Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin: Menschenrechte - Ethik - Empowerment 9783839443521

This volume highlights the importance of the link between vulnerability and human rights for a better, more people-orien

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German Pages 284 Year 2018

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Inhalt
Menschenrechte und Vulnerabilität in der Medizin
I. GRUNDLAGEN: VERLETZLICHKEIT UND AUTONOMIE IN PHILOSOPHIE, MENSCHENRECHT UND MEDIZINETHIK
Vulnerabilität als Menschenrechtsthema
Empowerment, soziale Bewegungen und das Recht auf Gesundheit
Ethische Probleme im Gesundheitswesen und Konzepte von Vulnerabilität
II. VULNERABILITÄT UND SELBSTBESTIMMUNG: PROBLEME IN DER KLINISCHEN PRAXIS
Autonomie und Lebendnierenspende
Gute Behandlung bei medikamentenresistenter Tuberkulose
Zur Vulnerabilität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen
III. AUTONOMIE, VULNERABILITÄT UND RECHT AUF GESUNDHEIT: DAS BEISPIEL MIGRATION
Migrantinnen und Migranten ohne Papiere im Gesundheitssystem
Das Menschenrecht auf Gesundheit und die medizinische Versorgung irregulärer Migrant_innen
Weibliche Geflüchtete und das Recht auf Gesundheit
Autorinnen und Autoren mit Adressen
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Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin: Menschenrechte - Ethik - Empowerment
 9783839443521

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Lutz Bergemann, Andreas Frewer (Hg.) Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin

Menschenrechte in der Medizin / Human Rights in Healthcare | Band 6

Editorial Themen im Spannungsfeld von Medizin und Menschenrechten umreißen ein Spektrum höchst aktueller und brisanter Fragen: Auf welche Weise kann das Menschenrecht auf Gesundheit für Menschen mit Behinderungen, Flüchtlinge oder »Menschen ohne Papiere« effizient gewährleistet werden? Wie lassen sich Menschenwürde und Menschenrechte am Lebensende, in der Phase palliativer Begleitung sichern? Was bedeutet das Postulat der Autonomie für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen? Die Reihe bietet ein Forum für die Klärung solcher praktischer Fragen und will gleichzeitig Beiträge zur Grundsatzreflexion des Verhältnisses von Menschenrechten und Medizin leisten. Die Reihe wird herausgegeben von Heiner Bielefeldt und Andreas Frewer.

Lutz Bergemann, Andreas Frewer (Hg.)

Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin Menschenrechte – Ethik – Empowerment

Mit freundlicher Unterstützung der Emerging Fields Initiative (EFI) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4352-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4352-1 https://doi.org/10.14361/9783839443521 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Menschenrechte und Vulnerabilität in der Medizin. Bedingungen eines patientenorientierten und autonomiefördernden Empowerments

Lutz Bergemann, Andreas Frewer | 7

I. G RUNDLAGEN: VERLETZLICHKEIT UND AUTONOMIE IN P HILOSOPHIE, MENSCHENRECHT UND MEDIZINETHIK Vulnerabilität als Menschenrechtsthema. Eine Problemskizze

Heiner Bielefeldt | 21 Empowerment, soziale Bewegungen und das Recht auf Gesundheit. Blickwechsel von der Autonomie zur Partizipation

Martin Huth | 39 Ethische Probleme im Gesundheitswesen und Konzepte von Vulnerabilität. Chancen für ein menschenrechtliches Empowerment?

Lutz Bergemann | 73

II. V ULNERABILITÄT UND S ELBSTBESTIMMUNG: P ROBLEME IN DER KLINISCHEN P RAXIS Autonomie und Lebendnierenspende. Menschenrechte in der Transplantationspraxis

Katharina Schieber, Sonja Gaag, Yesim Erim | 115 Gute Behandlung bei medikamentenresistenter Tuberkulose. Ethische Fragen in vulnerablen Situationen der »post-antibiotischen Ära«

Andreas Reis, Christina Heinicke, Ernesto Jaramillo, Andreas Frewer | 129 Zur Vulnerabilität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

Martina Schmidhuber, Elmar Gräßel | 147

III. AUTONOMIE , V ULNERABILITÄT UND RECHT AUF G ESUNDHEIT : D AS B EISPIEL MIGRATION Migrantinnen und Migranten ohne Papiere im Gesundheitssystem. Zwischen Menschenrecht, humanitärer Hilfe und Migrationskontrolle

Maren Mylius | 169 Das Menschenrecht auf Gesundheit und die medizinische Versorgung irregulärer Migrant_innen. Vulnerabilität diesseits der Grenze

Ibrahim Kanalan, Markus Krajewski, Hannah Geks | 193 Weibliche Geflüchtete und das Recht auf Gesundheit. Zwischen Vulnerabilität, Autonomie und Empowerment

Sabine Klotz | 225

Autorinnen und Autoren mit Adressen | 281

Menschenrechte und Vulnerabilität in der Medizin Bedingungen eines patientenorientierten und autonomiefördernden Empowerments L UTZ B ERGEMANN , A NDREAS F REWER

Die beiden amerikanischen Ethiker Beauchamp und Childress räumen den Rechten kranker Personen eine zentrale Rolle ein und verbinden deren normativen Anspruch auch in diesem Bereich der Gesellschaft mit der Autonomie der einzelnen, kranken Person. 1 Rechte – und in besonderem Maße die Menschenrechte – lassen sich sowohl in positive Anspruchs- als auch negative Schutzrechte einteilen. 2 Innerhalb der von ihnen geschaffenen bzw. zu schaffenden Freiheitsräume soll es allen betroffenen, verletzlichen Personen möglich sein, trotz Vulnerabilität ihre Autonomie und ihre Würde zu erfahren wie auch zu verwirklichen, was ganz fundamental die Ermöglichung von Selbstbefähigung einschließt. 3 1

Beauchamp/Childress (2009), 350–354.

2

Ebd., 352–353: »A positive right is a right to receive a particular good or service from others, whereas a negative right is a right to be free from some action by others. A person’s positive right entails another’s obligation to do something for that person; a negative right entails another’s obligation to refrain from doing something«. Hervorhebung durch Beauchamp/Childress.

