2012), S. 44. Peters (2012), S. 90. Peters (2012), S. 92. Xylander (1926), S. 125–127.
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Bein abgetrennt. »Als er später wieder geheilt war«, erinnert sich Monro an den Vorgang, »leistete er seinen Dienst mit einem Holzbein.«47 Die Bergung von Verwundeten und ihre Verbringung an sichere Orte hatten meist eine hohe militärische Bedeutung. So schildert der französische Marschall Gramont den Nachgang der Schlacht bei Freiburg (1644): »Wir blieben drei Tage in unserem Lager und verbrachten sie damit, all die während der zwei großen Attacken verwundeten Offiziere und Soldaten nach Breisach zurückzutransportieren.«48 Dieser Aufwand erscheint nachvollziehbar, bedenkt man, dass Kardinal Richelieu 2.000 genesene Soldaten wertvoller erschienen als 6.000 ungelernte Rekruten.49 Peter Hagendorf war 1644 mit der Deckung eines Verwundetenzugs beauftragt, dessen Rettung vor den Franzosen über den schützenden Neckar anscheinend noch Priorität vor dem Heerestross genoss: »Alhir bin Ich, zu den krangken, vnd geschediegten, derer zimlich vil wahren, commandirt worden, bis sie wieder zu Ihrer gesundtheit kommen sindt, Aber, vnser pagkase Ist alle In stich blieben, die hat der feindt alle bekommen […].«50 Auch Gustav II. Adolf betrieb großen Aufwand, um Verwundete zu bergen, und stellte auch Wagen ab, um verletzte gegnerische Soldaten in nahe gelegene Hospitäler zu transportieren.51 Allerdings hingen solche Bergeaktionen auch immer von den ohnehin begrenzten Transportkapazitäten der Armeen ab und konnten daher nicht immer durchgeführt werden. Monro schildert, wie die schwedische Armee nach der Schlacht an der Alten Veste (1632) das verlassene kaiserliche Lager vorfand: »Der Feind ließ auch viele kranke und verwundete Soldaten zurück, die nicht versorgt waren. Unter ihnen war der Tod zu dieser Zeit häufig […].«52 Die Gefallenen Ein allgemein bindendes Kriegsrecht zum Umgang mit Gefallenen gab es im Dreißigjährigen Krieg nicht, allerdings hatte Hugo Grotius in seinem 1625 erstmals erschienenen Werk »De Jure Belli ac Pacis« diesem Thema ein Kapitel gewidmet und darin die Frage gestellt, ob es eine Pflicht zur Beisetzung von Feinden gibt: Ja / weilen / wie Livius bezeuget / die Cörper der Feinden unbeerdiget lassen / eine solche Grausamkeit ist / daß nicht gläublich ist / einiger Mensch könne sich durch den Zorn zu Begehung derselben bewegen lassen / und der Tod ein End ist aller Streitigkeiten
47 Mahr (1996), S. 159. Zu Lillie: Zirr (2016). 48 Gramont (1826), S. 357: »On resta trois jours dans le camp, qui furent employés à faire rapporter à Brisach, par une partie des charrettes de l’armée, tous les officiers et les soldats qui avoient été blessés à des deux grandes actions.« 49 Vgl. Parrott (2001), S. 534. 50 Peters (2012), S. 87. 51 Vgl. Gabriel (2013), S. 82. 52 Mahr (1996), S. 192.
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unter den Menschen. Danahen ist die Begräbnuß der Feinden mit allgemeiner Einwilligung gut geheissen worden.53
Auch Robert Monro erhebt in seiner Schilderung über die Schlacht bei Breitenfeld das Begraben der Toten zur Pflicht für die Überlebenden: »Die Lebenden waren froh, daß der Herr ihre Tage verlängert hatte, so konnten sie sich der letzten ehrenvollen Pflicht unterziehen, ihre toten Kameraden zu begraben.«54 Doch selbst zur Beisetzung der schwedischen Soldaten blieb nicht genug Zeit, denn Gustav Adolfs Armee verließ das Schlachtfeld bereits am nächsten Tag. Die Art der Bestattung hing dabei wohl auch von der Masse der Toten und der Anzahl der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte ab, wie aus der Schilderung Monros über die Einnahme Frankfurts an der Oder im Frühjahr 1631 hervorgeht: »Dann wurde der Befehl gegeben, die Toten zu begraben, was man in sechs Tagen nicht völlig schaffen konnte. Zuletzt warf man sie in Haufen in große Gruben, mehr als 100 in jedes Grab.«55 Schienen bei der Verwundetenversorgung die Unterschiede zwischen den hierarchischen Ebenen teilweise zu verschwinden – solange die niederen Soldaten das Geld für zusätzliche medizinische Betreuung aufbringen konnten –, so traten diese beim Umgang mit Toten viel deutlicher zutage.56 Sie beruhen jedoch weniger auf den Unterschieden innerhalb der militärischen als vielmehr der allgemeinen sozialen Hierarchie. Die das Offizierskorps dominierende Klasse des Adels nahm große Anstrengungen auf sich, um Gefallene ordnungsgemäß zu bestatten. Selten nahm man diese Bestattungen auf dem Schlachtfeld selbst vor. Stattdessen wurden höhere Offiziere über große Distanzen in ihre Heimat oder andere prestigeträchtige Grabstätten überführt. Der schwedische König Gustav II. Adolf stellt hierbei sicherlich das prominenteste, aber keineswegs das einzige Beispiel dar. Nach seinem Tod in der Schlacht bei Lützen wurde der nordische »Roi Connétable« in einer feierlichen Prozession nach Wolgast verbracht, wo der Leichnam im Sommer 1633 auf ein Schiff geladen und nach Stockholm überführt wurde, wo er in der traditionellen Grablege der Wasakönige, der Riddarholmskirche, beigesetzt wurde.57 Das andere prominente Opfer der Schlacht bei Lützen, der kaiserlichligistische Feldmarschall Gottfried Heinrich von Pappenheim, der entweder auf dem Weg nach Leipzig oder in der dortigen Pleißenburg verstarb, wurde von Wallenstein auf einem von mehreren Kerzen hell erleuchteten Wagen nach Prag gebracht. Hier ließ der Generalissimus den Leichnam seines Freundes öffentlich ausstellen, damit die Bevölkerung ihn betrauern konnte. Ob-
53 54 55 56
Grotius (1718), S. 129 f. Mahr (1996), S. 139. Mahr (1996), S. 114. Einen ähnlichen Ansatz wie in diesem Abschnitt verfolgt Füssel (2012). Allerdings unterscheidet Füssel nur zwischen gemeinen Soldaten und hohen Offizieren im Generalsrang. 57 Grothe/Grundberg (2015).
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wohl Pappenheims Witwe den Feldmarschall nach Salzburg überführen lassen wollte, ließ Wallenstein ihn im Sommer 1633 im Kloster Strahov beisetzen.58 Begräbnisse und Leichenschauen hochrangiger Generale oder Adliger waren aufwendige Zeremonien, in die mitunter ein ganzes Feldheer eingebunden werden konnte. So berichtet Monro über den Tod des Markgrafen von Baden während der Belagerung von Ingolstadt 1632: Am Nachmittag zuvor hatte der König die ganze Armee, Reiterei, Fußvolk und Artillerie, zur Leichenfeier für den Markgrafen von Baden in einer Linie aufstellen lassen, da dessen Leiche mit einer Bedeckungsmannschaft zum Begräbnis weggebracht werden sollte. Ehe sich der Trauerkondukt in Bewegung setzte, feuerte man alle Kanonen zweimal ab, und dann feuerten alle Musketiere der Armee vom rechten Flügel bis zum linken zwei Salven, nach ihnen die Reiterei zwei Pistolensalven.59
Diese Zeremonie scheint streng ritualisiert. Der rechte Flügel galt als der »ehrenvolle« in der Schlachtaufstellung, welcher entweder von Garde- oder anderen altgedienten Eliteformationen eingenommen wurde. Der 1645 in der zweiten Schlacht bei Nördlingen gefallene bayerische Befehlshaber Franz von Mercy wurde auf einem Artilleriewagen über Donauwörth nach Ingolstadt gebracht, wo er auf Befehl Kurfürst Maximilians in der Moritzkirche beigesetzt wurde. Mercy entstammte ursprünglich lothringischem Adel, war jedoch in Ingolstadt Festungskommandant und Statthalter gewesen, also mit der bayerischen Stadt eng verbunden.60 Solche lokalen Bezüge spielten auch bei der Beisetzung Paul-Bernards de Fontaine eine Rolle, der 1643 in der Schlacht von Rocroi fiel. Fontaine war Vogt in Brügge gewesen, weswegen sein Leichnam in die südniederländische Stadt überführt und in der Klosterkirche der Minderbrüder beigesetzt wurde. Der französische Generalleutnant Sirot schrieb über die Herausgabe des Leichnams: Unsere Truppen nahmen von seinem Leichnam Besitz und brachten ihn zur Kirche von Rocroi. Don Francisco de Melo, der sich nach der Niederlage ihrer [der spanischen – A. Q.] Armee nach Marienbourg zurückzog, bat noch am selben Tag um die Herausgabe seines Leichnams. Der Herzog von Enghien gab ihn ihm, nachdem er ihn in ein Leichentuch wickeln und in einen Sarg hatte legen lassen. Er ließ ihn in seinem Wagen nach Marienbourg bringen, welches nur sieben Leagues von Rocroi entfernt liegt, und schickte ihm all die Kapläne, Jesuiten und andere Kleriker ihrer [der spanischen – A. Q.] Armee mit, die er zu Gefangenen gemacht hatte.61
Die Überführung des toten Fontaine in der privaten Kutsche des Herzogs ist sowohl Ausdruck des persönlichen Respekts als auch des grenzübergreifenden 58 59 60 61
Vgl. Stadler (1991), S. 741 f.; Querengässer (2014), S. 60 f. Mahr (1996), S. 173. Vgl. Schinzl (1885). Zit. n. Thion (2008), S. 142: »Our troops took possession of his body and carried it to the church in Rocroi. Dom [sic!] Francisco de Melo who had withdrawn to Marienbourg after the defeat of their army asked for his body back the same day. The Duc d’Enghien returned it to him, after placing it in a shroud and then in a casket. He had it transported in his carriage to Marienbourg, which is only seven leagues from Rocroi, and with it he sent all the chaplains, Jesuits and other clerics in their army whom he had made Prisoner.«
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Zusammenhalts des europäischen Adels. Ähnlich generös erlaubte der Ligageneral Tilly nach der Schlacht bei Lutter am Barenberge die Überführung des auf dänischer Seite gefallenen Landgrafen Philipp von Hessen-Kassel in seine Heimat.62 Wenn Generale nicht in der Heimat beigesetzt wurden, so sollten sie doch in namhaften Klöstern oder Kirchen ihre letzte Ruhe finden. So wurde der an den Folgen seiner Verwundungen in der Schlacht bei Lützen in Naumburg gestorbene schwedische General Nils Brahe im Erfurter Kollegialstift St. Marien beigesetzt, worüber Caspar Heinrich Marx berichtet: »Ihre Fürstliche Durchlaucht | Hertzog Wilhelm von Weimar | begehret, darmit kunftigen Montag einen furnehmen Gestorbenen officirer zumb begräbnis des Stifts Beatæ Mariæ Virginis geleite geschehen mögte.«63 Ein anderes prominentes Beispiel liefert der kaiserliche General Johann von Götzen, der 1645 in der Schlacht bei Jankau fiel und im nahen Prag im Emmauskloster bestattet wurde.64 Natürlich gibt es Ausnahmen. Der in der Schlacht bei Lutter am Barenberge tödlich verwundete dänische General Hans Philipp Fuchs (ca. 1567– 1626) bat kurz vor seinem Ableben ausdrücklich darum, auf der Walstatt beigesetzt zu werden. Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zahlte seine Familie dem Besitzer des Ackers, auf dem sich die Grabstelle des Generals befand, eine Summe für deren Instandhaltung.65 Die teils weite Strecken überwindenden Überführungen blieben jedoch zumeist jenen Offizieren vorbehalten, die entweder in der militärischen oder der sozialen Hierarchie weit oben standen, sprich Generalen und Mitgliedern des Hochadels. Für niedere Chargen oder Mitglieder des ärmeren niederen Adels konnte dieser Aufwand nicht betrieben werden. Nach der Schlacht bei Wittstock ließ der schwedische Feldmarschall Banér beispielsweise mehrere verwundete Offiziere beider Seiten in der Stadt einquartieren, deren Sterberegister in den kommenden Tagen den Tod von 19 Männern registrierte. Zwölf wurden in der Heiliggeistkirche, die übrigen in der Pfarrkirche St. Marien beigesetzt.66 Immerhin wurde auch diesen Offizieren ein individuelles Begräbnis nach den gängigen christlichen Riten gestattet, was jedoch bei der Masse der einfachen gefallenen Soldaten nicht der Fall war. Sie wurden in Massengräbern beigesetzt, von denen einige in den vergangenen Jahren wiederentdeckt wurden und die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Schlachtfeldarchäologie lenkten, so etwa in Lützen und Wittstock. Das Wittstocker Massengrab ist mit 125 Skeletten das bisher bei weitem größte dieser Gräber. Zwar wurden die Toten nicht einfach in eine große Grube geworfen, sondern ordentlich nebeneinander und in drei Schichten beigesetzt, allerdings ging es den mit der Beisetzung Beauftragten wohl vorrangig darum, möglichst viele Männer 62 63 64 65 66
Voges (1922), S. 100. Medick/Winnige (2008), Marx, fol. 45r. Landmann (1879). Voges (1922), S. 121–125. Vgl. Eickhoff/Grothe/Jungklaus (2012), S. 165.
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in der Grube unterbringen zu können. Dies wird auch daran deutlich, dass die in allen christlichen Konfessionen übliche Ausrichtung der Leichname nach Osten (Jerusalem) hier nicht immer berücksichtigt wurde.67 Wer war für die Beisetzung der Soldaten zuständig? Zunächst einmal der Sieger, der die Walstatt besetzt hatte und diese nun zum Friedhof für die Gefallenen beider Seiten umfunktionierte – so berichtet vom Nachgang der Schlacht bei Breitenfeld: »Die Toten wurden in die Erde gelegt und ehrenvoll bestattet wie Soldaten, die ihr Leben für das Wohl des Staates hingegeben hatten.«68 Diese knappe Darstellung beschreibt jedoch nur die halbe Wahrheit. Zwar waren siegreiche Heere während des Dreißigjährigen Krieges oftmals viel zu erschöpft, um eine sofortige Verfolgung des Gegners aufzunehmen, dennoch waren auch sie nach einigen Stunden oder Tagen der Rast gezwungen, den Besiegten nachzusetzen, um politisches und militärisches Kapital aus dem Erfolg zu schlagen. Auch hygienische Gründe spielten beim Verlassen der Walstatt eine Rolle, denn von der Masse toter, in der Sonne der meist sommerlichen Feldzugsmonate aufdunsender Körper ging eine erhebliche Seuchengefahr für die Heere aus. So berichtet der französische Marschall Gramont über den Nachgang der Schlacht bei Freiburg (1644): »Es war eine schreckliche Zeit, weil all die toten Körper derartige Infektionen verursachten, dass viele davon starben.«69 Zuverlässige Schätzungen über die Zahl der Gefallenen bei Breitenfeld liegen uns nicht zuletzt in Form des Berichts des kursächsischen Amtes vor, welches schließlich Arbeitskräfte zu deren Beisetzung abstellen musste. Johan Adler Salvius schrieb hierzu, 7.600 Soldaten Tillys seien in der Schlacht umgekommen, »so viele ließ Kursachsen durch die umwohnenden Bauern in 2 Tagen begraben«.70 Es waren also nicht Monro und seine Kameraden, sondern mehrheitlich die Bewohner aus dem Umland des Schlachtfeldes, die für die Beerdigung eines Großteils der Soldaten zuständig waren. Auch die Beräumung des Lützener Schlachtfeldes ein Jahr später blieb wohl mehrheitlich dem dortigen kursächsischen Amt vorbehalten. Dies geht unter anderem aus einer zwei Tage nach der Schlacht in den Rechnungsbüchern festgehaltenen Notiz hervor: »4 gl. Bothenlohn nach Weißenfels, alß bey dem Ambtt daselbsten begehrt werden, Ein 200 Mann anhero zuschicken, welche die Todten Cörper vf der Wahlstadt begraben helffen sollen.«71 Drei Dinge werden hierbei deutlich: 1) die Toten der Schlacht wurden von zivilen Arbeitern der kursächsischen Ämter beigesetzt; 2) das Amt Lützen allein konnte hierfür anscheinend nicht genügend Arbeitskräfte aufbringen und musste sich Hilfe beim benachbarten Amt Weißenfels erbitten; 3) die Toten wurden auf dem Schlachtfeld beigesetzt. Der letzte Punkt wurde nicht zuletzt nochmals durch den Fund des Massengrabes bewiesen. 67 68 69 70 71
Vgl. Eickhoff/Grothe/Jungklaus (2012), S. 166 f. Mahr (1996), S. 140 f. Gramont (1826), S. 357. Zit. n. Droysen (1869), S. 369. Zit. n. Stahl (2015), S. 389.
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Fazit Die Ergebnisse dieses Beitrags lassen sich kurz und bündig in vier Punkten zusammenfassen: 1) Obwohl nicht mit der heutigen (Militär-)Medizin zu vergleichen, war der medizinische Kenntnisstand zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges doch hochentwickelt und viele Feldärzte in der Lage, komplizierte Eingriffe erfolgreich durchzuführen, was nicht zuletzt durch die hohe Zahl verheilter Verletzungen bei Leichenfunden dieser Zeit belegt wird. Schwierigkeiten entstanden dagegen nach Schlachten, wenn die geringe medizinische Personaldecke mit der hohen Anzahl innerhalb kürzester Zeit zu behandelnder Patienten überfordert war – ein Problem, vor dem allerdings auch die Massenarmeen der Weltkriegszeit nicht gefeit waren. 2) Aufgrund des Mangels an medizinischem Fachpersonal spielten die Frauen des Trosses, aber auch zivile Ärzte – insbesondere für Offiziere, aber auch für einfache Soldaten – eine große Rolle im Fall von Verwundung oder Krankheit. 3) In der Beisetzungskultur gab es eine klare, dreischichtige Hierarchie. Hochrangige Militärs und Hochadlige – meist, aber nicht zwangsläufig dasselbe – wurden über teils große Strecken in heimatliche oder zumindest prestigeträchtige Grabstätten überführt. Niedere Offizierschargen bzw. niedere Adlige erhielten eine Einzelbestattung in den Pfarrkirchen der Umgebung. Einfache Soldaten wurden in Massengräbern abgelegt, wobei auf christliche Beerdigungspraktiken keine Rücksicht genommen wurde. 4) Schrieb ein – wie auch immer überlieferter – militärischer Ehrenkodex vor, dass der Sieger sich um die Beisetzung der Toten zu kümmern hatte, so waren die Heere der Zeit aus militärischen Gründen oder mitunter auch aufgrund der von den Leichen ausgehenden Seuchengefahr gezwungen, die Schlachtfelder schnell zu verlassen, so dass die ortsansässige Bevölkerung und Verwaltung die Beerdigung übernehmen musste. Gerade die frühneuzeitliche Militärmedizin stellt in diesem Zusammenhang weiter ein Desiderat der Forschung dar. Der vorliegende Beitrag versuchte durch Darlegung des theoretischen Kenntnisstandes, anekdotischer Einzelberichte sowie der wenigen vorhandenen statistischen Werte, die uns u. a. die noch junge Schlachtfeldarchäologie liefert, ein positiveres Bild der Militärärzte jener Zeit zu zeichnen. Dieses Bild kann jedoch nur an Schärfe gewinnen, indem zeitgenössische Musterlisten ausgewertet und die Biographien der in Dienst genommenen Mediziner genauer rekonstruiert werden. Dies ist eine zeitaufwendige, aber durchaus lohnenswerte Methode.
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 145–179, FRANZ STEINER VERLAG
Vier Ermittlungen und ein Verdienstkreuz. Der Hygieniker Hermann Eyer, der nationalsozialistische Fleckfieberkomplex und die Grenzen der Aufarbeitung Mathias Schütz Summary Four investigations and one Order of Merit. The hygienist Hermann Eyer, the national-socialist typhus complex and the limitations of reprocessing During World War II, the hygienist Hermann Eyer directed, from Krakow, the vaccine production of the army’s High Command. One main focus of his work and scientific interest was the fight against typhus. After World War II, as a professor in Bonn and Munich, Eyer was associated, due to this activity, with various national-socialist acts of violence and involved in four criminal investigations. They included occupation crimes, murderous human experiments in the concentration camps and the isolation and ghettoization of Polish Jews. Even if Eyer was ultimately not charged in any of these proceedings, it is possible to trace a differentiated picture of his activity on the basis of the investigations. This explains the diametrical judgement of Hermann Eyer by both his contemporaries and historiography. Eyer’s case is a good example of how deeply even such functionaries, who could not be convicted of criminal behaviour, were involved in the ideological legitimization and practical implementation of Nazi rule in Europe.
Einführung Er war ein Verbrecher, der mörderische Humanexperimente zu verantworten hat. Er war ein Held, der zahllosen Menschen das Leben rettete. Ungefähr in dieser Polarität bewegt sich die historische Bewertung des Hygienikers Hermann Eyer (1906–1997) und seiner Tätigkeit als Leiter des »Instituts für Fleckfieber- und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres« im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete während des Zweiten Weltkriegs. Die erste Bewertung resultiert aus der Assoziierung Eyers mit den tödlichen Fleckfieberexperimenten der Waffen-SS im Konzentrationslager (KZ) Buchenwald, die insbesondere auf Ernst Klee (1942–2013) zurückgeht.1 Sie ist von nachfolgenden Historikerinnen und Historikern zum Teil übernommen worden, zudem wurde Eyers – ebenfalls schon von Klee thematisierte – Befürwortung einer Segregation der jüdischen Bevölkerung Polens
1
Klee (1997), S. 343–345; Klee (2001), S. 320 f.; Klee (2005), S. 142.
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aus Seuchenschutzgründen hervorgehoben.2 Das Gegenstück hierzu bildet ein Buch des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Arthur Allen, in welchem Eyer sein lebensrettender Einsatz insbesondere für polnische Wissenschaftler und deren Angehörige zugutegehalten wird.3 Inmitten dieser Polarisierung sind die Arbeiten Paul Weindlings zu verorten: Dieser hat die Tätigkeit Eyers zwar kritisch bewertet, ihr im Gesamtkomplex der mörderischen Fleckfieberbekämpfung und -forschung des Nationalsozialismus aber vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet.4 Nicht zuletzt wird diese unterschiedliche Einschätzung daran deutlich, dass Weindling als Kritiker von Ernst Klees Arbeits- und Darstellungsweise gerade an dessen Behandlung des Themas Fleckfieber Anstoß genommen hat.5 Hermann Eyer wurde 1906 in Mannheim geboren, studierte in Heidelberg Chemie und Medizin und wurde in beiden Fächern promoviert, bevor er 1933 nach Erlangen wechselte und sich dort 1936 für Hygiene und Bakteriologie habilitierte. Von 1933 bis zu seinem Eintritt in den aktiven Militärdienst infolge seiner Habilitation gehörte er der SA, seit 1935 zudem der NSDAP an. 1937 ging er an die Militärärztliche Akademie nach Berlin, die ihn zur Ausbildung an das Robert Koch-Institut abkommandierte. Nach dem deutschen Überfall auf Polen baute er in Krakau die Impfstoffproduktion für die Wehrmacht auf, wobei der Fokus auf einem Fleckfieberimpfstoff aus Läusedärmen lag. Das von Eyer geleitete Institut expandierte im Laufe des Krieges, baute weitere Produktionsstätten in Lemberg, Rabka und Tschenstochau auf und wurde 1944 nach Roth bei Nürnberg verlegt, wo es nach der Befreiung liquidiert wurde. Eyer, der durch seine Ernennung zum außerplanmäßigen Professor am Berliner Hygiene-Institut 1943 auch seine akademische Karriere weiter gefestigt hatte, wurde 1946 nach Bonn berufen. 1957 zog er weiter nach München, wo er das einst für Max von Pettenkofer (1818–1901) eingerichtete und im Krieg zerstörte Hygienische Institut neu aufbaute und bis zu seiner Emeritierung 1974 leitete. Eyers intensive Beschäftigung mit dem Fleckfieber und seiner Bekämpfung war die Basis seines wissenschaftlichen Status während des Krieges wie in der Nachkriegszeit. Er war Experte für die höchst komplexe Produktion eines von dem polnischen Biologen Rudolf Weigl (1883–1957) entwickelten Impfstoffs, für den das Wirtstier des Fleckfiebers, die Kleiderlaus, künstlich infiziert wurde, um ihren rickettsienhaltigen Darm entnehmen und zu Impfstoff verarbeiten zu können – ein Verfahren, das aufgrund seiner Abhängigkeit von menschlichen »Läusefütterern« und immunen »Infektoren«, welche die blutsaugenden Läuse mit Nahrung versorgen 2 3 4
5
Werther (2001), S. 156 f.; Werther (2004), S. 50–53; Neumann (2005), S. 228–231; Neumann (2006), S. 48; Forsbach (2006), S. 119; Neumann (2009), S. 177; Hofer (2018), S. 84 f.; Richter (2018), S. 574–576. Allen (2014), S. 173 und S. 273. Weindling (2000), S. 334–336 und S. 350–354. In zwei vorhergehenden Arbeiten Weindlings zum Thema fand Eyer gar keine Erwähnung; vgl. Weindling (1994); Weindling (1997). Vgl. auch die Problematisierung der tatsächlichen Wirkung von Eyers Beitrag zur Fleckfieberbekämpfung bei Leven (1990). Vgl. – mit explizitem Verweis auf Eyer – Weindling (1998), S. 170.
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und infizieren mussten, ohnehin einen problematischen Eindruck vermittelt. Eyer entwickelte die Produktion stetig weiter und hob sie in Krakau auf ein nahezu industrielles Niveau. Als Verantwortlicher für die militärische Impfstoffproduktion war Eyer Teil eines weitgespannten Netzwerks der Fleckfieberforschung, welches sich nicht zuletzt der Suche nach alternativen, einfacher herzustellenden Impfstoffen auf der Basis von Mäuse- und Kaninchenlungen sowie angebrüteten Hühnereiern widmete; das Netzwerk umspannte neben genuinen Forschungseinrichtungen wie dem Robert Koch-Institut in Berlin, dem Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt am Main sowie einer Dependance des Hamburger Tropeninstituts in Warschau auch die zu den I. G. Farben gehörenden Behring-Werke in Marburg; hinzu trat ab 1942 das Hygiene-Institut der Waffen-SS, welches im KZ Buchenwald ein eigenes Institut für Fleckfieberund Virusforschung aufbaute. Insbesondere aufgrund der tödlichen Humanexperimente mit Impfstoffen und Chemotherapeutika, die von der SS in Buchenwald – sowie dem Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts und Straßburger Professor Eugen Haagen (1898–1972) in den KZ Schirmeck und NatzweilerStruthof – durchgeführt wurden, ist auch Eyers Tätigkeit ins Zwielicht geraten und hat zu den eingangs beschriebenen, diametralen Bewertungen geführt.6 Hier spiegeln sich allerdings Positionen wider, die schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufeinanderprallten: In vier Ermittlungsverfahren, in die Eyer zwischen 1946 und 1972 als Beschuldigter oder Zeuge involviert war, wurde seiner Rolle im Rahmen der Besatzungsherrschaft in Polen, bei der Fleckfieberforschung am Menschen und der Gesundheitspolitik im Generalgouvernement nachgegangen. Auch wenn Eyer in keinem dieser Verfahren belangt wurde, offenbaren sie doch einen Einblick in seine Tätigkeit, seine Selbstrechtfertigung und die daraus resultierenden Inkonsistenzen und Widersprüche, die sich in den entsprechenden historiographischen Beurteilungen reflektieren. Anhand der vier Verfahren wird die Problematik einer angemessenen Bewertung Hermann Eyers im Folgenden rekonstruiert. Bonn, 1946 Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der seit 1926 auf dem Bonner Hygiene-Lehrstuhl tätige Hugo Selter (1878–1952) emeritiert wurde, verpflichtete die rheinische Unterrichtsverwaltung Hermann Eyer vorerst als Gastprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, um ihn Ende September 1946 zum ordentlichen Professor zu ernennen.7 Eyer verdankte seine Berufung wohl nicht zuletzt dem Einsatz des Bonner Internisten Paul Martini
6 7
Zur historischen Forschung über den nationalsozialistischen Fleckfieberkomplex und Eyers Tätigkeit vgl. die in Anm. 1–4 genannten Arbeiten. UAB, PA 1856, Oberpräsident der Nord-Rheinprovinzen an Hermann Eyer, 3.7.1946; Oberpräsident der Nord-Rheinprovinzen, Ernennungsurkunde, 23.9.1946.
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(1889–1964).8 Martini hatte den Nationalsozialismus politisch und wissenschaftlich unbelastet überstanden und wurde dadurch in der Nachkriegszeit zu einer gewichtigen wissenschaftspolitischen Stimme an der Bonner Fakultät wie darüber hinaus.9 Mehr noch als für diese Berufungsentscheidung sollte sich die Fürsprache Martinis im Verlauf des kommenden Jahres als essentiell erweisen. Denn schon im November 1946 musste die Medizinische Fakultät den Dermatologen Arthur Leinbrock (1908–1991) mit der Abhaltung der Hygiene-Vorlesungen beauftragen: »Durch ein unglückliches Geschick ist Herr Prof. Eyer verhindert […]. Es läßt sich heute noch nicht übersehen, wielange diese Verhinderung andauern wird.«10 Gemeint war damit die Verhaftung Eyers durch die Besatzungsbehörden. In einem zeitgleichen Schreiben an die britische Militärregierung teilte Dekan Erich von Redwitz (1883–1964) mit, die gesamte Fakultät habe Eyer kennengelernt »as a modest, kind, and energetic man who seemed to be unable to commit war crimes or crimes against humanity«; was genau damit gemeint war, wurde vorerst nicht konkretisiert. Dafür verwies der Dekan auf eine Stellungnahme Martinis, weil dieser Eyer schon seit längerem kenne.11 Martini schickte ein mehrseitiges Schreiben an die Militärregierung, in dem er sich insbesondere auf seine langjährige Bekanntschaft mit Eyers Schwiegervater berief, der als Hochschulreferent und Ministerialdirektor im Bayerischen Kultusministerium gearbeitet habe und angeblich 1933 aus politischen Gründen entlassen worden sei.12 Er übermittelte und bekräftigte die Auffassung des Schwiegervaters, Eyer habe dem Nationalsozialismus stets ablehnend gegenübergestanden und während seiner Tätigkeit im besetzten Polen versucht, »die schon damals rücksichtslosen und grausamen Methoden der Deutschen Regierung in Polen zu lindern […]«.13 Zudem ging er auf die konkreten Vorwürfe ein, Eyer habe polnische Mitarbeiter schlecht behandelt und polnische wissenschaftliche Einrichtungen ausgeplündert, was Martini für ausgeschlossen hielt. Dies folgerte er einerseits aus der Verehrung, die Eyer stets für den Erfinder des von ihm hergestellten Fleckfieberimpfstoffes, Rudolf Weigl – der ab 1941 auch die Außenstelle von Eyers Institut in Lemberg leitete –, empfunden habe, andererseits aus seiner nicht zuletzt durch eine gemeinsame Veröffentlichung belegten Zusammenarbeit mit dem polnischen Bakteriologen Zdzisław Przybyłkiewicz (1908–1996).14 Die Herausstellung von Eyers Kooperation mit Przybyłkiewicz bezweckte hier möglicherweise schon 8 9 10 11 12
So Forsbach (2006), S. 666. Forsbach/Hofer (2017). UAB, PA 1856, Erich von Redwitz an Arthur Leinbrock, 11.11.1946. UAB, MF-PA 60, Erich von Redwitz an Military Government, 11.11.1946. UAB, MF-PA 60, Paul Martini an Militärregierung, 9.11.1946. Gemeint ist hier offenbar Albin Decker, der dem Nationalsozialismus zwar tatsächlich fernstand, aber dennoch im Bayerischen Kultusministerium weiterarbeitete, bis er sich 1941 in den Ruhestand versetzen ließ. Müller (1997), S. 986 und S. 1006 f. 13 UAB, MF-PA 60, Paul Martini an Militärregierung, 9.11.1946, S. 1. 14 UAB, MF-PA 60, Paul Martini an Militärregierung, 9.11.1946, S. 2 f. Vgl. Hofer (2018), S. 85.
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mehr als die bloße Betonung des angeblich positiven Verhältnisses des Verhafteten zu seinen polnischen Untergebenen. Denn es war eben Przybyłkiewicz, auf dessen Aussagen hin die Verhaftung Eyers vorgenommen worden war. Przybyłkiewicz hatte zuerst am 7. September 1946 in Deutschland seine Anschuldigungen gegen Eyer erhoben, 1947 wiederholte er sie vor einem Appellationsgericht in Krakau.15 Dabei ging es um nicht wenige und nicht geringfügige Taten: Plünderung und Zerstörung von Apparaturen der Universitäten Krakau und Lemberg, Plünderung von Gegenständen aus den Häusern Krakauer Juden, Plünderung und Zerstörung der Privatbibliothek eines im Ausland lebenden Krakauer Professors, Denunziation des Krakauer Bakteriologen Marian Gieszczykiewicz (1889–1942) an die Gestapo, was dessen Ermordung in Auschwitz zur Folge hatte, schlechte Behandlung und harte Bestrafung polnischer Untergebener für die geringsten Verfehlungen – inklusive einer weiteren auf Eyers Handeln zurückgehenden Internierung in Auschwitz –, Verbrennen von Büchern polnischer Universitätsinstitute, Verbringung der geplünderten polnischen Apparaturen und Bücher nach Deutschland und Weigerung, diese herauszugeben; Przybyłkiewicz selbst habe die Geräte und Bücher – nicht zuletzt aus dem Privatbesitz des ermordeten Gieszczykiewicz – in der Ausweichstelle des Krakauer Instituts in Roth gefunden: »Witness added that he thought it highly desirable that action should be taken in the British Zone against accused, as it was probable that accused was hiding in Bonn some of the loot which he had taken from Poland.«16 Eyers Fall war einer von ungefähr 7.000 Ermittlungen polnischer Behörden gegen deutsche Verdächtige in Zusammenarbeit mit der United Nations War Crimes Commission; eine schlechte finanzielle und personelle Ausstattung dieser Anstrengungen sowie die schiere Dimension der Besatzungsverbrechen trugen gleichermaßen zu einer verhältnismäßig geringen Erfolgsquote bei: Zwischen 1946 und 1950 wurden 1.817 Personen an Polen ausgeliefert.17 Eyer gehörte letztlich nicht zu dieser Gruppe, auch wenn die Möglichkeit zwischenzeitlich als sehr groß eingeschätzt wurde.18 Als Hauptgrund für die nicht erfolgte Auslieferung ist anzunehmen, dass der schwerwiegendste der Anschuldigungspunkte, die Przybyłkiewicz vorgebracht hatte, nämlich Eyers Verantwortung für die Verhaftung verschiedener Mitarbeiter und ihrer Verbringung nach Auschwitz sowie die daraus resultierende Ermordung von Marian Gieszczykiewicz, nicht weiter verfolgt wurde. Gieszczykiewicz, ein Professor der Bakteriologie, auf dessen Klassifizierung der Fleckfiebererreger sich Eyer verschiedentlich bezog19, war offenbar für seine 15 BArch, B 162/72118, United Nations War Crimes Commission, Polish Charges against German War Criminals, o. D. [Date of receipt in Secretariat: 31.1.1947], Bl. 4; B 162/ 73244, United Nations War Crimes Commission, Polish Charges against German War Criminals, o. D. [Date of receipt in Secretariat: 20.11.1947], Bl. 4. 16 BArch, B 162/72118, United Nations War Crimes Commission, Polish Charges against German War Criminals, o. D. [Date of receipt in Secretariat: 31.1.1947], Bl. 4. 17 Borodziej (2006), S. 412; Musial (1999), S. 355 f. 18 UAB, MF-PA 60, Alphons Kugelmeier an Erich von Redwitz, 23.4.1947. 19 Eyer/Ruska (1943/44), S. 491; Eyer: Allgemeines (1952), S. 638.
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Beteiligung am Aufbau der Krakauer Untergrunduniversität sowie die Sabotage des für die Wehrmacht bestimmten Fleckfieberimpfstoffes an Eyers Institut, an dem er tätig war, am 12. Dezember 1941 vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS verhaftet worden. Er wurde ins KZ Auschwitz verbracht, wo ehemalige Studenten versuchten, ihn in der Krankenstation unterzubringen; der Rettungsversuch scheiterte und Gieszczykiewicz wurde am 31. Juli 1942 erschossen.20 Die Ermordung von Gieszczykiewicz wie auch die anderen von Przybyłkiewicz vorgebrachten Punkte haben Eingang in die Geschichtsschreibung der Krakauer »Uniwersytet Jagielloński« und ihrer Untergrundaktivitäten im Zweiten Weltkrieg gefunden, wo vom Widerstand polnischer Wissenschaftler und ihrer Sabotage der Impfstoffproduktion berichtet wird – jedoch ausschließlich auf Grundlage der Berichte des involvierten Zeitzeugen Przybyłkiewicz, der auch behauptet, die Sabotage an Eyers Institut nach der Verhaftung und Ermordung von Gieszczykiewicz bis zuletzt fortgesetzt zu haben.21 Von einer Schuld oder Mitverantwortung Eyers an dessen Tod war hier hingegen nicht länger die Rede, wie sie auch in den Ermittlungen keine Rolle gespielt zu haben scheint.22 Dass die britischen Behörden gerade der bedeutendsten aller Anschuldigungen keine weitere Aufmerksamkeit schenkten, wirft ein ungünstiges Licht auf die Zeugenschaft von Przybyłkiewicz, dessen Glaubwürdigkeit zudem wegen späterer Anschuldigungen gegen Rudolf Weigl in Frage gestellt worden ist.23 Schon 1946 war das Hauptargument der Verteidiger Eyers, die vor allem aus seinen ehemaligen Krakauer Mitarbeitern bestanden, dass Przybyłkiewicz aus eigennützigen Motiven Unwahrheiten verbreitet habe. Dabei wurde nicht zuletzt auf die schon von Martini vorgebrachte Tatsache verwiesen, dass Przybyłkiewicz nicht nur an Eyers Institut gearbeitet, sondern sogar mit ihm gemeinsam publiziert habe. Przybyłkiewicz war am 6. November 1939 gemeinsam mit 182 weiteren Wissenschaftlern im Rahmen der »Sonderaktion Krakau« von der SS verhaftet worden; er gehörte zu den wenigen, die drei Tage später wieder freikamen, während die meisten seiner Kollegen in Konzentrationslager deportiert wurden. Diese Sonderstellung ist offenbar auf sein Wissen über die Herstellung des Weiglschen Fleckfieberimpfstoffs zurückzuführen.24 Przybyłkiewicz begann an Eyers Institut zu arbeiten, und bereits 1940 erschien der Aufsatz »Das Fleckfieber bei Schutzgeimpften«, den die beiden gemeinsam mit einem weiteren Mitarbeiter, Hermann Dillenberg, veröffentlichten und in dem sie über ihre eigenen Erfahrungen mit dem Verlauf 20 Dębski (2016), S. 76. Herzlichen Dank an Beata Lakeberg (Institut für Zeitgeschichte, München) für die Übersetzung aus dem Polnischen. Vgl. auch Bacon (2017), S. 51. 21 Lessner (1990), S. 158 f., bezugnehmend auf Gawęda (1981), S. 62. 22 Während dieses Ereignis bei Arthur Allen keine Erwähnung findet, berichtet er jedoch von einem Vorfall, bei dem Eyer der Familie des berühmten polnischen Bakteriologen Odo Bujwid (1857–1942) wegen illegaler Impfstoffproduktion den Kontakt mit Przybyłkiewicz verboten und mit ihrer Verhaftung gedroht habe; der Enkel sei tatsächlich nach Auschwitz verbracht, aber später wieder freigelassen worden. Allen (2014), S. 166. 23 Allen (2014), S. 276 f. 24 August (1997), S. 41; Pierzchała (1998), S. 174.
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der – im Rahmen der Impfstoffproduktion nahezu unausweichlichen – Infektion nach erfolgter Impfung mit dem Weiglschen Präparat berichteten.25 Dass Przybyłkiewicz 1939 von den Deutschen wieder entlassen worden war und daraufhin an einem Wehrmachtsinstitut gearbeitet hatte, muss in der angespannten polnischen Nachkriegsatmosphäre kritisch betrachtet worden sein; wie er noch 1989 an Eyer schrieb, war Przybyłkiewicz »personally involved, although not fully voluntarily, in events which happened in the Institut für Fleckfieberund Virusforschung, organized by you […]«.26 Hier brachte er fast nebensächlich zum Ausdruck, dass seine Mitarbeit an Eyers Institut, selbst wenn diese auf einer kollegialen Grundlage gestanden haben sollte, allein auf den Umstand der deutschen Besatzungsherrschaft zurückzuführen war, die Przybyłkiewicz mit einer einzigen Alternative konfrontierte: nämlich dem Schicksal so vieler seiner Kollegen, der Internierung im KZ. Dass in Nachkriegspolen nicht nur deutsche Kriegsverbrecher und »volksdeutsche Verräter«, sondern auch polnische Kollaborateure angeklagt und verurteilt wurden27, mag zu seiner Entscheidung beigetragen haben, sich gegen Eyer zu wenden. Dies muss aber nicht der alleinige Grund für die Anschuldigungen gewesen sein. In jedem Fall zielte die sogleich von Martini mobilisierte Entlastung Eyers durch seine ehemaligen Mitarbeiter genau auf diesen Eindruck ab. An erster Stelle standen hier Heinrich Mückter (1914–1987), Leiter der Zweigstelle Krakau, Eyers Stellvertreter Josef Daniels (1910–1983) sowie der wissenschaftliche Mitarbeiter Ralf Bickhardt.28 Alle wiesen die Anschuldigungen gegen Eyer ausnahmslos zurück und behaupteten nicht nur dessen gute Behandlung seiner polnischen Untergebenen, sondern eine geradezu aufopferungsvolle Haltung, die zahlreiche Menschen vor der Verhaftung und dem sicheren Tod bewahrt habe. Mückter und Bickhardt gingen zudem explizit auf Przybyłkiewicz ein, der eine »Sonderstellung« am Institut eingenommen habe, von Eyer 1939 aus der Haft gerettet und ans Institut geholt worden sei, dort sein enger Berater und Mitarbeiter wurde, zahlreiche Privilegien genossen habe und trotzdem illoyal geworden sei, sobald sich die deutsche Niederlage abzeichnete.29 Diesem Bild eines unrechtmäßig beschuldigten Eyer und eines eigennützig motivierten und undankbaren Przybyłkiewicz fügten drei ehemalige technische Assistentinnen die Bausteine hinzu, Eyer habe seine angeblich okkupierte und 25 Eyer/Przybylkiewicz/Dillenberg (1940). 26 Zdzisław Przybyłkiewicz an Hermann Eyer, 7.11.1989. Herzlichen Dank an Peter Eyer (München) für die freundliche Bereitstellung des Briefs. 27 Zur schwierigen Differenzierung zwischen Alltagskooperation und Kollaboration vgl. Borodziej (2006), S. 404. 28 BArch, RH 15/197, Stellenbesetzungen für Offiziere und Beamte im Offiziers-Rang, Institut für Fleckfieber- und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres, Roth bei Nürnberg, 1.2.1945. Mückter erlangte in der Nachkriegszeit als Entwickler des Schlafmittels Contergan traurige Berühmtheit, Daniels fungierte von 1964 bis 1969 als Präsident des Bundesgesundheitsamts. Über Bickhardt ist nichts Näheres bekannt. Vgl. Hofer (2018), S. 85; Richter (2018), S. 576. 29 UAB, MF-PA 60, Heinrich Mückter an Erich von Redwitz, 19.11.1946, S. 4; Josef Daniels, Schreiben vom 19.11.1946; Ralf Bickhardt an Erich von Redwitz, 2.12.1946, Bl. 2.