3

Ebd., 350–351: »Rights are justified claims that individuals and groups can make on other individuals or on society; to have a right is to be in a position to determine, by one’s choice, what others should or should not do. All rights exist or fail to exist because of a normative structure that either allows or disallows

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In diese vielschichtige Dynamik moderner, pluralistischer Geselschaften eingebunden ist auch das Menschenrecht auf Gesundheit, 4 das ebenfalls dazu dienen soll, besonders vulnerable Personengruppen zu schützen und sie je nach den individuellen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung zu befähigen. Menschliche Existenz ist durch komplexe Vulnerabilitäten (Verletzlichkeiten) 5 charakterisiert. In Respekt vor der Würde jedes Individuums zielen Menschenrechte gleichsam als eine Art Gegengewicht auf politischrechtliches Empowerment von Menschen. 6 Die Medizin wiederum beschäftigt sich ebenfalls in besonderer Weise mit Menschen als vulnerablen Wesen. Weder in den Menschenrechten noch in der Medizin kann es allerdings darum gehen, die Verletzlichkeit als solche zu überwinden, denn Vulnerabilität bildet ein Definitionsmerkmal der conditio humana, ohne das weder Menschenrechte noch Humanmedizin überhaupt denkbar sind. Deshalb spricht man hier von »inhärenter« oder »ontologischer Vulnerabilität«. 7 Davon abzugrenzen sind jedoch »pathogene Vulnerabilitäten«, die durchaus Gegenstand politisch-rechtlicher bzw. therapeutischer Bearbeitung sein können sowie »situative Vulnerabilitäten«, die z.B. aus ebenfalls veränderbaren Machtasymmetrien und Abhängigkeitsverhältnissen resultieren.

the claim in question. […] Liberal individualism starts with the basic presumption that a just political system must carve out a certain space within which the individual may pursue personal projects. […] ›Rights [...] are prior to obligations in the order of justifying purpose […] in that respondents have correlative obligations because subjects have certain rights‹«. Hervorhebung Beauchamp/ Childress. 4

Siehe dazu u.a. die Bände von Toebes (2014); Frewer/Bielefeldt (2016); Klotz et al. (2017) sowie besonders die Beiträge von Bielefeldt (2016) und Krennerich (2016) zum Menschenrecht auf Gesundheit in Frewer/Bielefeldt (2016). Des Weiteren vgl. Donnelly (2010); Pollmann/Lohmann (2012); Cohen/Ezer (2013).

5

Zum Themenfeld Vulnerabilität generell siehe insbesondere Turner (2006); Hoffmaster (2006); Fineman (2008) und (2010); Gilson (2014); Sloane (2016).

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Zu Würde und Autonomie in der Medizin Rendtorff/Kemp (1999); Knoepffler (2004); Illhardt (2008); Barilan (2012); Birnbacher (2012); Baranzke/Duttge (2013); Joerden et al. (2013); Welsh et al. (2017). Rendtorff/Kemp (1999) nennen Vulnerabilität sogar als »Basic ethical principle« für Bioethik und Biorecht.

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Die Differenzierung von Vulnerabilität ist analog zu Mackenzie et al. (2014a), die u.a. zwischen inhärenter, situativer und pathogener Form unterscheiden.

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Menschenrechtliches Empowerment dient entsprechend dazu, asymmetrische Beziehungen – und zwar auch innerhalb der medizinischen Versorgungsstrukturen – sukzessive zu überwinden, ohne dabei aber die Verwiesenheit der Menschen auf Beziehungen zu leugnen. Denn auch die dem normativen Profil der Menschenrechte eingeschriebene Autonomie – eng verwoben mit dem Respekt der Würde des Menschen als Verantwortungssubjekt – lässt sich sinnvoll nur als relationale Autonomie eben in entsprechenden Beziehungsgeflechten denken und verwirklichen. Das Gesundheitswesen befindet sich dabei im Schnittbereich potenziell aller Menschenrechte, die einander wechselseitig bedingen und gegenseitig ergänzen, gelegentlich aber auch in Spannung zueinander geraten. Wenn im Folgenden das Recht auf Gesundheit im Mittelpunkt steht, so sind Bezüge zu anderen Menschenrechten stets mit zu bedenken – gemäß der Klarstellung der Dritten Weltmenschenrechtskonferenz (Wien 1993), dass alle Menschenrechte »universal, unteilbar, voneinander abhängig und aufeinander bezogen« sind. 8 Das normative Profil der Menschenrechte im Ganzen lässt sich durch drei Komponenten umreißen: (1.) Ihr Charakter als verbindliche Rechtsnormen, zu deren Umsetzung insbesondere der Staat verpflichtet ist; (2.) ihre universalistische Orientierung an der Würde des Menschen, und zwar jedes Menschen gleichermaßen; (3.) ihre emanzipatorische Zielsetzung, verdichtet im Anspruch auf Autonomie. Die drei Komponenten seien zunächst kurz erläutert, denn entlang dieser Komponenten lässt sich im Anschluss eine systematische Verbindung zum Konzept der Vulnerabilität in seinen verschiedenen, aufeinander bezogenen Bedeutungsvarianten entwickeln. Rechtscharakter der Menschenrechte: Auch wenn die Menschenrechte aufgrund ihres herausragenden moralischen Anspruchs gern als »Werte« bezeichnet werden, gewinnen sie ihre näheren inhaltlichen Konturen sowie ihre (relative) Durchschlagskraft im Medium des positiven Rechts. Dies geschieht in einem Mehrebenensystem, innerhalb dessen regionale, nationale und globale Ausgestaltungen koordiniert werden müssen. Dem Staat kommt die grundlegende Verantwortung für die Verwirklichung der Menschenrechte zu: Er hat die Menschenrechte als Grenze und Vorgabe staatlichen Handelns strikt zu achten (»obligation to respect«), soll sie zugleich gegen etwaige Beeinträchtigungen durch Dritte schützen (»obligation to protect«) und darüber hinaus eine angemessene

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Zur »Unteilbarkeit der Menschenrechte« siehe Bielefeldt (2016), 23.