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von ihm geplünderte Wohnung überhaupt nur durch Przybyłkiewicz erhalten, und letztlich habe nicht Eyer gestohlen, sondern Przybyłkiewicz bei seiner Sichtung des nach Roth ausgelagerten Instituts unzählige Sonderdrucke und Manuskripte Eyers entwendet.30 Während eine Bewertung der tatsächlichen Vorgänge angesichts der Quellenlage nicht möglich ist, offenbaren sich hier doch zwei diametrale Narrative. Einerseits wurde Eyer assoziiert mit dem Überfall und der Besetzung Polens, der rassistischen Volkstumspolitik, der Vernichtung der polnischen Oberschicht, der Ausbeutung der polnischen Bevölkerung, ihrer Misshandlung und Ermordung, also der grundsätzlich verbrecherischen Politik der Deutschen gegenüber den Polen, andererseits mit der Bewahrung zahlreicher von dieser verbrecherischen Politik bedrohten Personen durch ihre Anstellung als für die Impfstoffproduktion unabkömmlicher »Läusefütterer«31 in den von Eyer geleiteten Instituten in Krakau und Lemberg – wobei diese Schutzfunktion von Rudolf Weigl noch weitaus bewusster und ausdrücklicher ausgeübt wurde32 –, was ihnen eine gewisse Immunität zwar nicht gegen eine Erkrankung an Fleckfieber, aber durchaus gegen eine willkürliche Verhaftung einbrachte33. Unter diesem prekären Schutzschirm überlebten mehrere Hundert Menschen die deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik im Generalgouvernement.34 Die beiden Narrative waren kaum zu vereinbaren, erst recht nicht in der un30 UAB, MF-PA 60, Ortrud Kristen, Bericht über die Persönlichkeit des Herrn Professors Dr. Dr. Eyer, 19.11.1946, S. 1; Eva Dora Schröder, Schreiben vom 30.11.1946; Annemarie Rohrmann an Gertrud Eyer, 30.11.1946. Eyer listete bei seiner Bewerbung für den Münchner Lehrstuhl insgesamt 18 Aufsätze auf, die »während des Krieges zur Veröffentlichung aus kriegsbedingten Gründen nicht freigegeben worden [waren], nach dem Krieg wurden sie auf alliierte Anordnung beschlagnahmt u. anschliessend samt allen Unterlagen gestohlen«. BayHStA, MK 69384, Hermann Eyer, Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten, o. D. [1953], S. 6. 31 Eine zeitgenössische Darstellung der Züchtung von Läusen durch Fütterung mit menschlichem Blut für die Produktion des Impfstoffs existiert aus China, wo der belgische Missionar Josef Rutten (1874–1950) mit Weigls Unterstützung eine Produktionsstätte errichtet hatte: »Zwecks Ernährung der Läuse kommen eine Anzahl Chinesen, die vom Typhus geheilt und folglich immun sind, zweimal am Tage hin, um dem Ungeziefer als Weide zu dienen. Eine halbe Stunde lang saugen die Läuse so viel Blut, wie sie brauchen. Jeder Mann füttert an seinen Beinen zweihundert Stück, verteilt in kleinen Schachteln mit einem Gazenetz an der Seite, mit der sie an der Haut anliegen. In diesen [sic!] Schachteln, auf einem Stoffbezug, werden die Eier gelegt, die man sammelt, um eine gleichaltrige Brut zu erhalten. ›Diese Läusefütterer‹, so schreibt der Pater Rutten, ›sind oft Bettler in Lumpen; sie sind angenehm überrascht, daß sie jetzt auch noch Geld bekommen für die Ernährung von Parasiten, die sie früher Tag und Nacht unentgeltlich beherbergt hatten.‹« Maillart (1938), S. 22. 32 Allen (2014), S. 147–153 und S. 170 f. 33 UAB, MF-PA 60, Nadya Lytwynenko, Erklärung, 21.11.1946. Vgl. auch Henryk Meisel an Hermann Eyer, 17.9.1956; herzlichen Dank an Peter Eyer (München) für die freundliche Bereitstellung des Briefs. Vgl. Weindling (2000), S. 350–352. 34 Die Angaben zur Anzahl der polnischen »Läusefütterer« reichen von 500 bis 2.000, wobei nicht klar ist, ob sie sich nur auf das Krakauer oder auch auf das Lemberger Institut beziehen. UAB, MF-PA 60, Heinrich Mückter an Erich von Redwitz, 19.11.1946, S. 1; BArch, R 9361-II/220137, Hermann Eyer an Paul Rostock, 27.12.1943, fol. 2158; NLM,
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mittelbaren Nachkriegszeit, die durch ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Selbstentlastung geprägt war. Aus polnischer Perspektive war Eyer Teil der mörderischen Besatzung gewesen, weswegen auch seine Forschungsergebnisse auf Unrecht aufbauten; aus der Perspektive Eyers und seiner Verteidiger basierte die Anschuldigung gegen ihn auf »unverantwortlicher Denunziation«35 und der schlichten Undankbarkeit von Zdzisław Przybyłkiewicz, der von Eyers verhältnismäßig menschlicher Leitung des Fleckfieberinstituts profitiert hatte. Aufgrund der zahlreichen Entlastungsschreiben, die in diesem Sinne verfasst wurden, konnte Eyer Ende 1947 unbescholten auf seinen Lehrstuhl zurückkehren. Was in den britischen Ermittlungen erstaunlicherweise keine Rolle gespielt hatte, war Eyers eigentliche Tätigkeit im besetzten Polen. Seine Position als Leiter des »Instituts für Fleckfieber- und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres«, das an den Hauptstandorten Krakau und Lemberg die Produktion von Fleckfieberimpfstoff für die Wehrmacht vorgenommen hatte, wurde hingegen in den zeitgleich von US-amerikanischen Militärgerichten durchgeführten Nürnberger Nachfolgeprozessen immer wieder thematisiert.36 Insbesondere im ersten dieser Verfahren, dem Ärzteprozess »gegen Karl Brandt et al.«, war eine mögliche Beteiligung von Eyers Institut an den Humanexperimenten im KZ Buchenwald überprüft worden. Tatsächlich gab Eyer im Zuge seiner britischen Internierung im »Camp Recklinghausen« Anfang 1947 eine eidesstattliche Erklärung ab, in der er zwar einen Besuch in Buchenwald Anfang 1943 eingestand, aber nicht nur eine Verbindung zu den KZ-Experimenten abstritt, sondern auch jedwedes Wissen darüber.37 Für die Fleckfieberexperimente im KZ Buchenwald wurden der ehemalige Leiter des Hygiene-Instituts der Waffen-SS, Joachim Mrugowsky (1905–1948), sowie der SS-Arzt Waldemar Hoven (1903–1948), der die Experimente in Buchenwald als stellvertretender Leiter der im Häftlingsblock 46 installierten Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung mit durchgeführt hatte, zum Tode verurteilt und hingerichtet; der für die Experimente hauptverantwortliche Erwin Ding (1912–1945), in dessen Tagebuch auch der Besuch Eyers in Buchenwald protokolliert wurde38, hatte nach Kriegsende in amerikanischer Haft Selbstmord
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Combined Intelligence Objectives Sub-Committee Item 24: Tropical Medicine and other Medical Subjects in Germany, o. D. [1945], S. 15; Eyer: Rudolf Weigl (1967), S. 2188. UAB, PA 1856, Hermann Eyer an Kuratorium der Universität Bonn, 30.1.1948. In Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes Dokumentation des Ärzteprozesses wird lediglich ein »Otto Eyer« genannt, was auf ein fehlendes Komma zwischen dem Leiter des Frankfurter Instituts für experimentelle Therapie, Richard Otto (1872–1952), und Hermann Eyer in einer Aufzählung der führenden Fleckfieberforscher zurückzuführen ist. Mitscherlich/Mielke (2009), S. 123. HLSL, Dok. 636, Nuremberg Military Tribunal 1: Medical Trial. Hermann Eyer, Affidavit concerning the typhus vaccine program, 26.2.1947. HLSL, Transcript for NMT 1, Nuremberg Military Tribunal 1: Medical Case. Trial Transcript, 5.12.1946–20.8.1947, S. 1147. Vgl. Klee (1997), S. 329. Die Authentizität des DingTagebuchs in der überlieferten Fassung ist umstritten, der Wahrheitsgehalt der Eintragungen – nicht zuletzt der Besuch von Eyer in Buchenwald – hat sich hingegen durchweg bestätigt.
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begangen. Eyer hingegen kehrte unbescholten nach Bonn zurück und konzentrierte sich vorerst darauf, das dortige Hygiene-Institut wiederaufzubauen. 1952 empfahl sich Eyer in München, wo sein Schwiegervater einst im Kultusministerium für das Hochschulwesen zuständig gewesen war, mit einer Würdigung des Fach- und Lehrstuhlbegründers Max von Pettenkofer zu dessen 50. Todestag – was den ortsspezifischen Vorlieben wohl mehr entsprochen haben wird als seiner eigenen wissenschaftlichen Schwerpunktsetzung.39 Nachdem andere Kandidaten angesichts des zu bewältigenden Neubaus des zerstörten Hygiene-Instituts abgelehnt hatten, wurde Eyer berufen; und während er sich von der Bonner Universität durch Gewährung eines langen Forderungskatalogs davon hatte abhalten lassen, einem Ruf an die Spitze des Bundesgesundheitsamts zu folgen, nahm er das fast zeitgleich ausgesprochene Angebot aus München an und wechselte zum Wintersemester 1957 dorthin.40 In den Abwägungen der Münchner Medizinischen Fakultät, die Eyer auf den dritten Platz ihrer Berufungsliste gesetzt hatte, wurde dessen Tätigkeit während des Kriegs zu seinen Gunsten ausgelegt; Eyer stellte seine ausgiebige Beschäftigung mit dem Fleckfieber und dessen Bekämpfung während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls heraus und verschwieg auch seine britische Internierung »infolge böswilliger Denunziation«41 nicht. Eine Problematisierung fand hier genauso wenig statt wie im Zuge seiner ebenfalls 1957 erfolgten Wahl in die Wissenschaftsakademie der Leopoldina, auch wenn Eyer hierfür eine ausführliche Charakterisierung seiner Tätigkeit im besetzten Polen als lebensrettende Heldentat formulierte.42 Limburg, 1960 Während Eyers Tätigkeit in der Zeit des Zweiten Weltkriegs kein Hindernis für seine Wahl in die Leopoldina darstellte, fanden Mitte der 1960er Jahre einige Briefe polnischer Wissenschaftler ihren Weg in die Akademie. Eyer hatte sie selbst angefordert; er wurde darin erneut gegen nicht weiter spezifizierte Vorwürfe in Schutz genommen und für sein ausgesprochen gutes Verhältnis zu 39 Am Münchner Hygiene-Institut war seit den Auseinandersetzungen zwischen Pettenkofer und Robert Koch (1843–1910) eine skeptische Haltung zur Bakteriologie aufrechterhalten worden, während sich Eyer gerade als Mikrobiologe einen Namen gemacht hatte. Vgl. Schütz (2019). 40 UAB, PA 1856, Hermann Eyer an Universität Bonn, 31.3.1955; Hermann Eyer an Universität Bonn, 7.11.1955; BayHStA, MK 69384, Hermann Eyer an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.4.1957. 41 BayHStA, MK 69384, August Wilhelm Forst an Rektorat der Universität München, 9.3.1954; Hermann Eyer, Lebenslauf, 3.6.1953. An anderer Stelle spricht Eyer noch deutlicher von »böswilliger polnischer Denunziation«: AL, M 1/4908, Hermann Eyer, Lebenslauf, o. D. [1957]. 42 Eyer, Peter: Autobiographische Darstellung der wissenschaftlichen Tätigkeit meines Vaters im 2. Weltkrieg aus dem Jahr 1957. Herzlichen Dank an Peter Eyer (München) für die freundliche Bereitstellung des Dokuments.
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Rudolf Weigl und seinen anderen polnischen Mitarbeitern gerühmt – wie die Briefe nahelegen, hatte die Erinnerung an Rudolf Weigl, der 1957 verstorben war, in Polen auch die Person Eyers und die entsprechenden Anschuldigungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder ins Bewusstsein gerückt.43 Dass Eyer selbst die besagten Entlastungszeugnisse polnischer Wissenschaftler einholte, zeigt, dass er mittlerweile für derartige Vorwürfe sensibilisiert war – wohl nicht zuletzt, weil ihn die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen schon längst wieder eingeholt hatte. Angesichts der bis dahin erfolgreichen Darstellung seiner Weltkriegstätigkeit als böswillig missrepräsentierte Heldentat muss Eyer selbst überrascht gewesen sein, als er im Herbst 1960 vom Münchner Amtsgericht in einem Ermittlungsverfahren »wegen Mordes (Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald)«44 als Mitbeschuldigter zur Aussage vorgeladen wurde. Die Befragung erfolgte nicht auf Münchner Initiative hin, sondern im Rahmen des sogenannten Fußgänger-Verfahrens der Staatsanwaltschaft Limburg, benannt nach dem Leiter des chemotherapeutischen Laboratoriums des I. G. Farben-Werks Hoechst, Rudolf Fußgänger, der in Buchenwald die Verträglichkeit und Effektivität von Chemotherapeutika des Fleckfiebers hatte testen lassen, mit zahlreichen Todesfällen.45 Die Ermittlungen weiteten sich letztlich auf alle der neben Fußgänger im Ding-Tagebuch erwähnten Personen aus.46 Somit geriet auch Eyer im Sommer 1960 ins Visier der Ermittler: »Aus den Ding’schen Aufzeichnungen ist ferner zu entnehmen, dass am 8.2.1943 die Oberstabsärzte Dr. Eyer vom Institut für Fleckfieber- und Virusforschung und Dr. Schmidt von der Heeressanitätsinspektion in Berlin […] den Block 46 besucht und besichtigt haben.«47 Auf die Erklärung Eyers für den Nürnberger Ärzteprozess, die seinen Besuch in Buchenwald bereits thematisiert hatte, wurde dabei nicht zurückgegriffen. Denn das Fußgänger-Verfahren fiel in eine Zeit des vergangenheitspolitischen Übergangs: Einerseits begann seit Mitte der 1950er Jahre eine langsame, aber kontinuierliche Wiederaufnahme von justiziellen Ermittlungen gegen nationalsozialistische Täter. So entstand 1958 in Ludwigsburg die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen«, die als Vorermittlungsbehörde die Bemühungen der zuständigen Staatsanwaltschaften unterstützen sollte; andererseits beschränkte sich die Ermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle auf Verbrechen außerhalb des ehemaligen Reichsgebiets.48 Möglicherweise auf diese Ausschließlichkeit ist es zurückzuführen, 43 Eyer hatte sich zu diesem Zweck an den Veterinärmediziner und Professor an der Medizinischen Akademie Lublin, Józef Parnas (1909–1998), gewandt, der die Entlastungszeugnisse polnischer Kollegen einholte. AL, M 1/4908, Józef Parnas an Hermann Eyer, o. D. [11.1.1966]. 44 AGH, Sammlungen, Nachlass Ernst Klee 21 (vorläufige Signatur), Oberstaatsanwaltschaft Limburg an Amtsgericht München, 22.9.1960. 45 Lindner (2005), S. 323 und S. 343; Klee (1997), S. 306–310; Werther (2004), S. 156 f. 46 Klee (1997), S. 331; Werther (2004), S. 215. 47 BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg an Hessisches Ministerium der Justiz, 22.6.1960. 48 Weinke (2008), S. 25–28.
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dass in der Zentralen Stelle neben einigen Briefen zum Fußgänger-Verfahren nur die Einstellungsverfügung der Limburger Staatsanwaltschaft überliefert ist.49 Lediglich in Ernst Klees Nachlass ließen sich einige Bruchstücke der Verfahrensunterlagen auffinden, die allerdings dabei helfen, Eyers Beitrag zur nationalsozialistischen Fleckfieberforschung nachzuvollziehen – ein Beitrag, der sich durchaus unterschied von dem, was in dem Limburger Verfahren sowie von der Geschichtsschreibung infolge Ernst Klees verhandelt worden ist.50 Weder in seiner Erklärung für den Nürnberger Ärzteprozess noch in seiner Aussage für das Fußgänger-Verfahren bestritt Eyer seinen im Ding-Tagebuch festgehaltenen Besuch im KZ Buchenwald Anfang 1943. Was er hingegen in beiden Fällen vehement bestritt, war eine Involvierung in die dortigen Vorgänge, also die Bereitstellung von infizierten Läusen oder von Impfstoffen für die Fleckfieberversuchsstation der Waffen-SS sowie jedwede Beteiligung an den Humanexperimenten.51 Der erste Punkt wurde im Nürnberger Ärzteprozess kontrovers diskutiert, da mehrere Zeugen behaupteten, Eyers Institut habe Läuse zur Infektion der Versuchshäftlinge nach Buchenwald geschickt, was sich jedoch als unwahr herausstellte.52 Im Fußgänger-Verfahren spielte dieser Vorwurf keine Rolle mehr. Genau wie die falsche Anschuldigung der Läuselieferungen ging allerdings auch die zweite Behauptung, Eyer sei in die Buchenwald-Versuche involviert gewesen, auf die Aussage des ehemaligen Häftlings und Kapos Arthur Dietzsch (1901–1974) zurück, der als Pfleger selbst eine unrühmliche Rolle bei Dings Experimenten gespielt hatte.53 Nicht weniger problematisch als diese Zeugenschaft ist hingegen die Aussage Eyers, er habe keinen Anteil an, ja nicht einmal Kenntnis von den Menschenversuchen im Rahmen der Fleckfieberforschung gehabt, wobei verschiedene Ebenen zu unterscheiden sind: die Frage nach Eyers Wissen von den Experi-
49 BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg, Einstellungsverfügung, 17.7.1961. Darüber hinausgehende Verfahrensunterlagen sind weder in Limburg noch beim Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden noch beim Amtsgericht München aufzufinden, und auch Thomas Werther, der in seiner Dissertation Ernst Klee für die Einsichtnahme in die Verfahrensakten dankt, bezog sich dabei nur auf besagte Einstellungsverfügung. E-Mail der Staatsanwaltschaft Limburg an den Autor, 15.2.2019; E-Mail des Hessischen Hauptstaatsarchivs an den Autor, 29.11.2018; Mitteilung der Staatsanwaltschaft München I an den Autor, 23.1.2019; Werther (2004), S. 212 f., Anm. 815, und S. 227; E-Mail von Thomas Werther an den Autor, 6.2.2019. 50 Ganz herzlichen Dank an Esther Abel (Gedenkstätte Hadamar), die bei der Suche nach etwaigen Überresten der Verfahrensakten von entscheidender Hilfe war. 51 HLSL, Dok. 636, Nuremberg Military Tribunal 1: Medical Trial. Hermann Eyer, Affidavit concerning the typhus vaccine program, 26.2.1947, S. 2; BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg, Einstellungsverfügung, 17.7.1961, Bl. 93. 52 HLSL, Dok. 2883, Nuremberg Military Tribunal 1: Medical Trial. Waldemar Hoven, Affidavit concerning shipments of lice for research [vaccine program], 15.1.1947. Vgl. Klee (1997), S. 297, Anm. 63. 53 BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg, Einstellungsverfügung, 17.7.1961, Bl. 91 f. Vgl. Klee (1997), S. 343.
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menten, nach seiner wissenschaftlichen Anerkennung ihrer Ergebnisse sowie nach seiner Beteiligung an humanexperimenteller Forschung. Die Frage des Wissens ist einfach zu beantworten. In seiner Erklärung für den Nürnberger Ärzteprozess behauptete er, von Menschenversuchen durch eine Publikation Eugen Haagens54 erfahren, aber nicht gewusst zu haben, dass diese in Konzentrationslagern stattgefunden hätten; in seiner Aussage für das Fußgänger-Verfahren wiederum gestand er sein Wissen über die konkreten Versuche in Buchenwald ein, die er jedoch abgelehnt habe55. Somit nahm er seine ursprüngliche Behauptung der Unkenntnis zurück, die ohnehin kaum haltbar gewesen war. Denn wie das Ding-Tagebuch festhielt, wurde in Buchenwald mehrfach in Krakau produzierter Impfstoff getestet.56 Selbst wenn Eyer, wie er behauptete, diesen Impfstoff nicht selbst zur Testung am Menschen bereitgestellt haben sollte, erfuhr er von den Ergebnissen der Versuche doch aus erster Hand, also nicht erst durch die entsprechende Publikation des Versuchsleiters Erwin Ding aus dem Jahr 1943.57 Bereits im Mai 1942 hatte Joachim Mrugowsky, Leiter des Hygiene-Instituts der Waffen-SS, in einem Rundschreiben die Ergebnisse dieser »durch uns am Menschen durchgeführte[n] Prüfung« und die zu verzeichnenden Todesfälle mitgeteilt, das unter anderem an Eyer gerichtet war.58 Ein Jahr später besuchten Ding und Eyer die »3. Arbeitstagung Ost der Beratenden Fachärzte« der Militärärztlichen Akademie, wo Ding ebenfalls von seinen Versuchen berichtete und Eyer zur Fleckfieberimpfung im Allgemeinen Stellung nahm; zusätzlich sprach Eyer hier auch die Forschungsergebnisse Eugen Haagens an, deren Kenntnis er dann in seiner Erklärung für den Nürnberger Ärzteprozess eingestehen sollte.59 Eyers Kenntnis der Arbeiten Dings und Haagens leitet über zur zweiten Frage nach ihrer wissenschaftlichen Anerkennung. Im Fußgänger-Verfahren proklamierte er, die Menschenversuche mit Fleckfieberimpfstoffen »nicht nur für überflüssig gehalten zu haben, sondern ein Gegner derartiger Versuche gewesen zu sein«.60 Zumindest in dieser kategorischen Vehemenz ist die Aussage 54 Haagen war während Eyers Abkommandierung an das Robert Koch-Institut 1937/38 dessen Vorgesetzter. 1941 wurde Haagen an die neu gegründete »Reichsuniversität« Straßburg berufen und führte in den KZ Schirmeck und Natzweiler-Struthof Humanexperimente mit verschiedenen Impfstoffen durch, unter anderem einer Lebendvakzine gegen Fleckfieber. Werther (2004), S. 50 f. und S. 159 f.; Neumann (2009), S. 171. Vgl. Bonah/Schmaltz (2017). 55 HLSL, Dok. 636, Nuremberg Military Tribunal 1: Medical Trial. Hermann Eyer, Affidavit concerning the typhus vaccine program, 26.2.1947, S. 2; BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg, Einstellungsverfügung, 17.7.1961, Bl. 93. 56 Klee (1997), S. 323, S. 329, S. 333 und S. 339. In einem Fall handelte es sich dabei um Gelbfieberimpfstoff, der ab 1943 ebenfalls in Eyers Institut hergestellt wurde. 57 Ding (1943). 58 BArch, R 1501/3644, Joachim Mrugowsky an Leonardo Conti, Ernst-Robert Grawitz, Karl Genzken, Eugen Gildemeister, Hermann Eyer und Albert Demnitz, 5.5.1942. 59 BArch, RH 12–23/4553, Bericht über die 3. Arbeitstagung Ost der Beratenden Fachärzte vom 24.–26. Mai 1943 in der Militärärztlichen Akademie Berlin, S. 108 und S. 110. 60 BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg, Einstellungsverfügung, 17.7.1961, Bl. 93.
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nicht haltbar: So charakterisierte Eyer etwa in der Nachkriegszeit die »Versuche von Haagen während des Krieges« als »interessant«, nicht zuletzt weil sich so die von Haagen erprobten Lebendvakzinen als »gefährliche Mittel« herausgestellt hätten.61 Dies war jedoch nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine wesentliche Erkenntnis für Eyer, vielmehr hatte er noch 1944 konstatiert: »Die Frage, ob toter oder lebender Impfstoff, muß für europäische Verhältnisse zugunsten des toten Impfstoffes entschieden werden.«62 Solch eine aus den Experimenten Haagens abgeleitete Erkenntnis bestätigte Eyer in seiner Favorisierung des Weigl-Impfstoffs aus infizierten Läusedärmen, dessen relative Überlegenheit gegenüber anderen Produkten er 1941 nicht zuletzt dadurch charakterisiert hatte, dass die Alternativen nicht »unter vergleichbaren geomedizinischen Verhältnissen« und »im Masseneinsatz« erprobt worden seien.63 Dennoch kündigte er 1943 die beginnende Produktion weiterer Totimpfstoffe an, die mittlerweile »vervollkommnet«64 seien – wobei es sich genau um jene Präparate handelte, deren erfolgreiche Erprobung in Buchenwald Erwin Ding verkündet hatte. Wenn auch seine Überzeugung von der Überlegenheit des Impfstoffs aus Läusedärmen gegenüber allen Alternativen ungebrochen blieb, zeichnete sich unter dem Eindruck der KZ-Experimente doch ein Wandel von Eyers Einstellung zu einigen dieser Präparate ab. Bleibt die dritte Frage nach einer Beteiligung an Humanexperimenten. Das von Eyer genutzte Schlagwort von der Erprobung des Impfstoffs im »Masseneinsatz/-experiment/-versuch« am Menschen als ausschlaggebendes Kriterium seiner Wirksamkeit findet sich immer wieder in seinen Veröffentlichungen.65 So fällt es nicht schwer, nachzuvollziehen, warum Ernst Klee aus dem »Modellversuch am geimpften und dann artifiziell infizierten Menschen«, von dem Eyer auf der besagten Tagung in der Militärärztlichen Akademie 1943 berichtete, eine Beteiligung an den KZ-Experimenten abgeleitet hat.66 Worauf sich Eyer hier jedoch vermutlich bezog, hatte er bereits zwei Jahre zuvor in einem Aufsatz deutlich gemacht: Bei der Prüfung des Weiglschen Impfstoffs, teils Original, teils eigener Fertigung, haben meine Mitarbeiter und ich derartige Experimente angestellt, aus denen wir außerordentlich viel gelernt haben. Es war uns zwar aus spärlichen Schrifttumangaben und einigen mündlichen Überlieferungen bekannt, daß es Weigl gelungen war, durch bestimmte Impfmaßnahmen etliche Versuchspersonen derart zu immunisieren, daß sie gegen nachfolgende massive Infektionen durch absichtlich angesetzte Fleckfieberläuse resistent waren. Wie man das aber macht, haben wir nirgends finden, noch erfahren können. Wir haben
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Eyer: Praktische Ergebnisse (1952), S. 317; Eyer: Allgemeines (1952), S. 656. Eyer (1944), S. 56. Eyer: Problem (1941), S. 99. Eyer (1943), S. 660. Eyer/Przybylkiewicz/Dillenberg (1940), S. 704; Eyer: Über das Fleckfieber (1942), S. 862; Eyer (1944), S. 56. 66 BArch, RH 12–23/4553, Bericht über die 3. Arbeitstagung Ost der Beratenden Fachärzte vom 24.–26. Mai 1943 in der Militärärztlichen Akademie Berlin, S. 108 und S. 110; Klee (1997), S. 311.
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uns daher kurzerhand selbst in den Versuch eingespannt und die für uns so wichtigen Erkenntnisse unter Einsatz unserer Gesundheit durch Erfahrungen am eigenen Leib gesammelt.67
Über diese Selbstversuche Eyers, seiner deutschen Mitarbeiter und polnischen Untergebenen hatte er bereits kurz nach Eröffnung des Instituts nicht nur seine Dienststelle informiert, sondern auch öffentlich die exakten gesundheitlichen Auswirkungen präsentiert.68 Dass die Schutzimpfung die Erkrankung nicht verhindern konnte, aber ihren Verlauf massiv erleichterte, war das zentrale Ergebnis dieser Menschenversuche, und aufgrund der unweigerlichen Exposition der Mitarbeiter mit infektiösem Läusekotstaub bildete das Institut auch für weitere Forschung ein Reservoir an Versuchspersonen, etwa für Eyers serodiagnostische Untersuchungen.69 Die lange Tradition des medizinischen Selbstversuchs ging während des Nationalsozialismus in eine Eskalation der Forschung am Menschen über.70 Diese allgemeine Feststellung trifft auch auf Eyer zu. Er war davon überzeugt, mit dem Weigl-Impfstoff das bewährteste aller verfügbaren Präparate herzustellen, und auf der Erfüllung dieser Aufgabe lag sein Hauptaugenmerk. Nichtsdestotrotz fühlte er sich der fortgesetzten Erforschung des Fleckfiebers und seiner Bekämpfung verpflichtet. So empfahl er sich 1943 beim Dekan der Berliner Medizinischen Fakultät und Beauftragten des Regimes für medizinische Wissenschaft und Forschung, Paul Rostock (1892–1956), nicht nur mit seiner organisatorischen Leistung auf dem Feld der Fleckfieberproduktion, sondern ebenfalls durch seine »[w]issenschaftlich-gutachterliche Tätigkeit auf dem gesamten Fleckfieber- und Virussektor« sowie »[w]issenschaftlich-experimentelle Tätigkeit auf dem Gebiet des Fleck-, Wolhynischen- und Gelbfiebers, sowie anderen Zweigen der Bakteriologie u. Hygiene«.71 Beide Tätigkeiten, Organisation der Impfstoffproduktion und experimentelle Forschung, schlossen sich im Fall Eyers nicht aus, sondern bedingten sich gegenseitig. Anhand seiner Veröffentlichungen zum Thema Fleckfieber lässt sich nachvollziehen, dass Eyer es nicht einfach bei der einmal etablierten Produktion des Impfstoffes beließ, sondern inständig an dessen Optimierung arbeitete, was im Hinblick auf die Versorgungslage vor allem bedeutete: an dessen effizienter Dosierung. Die Impfung mit der Weigl-Vakzine hatte in drei, in ungefährem Wochenabstand durchgeführten Inokulationen zu erfolgen. 1941 schrieb Eyer hierfür noch eine Gesamtmenge von 100 verwendeten Läusedärmen in einer Verteilung von 17 : 33 : 50 vor, wobei er schon andeutete, dass möglicherweise auch eine deutlich geringere Menge ausreichen würde.72 Auf der Tagung in der Militärärztlichen Akademie 1943 gab er dann ein »Optimum zwischen 50 und 67 Eyer: Problem (1941), S. 101 f. Hervorhebungen im Original. 68 BArch, RH 12–23/187, Tätigkeitsbericht d. Inst. f. Fleckfieberforschung OKH – Krakau, f. d. Zeit vom 1.6. bis 31.7.40, S. 5 f.; Eyer/Przybylkiewicz/Dillenberg (1940). 69 Eyer/Dillenberg (1943/44), S. 309. 70 Für das Beispiel der Luftfahrtmedizin zeigt dies etwa Roth (2001), S. 114. 71 BArch, R 9361-II/220137, Hermann Eyer an Paul Rostock, 27.12.1943, fol. 2158. Eyer war 1943 zum außerplanmäßigen Professor an der Berliner Fakultät ernannt worden. 72 Eyer: Problem (1941), S. 100; Eyer: Fleckfieberprophylaxe (1941), S. 62.
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100 Läusedärmen«73 an, in einem ebenfalls 1943 veröffentlichten Artikel schon eine Reduzierung auf insgesamt 50 Därme in der Verteilung 9 : 16 : 2574. Bis Kriegsende hatte sich die Dosierung weiter reduziert, wie er 1945 in einer Aussage gegenüber amerikanischen Besatzungstruppen preisgab: »The first inoculation contains all the rickettsia from five lice, the second from 10 lice and the third from 15 lice.«75 An dieser Menge und Einteilung sollte Eyer in seinen weiteren Publikationen aus der Nachkriegszeit festhalten.76 Die Reduzierung auf ein Drittel der ursprünglich von Weigl vorgegebenen und von Eyer im Selbstversuch erprobten Menge an verwendeten Läusedärmen kann kaum ohne experimentelle Verifizierung der nach wie vor gewährleisteten Schutzwirkung des Impfstoffes stattgefunden haben. Von Erwin Dings KZ-Versuchen in Buchenwald können die entsprechenden Erkenntnisse nicht stammen, da hier Impfstoffe in der von Eyer 1941 vorgegebenen Zusammensetzung zur Anwendung kamen.77 Allerdings sprach Eyer die Dosierungsfrage im Zuge der Ermittlungen, die durch das Fußgänger-Verfahren gegen ihn eingeleitet worden waren, selbst an: Im Zusammenhang mit den von ihm als »überflüssig« charakterisierten Menschenversuchen in Buchenwald hielt er es für wichtig, zu erwähnen, dass aus dem mir damals unterstellten Bereich und zwar durch Herrn Prof. Weigl selbst, an mich herangetragen wurde, die Dosierung des Weiglschen Impfstoffes im Menschenversuch zu erproben. Es bestand selbstverständlich ein Interesse daran – schon wegen der Schwierigkeit der Herstellung des Impfstoffes – zu einer möglichst niedrigen Dosierung zu gelangen. […] Ich habe das damals in aller Entschiedenheit abgelehnt, in erster Linie aus menschlichen Gründen. Diese Unterredung mit Prof. Weigl fand glaublich 1942 statt, in Gegenwart meines damaligen Mitarbeiters, des jetzigen Ministerialrates beim Bundesinnenministerium, Abt. Gesundheitswesen, Dr. Daniels in Bonn.78
Eyer behauptete also, dass es ausgerechnet Rudolf Weigl gewesen sei, der die Dosierung des Impfstoffs – die ja tatsächlich herabgesetzt wurde – experimentell am Menschen habe testen wollen; eben jener Rudolf Weigl, den Eyer während des Krieges regelrecht zu germanisieren versuchte79, den er in zahlreichen Nachrufen für seine wissenschaftlichen Verdienste, seine persönliche Integrität und seine Menschlichkeit pries und der für seine Zurückhaltung bei der Überprüfung des von ihm entwickelten Impfstoffs am Menschen bekannt 73 BArch, RH 12–23/4553, Bericht über die 3. Arbeitstagung Ost der Beratenden Fachärzte vom 24.–26. Mai 1943 in der Militärärztlichen Akademie Berlin, S. 110. 74 Eyer (1943), S. 659. 75 NLM, Combined Intelligence Objectives Sub-Committee Item 24: Tropical Medicine and other Medical Subjects in Germany, o. D. [1945], S. 14. 76 Eyer (1979), S. 58; Eyer (1966), S. 776. 77 Ding (1943), S. 671. 78 AGH, Sammlungen, Nachlass Ernst Klee 21 (vorläufige Signatur), Amtsgericht München, Beschuldigten-Vernehmung in der Untersuchung gegen Prof. Dr. Hermann Georg Eyer wegen Beteiligung an Fleckfieberversuchen im KZ. Buchenwald, 21.10.1960. Vgl. auch Klee (2001), S. 321, der die Darstellung als Beweis einer Beteiligung an den Experimenten in Buchenwald liest. 79 So behauptete er, Weigl sei »von Geburt und Abstammung ein Deutscher«. Eyer (1943), S. 657.
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war80. Dies war eine Schutzbehauptung, welche durch die Beschuldigung Weigls und die Berufung auf Daniels die Besatzungsverhältnisse – Deutsche gegen Polen – gleichermaßen reproduzierte wie auf den Kopf stellte. Denn es war gerade nicht Rudolf Weigl gewesen, der die Versuche gegen den Willen Hermann Eyers durchführen wollte, sondern Eyer, der gegen den Widerspruch Weigls die Herabsetzung der Impfdosis experimentell überprüfte. Ende 1941 hatte im Reichsinnenministerium ein Treffen stattgefunden, das Vertreter der Reichsregierung, des Generalgouvernements, der Heeressanitätsinspektion, des Robert Koch-Instituts und der I. G. Farben zusammenbrachte und auf dem die Etablierung einer industriellen Produktionsstätte für Fleckfieberimpfstoff aus Läusedärmen durch die Marburger Behring-Werke beschlossen worden war. Dies sollte in Lemberg geschehen, zum einen, weil das Produktionsverfahren als zu gefährlich erachtet wurde, um es im Reichsgebiet zu etablieren, zum anderen, weil in Lemberg mit Rudolf Weigl der Erfinder des Verfahrens als Berater für die Einrichtung des Instituts und das Anlernen des Personals bereitstand.81 Bevor aber das neue Emil von BehringInstitut knapp ein Jahr später eingeweiht werden konnte, galt es, unterschiedliche Vorstellungen über die Produktion des Weigl-Impfstoffs zwischen seinem Erfinder und dessen nominellem Vorgesetzten, Hermann Eyer, zu klären. So schlugen die Behring-Werke im Mai 1942 nach Rücksprache mit Weigl vor, die Produktion des Impfstoffs einheitlich auf 33 Läusedärme pro Inokulation auszurichten.82 Eyer hingegen wollte an der Verteilung der Impfdosis im Verhältnis 1 : 2 : 3 nichts ändern, durchaus hingegen an der Gesamtdosis; es bestand eine Diskrepanz zwischen Eyers Produktion in Krakau, wo 50 Därme verarbeitet wurden, und Weigls Produktion in Lemberg mit 100 Därmen pro Impfung.83 Daraufhin teilte das Reichsministerium des Innern mit: Nach fernmündl. Mitteilung von […] der Heeressanitätsinspektion enthielt früher der von Krakau abgegebene Fleckfieberimpfstoff 90–100 Läusedärme pro Impfdosis. Vor längerer Zeit wurde dann dazu übergegangen, nur 50 Läusedärme zu verwenden. Die hiermit vorgenommenen Versuche haben ergeben, daß der Impfstoff mit 50 Läusedärmen einen gleich guten Schutz verleiht als der mit 90–100 Läusedärmen. Die Heeressanitätsinspektion wird deshalb veranlassen, daß künftig auch im Institut für Fleckfieber- und Virusforschung des OKH in Lemberg Fleckfieberimpfstoff mit ebenfalls nur 50 Läusedärmen pro Impfstoffdosis hergestellt wird.84
Was »die hiermit vorgenommenen Versuche« genau bedeuteten, lässt sich nicht rekonstruieren. Dass es Hermann Eyer war, der diese Versuche vor80 Eyer (1958); Eyer: 50 Jahre (1967); Eyer: Rudolf Weigl (1967); Allen (2014), S. 61–64. 81 BArch, R 1501/3644, Reichsministerium des Innern, Vermerk, 5.1.1942. Vgl. Werther (2004), S. 111–113. 82 BArch, R 1501/3644, I. G. Farbenindustrie, Abteilung Behringwerke Marburg an Reichsministerium des Innern, 21.5.1942, S. 1. 83 BArch, R 1501/3644, Richard Otto an Reichsministerium des Innern, 4.6.1942; I. G. Farbenindustrie, Abteilung Behringwerke Marburg an Reichsministerium des Innern, 25.7.1942. 84 BArch, R 1501/3644, Reichsministerium des Innern, Vermerk, 4.8.1942 (Hervorhebung durch mich – M. S.).
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nahm, um die Effektivität einer reduzierten Impfdosis nachzuweisen, liegt hingegen auf der Hand, entgegen seiner Selbstdarstellung als Gegner solcher Menschenversuche im Fußgänger-Verfahren. Hermann Eyer wurde im Rahmen des Fußgänger-Verfahrens nicht weiter behelligt, und auch sämtliche anderen Beschuldigten blieben von einer Verfahrenseröffnung verschont. Eyer hatte, wie schon 1946, ausgesagt, in Buchenwald lediglich die Applikation einer neuartigen Ampulle vorgeführt zu haben, und war darin von seinem Begleiter Bernhard Schmidt (1906–2003) von der Heeressanitätsinspektion bestätigt worden; darüber hinaus behauptete er nun, eigentlich aus einem ganz anderen Grund das KZ besucht zu haben, nämlich um einen verhafteten polnischen Mitarbeiter ausfindig zu machen.85 Ob hier der tatsächliche Hintergrund seines Besuchs lag oder dieser doch mit den Fleck- und Gelbfieberversuchen in Zusammenhang stand, ist genauso wenig abschließend zu klären wie die Frage nach der Art der Versuche, mit denen Eyer die Effektivität einer reduzierten Dosierung des Weigl-Impfstoffs verifizierte. Diese Frage, die Eyer in seiner Aussage für das Fußgänger-Verfahren sogar selbst aufgeworfen hatte, wurde in den strafrechtlichen Ermittlungen durch den mörderischen Kontext Buchenwalds ebenso überlagert wie in den medizinhistorischen Studien zur Fleckfieberforschung im Nationalsozialismus. Es bleibt zu vermuten, dass Eyer die Reduktion der Impfdosis weiter an den Mitarbeitern seines Instituts testete und darin auch kein Problem sah. So gab er in seiner Vernehmung für das Fußgänger-Verfahren der Überzeugung Ausdruck, dass »durch die Verwendung von Impfstoff unter gar keinen Umständen ein Unheil angerichtet werden konnte«.86 Hannover, 1967 Während die Ermittlungen wegen der Fleckfieberexperimente in Buchenwald nicht unter die Kompetenzen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg gefallen waren, bemühte sich diese zeitgleich darum, neues Beweismaterial für ihren Zuständigkeitsbereich zu sammeln. Dabei ging es insbesondere um Akten aus dem ehemaligen polnischen Generalgouvernement, wo Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und die systematische Vernichtung der ansässigen jüdischen Bevölkerung in den Lagern Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka die nationalsozialistische Besatzungspolitik bestimmt hatten. Vermittelt durch den Überlebenden und Generalsekretär des »Internationalen Auschwitz Komitees«, Hermann Langbein (1912–1995), kam es 1959/60 zu einer Annäherung zwischen polnischen Behörden unter dem Krakauer Professor und Ermittlungsrichter Jan Sehn (1903–1965), dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz 85 BArch, B 162/1562, Oberstaatsanwaltschaft Limburg, Einstellungsverfügung, 17.7.1961, Bl. 92. 86 AGH, Sammlungen, Nachlass Ernst Klee 21 (vorläufige Signatur), Amtsgericht München, Beschuldigten-Vernehmung in der Untersuchung gegen Prof. Dr. Hermann Georg Eyer wegen Beteiligung an Fleckfieberversuchen im KZ. Buchenwald, 21.10.1960.
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Bauer (1903–1968) und der Zentralen Stelle; weil eine offizielle Rechtsbeihilfe unter den Bedingungen des Kalten Kriegs nicht möglich war, erfolgten im März 1960 ein gemeinsames Treffen in der polnischen Militärmission in Berlin und eine Übergabe zahlreicher Dokumente.87 Wahrscheinlich im Zuge dessen gelangte auch ein Dokument in die Hände der Zentralen Stelle, das 1964 der Staatsanwaltschaft Hannover für ihre Ermittlungen gegen Jost Walbaum (1889–1969), der von 1939 bis 1942 die Abteilung Gesundheitswesen in der Regierung des Generalgouvernements geleitet hatte, zur Verfügung gestellt wurde. Dabei handelte es sich um das »Protokoll über die Arbeitstagung der Abteilung Gesundheitswesen in der Regierung des Generalgouvernements in Bad Krynica vom 13. bis 16.10.1941« unter dem Vorsitz Walbaums, inklusive einer ausführlichen Teilnehmerliste. Hierüber teilte die Zentrale Stelle der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Hannover mit: »An der Echtheit besteht kein Zweifel. Es wurde von Herrn Professor Jan Sehn aus Krakau Herrn Generalstaatsanwalt Bauer in Gestalt des anliegenden Films übergeben. Herr Generalstaatsanwalt Bauer hat ihn an die Zentrale Stelle weitergeleitet.«88 Wie gegen Eyer hatte auch gegen Walbaum nach dem Zweiten Weltkrieg ein polnischer Auslieferungsantrag bestanden und war eine Internierung durch die britische Militärregierung vorgenommen worden, und wie zugunsten Eyers hatten auch für Walbaum zahlreiche Entlastungszeugen ausgesagt und dessen Selbstdarstellung eines couragierten Gegners nationalsozialistischer Verbrechen gestützt.89 Die 1964 wiederaufgenommenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hannover bezogen sich vor allem auf den Vorwurf, Walbaum trage für die Durchführung der »Euthanasie« im Generalgouvernement Verantwortung.90 Das von Ludwigsburg bereitgestellte Protokoll der Arbeitstagung in Bad Krynica hatte hingegen einen anderen Inhalt, der in den Ermittlungen ebenfalls eine Rolle spielte, nämlich Walbaums Vorstellungen und Praktiken der Seuchenbekämpfung. Deren handlungsleitende Maxime hatte er 1941 in einem von ihm herausgegebenen Sammelband über das Gesundheitswesen des Generalgouvernements präsentiert: Es ist jedoch nicht Sinn und Zweck der deutschen Gesundheitsverwaltung […] hier im Raum die gesundheitlichen Interessen der nichtdeutschen Bevölkerung in den Vordergrund zu stellen. Die gesamte Tätigkeit der Gesundheitsverwaltung galt darum zunächst den Deutschen und dem Bemühen, auf dem gesundheitlichen Sektor für die Reichsdeutschen erträgliche Zustände zu schaffen, denn das Gebiet hier war eine Gefahr für die angrenzenden Staaten und vor allen Dingen für das reichsdeutsche Gebiet.91
87 Stengel (2012), S. 408–412; Hofmann (2018), S. 196–199. 88 BArch, B 162/6787, Zentrale Stelle Ludwigsburg an Oberstaatsanwaltschaft Hannover, 30.10.1964, Bl. 5. 89 Klee (1986), S. 226. 90 Klee (1986), S. 224 f.; Dreßen/Rieß (1991), S. 169–171. 91 Walbaum (1941), S. 16. Hervorhebung im Original.
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Und diese Gefahr existierte, wie auch in dem von Walbaum herausgegebenen Sammelband immer wieder betont wurde, in erster Linie in Gestalt des Fleckfiebers.92 Es war kein Zufall, dass Eyers Institut im Generalgouvernement angesiedelt worden war. Denn im Polen der Zwischenkriegszeit war die Fleckfieberforschung intensiv betrieben worden, nicht nur in Lemberg unter Rudolf Weigl, sondern auch an der Krakauer Universität, deren Institut sich Eyer letztlich einverleibte. Walbaums Charakterisierung der Gesundheitspolitik im Generalgouvernement brachte ein verbreitetes Verständnis des Fleckfiebers auf den Punkt: Die Krankheit entspringe den örtlichen Lebens- und Bevölkerungsverhältnissen, weswegen diese Verhältnisse eine zu bekämpfende Gefahr für die Deutschen darstellten.93 Gemeint waren damit vor allem die polnischen Juden, und deren Assoziierung mit dem Fleckfieber wurde in der gesundheitspolitischen Praxis des Generalgouvernements zu einer »self-fulfilling prophecy«94: Unter dem Vorwand der Seuchenbekämpfung und epidemiologischen Prävention wurde die Konzentration und Isolierung der jüdischen Bevölkerung durchgeführt, gleichzeitig aber einer tatsächlichen Ausbreitung des Fleckfiebers innerhalb der Ghettos durch die Rationierung von Lebensmitteln, Medikamenten, Entwesungs- und Waschmöglichkeiten sowie durch den permanenten Zuzug weiterer Juden, die aus den vom Deutschen Reich annektierten Teilen des besetzten Polens in das Generalgouvernement abgeschoben wurden, effektiv Vorschub geleistet. Die Vorschläge des in Warschau ghettoisierten Mikrobiologen Ludwik Hirszfeld (1884–1954) für eine Bekämpfung des Fleckfiebers durch die Verbesserung der Lebensverhältnisse wurden nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.95 Die wenigen Impfstoffe, die heimlich von Rudolf Weigl aus Lemberg ins Warschauer Ghetto gesandt wurden, konnten an der Ausbreitung der Seuche und den steigenden Todesraten wenig ändern.96 Die Konsequenzen, welche die Gesundheitsverwaltung des Generalgouvernements aus dieser selbstverschuldeten Entwicklung zog, wurden auf der bereits erwähnten Arbeitstagung in Bad Krynica im Oktober 1941 diskutiert. Hier sprach Walbaum über die Notwendigkeit, ein Überspringen des Fleckfiebers aus den jüdischen Ghettos auf den Rest der Städte – und somit auf die 92 Browning (1988), S. 22 f. 93 Weindling (1994); Weindling (1997). 94 Browning (1988), S. 24. Vgl. hierzu auch Dreßen/Rieß (1991); Roland (1992); Caumanns/Esch (2002). 95 Caumanns/Esch (2002), S. 242. 96 Roland (1992), S. 147 f. Arthur Allen hat behauptet, auch Hermann Eyer habe den Schmuggel von Impfstoffen ins Warschauer Ghetto ermöglicht, und daraus auf seine ungebrochene Humanität geschlossen. Er beruft sich dabei auf eine Münchner Dissertation über Hirszfeld. Hier erfolgt die Charakterisierung Hermann Eyers hingegen nicht durch Hirszfeld, sondern durch den Autor der Dissertation, der zudem Eyer für dessen Unterstützung bei der Anfertigung der Arbeit dankt. Vgl. Allen (2014), S. 173 f. und S. 334; Gilsohn (1965), S. 40 und S. 93. Dieselbe Behauptung ohne entsprechenden Nachweis findet sich bei Weindling (2000), S. 363.
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deutschen Bewohner und Besatzer – zu verhindern. Als zielführende Maßnahme propagierte er das rücksichtslose Erschießen jeder Person, die versuchte, aus dem Ghetto zu entkommen, unter dem Beifall der Teilnehmer.97 Einer dieser Anwesenden war, wie dem Teilnehmerverzeichnis des Protokolls zu entnehmen ist, Hermann Eyer.98 Und so kam es am 9. Februar 1967 zur nächsten Vernehmung Eyers, wobei er zur Tagung in Bad Krynica, zu Walbaum und den sonstigen Teilnehmern sowie zum Erschießen Fleckfieberkranker, zum Krankenmord und zur Judenvernichtung befragt wurde. Von den bisherigen Ermittlungen unterschied sich diese nicht nur dadurch, dass Eyer nicht zu den Beschuldigten gehörte, sondern auch durch sein kategorisches Abstreiten jeglichen Wissens von den genannten Aspekten, inklusive seiner Anwesenheit in Bad Krynica. »Meine Aufgabe war die Herstellung von Fleckfieberimpfstoff für die Zwecke der Wehrmacht. Verbunden waren damit die Erforschung neuer Erfahrenswege [sic!]«99, und so habe er weder mit Walbaum oder einer der anderen anwesenden Personen etwas zu tun noch von den verhandelten Verbrechenskomplexen Kenntnis gehabt. Da Eyer nur als möglicher Zeuge fungierte, wurden seine Aussagen nicht weiter hinterfragt. Doch macht nicht nur die offensichtlich falsche Behauptung stutzig, dass er zu »einem NS-Gewaltverbrechen […] bisher noch nicht vernommen worden«100 sei. Eyer zog sich in seiner Aussage auf seine Kernaufgabe zurück, die Herstellung von Fleckfieberimpfstoff für die Wehrmacht, und leitete daraus seine Unkenntnis der – nichtmilitärischen – Personen und Verbrechenskomplexe ab, die von der Hannoverschen Staatsanwaltschaft ermittelt wurden, inklusive seiner Nichtteilnahme an der Arbeitstagung in Bad Krynica. Solch eine scharfe Abgrenzung ziviler und militärischer Aufgabengebiete bzw. seiner eigenen Haupttätigkeit von allem anderen, was im besetzten Polen geschah, hatte in der Realität keinen Bestand gehabt, wie nicht zuletzt das Thema Fleckfieber immer wieder offenbarte; nicht nur begrüßte Walbaum im Protokoll der Arbeitstagung ausdrücklich die anwesenden Vertreter der Wehrmacht, auch war er an den Verhandlungen mit den beteiligten militärischen und industriellen Stellen über die Ausweitung der Impfstoffproduktion im Generalgouvernement beteiligt gewesen.101 Dass Eyer von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nichts gewusst haben soll, ist ohnehin unglaubwürdig. So bezeugte etwa Walbaum in seinen eigenen Vernehmungen die unter den Besatzern offene Thematisierung der Judenvernichtung und deren Verknüpfung 97 Caumanns/Esch (2002), S. 249–253. 98 BArch, B 162/1712, Arbeitstagung der Abteilung Gesundheitswesen i. d. Regierung des Generalgouvernements in Bad Krynica vom 13.–16. Oktober 1941, Bl. 2983. Vgl. Heim u. a. (2014), S. 107, Anm. 28. 99 BArch, B 162/6787, [Amtsgericht München,] Vernehmungsniederschrift, Zeuge Hermann Eyer, 9.2.1967, Bl. 106. 100 BArch, B 162/6787, [Amtsgericht München,] Vernehmungsniederschrift, Zeuge Hermann Eyer, 9.2.1967, Bl. 106. 101 BArch, B 162/1712, Arbeitstagung der Abteilung Gesundheitswesen i. d. Regierung des Generalgouvernements in Bad Krynica vom 13.–16. Oktober 1941, Bl. 2988; R 1501/ 3644, Reichsministerium des Innern, Vermerk, 21.12.1941.
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mit dem Vorwand der Fleckfieberbekämpfung.102 Gerade die hier zum Tragen kommenden Aspekte nationalsozialistischer Gesundheitspolitik, die Identifikation des Fleckfiebers mit den Lebensverhältnissen bestimmter Gruppen von Menschen, deren Stigmatisierung und Isolierung, waren darüber hinaus Eyer alles andere als fremd. Vielmehr stellten sie einen essentiellen Bestandteil seiner Auseinandersetzung mit dem Fleckfieber dar, wie sein Karriereweg und seine zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema offenbaren. Die strenge Scheidung von militärischer Impfstoffproduktion einerseits und ziviler Gesundheitspolitik andererseits war eine Fiktion. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache bemerkenswert, dass Eyer hinsichtlich all der Personen und Taten, mit denen er in der Nachkriegszeit assoziiert wurde, nur in einem Fall die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Distanzierung und Selbstrechtfertigung erblickte: Dies betraf eine Würdigung des Gauleiters der Bayerischen Ostmark, Hans Schemm (1891–1935), in seiner 1937 veröffentlichten Habilitationsschrift über die Gesundheitsverhältnisse in der Oberpfalz, die ihm als »parteifreundlich«103 ausgelegt werden könne, aber von dritter Seite auferlegt worden sei104. Keinen Rechtfertigungsdruck sah Eyer hingegen für den eigentlichen Kontext der Würdigung, nämlich Schemm dafür zu preisen, dass er »gegen die tschechischen Anbiederungsversuche gegenüber der leicht beeinflußbaren Grenzbevölkerung wirksame Gegenmaßnahmen zu mobilisieren«105 versucht habe; dieser Kampf war gleichsam der eigentliche Kontext von Eyers medizinisch-topographischer Studie, wie er noch deutlicher in einem Artikel für das Deutsche Ärzteblatt zu erkennen gab: Hier stellte er seine Untersuchungen in der Oberpfalz als Abwehr der »bevölkerungspolitische[n] Gefahren« durch »volkszehrenden Einfluß der Verstädterung« als Beitrag zur »biologischen Grenzsicherung« dar, »um einen natürlichen, aus pflicht- und aufgabenbewußten Menschen bestehenden lebenden Wall an Deutschlands Grenzen aufzurichten« und nicht zuletzt der »hygienisch-ärztliche[n] Arbeit einen tiefen völkischen Hintergrund zu geben«106. Die Überschneidungen mit dem insbesondere von dem Berliner Hygieniker Heinz Zeiss (1888–1949) – an dessen Institut Eyer ab 1943 als außerplanmäßiger Professor wirken sollte – verfolgten geomedizinischen Ansatz einer Verknüpfung von Krankheit, Raum und Kultur springen ins Auge.107
102 Musial (1999), S. 272 und S. 326. 103 UAB, MF-PA 60, Hermann Eyer, Erläuterung zum Fragebogen betr. politischer Betätigung, 15.7.1946. 104 Möglicherweise waren die entsprechenden Passagen weniger auf Schemms Funktion als NSDAP-Gauleiter als auf seinen Posten als Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus – und somit Vorgesetzter von Eyers Schwiegervater – zurückzuführen. So dankte Eyer dem Ministerium im Vorwort für die Unterstützung der Drucklegung des Buchs. Eyer (1937), S. 2. Vgl. Müller (1997), S. 980 f. 105 Eyer (1937), S. 17; eine weitere Würdigung Schemms findet sich auf S. 199. 106 Eyer (1938), S. 441 und S. 445. 107 Vgl. hierzu Schleiermacher (2008); Weindling (2000), S. 231.
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Der geomedizinische Aspekt der Seuchenbekämpfung zog sich wie ein roter Faden durch Eyers Auseinandersetzung mit dem Fleckfieber.108 Nachdem ihn die Militärärztliche Akademie infolge seiner Habilitation an das Berliner Robert Koch-Institut abkommandiert hatte, wo er sich in Eugen Haagens Virusabteilung ausbilden ließ, wurde Eyer 1938 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ins italienisch besetzte Abessinien geschickt, um in der Produktion des Weigl-Impfstoffes unterwiesen zu werden.109 Rudolf Weigl hatte sein Verfahren interessierten Forschern in aller Welt beigebracht und war kurz zuvor selbst in Abessinien gewesen. Was Eyer hier kennenlernte, war nicht nur die komplizierte Herstellung des Impfstoffes aus Läusedärmen. Die Italiener identifizierten das im abessinischen Hochland endemische Fleckfieber mit den Lebensverhältnissen der einheimischen Bevölkerung und zogen daraus den seuchenpolitischen Schluss einer möglichst umfassenden rassischen Segregation.110 Diese Art der Seuchenbekämpfung durch Identifikation und Isolation aller potentiellen Überträger und der konsequenten Entwesung der potentiellen Empfänger ließ auch Eyer nicht unbeeindruckt, der zustimmend von den italienischen Quarantänelagern berichtete, »die, wie ich mich überzeugen konnte, in ausgezeichneter Weise ihren Zweck erfüllen«.111 In vielen seiner wissenschaftlichen Beiträge, wie auch in dem Propaganda-Lehrfilm »Kampf dem Fleckfieber!« von 1942, der die Arbeit von Eyers Institut darstellt, spielte die Entwesung eine zentrale Rolle. Was in dem Film und in den Artikeln ebenfalls präsentiert wurde, waren allerdings die vermeintlich primären Schuldigen an der Ausbreitung des Fleckfiebers: die polnischen Juden.112 In Eyers Identifikation der Juden als Träger und Verbreiter des Fleckfiebers verbanden sich zwei antisemitische Klischees zu einem epidemiologischen Stigma: erstens das Bild der Juden als idealtypische »Menschen der Unhygiene«, die in »schmutzstarrenden Quartieren« lebten und den »Kaftan des Ghettojuden« zum bevorzugten Brutort rickettsieninfizierter Läuse werden ließen.113 Hierdurch hätten die Juden jedoch keinen Nach-, sondern einen Vorteil, nämlich eine »Grundimmunität, die z. B. bei Ostjuden im Gegensatz zu Deutschen fast regelmäßig vorhanden ist«.114 Diese Immunität wirkte sich angesichts einer zweiten antisemitischen Imagination besonders verheerend aus: nämlich der des zu Kriegs- wie Friedenszeiten umherwandernden Juden, 108 Eyer selbst rechnete die Geomedizin explizit zu seinen Hauptforschungsgebieten. BArch, R 4901/13262, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Karteikarte Hermann Eyer, o. D. [1937/38], fol. 2168. 109 BArch, R 73/14513, Deutsche Forschungsgemeinschaft an Auswärtiges Amt, 7.2.1938, fol. 1911. Vgl. Weindling (2000), S. 335. 110 Pankhurst (1976), S. 391 f. 111 Eyer: Läuse (1940), S. 263. 112 YouTube, Kampf dem Fleckfieber! (D, 1942), 00:01:17–00:01:39. Eyer widmete seinen letzten Artikel über das Fleckfieber dem Andenken des Pathologen Paul Schürmann (1895–1941), der als Kommandeur der Lehrgruppe C der Militärärztlichen Akademie den Film 1941 gedreht hatte. Eyer (1979), S. 56. 113 Eyer: Läuse (1940), S. 261; Eyer/Przybylkiewicz/Dillenberg (1940), S. 705. 114 Eyer: Über das Fleckfieber (1942), S. 862.
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»weil er irgendwo aufgelesene Fleckfieberläuse unerkannt mit sich herumschleppen und damit das Fleckfieber auf weite Strecken verbreiten kann«115, und der damit verbundenen Bedeutung des jüdischen Handels, insbesondere des »ausschließlich in jüdischer Hand befindlichen Kleiderhandels für die Epidemiologie des Fleckfiebers […]«116. Eyer identifizierte die polnischen Juden als aufgrund ihrer Lebensverhältnisse und generationenübergreifenden Exposition paradigmatische »gesunde Bazillenträger«117, die gleichsam aufgrund ihrer rastlosen Lebensverhältnisse die rickettsienhaltigen Läuse und den hochinfektiösen Läusekotstaub überall verbreiteten: So behauptete er sogar, dass die Brillsche Krankheit »durch ausgewanderte polnische Juden nach den Vereinigten Staaten eingeschleppt wurde«118. Die Konsequenzen solch einer epidemiologischen Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung Polens unterschieden sich kaum von denen Walbaums, an den sich Eyer gemäß seiner Aussage für die Hannoversche Staatsanwaltschaft kaum erinnern konnte, dessen Positionierung zur Fleckfieberbekämpfung er jedoch 1940 zustimmend rezensiert hatte: Verf. bezeichnet das im polnischen Staatsgebiet beobachtete Fleckfieber mit Recht als eine rein jüdische Krankheit. […] Dem Schluß des Verf., wonach die Fleckfieberfrage mit der restlosen Entfernung der jüdischen Bevölkerung aus Polen am einfachsten und schnellsten gelöst wäre, kann Ref. aus eigener Anschauung nur zustimmen.119
Und auch der konkreten Politik Walbaums im Generalgouvernement, jener »self-fulfilling prophecy« der Verschlimmerung durch Ghettoisierung, redete Eyer das Wort, als er wenig später »die vollständige und unerbittliche Abriegelung« aller Fleckfieberherde, »in polnischen Städten also z. B. die bereits in Durchführung begriffene Isolierung der jüdischen Ghettos«120, forderte. Die Segregation, die Eyer bei den Italienern im besetzten Abessinien kennengelernt hatte, erschien ihm auch im besetzten Polen als probates Mittel zur Eindämmung der »jüdischen Krankheit«. Fast schon wie ein Eingeständnis der fatalen Entwicklung, die die von ihm unterstützte Politik radikaler Isolierung hervorgebracht hatte, wirken die Worte, die er 1944 zur Epidemiologie des Fleckfiebers fand: Hier konstatiert er nämlich, dass die Krankheitsausbreitung »in ziemlicher Parallele zur Entwicklung der Gettoverhältnisse [sic!]« stehe und daher die Ghettos »während des Krieges […] das Hauptkontingent an Fleckfieberfällen überhaupt«121 gestellt hätten. In seiner Aussage für das Verfahren der Staatsanwaltschaft Hannover gegen Walbaum – das 1968 ohne Ver115 Eyer: Zur Epidemiologie (1942), S. 335. 116 BArch, RH 12–23/4581, Bericht über die 1. Arbeitstagung Ost der beratenden Fachärzte am 18. und 19. Mai 1942 in der Militärärztlichen Akademie Berlin, S. 42. 117 Zur Bedeutung der Figur des gesunden Bazillenträgers für die Geschichte der Bakteriologie vgl. Berger (2009), S. 112–124. 118 Eyer: Problem (1941), S. 103. Vgl. Eyer: Verlausung (1941), S. 50. Nach dem Krieg hielt Eyer an dieser Theorie fest, verzichtete aber auf die explizite Benennung der Juden als Verschlepper der Krankheit. Eyer: Allgemeines (1952), S. 660. 119 Eyer: Besprechung (1940), S. 170 f. Das Zitat findet sich bereits bei Klee (2001), S. 320. 120 Eyer: Läuse (1940), S. 261 f. Hervorhebung im Original. 121 Eyer (1944), S. 51.
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urteilung eingestellt wurde – war von solch einem Anschein selbstkritischer Reflexion nichts mehr zu vernehmen. Stattdessen täuschte Eyer Ignoranz vor der Geschichte vor, die, in den Worten Ludwik Hirszfelds, nicht verzeihen kann, »dass die Deutschen den Juden die Verantwortung für eine Epidemie aufbürden, die sie selbst verursacht haben«.122 München, 1972 Die Verknüpfung von Fleckfieberbekämpfung und Besatzungsverbrechen kam erneut in der vierten und letzten Ermittlung zum Tragen, in die Eyer verwickelt war und die ihn zum ersten Mal nach 1946 wieder zum Hauptverdächtigen hatte. Sie begann unmittelbar nach der Beendigung des Walbaum-Verfahrens und zog sich über vier Jahre hin – wobei vorerst überhaupt nicht klar war, dass sie sich gegen Eyer richtete. Darin kommt einerseits zum Ausdruck, wie die Zentrale Stelle in Ludwigsburg sich ab Mitte der 1960er Jahre »von der Vorermittlungsbehörde zur Koordinierungsstelle«123 entwickelte. Andererseits wird an der Ermittlung deutlich, wie chaotisch und planlos diese Koordinierung bisweilen ablaufen konnte. Im August 1968 war Ludwigsburg von der Zweigstelle in Nordrhein-Westfalen darüber informiert worden, dass der zu lebenslanger Haft verurteilte SS-Mann Heinrich Hamann (1908–1993) medizinische Versuche an vier jüdischen Häftlingen durch Ärzte eines Wehrmachts-Instituts für Fleckfieber- und Virusforschung in Krakau bezeugt habe.124 Hamann hatte nach der Besetzung Polens als Leiter des Grenzpolizeikommissariats Neu-Sandez ein sadistisches Regime über das dortige jüdische Ghetto geführt, dessen Liquidierung und die Deportation von 15.000 Juden in das Vernichtungslager Belzec überwacht und ab 1943 bei der Sicherheitspolizei Krakau gearbeitet; 1960 wurde er verhaftet und 1966 vom Landgericht Bochum verurteilt.125 Bereits 1962 hatte er über die entsprechenden Vorfälle berichtet und sich nun wieder an die Ermittlungsbehörden gewandt, um ergänzende Angaben zu machen.126 Und obwohl Hamann wiederholt einen konkreten Beteiligten nannte – »Dr. Weigl, eine Kapazität auf dem Gebiete
122 Hirszfeld (2018), S. 229. 123 Hofmann (2018), S. 307. 124 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Dortmund an Zentrale Stelle Ludwigsburg, 13.8.1968, Bl. 3 f. 125 Mallmann (2004). 126 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Heinrich Hamann, Aussage, 23.11.1962, Bl. 7 f.; Heinrich Hamann an Zentralstelle Dortmund, 26.6.1968, Bl. 4.
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der Flecktyphusforschung, war nämlich damals in diesem Institut tätig«127 –, eröffnete Ludwigsburg Ermittlungen »gegen Unbekannt«128. Der Hintergrund dieser Ermittlungen war Hamanns 1962 protokollierte Aussage, in der ersten Hälfte des Jahres 1944 hätten zwei Wehrmachtsärzte »zur Durchführung von medizinischen Versuchen um Aushändigung von 4 ohnehin dem Tode verfallenen Personen gebeten«, woraufhin er mit dem Leiter des Krakauer Gefängnisses die Übergabe von vier jüdischen Häftlingen arrangiert habe – ob es tatsächlich zur Übergabe gekommen sei, konnte Hamann ebenso wenig bezeugen wie deren konkreten Zweck; er spekulierte, dass es sich dabei »um Versuche mit Bauchtyphusbakterien gehandelt hat«, wobei er sich auf die Tatsachen bezog, dass an dem Institut ein »polnische[r] Wissenschaftler, der einen mir nicht mehr erinnerlichen deutschen Namen« trug, vor dem Krieg in Lemberg gearbeitet habe und ein ausgewiesener Experte für Typhus gewesen sei – und den er später als Rudolf Weigl identifizierte –, sowie darauf, dass »von uns einige Zeit zuvor 3 Reagenzgläser mit Bauchtyphusbakterien in einer Widerstandssache sichergestellt und dem wehrwissenschaftlichen Institut Krakau zur Begutachtung übergeben worden« seien.129 Insofern sei es wahrscheinlich, dass das Institut die Virulenz der Kulturen an den vier jüdischen Häftlingen getestet habe. Nicht nur die Verwechslung oder Identifizierung von Bauch- und Flecktyphus erweckt den Eindruck, dass hier verschiedene Dinge miteinander vermengt wurden. Auch erkannte Hamann – nach der Lektüre von Eugen Kogons (1903–1987) Buch »Der SS-Staat«, welches scheinbar auch Anlass seiner erneuerten Aussage gewesen war130 – das Krakauer Institut in der Fleckfieber-Versuchsstation der Waffen-SS in Buchenwald wieder, während andere Zeugen die Institution als »Robert Koch-Institut« für Fleckfieber- und Virusforschung identifizierten131. Die Zentrale Stelle wiederum stellte Anfragen beim Bundesarchiv, der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung, bis sie schließlich auf Bernhard Schmidt stieß, der bereits 1960 im Fußgänger-Verfahren wegen seines gemeinsamen Besuchs mit Hermann Eyer in Buchenwald befragt worden war und endlich eine konkrete Auskunft über das Krakauer Institut und seinen Leiter geben konnte132 – aus eigener Kapazität war Ludwigsburg nicht 127 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Heinrich Hamann an Zentrale Stelle Ludwigsburg, 19.11.1968, Bl. 12. Vgl. StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Heinrich Hamann, Aussage, 23.11.1962, Bl. 7. 128 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Zentrale Stelle Ludwigsburg an Leiter der Zentralstelle Dortmund, 18.9.1968, Bl. 9. 129 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Heinrich Hamann, Aussage, 23.3.1962, Bl. 60 f. 130 In seinem Buch berichtet Kogon von der Fleckfieber-Versuchsstation, auf der der seit 1939 in Buchenwald internierte politische Häftling als Arztschreiber Erwins Dings tätig war. Kogon (1946), S. 136 f. 131 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Heinrich Hamann an Zentrale Stelle Ludwigsburg, 19.11.1968, Bl. 12; Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen, Vernehmung Kurt Heinemeyer, 8.3.1971, Bl. 54 f.; Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen, Vernehmung Rudolf Körner, 24.3.1971, Bl. 59. 132 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Polizeipräsident Berlin an Zentrale Stelle Ludwigsburg, 29.5.1972, Bl. 76–78.
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auf die vorhergehenden Ermittlungen gestoßen, in die Eyer auf die eine oder andere Art verwickelt gewesen war. Und so wurde das Ermittlungsverfahren, trotz Schmidts Beteuerungen, dass sich Eyer nichts habe zuschulden kommen lassen, umbenannt: von »gegen Unbekannt« in »gegen Prof. Dr. Dr. Hermann Eyer«.133 Auch die bisherigen Vernehmungen Eyers wurden ausfindig gemacht und das Verfahren schließlich an die Münchner Staatsanwaltschaft »mit der Bitte um weitere Veranlassung« abgegeben.134 Daraufhin musste Eyer im Juli 1972 zum vierten Mal im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Verbrechen aussagen. Wie bereits 1967 bestritt er jegliches Wissen und jede Beteiligung und behauptete einen klar abgegrenzten Aufgabenbereich; weder habe er Tests an sichergestellten Typhuskulturen noch an Juden oder Gefangenen vorgenommen: »Wie ich bereits betonte, hatten wir ja keine Untersuchungen anzustellen, sondern Impfstoffe herzustellen.«135 Aufgrund einer Belegschaft, die zu 95 Prozent aus Polen bestanden habe, wären solche Versuche auch gar nicht durchzuführen gewesen. Nicht nur hier war eine erneute Verdrehung der Realität zu erblicken, sondern ebenso in Eyers Behauptung, nach dem Tod Weigls vermöge er keine weiteren »Mitarbeiter aus meiner Tätigkeit in Krakau, die zusätzliche, sachdienliche Angaben zum vorliegenden Vorfall machen könnten«, anzugeben.136 Aber diese Inkonsistenzen spielten hier genauso wenig eine Rolle, wie sie in den vorherigen Ermittlungen von Belang gewesen waren. Dies lag allerdings an der ausbleibenden Bestätigung der Anschuldigungen Hamanns durch die weiteren vernommenen Zeugen, die sich zwar an das Institut und an die Beschlagnahmung von Typhuserregern aus dem Besitz der polnischen Widerstandsbewegung erinnern konnten, aber nicht an die Überstellung von Gefangenen zu Versuchszwecken. Bemerkenswert im Hinblick auf die Verwirrung, welche die Beschäftigung mit Eyers Anteil am nationalsozialistischen Fleckfieberkomplex prägte und bis heute prägt, war die Aussage, die ein weiterer ehemaliger Krakauer Polizist in der Sache machte: Nach einem Zwischenfall hatten wir strenge Anweisungen, keine Häftlinge bezw. Verdächtige, die diesem Institut überstellt worden waren, festzunehmen. Bei den Versuchspersonen handelte es sich um Nationalpolen, die sich freiwillig gemeldet hatten. […] Zur Erklärung, warum Polen sich freiwillig als Versuchspersonen zur Verfügung gestellt haben, kann ich angeben, daß diese Polen erstens bessere Verpflegung bekommen haben, zweitens vor Verhaftungen sicher waren und dass drittens die Widerstandsbewegung […] daran interessiert gewesen ist, dort ihre Leute sicher unterzubringen.137
133 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Zentrale Stelle Ludwigsburg, Vermerk, 6.6.1972, Bl. 79. 134 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Zentrale Stelle Ludwigsburg, Schlußvermerk, 12.6.1972, Bl. 91–94; Zentrale Stelle Ludwigsburg an Staatsanwaltschaft München I, 16.6.1972, Bl. 96. 135 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I, Beschuldigtenvernehmung Hermann Eyer, 4.7.1972, Bl. 101. 136 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I, Beschuldigtenvernehmung Hermann Eyer, 4.7.1972, Bl. 101. 137 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen, Vernehmung Kurt Heinemeyer, 8.3.1971, Bl. 54 f.
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Paradigmatisch für die diametralen Perspektiven der historischen und historiographischen Auseinandersetzung um Eyer steht hier einerseits der Ausdruck »Versuchsperson«, andererseits die Freiwilligkeit dieser polnischen Probanden und ihre Bewahrung vor einer Verhaftung. Vermutlich wurden die polnischen »Läusefütterer« und »Infektoren« tatsächlich von Eyer als Versuchspersonen benutzt – wenn auch in anderer Art und Weise, als dies die bisherige Forschung infolge Ernst Klees verstanden hat, nämlich für die Verifizierung des Impfschutzes bei verringerter Dosierung. Allerdings steht ebenso zu vermuten, dass die Betroffenen von einer tatsächlichen, unfreiwilligen Ausnutzung für Versuche mit niedriger dosierten Versionen des bewährten Impfstoffs nicht dazu bewegt worden wären, dem Institut und seiner prekären Schutzfunktion den Rücken zu kehren. Die Münchner Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen Eyer ein, nicht nur aufgrund der zahlreichen Ungenauigkeiten und Widersprüche der Aussage Hamanns, sondern weil sich überhaupt nicht bestätigen ließ, dass die todbringenden Versuche an den vier jüdischen Häftlingen tatsächlich stattgefunden hatten.138 Damit endete Eyers mehr als 25-jährige Auseinandersetzung mit der juristischen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen, der immer wieder die Grenzen ihrer Aufarbeitungsmöglichkeiten aufgezeigt wurden. So brachte das letzte Ermittlungsverfahren, obwohl am ausführlichsten dokumentiert, am wenigsten neue Erkenntnisse hervor. Anstatt angeklagt zu werden, wurde Eyer mit Ehrungen geradezu überhäuft. Nachdem er schon 1957 in die Leopoldina gewählt worden war, erhielt er die Bayerische Staatsmedaille für soziale Verdienste, wurde in den Bundesgesundheitsrat, den Wissenschaftsbeirat für das Sanitäts- und Gesundheitswesen des Bundesverteidigungsministeriums, das Kuratorium der Bayerischen Akademie für Arbeits- und Sozialmedizin sowie zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie gewählt. Zu seinem 65. Geburtstag widmeten ihm seine Schüler und Kollegen eine Festschrift, in der auch seine Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg positiv hervorgehoben wurde.139 1976, zwei Jahre nach seiner Emeritierung, wurde Eyer auf Vorschlag des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung der Bayerische Verdienstorden verliehen.140 Doch damit nicht genug: 1983 initiierte Eyer selbst einen Vorschlag auf Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, wofür er die Unterstützung des Bundesverteidigungsministeriums und der Münchner Medizinischen Fakultät mobilisierte: »Es kommt ihm wohl auf das Verdienstkreuz 1. Kl. an.«141 Mit einiger Verzögerung gelangte die Initiative im April 1985 an die vorschlagsberechtigte Staatskanzlei, und schon am 22. Juli wurde Hermann Eyer mit dem 138 StAM, Staatsanwaltschaft, 37665, Staatsanwaltschaft München I, Einstellungsverfügung, 10.8.1972, Bl. 102–113. 139 Schierz (1971). 140 BayHStA, StK BayVO 2459, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung an Bayerische Staatskanzlei, 16.2.1976. Interessanterweise ist auf dem Vorschlag ein Negativvotum der Staatskanzlei vermerkt, das jedoch von der Befürwortung des Ordensbeirats und des Ministerpräsidenten überstimmt wurde. 141 ADMF, Personalakt Hermann Eyer, Brief [o. A.] an Wolfgang Spann, 28.9.1983.
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erstrebten Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt – als Begründung hierfür diente nicht zuletzt seine Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs.142 Fazit Hermann Eyer wurde als wichtiger Akteur des nationalsozialistischen Fleckfieberkomplexes in der Nachkriegszeit immer wieder mit den Verbrechen der Besatzungsherrschaft, den mörderischen Humanexperimenten und der antisemitischen Seuchenbekämpfung im besetzten Polen in Verbindung gebracht und in insgesamt vier Verfahren in den Versuch einer juristischen Aufarbeitung verwickelt. Gleichzeitig bescheinigten ihm seine Mitarbeiter und Kollegen einen aufopferungsvollen, teilweise lebensrettenden Einsatz für seine polnischen Untergebenen. Beide Sichtweisen finden sich in der historiographischen Auseinandersetzung um die Person und Tätigkeit Eyers wieder; die diametrale Bewertung, einerseits als Verantwortlicher nationalsozialistischer Verbrechen, andererseits als Retter vom Nationalsozialismus Bedrohter, ist allerdings, wie die Darstellung der vier Ermittlungsverfahren gezeigt hat, nicht auf unterschiedliche Wissensbestände zurückzuführen, sondern auf eine selektive Wahrnehmung oder Gewichtung. Angesichts der Monstrosität nationalsozialistischer Herrschaft, die Eyer aktiv gestützt hatte, verblasst die vereinzelte und instrumentelle Hilfe, die er seinen polnischen Mitarbeitern gewährte; gleichsam erlangt die Hilfe eben angesichts dieser Monstrosität, die nur aufgrund der ideologischen und praktischen Unterstützung, der Mittäterschaft so vieler Funktionsträger – nicht zuletzt von Ärzten – möglich war, ein besonderes Gewicht. Eyers Handeln lässt sich letztlich darauf zurückführen, dass er die Besatzungsverhältnisse rein aus dem Blickwinkel der Fleckfieberbekämpfung betrachtete: Dadurch rechtfertigte er Menschenversuche und die Ghettoisierung der Juden, und damit legitimierte er den Schutz »seiner« polnischen »Läusefütterer« und »Infektoren«.143 Die Monstrosität des Nationalsozialismus verlangt nach eindeutigen Urteilen, die in so vielen Fällen nicht nur emotional nachvollziehbar, sondern auch faktisch richtig sind. Das Beispiel Hermann Eyers zeigt, dass solch ein eindeutiges Urteil selbst dort, wo es von der Besatzungs- und bundesrepublikanischen Justiz angestrebt wurde, nicht jedem Fall gerecht werden konnte. Ebenso zeigt des Beispiel Eyers, dass gerade das Verlangen nach eindeutigen Urteilen sich letztlich entlastend auf die riesige Gruppe der Funktionäre und Unterstützer der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa auswirkte, zu 142 ADMF, Personalakt Hermann Eyer, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Dekanat, 30.4.1985. Vgl. auch Schreiben der Ordenskanzlei des Bundespräsidialamts an den Autor, 23.11.2018. Leider wurde eine weitere Anfrage bei der Ordenskanzlei nach den genaueren Umständen der Verleihung nicht mehr beantwortet. 143 Zur problematischen Durchsetzung persönlicher Moralvorstellungen im Nationalsozialismus vgl. Schütz (2018).
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denen auch Eyer gehörte. Nicht nur konnte Eyer keinem der verschiedenen Verbrechenskomplexe – Besatzungsherrschaft, Humanexperimente, Ghettoisierung – eindeutig zugeordnet, also seine Täterschaft positiv nachgewiesen werden. Auch wurde versucht, diese verschiedenen Aspekte isoliert voneinander aufzuklären, anstatt sie als miteinander verbundene Bestandteile jenes ideologischen Systems zu begreifen, das der Nationalsozialismus in eine massenmörderische Praxis überführt hatte. Gerade hierin sind die Grenzen der juristischen Aufarbeitung zu sehen, die es nicht vermochte, Bezüge zwischen den einzelnen Ermittlungen gegen Eyer herzustellen und auf diese Weise zu einem umfassenden Eindruck seiner Rolle im Rahmen der Fleckfieberforschung und der Besatzungsherrschaft zu gelangen. Das exemplarische Beispiel der vier Ermittlungen gegen Hermann Eyer zeigt, dass solch eine isolierte Betrachtungsweise letztlich das Gesamtbild vernebelte und es Akteuren wie ihm ermöglichte, ihre Mitverantwortung für die nationalsozialistische Politik zu verschleiern und sich erfolgreich als eigentliche Opfer historischer Ungerechtigkeit zu inszenieren. Bibliographie Archivalien Archiv des Dekanats der Medizinischen Fakultät der LMU München (ADMF) – Personalakten Archiv der Gedenkstätte Hadamar (AGH) – Sammlungen Archiv der Leopoldina, Halle/Saale (AL) – M 1 (Matrikel) Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BayHStA) – MK (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus) – StK (Bayerische Staatskanzlei) Bundesarchiv Berlin/Freiburg/Ludwigsburg (BArch) – B 162 (Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen) – R 73 (Deutsche Forschungsgemeinschaft) – R 1501 (Reichsministerium des Innern) – R 4901 (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung) – R 9361 (Sammlung Berlin Document Center) – RH 12–23 (Heeressanitätsinspektion) – RH 15 (Allgemeines Heeresamt) Staatsarchiv München (StAM) – Staatsanwaltschaft Universitätsarchiv Bonn (UAB) – MF-PA (Personalakten Medizinische Fakultät) – PA (Personalakten Universitätsverwaltung)
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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 181–200, FRANZ STEINER VERLAG
Homöopathische Vereine: große Vergangenheit – welche Zukunft? Zum 150. Jahrestag der Gründung der Hahnemannia1 Martin Dinges Summary Homeopathic associations: a great past – what kind of future? On the 150th anniversary of Hahnemannia When the Hahnemannia was founded in 1868, its main aims were health education and lobbying for homeopathy. As the strongest regional federation of homeopathic lay associations, this organization in the State of Wurttemberg soon gained importance across the entire Reich. Founded by some representatives of the upper echelons of society at the time and by providers of popular education such as teachers and clergymen, the organization had unfolded impressive advertising activities for homeopathy by the time World War I broke out. It was at that time that the homeopathic lay movement reached its zenith. Politically, this national organization could only achieve recognition but could do little for the official establishment of homeopathy. Given the lack of physicians and the difficulties in providing medicines, strengthening self-help remained its central purpose. This continued to be the case even as an increasing number of members had health insurance and healthcare became more widespread. After 1918 the Hahnemannia gradually approached its earlier standard again despite the personal and economic weakening, while the associations relied more on practical health education – including during Nazienforced collaboration. Further topics include the chances of health education within the association at the time of TV health programmes and now also the internet. The special opportunities for health education within the lay organization become apparent.
Die Gründung im Jahr 1868 Das Jahr 1868 wartete in Stuttgart mit einer beachtlichen Neuigkeit im öffentlichen Nahverkehr auf, über dessen Entwicklung auch aktuell wieder heftig diskutiert wird. Damals begann der Betrieb der Pferdebahn, aus der später (1889) die Stuttgarter Straßenbahngesellschaft hervorging. Sie fuhr auf Schienen vom
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Dieser Aufsatz ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den der Autor am 20.10.2018 in Stuttgart gehalten hat.