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Infrastruktur aufbauen, damit die Rechte eines jeden wirksam zur Geltung kommen können (»obligation to fulfil«). Menschenrechtlicher Universalismus: Im Unterschied zu solchen Rechten, die an partikulare Vorleistungen, Mitgliedschaften, Qualifikationen, Rollen und Funktionen gebunden sind, stehen die Menschenrechte dem Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins zu. Den tragenden Grund des menschenrechtlichen Universalismus bildet die inhärente Würde des Menschen, deren Anerkennung bereits im ersten Satz der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 – dem Gründungsdokument des internationalen Menschenrechtsschutzes – postuliert wird. Aufgrund ihrer Funktion, dem gebotenen Respekt der Menschenwürde institutionellen Rückhalt zu bieten, kommt den Menschenrechten innerhalb der Rechtsordnung ein herausragender Stellenwert zu. Es handelt sich bei ihnen um »unveräußerliche« Rechte. Dem emanzipatorischen Anspruch der Menschenrechte (Autonomie) kommt im Rahmen des vorliegenden Bandes besondere Bedeutung zu: Menschenrechte zielen darauf ab, persönliche, kommunikative und soziale Freiheit für alle Menschen zu ermöglichen. Dies gilt nicht nur für diejenigen Rechte, die den Begriff der Freiheit schon im Titel tragen – Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit usw. –, sondern letztlich für sämtliche Menschenrechte, darunter auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die dazu dienen, einseitige Abhängigkeitsverhältnisse (und somit strukturelle Vulnerabilitäten) innerhalb der Gesellschaft abzubauen und auf diese Weise die Realbedingungen freiheitlicher Lebensgestaltung zu verbessern. Gerade im speziellen, spannungsreichen Kontext der Operationalisierung wie auch Konkretisierung des Menschenrechts auf Gesundheit entlang dieser drei definitorischen Komponenten erweist ein differenziertes Konzept von Vulnerabilität, das u.a. heuristische Funktion besitzt, seine innovativen Stärken: Als wesentliches Prädikat menschlichen Daseins gehört Vulnerabilität zunächst zur leiblichen Verfasstheit des Menschen, wodurch sich dieser in vielerlei Hinsicht als offen zu seiner Umwelt, angreifbar, hilfsbedürftig, abhängig und verwundbar erweist (sog. inhärente oder ontologische Vulnerabilität). Diesem Konzept von Vulnerabilität – unmittelbar anschlussfähig an das Menschenrecht auf Gesundheit – ist jedoch zugleich eine weitere Perspektive auf Verletzlichkeit an die Seite zu stellen, die relationale Aspekte von Vulnerabilität erfasst; dazu zählen auch gesellschaftliche Strukturen – etwa Machtasymmetrien, einseitige Abhängigkeiten, Ungerechtigkeiten etc. –,

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durch die Menschen erhöhten Risiken von Missbrauch, Ausbeutung oder Entwürdigung ausgesetzt sind (sog. situative Vulnerabilität). Unter dieser Perspektive lassen sich dann Missstände, Verantwortlichkeiten und Pflichten besser erfassen, die den besonders vulnerablen Personenkreisen geschuldet werden. Von besonderem Interesse in diesem Problemkontext ist das bereits erwähnte Konzept der sog. pathogenen Vulnerabilitäten, um institutionelle Strukturen zu beschreiben, die ursprünglich dazu beitragen sollten, gefährdeten Personen zu helfen, tatsächlich aber dazu führen, die Situation besonders vulnerabler Gruppen zu verschlechtern. Die Produktivität der Verschränkung normativer menschenrechtlicher Inhalte mit einem derart differenzierten Konzept von Vulnerabilität zeigt sich exemplarisch im Programm-Papier »Ensuring a Human-Rights Based Approach for People Living with Dementia« der WHO: 9 Die WHO arbeitet in diesem Programm-Papier hinsichtlich der Begründung der Notwendigkeit eines Human-Rights Based Approaches (»The Need for a Human-Rights Based Approach«) mit einer Kombination der inhärenten und situativen Vulnerabilitäts-Konzepte, um daraus ein Prinzipien-Gerüst abzuleiten, das helfen soll, Menschenrechte von Personen mit Demenz in konkreten Situationen zum Schutz und zur besseren (Selbst-)Befähigung derselben konkret umzusetzen: »PANEL« – Participation, Accountability, Non-discrimination, Empowerment, Legality. »Empowerment« bedeutet nach diesem Papier, dass sich kranke Personen ohne Ansehen ihres Status etc. als Rechteinhaber*innen verstehen bzw. empfinden können und entsprechend in ihrer Selbstbestimmung befähigt und respektiert werden sowie Gehör finden und versorgt werden. Dies schließt im Idealfall zugleich einen Abbau der verschiedenen bestehenden situativen Vulnerabilitäten ein, deren Missbrauch und Ausnutzen nicht nur das Würdeempfinden dieser Personen beeinträchtigen, sondern auch deren Wohlergehen empfindlich gefährden und einschränken. Vor diesem ebenso facettenreichen wie spannungsvollen Hintergrund reflektieren die Beiträge dieses Bandes spezifische Gegebenheiten des deutschen Gesundheitssystems, die dazu beitragen, die Situation vulnerabler Patient*innengruppen zu verschlechtern. Aber sie zeigen ebenso auf, welche Möglichkeiten es gibt, negativen Tendenzen zu begegnen und befähigende Auswege aus schwierigen Situationen zu finden.

9

Vgl. http://www.who.int/mental_health/neurology/dementia/dementia _thematic brief_human_rights.pdf [27.08.2018]. Siehe auch Schmidhuber et al. (2019).