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Charlottenplatz2 zum Bad Berg. So konnten die Teilnehmer des Gründungskonvents der Hahnemannia dieses moderne Verkehrsmittel allenfalls kreuzen, denn vom Bahnhof – 1868 noch unweit des Schlossplatzes im Gebäude des heutigen Metropol-Filmtheaters – kam man in einer Viertelstunde gut zu Fuß in den großen Saal der Paul Weiß’schen Bierbrauerei an der Katharinenstraße im Leonhardsviertel. Im Oktober 1867 hatte ein »kleiner Verein von Freunden der Homöopathie in Württemberg, welcher seine Zusammenkünfte in Stuttgart hielt«3, zu einer Veranstaltung zur Gründung eines Landesvereins am 24. Februar 1868 eingeladen. Damit waren sie sogar fünf Jahre früher als die Sachsen tätig geworden. Die Einladenden hatten schon einen Satzungsentwurf vorbereitet, der nun von 120 Personen diskutiert werden konnte. Aufgabe des Landesvereins war nach den Statuten, »theils die zahlreichen und verborgenen Freunde der Homöopathie einheitlich zu sammeln, theils die Indifferenten und Gegner derselben durch seine Wirksamkeit von dem Werth dieser Heilart zu überzeugen«.4 Es ging also um Verbreitung der Homöopathie durch Werbung für sie und um die Sammlung aller Kräfte zu diesem Zweck. Als erster Vorstand wurden zwei ritterschaftliche Abgeordnete, nämlich Graf Cajetan von Bissingen-Nippenburg (1806–1890) aus Schramberg und Freiherr Wilhelm König von Königshofen (1822–1891) aus Königshofen bei Biberach, mit der Höchstzahl der abgegebenen 71 Stimmen (und einer Enthaltung) gewählt; Lehrer Kirn aus Stuttgart5, der die Sitzung geleitet hatte, erhielt fast ebenso viele Stimmen; Apotheker Gottlieb Zennegg (1808–1881) aus Cannstatt schon deutlich weniger, ebenso ein Ingenieur aus Altbach, ein Institutsleiter aus Stuttgart, der Fabrikant August Zöppritz (1833–1926) aus Heidenheim, ein Kirchenratssekretär aus Stuttgart und ein Pfarrer aus Gönningen6. Die ersten Entscheidungen des neuen Vorstandes betrafen die Verbreitung von Kenntnissen über die Homöopathie: Es wurde in öffentlichen Blättern das Abonnement von »Dr. Bolle’s Populäre[r] homöopathische[r] Zeitung« empfohlen, außerdem eine »kurze Anleitung für die Laienpraxis« als Flugblatt zum Druck genehmigt. Schließlich beschloss man, eine »gemeinverständliche Broschüre über das Wesen und die Vorzüge der Homöopathie« zu verfassen. Diese sollte an Lehrer und Pfarrer versandt werden.7 In der zweiten Sitzung im September ging man dann in die Offensive und griff die Gegner der Homöopathie an, insbesondere den Medizinjournalisten der Gartenlaube, Dr. Bock, gegen den man einen »Neujahrsgruß« in 1.000 Exemplaren zirkulieren ließ.8 Weitere polemische Schriften folgten. Zur Finanzierung engagierte sich früh und vorbildlich Zöppritz, indem er als Vorstandsmitglied besonders großzügig spendete. Der Landesverband wollte sich zwar nicht 2 3 4 5 6 7 8
Genauer: vom Staatsarchiv an der Neckarstraße 6 (heute Konrad-Adenauer-Straße). Statuten, § 1. In: Populäre Homöopathische Zeitung 14 (1868), H. 5, Sp. 73. Statuten, § 1. In: Populäre Homöopathische Zeitung 14 (1868), H. 5, Sp. 73. Möglicherweise Joseph Kirn (1824–1911), Oberlehrer. Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 3 f. Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 3 f. Zu Bock: Mildenberger (2012).
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auf Aktionen gegen den Impfzwang festlegen, war aber bereit, den Backnanger Verein, der das beantragt hatte, bei seinen Aktionen zu unterstützen. Im Dezember 1868 beschloss man den Versand guter Bücher an junge allopathische Ärzte. Im folgenden Jahr wurde die Broschüre »Die Wahrheit in der Medizin«, vom Lehrer Kirn redigiert, in 11.000 Exemplaren gedruckt und an sämtliche württembergischen Lehrer und Pfarrer geschickt. Ein »sauber gebundenes Exemplar ging an Seine Majestät den König Karl«.9 Im Winter 1869/70 erhielt man eine Audienz beim Staatsminister des Inneren, aber keine Zustimmung für die Errichtung eines Lehrstuhls für Homöopathie an der Landesuniversität Tübingen.10 Während des Deutsch-Französischen Krieges annoncierte der Verein reichsweit »Dr. Bolle’s Wundheilmethode«, empfahl als Wundheilmittel Arnica und Calendula und sandte Gratis-Proben an Lazarette mit der Bitte um versuchsweise Verwendung. Ein gut vernetzter Verein … Die ersten Schritte der Hahnemannia wurden so ausführlich geschildert, um die Aktivitäten und Verhältnisse der Gründungszeit möglichst anschaulich zu machen. Schon die gewählten Ausschussmitglieder verweisen auf die damaligen politischen Gegebenheiten. König Karl hatte bei Regierungsantritt 1864 zwar die Erwartungen der Liberalen erfüllt: Die Presse- und Vereinsfreiheit wurde wiederhergestellt, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit wurden garantiert. Die Juden erhielten die vollen Staatsbürgerrechte. Im Königreich Württemberg bestand aber weiter ein Zweikammersystem. In der ersten saßen die Prinzen von Geblüt und vom König berufene Mitglieder wie die beiden bereits genannten Adeligen, die auch bei der Vorstandswahl der Hahnemannia die meisten Stimmen erhielten. Immerhin wurde im Gründungsjahr des Landesvereins das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht für die Abgeordneten der zweiten Kammer eingeführt. Nach damaligem Verständnis galt das »selbstverständlich« nur für Männer – übrigens bis 1918. Gute Beziehungen zum Königshaus hatten also durchaus ihre Bedeutung. Mochte der Monarch selbst auch nur seinen Sekretär beauftragen, ein formelles Dankesschreiben für die übersandte Broschüre zu verfassen, so erwies sich Königin Olga (1822–1892) auf die Dauer als wichtige Bündnispartnerin der Homöopathen. Selbst kinderlos, engagierte sie sich besonders für Frauen und Kinder. Sie unterstützte und gründete Krankenhäuser, Kinderheime, Waisenhäuser, Mädchenschulen und Ausbildungsstätten für Lehrerinnen sowie Krankenpflegerinnen.11 Bereits 1847 übernahm Olga die Schirmherrschaft 9 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 5. 10 Lucae (1998), S. 106 ff., 133 ff. 11 1872 richtete die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins zusammen mit dem Württembergischen Sanitätsverein am Städtischen Krankenhaus Heilbronn eine Krankenpflegeschule ein, aus der die nach Königin Olga benannte evangelische Olgaschwesternschaft hervorging.
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über die Stuttgarter Heilanstalt für Kinder, das Olgahospital. Bis zu ihrem Lebensende versuchte sie, eine homöopathische Abteilung in einem der von ihr geförderten Krankenhäuser durchzusetzen, was ihr aber letztlich misslang.12 Immerhin wirkte der Homöopath Prof. Paul von Sick (1836–1900) als leitender Arzt von 1866 an bis 1900 am gerade neu erbauten Diakonissenhaus und wurde im gleichen Jahr in das Medizinal-Kollegium berufen. Beides mag den Homöopathen zusätzlich Mut zur Gründung eines Landesvereins gemacht haben. Dieses Krankenhaus war auf Anregung evangelischer Kreise insbesondere zur Ausbildung von Krankenschwestern gegründet worden. Die Initiative für neue Kranken- und Waisenhäuser oder Spezialkliniken sowie für die fachliche Ausbildung von Pflegepersonal ging also oft vom Hof und in Württemberg von der hier dominanten evangelischen Kirche aus. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird verständlich, warum der Ausschuss, in dem auch zwei Kirchenvertreter und ein Lehrer saßen, den Versand seiner Homöopathie-Broschüren an alle Lehrer und Geistlichen im Lande plante. Beide Berufsgruppen waren bereits hundert Jahre zuvor in der medizinischen Volksaufklärung als Multiplikatoren für die Gesundheitserziehung tätig geworden. Die Homöopathen griffen also eine weiterwirkende Tradition auf. Die Kirchen selbst hatten die Hygienebildung als eine ihrer Aufgaben angenommen. Das firmierte als »Pastoralmedizin«.13 So konnten von der Kanzel weltliche Hygienehinweise vermittelt werden. Es lag deshalb für den neuen Landesverein nahe, diese wichtigen Vermittler auch für die eigenen Anliegen zu mobilisieren. Außerdem bestand während der ersten Jahrzehnte immer mindestens ein Viertel der Mitglieder aus Lehrern und Geistlichen. Diese Mitgliederstruktur verweist auf die Besonderheit des Landesverbands. Hier traf sich neben den genannten Berufsgruppen auch noch eine beachtliche Zahl von Laienpraktikern, Wundärzten und später auch Ärzten. Diese hatten eher höhere Bildungsabschlüsse als die Handwerker, Arbeiter und sonstigen Kleinbürger in den Lokalvereinen.14 … zur Gesundheitsbildung Insofern ist es gar nicht überraschend, wie stark bei den ersten Entscheidungen des neuen Vorstandes die Verbreitung von Kenntnissen der Homöopathie betont wurde. Gleich als Erstes wurde eine »kurze Anleitung für die Laienpraxis« als Flugblatt gedruckt und breit gestreut. 20 Jahre später gab man eine kurze Anleitung für die Hauspraxis heraus, die dieses Flugblatt ersetzen sollte. Das 31 Seiten starke kleine Buch erlebte von 1888 bis 1892 sechs Auflagen à 1.000 Stück, weitere folgten.15 Die Hahnemannia widmete es pikanterweise den »württembergischen Volksvertretern«, die ihre Anträge bekanntlich eher 12 13 14 15
Held (2001), S. 78 ff. Pompeÿ (1968). Walther (2017), S. 50–55. Haehl (1897).
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zurückhaltend aufgenommen hatten. Auf jede Druckseite folgte eine Leerseite, so dass der Benutzer Notizen zu eigenen Erfahrungen nachtragen konnte. Ebenfalls bereits 1868 hatte man das Abonnement von »Dr. Bolle’s Populäre[r] homöopathische[r] Zeitung« empfohlen. Diese gab es seit 1855 und wurde 1858 schon in 7.000 Exemplaren gedruckt.16 Sie hatte den Untertitel »zur Aufklärung des Volkes über Wirksamkeit und Wesen der homöopathischen Heilmethode«. In ihrer ersten Nummer stellte sie sich dem Leser als Ersatz für den fehlenden Universitätslehrstuhl vor. Die Zeitschrift wolle so »begreiflich sein, dass es jeder verständige Bauersmann begreifen kann«.17 So könne sich jeder selbst über die Grundsätze der Homöopathie kundig machen. Ihre Inhalte waren ursprünglich Grundsatzartikel über die Homöopathie, Polemik gegen ihre Gegner, viele Heilungsgeschichten, Ausbreitung der Homöopathie, außerdem literarische Anzeigen, Werbung für homöopathische Apotheken, Briefe, Klinikberichte, Schilderungen von den Versammlungen homöopathischer Ärzte sowie Bekehrungsgeschichten von vormals allopathischen Ärzten. Im Gründungsjahr der Hahnemannia hatte sich das Spektrum bereits weitgehend eingeengt auf viele Berichte aus der ärztlichen Praxis; außerdem schrieb der Prediger Kunze einen Mehrteiler über »Die Parasiten«, Themen waren auch die Rinderpest und ein »Neujahrsgruß an Dr. Bock«.18 Die Zeitschrift stellte 1871 ihr Erscheinen ein.19 Das dürfte mit einer der Gründe gewesen sein, weshalb die Hahnemannia ab 1873 zunächst alle zwei Monate Mitteilungen im Umfang von sechs bis acht Seiten publizierte. Ein anderer Anlass war der Versuch, Druck auf die Abgeordnetenkammer und staatliche Kommissionen zu machen, die Petitionen der Hahnemannia endlich zu behandeln. Man fühlte sich dazu also schon stark genug und zeigte mit der Zeitschrift, fünf Jahre nach Verbandsgründung, dass man sich schlagkräftige Instrumente für die weitere Tätigkeit schaffen wollte. In dieser noch bescheiden Mittheilungen an die Mitglieder der »Hahnemannia« genannten Publikation waren Artikel zur Arzneimittelkunde, zu homöopathischen Einrichtungen in anderen Ländern und Vereinsberichte zu lesen; außerdem sollte über eigene Erfahrungen berichtet werden. 1876 entstand daraus die monatlich erscheinende größere Zeitschrift, die Homöopathischen Monatsblätter. Sie boten ebenfalls Artikel zu einzelnen Wirkstoffen, zur Behandlung von Krankheiten und Rezensionen von Büchern zur Homöopathie, außerdem viel Impfkritik. Die Auflage stieg über 4.023 Exemplare im Jahr 1887 auf 8.000 1905.20 16 1858 erhöhte sich die Auflage von 4.000 auf 7.000 Exemplare. Vgl. Populäre Homöopathische Zeitung 4 (1858), H. 1, Sp. 1. 17 Populäre Homöopathische Zeitung 1 (1855), H. 1, Sp. 2. 18 Populäre Homöopathische Zeitung 14 (1868), H. 10, Sp. 158, 185 ff. 19 Der Herausgeber war damals schon seit fast zehn Jahren Badearzt in Aachen, führte eine Apotheke, vertrieb Wundverbände und versuchte sich an einer eigenen Klinik. 20 IGM, Bestand V 7, S. 136. 1903: 4.929 bezahlte Exemplare, vgl. Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 34; 1905: 8.000 gedruckte Exemplare, vgl. IGM, Bestand V 8, Stück 19. Dazu dürfte auch die Kopplung der Delegiertenzahl bei den Jahresversammlungen an die Anzahl abonnierter Monatsblätter beigetragen haben (1900): Walther (2017), S. 100.
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Man versuchte auch, die so entstandene Marktmacht politisch für die Homöopathie zu nutzen. So wurde der Druckerei des Stuttgarter Neuen Tagblatts 1883 der Druck der Homöopathischen Monatsblätter entzogen. Begründet wurde das damit, dass sich die Redaktion des Neuen Tagblatts mehrfach geweigert hatte, Artikel aufzunehmen, welche ihr der Ausschuss der Hahnemannia zugestellt hatte.21 Der Vorstand wollte durch seine Druckaufträge also die Tagespresse auch inhaltlich beeinflussen, was ihm aber offenbar misslang. Die Hahnemannia verfolgte im Kern ein Ziel, das man heute als Gesundheitsbildung bezeichnen würde.22 Dabei zielte sie auf die eigenständige Handlungskompetenz der Mitglieder. Dazu passt es gut, dass die Hahnemannia selbst und die Lokalvereine oft als erste Maßnahme eine Bibliothek aufbauten, aus der sich die Mitglieder Bücher und Zeitschriften ausleihen konnten. Besonders beliebt waren die konkreten Anleitungen zum Gebrauch der Homöopathie, die häufig in mehreren Exemplaren angeschafft wurden. Die Hahnemannia hatte aber auch schon bald das Problem aller Leihbibliotheken: »Längst ausgeliehene« Bücher wurden nicht zurückgegeben, so dass man dazu in den Mittheilungen auffordern musste.23 Arzneimittelversorgung Schließlich sei noch auf ein weiteres Mitglied des ersten Hahnemanniavorstands hingewiesen, den Apotheker Gottlieb Zennegg. Der gründete 1857 die erste homöopathische Apotheke in Württemberg, und zwar in Cannstatt.24 Seit 1860 firmierte sie als homöopathische »Zentralapotheke«, hatte bis 1881 aber nur das Recht, en gros zu verkaufen.25 Erst danach entstand in ganz Württemberg das staatlich anerkannte Netz von 40 homöopathischen Apotheken in den Amts- bzw. Oberamtsstädten.26 Damit ist ein weiteres Betätigungsfeld der Hahnemannia angesprochen, das von ihrer Gründung bis zur Jahrhundertwende immer wieder wichtig wurde. Die Frage nach der Versorgung mit homöopathischen Arzneien begleitete das neue Heilsystem schon seit seiner Gründung. Hahnemann selbst hatte sich bekanntlich für das Dispensierrecht der Ärzte starkgemacht. Er begründete das mit der Qualität der Medikamente – und dem Kollegen Dr. Ju21 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 22. 22 Sie war nicht ganz konkurrenzlos, denn die Gartenlaube verbreitete eher Homöopathiekritisches durch den Redakteur Bock. Erst ab 1912 vermittelte das Hygienemuseum in Dresden schulmedizinisch geprägte, ärztliche Gesundheitsbildung: anatomische Belehrung und prophylaktische Ratschläge, aber keine Therapieempfehlungen – das fördert weniger die Selbsttätigkeit. Unter den aktuellen Zielen der Hahnemannia wird erwähnt: »In unseren Vereinen wird das notwendige Wissen zur Erhaltung der Gesundheit vermittelt.« https://www.hahnemannia.de/index.php/ueber-uns/ (letzter Zugriff: 4.5.2020). 23 Mittheilungen an die Mitglieder der »Hahnemannia« (1873), Nr. 5, S. 8. 24 Winterhagen (2018), S. 160–164. 25 Eppenich (1995), S. 332, Anm. 15. 26 Siehe dazu Winterhagen (2018), S. 170 ff.
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lius Aegidi (1795–1874) gegenüber auch mit dem dadurch generierten zusätzlichen Einkommen. Diese Einnahmen entgingen den Apothekern, die entsprechend starke Widerstände entwickelten. Bekanntlich führten sie zu Hahnemanns Umzug aus Leipzig nach Köthen, wo er wieder selbst dispensieren durfte. Dieses Recht der Ärzte, Arzneien selbst herzustellen und zu verkaufen, taucht immerhin in einer der ersten Sitzungen des Vorstands der Hahnemannia auch als Thema auf, das man weiter im Blick behalten müsse. Eine Eingabe an die württembergische Ständekammer wurde 1870 wegen Schluss der Kammersitzungen aber nicht mehr behandelt. Wichtiger wurde die eigenständige Organisation vieler Vereine, die ihre Mitglieder auf andere Weise mit Medikamenten versorgten. Sie entschieden sich für die Beschaffung von Vereinsapotheken. So konnte man die Mitglieder auf dem Dorf oder in der Kleinstadt selbst umgehend mit den nötigen Wirkstoffen ausstatten. Einführungskurse von sechs oder zehn Abenden machten die Teilnehmer kompetent. Sie konnten die Vereinsapotheke aber auch zur Entnahme verschriebener Mittel nutzen. Bestückt wurden diese »Schrankapotheken«, wie sie auch wegen des Aufbewahrungsortes hießen, durch den Versandhandel, z. B. der Cannstatter Zentralapotheke oder der Leipziger Firma Schwabe.27 Allerdings hatten die Schwaben schon damals einen präzisen Sinn für regionale Wirtschaftsförderung. So bewarb die Hahnemannia zeitweise bevorzugt im »Ländle« hergestellte Vereinsapotheken.28 Die Vereinsapotheke diente aber auch noch einem weiteren Zweck: Man konnte sich von lokalen Apothekern unabhängig machen – und die Preise drücken. Man hielt dem Apotheker einfach die günstigen Versandangebote vor – und drängte auf entsprechende Rabatte. Das wiederum begeisterte die Apotheker nicht gerade; sie hatten aber schließlich und endlich in diesem und in anderen Punkten die staatliche Apothekenaufsicht auf ihrer Seite. Die Medizinalbehörde zog es nämlich vor, die ihr zustehenden Rechte gezielt auszuüben, zum Beispiel fachliche Standards für die Apotheken und deren Personal festzulegen und die Qualität der Arzneimittel zu kontrollieren. Auch aus diesem Grund bestand sie mit einer entsprechenden Verordnung im Jahr 1883 auf dem 600 Jahre alten Monopol der Apotheker bei der Herstellung von Arzneimitteln.29 Die Hahnemannia hatte in diesen Auseinandersetzungen also einen schweren Stand, kämpfte aber beharrlich für die Interessen der Vereine und ihrer Mitglieder. Dabei ging es juristisch gar nicht mehr um Qualitätsargumente, sondern um rein gewerberechtliche Fragen. Die Polizei konfiszierte regelmäßig Vereinsapotheken oder erstattete Anzeigen gegen Vereinsmitglieder. Es kam sogar zu Strafprozessen. Dabei war zu klären, ob die Vereinsapotheken als Gemeinbesitz aller Mitglieder zu betrachten waren oder nicht. Bei gemeinschaftlichem Besitz lag keine »Überlassung von Medikamenten an Dritte« mehr vor, das wäre also unproblematisch und straffrei gewesen. Betrachtete man die Ver27 Winterhagen (2018), S. 107 ff. 28 Baschin (2012), S. 198. 29 Winterhagen (2018), S. 154 ff.
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einsapotheken als »apothekenähnliches Institut«, dann war die Führung ohne Apothekenlizenz verboten. Auch der Verweis eines Vereins, man habe nur von der Hofapotheke Mayer in Cannstatt gelieferte, also geprüfte Arzneien verwendet, zog dann schon in den 1890er Jahren nicht mehr.30 Der Ausschuss der Hahnemannia beglückwünschte tapfer den Verein aus Königsbad in Baden, der 1902 einen Freispruch am Großherzoglichen Landesgericht erwirkt hatte; allerdings war dort die Gesetzeslage anders als in Württemberg.31 Hier versuchte man einen anderen Ausweg aus der Klemme: Vereine lösten die große gemeinsame Vereinsapotheke auf und verteilten den Inhalt auf viele kleine Hausapotheken. Man tröstete sich damit, dass die Mitglieder dann »etwas Handfestes in der Hand« hätten, »statt« Mittel »abholen« zu müssen.32 Allerdings geriet damit die hochgeschätzte Einführung neuer Mitglieder in den Gebrauch der homöopathischen Ratgeberliteratur und der
Abb. 1: Hausapotheke von Hering-Haehl aus der Hom. Centralapotheke Hofrat V. Mayer in Cannstatt (Bildarchiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung)
30 Baschin (2012), S. 255 ff., 261. 31 Baschin (2012), S. 263. 32 Baschin (2012), S. 265 (Zitat), 269.
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Vereinsapotheken etwas aus dem Blick. Das nahm man sehr wichtig, denn man wollte verhindern, dass die Anfänger durch eine nicht passende Mittelwahl das gerade erst gewonnene Vertrauen in die Homöopathie schnell wieder verlören.33 Um die Kosten niedrig zu halten, füllte z. B. der Verein in Dettingen dann über Großbezug nach. Aber auch das wurde 1903 endgültig verboten. So musste man mit dem örtlichen Apotheker einen Rabatt für Sammelbestellungen vereinbaren. Man kann an diesem Thema auch die Grenzen der Reichweite des Landesvereins beobachten. Trotz entsprechender Verbote im Jahr 1894 bestanden danach etliche Vereinsapotheken weiter, manche wurden erst 1930 aufgelöst, manche auch dann immer noch nicht.34 Das große Engagement der Hahnemannia für die Vereinsapotheken ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt relevant, eine gesichert gute Qualität der Mittel zu gewährleisten. Es hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. Hintergründe Man muss sich dazu in Erinnerung rufen, dass es noch lange Zeit nach dem Gründungsjahr 1868 keine Pflichtkrankenkasse für die Bevölkerung gab. Erst 1883 entstand die Krankenversicherung, die aber nur für Arbeiter mit geringem Lohn gedacht war. Das betraf nur die Ärmsten. Erst langsam wurde die Kasse für weitere Geringverdiener geöffnet, 1911 für Angestellte, 1918 auch für Arbeitslose. Eine eigene Arbeitslosenversicherung wurde erst im Jahr 1927 eingeführt. Die Leistungen der Krankenversicherung waren und blieben lange Zeit gering. Auch wurden erst Schritt für Schritt die Familien mitversichert: So konnte anfangs der Arbeiter zwar für sich selbst Leistungen beziehen, aber noch nicht für seine Frau oder seine Kinder. Das deutsche Versicherungssystem war und ist ja immer noch stark an das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses gebunden. Das gilt ebenso für die 1884 eingeführte Unfallversicherung und die 1889 begründete gesetzliche Rentenversicherung, ursprünglich eine Invaliditäts- und Altersversicherung. Man bezog damals eine Altersrente ab dem 70. Lebensjahr (bei einer wesentlich geringeren Lebenserwartung als heute) sowie eine Invalidenrente bei Erwerbsunfähigkeit. 1916 wurde die Rentenaltersgrenze von 70 auf 65 Jahre herabgesetzt. Voraussetzung für die Altersrente waren mindestens 30 Jahre Beitragszahlung mit der damals üblichen 60-Stunden-Woche. Da also wesentliche Risiken – neben Krankheit selbst auch die Erwerbsunfähigkeit wegen Invalidität und das Alter – nur über eine sehr schlechte Absicherung verfügten, waren die Bewahrung und die Wieder33 Baschin (2012), S. 232. Selbstkritisch schilderte man in Fellbach den Eindruck, »[b]loß Mitglieder in Krankheitsfällen« zu haben, die ansonsten zu wenig Interesse an Vorträgen hätten. Auch war das Interesse an Vorträgen zur Information und allgemeinen Belehrung geringer als an denjenigen zur Selbstbehandlung. 34 IGM, Bestände V 43, 47, 49 (1930).
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herstellung der Gesundheit existentiell. Das galt für alle, die mit ihrer Körperkraft ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Dabei zählte jeder Pfennig bzw. Kreuzer, den man nicht an den Apotheker oder an einen Arzt zahlen musste. Selbsthilfe und Selbstmedikation im Krankheitsfall waren also ganz wichtige Beiträge zur Stabilisierung des Familieneinkommens.35 Lobbyaktivitäten Über diese direkt praktisch relevanten Aktivitäten hinaus wirkte der Verband in den württembergischen Kammern und im Reichstag auch generell als Lobbyist für die Homöopathie. Neben den bereits berichteten Bemühungen um das Selbstdispensierrecht der Ärzte und für die Vereinsapotheken versuchte man ab 1886 und immer wieder bis 1892 sicherzustellen, dass nur solche Ärzte in der Medizinalverwaltung Angelegenheiten der Homöopathie überprüften, die nachweisbar Kenntnisse in dieser Heilweise erworben hatten. Das fand zwar bald Aufnahme in den Gegenstandskatalog der Physikatsprüfung – also der Prüfung für die Amtsärzte –, aber die Hahnemannia kritisierte zutreffend, dass die Mediziner an der Landesuniversität ja nichts über die Homöopathie mitbekamen. Auch wurden weiter nur allopathische Ärzte zu ordentlichen Mitgliedern des Medizinalkollegiums ernannt.36 Der Einsatz für einen Lehrstuhl an der Tübinger Universität blieb 1872 ebenso wie 1892, 1901, 1907 und 1913 erfolglos.37 In den Kammern und in Ministerien hieß es immer wieder, man könne sich nicht in die Autonomie der Universität bei Berufungen und in die Freiheit der Lehre einmischen, indem man das Vertreten bestimmter medizinischer Richtungen vorschreibe. Außerdem sei es nicht Aufgabe der Politik, über Sinn und Unsinn medizinischer Systeme zu entscheiden. So war es klug, dass der überaus engagierte Sekretär der Hahnemannia, August Zöppritz, früh auf die eigene Kraft setzte: Er initiierte nach den ersten frustrierenden Erfahrungen 1880 die »Stiftung für Studierende der Medizin«. Dazu warb er Spendengelder von adeligen Vorstandsmitgliedern und Unterstützern sowie der Königin Olga ein.38 1890 und 1891 überwies auch die Hahnemannia Geld an den Stiftungsfonds. Dieser machte Buchspenden an junge Ärzte, finanzierte sogar teilweise Studienstipendien und zeitigte beachtliche Erfolge: Von 20 Kandidaten wurden und blieben neun Homöopathen, 35 Viele Berichte zur Selbstmedikation bietet Baschin (2012), die kürzlich auch auf die Rolle der Männer hinwies: Baschin (2019). 36 So etwa 1892: Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 24 f., 30 f. 37 Lucae (1998), S. 106 ff., 133 ff. Der Kampf für die Lehrstühle belegt übrigens, wie wenig grundsätzliche Kritik an der Wissenschaft geübt wurde; teilweise orientierte man sich an Wissenschaftlichkeit und am Wissenschaftssystem: Es ging nicht um Ersetzung, sondern Mitgestaltung einer anerkanntermaßen von Ärzten dominierten gesundheitlichen Praxis. Auch frönte man nicht einem romantischen Naturbegriff (wie die Naturheilbewegung), sondern nutzte gezielt Arzneien. Ich folge hier Wolff (1985). 38 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 20.
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drei wurden Allopathen und vier andere Kandidaten brachen das Studium ab, einer verstarb sogar; drei weitere werden 1893 als künftige Homöopathen geführt. Das ist mit zwölf für die Homöopathie gewonnenen Ärzten eine gute Erfolgsquote.39 Außerdem würde die Art, wie Zöppritz hier auf Heller und Pfennig seine eigene Arbeit evaluierte, auch heute noch jeder Stiftung Ehre machen.40 Man hatte nur etwa zwölf Prozent der Gelder an schließlich ungeeignete oder unwillige Kandidaten vergeben. Engagiert hatte sich die Hahnemannia auch im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. In ihrem Gründungsjahr hatte Württemberg gerade eine Heeresreform nach preußischem Modell beschlossen, so dass das Militär ein aktuelles Thema war – und in den folgenden Jahrzehnten immer wichtiger wurde. Der Landesverband wollte in diesem politischen Klima die gesellschaftliche Nützlichkeit der Homöopathie herausstellen und versorgte dazu Lazarette mit Arnica und Calendula als Wundheilmittel. Allerdings sandte man die GratisProben an Lazarette weit hinter der Front. Die Militärverwaltung erklärte, dafür gar keinen Bedarf zu haben, weil man keine Akutfälle behandle. Diese Aktion war also etwas zu wenig durchdacht. Allerdings wurden im Ersten Weltkrieg sogenannte Kriegsapotheken von Mitgliedern im Feld eingesetzt. Sie erwiesen
Abb. 2: Kriegsapotheke im Auftrag der Hahnemannia (Bildarchiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung)
39 Hattori (2002), S. 271 f. 40 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 44.
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sich dort als gute Werbung für die Homöopathie. Die Hahnemannia-Protokolle erwähnen schon im ersten Kriegsjahr dankbare Schreiben von Soldaten. Auch die Eröffnung eines Lazaretts durch die Homöopathen in Stuttgart führte 1915 zum Eintritt neuer Mitglieder, wie man erfreut feststellte.41 Gänzlich erfolglos waren die Aktivitäten gegen den Impfzwang, die einen großen Raum in den Blättern und in den Vorstandsaktivitäten einnahmen. Ob Reichstagsanträge, eine in 20.000 Exemplaren gedruckte Beilage zum Stuttgarter Neuen Tagblatt (1876), Eingaben an das Ministerium des Innern (1878), an das Reichsgesundheitsamt, den Reichstag etc. – nichts fruchtete. Schlimmer noch: Eine Publikation über Problemfälle aus dem württembergischen Impfwesen brachte Zöppritz als verantwortlichem Redakteur 1880 eine Verurteilung zu fünf Wochen Festungshaft ein – wegen Unzuverlässigkeit einzelner Zeugen, wie er selbst einräumte. Die Zeit musste er im Mai/Juni 1882 auf dem Hohenasperg absitzen. Allerdings erwies sich die Hahnemannia bereits in den 1870er Jahren als ausgesprochen organisationsfähig. Wegen der durch die Herausgabe der Monatsblätter gewachsenen Aufgaben erhielt der Vereinssekretär Zöppritz als Redakteur zunächst monatlich zehn Mark, 1877 dann 15 Mark als Aufwandsentschädigung; der Lehrer Kirn erhielt für den Versand der zunächst nur 200 Exemplare Homöopathischer Monatsblätter ebenfalls »eine kleine Vergütung«. 1878 gab Zöppritz seine Stelle in der Grub’schen Milchkuranstalt auf und arbeitete nun hauptamtlich für einen Lohn von 100 Mark monatlich für die Hahnemannia. Der stieg 1880 auf 1.800 Mark pro Jahr, 1887 auf 2.100 Mark. Man kann die Beschäftigung eines Hauptamtlichen als Professionalisierung der Vereinsarbeit deuten. Um die Jahrhundertwende amtete dann der Arzt Richard Haehl als Vereinssekretär.42 Sein vorsichtigeres Vorgehen in der Öffentlichkeit soll der Hahnemannia gutgetan haben. Er hielt überall Vorträge, oft mit dem Ziel, so Vereinsgründungen anzuregen.43 Dazu dienten auch sogenannte »Agitationswanderungen«, die Vereinsmitglieder in ein Nachbardorf oder eine Nachbarstadt unternahmen. Der jährliche Zuschuss für einen Vortrag war übrigens eine der wichtigsten Leistungen des Landesverbands, den die Vereine von der Hahnemannia im Gegenzug für ihre Beiträge erhielten.44 Haehl publizierte außerdem viel in den Monatsblättern, die er zeitweise auch herausgab, und aktualisierte die Handreichungen für die Selbstmedikation sowie Constantin Herings Ratgeber »Homöopathischer Hausarzt«. Neun Jahre nach der Gründung hatte sich die Mitgliederzahl bereits auf 1.156 verzehnfacht, im nächsten Jahrzehnt verdreifachte sie sich auf 3.660 und 41 IGM, Bestand V 8, Stück 20, S. 4; vgl. Baschin (2012), S. 198. 42 In der Geschäftsstelle wurde eine »geeignete Person« angestellt, s. Homöopathische Monatsblätter 29 (1904), H. 10, S. 149. 43 Vortrag von Richard Haehl über die Behandlung bestimmter Krankheiten wie Masern, Influenza, Diphtherie, vgl. Baschin (2012), S. 236. 44 Die Chancen, Kosten um bis zu 50 Prozent reduzieren zu können, entstanden durch die Vereinsmitgliedschaften bei Arzneimittelbezug; außerdem bei Inanspruchnahme des Vereinsarztes, Buchbezug sowie Ausleihe aus der Vereinsbibliothek. Manchmal waren auch Rabatte z. B. bei Eintritt in öffentliche Bäder vereinbart.
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erreichte ihren Höchststand im Jahre 1914 mit 12.800 Personen in 121 Vereinen. Das entsprach 0,6 Prozent der Bevölkerung, mit Angehörigen sogar 2,3 Prozent.45 Der Hahnemannia war es dadurch gelungen, in Württemberg die Homöopathen zur größten Laienbewegung zu machen, während sonst im Reich die Naturheilvereine diese Rolle spielten. Innerhalb der deutschen homöopathischen Laienbewegung spielten die Württemberger deshalb auch eine viel größere Rolle, als es ihrem Anteil an der Reichsbevölkerung entsprochen hätte. Sie stellten bei den verschiedenen Versuchen reichsweiter Zusammenschlüsse immer etwa ein Drittel aller Laien. Tab. 1: Mitgliederzahlen der Hahnemannia und anderer homöopathischer Landesvereine (Quellen wie Tab. 2) Hahnemannia Jahr
Mitglieder
1868
116
1887
3.660
Sachsen
Deutsches Reich
2.000; 19 Vereine 8.000
84
5.500; 60 Vereine
1913 1914
RheinlandWestf.
Vereine
1904 1910
Baden
4.500; 46 Vereine 12.800
121
1927
keine Angabe; 150 Vereine
1930
38.000; 348 Vereine
1933
7.540; 87 Vereine
1936
48.000
1958
4.000
1965
5.200
63
1975
4.000
52
1983
3.900
42
1992
4.382
48
2008
5.300
2011
4.800
2015
4.100
45 Wolff (1985), S. 67.
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Vielleicht waren die Rheinländer in der Organisation der Geselligkeit aber noch ein bisschen weiter: Unter ihrer Ägide entstand bereits im Jahr 1900 das erste Liederbuch für homöopathische Vereine. Dabei kooperierten sie erfolgreich mit Preußen und Sachsen, während die Schwaben fehlten. Die brachten es erst 1933 – unter Federführung der Göppinger – zu einem Liederheft mit nur knapp halb so vielen Seiten. Die Bilanz des ersten halben Jahrhunderts der Hahnemannia war also durchaus beeindruckend. Man hatte – ganz im Sinn der Statuten – zahlreiche Freunde der Homöopathie einheitlich gesammelt und zumindest Indifferente von dem Wert dieser Heilart überzeugt; inwieweit das auch für Gegner galt, lässt sich weniger gut sagen. Dafür war ein gut organisierter Lobbyverband entstanden, der in der Öffentlichkeit ein gewisses Gewicht hatte, bei den Behörden aber mit fast allen seiner Anliegen auf Granit stieß. Das galt auch für die praktisch bedeutsame Frage der Vereinsapotheken. Am erfolgreichsten war die Hahnemannia in der Gesundheitsbildung. Immerhin wurde 1918 in den Monatsblättern des 50-jährigen Jubiläums gedacht – aber zum Feiern war der Ausschuss wegen des Krieges nicht gestimmt. In seinem Namen wollte sich der Vorsitzende Immanuel Wolf (1870–1964) nur »im Stillen des in fünfzig Jahren Erreichten erfreuen«.46 1918 Mit Blick auf die schwierigen Nachkriegsjahre im Volksstaat Württemberg sei an die Lebensmittelkarten und die dann folgende zwischenzeitliche Stabilisierung erinnert. Nun wurden auch die Familienmitglieder in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen, so dass nicht berufstätige Mütter und Kinder mitversichert waren. Homöopathische Ärzte und Apotheken waren leichter erreichbar, da das Versorgungsnetz dichter geworden war.47 Die Mitgliederzahlen der Hahnemannia stabilisierten sich bis 1930 etwas unterhalb des Vorkriegs-Höchststandes bei ca. 10.000.48 Die Frauen prägten in der Zeit der Weimarer Republik die homöopathische Laienbewegung viel stärker als früher49: Sie bevorzugten gegenüber den Vortragsabenden praktische Kurse, die aus den Übungen zur Versorgung Verletzter während des Weltkriegs entstanden waren. Krankenpflege-, Gymnastik- und Kochkurse
46 Homöopathische Monatsblätter 43 (1918), H. 3–4, S. 13. 47 Diese Entwicklung setzte sich bis in die heutige Zeit fort: Gemäß § 75 SGB V haben die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen die »Sicherstellung der ärztlichen Versorgung« zu gewährleisten. 48 Schätzung auf folgender Grundlage: 11.123 im Jahr 1933 im Süddeutschen Verband, zu dem aber auch Baden und einzelne weitere Vereine gehörten. 49 Mitglieder durften sie schon immer sein, siehe Statuten in Mittheilungen an die Mitglieder der »Hahnemannia« (1874), Nr. 8, S. 8.
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wurden zumeist exklusiv für die Frauen und von ihnen organisiert. Außerdem gründeten sie Jugendgruppen, die den Vereinsnachwuchs fördern sollten.50 Hinsichtlich der NS-Zeit soll es genügen, aus dem Protokoll der Verbandsversammlung am 31. Mai 1933 im Ludwigsburger Bahnhotel zu zitieren. Sie fand vier Monate nach der Machtübergabe an Hitler statt. Der Vorsitzende, Oberreallehrer Wolf, eröffnete das Treffen mit Bemerkungen über die völlig neue Lage, die sich in den letzten Wochen ergeben habe: Ja wir müssen die neue Bewegung, die über das deutsche Volk kam und eine neue Regierung schuf, geradezu begrüßen; denn durch sie werden wir, unsere homöopathische Bewegung, ein wesentlicher Faktor im gesamten Gesundheitswesen unseres Volkes werden; wozu auch wir in den Verbänden und Vereinen die Gleichschaltung im Sinn der neuen Regierung vornehmen müssen.51
Zur neuen Lage gehörte auch, dass weder der Geschäftsbericht vorlag noch die Kassenbilanz. Eine Kassenprüfung konnte nicht stattfinden, denn »unser Gegenrechner [also der Kassenprüfer – M. D.] Linck in Pforzheim wurde dort in Schutzhaft genommen und unsere Kassenbücher, die bei ihm zur Prüfung lagen, beschlagnahmt […]«. Wolf machte sich also große Hoffnungen und biederte sich bei den Nazis an. Tatsächlich schalteten sich die Vereine zwangsweise gleich, entließen »Marxisten« und Juden aus den Vorständen. Aber ihre Hoffnungen trogen. Erst durften sie keine Rabatte mehr bei Apothekern aushandeln, dann wurden die von den homöopathischen Pharmafirmen bezahlten Vorträge in den Vereinen verboten – und schließlich die Jugendgruppen. Wolf stilisierte sich nach dem Krieg als Opfer. So hieß es beim Aufruf zur Neugründung der Zeitschrift im Dezember 1949, dass die Homöopathischen Monatsblätter 1940 zwangsweise eingestellt worden seien, was formal richtig ist.52 Das wetterwendische Verhalten entsprach ganz dem Muster der deutschen Bevölkerungsmehrheit.53 Es gehört auch zur Vergangenheit, wenn auch sicher nicht zur »großen Vergangenheit« der Hahnemannia. 1968 1968 hatte sich die Zahl der Mitglieder im Vergleich zum Tiefstand Anfang der 1950er Jahre auf fast 5.000 etwa verdoppelt. Die Mitgliederbewegung ist über die gesamte Dauer der Existenz des Landesverbandes oft schwer genau zu ermitteln. Schon die Zeitgenossen kritisierten viele mangelhaft ausgefüllte Berichte, wodurch die Statistik »erschwert, ja fast unmöglich gemacht wird«.54 Selbst Zehnjahresschritte sind nicht durchgehend zu ermitteln; so fehlen An50 Es entstanden auch eigene Frauengruppen, siehe z. B. Bericht über die Jahreshauptversammlung 1968 der Hahnemannia. In: Homöopathische Monatsblätter 93 (1968), H. 8, S. 17. 51 IGM, Bestand V 43, S. 94 ff., dort auch das Folgende. Der Text geht weiter: »Nur mit großer Mühe gelang es erst in der letzten Woche, wieder unsere Bücher freizubekommen.« 52 R. (1940), S. 73 f.; IGM, Bestand V 498. 53 Walther (2017), S. 248. 54 IGM, Bestand V 43, S. 45 (1930).
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gaben in den Homöopathischen Monatsblättern für 1899, desgleichen 1939 und 1940. Trotzdem sind in der folgenden Tabelle die belegten Angaben dargestellt. Tab. 2: Anzahl der Mitglieder und Vereine in der Hahnemannia (1873–1876: Angaben zum Februar, nicht Jahresende o. Ä.)55 Jahr
Mitglieder
1868
116
1869
339
1873
636
1874
772
1875
826
1876
892
1877
1.156
1878
1.312
1887
3.660
1894
2.000
Vereine
1910
8.000
84
1914
12.800
121
1930 1933
132* 11.123*
114*
1953
2.640**
41
1958
4.000
1960
4.162**
56
1965
5.200
63
1975
4.000
52
1983
3.900
42
1992
4.382
48
2008
5.300
2011
4.800
2015
4.100
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Das hundertjährige Jubiläum der Hahnemannia wurde allerdings in der Jahreshauptversammlung völlig übergangen und auch in den Homöopathischen
55 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 14 f.; Baschin (2012), S. 210, 214–224; Walther (2017), S. 294–296; * Süddeutscher Verband: IGM, Bestand V 43, S. 96; ** Bundesgruppe Württemberg der Hahnemannia: IGM, Bestand V 46, S. 87, 181.
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Monatsblättern mit keinem Wort erwähnt.56 War das Geschichtsvergessenheit in eigener Sache – während die Zeitschrift gleichzeitig doch voll historischer Artikel über die Homöopathie um 1880, in Frankreich oder auch über den Pastor Felke war? 1968 ist aber auch das Jahr mit den ersten Protesten von Studenten und Frauen, die schon damals gegen sexuelle Übergriffe in Freiburg riefen: »nein ist nein«. 1968 ist insbesondere aber auch das erste Jahr von Demonstrationen in Wyhl: Dort sperrten sich die Winzer gemeinsam mit Studenten gegen ein Atomkraftwerk – und das war eine der Wurzeln der Alternativbewegung und der späteren Partei der Grünen.57 Das wirkte sich auch auf die homöopathische Laienbewegung aus, weil nun neue Aktionsgruppen entstanden, die sich u. a. auch gegen Umweltschäden und für die Gesundheit einsetzten. Dies waren Themen, die die Homöopathischen Monatsblätter schon Jahre zuvor häufig aufgegriffen hatten. Eine weitere Veränderung betraf das Feld der Gesundheitsbildung im Verein. Gratismedien wie die werbefinanzierte Apotheken Umschau schoben sich schon 1956 in den umkämpften Markt der Informationen.58 Durch das Fernsehen erwuchs dem Vereinsleben eine weitere große Konkurrenz: Immer mehr Haushalte fanden hier Ablenkung und Unterhaltung – und außerdem seit 1964 immer mehr Gesundheitssendungen, die als Ratgeber wirken wollten.59 Schließlich entstanden und entstehen weiter fast täglich neue Selbsthilfevereine, die sich exklusiv auf die Bewältigung einer einzelnen Krankheit beziehen. Sie spiegeln sehr spezifische Wünsche nach besserer Information und Hilfe im eigenen Fall. Ein allgemeineres Interesse an Gesundheitsbelangen ist in diesen Vereinen demgegenüber nachrangig. Außerdem erlebte Deutschland in den Jahrzehnten des Nachkriegsbooms einen einmaligen Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die dynamische Rente sicherte die Älteren weitgehend gegen Altersarmut ab, und auch für Bauern und Selbständige wurde die Krankenversicherung geöffnet.
56 Bericht (1968). 57 Die Landtagswahl in Baden-Württemberg 1968 fand am 28. April statt. Die SPD verlor stark, die CDU musste ebenfalls Verluste hinnehmen. Zugewinne gab es vor allem für die NPD, die aus dem Stand 9,8 Prozent der Wählerstimmen erobern konnte. Dann Stabilisierung der (absoluten) CDU-Mehrheiten ab 1972; Annemarie Griesinger war seit diesem Jahr als erste Frau im Kabinett des Landes Baden-Württemberg vertreten. Ministerpräsident Hans Filbinger berief sie nach der Landtagswahl als Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung in sein Kabinett. Dieses Amt hatte sie bis 1980 inne. 58 Zu deren Gesundheitsinformationen s. Pfütsch (2017), S. 121 ff. 59 Walther (2017), S. 293. Merscheim (1984), S. 468 ff., vergleicht ARD-Sendungen der Jahre 1980–1982. Patienten werden dabei mehr oder weniger als Teil des Systems der wissenschaftlichen Medizin dargestellt mit unterschiedlichen Freiheitsgraden der Entscheidung; S. 418 kritisch zu Inhalten und Bedarf: »eigentliche Laienaufklärung, wie man ein gesundes Leben führen soll, kommt zu kurz«; stattdessen würden falsche Ängste (wegen seltener Krankheiten) und falsche Hoffnungen geweckt. Brünner (2011), S. 25 f. Das Gesundheitsmagazin »Praxis« existierte seit 1964 bis 2004, die »Sprechstunde« im BR von 1973 bis 2007; beide erreichten hohe Einschaltquoten. Neumann-Bechstein (1994), bes. S. 254 f.
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Trotz all dieser strukturellen Veränderungen, nach denen andere Medien und weitere Akteure viele Aufgabenfelder der Hahnemannia ebenfalls abdeckten oder, was die Arzneiversorgung betrifft, erledigten, blieben die Mitgliederzahlen bis zur Jahrtausendwende mit etwa 4.000 Personen recht stabil, um dann bis 2008 sogar noch einmal auf über 5.000 anzusteigen. In diesem Jahr wechselte die Präsidentschaft von Karen Lohoff zu Ingrid Maier-Regel – und man gedachte auch des 140-jährigen Jubiläums der Hahnemannia.60 Mittlerweile liegt die Mitgliederzahl wieder bei gut 4.000 Personen. 2018 Fragt man abschließend nach den Zukunftsaussichten der Hahnemannia, ist es sinnvoll, sich zunächst einige Themen der aktuellen gesellschaftlichen Debatten in Erinnerung zu rufen61: Geklagt wird über den geringer werdenden gesellschaftlichen Zusammenhalt und zunehmende Vereinzelung. Dem kann die Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein entgegenwirken. Außerdem wünschen sich viele Menschen, selbst etwas für ihre Gesundheit zu tun. Dieser Wunsch nach Selbstwirksamkeit kann ebenfalls durch Vereinsaktivitäten gefördert werden. Genau diese konkrete Hilfe zur homöopathischen Selbsthilfe suchen auch viele Mitglieder heute wieder in den Vereinen.62 Weiterhin wird die Selbstbestimmung von Patienten hochgehalten. Das geht ebenfalls leichter, wenn man sich vorher informiert hat, was u. a. im Verein zu geschehen vermag. Dort kann man auch die teilweise heillose Gesundheitspropaganda in den Medien gemeinsam reflektieren. Man muss ja nicht jeden modischen Trend gleich mitmachen oder sich jede IGEL-Leistung aufschwatzen lassen. Eine laienorientierte Gesundheitskultur, die auf zwei Beinen steht, nämlich mit gegenseitiger Beratung und dem (Haus-)Arzt als Ansprechpartner, ist weiter ein tragfähiges Modell. Außerdem ist die schon früher von den Mitgliedern besonders geschätzte Geselligkeit nicht nur gemeinschaftsbildend, sondern auch gesundheitsförderlich. Die Beeinflussung der Gesundheitspolitik ist sicher sehr schwierig, aber wie soll man das als Bürger in einem vollständig von Lobbyisten bestimmten Feld anders voranbringen als durch entsprechende Zusammenschlüsse? Jedenfalls ist bei dem derzeitigen Dauerbeschuss der Homöopathie in den sogenannten »Leitmedien« Gegenwind von den Anhängern dieser Heilweise notwendiger denn je. Auch dabei gilt übrigens, dass die persönlichen Erfah60 Hahnemannia Info (2008), H. 3. 61 Langjähriger »Boom«, dessen ökonomische Ergebnisse aber immer weniger ausgeglichen verteilt werden: höchste Beschäftigungsrate seit Jahren, aber auch immer mehr »prekäre« Beschäftigungsverhältnisse; beginnendes Bewusstsein für die Folgen gesellschaftlicher Spaltung; Alterung der Bevölkerung (Anteil der über 60-Jährigen 1970: 20 Prozent; 2020 nach Fortschreibung des Zensus von 2011, also ohne Immigrationseffekte der Welle 2015/16: fast 30 Prozent): https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/sozialesituation-in-deutschland/61541/altersstruktur (letzter Zugriff: 26.2.2020). 62 Nach der von Daniel Walther 2013 durchgeführten Befragung, s. Walther (2017).
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rungen mit der Homöopathie noch immer das beste Argument für sie sind. Der verkürzte Wissenschaftsbegriff, den die Pharmaindustrie und andere interessierte Kreise in der Öffentlichkeit verankern wollen, wirkt demgegenüber weniger überzeugend.63 Bibliographie Archivalien Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (IGM) – Bestände V 7, V 8, V 43, V 46, V 47, V 49, V 498
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sehens in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 4: Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme. München 1994, S. 243–278. Pfütsch, Pierre: Das Geschlecht des »präventiven Selbst«: Prävention und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik Deutschland aus geschlechterspezifischer Perspektive (1949– 2010). Stuttgart 2017. Pompeÿ, Heinrich: Die Bedeutung der Medizin für die kirchliche Seelsorge im Selbstverständnis der sogenannten Pastoralmedizin: eine bibliographisch-historische Untersuchung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Fribourg u. a. 1968. R., E.: Zum 70. Geburtstag von Immanuel Wolf. In: Homöopathische Monatsblätter 65 (1940), H. 8, S. 73 f. Walther, Daniel: Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013). Vom kurativen zum präventiven Selbst? Stuttgart 2017. Winterhagen, Ines: Homöopathische Apotheken in Württemberg von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg. Diss. Braunschweig 2018. Wolff, Eberhard: »… nichts weiter als eben einen unmittelbaren persönlichen Nutzen …«: zur Entstehung und Ausbreitung der homöopathischen Laienbewegung. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 4 (1985), S. 61–97.
MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 201–235, FRANZ STEINER VERLAG
Die Löwen-Apotheke in Hall und ihre Rezeptsammlung. Fallbeispiel einer staatlich anerkannten homöopathischen Einrichtung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Ines Winterhagen Summary The Löwen-Apotheke in Hall and its collection of prescriptions – an example of a state-recognized homeopathic institution in the late nineteenth and early twentieth century Evaluation of the collection of prescriptions held at the Löwen-Apotheke in Hall gives comprehensive insight into the clientele, the local physicians and the turnover a pharmacy could achieve with homeopathic medicines. Both men and women came to the pharmacy to have homeopathic drugs prepared either for themselves or for children, but also for animals. Most of the clientele lived in or around the town of Hall, but some also came from further afield. The patients, who used Hahnemann’s healing method as one of many possible therapies available in Hall’s ‘medical marketplace’, went to see homeopathic physicians and had their prescriptions filled by the Löwen-Apotheke, came from all strata of society. The Löwen-Apotheke sold homeopathic drugs as dilutions and triturations, mostly in a low D potency. On average, homeopathic medicines were less expensive than allopathic preparations. Due to the broad range of data contained in the collected prescriptions, a variety of aspects could be examined. Although these insights cannot simply be generalized – they are taken from just one pharmacy in a middle-sized town in the German Reich and limited to a very short period of time – evaluation of this data provides a solid basis for establishing the sales of homeopathic medicines by a pharmacy with a state-recognized homeopathic dispensary during the period under investigation. Even if analysis of the sources reflects merely a moment in time, it illustrates that homeopathy was popular independently of gender or social status and that the homeopathic drugs which were prescribed by physicians were sometimes even paid for by the health insurers. Given that almost 4,000 homeopathic prescriptions with more than 5,000 items were ultimately evaluated, this important outcome can be said to rest on solid foundations.
Apotheken in Hall Vor dem Ersten Weltkrieg gestaltete sich die Versorgungssituation der Bevölkerung mit Apotheken unterschiedlich: Während im Reichsdurchschnitt 9.996 Einwohner auf eine Apotheke kamen, waren es in Württemberg 7.244 Einwohner pro Apotheke.1 Besonders gut aufgestellt war die Arznei1
Vgl. Medizinal-Bericht von Württemberg über das Kalenderjahr 1872 (1873), S. 75–77, Deutsche Apotheker-Zeitung 12 (1877), S. 121, sowie HStAS, E 151/51 Bü 189. Im Jahr 1872 gab es in Württemberg 249 Apotheken, bis 1914 stieg die Anzahl auf 320.
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Ines Winterhagen
mittelversorgung in Hall (heute: Schwäbisch Hall). Hier kamen im Jahr 1868 2.400 Einwohner auf eine der drei bestehenden Apotheken. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg belieferten ausschließlich diese drei – die Löwen-, die Mohren- und die Engel-Apotheke – die Bevölkerung der Stadt und des Umlandes mit Medikamenten.2 Das traditionsreichste pharmazeutische Geschäft war die Löwen-Apotheke, deren urkundlich belegbare Vorläufer sich bis 1375 zurückverfolgen lassen.3 Ab 1890 wurde sie von Arthur Schrag (1856–1919) übernommen, dessen Nachkommen, die Familie Breit, auch heute noch diese Apotheke betreiben.4 Seit wann die Löwen-Apotheke ihren Namen führt, konnte bisher nicht festgestellt werden. Bekannt ist hingegen, dass das Königlich Württembergische Ministerium des Inneren im März 1895 die homöopathische Abteilung5 der Löwen-Apotheke staatlich anerkannte6. 1904 wurde diese Abteilung in ein homöopathisches Dispensatorium umgewandelt, ehe Schrag 1907 gänzlich auf eine offizielle Genehmigung seiner homöopathischen Einrichtung verzichtete, jedoch weiterhin Homöopathika während des üblichen Apothekenbetriebs verkaufen durfte.7 Mit der Engel-Apotheke und der Mohren-Apotheke lag die Konkurrenz der Löwen-Apotheke nicht weit entfernt. Eindeutige Belege für die Wahl einer bestimmten Apotheke seitens der Kundschaft existieren für Hall nicht, sie dürfte jedoch entscheidend durch persönliche Präferenzen beeinflusst gewesen sein.8 Die Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke Für die Löwen-Apotheke – als Fallbeispiel einer staatlich anerkannten homöopathischen Einrichtung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts – fand sich auf dem Dachboden eine erhalten gebliebene, umfangreiche Rezeptsammlung (Abb. 1). Diese wurde im Rahmen einer Dissertation zu homöopathischen Apotheken in Württemberg ausgewertet9, dabei erfolgte exempla-
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Däuber (2011), S. 148. Vgl. Förtsch (1991), S. 302. Breit (1966) sowie StadtA Hall, Kaufbuch 1860/61, S. 98–102, und Kaufbuch 1869/70, S. 255–260. Kreisarchiv Hall, 1/1115 und 1/1116. Vgl. StadtA Hall, Kaufbuch 1890, S. 409–415. Die württembergische Ministerialverfügung vom 25. Juli 1883 (StALB, E 162 I Bü 1132; Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg (1883), S. 187 ff.) sah zum ersten Mal eine staatliche Anerkennung homöopathischer Einrichtungen vor. Neben der neuen offiziellen Genehmigung erfolgte als weitere grundlegende Änderung erstmals die Einteilung dieser Einrichtungen in drei verschiedene Kategorien: in homöopathische Apotheken, homöopathische Abteilungen einer Apotheke neben der regulären allopathischen Offizin sowie homöopathische Dispensatorien. An die einzelnen Kategorien waren verschiedene Anforderungen hinsichtlich Räumlichkeiten, Einrichtung und Personal geknüpft. Vgl. Winterhagen (2020), S. 182–185. Kreisarchiv Hall, 1/1115 und 1/1116. Kreisarchiv Hall, 1/1115. Vgl. Hoffmann (2014), S. 53. Winterhagen (2020).
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risch die Sichtung von acht Jahrgängen10. Insgesamt wurden 56.231 Rezepte und Belege analysiert, darunter 3.951 homöopathische Rezepte mit 5.291 homöopathischen Verschreibungen bzw. Bestellungen. Die Auswahl der Rezepte orientierte sich zum einen an einer möglichst breiten Abdeckung des Untersuchungszeitraums der Dissertation, zum anderen sollten verschiedene Phasen Berücksichtigung finden, begonnen bei der Apotheke ohne staatlich anerkannte homöopathische Einrichtung über die offiziell genehmigte homöopathische Abteilung und das nachfolgend abgestufte homöopathische Dispensatorium bis schließlich wieder zurück zur Ausgangssituation, dem völligen Verzicht auf eine spezielle behördliche Genehmigung des Verkaufs homöopathischer Arzneimittel. Weiterhin wurde das Jahr 1883 betrachtet und damit die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung mit ihrem Einfluss auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten der Kassenmitglieder. Die Rezeptsammlung umfasst nicht nur ärztliche Verordnungen auf Kassen- oder Privatrezepten, sondern auch Verschreibungen von nicht approbierten Heilkundigen und Belege über den von den Kunden ohne das Einholen professioneller Meinung getätigten Handverkauf, also den Direktbezug homöopathischer Arzneimittel in der Apotheke.11 Die umfangreichen Rezeptdaten, die Namen, Vornamen, Geschlecht, Familienstand, Beruf und Wohnort umfassen, ermöglichten es, die Patienten der homöopathischen Ärzte Halls – und nachfolgend Kunden der Löwen-Apotheke – hinsichtlich ihrer soziokulturellen Merkmale zu analysieren. Daneben fanden sich Angaben zum verordneten Arzneimittel, dessen Potenz, Darreichungsform, Dosierung und zum jeweiligen Preis. Der Rezeptfund12 belegt für die Löwen-Apotheke in Hall unter anderem, welche Patienten homöopathische Arzneimittel auf Rezept oder im Handverkauf bezogen. Allerdings war diese Apotheke – wie anfangs erwähnt – nicht die einzige vor Ort, also nicht konkurrenzlos. Entsprechend ist nicht davon auszugehen, dass die Rezeptsammlung eine weitgehende Grundgesamtheit widerspiegelt. Sehr wahrscheinlich besorgten die Patienten sich ihre benötigten Homöopathika auch aus den zwei anderen Haller Apotheken, der Mohren- und Engel-Apotheke.13
10 Dies waren die Jahre 1878, 1883, 1888, 1893, 1898, 1903, 1908 und 1913. Die ausgewählten Jahrgänge gab einerseits das älteste vorliegende Quellenmaterial von 1878 vor, andererseits der begrenzte Untersuchungszeitraum der Dissertation, der sich von 1857 bis 1914 erstreckte. 11 Zudem fanden sich unter den Aufzeichnungen vereinzelt Order für das Krankenhaus, das Landesgefängnis sowie für die Stadtarmen Halls. 12 Zur Aufbewahrung von Rezepten in den Apotheken vgl. Weckbach (1960–1962), Hoffmann (2014), S. 34, sowie Beisswanger (1996), S. 127. 13 Die Engel-Apotheke in Hall verfügte ebenso wenig wie die Mohren-Apotheke über eine staatliche Anerkennung im Bereich der Homöopathie.
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Ines Winterhagen
Abb. 1: Rezeptfund aus der Löwen-Apotheke in Hall. Zur Veranschaulichung beispielhaft ausgewählte Bestandteile der Rezeptsammlung mit einzelnen Originaldokumenten aus den Paketen. Teilabbildungen im Uhrzeigersinn von links oben: Pakete mit Dokumenten gepackt als Jahrgänge, geöffnetes Paket mit Rezeptbündeln, Rezeptbündel eines Quartals, Privatrezept über homöopathische Arzneimittel, Kassenrezept mit homöopathischer Verordnung, Rezeptbündel sortiert nach Anfangsbuchstabe des Kundennamens. Patientennamen sind geschwärzt
Zusammensetzung des Kundenstamms der Löwen-Apotheke In der vorliegenden Untersuchung wurde unter anderem das Geschlecht der Patientinnen und Patienten berücksichtigt; bei der Geschlechtsermittlung wurden auch die Kinder und Jugendlichen mitgezählt. In den analysierten acht Jahren waren die Bestellungen zwischen den Geschlechtern nahezu gleich verteilt. Dies zeigt, dass sowohl Frauen als auch Männer zu gleichen Anteilen homöopathische Arzneien einnahmen. Bei der Rezeptauswertung wurde nicht ermittelt, wie die Geschlechtsverteilung für jeden einzelnen homöopathischen Arzt in Hall und Umgebung ausfiel, sondern pauschal erfasst, wie viel Frauen und Männer homöopathische Arzneimittel in der Löwen-Apotheke kauften. Konkrete Daten für die Geschlechterverteilung einzelner Arztpraxen liegen hingegen für Samuel Hahnemann sowie für Clemens und Friedrich
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von Bönninghausen vor.14 Diese Homöopathen behandelten über den größten Zeitraum ihrer Tätigkeit hinweg erkennbar mehr Frauen. Zudem konstatierte eine Untersuchung, welche für den Zeitraum von 1600 bis 2000 die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Patientenschaft verschiedener Arztpraxen verglich, ein Überwiegen der Patientinnen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.15 Daran schlossen sich einige Jahre mit vorherrschendem Anteil an Männern an, ehe ab 1870 dann wiederum die weibliche Arztklientel dominierte. Diese Geschlechterrelation besteht bis in die heutige Zeit fort.16 Im Untersuchungsraum Hall sah die Situation anders aus. Hier zeichnete sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts für die Patientenschaft zumindest der homöopathischen Therapeuten nicht der ansonsten häufig vorgefundene Trend ab, dass Frauen öfter einen Arzt aufsuchten als Männer. Auch Kinder wurden mit homöopathischen Mitteln therapiert.17 Soweit dies aus den Belegen hervorging, betrug der Anteil dieser Patientengruppe etwa 22 Prozent.18 Dieses Ergebnis zeigt, dass für Kinder und Jugendliche durchaus ärztliche Hilfe genutzt wurde.19 Unter den Haller homöopathischen Ärzten war es üblich, Kinder in Bezug zu ihrem Vater zu notieren.20 Zum Teil charakterisierten sie die jungen Patientinnen und Patienten auf unterschied14 Zu Hahnemanns Praxis Jütte: Patientenschaft (1996), S. 31, Vogl (1990), S. 169, Mortsch (2005), S. 38, und Hörsten (2004), S. 37, zu Clemens von Bönninghausen Baschin (2010), S. 148 f., sowie zu Friedrich von Bönninghausen Baschin (2014), S. 112. Hingegen wurde der württembergische Homöopath Professor Georg von Rapp mehr von Männern konsultiert: Held (1999), S. 82 f. 15 Dinges (2007), S. 303 f. und S. 306. Vgl. relativierend hierzu für den Zeitraum 1800–1850 Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2016). 16 Anhand einer Patientenbefragung im Jahr 1993/94 stellte Günther (1999) fest, dass der Frauenanteil der Patientenschaft sowohl in homöopathischen oder naturheilkundlichen als auch in schulmedizinischen Arztpraxen bei rund 60 Prozent lag. Schultheiß/Schriever (1991), S. 35, kamen auf einen Anteil von 63 Prozent. Vgl. Grobe/Dörning/Schwartz (2008), S. 41. 17 Für Kinder galt die Homöopathie als besonders geeignet: Ritzmann (2002). Zu den Kindern unter den Patienten Hahnemanns vgl. Ritzmann (1999), Jütte: Patientenschaft (1996), S. 31–33, Schuricht (2004), S. 17, Schreiber (2002), S. 153, Fischbach-Sabel (1998), S. 152 f., Ehinger (2003), S. 21, sowie Papsch (2007), S. 40. Fraglich ist, ob unter der Bezeichnung »Kind« in Anlehnung an die heute geltenden Regelungen alle Personen bis einschließlich 18 Jahre verstanden wurden. 18 Laut der Daten bei Dinges (2007), S. 303 f., betrug der Anteil an Kindern unter allen Patienten in den meisten europäischen Praxen des 18. und 19. Jahrhunderts durchschnittlich zwischen sieben und 14 Prozent. Baschin (2010), S. 194, konstatierte für Clemens von Bönninghausens junge Patienten einen Anteil von 28,6 Prozent, Papsch (2007), S. 40, für Hahnemanns Köthener Zeit einen Anteil von 19 Prozent. Zu der Behandlung von Kindern durch Friedrich von Bönninghausen vgl. Baschin (2014), S. 117–129. 19 Vgl. Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2016), Hoffmann (2014), S. 147, sowie Dinges (2007), S. 314. Das bekannte Bild des Mannes, der Gattin und Tochter nicht zum Arzt gelassen hätte, kann aufgrund dieser Ergebnisse nicht bestätigt werden. Vielmehr zeigt sich, dass die Gesundheit für die Menschen bereits im 19. Jahrhundert wichtig war und sie Arzneimittel nicht nur »in Fällen allergrößter Not« kauften: Huerkamp (1985), S. 303. 20 Es finden sich auf den Rezepten beispielsweise Angaben wie »Herrn Wittlingers Kind«, »Herrn Dreschners Sohn« oder »Herrn Baders Tochter«. Vgl. Hoffmann (2014), S. 77.
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liche Art und Weise – ein Mädchen beispielsweise als »Tochter Glöy« oder mit ihrem Vornamen als »Marie Glöy«. Hieraus ergaben sich mitunter Schwierigkeiten bei der genauen Zuordnung.21 Darüber hinaus finden sich Angaben wie »Herrn J. Wolffs Kinder« oder »Herrn Schielers Kinder«, aus denen man nicht schließen kann, ob es sich nur um Söhne oder Töchter oder beides handelte, sich das Geschlecht also nicht feststellen ließ. Entsprechend wurden die drei Kategorien Kind weiblich (Mädchen), Kind männlich (Jungen) und Kind ohne Angaben des Geschlechts getrennt erhoben. Von den 839 ausgewerteten Rezepten entfielen 191, also 23 Prozent, auf Jungen, 166 und damit 20 Prozent auf Mädchen. In 57 Prozent der Fälle, bei 482 Rezepten, konnte das Geschlecht nicht zugeordnet werden.22 Insgesamt wurden somit von den homöopathischen Ärzten in Hall tendenziell mehr Verordnungen für Jungen als für Mädchen ausgestellt. Eine Dominanz männlicher Kinder ist in der Vergangenheit allgemein in Arztpraxen nachgewiesen worden und besteht bis heute weiterhin fort.23 Somit ist davon auszugehen, dass die häufigere ärztliche Behandlung der Jungen auf eine im Vergleich zu den Mädchen in diesem Alter erhöhte Krankheitsanfälligkeit zurückzuführen ist und nicht auf eine Bevorzugung aufgrund des Geschlechts.24 Neben Rezepten für Kinder wurden in der Löwen-Apotheke Hall ebenfalls homöopathische Verordnungen für Tiere registriert. Es gibt also Belege dafür, dass die Homöopathie gleichfalls in der Veterinärmedizin damals schon eine Rolle spielte. Der Anteil der Verordnungen für Tiere – meist Pferde oder Kühe – machte 4,5 Prozent aller homöopathischen Bestellungen aus. Soziale Zusammensetzung der Kundschaft Über den partiell erfassten Familienstand25 der Kranken hinaus bietet ein Teil der ausgewerteten Rezeptblätter (1.256) aus der Löwen-Apotheke zudem Einblick in die Sozialstruktur der Kundschaft26. Auf diesen Belegen wurden die Patientennamen durch Berufsbezeichnungen ergänzt. Insgesamt lassen sich 21 Vgl. Hoffmann (2014), S. 78. 22 Auf den ausgewerteten Rezepten aus der Löwen-Apotheke in Hall fehlen die Geburtsangaben. Somit war eine nähere Differenzierung der Kinder in unterschiedliche Altersgruppen – Säuglinge, Klein- oder Schulkinder sowie Jugendliche – nicht möglich. 23 Vgl. Baschin (2010), S. 188 f. Papsch (2007), S. 41, ermittelte für Hahnemanns Praxis unter den Kindern 53 Prozent Jungen und 41 Prozent Mädchen. Hingegen behandelte der belgische Homöopath Gustave van den Berghe (1837–1902) mehr Mädchen zwischen null und 16 Jahren: Baal (2004), S. 142. Zur heutigen Situation Grobe/Dörning/Schwartz (2008), S. 62. 24 Vgl. Baschin (2014), S. 126. 25 Die Kategorisierungen Fräulein, Frau oder Witwe geben Auskunft darüber, ob weibliche Personen verheiratet waren. Allerdings lässt sich bei der Bezeichnung »Fräulein« nicht nachvollziehen, ob sie sich nur auf unverheiratete Frauen bezog oder aber gelegentlich auch auf kleinere Mädchen. Vgl. Hoffmann (2014), S. 68, sowie Baschin (2010), S. 153. 26 Aus den in der Löwen-Apotheke Hall eingelösten Rezepten war in rund 32 Prozent der Fälle die soziale Stellung der Kunden zu ermitteln. Hahnemann notierte in seinen ersten
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127 verschiedene Berufe der Kunden finden.27 Anhand der angegebenen Berufsbezeichnungen wurden Zuordnungen zu elf Branchen vorgenommen, in denen die Patienten beschäftigt waren, um so in gewissem Maße den »sozialen Status« zu erfassen. Zu den einzelnen Berufsgruppen zählten Tagelöhner, Arbeiter, Handwerker, Landwirte, Kaufleute und Händler, Dienstleister und Angestellte, Kleriker, Lehrer und Professoren, Beamte und Staatsdiener, Bahn- und Postbedienstete sowie Ärzte.28 Die Rezeptsammlung beweist, dass die Käufer von Homöopathika aus allen Gesellschaftsschichten29 stammten, wobei ein großer Anteil auf Handwerker und Arbeiter (33 Prozent) entfiel, gefolgt von Bahn- und Postbediensteten (21 Prozent), Lehrern und Professoren (13 Prozent) sowie Beamten und Staatsdienern (zehn Prozent). Dieses Resultat ist vergleichbar mit den Ergebnissen aus der Arbeit von Monika Papsch, die das gesellschaftliche Spektrum von Hahnemanns Patienten beschreibt.30 Darüber hinaus deutet die Rezeptauswertung an, dass nicht nur besonders gutsituierte Menschen die Dienste des Apothekers in Anspruch nahmen.31 Zudem ist bei den Kindern als homöopathischen Patienten der gleiche gesellschaftliche Querschnitt erkennbar wie bei den Erwachsenen. So finden sich neben Professorenkindern auch diejenigen von Handwerkern und Arbeitern.32 Hieraus lässt sich schließen, dass die ärmere Bevölkerung durchaus Geld für die Krankenbehandlung ihrer Kinder ausgab.33 Demgegenüber kommt Marion Baschin für die Praxis Clemens und Friedrich von Bönninghausens zu dem
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Krankenjournalen bei etwa 30 Prozent der Patienten einen Beruf (Vogl (1990), S. 169), Clemens von Bönninghausen nur bei rund 20 Prozent (Baschin (2010), S. 162). Frauen wurden vielfach mit der Bezeichnung ihres Mannes geführt, zum Beispiel als »Frau Bäckermeister«; vgl. Hoffmann (2014), S. 136. Zu einzeln aufgeführten Berufen der Patienten Hahnemanns vgl. Papsch (2007), S. 36, sowie Fischbach-Sabel (1998), S. 240 f. Zur Klassifizierung der Berufsangaben vgl. Vogl (1990), S. 171, und Baschin (2010), S. 163. Allgemein für das 19. Jahrhundert konstatierten Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2016) eine wachsende Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen durch Angehörige der unteren sozialen Schichten. Zu Hahnemann, der vorwiegend ein Arzt der Mittel- und Oberschicht war, Hörsten (2004), S. 44, Schreiber (2002), S. 157–160, sowie Jütte: Patientenschaft (1996), S. 35–38. Zu Clemens von Bönninghausen Baschin (2010), S. 165, zu dessen Sohn Friedrich Baschin (2014), S. 131. Vgl. auch Baal (2004), S. 120–126, für den belgischen Homöopathen van den Berghe sowie Held (1999), S. 85, für den württembergischen homöopathischen Arzt Rapp; zum derzeitigen Gebrauch alternativer Heilmethoden Schultheiß/Schriever (1991), S. 38–41. Papsch (2007), S. 28 ff. Allerdings fanden sich in der Löwen-Apotheke nicht so viele Geistliche unter der Kundschaft wie unter den Patienten Hahnemanns in den Jahren 1833–1835 mit fast sieben Prozent. Vgl. auch Hörsten (2004), S. 42–44, sowie Stolberg (1995). Vgl. hierzu Loetz (1998), Baal (2004), S. 248, Jütte (1989), S. 189, sowie Baschin (2014), S. 79 und S. 129. Für die Klientel Hahnemanns in seiner Köthener Zeit vgl. Papsch (2007), S. 41. Vgl. Ritzmann (2003), S. 174. Die ältere Forschung zur Geschichte der Kindheit der Vormoderne lieferte ein gegensätzliches Bild und begründete sogar teilweise die hohe Kindersterblichkeit mit einer Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern.
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Schluss, dass vor allem die Kinder aus der Oberschicht in einem ähnlichen Ausmaß wie die Erwachsenen eine homöopathische Therapie erhielten.34 Herkunft der Apothekenkunden: Orte und Entfernung Der geographische Einzugsbereich der Apothekenkunden erstreckte sich gemäß den Rezeptangaben35 vor allem auf die Stadt Hall selbst sowie auf die umliegenden Ortschaften36. Von den Kunden mit angegebenem Wohnort stammten 34 Prozent aus einem Umkreis von fünf Kilometern, weitere 13 Prozent aus einem Umkreis von zehn Kilometern (Abb. 2).37 Hinzu kamen 16 Prozent der
Untermünkheim (22) Erlach (3)
Gailenkirchen (28)
Eltershofen (14)
Sülz (2)
Veinau (4)
Wackershofen (2) Gelbingen (154) Weckrieden (77)
10 km
5 km
Gottwollshausen (30)
Altenhausen (22)
Hall (158) Heimbach (8) Oberlimpurg (7) Hagenbach (6)
Steinbach (144)
Hessental (93)
Comburg (28)
Michelfeld (2) Raibach (6) Tullau (13)
Gschlachtenbretzingen (11)
Bibersfeld (48)
Abb. 2: Einzugsgebiet der Apothekenklientel. Die Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen aus der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall. Die Anzahl der Verordnungen ist in Klammern angegeben
34 Vgl. Baschin (2010), S. 189, und Baschin (2014), S. 135 f. Zu der These, dass eine Behandlung von Kindern eher als Luxus anzusehen war, Baal (2004), S. 139, und Ritzmann (1999), S. 198. 35 In 39 Prozent der Fälle war der Wohnort auf den Rezepten vermerkt. 36 Vgl. Baschin (2010), S. 170–177; Baschin (2014), S. 137; Held (1999), S. 83 f. 37 Vgl. Baschin (2010), S. 176.
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Patienten aus einem Umkreis von bis zu 20 Kilometern sowie sechs Prozent aus einem Umkreis von 20–40 Kilometern. Für die Mehrheit der Patienten war die Reise zum homöopathischen Arzt in Hall und zur Löwen-Apotheke innerhalb eines Tages zu bewältigen38, denn eine Strecke von 40 Kilometern entsprach etwa einer Tagesreise, wenn der Betroffene den Weg hin und zurück zu Fuß bewältigen musste39. Allerdings legte auch ein nicht unbedeutender Anteil der Patienten von homöopathischen Ärzten und letztlich Kunden der Löwen-Apotheke mitunter weite Distanzen von 40 oder mehr Kilometern zurück, nahm also einen beachtlichen Weg auf sich, um sich homöopathisch behandeln zu lassen und Homöopathika aus der Apotheke zu beziehen.40 An den zurückgelegten Strecken kann man einerseits den Ruf der Praxis sowie der Apotheke in ihrem Umfeld ablesen, andererseits erkennen, dass der Erhalt oder die Wiederherstellung der Gesundheit den einzelnen Betroffenen viel bedeutete.41 Unterschiedliches Ärztespektrum: Allopath neben Homöopath Aus der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Hall geht hervor, dass Menschen im Krankheitsfall sich nicht nur im Rahmen der Selbstmedikation42 mit Arzneimitteln aus der Apotheke versorgten, sondern sich auch an Laienheiler und approbierte Ärzte wandten43. Wie es für die Patienten im 19. Jahrhundert allgemein typisch war, ließ sich eine Familie im Krankheitsfall mitunter von einer Vielzahl Heilkundiger behandeln.44 Zudem war es keine Seltenheit, dass verschiedene Familienangehörige unterschiedliche Ärzte und Therapien in Anspruch nahmen. Andererseits begaben sich ganze Familien teilweise auch nur in die medizinische Behandlung eines einzigen »Hausarztes«.45 So be38 Vgl. Baschin (2010), S. 173 f. Ebenso wie Clemens von Bönninghausen behandelte Hahnemann in seiner Zeit in Eilenburg (Jütte: Patientenschaft (1996), S. 39; Hörsten (2004), S. 40 f.) und Köthen (Mortsch (2005), S. 41 f.) eher Patienten aus der näheren Umgebung. 39 Jütte: Patientenschaft (1996), S. 39. 40 Zu Hahnemanns Praxis vgl. Vogl (1990), S. 170, Papsch (2007), S. 67–69, und Schreiber (2002), S. 154. Zur Praxis Friedrich von Bönninghausens Baschin (2014), S. 138. 41 Vgl. Baschin (2014), S. 228. Auch Beisswanger (1996), S. 132, konstatierte für Apothekenkunden in Braunschweig, dass »das Zurücklegen weiter Wege […] kein Hinderungsgrund gewesen zu sein [scheint], eine Apotheke aufzusuchen«. 42 Zur Eigenbehandlung der Kranken Baschin (2012), S. 5–10 und S. 22–40, sowie Beisswanger (1996), S. 126 f. 43 Vgl. Loetz (1993), S. 123, und Loetz (1998), S. 37, Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2016) sowie Baschin (2010), S. 162–169. Auch Stolberg (1986), S. 171 f., und Jütte (1991), S. 89–162, beschreiben die verschiedenen Stufen einer »Patientenkarriere«, also die einzelnen Behandlungsmöglichkeiten von der Selbstmedikation bis zum Arztbesuch. 44 Diese Parallelbehandlungen zeigen beispielsweise Jütte (1991), S. 97–99, und Baschin (2010), S. 141, auf; zum Nutzungsspektrum von Hahnemanns Patienten Ehinger (2003), S. 141–159, sowie Varady (1987), S. 338–341. 45 Auch Clemens von Bönninghausen (Baschin (2010), S. 185 ff.) und Hahnemann (Schreiber (2002), S. 150, Fischbach-Sabel (1998), S. 28, sowie Papsch (2007), S. 36 f.) wurden von Familien als »Hausarzt« in Anspruch genommen.
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fanden sich unter den Patienten des Haller homöopathischen Arztes Dr. Max Jäger immer wieder verschiedene Mitglieder einer Familie. Unter anderem wurde auf die homöopathischen Dienste als weitere Therapiemöglichkeit zurückgegriffen, wenn die sogenannte allopathische Behandlung zuvor nicht den erhofften Erfolg gezeigt oder der Patient mit diesen Methoden schlechte Erfahrungen gemacht hatte.46 Informationen darüber, welche Wege die einzelnen Patienten zurücklegten, bevor sie in Hall einen homöopathischen Arzt oder Laienheiler in Anspruch nahmen, liefern die vorausgegangenen allopathischen Behandlungen.47 Diese sind anhand der vom konsultierten Arzt ausgestellten Rezepte nachzuvollziehen und erfolgten laut Ausstellungsdatum meist vor der homöopathischen Therapie. Mit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung dürften auch Patienten verpflichtet gewesen sein, mitunter unfreiwillig zu einem Homöopathen als festgelegtem Kassenarzt zu gehen, um ihre Behandlung und die Arzneikosten von der Krankenkasse erstattet zu bekommen. Kranke Personen in Hall konnten zwischen vielen verschiedenen Behandlungsangeboten wählen. Unter den Rezepten der Löwen-Apotheke befinden sich 29 verordnende Ärzte – eingeschlossen sind auch Wund- und Tierärzte –, die homöopathische Medikamente neben allopathischen Arzneimitteln verschrieben. Zu den direkt vor Ort in Hall praktizierenden homöopathischen Ärzten zählten der Sanitätsrat Dr. Ferdinand Bilfinger (1812–1877)48, Dr. Hermann Löhrl49 sowie ab 1890 Dr. Max Jäger. Von den 5.027 insgesamt ausgestellten homöopathischen Verordnungen fielen 3.395 auf Dr. Jäger, 198 auf Dr. Bilfinger, 105 auf Dr. Löhrl, 726 auf den Arzt Jung50 sowie 216 auf den nicht approbierten Heilkundigen Jaeggle51. Zudem hielten Dr. Hans Donner (1861–1906) aus Cannstatt und Dr. Quesse52 aus Stuttgart Sprechstunden in Hall ab. An weiteren Homöopathen in Hall sind zu nennen Joseph Gott46 Während neben der Effizienz der jeweiligen Kur auch finanzielle und verkehrstechnische Faktoren von Bedeutung waren (Baschin (2010), S. 86), fiel die Unterscheidung der Heilpersonen in akademisch ausgebildete Ärzte und nicht approbierte Laienheiler kaum ins Gewicht (Loetz (1998), S. 36–39; Jütte (1989), S. 188). 47 Zu vorausgegangenen allopathischen Behandlungen der Patienten Hahnemanns vgl. Vogl (1990), S. 174, und Hörsten (2004), S. 28, zur Klientel des Clemens von Bönninghausen Baschin (2010), S. 47. 48 Zur Person Bilfingers siehe Ausschuss der Hahnemannia (1889), S. 27, sowie Schroers (2006). Bilfinger leitete in Hall von 1851 bis 1870 die internistische Abteilung des Städtischen Krankenhauses und wandte hier in angemessenen Fällen als erster Spitalarzt in Württemberg die Homöopathie an. 49 Dr. Hermann Löhrl praktizierte als Arzt in Obersontheim. Als erster Kassenarzt der Ortskrankenkasse Halle erhielt Löhrl im Jahr 1884 als eine vorab festgelegte, pauschale Jahresvergütung zunächst eine Summe von 400 Mark, im folgenden Jahr von 600 Mark: Förtsch (1995), S. 83. Ein Nachteil dieser sogenannten Aversalentlohnung bestand darin, dass sie die konkrete Beanspruchung des einzelnen Arztes nicht berücksichtigte. 50 Das vorhandene Quellenmaterial liefert keine Informationen zum Vornamen des Arztes. 51 Der Vorname des Laienheilers ließ sich nicht aus den vorliegenden Quellen entnehmen. 52 Der Stuttgarter Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer Dr. Quesse war als Nachfolger von Dr. Hermann Göhrum Vereinsarzt der Hahnemannia: Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 21. Die Quellen geben keine Auskunft über den Vornamen Quesses.
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lieb Föll, Schmiedemeister und Tierarzt, Oberamtstierarzt Christian Jacob Rapp und Oberamtstierarzt Ludwig Maile. Zudem war der Chirurg Johann Friedrich Kölle teilweise homöopathisch tätig. Zu den verordnenden Ärzten gehörten laut Rezeptangaben auch bekannte Homöopathen wie Dr. Alfons Stiegele (1871–1956), Dr. Hermann Göhrum (1861–1945), Dr. Richard Haehl (1873–1932), Dr. Eugen Stemmer (1862–1918), Dr. Karl Weiß (1848–1919) aus Gmünd und Emil Schlegel (1852–1934) aus Tübingen. Zu der Beziehung zwischen den Haller Apotheken und den Ärzten ist wenig bekannt. Aber anhand der ausgewerteten Rezepte ist zu ersehen, dass die Patienten der genannten Ärzte die Verordnungen in der örtlichen LöwenApotheke einlösten. Da für alle anderen Apotheken Württembergs aus dem Untersuchungszeitraum keine Rezepte mehr vorliegen, kann vermutet werden, dass die Patienten diese in den lokalen Apotheken einreichten, um im Krankheitsfall schnell ihre benötigten Mittel zu erhalten und einen zeitlich verzögerten Postversand bei Bestellung in einer entfernteren sogenannten homöopathischen Central-Apotheke53 zu vermeiden. Umsatz mit homöopathischen Arzneimitteln in der Löwen-Apotheke Der Wert der verkauften homöopathischen Mittel lag bei den ausgewerteten Belegen von 1878, 1883 und 1888 zwischen 51 und 116 Mark pro Jahr. Für 1893, 1898 und 1903 ergab sich pro Jahr ein Verkaufswert zwischen 382 und 440 Mark und für die Jahre 1908 und 1913 jeweils ein Wert von über 728 Mark. Anhand der Umsätze der analysierten Jahre ist eine steigende Tendenz und erhöhte Nachfrage nach homöopathischen Mitteln im Zeitverlauf zu erkennen. Diese Umsätze stehen den deutlich höheren Erlösen aus nicht homöopathischen Verkäufen gegenüber, deren Summe zwischen 5.272 und 16.054 Mark pro Jahr lag (Tab. 1). Entsprechend betrug der Anteil der homöopathischen Mittel am Gesamtumsatz des jeweiligen ausgewerteten Jahres zwischen 0,7 und 5,5 Prozent. Ein eigenes wirtschaftliches Standbein dürften die Herstellung und der Verkauf homöopathischer Arzneimittel dem Apotheker somit zwar nicht geliefert haben, doch er erweiterte durch das homöopathische Arzneimittelsortiment zumindest seinen Kundenstamm und somit auch seinen Absatzmarkt, zudem erfüllte er die Nachfrage der Bevölkerung nach Homöopathika. 53 Zur Definition homöopathischer Central-Apotheken vgl. Winterhagen (2020), S. 199– 202. Homöopathische Central-Apotheken, für die es keine besondere amtliche Anerkennung gab, stellten Homöopathika in großem Umfang her, verfügten über ein breites Arzneimittelsortiment und dienten als Bezugsquelle für die übrigen Apotheken des Landes. Darüber, ob sich sowohl rein homöopathische Apotheken als auch homöopathische Abteilungen als homöopathische Central-Apotheke bezeichnen durften, gingen die Meinungen auseinander. Zu den bedeutenden Einrichtungen in Württemberg zählten die homöopathischen Central-Apotheken von Virgil Mayer (1834–1889) in Cannstatt, Prof. Dr. Friedrich Mauch (1837–1905) in Göppingen sowie Gustav Zahn (1835–1914) und Otto Seeger (1843–1928) in Stuttgart.