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Die ersten drei Texte nähern sich dem Zusammenhang von Menschenrecht auf Gesundheit, Vulnerabilität, Autonomie und Empowerment aus grundlegender Perspektive. Heiner Bielefeldt thematisiert Vulnerabilität als Menschenrechtsthema. Skizziert wird, auch im Rückgriff auf Helmuth Plessner, die Bedeutung eines ganzheitlichen, leiblich konzipierten Verständnisses der Verletzlichkeit des Menschen sowohl für eine menschenrechtlich informierte Prinzipienreflexion im Gesundheitswesen als auch für die konkrete Anwendung von Menschenrechten in der Versorgungspraxis. Gerade hier zeigt sich, dass ein derartiger Ansatz eine differenzierte Wahrnehmung individueller Bedürfnisse und Bedarfe kranker Personen in der Praxis verlangt, um Würde und Autonomie der Betroffenen gerade auch in vulnerablen Situationen zu wahren und erlebbar sein zu lassen. Martin Huth befasst sich mit dem Themenkomplex Empowerment, soziale Bewegungen und das Recht auf Gesundheit. Er geht von einem Empowerment-Begriff aus, dem zufolge Empowerment alle Praktiken bezeichnet, die zur Herstellung von Selbstbestimmung beitragen. Damit Betroffene ihr Recht auf Gesundheit angemessen wahrnehmen können, ist es für Huth nötig, die je spezifischen Formen von Vulnerabilität und Bedürftigkeit zu berücksichtigen. Erst dann ist eine diversitätssensible und gerechte Versorgung zu gewährleisten. Dafür wiederum bedarf es seitens der Verantwortlichen der entsprechenden Anerkennungsakte, eines Verantwortungsbewusstseins und der daraus erwachsenden Solidarität. Soziale Einrichtungen und ihre Arbeit können die Betroffenen in diesem Kontext dazu befähigen, selbstbestimmt ihre Bedürfnisse sichtbar zu machen und Anerkennung einzufordern. Im Beitrag Ethische Probleme im Gesundheitswesen und Konzepte von Vulnerabilität versucht Lutz Bergemann, die medizinische Versorgungspraxis umfassender, als es bisher in der Forschung, geschehen ist, als Anwendungsraum für Menschenrechte zu erschließen und schließt damit eng an den Beitrag von Bielefeldt an. Auch Bergemann fundiert zu diesem Zweck Vulnerabilität in der Leiblichkeit des Menschen, die er neuphänomenologisch als universelles und unhintergehbares Kommunikationsmedium des Menschen mit seiner Umwelt versteht und würdespezifisch als vielschichtige Erlebenssphäre des sense of dignity auslegt. Im Anschluss daran werden die weitreichenden normativen Implikationen dieser anthropologischen Begründung und Legitimation des Menschenrechtsansatzes im Gesundheitswesen praxisorientiert mit Blick auf eine personen- und selbstbe-

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stimmungsfördernde Versorgung anhand verschiedener Anwendungsbeispiele ausgeführt. Der bereits im ersten Teil des Bandes erkennbare Bezug des Themas zur Praxis wird in dessen zweitem Teil fortgesetzt, in dem unterschiedliche Betroffenengruppen in den Blick genommen werden. Katharina Schieber, Sonja Gaag und Yesim Erim widmen sich dem Zusammenhang von Autonomie und Lebendspende und fragen nach der Bedeutung der Menschenrechte in der Transplantationspraxis. Sie fokussieren aus psychosomatischer Perspektive die Befindlichkeit von Lebendspender*innen und problematisieren deren besondere Vulnerabilität in einer schwierigen Entscheidungssituation hinsichtlich Autonomie und Freiwilligkeit. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung zur persönlichen Situation der Spender*innen entwickeln sie u.a. Vorschläge für ein autonomieförderndes Vorgehen. Andreas Reis, Christina Heinicke, Ernesto Jaramillo und Andreas Frewer wenden sich in ihrem Beitrag der Guten Behandlung bei medikamentenresistenter Tuberkulose zu. Sie stellen u.a. dar, dass Betroffene aufgrund des fehlenden angemessenen Zugangs zu Diagnostik und Therapie situativ besonders vulnerabel und daher stark gefährdet sind, ihr Recht auf Gesundheit diskriminierungsfrei wahrzunehmen. Neben besonderen Konstellationen, die persönliche Situationen ausmachen (z.B. Migrationshintergrund und/oder Erkrankung mit einem multiresistenten Erreger), spielt dabei auch die unzureichende Forschung eine verschärfende Rolle. Als Resultat ihrer kritischen Ausführungen aus globaler Sicht (WHO) fordern sie eine umfassendere Berücksichtigung der komplexen Vulnerabilitäten besonders relevanter Risikogruppen in nationalen und internationalen TuberkuloseProgrammen. Der Beitrag von Martina Schmidhuber und Elmar Gräßel zur Vulnerabilität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen rückt Bedürfnisse und Bedarfe einer weiteren verletzlichen Personengruppe in den Fokus. Basierend auf Überlegungen zu Vulnerabilität und Demenz erörtern sie spezifische Vulnerabilitätsformen der Erkrankten, die sich bereits bei Diagnose ergeben bzw. verschärfen können, aber auch im Krankheitsverlauf während der Pflege und beim Sterben von Personen mit Demenz. Von besonderem Interesse ist für sie dabei die personenorientierte Wahrung relationaler Autonomie sowie zusätzlich die unterstützende Begleitung von pflegenden Angehörigen.