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Ines Winterhagen
Tab. 1: Jahresumsätze der Löwen-Apotheke mit homöopathischen sowie allopathischen Arzneimitteln und Waren. Gesamtwert ermittelt anhand der Verkaufsbelege und Rezepte für die einzelnen analysierten Jahre; Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen aus der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall Jahr
Jahresumsatz homöopathischer Mittel (Mark)
Jahresumsatz allopathischer Mittel und anderer Verkäufe (Mark)
1878
115,85
6.306,77
1883
70,00
5.272,34
1888
50,75
7.094,55
1893
429,20
10.685,46
1898
440,10
10.003,58
1903
382,40
8.170,07
1908
728,80
13.213,28
1913
756,50
16.054,16
Mark 700
Privatrezept
600
Kassenrezept
500
Sonstige
400
Handverkauf
300 200 100 0 1878 1883 1888 1893 1898 1903 1908 1913
Jahr
Abb. 3: Umsatz mit homöopathischen Arzneimitteln für die einzelnen analysierten Jahre, aufgeschlüsselt nach Verkaufsart: Abgabe auf Privat- oder Kassenrezept, als Handverkauf bzw. Auslieferung an sonstige Kostenträger. Die Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen aus der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall
Die Rezeptsammlung erlaubt einen näheren Einblick in die einzelnen Verkäufe der Apotheke und gibt Aufschluss darüber, wie viel Umsatz mit homöopathischen Arzneimitteln je nach Verkaufsart erzielt wurde. Beim Betrachten des Verhältnisses der Einnahmen aus Rezept- und Handverkauf fällt auf, dass in allen acht untersuchten Jahren die Abgabe homöopathischer Mittel hauptsächlich auf Privatrezept erfolgte (Abb. 3). Diese Verordnungen umfassten für die analysierten Jahre einen Gesamtwert von 2.304,20 Mark. Hingegen belief sich die Summe für homöopathische Mittel auf Kassenrezept
Die Löwen-Apotheke in Hall und ihre Rezeptsammlung
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auf 537,75 Mark54, im direkten Handverkauf55, also bei Verkäufen aufgrund selbstbestimmter Nachfrage der Patientinnen und Patienten, auf 122,60 Mark sowie für sonstige Fälle – etwa für Stadtarme oder Insassen des Gefängnisses – auf 9,05 Mark. Die Anzahl an Privatrezepten mit homöopathischen Mitteln stieg von 1888 auf 1893 um das Fünffache sprunghaft an. Der Grund hierfür dürfte der Zuzug des homöopathischen Arztes Dr. Max Jäger gewesen sein, welcher eine umfangreiche Praxis führte und zahlreiche homöopathische Rezepte ausstellte.56 Hingegen schien es keine Rolle für den Umsatz gespielt zu haben, welche Form der staatlich anerkannten homöopathischen Einrichtung in der Löwen-Apotheke bestand. So fiel der Jahresumsatz mit Homöopathika von 1898 mit 440,10 Mark auf 382,40 Mark im Jahr 1903 – während dieses Zeitraums verfügte die Apotheke durchgängig über eine homöopathische Abteilung. Nach vollständigem Verzicht auf die offizielle Genehmigung einer homöopathischen Einrichtung finden sich für das Jahr 1908 im Vergleich zu 1903 sogar fast verdoppelte Umsätze mit homöopathischen Arzneimitteln (Tab. 1). Die Kranken bezogen ihre benötigten Homöopathika auch weiterhin in der Löwen-Apotheke, setzten also ihr Vertrauen57 auch ohne behördliches Zertifikat in die zuverlässige Arbeit des Apothekers. In der Löwen-Apotheke wurden in den analysierten Jahren durchschnittlich 96 Prozent der Einnahmen für homöopathische Mittel aus ärztlichen Ver54 Zu beachten bleibt, dass die gesetzlichen Krankenkassen erst 1883 eingeführt wurden. Vor diesem Zeitpunkt bestanden in Hall jedoch schon die Dienstboten-Krankenkasse, eine Zwangskasse für dienendes Personal, Lehrlinge und Gewerbegehilfen, sowie die drei Betriebs-Krankenkassen der Firmen Held & Teufel, Friedrich Groß junior sowie Wälde, Kade und Erath (Krankenkasse »Glück auf«). Zu den Krankenkassen in Schwäbisch Hall vgl. Förtsch (1995). 55 Eine erste Rezeptsichtung ergab, dass der übrige Handverkauf, der nicht nur allopathische Arzneimittel, sondern auch alle anderen über die Apotheke bezogenen Waren – wie Bengalenfeuer, Möbelwichse, rote Schminke, Kaffee, Champagner, Mineralwässer etc. – umfasste, einen weitaus größeren Anteil am Geschäftsumsatz der Apotheke ausmachte als die Abgabe von homöopathischen Medikamenten. Beispielsweise befand sich unter der Direktbestellung eines Kunden im Jahr 1898 neben 115 allopathischen Arzneimitteln und weiteren Apothekenwaren nur ein homöopathisches Mittel. Vgl. Hoffmann (2014), S. 89 f., und Beisswanger (1996), S. 133. 56 Die vorwiegende Abhängigkeit des Umsatzes von vor Ort praktizierenden homöopathischen Ärzten zeigt sich am Verzicht auf den Weiterbetrieb einiger kleinerer homöopathischer Einrichtungen bei Wegzug des Arztes und dann entstehender Unrentabilität: StALB, E 162 I Bü 1132. 57 Zu verschiedenen Aspekten des Vertrauens Steinfath/Wiesemann (2016); vgl. Winterhagen (2020), S. 113–124, sowie Wolff (1996), S. 117–124. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Kunden meist allein auf die persönliche Vertrauenswürdigkeit des Apothekers – auf dessen notwendiges Verantwortungsgefühl sowie seine ausreichende Gewissenhaftigkeit – bei der Herstellung zuverlässiger homöopathischer Arzneimittel angewiesen, denn für die Einrichtung und den Betrieb homöopathischer Apotheken gab es zunächst nur wenige gesetzliche Bestimmungen. Dies änderte sich mit den umfassenden Vorgaben der württembergischen Ministerialverfügung vom 25. Juli 1883, die nun auch konkrete Anforderungen an die Räumlichkeiten und das Personal stellten und umfangreichere Apothekenkontrollen vorsahen.
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ordnungen generiert, der Handverkauf machte nur vier Prozent der Umsätze aus.58 Aufgrund der im Vergleich zu Belegen im Handverkauf weit häufigeren ärztlichen Verordnungen über Homöopathika ist für die untersuchten Jahre in Hall anzunehmen, dass die Kranken eher den homöopathischen Arzt konsultierten, als sich selbst mit homöopathischen Wirkstoffen in der Selbstmedikation zu versorgen. Hier gilt es allerdings zu beachten, dass in der Apotheke vermutlich gar nicht alle im Handverkauf bezogenen homöopathischen Arzneimittel konsequent erfasst wurden, sondern sich die entsprechenden Belege wahrscheinlich nur rein zufällig unter den sonstigen Rezepten befanden.59 Darüber hinaus besteht die Vermutung, dass sich vor allem die Mitglieder des Homöopathischen Vereins Hall60 selbst behandelten, jedoch ihre Medikamente nicht aus der Löwen-Apotheke61, sondern aus der Mohren-Apotheke62 besorgten, für welche die Hahnemannia, der württembergische Landesverein der Homöopathie, Empfehlungen aussprach63. Bei den Direktbestellungen der Kunden fehlten in den meisten Fällen Angaben zur gewünschten Potenz, Menge und Darreichungsform, meist war nur das Mittel selbst genannt. Einzelne Personen, darunter ein Pfarrer und ein Lehrer, bezogen im Handverkauf stark wirkende homöopathische Mittel in Potenzen, die eigentlich nur auf Rezept abgegeben werden durften. Hierzu zählten Pulsatilla D2, Arsenicum album D3, Mercurius solubilis D3 sowie Aconitum D1 und Belladonna D1. Nicht immer hielt sich also der Apotheker an die gesetzlichen Vorgaben.64
58 Für die Stadt Braunschweig im 18. Jahrhundert vgl. Beisswanger (1996), S. 149. 59 Vgl. Beisswanger (1996), S. 126 f. 60 StadtA Hall, SO 3847. Der homöopathische Laienverein in Hall wurde 1890 gegründet. Im Laufe seines Bestehens änderte sich der Vereinsname von Homöopathischer Verein Hall in Hahnemannia Hall und später in Verein für Naturheilkunde, Homöopathie und Gesundheitspflege Hall. 61 Unter den gesichteten Rezepten der Löwen-Apotheke finden sich keine Sammelbestellungen des Homöopathischen Vereins Hall. 62 Von der Mohren-Apotheke in Hall liegt kein erhalten gebliebenes Schriftgut vor. 63 Die Vorstände der Vereine steuerten das Bestellverhalten der einzelnen Mitglieder, indem sie diesen nahelegten, aus welcher Apotheke sie ihre Arzneimittel beziehen sollten. Lobend hervorgehoben wurde unter anderem die Mohren-Apotheke von Eberhard Blezinger in Hall. 64 Ab welcher Potenz die Abgabe homöopathischer Arzneimittel ohne ärztliches Rezept möglich war, unterlag verschiedenen Regelungen (Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg (1872), S. 57, sowie Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg (1876), S. 13). Nach der Ministerialverfügung vom 30. Dezember 1875 erforderten die stark wirkenden homöopathischen Arzneimittel in der ersten bis dritten Dezimalverdünnung oder -verreibung ein ärztliches Rezept, ab der vierten Potenz waren sie ebenso wie die übrigen Wirkstoffe im Handverkauf zu erhalten.
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Die Löwen-Apotheke in Hall und ihre Rezeptsammlung
Die am häufigsten abgegebenen homöopathischen Wirkstoffe 212 Aconitum
710 2436
Arsenicum album 555
Bryonia China
313 485 366
Mercurius solubilis Nux vomica Phosphorus
214
andere Mittel
Abb. 4: Anzahl der abgegebenen homöopathischen Wirkstoffe. Die Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall. Die am häufigsten verschriebenen Mittel sind einzeln gelistet
In der Homöopathie hängt die Wahl des entsprechenden homöopathischen Mittels von den geschilderten Symptomen des Patienten ab. Eine Untersuchung der verordneten Homöopathika gibt Auskunft darüber, ob ein Arzt bestimmte Mittel bevorzugt verschrieb oder aber auch auf seltenere Wirkstoffe zurückgriff.65 In der Löwen-Apotheke Hall lösten die Kunden Rezepte über ein breites Spektrum an homöopathischen Arzneimitteln ein. In den acht ausgewählten Jahren machten sieben Hauptmittel – jedes verordnet auf mindestens 200 Rezepten – 54 Prozent der Order aus. Am häufigsten bezogen wurde Arsenicum album, gefolgt von Bryonia, Mercurius solubilis, Phosphorus, China, Nux vomica und Aconitum (Abb. 4).66 Die übrigen 46 Prozent der Bestellungen verteilten sich auf eine große Bandbreite anderer homöopathischer Wirkstoffe. Alle sieben Hauptmittel finden sich im Laienratgeber »Herings Homöopathischer Hausarzt«67 mit der Empfehlung an »jedermann«, 65 Vgl. Baschin (2014), S. 202. 66 Als indirekter Vergleich kann die Praxis des Homöopathen Friedrich von Bönninghausen dienen. Hier entfielen von den insgesamt gebrauchten Wirkstoffen mehr als 70 Prozent auf die sechs häufigsten Medikamente. Dies waren Belladonna, Pulsatilla, Nux vomica, Bryonia, Sulphur und Rhus tox. Arsen verordnete Bönninghausen in etwa fünf Prozent aller Fälle, Mercurius bei drei Prozent der Betroffenen, Aconitum nur bei zwei Prozent: Baschin (2014), S. 203 und S. 205. Auch Hahnemann verwendete bestimmte »Lieblingsmittel« in seiner Praxis. In den früheren Jahren gehörten hierzu vor allem Chamomilla, Nux vomica und Pulsatilla, später kam noch recht häufig Mercurius zum Einsatz, zudem nahm Sulphur eine bedeutende Rolle ein: Varady (1987), S. 37 f. und S. 311–313, Hörsten (2004), S. 70, Schuricht (2004), S. 41 und S. 62–127, Papsch (2007), S. 72, sowie Fischbach-Sabel (1998), S. 262 f. 67 Hering [um 1900]; vgl. Nusser (1850).
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sich diese anzuschaffen68. Zudem wurden Bryonia, Nux vomica69 und Aconitum in der »Reinen Arzneimittellehre«70 aufgeführt. Während Hahnemann die Wirkstoffe Nux vomica und Phosphorus zu den sogenannten Polychresten, den vielnützigen Mitteln mit breitem Wirkungsspektrum, zählte71, beschrieb er Bryonia zumindest als Mittel mit »Heilkräfte[n] von großem Umfange«72. Da Menschen abhängig von den Lebensumständen, der Konstitution, dem Alter und dem Geschlecht verschiedenen Krankheitsbeschwerden ausgesetzt sind73, erfolgte auch eine geschlechterspezifische Auswertung der sieben am häufigsten verordneten bzw. in der Löwen-Apotheke angeforderten homöpathischen Arzneimittel. Hierbei fiel auf, dass Frauen mehr als doppelt so häufig das Mittel China erhielten wie Männer.74 China wurde oft beim weiblichen Geschlecht als Stärkungsmittel nach »Säfteverlust« eingesetzt.75 Umgekehrt erhielten Männer häufiger die Mittel Mercurius solubilis und Bryonia.76 Bei den anderen vier häufigsten Mitteln fielen die Differenzen zwischen den Geschlechtern nicht so markant aus. Insgesamt ist die Aussagekraft der in der Löwen-Apotheke in Hall am häufigsten abgegebenen homöopathischen Arzneimittel relativ begrenzt, weil die entsprechenden Krankheitsbilder nicht bekannt sind, denn auf den Rezepten waren keine Krankheitssymptome77 vermerkt und als Gegenpart fehlen
68 Statt zu Phosphorus wurde hier allerdings eher zu Phosphor acidum geraten. 69 Nux vomica erschien auf 214 Belegen an sechster Stelle der Verordnungen. Vgl. Papsch (2007), S. 72. In den Jahren 1833–1835 verschrieb Hahnemann Nux vomica als fünfthäufigstes Mittel. 70 Hartlaub/Trinks (1828–1831). 71 Hahnemann (2007), Bd. 2, S. 1373. 72 Hahnemann (2007), Bd. 1, S. 406. 73 Vgl. Prinzing (1930), S. 2 f., Baschin (2014), S. 153, und Baschin (2010), S. 160. Zur Verbindung von sozialem Status und dem Beschwerdepotential Frevert (1984). 74 In 66 Prozent der Fälle (205-mal) wurde das Mittel an Frauen/Mädchen verkauft, in 30 Prozent (95-mal) an Männer/Jungen, zu drei Prozent (zehnmal) konnte das Geschlecht nicht bestimmt werden. Das restliche eine Prozent (drei Verschreibungen) entfiel auf den Verkauf an Tiere. 75 Es dürfte häufig aufgrund von Blutverlust bei Monatsblutungen sowie nach der Geburt Anwendung gefunden haben. Vgl. Baschin (2014), S. 154, und Baschin (2010), S. 293– 295. 76 Männer/Jungen bekamen Mercurius solubilis 233-mal (48 Prozent), Frauen/Mädchen 139-mal (29 Prozent), in 98 Fällen (20 Prozent) blieb das Geschlecht unbekannt; 15-mal (drei Prozent) wurde das Mittel für Tiere abgegeben. Bryonia wurde 265-mal (48 Prozent) für Männer/Jungen verordnet, 177-mal für Frauen/Mädchen (32 Prozent), 91-mal (16 Prozent) konnte das Geschlecht nicht zugeordnet werden; 22-mal (vier Prozent) erhielten Tiere dieses Homöopathikum. Bryonia findet häufig Einsatz bei Husten und rheumatischen Beschwerden. Ebenso wie in der Praxis des Münsteraner Homöopathen Friedrich von Bönninghausen (Baschin (2014), S. 154 f.) dürften diese beiden Krankheitsbilder auch von den Haller Patienten gegenüber ihren Ärzten geschildert worden sein. 77 Baschin (2014), S. 143, und Papsch (2007), S. 35. Statt Diagnosen zählen in der Homöopathie nur die individuellen Symptome des Patienten. Die Verwendung von Krankheitsnamen lehnte Hahnemann ab.
Die Löwen-Apotheke in Hall und ihre Rezeptsammlung
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Aufzeichnungen der Ärzte aus Hall78. Da homöopathische Arzneimittel ein breites Anwendungsspektrum haben, lassen sich die verordneten Substanzen nicht eindeutig einzelnen Krankheitsbildern zuordnen. Um trotzdem einen Eindruck zu gewinnen, bei welchen Erkrankungen homöopathische Ärzte in Hall Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Medikamente verordnet haben dürften, können exemplarisch die Rechenschaftsberichte der Dienstbotenanstalt herangezogen werden, die einen allgemeinen Aufschluss über die in Hall im 19. Jahrhundert aufgetretenen Krankheiten geben. Sie führen im Zeitraum von 1851 bis 1874 die häufigsten »inneren« Erkrankungen der Patienten auf. Hierzu zählten u. a. Katarrhe und Katarrhfieber mit 14,6 Prozent, gastrisches Fieber sowie Schleim- und Nervenfieber mit 12,6 Prozent, Gastrizismen mit 10,4 Prozent, Rheumatismus, rheumatisches Fieber und diverse chronisch entzündliche Krankheiten mit 9,9 Prozent, Krätze mit 8,7 Prozent, Rotlauf und Rotlauffieber sowie Gesichtsrosen und bakterielle Infektionen der Haut mit 8,2 Prozent, Lungen- und Brustfellentzündungen mit 5,3 Prozent, Koliken, Krämpfe und Magenleiden mit 4,0 Prozent, Hals- und Kehlkopfentzündungen mit 3,4 Prozent, Halsbräune mit 3,4 Prozent, Diarrhö mit 2,7 Prozent, Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten mit 2,5 Prozent, Bleichsucht mit 2,2 Prozent und sonstige Beschwerden mit 10,7 Prozent. 28,3 Prozent der Patienten kamen mit »chirurgischen Erkrankungen« und Verletzungen in die Anstalt.79 Von diesen litt der weitaus größte Teil unter Geschwulsten, Geschwüren und Abszessen aller Art. All diese Erkrankungen dürften auch eine Rolle in der Praxis der Haller Homöopathen gespielt haben. Angeforderte Potenzen Die in der Löwen-Apotheke mit Abstand meistbestellten Potenzen waren D4, D3 und D2, gefolgt von D5, D1, D6 und Urtinkturen. Dies verdeutlicht eine bevorzugte Verordnung und damit Einnahme von Mitteln in niedriger Potenzierung. Mittel mit hoher Potenzierung wie D10, D15 oder D30, Kombinationen mehrerer Homöopathika80, Mischungen aus Homöopathikum und Phytotherapeutikum oder Geheimmittel81 machten einen relativ geringen Anteil an den abgegebenen homöopathischen Mitteln aus (Abb. 5). Unter den 78 Von Hahnemann sowie von Clemens und Friedrich von Bönninghausen liegen Krankenjournale mit Aufzeichnungen der einzelnen Symptome der Patienten vor. Die meisten Beschwerden bezogen sich bei Clemens und Friedrich von Bönninghausen (Baschin (2014), S. 146 f.) ebenso wie bei Hahnemann (Hörsten (2004), S. 56 und S. 58–60) auf Fieberzustände und Probleme im Magen-Darm-Trakt, aber auch Husten gehörte zu den häufig geschilderten Symptomen. 79 Stihler (2011), S. 358. 80 Dies waren nicht nur Doppelmittel, die aus zwei homöopathisch aufbereiteten Arzneistoffen zusammengesetzt waren, sondern auch Dreifachmittel oder Fünfer-Kombinationen. Zu Doppelmitteln Sahler (2003), S. 22 f., und Blessing (2010), S. 1–8. 81 Geheimmittel oder Arcana waren Substanzen, die in unbekannter Zusammensetzung verkauft wurden.
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4
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29
8
42 356
64 303
209 409
1063
1467 1296
Urtinktur D1 D2 D3 D4 D5 D6 D8 D10 D15 D30 Kombinationsmittel Hom.-Phyt. Präparate Geheimmittel Potenzierung unbekannt
Abb. 5: Anzahl der abgegebenen homöopathischen Arzneien, bezogen auf die Zubereitung oder Potenzierung. Die Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall. D = Dezimalpotenzen; Hom.-Phyt. Präparate = Homöopathisch-Phytomedizinische Kombinationspräparate
ausgewerteten Rezepten der Löwen-Apotheke in Hall finden sich insgesamt 29 Verordnungen über Kombinationsmittel aus mehreren homöopathischen Einzelwirkstoffen. Neben diesen Komplexmitteln rezeptierten die homöopathischen Ärzte teilweise auch zwei oder drei Einzelmittel für eine kranke Person, die zu unterschiedlichen Tageszeiten einzunehmen waren.82 Zudem verordnete der Heilpraktiker Jaeggle neben »klassischen« Homöopathika auch die Mattei’schen elektro-homöopathischen Mittel, deren Zusammensetzung nur teilweise bekannt war.83 Gemäß der Ministerialverfügung vom 25. Juli 1883 schienen sich die Haller homöopathischen Ärzte bei ihrer Verordnung vorwiegend nach der »Homöopathischen Pharmakopöe« von Carl Ernst Gruner (1798–1875) zu richten84, da sich unter den ausgewerteten Rezepten der Löwen-Apotheke nur Verschreibungen über D-Potenzen finden und keine C-Potenzen, die der Verordnungsweise Hahnemanns entsprechen würden. Dieses Ergebnis der analysierten Daten aus Hall deckt sich mit der folgenden Äußerung des Göppinger 82 Auch der in Württemberg tätige Laienheiler Eugen Wenz (Faltin (1996), S. 199) und der populäre, aber zugleich umstrittene Homöopath Arthur Lutze (Blessing (2010), S. 8) wechselten bei akuten Krankheiten zwischen verschiedenen Mitteln ab. 83 Es finden sich 42 Verordnungen derartiger Geheimmittel. Graf Cesare Mattei (1809– 1896) begründete die »Elektrohomöopathie«, eine Art Geheimmittelmedizin, indem er Grundzüge der Homöopathie Hahnemanns, der alchemistischen Spagyrik und der Humoralpathologie kombinierte und verschiedene Mittel mit geheim gehaltener Zusammensetzung herstellte: Helmstädter (1996) sowie Jütte: Geschichte (1996), S. 229–237. 84 Gruner (1846). Der Dresdner Apotheker war der Erste, der in seinem Arzneibuch das Dezimalsystem statt der Centesimalskala verwendete.
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Apothekers Carl Müller in den Homöopathischen Monatsblättern im Jahr 1907: »Was heute in den homöopathischen Apotheken feilgeboten und ohne weitere Bezeichnung abgegeben wird, ist nach dem Dezimalsystem hergestellt.«85 Im Vergleich zur geläufigen Verordnungsweise der Haller Homöopathen verwendete der Münsteraner Homöopath Clemens von Bönninghausen, ebenso wie später sein Sohn Friedrich, standardmäßig die 200. C-Potenz.86 Beide verschrieben den Kranken in vielen Fällen zwei Arzneistoffe, meist durch Placebogaben getrennt.87 Diese als Sequenzgabe bezeichnete Methode praktizierte auch Hahnemann.88 Der württembergische Arzt Rapp89 behandelte in seiner Rottweiler Praxis bis in die 1860er Jahre zunächst mit Rademacher’schen Mitteln90, wandte sich aber ab 1863 verstärkt der Homöopathie zu. Er verwendete höhere und höchste Potenzen91, Doppelmittel sowie Mittel von Mattei und Zimpel92. Preise der homöopathischen Arzneimittel Im Bereich der Homöopathie gab es bis Mitte des 19. Jahrhunderts keine konkreten Vorgaben zur Festsetzung der homöopathischen Arzneimittelpreise und der Taxation homöopathischer Rezepte. Für Württemberg findet sich eine erste Bekanntmachung zur Taxe der homöopathischen Arzneimittel im
85 Homöopathische Monatsblätter 32 (1907), S. 53. 86 Vgl. Baschin (2014), S. 215. Clemens von Bönninghausen gilt als Wegbereiter der Hochpotenzen in Deutschland, um deren Verwendung ein heftiger Konflikt entbrannte, da in einer derartig hohen Verdünnung kein Molekül der Ausgangssubstanz im Arzneimittel enthalten ist: Schmidt (2001), S. 13, und Jacobi (1995), S. 33. So unterschieden sich innerhalb der Homöopathie die Anhänger der »naturwissenschaftlich-kritischen« Richtung, die sich um eine Annäherung an die Schulmedizin bemühten und die vor allem mit niedrigen Potenzen arbeiteten, von den »echten« oder auch »klassischen« Homöopathen, die wie Hahnemann C30-Potenzen oder noch höhere Verdünnungen bevorzugten: Baschin (2014), S. 42 und S. 44–46. 87 Baschin (2014), S. 208 f., und Baschin (2011), S. 119. 88 Hörsten (2004), S. 65. 89 Zur Biographie Rapps siehe Held (1999) und Ausschuss der Hahnemannia (1889), S. 24. Rapp, zunächst als Professor für Innere Medizin nach Tübingen berufen, war von 1854 bis 1882 als Oberamtsarzt in Rottweil tätig, ehe er im November 1882 seine Funktion als neu ernannter Leibarzt der Königin Olga in Stuttgart ausübte. 90 Vgl. Rademacher (1843). Der Arzt Johann Gottfried Rademacher (1772–1850) entwickelte ein an Paracelsus angelehntes medizinisches Behandlungskonzept, das er »Erfahrungsheilkunde« nannte. 91 Vgl. Held (1999), S. 60, sowie StALB, E 162 I Bü 472, Fasz. 88, und Kreisarchiv Rottweil, 8001,2// 8014 (alt), Nr. 10. 92 Carl Friedrich Zimpel (1801–1879) ersann aus Ideen der Homöopathie, des Magnetismus, der Alchemie und aus religiösen Vorstellungen des mystischen Pietismus sein »Allerneustes Heilsystem«: Helmstädter (2001), Helmstädter (1990) sowie Jütte: Geschichte (1996), S. 229.
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Regierungs-Blatt vom 19. März 1859.93 Für eine angemessene Bezahlung des Apothekers bei der Herstellung homöopathischer Arzneimittel sprachen sich in Württemberg sowohl homöopathische Ärzte als auch die homöopathischen Laienvereine aus. Beispielsweise beantragte der Oberamtsarzt Dr. Wilhelm Dietz aus Freudenstadt im Schwarzwaldkreis, der sich der aufwendigen Herstellungsweise der Homöopathika bewusst war, beim Medizinalkollegium bereits im Jahr 1846 höhere Taxpreise für Homöopathika als für allopathische Präparate.94 Der Arzneimittelpreis der homöopathischen Zubereitungen sollte sich nicht allein nach dem Materialwert richten, sondern der Sorgfalt und dem zeitlichen Aufwand des Apothekers entsprechen. Seitens der Laienvereine vertraten 1902 anonyme Autoren in den Homöopathischen Monatsblättern die Ansicht, dass »die Mühe und Arbeit« eines Apothekers entsprechend belohnt werden sollte, denn nur dann würde dieser die homöopathischen Arzneimittel gewissenhaft herstellen.95 Generell war den Laienvereinen stets mehr am Vertrauen in die Qualität der Homöopathika gelegen als an deren günstigem Preis.96 Basierend auf den ausgewerteten Rezepten der Löwen-Apotheke lag der Durchschnittspreis eines homöopathischen Arzneimittels unabhängig von Wirkstoff, Potenzierung oder Darreichungsform bei 0,55 Mark (Abb. 6). Betrachtet man hingegen die durchschnittlichen Preise in Bezug auf die Potenzierung, ergibt sich folgendes Bild: Unabhängig vom Wirkstoff gehörten die Urtinkturen und einige der niedrigen Potenzen – D2, D3 – zu den Mitteln mit Preisen über dem Durchschnitt – 0,56 Mark bis 0,63 Mark. Am teuersten waren die aus mehreren homöopathischen Mitteln zusammengesetzten Rezepturen mit durchschnittlich 0,87 Mark respektive die Kombination aus einem Homöopathikum und einem Phytotherapeutikum in einer Rezeptur mit 2,31 Mark. Eine 15. oder 30. Dezimalverdünnung kostete hingegen nur rund zwei Drittel einer Urtinktur. Daraus lässt sich schließen, dass sich der vermehrte Arbeitsaufwand für einen höheren Potenzierungsgrad nicht im Preis niederschlug, sondern vielmehr der Preis des Ausgangsstoffes eine Rolle für den verlangten Betrag spielte. Laut der Verkaufslisten der großen homöopathischen Central-Apotheken wurden höhere Preise für Urtinkturen und amerikanische Essenzen sowie für niedere Potenzen von sehr teuren Ausgangsstoffen wie Ambra, Aurum, Lachesis, Moschus oder Platin verlangt.97 Dieses höhere Entgelt für teurere Ausgangsstoffe wird auch ersichtlich, wenn man die Preise der einzelnen Darreichungsformen betrachtet.
93 Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg (1859), S. 53–55. Zu den Taxänderungen für homöopathische Arzneimittel in den Jahren 1892, 1894 und 1902 vgl. StALB, E 162 I Bü 1239, sowie Medizinal-Bericht von Württemberg über das Kalenderjahr 1892/93 (1895). 94 StALB, E 162 I Bü 1239, Fasz. 9 und 13. Vgl. Winterhagen (2020), S. 256 f. 95 Homöopathische Monatsblätter 27 (1902), S. 27 f., und Winterhagen (2020), S. 257. 96 Wolff (1996), S. 122. 97 Mauch (1914), S. 4, und Bader [um 1905], S. 6. Der Cannstatter Apotheker Virgil Mayer gab besonders teure Tinkturen nach den Tages- und Einkaufspreisen ab: Mayer [um 1915], S. 11.
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Mark 2,50 2,25 2,00 1,75 1,50 1,25 1,00 0,75 0,50 0,25 0,00 Zubereitung
Abb. 6: Preise der abgegebenen homöopathischen Zubereitungen für alle analysierten Jahre. Die Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall. D = Dezimalpotenzierungsstufe; Hom.-Phyt. Präparate = Homöopathisch-Phytomedizinische Kombinationspräparate
Die günstigsten – und auch am häufigsten verlangten – Darreichungsformen waren Dilutionen (0,54 Mark) und Triturationen (0,57 Mark), während Tabletten (1,10 Mark) und Salben (0,85 Mark) zu den teuersten Arzneiformen zählten. Die Frage, ob homöopathische Arzneimittel auf Kassen- und Privatrezept gleich viel kosteten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es finden sich sowohl Fälle, in denen der Apotheker denselben Preis forderte, als auch solche, in denen Mittel auf Privatrezept teurer waren. Ein Preisvergleich fällt mitunter schwer, weil unterschiedliche Mengen, Potenzen und Darreichungsformen verordnet wurden. Generell waren die homöopathischen Arzneimittel günstiger als die allopathischen Arzneigemische. Dieses Ergebnis lieferte eine Auswertung von 1.770 allopathischen Verordnungen, die sich neben den Homöopathika auf den ausgestellten Rezepten befanden. Bei einem Gesamtwert von 1.511,73 Mark ergab sich der Durchschnittspreis eines allopathischen Arzneimittels von 0,85 Mark. Somit stellten homöopathische Arzneimittel vor allem für weniger Begüterte eine preiswertere Alternative dar.98 Möglicherweise nahmen ärmere Patienten die Homöopathie also aufgrund finanzieller Erwägungen in Anspruch. Fragt man nach der Erschwinglichkeit homöopathischer Arzneimittel Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, so müssen für den gleichen Zeitraum die Lebensmittelpreise und Tageslöhne als Vergleich herangezogen werden. Für Hall liegt hierzu lediglich eine Angabe für die Arbeiter des Steinsalzbergwerkes Wilhelmsglück vor, nach wel98 Zur Erschwinglichkeit homöopathischer Behandlungen und der entsprechenden Arzneimittel Wolff (1987) und Wolff (1996).
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cher der Lohn einen Tagesverdienst von 1,40 bis 1,60 Mark ausweist.99 Zum weiteren Vergleich können aber aus einer allgemeinen Erhebung für das Deutsche Kaiserreich100 die durchschnittlich ermittelten Tageslöhne für die Eisen- und Stahl-Industrie sowie für die Woll- und Baumwoll-Industrie dienen, zwei Betriebszweige, die auch in Hall vertreten waren. Im Jahr 1887 lag der durchschnittliche Tageslohn für Arbeiter in der Eisen- und Stahl-Industrie bei 2,20 Mark, in der Woll- und Baumwoll-Industrie nur bei 1,50 Mark.101 Vergleichsweise betrug der ortsübliche Tageslohn für die württembergische Oberamtstadt Gmünd in den Jahren 1894 und 1900 für männliche Personen über 16 Jahre zwei Mark, in den Landorten 1,70 Mark.102 Im Schnitt machte ein rezeptiertes homöopathisches Arzneimittel rund ein Viertel des üblichen Tageslohns aus.103 Überwiegend rezeptierten die Haller homöopathischen Ärzte eine Menge von fünf bis acht Gramm eines Homöopathikums, von dem dann nur wenige Tropfen oder eine Messerspitze Pulver einzunehmen war und das somit für eine gewisse Zeit vorhielt. Insgesamt dürften homöopathische Arzneimittel also für nahezu »jedermann« erschwinglich gewesen sein. Herstellung und Abgabe unterschiedlicher Darreichungsformen homöopathischer Arzneimittel Die in der Löwen-Apotheke mit Abstand am häufigsten abgegebenen Darreichungsformen waren die Dilutionen mit 56 Prozent, gefolgt von den Triturationen mit 30 Prozent.104 Von den Haller homöopathischen Ärzten war Dr. Bilfinger der Einzige, der bei Dilutionen zum Wirkstoff neben Aqua destillata ein Geschmackskorrigenz (Syrup succ.) verschrieb – unabhängig davon, ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen handelte. Dr. Jäger und Dr. Löhrl verordneten hingegen Dilutionen ohne geschmacksverbessern-
99 Vgl. Beutter (1991). 100 Born (1985), S. 85. Hiernach ergaben sich nicht nur enorme Unterschiede zwischen den Löhnen gelernter und ungelernter Arbeiter, sondern auch zwischen den einzelnen Branchen. Vgl. Pies (2003). 101 Im Jahr 1913 ergab sich in der Eisen- und Stahl-Industrie ein durchschnittlicher Tageslohn von 3,72 Mark, in der Woll- und Baumwoll-Industrie von 2,36 Mark. 102 StadtA Gmünd, Adreß- und Geschäftshandbuch der Oberamtsstadt Gmünd 1894 und 1900. Vgl. Baschin (2012), S. 181. Ab 1893 lag auch in der Stadt Münster in Westfalen der Tageslohn »für gewöhnliche Tagearbeiter« für männliche Personen über 16 Jahre bei zwei Mark. 103 Als Ersatz für fehlende Lebensmittelpreise aus Hall mögen Angaben für die württembergische Oberamtsstadt Göppingen dienen. Zu Beginn des Jahres 1900 kosteten hier beispielsweise zehn frische Eier 70 Pfennige und ein Pfund Äpfel 20 Pfennige: StadtA Göppingen, Göppinger Wochenschau vom 13.1.1900. 104 Vgl. Baschin (2014), S. 210. Die Patienten des Münsteraner Homöopathen Friedrich von Bönninghausen erhielten entweder Globuli, die sie zu zerkleinern hatten, oder gleich zu Pulver zerstoßene Globuli.
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den Zusatzstoff.105 Die Anzahl der rezeptierten äußerlichen Anwendungen homöopathischer Zubereitungen, wie Augentropfen oder Salben, belief sich auf unter ein Prozent.106 Bei der geschlechtsbezogenen Betrachtung der abgegebenen Darreichungsformen fällt auf, dass Männer 2,5-mal mehr abgeteilte Pulver erhielten als Frauen und in etwa doppelt so oft Globuli, hingegen bekamen Frauen als preisgünstigere Darreichungsform häufiger Dilutionen verordnet. Tiere erhielten nur Dilutionen oder Triturationen und damit diejenigen Zubereitungen, die am wenigsten kosteten. Die Haller Krankenkassen Zur Absicherung der ärmeren Bevölkerungskreise im Krankheitsfall etablierten sich in Württemberg im Laufe des 19. Jahrhunderts die ersten Krankenkassen.107 Sie wurden nicht nur für eine Reihe von Staatsbetrieben errichtet – beispielsweise für die Salinen- und Bergarbeiter oder das Dienstpersonal der Eisenbahn –, sondern auch Gemeinden und Fabrikbesitzer wurden dazu aufgefordert, Krankenkassen ins Leben zu rufen.108 Vor allem Lehrlinge, Gewerbegehilfen und Dienstboten waren gezwungen, diesen Versicherungen beizutreten.109 In Hall bestanden bereits vor Einführung der reichsweiten gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den Jahren 1883 und 1884 folgende Krankenkassen110: die Kranken-Anstalt für Gewerbe-Gehülfen, Lehrlinge und Dienstboten in der Stadt Hall (1850)111, die Knappschaftskasse der Saline Hall 105 Dr. Bilfinger empfahl zum Beispiel für Kinder bei Dilutionen die Einnahme von einem Kaffeelöffel, bei Erwachsenen von einem Esslöffel. Dr. Jäger verordnete für Kinder bei Triturationen eine kleine Messerspitze, bei Erwachsenen eine Messerspitze. Ansonsten fielen die Dosierungshinweise Jägers ganz unterschiedlich aus; so lauteten sie etwa »alle 2 h 1 Esslöffel« oder »morgens vor dem Frühstück 7 Tropfen«. Zu den Einnahmehinweisen, die der Homöopath Friedrich von Bönninghausen seinen Patienten gab, vgl. Baschin (2014), S. 210 f., für die Praxis Hahnemanns die Angaben zu der Applikationsweise in den einzelnen Kommentarbänden zu den bereits edierten Krankenjournalen. Nach Hoffmann (2014), S. 154, erhielten Frauen oft besser aussehende und angenehmer schmeckende Arzneien. 106 Vgl. Papsch (2007), S. 100. Bei Hauterkrankungen lehnte Hahnemann die lokalen homöopathischen Anwendungen ab, da es dadurch lediglich zur Unterdrückung von Symptomen komme, welche die eigentlich innere Krankheit zu ihrer Entlastung an der Körperoberfläche zeige. 107 Vgl. Förtsch (1995), S. 34 und S. 36. Zur Situation im Deutschen Reich siehe Frevert (1984), S. 17, Huerkamp (1985), S. 194, Stolleis (2003), S. 77, Hoffmann (2014), S. 63 f., und Tennstedt (1976), S. 386–388. 108 Förtsch (1995), S. 34. 109 Förtsch (1995), S. 34, und Stihler (2011), S. 347 f. 110 Förtsch (1995), S. 36–38. Vgl. Abb. 7: Hier erfolgte – abweichend von Förtsch – die Nennung der Krankenkassen in Hall gemäß den Angaben auf den Originalrezepten aus der Löwen-Apotheke. 111 StadtA Hall, DekA/155e, und HStAS, E 150 Bü 6105, Fasz. 18, 25, 55 sowie 67 f.
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19 0
Kasse Mack Landesgesetzl. Bez.-Krankenpflege-Vers.
195
3.525
KK Holch
71
Orts-KK
267
5.263
Eisenbahnbetriebs-KK
69
232
Kasse Groß
301
Glückauf
100
Bezirks-Gemeinde-KK
1
5 4 132
961
Knappschaftskasse Wilhelmsglück
37 0
Postbeamten-KK
188
27
Reichsgesetzl. Bez.-Gemeinde-KV
2.037 0
Salinen-Arbeiter-UnterstützungsK
522 3
Arbeiter-KK Held & Teufel
718 0
Kirchdörfer`sche Arbeiter-KK 0%
109 20 %
40 % 60 % Anteil Rezepte
80 %
7 100 %
Abb. 7: Anteile der abgegebenen homöopathischen und allopathischen Verschreibungen für alle analysierten Jahre, bezogen auf die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Die Auswertung basiert auf den acht untersuchten Jahrgängen der Rezeptsammlung aus der Löwen-Apotheke in Schwäbisch Hall; K = Kasse; KK = Krankenkasse; KV = Krankenversicherung
und des Steinsalzbergwerks Wilhelmsglück112, die Unterstützungskasse für die Arbeiter der Baumwoll-Fabrik Churr113, die Fabrikkasse von Friedrich Groß junior114 sowie der Maschinenfabrik Heinrich115 und der Fabrik Kirchdörfer116, die Krankenkasse der mechanischen Baumwollspinnerei Held & Teufel117, ebenso die Krankenversicherungskasse der Familien der Maschinenfabrik in Steinbach118, die Kranken-Unterstützungskasse des Arbeiter-Bildungs112 HStAS, E 150 Bü 6110 und Bü 6111. 113 StALB, E 191 Bü 6231. 114 HStAS, E 150 Bü 6105. Die Fabrik Friedrich Groß jun. erhielt 1884 ihre Zulassung als Betriebskrankenkasse: HStAS, E 150 Bü 6145. 115 HStAS, E 150 Bü 6105. 116 HStAS, E 150 Bü 6105 und Bü 6110 sowie Bü 6111. Kirchdörfer gründete 1868 eine »Fabrik-Unterstützungs & Kranken-Casse«. 117 HStAS, E 150 Bü 6105. 118 HStAS, E 150 Bü 6105.
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Vereins der Stadt Hall und die Central-Kranken- und Sterbekasse der Tischler und anderer verwandter Gewerbe sowie diejenige der deutschen Wagenbauer in Hamburg. Die Haller Bürger, die bei der Eisenbahn oder der Postverwaltung beschäftigt waren, gehörten den staatlichen Betriebskrankenkassen in Württemberg an.119 Nach Inkrafttreten der GKV wurden die bestehenden Krankenkassenorganisationen in das neue Krankenversicherungssystem integriert, womit die Pluralität der Krankenversicherungsträger bestehen blieb.120 Neben der neu gegründeten, sämtliche Gewerbezweige umfassenden Ortskrankenkasse121 waren in Hall nur noch die Gemeinde-Krankenversicherungen122 und die Betriebs-(Fabrik-)Krankenkassen123 von Bedeutung124. Für die Versicherungspflichtigen der 27 Landgemeinden wurde eine »Gemeinsame Gemeindekrankenversicherung des Bezirks Hall« errichtet.125 Im Rahmen der Reform der Knappschaftskasse der Salinenarbeiter in Hall und Wilhelmsglück126 wurden vom Dezember 1884 an alle fünf Salzbergwerke Württembergs zu einem 119 HStAS, E 150 Bü 6132, Fasz. 118, S. 3, E 150 Bü 6163, Fasz. 2 f., sowie E 150 Bü 6171, Fasz. 10. 120 Vgl. Förtsch (1995), S. 22, sowie HStAS, E 150 Bü 6158, Fasz. 53, und E 150 Bü 6171, Fasz. 22. Die Statistik der Krankenversicherung in Württemberg benennt für das Jahr 1893 insgesamt 572 Kassen, davon waren 458 reichsgesetzliche Kassen und 114 landesrechtliche Krankenpflegeversicherungen. 121 Vgl. Förtsch (1995), S. 26, S. 42 sowie S. 46. 1884 wurde die Ortskrankenkasse Hall als Vorläufer der späteren Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) eingerichtet. Normalerweise sollten die Ortskrankenkassen für die in einem Gewerbezweig Beschäftigten und somit für Personen mit ungefähr gleichem Krankheitsrisiko errichtet werden. Die ökonomisch-strukturelle Lage in Hall ließ diesen Grundtypus der Ortskrankenkassen jedoch nicht zu. Hier waren in einer Ortskrankenkasse Arbeiter aus Betrieben verschiedener Berufsgenossenschaften vereinigt: HStAS, E 146 Bü 6871. 122 Förtsch (1995), S. 28. Die Gemeinde-Krankenversicherung erfasste alle versicherungspflichtigen Personen, die keiner anderen Kasse angehörten. Diese Kasseneinrichtung unterschied sich von den Ortskrankenkassen vor allem in der Erstattung geringerer Leistungen. 123 Dies waren die Kassen der Firmen Held & Teufel, Friedrich Groß jun., Wälde, Kade, Erath (Krankenkasse »Glück auf« in Steinbach) sowie des Bau- und Steinbruchgeschäfts von Karl Holch: HStAS, E 146 Bü 6871, E 150 Bü 6163, Fasz. 6 f., und E 150 Bü 6171, Fasz. 5 f. 124 HStAS, E 150 Bü 6442. Hier findet sich für die Betriebs-(Fabrik-)Krankenkassen des Bezirks Hall für das Jahr 1885 eine tabellarische Übersicht über die Anzahl der Mitglieder, die Krankheits- und Sterbefälle, die Ausgaben für ärztliche Behandlung und Arzneikosten sowie zum Beitrag der Versicherten. Dieser lag für die Firma Held & Teufel sowie für die Firma »Glück auf« bei zwei Prozent des Tageslohns, für die Firma Friedrich Groß junior bei 2,5 Prozent. Die Mitglieder der Gemeinde-Krankenversicherung des Bezirks Hall zahlten im Jahr 1885 1,5 Prozent des ortsüblichen Tageslohns, die Versicherten der Ortskrankenkasse Hall 2,5 Prozent. 125 HStAS, E 150 Bü 6110 und Bü 6111, Förtsch (1995), S. 43, sowie Stihler (2011), S. 362 f. Die bisherige Haller Dienstboten-Anstalt ging am 1. Februar 1886 in der neu gegründeten Bezirkskrankenpflegeversicherung auf. 126 Vgl. Beutter (1991). Der Beitrag für die Salinenhilfskasse betrug für jedes Mitglied 1,5 Prozent des Tageslohns.
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»Knappschaftsverein der vereinigten Salzwerke« mit Sitz in Stuttgart zusammengefasst. Daneben bestanden in Hall und Wilhelmsglück noch »Lokalstationen« dieses Vereins.127 Im Oberamt Hall war die Ortskrankenkasse Hall mit anfangs 614 Mitgliedern die größte der neugebildeten reichsgesetzlichen Krankenkassen. Zusammen mit den 194 Mitgliedern der beiden Betriebskrankenkassen Friedrich Groß und Held & Teufel waren im Jahr 1885 von ca. 9.100 Einwohnern in Hall fast neun Prozent krankenversichert.128 Gemäß einer Statistik der Krankenversicherung in Württemberg ergaben sich für das Jahr 1887 für Hall 669 Mitglieder in der Ortskrankenkasse129, 487 in der Gemeinde-Krankenversicherung, 106 in der Betriebskrankenkasse Held & Teufel, 98 in der Betriebskrankenkasse Friedrich Groß, 44 in der Betriebskrankenkasse »Glück auf« in Steinbach sowie 3.103 Mitglieder in den Krankenpflegeversicherungen130. Letzteren gehörten somit erheblich mehr Personen an als den vom Gesetzgeber als Standard vorgesehenen Ortskrankenkassen oder den Betriebskrankenkassen. Im Jahr 1890 kamen im Gebiet des heutigen Landkreises Schwäbisch Hall auf einen reichsgesetzlich Versicherten statistisch 1,6 landesrechtlich Versicherte.131 Ein Grund hierfür liegt in der überwiegend von Landwirtschaft und Dienstbotengewerbe geprägten Wirtschaftsstruktur des Haller Raums, in dem größere Schichten von Industriearbeitern fehlten.132 Kostenerstattung homöopathischer Arzneimittel durch die Krankenkassen An der Medikamentenbelieferung der Kassenpatienten wollten alle drei Haller Apotheken teilhaben, sie erhielten abwechselnd Lieferverträge. Die Arzneimittelpreise gestalteten sich durch eine einheitliche Arzneimitteltaxe für alle Apotheken gleich. Da die Medikamente jedoch einen erheblichen Kostenfaktor darstellten, gab es seitens der Kassen immer wieder Anlass zu drastischen Sparversuchen. Gemäß der Satzung des Krankenkassengesetzes durften die Krankenkassen mit einzelnen Apothekern Vorzugspreise für die Arzneilieferung vereinbaren und die Bezahlung der Rechnungen133 derjenigen anderen 127 128 129 130
Förtsch (1995), S. 44, und HStAS, E 146 Bü 6871. Förtsch (1991), S. 58. HStAS, E 150 Bü 6133, Fasz. 4, 7, 23 sowie 32 f. HStAS, E 150 Bü 6149. Im Jahr 1887 beliefen sich die Ausgaben für Arznei und sonstige Heilmittel bei der Gemeinde-Krankenversicherung auf 1.159 Mark (1,15 Mark pro Mitglied), bei der Ortskrankenkasse Hall auf 1.748 Mark (2,38 Mark pro Mitglied) und bei den Betriebskrankenkassen Held & Teufel auf 238 Mark (2,27 Mark pro Mitglied), Friedrich Groß auf elf Mark (2,22 Mark pro Mitglied) sowie »Glück auf« auf 133 Mark (2,51 Mark pro Mitglied). Die hier angegebenen Beträge pro Mitglied wurden der Staatsarchivakte entnommen, die eigene Berechnung führte zu abweichenden Ergebnissen. 131 Förtsch (1995), S. 54. Hingegen fiel das Verhältnis in Gesamtwürttemberg mit 1,7 : 1 nahezu umgekehrt aus: Drees (1986/87), S. 153. 132 Förtsch (1995), S. 153. 133 Die Rechnungen der Apotheker an die Kassen wurden jedes Jahr kontrolliert, zunächst vom Oberamtsarzt, mit Einführung der GKV dann durch die jeweiligen Kassenärzte.
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Apotheken ablehnen, welche sich nicht bereit erklärten, die Lieferung an die Kassenmitglieder zu gleichen Preisen zu übernehmen134. In Hall handelten die Krankenkassen mit den ortsansässigen Apothekern zunächst einen Rabattsatz von jeweils zehn Prozent für die von den Versicherten bezogenen Medikamente aus.135 Ab 1887 beschlossen die württembergischen Apotheker dann Rabattsätze, die nach der Höhe der Jahresrechnungen gestaffelt waren und von zehn bis 15 Prozent reichten.136 Ende der 1890er Jahre gab es Rabatte von 15 Prozent nur noch, wenn die Kassenmitglieder ihre benötigten Arzneimittel sofort bezahlten. Zu ihrer Legitimierung mussten sie ihr Rezeptformular vor dem Gang in die Apotheke durch den Kassierer der Kasse abstempeln lassen.137 Im Jahr 1903 verfügte das württembergische Ministerium des Inneren in einer Novelle zum Krankenversicherungsgesetz, dass die Krankenkassen bestimmte Apotheken für die Lieferung der Arznei vorschreiben konnten.138 Diese Verordnung dürfte nur den Kassen einen Vorteil gebracht haben. Hingegen konnten die Versicherten ihre benötigten Arzneimittel nicht, wie sonst üblich, aus der ihnen nächstgelegenen Apotheke beziehen, sondern mussten ggf. eine weiter entfernt liegende Apotheke aufsuchen. Zudem verloren die nicht begünstigten Apotheker aufgrund ihres Ausschlusses von der Arzneibelieferung mitunter einen bedeutenden Teil ihres Kundenkreises. Daher schlug der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) dem württembergischen Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten im Juni 1908 eine gesetzliche Festlegung der freien Apothekenwahl vor.139 In Hall verordnete Dr. Bilfinger bereits im Jahr 1878 und damit vor der offiziellen Einführung der GKV homöopathische Arzneimittel für Mitglieder der Kirchdörfer’schen Krankenkasse sowie der Holch’schen Arbeiterkrankenkasse. Doch auch die reichsgesetzlichen Krankenkassen schlossen Verträge mit homöopathisch tätigen Ärzten ab.140 Nach Initiierung der GKV 1883 war Dr. Jäger der einzige Arzt in Hall, der homöopathische Arzneimittel zu Lasten der Krankenkassen141 verordnete: 1893 für Mitglieder der Dienstboten-Krankenkasse, der Gemeinde-Krankenkasse, der Eisenbahnbetriebs-Krankenkasse, 134 HStAS, E 150 Bü 6132, Fasz. 107. 135 Zu den Vertragsabschlüssen zwischen Apothekern und Krankenkassen vgl. Förtsch (1995), S. 107 ff. 136 Förtsch (1995), S. 107. Vgl. HStAS, E 150 Bü 6150, Fasz. 48. 137 Förtsch (1995), S. 108. 138 HStAS, E 150 Bü 6131, Fasz. 24. 139 HStAS, E 150 Bü 6132, Fasz. 107. 140 Zu der Stadt Münster vgl. Baschin (2014), S. 78. Im Gegensatz zu Friedrich von Bönninghausen wurde der Homöopath Hermann Schnütgen (1846–1919) hier als Kassenarzt geführt. 141 Förtsch (1995), S. 79 f. Der Kassenarzt allein war für die Kassenmitglieder zuständig. Durch Kassenstatut war die Gewährung freier ärztlicher Behandlung beschränkt auf diesen Mediziner, der durch seine Arzneimittelverschreibungen in maßgeblicher Weise die Beziehung der Kasse zu den Apothekern beeinflusste. Wer einen anderen Arzt konsultierte, hatte die Kosten selbst zu tragen. Erst ab 1904 – nach Verhandlungen des »Vereins der Ärzte von Hall und Umgebung e. V.« mit den Krankenkassen im Oberamt Hall – bestand freie Arztwahl der Krankenversicherten unter den vor Ort ansässigen
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der Postbetriebs-Krankenkasse sowie der Fabrikkrankenkasse Held & Teufel, im Jahr 1898 für Versicherte der Ortskrankenkasse, der EisenbahnbetriebsKrankenkasse sowie der Kassen »Groß« und »Glück auf«142. Im Jahr 1908 verschrieb Dr. Jäger Homöopathika für Mitglieder der Bezirks-Gemeinde-Krankenkasse, der Salinen-Krankenkasse, der Kasse Holch143 sowie der Dienstboten- und Postbetriebs-Krankenkasse und im Jahr 1913 für Versicherte der Ortskrankenkasse Hall sowie der Postbetriebs-Krankenkasse. Insgesamt zeigt die Rezeptanalyse, dass die einzelnen Krankenkassen die Anwendung von Homöopathika in unterschiedlichem Maße unterstützten. Führend waren hier die Eisenbahnbetriebs-Krankenkasse, die Postbeamten-Krankenkasse und die Bezirks-Gemeinde-Krankenkasse, bei denen sich der Rezeptanteil an homöopathischen Verordnungen auf zehn Prozent oder mehr belief (Abb. 7).144 Für die Mitglieder der Ortskrankenkasse Hall und der Landesgesetzlichen Bezirks-Krankenpflege-Versicherung wurden zwar die meisten homöopathischen Rezepte ausgestellt, ihr Anteil machte neben den allopathischen machte jedoch nur 4,8 Prozent bzw. 5,2 Prozent aus. Zusammengefasst ergab der durch Krankenkassen bezahlte Anteil an abgegebenen homöopathischen Mitteln 18 Prozent des Umsatzes mit Homöopathika. Anhand der exemplarisch ausgewerteten homöopathischen Rezepte lässt sich nicht quantifizieren, wie sich die Einführung der Krankenversicherung auf das Krankheitsverhalten der Betroffenen auswirkte145 und welchen Einfluss die eingerichteten Krankenkassen auf den Arzneimittelkonsum nahmen. Hierzu müssten weitere Jahrgänge gesichtet werden und vor allem auch die Rezepte über allopathische Verordnungen mit in die Bewertung einfließen. Ob sich das Arzneimittelkonsumverhalten im Bereich homöopathischer Arzneimittel abhängig vom Versichertenstatus der Kranken veränderte, kann im Rahmen dieser Studie daher nicht näher analysiert werden. Diese Frage wäre bei weiterführenden Untersuchungen in den Mittelpunkt zu stellen.
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Ärzten: Förtsch (1995), S. 92, sowie HStAS, E 150 Bü 6131, Fasz. 24 und 60. Zu den von Krankenkassen bezahlten Arzthonoraren vgl. HStAS, E 150 Bü 6131, Fasz. 14 und 71. Die Betriebskrankenkasse »Glück auf« der Firma Wälde, Kade & Erath in Steinbach wurde 1884 zugelassen: HStAS, E 150 Bü 6145. Die Einrichtung der Fabrikkrankenkasse des Bau- und Steinbruchgeschäftes Karl Holch erfolgte 1894: HStAS, E 150 Bü 6159. Zu berücksichtigen gilt, dass die Belege vermutlich nicht immer vollständig waren; so fanden sich beispielsweise im Rezeptbündel von 1893 für die Knappschaftskasse Wilhelmsglück nur Verordnungen vom 1. März bis zum 30. September. Es ist unwahrscheinlich, dass ab Oktober 1893 für die restlichen drei Monate des Jahres keine Verordnungen mehr erfolgten. Möglicherweise sind diese Rezepte im Paketbündel für das Jahr 1894 zu finden. Vgl. Förtsch (1995), S. 120. Die gesetzlich verordnete Krankenversicherung und die in ihr angelegten Disziplinierungsmechanismen brachten die Kassenmitglieder zunehmend ab von ihrem traditionellen Verhalten im Krankheitsfall.
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Zusammenfassung und Ausblick Die Auswertung der Rezeptsammlung der Löwen-Apotheke in Hall gibt einen umfangreichen Einblick in das Kundenspektrum, die vor Ort praktizierenden Ärzte sowie den mit homöopathischen Arzneimitteln zu erzielenden Apothekenumsatz. Als Kunden kamen Männer und Frauen in die Apotheke, um sich Homöopathika fertigen zu lassen, ebenso wurden hier für Kinder und Tiere homöopathische Medikamente besorgt. Die Kundschaft stammte überwiegend aus der Stadt Hall selbst oder dem unmittelbaren Umkreis, kam aber mitunter auch von weit her. Die Patienten, welche die Heilmethode Hahnemanns als eine mögliche Therapieoption auf dem »medizinischen Markt« in Hall nutzten, homöopathische Ärzte aufsuchten und die ausgestellten Rezepte dann in der Löwen-Apotheke einlösten, gehörten sämtlichen sozialen Schichten an. Die homöopathischen Mittel wurden vor allem als Dilutionen und Triturationen in niedrigen D-Potenzen aus der Löwen-Apotheke bezogen. Die Preise für Homöopathika fielen im Durchschnitt niedriger aus als für allopathische Präparate. Insgesamt konnten aufgrund der breiten Datenlage der Rezeptsammlung vielfältige Aspekte untersucht werden. Zwar sind diese Erkenntnisse, die von lediglich einer Apotheke in einer mittelgroßen Stadt des Reiches stammen und nur eine sehr begrenzte Zeitspanne umfassen, nicht ohne weiteres zu verallgemeinern146, aber die durch den Rezeptfund gewonnenen und ausgewerteten Daten konnten zumindest als solide Basis herangezogen werden, um für eine Apotheke mit staatlich anerkannter homöopathischer Einrichtung den Vertrieb von Homöopathika im Untersuchungszeitraum zu ermitteln. Auch wenn die analysierte Quelle teilweise nur eine Momentaufnahme abbildet, so zeichnet sie doch insgesamt ein deutliches Bild davon, dass die Homöopathie unabhängig von Geschlecht oder sozialem Status Anklang fand und die ärztlich verordneten Homöopathika mitunter auch von den Krankenkassen bezahlt wurden. Dieses zentrale Ergebnis steht nicht zuletzt aufgrund der Anzahl von fast 4.000 ausgewerteten homöopathischen Rezepten mit weit mehr als 5.000 Verordnungen auf einer aussagekräftigen Grundlage. Zweifelsohne blieben zahlreiche Forschungsmöglichkeiten und Fragestellungen offen. So könnte eine lückenlose Auswertung der Rezepte über alle erhaltenen Jahrgänge darüber Auskunft geben, ob unabhängig von den Rezepten approbierter Mediziner eine wachsende Nachfrage nach homöopathischen Mitteln in der Apotheke bestand. Eine solche würde dann auf eine Medikalisierung hinweisen, die nicht primär durch die akademisch ausgebildete Ärzteschaft, sondern deutlicher durch andere Heilergruppen oder auch die direkte Nachfrage der Patientinnen und Patienten selbst geprägt war.147 Derartige Überlegungen zum »Faktor Nachfrage« und zur »Medikalisierung
146 Ein direkter Vergleich zu anderen Apotheken mit homöopathischen Einrichtungen war aufgrund mangelnden Quellenmaterials nicht möglich. 147 Vgl. Hoffmann (2014), S. 92.
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von unten« finden sich bereits in mehreren Forschungsstudien.148 Weitergehende Erkenntnisse wären auch darüber zu gewinnen, wo der Homöopathische Verein Hall seine Medikamente bezog. Hierzu könnten beispielsweise Kassenbücher des Vereins Aufschluss geben, die sich möglicherweise noch im Familienbesitz ehemaliger Mitglieder befinden. Vermutlich ließe sich in diesem Zusammenhang auch ermitteln, wie die Motivation aussah, sich vorwiegend oder sogar uneingeschränkt in die Behandlung eines homöopathischen Arztes zu begeben.149 Um festzustellen, ob die Homöopathie eher als letzter Ausweg nach bereits vorangegangenen erfolglosen Behandlungsmethoden gesehen wurde150, müssten auch die allopathischen Rezepte mit den einzelnen Rezeptdaten und damit die zeitliche Abfolge eines aufgesuchten allopathisch oder homöopathisch praktizierenden Arztes erfasst werden. Hinsichtlich der homöopathischen Ärzte in Hall wäre zu eruieren, wie oft sie von ihren Patienten frequentiert wurden, ob die Kranken den Homöopathen mehrere Male in Anspruch nahmen oder ob die homöopathische Behandlung bereits nach einer einzigen Konsultation wieder beendet war.151 Interessant ist darüber hinaus die Frage, ob wohlhabendere Bevölkerungsschichten den Arzt oder Apotheker aufgrund ihrer besseren Einkommensverhältnisse häufiger aufsuchten als die unteren sozialen Schichten.152 Zudem wäre es wissenswert, ob die homöopathischen Ärzte in Hall nach dem Ersten Weltkrieg anstatt individueller, in der Apotheke gefertigter Homöopathika vermehrt industriell hergestellte Präparate153 rezeptierten und ob sich bei der Verordnung ein Trend abzeichnete von Einzel- hin zu Komplexmitteln, die in diesem Zeitraum eine größere Rolle spielten154. Insgesamt ergibt sich also ein umfangreicher Fragenkatalog für mögliche weitere Forschungsstudien, für welche die Rezeptsammlung der Haller Löwen-Apotheke herangezogen werden könnte.
148 Vgl. Ritzmann (2003) und Wolff (2003). Allgemein zum Prozess der »Medikalisierung« wie der Kritik an diesem Konzept siehe Eckart/Jütte (2007), S. 312–318, Drees (1986/87), Frevert (1984), Huerkamp (1985) sowie Loetz (1993). 149 Vgl. Papsch (2007), S. 24 f. 150 Baschin (2014), S. 104, und Baschin (2010), S. 143. 151 Vgl. Baschin (2010), S. 141–145, und Baschin (2014), S. 106. 152 Vgl. Papsch (2007), S. 34 f. Während in Hahnemanns Köthener Zeit (1833–1835) eine durchschnittlich dreifach höhere Arztfrequentierung durch die wohlhabendere Schicht erfolgte, war in seiner früheren Eilenburger Zeit (1800–1803) der Unterschied in der Anzahl der Konsultationen pro Patient lediglich doppelt so hoch wie in den unteren sozialen Schichten: Jütte: Patientenschaft (1996), S. 35; Vogl (1990), S. 177. 153 Vgl. Wolff (1996), S. 120. Die homöopathischen Laienvereine, aber auch viele homöopathische Ärzte trugen durch ihre Nachfrage nach den mit Schutzsiegeln versehenen Markenpräparaten aus den homöopathischen Central-Apotheken dazu bei, den Übergang von den einzeln in den Apotheken hergestellten Homöopathika zu industriell produzierten Mitteln zu beschleunigen. 154 Blessing (2010), S. 18 ff.
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 237–257, FRANZ STEINER VERLAG
Homeopathy and/or how to survive medical orthodoxy, Barcelona 1890–1924 Joel Piqué Buisan Zusammenfassung Homöopathie und/oder wie man medizinische Orthodoxie überlebt, Barcelona 1890–1924 Der vorliegende Artikel will zum geschichtlichen Verständnis der Rolle beitragen, die die Homöopathie in der wissenschaftlichen und sozialen Entwicklung Kataloniens im frühen 20. Jahrhundert (1890–1924) spielte, beginnend mit den Bemühungen dieser Gruppe um Professionalisierung und Anbindung an die kontemporäre orthodoxe Wissenschaft. Der Artikel untersucht die verschiedenen Legitimierungsstrategien, die von der Gruppe homöopathischer Ärzte eingesetzt wurden, um nicht von der zur Wissenschaft erklärten Strömung ausgeschlossen zu werden. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass die sozialen und wissenschaftlichen Aufbauprozesse der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, als die konzeptionellen Grundlagen der heutigen Medizin festgelegt wurden, entscheidend zur Legitimierung und wachsenden Anerkennung all der medizinischen Systeme beitrugen, die Teil der damaligen medizinischen Wissenschaft waren. In diesem Sinne wird besonders an Schlüsselmomente der medizinischen Entwicklung erinnert: die Institutionalisierung dieser Wissenschaft und die Art ihrer Verbreitung; die Marktkompetenz der Kliniken und Apotheken sowie das Verhältnis homöopathischer Arzneimittel zur Pharmaindustrie und der darauffolgende Wechsel vom Patienten zum Klienten; ebenso die Einführung von Labor- und Experimentaldiskursen als Schlüsselaspekte der wissenschaftlichen Konsolidierung der Medizin. Aufbauend auf der Untersuchung bidirektionaler Verbindungen in diesen verschiedenen Bereichen zeigt der Beitrag die Diskussionen, Auseinandersetzungen und erkenntnistheoretischen Veränderungen innerhalb der homöopathischen Bewegung auf, die entscheidend zur Entwicklung dieses Fachbereichs beitrugen, und stellt gleichzeitig die zu seiner Legitimierung eingesetzten Strategien vor. Abschließend geht der Aufsatz noch auf die Kernstrategien der sozialen und wissenschaftlichen Konstruktion von Homöopathie in Katalonien ein: die institutionelle, die diskursive und die methodologische oder experimentelle Strategie, die paradoxerweise in einigen Fällen sowohl die soziale Legitimierung wie auch die wissenschaftliche Delegitimierung der Homöopathie zur Folge hatten.
Introduction In medicine, as in other scientific disciplines, the last decades of the 19th century and the first of the 20th century represented a period of consolidation of positivist paradigms in science. The coexistence of different knowledge systems and the interpretation of the concepts of health, disease and their respective therapeutic approaches occurred in a context of struggle in approaching these new paradigms. With the publication of the works of Koch
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and Pasteur the etiological map was taking a new direction and, in parallel to the pharmacological paradigm, the different medical systems were reordered around an etiopathological and therapeutic discourse. The ability to adapt to the innovations that were taking place was an imperative for survival and a focus of the struggle between different medical systems to become hegemonic. In this sense, the homeopathic system that began in the 19th century in Spain experienced a key moment for its survival. The fundamental principles of homeopathy could succumb to the new scientific discoveries in biology, chemistry and physics. Everything depended on the reception, appropriation and legitimation of the Hahnemannian doctrine in the face of its positioning needs in the medical viewpoint. Homeopathy (etymologically from two Greek roots, ὅμοιος, homoios, meaning similar, and πάθος, pathos, meaning disease or suffering) is a medical system created by the German physician Samuel Hahnemann (1755–1843) from doctrinal doubts that arose during the translation of the work »A treatise of Materia Medica« (1789) by William Cullen (1710–1790) in 1790.1 This new medical doctrine appeared in a context of changes in the philosophical questions that were being asked about life, health and illness.2 The growth of the vitalist and animist ideas promulgated by George Ernst Stahl (1659–1734) with his »Theoria medica vera« of 1708 and the influence of the German Naturphilosophie opened, again, the door to different ways of understanding, not only life, but the processes of illness, healing and health.3 In this context, Hahnemann, who began his medical studies in 1775, began to shape a medical system based on principles rescued from the past under the influence of the vitalist philosophy, mainly the ideas of Friedrich Schelling (1775–1854).4 In the 1810 publication, »Organon der rationellen Heilkunde«, Hahnemann synthesized and accurately ordered the philosophical and medical founda-
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Cited in Haehl (1927). Also cited in Ameke (2007). For complete information on the life of Samuel Hahnemann, read Bradford (1895); Haehl (1927); Larnaudie (1975); Chand (2005); Ritter (1990); Coulter (1977); Coulter (1993); Ameke (2007), pp. 3–180; Fischbach-Sabel (2014); Kuzniar (2017). An interesting work between literature and history that explains the life of Meißen’s doctor during the first period of his life (1755–1796) is entitled »The Odyssey of Dr. Hahnemann«: Lesens (2010). Another summary of the life of Samuel Hahnemann can be found in González-Carbajal García (2004), pp. 21–50. In the prologue to Ameke (2007), several works dedicated to the life of Hahnemann and his works are cited, as well as some books dedicated to the history of homeopathy. To deepen the philosophical context, see Piqué Buisan (2018), chapter 4, referring to the role of the laboratory in the experimental legitimization of homeopathy. A brief summary about the context is found in the chapter »Medicine and the century of the lights« of Babini (2000), pp. 95–98. The central motto of the homeopathic doctrine on which its therapy is based is »Similia Similibus Curantur«, a concept already gathered in the Hippocratic era and recurrent throughout the history of medicine and pharmacy: Babini (2000); Gómez Caamaño (1982).
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tions of homeopathy.5 In this work were defined the principles of homeopathy that at times were the cause of discrepancies between the homeopaths themselves. This doctrine was born mainly from the intellectual confrontation of Hahnemann with the medicine that was being practiced in a philosophical framework of vitalist/materialist dispute. The different works of Hahnemann constituted an attractive way of understanding disease and healing6 that spread from Germany and France to many countries around the world. The circumstances in which this system arrived and was consolidated in the various countries differed in an important way depending on the local contexts. In Spain, the main existing sources locate the arrival of homeopathy between 1821 and 1831.7 It seems that in Catalonia, unlike other regions, homeopathy found a favorable ground for its propagation, probably because of the support of the conservative and aristocratic classes as will be analyzed in the chapter referring to the triad of power.8 During the 19th century, homeopathy consolidated its foundations in Spain as a result of the creation of various specialized institutions and the influence of some of its followers in university teaching.9 Its institutional consolidation in Madrid from 1845 onward, marginalized the position of homeopathy in Catalonia until the creation of the Homeopathic Medical Academy of Barcelona (hereinafter AMHB) in 1890.10 Later, in the first decades of the 20th century, in a context in which the conceptual framework of modern-day medicine was being defined from the 5
The foundations are described in Hahnemann (2013). To understand more specifically the philosophical bases of the doctrine it is advisable to read Kent (2004). 6 Most of Hahnemann’s writings that were published are cited in Ameke (2007), pp. 156– 161. 7 To learn more about the history of homeopathy in Spain see Piqué Buisan (2018) and González-Carbajal García (2004). 8 In this sense, Piqué Buisan (2018), chapter 3, explains the possible relations with the aristocracy and the bourgeoisie in Catalonia supporting this hypothesis. 9 The first and main homeopathic institution in Spain was the Hahnemannian Matritense Society. This institution based in Madrid allowed for grouping the work and concerns of doctors scattered throughout the peninsula and made it possible to face the attacks by orthodox medicine. Created in October 1845 and presided over by Dr. José Sebastián Coll Cochet (1781–1849), in November of the same year the Board of Directors of the Society was approved, Dr. José Núñez Pernía (1803–1879) was appointed president: González-Carbajal García (2004), pp. 131–137. Parallel to the creation of this institution were also created, in 1878, the Homeopathic Institute and the San José Homeopathic Hospital, which under the presidency of Núñez Pernía himself consolidated Madrid as the capital of homeopathy during the 19th century: González-Carbajal García (2004). 10 Following the creation of the AMHB, the homeopath Hipólito Rodríguez Pinilla (1860– 1936) from Salamanca already warned of this situation after traveling in 1887 to Barcelona: »The disunity among the homeopaths is very bad, which otherwise would constitute an avalanche capable of providing serious dislikes to the allopaths […] everyone goes into his house to increase his clientele.« González-Carbajal García (2004), p. 394. Between 1882 and 1883 a group of 20 homeopaths wrote some statutes for the new institution but its creation was not complete until April 13, 1890, when at a banquet in honor of Hahnemann held at the home of Dr. Sanllehy it was decided that practical work could commence at the Academy.
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appearance of the new scientific disciplines, its professionalization and the increase of its authority, the role of the institutions as centers that produce scientific knowledge and the professional networks created were key in the strategy of legitimization and obtaining authority. The institutional network and its disclosure The medicalization of Western society in the late 19th century meant that medicine was considered in the capitalist system as a tool of social control and the recognition of the physician as the main actor in the legitimization of this process that also supported the commodification of health. In this context, health became a potent commercial product in a scenario where competition among professionals was beginning to be strong. In the same period, the transfer of the capital of homeopathy from Madrid to Barcelona caused the latter city to emerge as the backbone of this medical system in Spain. In this regard, AMHB played a crucial role by offering its partners the ability to bond with other physicians to share their concerns, discoveries and clinical cases. The growing interest and number of homeopaths in the city favored the participation of these professionals in the competition for the health market, assuming at the same time their role as active actors in the consolidation of the medicalization process associated with the degree of bourgeois development and the regenerationist project promoted politically at the time. In this context, the role of institutions as centers producing scientific knowledge was key to the strategy of legitimation and in the construction of the hegemonic/subaltern relationship. In medical science, which was presented and publicized as a predominantly technical and ideologically neutral type of science, the conversion of laboratories, academies and hospitals into science-producing centers was the basis for the identification of scientific knowledge with these centers. The institutional tool was developed in view of the need to position oneself in an organizational and properly institutional environment in which science has been consolidated since the end of the 18th century. As Nicholls argues, institutionalization brought legitimacy both at the scientific and the social level.11 According to Piqué Buisan the development of a network of institutions of legitimation began with the creation in 1890 of the AMHB and continued with other institutions that copied the model of orthodox science of the time and, in particular, the model of historical evolution of the medicine proposed by Ackerknecht creating in a limited period the dispensaries, the hospital, the sanatorium, the asylum for workers, the laboratory and the pharmaceutical market, in line with the development of the capitalist system and consolidation of class separation.12 The sequence of creation of these structures or networks is significant and imitated the model of historical evolution of medicine pro11 Nicholls (2001). 12 Piqué Buisan (2018).
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posed by Ackerknecht.13 Although they imitated this process of evolution, they neglected the introduction into the university network, key to the survival of a scientific paradigm, which was probably one of the causes of the progressive reduction of homeopathic doctors. Among these newly created homeopathic institutions14 two stand out in particular for their role in the dissemination of homeopathy: the AMHB and the Hospital Homeópata del Niño Dios. Another group that is not specifically homeopathic but had a prominent role in this legitimation was the pharmaceutical collective that can also be considered as a market institution. In this sense, these three institutions, academia, hospital and market of remedies were the main strategic tools in the consolidation and popularization of homeopathy in Barcelona at the institutional level. The first, the AMHB played a transcendental role in the grouping of homeopathic doctors in Catalonia and the expansion of clinics in the city of Barcelona. Homeopathy, as one more discipline in the field of medicine, probably participated in the medicalizing process and supported the need of the bourgeois class to take care of the working class, since the latter was the fundamental nucleus of a wider market.15 In this sense it was necessary to transport the network of homeopathic doctor’s offices to cover the entire social spectrum.16 For the poor, other free clinics were established, promoted mainly by religious institutions and by the AMHB itself with the aim of making its medical system17 more widely available and in the case of disabled workers, an Asylum was created in 1894 in the Desert de Sarrià, directed by the Dr. Josep Ricart (1847–1920) and financed by an important textile industrialist18. With the support of the AMHB, homeopathic doctors looking for their market began to open clinics individually or in partnership with each other in order to have more influence in this commercial competition in the field of health. The dynamics of this market forced doctors to rethink their strategy, adapt to 13 Cunningham/Williams (1992), pp. 1–2, and Ackerknecht (1967). 14 There are many institutions that were created at that time: Sanatorio Marítimo San José, Asil Desert Sarrià, many dispensaries and some pharmacies. 15 The wide relationship between homeopathy and hygiene together with the creation of dispensaries for the poor and disabled workers are a good example of this collaboration in the consolidation of basic health structures in the medicalization process. 16 As we will see in this section, all the homeopathic doctors found in the different sources are men. In this sense and throughout the thesis, I will refer to this group using the masculine form. 17 As for example the creation of a public dispensary in 1890 inaugurated by the AMHB or the entry in 1901 of homeopathy in the Hospital Homeópata del Niño Dios, promoted by the AMHB and by the Tertiary Franciscan Sisters of the Sacred Hearts: Vinyals (1925) and Muñoz Alarcón (2007). 18 In 1882, the industrialist Josep Sert i Rius and the doctor Josep Ricart acquired the land and its demolished buildings of the Desert de Sarrià to build a foundation to house disabled workers in the industry. On August 2, 1894, the foundation was inaugurated under the name of Institut del Desert de Sarrià. More information about this institution in Sert i Rius (1900) and Institut del Desert de Sarrià (1903). This is similar to Germany, where August Zöppritz also worked for homeopathy: Hattori (2002).
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the new times and relate differently with other actors involved in commercial growth in healthcare. In this sense, the relationship between homeopaths and pharmacists was an important differential feature in the demarcation of this discipline and in the struggle for the monopolization of homeopathic remedies. The boom in the health market, the increase in the number of homeopaths in Barcelona and the management of the AMHB favored the creation of homeopathic clinics/dispensaries in Barcelona.19 In this sense, Piqué Buisan reconstructs the distribution in Barcelona of homeopathic dispensaries in three different periods, making it possible to trace the evolution of homeopathic provision in Barcelona.20 In a first period, dispensaries advertised in specialist journals (Revista Homeopática and Revista Homeopática Catalana) were included from 1900 to 1903. Secondly, and from an international directory of homeopathic doctors worldwide edited by Roberson Day & Petrie Hoyle (1912), and the previously mentioned magazines, the distribution of dispensaries in 1911–1912 can be derived. Finally, from the information offered by the publication resulting from the International Congress in Barcelona and the diverse specialized publications, the number of doctor’s offices in Catalonia is presented in Figure 1. 70 60 50 40
Doctor’s office in Barcelona
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1911-1912
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Fig. 1: Number of doctor’s offices in Barcelona and Catalonia, in the periods 1900– 1903, 1911–1912 and 1924. Source: Author’s elaboration from the data of the journals Revista Homeopática and Revista Homeopática Catalana (1900–1903); of the international directory of 1911–1912; and of the book of the International Congress of Barcelona of 1924
19 The fact that the homeopathic doctors themselves dispensed the drugs caused the terms »clinic« and »dispensary« to be used interchangeably. 20 Piqué Buisan (2018). In some cases, the same doctor had more than one dispensary in different locations in the city.
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The Academy played an important role in the expansion of offices and the dissemination of homeopathy, mainly in Barcelona, which was also key in the social legitimization of this medical doctrine. Another institution essential to an understanding of the institutional legitimation strategies was the Hospital Homeópata del Niño Dios. This health center created in 1892 by a board of ladies, a religious group and a medical collective, began to be homeopathic in 1901 and finally became a homeopathic hospital in 1902.21 There are three distinct periods in the operation of this homeopathic hospital: the first from 1901 to 1905 (the year in which the Hospital was reformed and began to admit adult women and allowed for disclosure and specialization), then from 1905 to 1920 (stable period until the crisis of 1916), and finally from 1923 to 1936.22 The main period of interest for this article is that between 1901 and 1905, since the main strategies of legitimation, both social and scientific, were developed and allow us to understand the role that a key institution such as the Hospital Homeópata del Niño Dios played at different levels in the legitimization and dissemination of homeopathy in Barcelona. The introduction of homeopathy in this hospital in 1901 was the result of the confluence of different strategies coming from the groups involved in the promotion and defense of homeopathy: the homeopathic medical collective and its strategy of legitimizing this discipline as a scientific area that needed to be institutionalized; on the other hand, the protective ladies with a strategy of positioning and visibility of the bourgeois class in favor of private beneficence within the liberal assistance system; and in the third place the position of the religious and the concept of charity under which they carried out their assistance. Once the homeopathic collective appropriated the Hospital in a struggle to compete with orthodoxy from the same position, three strategies were followed for both social and scientific legitimation: the inclusion of women in 1905, which allowed for the increase of the number of patients and improved mortality rates23; the specialization in the line followed by orthodox medicine24 and the publication of a bulletin to disseminate the positive results of the doctrine. During the following years, the Hospital was erected as a bulwark of homeopathy, together with the AMHB, having its ups and downs in the number of partners and patients but with growing healthcare activity and establishing itself as the main center of legitimization of the Hahnemannian doctrine in Catalonia. The pharmacy as an institution was key mainly in the popularization of homeopathy, being the basic element for the social legitimization of this doc21 The events that occurred in this period in the Hospital and that were the cause of the conversion to homeopathic, are addressed in Piqué Buisan (2018), pp. 79–139. 22 During the years between 1920 and 1923 the Hospital was not operating. 23 To see how the inclusion of women improved mortality rates cf. Piqué Buisan (2018), p. 109. 24 Solé i Pla (1905).
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trine. The role of the pharmacist in reference to homeopathic remedies and their popularization is analyzed by Piqué Buisan.25 The period between 1902 and 1920 was characterized by the change in the position occupied by homeopathic remedies in the health market derived from the emerging pharmacological paradigm that had been developed during the last decades of the 19th century. The new conceptual map that considered the role of drugs as central, coincided with the metamorphosis to which the pharmaceutical group was subjected as a result of the industrialization processes of drugs, mainly in Germany, England and the American continent and which shaped the relationship between this group and homeopathic physicians.26 In this context, homeopathy found in the struggles among the various professionals a fertile ground for the dissemination and promotion of this doctrine to a wider audience. This disclosure, enhanced by the introduction of American specifics27 and the corresponding advertising and marketing techniques, gave rise to a greater popular legitimacy of homeopathy, making pharmacists active agents in the dissemination of the doctrine. Conversely, as Piqué Buisan points out in the article »El ›Específico homeopático‹: legitimación comercial de la homeopatía en Barcelona (1902–1910)«, the commercial entry of the remedies that allowed social legitimization was inversely proportional to the scientific legitimation since it contributed to the consolidation of the pharmacological paradigm, which went against the basic principles of homeopathy. From neo-vitalism to biomechanism The different approaches to the concept of the vital force that were given within the homeopathic collective were another example of the need for each one to be placed on the contemporary scientific map. An ambiguity arose from the duality between the homeopathic speculative vitalism and the experimental determinism that resulted from accepting excluding principles within the homeopathic system. Hahnemann himself, inspired by Paul Joseph Barthez (1734–1806), adopted the term dynamism to describe the immaterial vital energy that keeps the »functional and reactionary activities in harmony, separating them from the physiological materialism and the animism of Stahl«.28 These processes of redefining the vital force in each context were important, not only on an ontological and epistemological level, but they also allowed for the legitimization of some laboratory practices. 25 Piqué Buisan (2018), pp. 139–193. 26 Piqué Buisan (2019). 27 The specific was an invention of the pharmacology of the 19th century, and was the manifestation of the fight against the disease and the decline of personalized therapy. This manifestation contradicted the principles of homeopathy of morbid and drug-related individuality and provoked a conceptual conflict that had already been experienced by the two most important American homeopathic specific companies in the mid-19th century: Piqué Buisan (2019). 28 Demarque (1987), p. 84.