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Der vielschichtig schwierige und komplexe Zusammenhang von Autonomie, Vulnerabilität und Menschenrecht auf Gesundheit wird im dritten Teil dieses Bandes abschließend am Beispiel der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland erörtert. Die Lage von Migrantinnen und Migranten ohne Papiere im Gesundheitssystem wird von Maren Mylius kritisch reflektiert. Sie zeigt ebenso nachdrücklich wie eindringlich auf, wie die deutsche Asylgesetzgebung für Migrant*innen ohne Papiere das Menschenrecht auf Gesundheit einschränkt und welche situativen sowie pathogenen Vulnerabilitäten und Benachteiligungen sich für die Betroffenen ergeben, wenn dieses Menschenrecht und die gesundheitliche Versorgung aus migrationspolitischen Gründen eingeschränkt werden. Gleichzeitig kann sie anhand eines Modellprojekts in Niedersachsen – das leider zum 30.11.2018 auslaufen soll – eine Möglichkeit skizzieren, wie es den Betroffenen mit staatlicher Unterstützung gelingen kann, sowohl besser versorgt zu werden als auch mehr eigene Kontrolle über ihre prekäre Situation zu gewinnen. Ibrahim Kanalan, Markus Krajewski und Hanna Geks erörtern in ihrem Beitrag Das Menschenrecht auf Gesundheit und die medizinische Versorgung irregulärer Migrant_innen ebenfalls die Verletzlichkeit dieser Betroffenengruppe, die gravierenden Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt ist. Dabei verstehen sie Vulnerabilität aus menschenrechtlicher Perspektive als »Lebenslage, die der vollen und gleichberechtigten Nutzung der Menschenrechte abträglich ist«. Vor diesem Hintergrund skizzieren sie die tatsächliche – und das heißt: extrem defizitäre – Versorgungssituation irregulärer Migrant*innen. Aufgrund ihrer menschenrechtlichen Perspektivierung zeigen sie die Unzulänglichkeiten des deutschen Rechts auf, die geradezu zwangsläufig zu Situationen gravierender pathogener Vulnerabilität der betroffenen Patient*innengruppe führen. Den Autor*innen des Beitrags zufolge reicht es nicht aus, die Kompensation dieses Missstands privaten Initiativen zu überlassen; vielmehr ist der Staat in der Pflicht, durch Gesetzesänderung dafür zu sorgen, dass auch diese Personengruppe einen menschenrechtsgemäßen, uneingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung erhält. Sabine Klotz thematisiert Weibliche Geflüchtete und das Recht auf Gesundheit im Spannungsfeld von Vulnerabilität, Autonomie und Empowerment. Im Anschluss an eine gründliche und differenzierte Bestandsaufnahme der Themenbereiche Menschenrecht auf Gesundheit (speziell aus Gen-

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der-Perspektive), Vulnerabilität und Empowerment-Konzepte fokussiert Klotz in ihrem Text u.a. auf die menschenrechtlichen Aspekte von Diskriminierungsfreiheit und Annehmbarkeit der gesundheitlichen Versorgung für weibliche Geflüchtete in Deutschland. Sie kann aufzeigen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen die ohnehin prekäre Situation weiblicher Geflüchteter in Bezug auf deren sexuelle und reproduktive Gesundheit und Freiheit verschlechtern, was – neben den bereits in den vorherigen Beiträgen von Mylius und Kanalan et al. genannten asylgesetzlichen Defiziten – auch auf einen starken und damit einseitigen wie auch problematischen Fokus der gesetzlichen Vorgaben zur Fortpflanzungsfähigkeit der Frau zurückgeführt werden kann, der zusätzliche situative Vulnerabilitäten erzeugt. Anhand einiger Best Practice-Beispiele kann die Autorin jedoch auch positive Möglichkeiten eines menschenrechtlich motivierten, gesundheitlichen Empowerments der betroffenen Frauen aufzeigen, das relativ umfassend deren Bedürfnissen gerecht wird. Die praxisbezogenen Beiträge des vorliegenden Bandes, in denen die Versorgungssituation verschiedener Betroffenengruppen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Vulnerabilitäten aus menschenrechtlicher Perspektive normativ bewertet wird, bestärken damit die Einsichten der Beiträge des ersten Teils: Wenn man ein umfassendes Vulnerabilitätskonzept, das die Leiblichkeit und die spezifische Situation der Betroffenen integriert, umsichtig in den Menschenrechtsansatz implementiert und die medizinische Versorgungspraxis nachdrücklicher, als bisher in der Forschung, diesem Ansatz erschließt, 10 können verschiedene positive Effekte erzielt werden. Nicht nur rücken schwierige Strukturen und Zustände sowie deren ebenso problematische Begründungen und damit negative Ursächlichkeiten schärfer in den Blick, die es kranken Personen erschweren, eine tatsächlich die Selbstbestimmung fördernde und Würde wahrende Versorgung zu erhalten und zu erfahren. Vielmehr lassen sich aus diesen Erkenntnissen entlang der Kategorien der Verfügbarkeit, des offenen Zugangs, der Annehmbarkeit sowie der Qualität 11 zur Konkretisierung des Menschenrechts auf Gesundheit praxisbezogene Ansätze und Instrumente entwickeln und legitimieren, die sowohl die Versorgungssituation der Betroffenen verbessern als auch

10 Zum bisherigen diesbezüglichen »Wissens- und Wahrnehmungsdefizit« siehe Bielefeldt (2016), 19–24. 11 Siehe zu diesen vier Kategorien Krennerich (2016), 67–68.

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deren Selbstbestimmung fördern und deren Würdeempfinden gerecht werden könn(t)en.

D ANKSAGUNG Dieses Buch ist aus der Zusammenarbeit vieler Personen entstanden: Allen Autor*innen des vorliegenden Bandes danken wir herzlich für ihre Beiträge sowie die sehr gute Kooperation bei der umfangreichen Redaktionsarbeit! Der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg unter ihrem Präsidenten Prof. Dr.-Ing. Joachim Hornegger und speziell dem Emerging Fields Office (EFO) möchten wir für die Unterstützung des Projekts »Human Rights in Healthcare« (Leitung: Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Bielefeldt/Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A.) Dank sagen. Für die konstruktive Kooperation sei auch den Mitarbeiter*innen des transcript Verlags in Bielefeld gedankt. Bei der redaktionellen Arbeit waren Kerstin Franzò, M.A., Anja Koberg, M.A., Frauke Scheller, M.A. und Anna Sielski, M.A. im Sekretariat der Professur für Ethik in der Medizin eine große Hilfe.

L ITERATUR Baranzke, Heike/Duttge, Gunnar (Hg.) (2013): Autonomie und Würde: Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht, Würzburg: Königshausen & Neumann. Barilan, Michael Y. (2012): Human dignity, human rights, and responsibility. The new language of global ethics and biolaw, Cambridge, Mass. [u.a.]: The MIT Press. Beauchamp, Tom L./Childress, James F. (2009): Principles of Biomedical Ethics, 6th edition. New York: Oxford University Press. Bielefeldt, Heiner (2016): »Der Menschenrechtsansatz im Gesundheitswesen. Einige Grundüberlegungen«, in: Frewer/Bielefeldt (2016), 19–56. Birnbacher, Dieter (2012): »Vulnerabilität und Patientenautonomie – Anmerkungen aus medizinethischer Sicht«, in: Medizinrecht 9 (2012), 560–565.

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Cohen, Jonathan/Ezer, Tamar (2013): »Human rights in patient care. A theoretical and practical framework«, in: Health and Human Rights Journal 15, 2 (2013), 7–19. Donnelly, Jack (2010): Universal Human Rights in Theory and Practice, 2nd Edition. lthaca: Cornell University Press. Fineman, Martha Albertson (2008): »The vulnerable subject: Anchoring equality in the human condition«, in: Yale Journal of Law and Feminism 20, 1 (2008), 1–23. Fineman, Martha Albertson (2010): »The vulnerable subject and the responsive state«, in: Emory Law Journal 60, 2 (2010), 251–275. Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2016): Das Menschenrecht auf Gesundheit. Normative Grundlagen und aktuelle Diskurse, Bielefeld: transcript. Gilson, Erinn C. (2014): The Ethics of Vulnerability. A Feminist Analysis of Social Life and Practice, New York, London: Routledge. Hoffmaster, C. Barry (2006): »What does vulnerability mean?«, in: Hastings Center Report 36, 2 (2006), 38–45. Illhardt, Franz Josef (Hg.) (2008): Die ausgeblendete Seite der Autonomie. Kritik eines bioethischen Prinzips, Münster: LIT. Joerden, Jan/Hilgendorf, Eric/Thiele, Felix (Hg.) (2013): Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin: Duncker & Humblot. Klotz, Sabine/Bielefeldt, Heiner/Schmidhuber, Martina/Frewer, Andreas (Hg.) (2017): Healthcare as a Human Rights Issue. Normative Profile, Conflicts and Implementation, Bielefeld: transcript. Knoepffler, Nikolaus (2004): Menschenwürde in der Bioethik, Berlin: Springer. Krennerich, Michael (2016): »Das Menschenrecht auf Gesundheit. Grundzüge eines komplexen Rechts«, in: Frewer/Bielefeldt (2016), 57–92. Mackenzie, Catriona/Rogers, Wendy/Dodds, Susan (2014a): »Introduction: What Is Vulnerability and Why Does It Matter for Moral Theory?«, in: Mackenzie et al. (2014b), 1–29. Mackenzie, Catriona/Rogers, Wendy/Dodds, Susan (Hg.) (2014b): Vulnerability. New Essays in Ethics and Feminist Philosophy, New York: Oxford University Press. Pollmann, Arnd/Lohmann, Georg (Hg.) (2012): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler.

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Rendtorff, Jacob Dahl/Kemp, Peter (Eds.) (1999): Autonomy, dignity, integrity and vulnerability. Basic ethical principles in European bioethics and biolaw, Copenhagen: Centre for ethics and law. Schmidhuber, Martina/Frewer, Andreas/Klotz, Sabine/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2019): Menschenrechte für Personen mit Demenz. Soziale und ethische Perspektiven, Bielefeld: transcript (in Vorb.). Sloane, Andrew (2016): Vulnerability and care. Christian reflections on the philosophy of medicine, London et al.: Bloomsbury Publishing. Toebes, Brigit (Hg.) (2014): The Right to Health. A Multi-Country Study of Law, Policy and Practice, The Hague: T. M. C. Asser Press. Turner, Bryan S. (2006): Vulnerability and Human Rights, University Park: The Pennsylvania State University Press. Welsh, Caroline/Ostgathe, Christoph/Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2017): Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Grundlagen, Erfahrungen, Reflexionen aus der Praxis, Bielefeld: transcript.

I. GRUNDLAGEN: VERLETZLICHKEIT UND AUTONOMIE IN PHILOSOPHIE, MENSCHENRECHT UND MEDIZINETHIK

Vulnerabilität als Menschenrechtsthema Eine Problemskizze H EINER B IELEFELDT

1. G EFÄHRLICHES R EFLEXIONSDEFIZIT ? Das Thema »Vulnerabilität« ist in menschenrechtlicher Praxis allgegenwärtig, bleibt in der menschenrechtlichen Theorie aber merkwürdig unterreflektiert. Von Vulnerabilität ist meist dann die Rede, wenn es darum geht, auf besonders schwierige Lebenslagen zu reagieren. Dazu zählen beispielsweise Flucht, Armut, hohes Alter, chronische Krankheit oder prekärer Aufenthaltsstatus – kurz: Situationen, in denen Menschen erhöhten Risiken von Ausbeutung, Ausgrenzung oder Bevormundung ausgesetzt sind. 1 Menschenrechte sollen angemessene Antworten auf solche, im Einzelnen sehr unterschiedliche Lagen erhöhter Vulnerabilität geben. Ziel ist es, durch politisch-rechtliches »Empowerment« der Betroffenen sowie kritische Berichterstattung und fachliche Überprüfung Situationen besonderer Vulnerabilität möglichst zu überwinden oder zumindest die damit verbundenen strukturellen Risiken einzudämmen. In der Praxis der Menschenrechte hat das Thema »Vulnerabilität« deshalb seit jeher einen hohen Stellenwert, und zwar vornehmlich in der Konzentration auf typische Gefährdungssituationen. In der Theorie der Menschenrechte hat der Begriff der Vulnerabilität demgegenüber weit weniger Beachtung gefunden. 2 Erst recht gilt dies, 1

Vgl. Morawa (2003), 139–155.

2

Vgl. indes den vielleicht gerade auch deshalb vielbeachteten Essay von Bryan S. Turner (2006).