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Representing, within the wide range of positions in the homeopathic collective (which Piqué Buisan reduces to three lines29), the most purist pole, it understood the concept of the vital force in accordance with Stahl and his animism and was closely related to the religious spirit in the Spanish context. The most representative figures of this purist branch were part of the Catholic aristocracy and bourgeoisie and defended the concept of life force as related to the soul.30 This small but powerful group also used medicine as an important moralistic and propagandistic tool of Catholicism. The social power of this group allowed it to seize ideological control of the AMHB and of some institutions such as the Homeopathic Children’s Hospital.31 At the other extreme, the physician Manel Cahís Balmanya (1855–1934), moving away from the nosographic-philosophical speculation of the Hahnemannian creation32, criticized that the principles of homeopathy seemed to be »emanating from an excessively dynamic vitalism«33 and that most homeopaths had such a strict and pure criterion of drug dynamisation that they were totally oblivious to the organicism that prevailed in the sciences. The influence of the French sensualist movement that guided the cultivation of science towards observation and experimentation had a strong impact on the culture of Cahís. The intention to abandon any reference to the vital force and, at the same time, the need not to be marginalized from the homeopathic group caused it to resort to a vitalist eclecticism that was at some point no longer entirely coherent. Although he tried to relegate the concept of vital dynamism by arguing that it had »notorious practical importance« and that he could not accept it as true, he emphasized the attempts to describe his position about the vital force, making use of a great ambiguity in the definition with the intention of not isolating himself from his world that, after all, was the homeopathic collective.34 Appropriating concepts defined by different schools within vitalism, Cahís, influenced by Broussais (1772–1838)35, declared his claim to give a physiological explanation of the disease by analyzing the causes that altered functions 29 The homeopathic physician Dr. Comet i Fargas (1904) in an article in his own Revista de Medicina Pura, entitled »Materialism and Vitalism«, had already presented this division into three of the homeopathic collective in Barcelona: the materialist, the vitalist soul and the vitalist Bartheziana. 30 In this purist position were Joan Sanllehy, Joan Bertrán, Francesc de Benavent, M. Vives, Francesc Derch among others. 31 Piqué Buisan (2018). 32 Cahís (1883), p. 15. 33 Cahís (1883), p. 14. 34 Cahís (1883), p. 15. 35 François Joseph Victor Broussais, French physician influenced by the empiricism of Bichat, Pinel and Cabanis who later developed the Broussais System that maintained that in pathology, everything was due to inflammation and tissue irritation processes, approaching Brownian theories. According to Benoit Mure, in his »Doctrine de l’école de Rio de Janeiro et pathogénésie Brésilienne« of 1849, Broussais had converted to homeopathy. Research on the relationship between Broussais and homeopathy is not well developed and would be interesting to pursue: Mure (1849).
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or sympathetic relationships between organs following the line started by Albrecht von Haller (1708–1777). In this respect, he approached the organismvitalism of Theophile de Bordeu (1722–1776) with regard to the location of life, but above all in the influence of exogenous agents.36 The influence, at the same time, of the ideas of John Brown (1735–1788) and Brownism was also present in the scientific concept of homeopathy. The influence of Broussais and Brown is evident in the following affirmation: Excite or depress, subtract or add: here as in our excursion we touch the foundations of Brown’s dichotomy and the Broussais system. And it is because, whatever the exaggerations of these geniuses, they gave their systems something fundamental and exact that they found in the properties of the organism: Brown in incitement, and Broussais in irritation.37
Thus, Cahís identified the vital force not as an entity but as a property »that we have recognized in the living body under the name of excitability«.38 He therefore proposed to carry out an in-depth study of arousal taking into account the importance of chemistry since the ability of a living organ to generate the vital force lies in its physical and chemical disposition. If with this ambiguity about life force someone could accuse Cahís of being a speculative vitalist, the same author clarified it affirming: Do not believe that I am going to make a profession of vitalistic faith, nor that I try to sponsor the ridiculous struggles of the vital force against the chimerical morbific principle. All this has already happened […] The personification, the individuality, the essentiality and even the instinct and the intelligence that they endowed with their vital force, made them ridiculous and despicable.39
In between the two extremes represented by the purists and the line of Cahís were the different opinions about the conception of vital force that were given within the Instituto Homeópata de Barcelona (split of the AMHB before the immobility of it).40 In this sense, we find three examples of definitions of the vital force as a strategy of legitimation: the concept of vital force proposed by Dr. Comet i Fargas (1855–1919) derived from the fluids of a vital nature, the zoicity and atonicity41; the work of Nogué i Roca (1851–1908) where, starting from the cellular theory of Virchow, he described that the cell needed certain exciting conditions in order to fulfill its function42; and the speech that Dr. Laureano Torrent (1888–1964) read for admission to the Instituto Homeópata de Barcelona in a session on January 10, 1911. In this way, in 1892, Raimundo Comet i Fargas read his speech »La doctrina homeopática ante las ciencias positivas« in which, accepting the works in chemistry and physics that were being carried out, he defended the exist36 37 38 39 40 41 42
This approach to the organicism of Cahís is also found in Cahís (1883). Cahís (1883). Cahís (1883), p. 31. Cahís (1883), p. 30. Piqué Buisan (2018). Comet i Fargas (1892). Nogué i Roca (1893), p. 19.
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ence of the vital force, as an exclusive force of living organisms whose origin, foundation and development »is not within our reach to explain, but we must admit«.43 The approach to the experimental resource to explain the existence of life force was used by Comet when referring to Ziegler’s experiments in 1866 where he defined the concept of two fluids of a vitalistic nature: zoicity and atonicity.44 In this speech, Comet rejected the more animistic vision of dynamism to bring it closer to the positive sciences that were being consolidated. In the pamphlet of Nogué i Roca of 1893, the author asked in his speech not to ridicule the vitalists and accused the positivists of »not knowing what life is in itself, if it is not comparable to anything other than itself«. Because the physical and chemical laws show us that there is no relation between it and a machine and a chemical combination »so I invited them to accept the theory of vital dynamism«.45 In this sense, he understood illness as the result of a »dynamic change, causing a disturbance in the properties of the constituent principles of the body; a change in the way of feeling and acting of each organ in particular and the set of organs.«46 This conception of the disease made it possible to defend the importance of vital dynamism in therapy, from the appreciable symptoms to the senses. With regard to the acceptance of physiological experimentation, Nogué and Cahís were not so different because the scientific context in this period encouraged the inclusion of this method of knowledge and, as we have seen, experimentation (with possible interpretations) was one of the foundations of Hahnemann’s system defended by homeopaths since its inception. The legitimating purpose of pure physiological experimentation was manifest in the expression that with it the »darkness that surrounds secular medicine dissipates«.47 In this article by Nogué, based on the legitimation offered by the reference to the theory of Virchow or the vitalist concepts of excitement, a certain speculative spirit still retained the definition that the internal or vital exciting conditions were not reducible to physical, chemical or mechanical phenomena. Laureano Torrent’s lecture of 1911, titled »Terapéutica neo-vitalista, su similitud con el dinamismo homeopático«48 and published in La Homeopatía Práctica, was a clear attempt to amalgamate the new discoveries in biology with homeopathic medicine, making use of the rhetoric of appropriation of ideas preconceived by homeopathy by orthodox science. With the intention of distancing the vital force from religious ideas, Torrent proposed to investigate the essence of vital phenomena, understanding them as complex processes and as an act of manifestation of energy from the processes of assimilation and disassimilation. He presented, in this way, the concept of neo-vitalism or bio-mechanicism that was in his view a return to the »old idea of vital 43 44 45 46 47 48
Comet i Fargas (1892), p. 103. Comet i Fargas (1892), pp. 103–107. Nogué i Roca (1893), p. 19. Nogué i Roca (1893), p. 21. Nogué i Roca (1893), p. 37. Torrent (1911).
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force, but stripped of everything that could have a religious character«.49 This theory affirmed that vital phenomena were subject to »the laws of physics, chemistry and mechanics, but they would not be possible except by virtue of certain material groupings, of certain conditions of structure«. This definition, already far from the most speculative life force, allowed for an understanding of the disease, no longer as an entity of its own, but as a deviation from the physiological state, as had already been defended by the French vitalist physicians, and insisted on the need for the therapeutic will to be dedicated to restoring balance. In this sense, the author argued that the therapy had to be neo-vitalist and influence the functions, so he rejected the »materialist« view of the medicine (the remedy as an inorganic body, which causes a quantitative vision and the importance of the dose) and proposed to take into account the dynamic qualities of the medicine, understanding it as an energy-transmitting molecule. To legitimize this dynamism idea of the remedy that allowed the principle of homeopathic infinitesimality to be explained, Torrent took advantage of the dissemination of Eduard Buchner’s work on enzymatic activity to recreate the concept of »zymo-activity« based on two phenomena50: the power catalytic, which legitimized the disproportion between dose and effect, and the sensitivity with respect to physical agents, which allowed to speak in physical and energetic terms in the modification of structures to activate or deactivate a process. In this discourse, we also observe the importance of language and appropriation in giving scientific value to its arguments; a clear example of the intentionality of language is demonstrated in the resource of concepts on enzymatic activity but the most relevant of the discourse is the etymological translation of »neo-vitalism« to »bio-mechanicism«. Although Dr. Torrent assimilated the semantic equivalence between the two concepts, the significance of the main roots of the terms shows us the true transition that was taking place in the homeopathic doctrine, from a moderate vitalism to a prevailing mechanism. The epistemological depth in this supposedly innocent, etymological transition presents us with a context of ontological change in the medical sciences of the period that supported the consolidation of experimental medicine. The speeches of Comet and Nogué in 1892 and 1893 respectively, and the one read in 1911 by Laureano Torrent show us how, over a period of 18 years, the influence they exerted on the definitions of a basic concept in the homeopathic system such as vital strength, the new discoveries in biology, physiology and other experimental sciences, forced the redefinition of the theoretical framework without discarding the epistemological aspects proposed by Hahnemann. This ambiguity in the definition of vital force, which was characteristic of the complexity and diversity of the vitalist movement of the 18th and 19th
49 Torrent (1911), p. 218. 50 Nobel Prize in Chemistry in 1907 for his work on fermentation in the absence of living cells.
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century, was not confined to the theoretical field, but forced the analysis and rethinking of certain experimental practices. Methodological strategies: Cahís Balmanya The conjunction of the application of the physicochemical sciences in the study of life (with the laboratory as a research center), together with the incipient implantation of bacteriological theories and the reductionism in medical therapeutics suggested to Manel Cahís the possibility of exploiting commercially »new« homeopathic remedies created from laboratory techniques that emerged as novelties in the field of microbiology. After exposing its theoretical foundations during the last decade of the 19th century, building the conceptual ground in the experimental field, from the first half of the 20th century he focused on the creation and production of new homeopathic remedies and their experimental legitimization. The reason given for focusing on the research into these new products obtained from the toxins of pathogenic microbes was the invasion of the homeopathic field by the allopaths, citing as examples Jenner, Ferrán, Pasteur, Koch, Wright or Doyen, what we see as the strong influence of new discoveries in bacteriology in homeopathic thought.51 The result of his first investigations was published between 1907 and 1911. The incorporation of the concepts derived from the bacteriological theory were key in the evolution of this doctor since they allowed him to create medicines using techniques from laboratory bacteriology with the theoretical, material and instrumental backing of Dr. Ricard Moragas.52 In these early publications he used the laboratory as a tool to legitimize the methodology of preparing the remedies, but also understood it as a physical space where knowledge resided. In his first works, however, he showed the activity of his remedies from clinical cases and referencing other experiments performed at European level, such as Koch’s experiments with tuberculin.53 Influenced by the French and American groups that defended the use of the experimental method in homeopathy, the use of this method and laboratory work as a tool to legitimize their products was the foundation on which their subsequent research was based. From the first publication in 1907 to 51 Cahís: Homeopatía [article] (1912). This strong influence of bacteriology on homeopathy was a constant throughout the first half of the 20th century. In relation to this influence cf. Piqué Buisan (2015). 52 Cahís (1909), p. 211. Ricard Moragas Gracia was one of the most important doctors in the consolidation of the laboratory in Catalan medicine and his position as auxiliary physician in the laboratory of the Academy of Medical Sciences facilitated the laboratory work of Dr. Cahís. The manufacture of its products was explained by Dr. Kubasta in the prologue of the work of Cahís: »He manufactured his toxins by shredding cultures of living or dead microbes (better alive) or protozoa, in a mortar of agate, with glass wool and distilled water. The product of this crushing was washed with distilled water, shaking it vigorously a hundred times, calling it mother tincture.« Cahís (1918), p. 10. 53 Cahís (1909).
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those made in 1912, he presented, in different articles and congresses, a collection of »therapeutic diamonds«54 composed of microbial nosodes55. Cahís recognized that this proposal would be difficult to accept by his colleagues in Barcelona, so in more than one article he objected that »the new remedies that I try to introduce into the homeopathic medical matter are unnecessary, because we only need the Hahnemannian policrests«.56 The presentation of the complete series of 21 remedies-toxins57 at the International Homeopathic Congress held in London in 1911 put Cahís on the European homeopathic scene58. The success in this event was due to the »scientific« discourse that he used to explain his theory of homeopathic chords59, in which he used Fechner’s law as a scientific argument, moving further away from vitalist theories60. This event in London put him in contact with homeopaths from all over the world who were interested in his work and who received his work with enthusiasm.61 Although the reductionism that was implicit in the work of Cahís was attractive to doctors, it was to understand the 54 Cahís (1909), p. 216. 55 The different articles referring to this collection are: Cahís (1909), Cahís (1910), Cahís: Homeopatía Segura (1911), Cahís: Homeopatía Adínama (1911) and Cahís: Semblanzas (1912). Concerning the congresses or meetings in which he presented his products: International Homeopathic Congress of London in 1911 (Correspondent (1911/12), Cobb (1911) and Cheny (1911)) and the International Homeopathic Council of Ghent in 1913 (The International Homeopathic Council, meeting at Ghent (1913/14)). 56 Cahís (1910), p. 33. 57 Cahís: Homeopatía Adínama (1911), p. 10. 58 We have found articles in the specialist press that spoke of Cahís’ work. For example: Homeopatía Internacional (1912). In the magazine El Homeópata of 1916, Cahís made reference to the dissemination of his ideas, stating that Dr. Van der Berghe published an extract in the Revue Belge d’Homéopathie; Dr. Cartier cites remedies-toxins in some of his publications; the German doctor J. Kirn made Cahís’ method known in the first German-language homeopathic Congress; Dr. Schlegel of Tübingen and Dr. Kubasta disseminated their work in Germany, making it known in an article in the Berliner Homöopatische Zeitschrift 4=32 (1913), no. 1. In the United States, an article by Cahís was published in the Medical Century magazine of 1915: Ball (1914/15); in 1930 an article was published in the magazine L’Homoeopathie Française (Cahís (1930)) and in the same magazine but in 1933 »Mon testament homeopathique« (Cahís: Mon testament (1933)) was published. Other references are Kirn (1912); Cahís (1915); Cahís (1917); Cahís: A propos (1933); Woodbury (1922); Fortier-Bernoville (1932); Fortier-Bernoville (1934); We conférences spéciales (1933); Pichet/Réaubourg (1923); Plan thérapeutique actuel de l’Asthme (1933); Société Rhodanienne d’Homeopathie (1933); Vannier (1930). 59 Theory explained in Cahís: Homeopatía Adínama (1911). He defended the concept of coupling between homeopathic remedies based on physical theories about distances and volumes between atoms. 60 Weber-Fechner’s law quantitatively relates the magnitude of a stimulus and its perception, on the basis that all human acts could be explained by physico-chemical principles (the average sensations are like the logarithms of the causative excitations, that is, if a stimulus grows in geometric progression, the perception will evolve in an arithmetic progression). 61 The reception of Cahís’ remedies in France is found in the publication L’Homoeopathie Française and the subsequent L’Homeopathie Moderne, where Dr. Cahís’ toxin remedies are referenced as a therapeutic group. These journals have been located through the Hathitrust catalog and in the private archive of Blanch Clausell.
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process of disease and health from the perspective of the disease and not the patient, which put in doubt some epistemological concepts of homeopathy.62 With these toxin-based remedies as the basis of his experiments, in 1912 he began the journey towards the publication of his work »Homeopatía demostrada experimentalmente« based on four series of experiments carried out between 1912 and 1924.63 With them, he tried to solve the problem of resorting to life force, as he explained in the introduction of his first booklet: Of old I had worried about the difficult problem of demonstrating experimentally, in such a clear way that, even to the most reluctant spirits, they could not be doubted, the action of high homeopathic dilutions; but in all the attempts I had tried through the most diverse channels, I had always failed, convincing myself at last that the solution to this problem must be of a vital order. From the first days that I came into possession of the toxin remedy I foresaw that Tetanotoxin could give me the desired solution.64
On the pages of his publications he described the experiments carried out based mainly on injection, in rabbits or guinea pigs of a known and calculated amount of toxic and then the inoculation with a remedy-toxin solution of a certain dilution and in defined time intervals. In the first series of experiments Dr. Cahís announced his intentions and presented the work method, while in the second, devoted mainly to the discussion, he conducted some experiments aimed at investigating the action of physical agents on the high dilutions of the tetanus toxin. In the third series, he tried to demonstrate the possibility of counteracting in rabbits the effect of strychnine and began to develop his hypotheses on the dynamized remedy and the spontaneous disintegration by the action over time of the limited dilutions. The last series published, tried to experiment with other toxins and remedies, but remained in an initial phase very instructive, but without definitive conclusions. With these four series of experiments the legitimation based on laboratory work began its journey. In this process, Cahís developed different tools: experimentation, concepts or scientific vocabulary, reaffirmations with foreign experimentation and the necessary diffusion of this whole process. In the initial publication of 1912, the author tried to establish what was the sufficient dose of tetanotoxin to counteract the effect of strychnine. In this context the author presented nine experiments with different rabbits, different doses of strychnine and different homeopathic chords. In order to provide his
62 »With the single diagnosis of the disease we have the remedy without the need to make a diagnosis of the remedy.« Cahís (1910), p. 40. 63 The first series was published as a booklet in 1912: Cahís: Homeopatía [article] (1912) and Cahís: Homeopatía [monograph] (1912). The second series, of 1913, has not been located. The third was published in Cahís (1915), and the fourth in Dr. Cahís’ magazine (Cahís (1924)). Among the four series, tested on approximately 465 animals (rabbits and/ or guinea pigs), injected as toxic strychnine, hydrocyanic acid, veratrine, camphorated oil and cactine and as antidotes tetanotoxin, the globules of Cactus grandifolia 90,000 C or hydro-cyani. 64 Cahís: Homeopatía [monograph] (1912), p. 3.
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work with scientific rigor, Cahís used the concept of homeodyna65 and other mathematical concepts to make »homeopathy a science with mathematical exactitude«66. The conclusions reached in this booklet clearly demonstrated the legitimizing intention of the doctrine and the consecration, according to its author, of the remedies-toxins. This experimental work that tried to ratify homeopathy from laboratory techniques (or, rather, tried to legitimize its remedies for commercialization) led to a struggle between Cahís and some partners of the Homeopathic Institute of Barcelona who found certain dubious aspects in the methodology and the results of the experiments. In this way a Commission composed of three doctors was appointed to see Cahís and to investigate the likelihood of the experiments carried out.67 The lacking predisposition of the researcher to facilitate the reproduction of his lab work, alleging different reasons and the difficulty of finding the remedy-toxin necessary to carry out the experimentation, triggered litigation against some members of the Institute. At this point we find an ideological struggle masked by scientific criteria. While Cahís tried to meet these criteria in relation to the toxin-based remedies with a mercantilist zeal, some partners of the Institute argued precisely the lack of scientificity of the arguments presented, based on the non-reproducibility of the investigations and the vague conclusions reached by the author that delegitimized any hypothesis. Cahís’ endeavor to legitimize was transmuted into delegitimization by the critical collective as a consequence of the transfer of a scientific methodology created within one scientific paradigm to another paradigm. This contradictory reaction is of great historiographical interest and gives rise to the »Paradox of Cahís«, a paradox that was born of the delegitimizing reaction to the inclusion of the methodological laboratory tools with an eagerness, precisely, legitimizing and that fed, in a certain sense, a greater consolidation of hegemonic medicine and a greater exclusion of subaltern systems. With this discussion, Cahís was isolated from the Catalan homeopathic institutions and continued his work without the possibility of publishing them in the country’s specialist magazines. The campaign that took place in Barcelona against his work was recognized by the doctor himself in his third series of experiments published in the American magazine Medical Century, stating: »the slander and silence campaign of the homeopathic press of which I have been a victim by the homeopathic physicians of Barcelona has forced me to present my experiments in Ghent«.68 The reception that he had not 65 1 homeodyna corresponds to a dose of strychnine administered equal to the minimum fatal dose (DMM) according to Falck. For example, if D = DMM + 10 per cent DMM is administered, this would be equivalent to 1.10 homeodynas. 66 Cahís: Homeopatía [monograph] (1912), p. 9. 67 Cahís: Homeopatía [article] (1912) and Cahís: Homeopatía [monograph] (1912). The three doctors appointed to the commission were Drs. Balari, Casanovas and Torrent, in addition to the president Dr. Peiró Comas. The version of the facts set out by the members of the Institute was published in 1912 in the booklet Peiró Comas (1912), located in the file of the AMHB. The version of Dr. Cahís, we find it in Cahís (1913). 68 Cahís (1915), p. 155.
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found in Barcelona was found, from the International Homeopathic Medical Congress held in Ghent in 191369, in other countries where his works were well accepted in the homeopathic circles closest to experimental medicine. In this way, the investigations were reproduced in Ghent by several doctors; in Brussels by Dr. Van der Berghe; in New York by J. H. Ball; in Leipzig by Dr. Katz; and in Aalst by Dr. Hoovens.70 In this sense, the greatest impact of the experiments was among the most eclectic American homeopathic collectives that reflected their relevance in their publications. An example of this is the discussion of the experiments reproduced in New York by Dr. Ball in June 1914 and published in the Journal of the American Institute of Homeopathy in March 1915. The importance of the experiment was evidenced by the words of Dr. Alexander L. Blackwood of Chicago who declared that in his 20 years of service to the American Institute of Homeopathy this was »the first original research report«.71 For his part, Dr. Winifield Perkins of New York claimed to be impressed with the experiments presented at the Ghent conference and stressed the »entirely scientific« view of Cahís.72 The expectations in the legitimating power that this experimentation could offer were very relevant among American researchers. Dr. Copeland of New York expressed his enthusiasm with prudence, considering that if it were confirmed, it would be the »most remarkable verification of the truth of homeopathy«.73 However, the negative results of Joseph Ball’s experiment reminded homeopaths of the fine line between legitimation and delegitimation. The scientific methodology used in this case to verify homeopathy could result in an instrument of discreditation given the low degree of rigor applied (and denounced by physicians associated with the Instituto Homeópata de Barcelona). This is how Dr. Copeland interpreted it, stressing the importance of improving the methodology before »someone from another school or a laboratory shows our mistakes to the public«.74 The 69 International Homeopathic Council (1913); The International Homeopathic Council, meeting at Ghent (1913/14); Miscelánea: La homeopatía en auge (1913); Consejo Homeopático Internacional (1913); Miscelánea: Reunión en Gand (1913). 70 The experiments reproduced consisted of injecting a dose of strychnine higher than the lethal dose and observing the reaction of the animal without the injection of the remedytoxin. In fact, what seems to have been observed was whether the methodology used was correct or not. According to the article published in Medical Century, reproductions of its methodology were successful in Brussels and Ghent but failed in New York, Aalst and Leipzig. The observations made by Dr. Dr. Van den Berghe were published in the Revue Belge d’Homéopathie, according to Cahís (1915). The verification of Cahís’ experiments by Dr. Ball in New York can be found in Ball (1914/15). A reference to the verifications made in Ghent was published in The International Homeopathic Council, meeting at Ghent (1913/14). Other publications that show us the repercussion at international level of Cahís’ experiments are Correspondent (1911/12), Roberson (1914) and Macfarlan (1914). 71 »I have been attending the Institute for twenty years, and this is the first original research report«. Quoted in Ball (1914/15), p. 1009. 72 Quoted in Ball (1914/15), p. 1009. 73 Quoted in Ball (1914/15), p. 1008. 74 Quoted in Ball (1914/15), p. 1008.
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answers to the failure obtained were sought in the misinterpretation of the Cahís methodology used by Joseph Ball and in other errors not related to the possible inactivity of the remedy.75 The proposal before this disappointment with the results (not with the experimentation itself) was to contact Cahís directly to explain in detail the methodological process.76 The enthusiasm for these »innovative« investigations meant that the effectiveness of the remedy and the homeopathic theory were not questioned and the errors were attributed exclusively to the methodological practice. In June 1915 an article was published in the specialist magazine Medical Century in which Cahís presented his third series of experiments and referred to Joseph Ball’s experiments in New York, suggesting as the cause of the poor results the differences between rabbits used according to their origin: »the livers of the rabbits of Barcelona, a southern city, counteract much less than the livers of rabbits further north, such as Aalst, Leipzig or New York.«77 These errors, according to its author, did not demonstrate the ineffectiveness of the method used but the need to perfect it. Repercussions in other European countries such as France, Italy or Germany were varied and depended mainly on the role played by the doctors who attended the London congress in 1911. While in France the ideas of Cahís were received with more interest due to the publication of »Homeopatía demostrada experimentalmente. Cuarta serie de experimentos« in 1924, in Germany and Italy it seems that the influence of Cahís’ works was minor.78 Conclusions The reaction of the homeopathic collective to new scientific discoveries was not only a reaction to the confrontation between orthodoxy and scientific heterodoxy, but was also accompanied by a need for self-legitimation in the face of the acceptance in the collective itself of scientific advances that call some of the homeopathic postulates into question. These processes of legitimation that led to the construction of this medical system provide us with the possibility of studying from other perspectives the building of a medicine in a specific scientific context. The strategic basis in the reconstruction of homeopathic medicine around the new scientific assumptions analyzed by this research focused on three 75 In this sense, it is held against Flack, who calculated the minimal mortal dose of strychnine in rabbits and whose data was used by Cahís. The variation in the physical characteristics of the rabbits used (mainly weight) and the method of preparation of strychnine that Cahís did not develop in his work was also blamed. Ball (1914/15). 76 It seems that the contact to clarify doubts existed and hence the subsequent publication of the third series of experiments in Cahís (1915). 77 Cahís (1915), p. 155. 78 Piqúe Buisan (2018), pp. 236–240. In this paper the influence in Germany is not analyzed but it would be necessary in future investigations to explore the sources coming from Germany in more depth and analyze the influence in this country.
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tools: the institutional, the discursive and the methodological. These three strategies constituted the basis of the rebuilding of a vitalist system that needed to position itself in a new framework while at the same time they were at the center of debates within the same group. This three-pronged approach to legitimation obtained positive results in that it popularized homeopathy in society, based on the supporting data in the different institutions and the role of pharmacy in the dissemination, but did not obtain results in terms of scientific legitimation. The last stage in the construction process consisted in the methodological approach to make the doctrine scientific and thus support the results obtained at institutional and societal level. This process, however, caused conflicts and divisions within the collective itself and failed to consolidate a methodology that followed the experimental processes enacted in orthodox science. Although in the first works the possibility of obtaining results seemed possible, the methodological tool of legitimization did not achieve the objective expected by Cahís to endow the homeopathic discipline with scientific value in relation to the experimental paradigm that was being consolidated. In conclusion, the different processes and strategies used by homeopathy not only allow us to see the strategies in constructing a scientific discipline, but it also offers a clear reflection of what was happening in the field of medicine and health in our own medical orthodoxy. This article provides relevant data to show the tools of legitimation of homeopathy and the strategies used by the collective in search of non-exclusion and the consolidation of the therapeutic system itself within medical orthodoxy. Bibliography Ackerknecht, Erwin: Medicine at the Paris Hospital 1794–1848. Baltimore 1967. Ameke, William: History of Homoeopathy: Its Origin and Its Conflicts. New Delhi 2007. Babini, José: Historia de la medicina. Barcelona 2000. Ball, Joseph: Preliminary report on experimental work with potentized remedies. In: Journal of the American Institute of Homeopathy 7 (1914/15), no. 9, pp. 1004–1010. Bradford, Thomas Lindsley: The Life and Letters of Samuel Hahnemann. Philadelphia 1895. Cahís, Manel: El Concepto científico de la Homeopatía. Barcelona 1883. Cahís, Manel: Nuevos nosodos. In: Revista Homeopática 20 (1909), abril-mayo, pp. 210–216. Cahís, Manel: Más sobre los nuevos remedios microbianos. In: Revista Homeopática 21 (1910), no. 3, pp. 33–40. Cahís, Manel: Homeopatía Segura. Memoria destinada al Congreso Homeopático Internacional de Londres. Barcelona 1911. Cahís, Manel: Homeopatía Adínama. In: Revista Homeopática 22 (1911), no. 2, pp. 17–22. Cahís, Manel: La Homeopatía demostrada experimentalmente. Barcelona 1912. Cahís, Manel: La Homeopatía demostrada experimentalmente. In: La Homeopatía Práctica (1912), no. 40, p. 368. Cahís, Manel: Semblanzas ente los remedios-toxinas y los otros remedios homeopáticos. In: Revista Homeopática 23 (1912), no. 5, pp. 102–107. Cahís, Manel: Mi pleito con algunos socios del Instituto Homeópata. In: La Homeopatía Práctica (1913), no. 43, pp. 11–12. Cahís, Manel: In regard to the experiments of Dr. J. H. Ball of New York. Third Series of researches. In: Medical Century 22 (1915), no. 6, pp. 154–158.
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 38, 2020, 259–264, FRANZ STEINER VERLAG
Transkription und Digitalisierung von Samuel Hahnemanns Krankenjournalen. Ein Werkstattbericht Arnold Michalowski und Florian Barth Summary The transcription and digitization of Samuel Hahnemann’s Patient Journals – a workshop report Since 1989, Samuel Hahnemann’s Patient Journals have been transcribed in accordance with standardized guidelines and published in print. These critical editions contain markups on patient identity and consultation dates as well as information on history-taking and medication in row-based presentation. As a medium, a book only permits the use of an established transcription technique that will result in the loss of specific surface features present in the Journal text. Due to modern markup formats digital editions provide clearly more flexible and longlived possibilities of capturing and presenting the original text. Based on the Patient Journal DF 5, which goes back to the time of Hahnemann’s practice and patient-oriented journalizing in Paris, a workflow is created to convert the transcribed journals into the specific format of the Text Encoding Initiative. The resulting digital edition allows for dynamic alternation between the row-based view and primarily formal presentation techniques, and synoptically integrates the original facsimiles which can otherwise only be accessed in the Homeopathy Archives of the Robert Bosch Foundation’s Institute for the History of Medicine. Additionally, we plan the standardization of textual entities for long-term archiving, so that the edition can be linked to existing research infrastructures.
Einführung Der Nachlass Samuel Hahnemanns (1755–1843), des Begründers der Homöopathie, befindet sich im Homöopathie-Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Dazu gehören vor allem seine Krankenjournale und eine umfangreiche Korrespondenz. Dieses für die Homöopathie-, Sozial- und Medizingeschichte einmalige Quellenkorpus dokumentiert eine über 40-jährige zusammenhängende Praxistätigkeit für den Zeitraum von 1800 bis 1843. Die 54 erhaltenen Krankenjournale Hahnemanns bilden den umfangreichsten Bestand an Quellenmaterial.
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Um diese Quellen einem größeren Benutzerkreis in einer kritischen Printedition zugänglich zu machen, wurden seit 1989 die Krankenjournale nach vereinheitlichten Editionsrichtlinien in Microsoft Word erschlossen.1 Seit 2017 werden in einem Pilotprojekt die in Word vorliegende Transkription und Übersetzung des französischen Krankenjournals DF 5 exemplarisch in das Markup-Format der Text Encoding Initiative übertragen und Standards sowie Workflows für vorliegende bzw. weitere Transkriptionen erarbeitet, um zukünftig die Krankenjournale in einer digitalen kritischen Edition online zugänglich zu machen. Das Quellenmaterial Die beiden unterschiedlichen Quellengattungen, die Krankenjournale und die Patientenbriefe, verraten zwei Vorgehensweisen Hahnemanns bei der Behandlung von Patienten. Er hielt die Sprechstunden bei sich zu Hause ab und notierte sich dabei die Symptomatik, die seine Patienten ihm mündlich in ausführlicher Weise schilderten, in einer Art Tagebuch, dem Krankenjournal. Andererseits führte Hahnemann auch eine Fernbehandlung auf postalischem Wege durch, indem weiter entfernt wohnende Patienten, meist nach einer Erstkonsultation in seiner Praxis, den weiteren Verlauf ihrer Krankheit schriftlich mitteilten und Hahnemann ihnen auf demselben Wege Diagnosen, Verordnungen, Medikamente und Therapien zukommen ließ. Die Patientenbriefe wurden von Hahnemann in der Regel in die Journale eingeklebt oder übertragen, wie zahlreiche Klebestellen darin und explizite Verweise Hahnemanns auf Patientenbriefe im Anamnesetext verraten.2 Zum Originaltext, zur Journalführung und zum Charakter der Krankenjournale Hahnemann benutzte für die Aufzeichnungen in den deutschen Journalen durchgängig die deutsche Kurrentschrift, mit Ausnahme von lateinischen Symptombeschreibungen, Patientennamen, Fachbegriffen und Sonderzeichen, die er in lateinischer Schreibschrift notierte. Die in französischer Sprache geführten Krankenjournale sind wiederum durchgehend in lateinischer Schreibschrift geführt, mit Ausnahme der deutschen Symptombeschreibungen, die in 1 2
Die Editionsrichtlinien (Michalowski (1990)) finden sich auch unter http://www.igm-bosch. de/files/img/pdf-mitarbeiter/michalowski/Links/Richtlinien_zur_Edition.pdf (letzter Zugriff: 23.3.2020). Die 54 erhaltenen Krankenjournale Hahnemanns bilden den umfangreichsten Bestand an Quellenmaterial. Um die darin enthaltene Datenmenge nur annähernd zu veranschaulichen, bietet sich ein kleines Rechenexempel an. Die Krankenjournale umfassen grob geschätzt ca. 16.000 Praxistage. Bei einer durchschnittlichen Patientenzahl von zehn bis 15 Patienten täglich umfassen die Krankenjournale ca. 200.000 Konsultationen auf 27.544 Originalseiten.
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Kurrent gehalten sind. Die Schrifthöhe bewegt sich zwischen 1 und 10 mm. Der Journaltext wirkt in seinem äußeren Erscheinungsbild unruhig, unübersichtlich und skizzenhaft. Hahnemanns Journalführung unterlag keiner konsequenten Systematik: Ergänzungen, Nachträge, Querverweise, Kommentare, Zeichnungen fügen sich um, an und zwischen die Krankenberichte, die wiederum in ihrer Ausführlichkeit stark variieren – vermutlich je nach persönlichem wissenschaftlichen Interesse Hahnemanns an den einzelnen Fällen – und in den deutschen Krankenjournalen chronologisch aneinandergereiht sind. Dieser skizzenhafte, geradezu private Charakter der Journalführung geht sogar so weit, dass Hahnemann in einigen Fällen die Anamnese-Erhebung nicht in den Journaltext aufnahm und sich nur auf die Angaben der Patientennamen sowie der jeweiligen Verordnungen beschränkte. Eine relativ konsequente Systematik in der Journalführung beginnt erst mit Hahnemanns Pariser Praxis, als er im hohen Alter von 80 Jahren nochmals heiratete und nach Paris übersiedelte. Seine mit 35 Jahren erheblich jüngere Frau hielt zusammen mit ihm die Sprechstunden zu Hause ab und nahm häufig die Eintragungen ins Krankenjournal vor.3 Hatte Hahnemann bis zu seiner Abreise aus Köthen die Krankenberichte chronologisch eingetragen, so begann nun der Versuch, zusammenhängende, patientenorientierte und damit übersichtlichere Eintragungen vorzunehmen. Dies geschah, indem mehrere Journale parallel geführt und nach der ersten Konsultation eine oder mehrere Seiten im Journal freigelassen wurden, um dort den weiteren Verlauf von Krankheit und Therapie zu dokumentieren. Bemerkungen zur aktuellen analogen Form und zur Funktion der Transkription Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten einer Textedition, nämlich die der seitenorientierten und die der zeilenorientierten Darstellung. Ein Beispiel für eine seitenorientierte Edition lieferten bereits 1963/1968 Heinz Henne4 mit einer Edition der Journale D 2, 3 und 4 sowie 1987 Helene Varady5 mit der Transkription des Krankenjournals D 5. Beide Bearbeiter versuchten, Hahnemanns Handschriften primär formal, also möglichst originalgetreu wiederzugeben. Im Unterschied zu diesen früheren Versuchen verdeutlicht die zeilenorientierte Darstellung, dass die Editionstechnik an die Textsetzung gebunden ist. Die nach den Editionsrichtlinien erstellte Transkription gibt den Quellentext inhaltlich unverändert, aber in einer einheitlichen, normierten Form wieder. Diesen in verschiedenen Word-Formaten vorliegenden Transkriptionen gilt das Interesse des Pilotprojektes. Erarbeitet wird ein Schema zur Erfas3 4 5
Hierzu sei auf folgende Titel hingewiesen: Handley (1990); Seiler (1988), S. 161–224; Michalowski/Sander/Sauerbeck (1989). Henne (1963); Henne (1968). Varady (1987).
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sung der Rahmen- und Metadaten anhand des ausgesuchten Krankenjournals DF 56 unter Berücksichtigung der bestehenden Editionsrichtlinien. Digitale Edition Die Retrodigitalisierung Die ursprünglich im Word-4.0/5.0-Format auf MS-DOS vorliegenden Transkriptionen werden zur Verarbeitung in ein DOCX-Word-Dokument überführt – ausgehend von diesem Dokument können wir den bestehenden Transkriptionstext in ein modernes TEI-Format konvertieren. Die Text Encoding Initiative (TEI) ist eine Arbeits- und Interessengemeinschaft, die 1987 mit dem Ziel gegründet wurde, einen einheitlichen Standard zur Textkodierung für geisteswissenschaftliche Anwendungen wie die Edition gedruckter Werke oder die Auszeichnungen von sprachlichen Informationen zu schaffen. TEI wurde ursprünglich auf Basis von SGML entwickelt, setzt aber seit 2002 in der Version TEI-P4 auf eine Auszeichnung in der Extensible Markup Language (XML), eine hierarchisch strukturierte Metasprache, die menschenund maschinenlesbar ist. Wir verwenden die aktuelle Version des TEI mit der Kennzeichnung P5.7 Bei der Konvertierung nutzen wir die Struktur in den Editionsrichtlinien der Printausgabe, bei der im Word-Dokument Seitennummerierungen mit neuen Zeilen erfasst und Zeilennummerierungen durch Tabstopps vom Textinhalt getrennt werden. Darüber hinaus können Entitäten wie Patienten-Referenzen oder Datumsangaben, die von Hahnemann vergebene Medikation sowie alle bisher verwendeten Transkriptionszeichen auf strukturellen Merkmalen basierend ausgelesen und in ein passendes TEI-Element konvertiert werden. Dieser Workflow wird anhand des Krankenjournals DF 5 entwickelt und kann später auf andere bereits transkribierte Krankenjournale übertragen werden. Datenbank und Website Aus dem TEI-Standard heraus generieren wir direkt eine webbasierte digitale Edition. Dabei kommt die dokumentorientierte Datenbank eXist-db zum Einsatz, die speziell für XML ausgelegt ist und entsprechende Abfragesprachen (XSLT, XQuery) unterstützt, um XML dynamisch in die auf Websites verwendete Hypertext Markup Language (HTML) zu überführen. Dies ermöglicht eine Web-Präsentation der Edition, die das Layout der Printausgabe und die Darstellung Heinz Hennes abbilden kann, im Gegensatz zu diesen statischen Layouts jedoch stets anpassbar bleibt. Zu Recht hebt der Editionsphilologe Patrick Sahle hervor, dass eine Nachahmung der Funktionslogik des Buches, 6 7
Hahnemann (1992). TEI Consortium (2020).
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welcher die zuvor dargelegten Darstellungsformen verhaftet waren, im visuellen Raum digitaler Medien nur ein Übergangsphänomen sein kann.8 Dem eher bildfremden Buchdruck stellt er die bewusste Bildwiedergabe als eine Darstellung der Überlieferung entgegen, die bei der wissenschaftlichen Nutzung zunehmend an Bedeutung gewinnt.9 Vor diesem Hintergrund wird die digitale Edition über eine synoptische Darstellung von Editionstext und den Faksimiles aller Seiten der Krankenjournale verfügen. Darüber hinaus arbeiten wir an einer facettierten Suche, mittels derer das Krankenjournal anhand von spezifischen Medikationen, Patienten und ihren Wohnorten sowie Datumsangaben gefiltert werden kann. Bei der Entwicklung der genannten Funktionen in eXist-db nutzen wir die von der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen entwickelte »Skalierbare Architektur für digitale Editionen« (SADE).10 Vernetzung und Langzeitarchivierung Zur Anbindung der Edition an bestehende Repositorien und Forschungsinfrastrukturen arbeiten wir zudem an einer Normdatenmodellierung mit Anbindung an das Semantic Web. Dabei werden insbesondere die Relationen der Patienten untereinander sowie zu dem behandelnden Arzt abgebildet und die vergebene Medikation erfasst. Da bestehendes Vokabular anderer Linked-Open-Data-Grammatiken die spezifischen Anforderungen einer ArztPatienten-Beziehung sowie des medizinischen und semantischen Gehalts der Diagnostik und Medikation nur begrenzt erfüllt, wird eine eigene Ontologie für diesen Zweck angelegt. Ausblick In der Gesamtperspektive bietet die digitale Edition einen deutlich offeneren Zugang zu Hahnemanns Krankenjournalen. Im TEI ausgezeichnete Textmerkmale sind in der Webpräsentation mit einem passenden visuellen Layout versehen und an entsprechender Stelle erklärt – eine Lektüre von Editionsrichtlinien entfällt für den Nutzer. Patienten-Entitäten können im Text nachverfolgt und mit der von Hahnemann vorgenommenen Medikation erschlossen werden – zudem stehen zusätzliche Informationen zur Verfügung, z. B. eine interaktive Karte der jeweiligen Patienten-Wohnorte. Durch die TEI-Kodierung sind alle Funktionen und Textauszeichnungen zwischen den Sub-Websites ver-
8 Sahle (2010), S. 26. 9 Sahle (2010), S. 26 f. 10 SADE als Framework ist unter folgender URL verfügbar: https://gitlab.gwdg.de/SADE (letzter Zugriff: 23.3.2020); eine Testinstanz findet sich unter https://sade.textgrid.de (letzter Zugriff: 23.3.2020).
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linkt, so dass die Edition für den Nutzer explorativ und multiperspektivisch erschließbar ist. Bibliographie Hahnemann, Samuel: Krankenjournal DF 5 (1838–1843). Edition und Übersetzung von Arnold Michalowski. Heidelberg 1992. Handley, Rima: A Homeopathic Love Story. The Story of Samuel and Melanie Hahnemann. Berkeley, CA 1990. Henne, Heinz: Hahnemanns Krankenjournale Nr. 2. und 3. Stuttgart 1963. Henne, Heinz: Hahnemanns Krankenjournal Nr. 4. Stuttgart 1968. Michalowski, Arnold: Richtlinien zur Edition von Hahnemann-Handschriften. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9 (1990), S. 195–203, online unter http://www.igm-bosch.de/ files/img/pdf-mitarbeiter/michalowski/Links/Richtlinien_zur_Edition.pdf (letzter Zugriff: 23.3.2020). Michalowski, Arnold; Sander, Sabine; Sauerbeck, Karl-Otto: Therapiegeschichtliche Materialien zu Samuel Hahnemanns Pariser Praxis. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 8 (1989), S. 171–196. Sahle, Patrick: Zwischen Mediengebundenheit und Transmedialisierung. In: Editio 24 (2010), S. 23–36. Seiler, Hanspeter: Die Entwicklung von Samuel Hahnemanns ärztlicher Praxis anhand ausgewählter Krankengeschichten. Heidelberg 1988. TEI Consortium (Hg.): Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange [last modified: 2020-02-13], URL: http://www.tei-c.org/P5/ (letzter Zugriff: 23.3.2020). Varady, Helene: Die Pharmakotherapie Samuel Hahnemanns in der Frühzeit der Homöopathie. Edition und Kommentar des Krankenjournals Nr. 5 (1803–1806). München 1987.
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