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wenn man den Fokus von Situationen besonderer Gefährdung wegnimmt und auf Vulnerabilität als Bestandteil der conditio humana insgesamt schaut. Dies mag daran liegen, dass die Vulnerabilität des Menschen in der Regel schlicht vorausgesetzt wird. In gewisser Weise ist sie so offensichtlich, dass es auf den ersten Blick überflüssig erscheinen mag, darauf eigens intellektuelle Bemühungen zu richten. Dass Menschen als leibhafte Wesen in vielfacher Hinsicht bedürftig und abhängig sind und dass ihr Leben stets auch durch Leid, Krankheit, Verlust und Todesgewissheit geprägt ist, liegt ja offen zu Tage. Menschenrechte beschäftigen sich in Praxis und Theorie mit spezifischen Konsequenzen vitaler Bedürftigkeit und Abhängigkeit, kaum aber mit menschlicher Vulnerabilität als solcher. Dieses Reflexionsdefizit birgt freilich Gefahren. Zentrale menschenrechtliche Begriffe wie Menschenwürde und Autonomie können in idealistische Überziehungen abgleiten, wenn man ihre Rückbindung an den Menschen als vielfältig vulnerables Wesen nicht stets mit bedenkt. Vulnerabilität gehört deshalb ins Zentrum der Menschenrechtsdebatte, und zwar nicht nur im Blick auf spezifische Gefährdungslagen, die es zu überwinden gilt. Vielmehr geht es darüber hinaus um die Vulnerabilität als Bestandteil der conditio humana, die zum menschlichen Leben unabweisbar dazugehört, sich in manchen Situationen freilich besonders drastisch zeigt. Wie steht es beispielsweise um die Menschenwürde von Personen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz? 3 Wie kann jemand, der von Angst vor einem riskanten medizinischen Eingriff wie gelähmt wirkt, »autonom« entscheiden? Entpuppt sich der Anspruch auf Autonomie in solchen Situationen nicht als lebensfremd? Was mag Menschenwürde für Menschen bedeuten, die als pflegende Angehörige ins Haus gesperrt sind und womöglich in Depression versinken? 4 Solche Grenzsituationen sind keine bloßen Randphänomene, sondern haben die Qualität grundlegender Testfragen. In ihnen manifestiert sich schlaglichtartig die Grundsituation des Menschen als vulnerables Wesen, auf die sich menschenrechtliches Engagement bezieht. Wem zur Menschenwürde Demenzerkrankter nichts einfällt, sollte fortan den Begriff der Würde generell nicht mehr im Munde führen. Wenn die Zuerkennung der Autonomie in Situationen existenzieller Bedrohung nicht passt, wird ihr

3

Vgl. Cahill (2018).

4

Zu dieser Problemstellung vgl. Office of the High Commissioner for Human Rights (2012).

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Stellenwert insgesamt fragwürdig. Und eine Menschenrechtspolitik, die sich für die schwierige Lage pflegender Angehöriger nicht interessiert, hätte ihren humanen Sinn verloren. Der Verdacht, die tragenden Prinzipien des Menschenrechtsansatzes seien Ausdruck eines lebensfremden und weltfremden Idealismus, hat immer wieder Anlass dazu gegeben, diesen Prinzipien eine »bodenständigere«, leibhafte Ethik entgegenzusetzen. Exemplarisch für diese Konstellation steht bereits Schopenhauer, dessen leibgebundene Mitleidsethik mit der dezidierten Absage an Begriffe wie Menschenwürde oder Autonomie einhergeht. Die Rede von der Menschenwürde, so Schopenhauers vielzitierte Kritik, sei »das Schiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel einer wirklichen, oder doch wenigstens irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck ›Würde des Menschen‹ versteckten«. 5

»Illusion Menschenwürde« lautet der plakative Titel eines Buches von Franz Josef Wetz, der sich selbst in die Tradition eines dezidiert antiidealistischen Empirismus stellt. 6 Ähnlich programmatisch kommt die jüngst erschienene Monographie des amerikanischen Philosophen Andrea Sangiovanni einher, der auf eine »Humanity without Dignity« abzielt und damit den Menschenrechtsdiskurs umpflügen möchte. 7 Zugleich steht oft auch der wesentlich von Kant geprägte Begriff der Autonomie mit im Fokus kritischer Dekonstruktionen. Gelegentlich beruft man sich auf die Vulnerabilität des Menschen direkt als Gegeninstanz zur Autonomie. »Innerhalb der Care-Ethik«, so schreibt etwa Frans Vosman, »fungiert die Verletzbarkeit nahezu als Gegenstück der Autonomie: Es wird betont, dass alle Menschen […] verletzbar sind, und dass die Politik nicht nur auf die Autonomie der Individuen achten, sondern die Realität der Verletzbarkeit anerkennen sollte, denn sie ist nicht zu beseitigen.« 8

5

Schopenhauer (1860), 166.

6

Wetz (2005).

7

Vgl. Sangiovanni (2017).

8

Vosman (2016), 33–51, hier 49.

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Eingespannt in solche Antagonismen, können die Menschenrechte nur verlieren. Für die menschenrechtliche Grundsatzreflexion stellt sich daher die Aufgabe, der Vulnerabilität des Menschen – auch jenseits der Beschäftigung mit Situationen spezifischer Gefährdung – systematische Aufmerksamkeit zu schenken. Der vorliegende Aufsatz kann dies nicht vollumfänglich leisten, sondern beschränkt sich auf eine grobe Problemskizze. Mein Anliegen besteht darin, für ein ganzheitliches Verständnis der conditio humana zu werben. Dazu gehört die Einbeziehung der Leiblichkeit und damit auch der leibgebundenen Vulnerabilität des Menschen. Sie muss bei der menschenrechtlichen Prinzipienreflexion stets mit im Blick bleiben. Nur so lassen sich etwaige idealistische Überziehungen, die angesichts schwieriger Realitäten schnell zerplatzen können, von vornherein verhindern. In freier Anlehnung an Helmuth Plessner (1892–1985) möchte ich zugleich die Leibhaftigkeit des Menschen vor empiristischen Verkürzungen bewahren. Es macht geradezu die »Natur« des Menschen aus, dass er nie bloße Natur sein kann, sondern gleichsam mit Haut und Haaren zugleich Kulturwesen ist. Der Menschenrechtsansatz kann den Menschen – gerade auch in ihrer unabweisbaren Vulnerabilität – nur dann gerecht werden, wenn er die unauflösliche Verschränkung von Natur und Kultur in der conditio humana ernst nimmt.

2. V ERSCHRÄNKUNG VON N ATUR NACH H ELMUTH P LESSNER

UND

K ULTUR

Ein Kernanliegen der philosophischen Anthropologie Plessners besteht in der Überwindung des Dualismus von Geist und Materie, der das europäische Denken über Jahrhunderte hinweg geprägt hat und in der Cartesianischen Entgegensetzung von »res cogitans« und »res extensa« seine vielleicht schärfste Zuspitzung erfahren hat. 9 Auch die üblichen Komposita, die dem Menschen Leib und Seele, Geist und Körper oder Natur- und Kulturdimensionen zuschreiben, bleiben diesem Dualismus implizit verhaftet. Dagegen setzt Plessner durchgängig auf die Verschränkung der Dimensionen menschlichen Lebens.

9

Vgl. dazu grundlegend Plessner (1983), 136–217.

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In seiner Leiblichkeit erfährt der Mensch einen konstitutiven Bruch, insofern er einerseits Leib »ist« und diesen seinen Leib andererseits zugleich als seinen Körper »hat« und ihn wie ein Instrument einsetzen kann. Schon die elementare Leiberfahrung, so Plessners Pointe, ist durch eine eigentümliche Spannung ausgezeichnet, die über eine eng verstandene biologische Sphäre hinausweist. Als Konsequenz der Doppelstruktur von Leib-Sein und Körper-Haben ist der Mensch nie ungebrochen bei sich, sondern sieht sich gleichsam immer selbst auch von außen, im Spiegel an der Wand genauso wie im Spiegel der Gesellschaft. Er ist aber auch nie ganz außer sich, sondern bleibt bei aller Distanznahme doch auf sein kontingentes leibhaftes Zentrum bezogen und daran unablöslich gebunden. Kurz: Der Mensch ist »zentrisch« und »exzentrisch« zugleich; er erlebt sich als in seinem Leib zentriert, zu dem er zugleich reflexiven Abstand gewinnen kann, ohne je von ihm loszukommen. Auch die »Weltoffenheit«, zu der der Mensch im Unterschied zum Tier in der Lage ist, meint deshalb keine abstrakte, gleichsam körperlose Geistigkeit, 10 sondern vollzieht sich nach Plessner als immer wieder neuer Durchbruch durch leibhaft-lebensweltliche Umweltbindungen, in denen der Mensch niemals vollständig aufgeht, denen er aber auch nicht entkommen kann. 11 In solch eigentümlicher Gebrochenheit kann der Mensch nur leben, indem er sein Leben bewusst gestaltet. Insofern ist er von Natur aus zugleich auf Kultur verwiesen. Natur und Kultur bilden dabei nicht zwei voneinander ablösbare Bereiche, die sich je isoliert betrachten ließen, sondern sind von vornherein wechselseitig ineinander verschränkt. Plessner hat dafür die paradoxe Formel der »natürlichen Künstlichkeit« geprägt. 12 Schon von Natur aus ist der Mensch zu einer kulturellen – und insofern »künstlichen«, kulturellen – Lebensweise bestimmt. 13 Er kann nur leben, indem er sein

10 Anders Scheler (1983), der den Begriff der Weltoffenheit des menschlichen Geistes geprägt hat. 11 Vgl. Plessner (1983), 182: »Die heute übliche Zuordnung geschlossener Umweltbindung zum Tier und der Weltoffenheit zum Menschen macht sich die Sache zu einfach, weil sie der Zweideutigkeit der menschlichen ›Natur‹ nicht gerecht wird.« 12 Vgl. Plessner (2003), 383–386. 13 Im Unterschied zu Arnold Gehlen, der die Künstlichkeit auf pragmatische Überlebenstauglichkeit hin funktionalisiert und reduziert, ist Plessners Kulturbegriff

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Leben »führt«, d.h. bewusst im Medium von Kultur gestaltet. Die Künstlichkeit bleibt dabei – dies ist die Kehrseite derselben Grundstruktur – auf das je eigene leibhafte Zentrum bezogen. Deshalb lässt sich die Formel von der »natürlichen Künstlichkeit« auch umdrehen in Richtung einer »künstlichen Natürlichkeit«. Persönliche Lebensgestaltung geschieht nicht als völlig offener Entwurf, sozusagen als souveräne Selbsterfindung des Individuums, sondern in Rückbindung an einen kontingenten und vielfältig vulnerablen Leib, innerhalb dessen der Mensch sich immer schon vorfindet, ob er will oder nicht. Im Gegenzug gilt, dass auch im Umgang mit den Imperativen des Leibes – Ernährung, Bekleidung, Wohnung – stets kulturelle Selbstverständnisse und Deutungen im Spiel sind, auf die der Mensch nicht verzichten kann, ohne sich selbst aufzugeben. Vulnerabilität ist daher immer auch ein kulturelles Phänomen.

3. »B ASIC N EEDS «

UND

»B ASIC J USTICE «

Plessners philosophische Anthropologie ist in der Menschenrechtsdebatte bislang kaum rezipiert worden. Dabei könnte sie wichtige Einsichten beibringen. Die aufgewiesene Verschränkung von Natur und Kultur sollte auch für die Menschenrechtsdebatte tragend sein. Wer diese Verschränkung auflöst, steht in der Gefahr, den Anspruch der Menschenrechte zu verdunkeln, vielleicht sogar zu zerstören. Auch die spezifische Vulnerabilität des Menschen lässt sich nur von dieser Doppelstruktur her dechiffrieren. Nehmen wir zum Beispiel die Rechte auf Nahrung, Wasser und Sanitärversorgung, die mittlerweile vom zuständigen UN-Ausschuss als Menschenrechte förmlich anerkannt worden sind. 14 Ganz offensichtlich kommt in ihnen die biologische Bedürfnisnatur des Menschen zu Wort. Ähnliches gilt etwa für das Recht auf angemessene Unterkunft oder das Recht auf

weit gespannt und schließt auch die unter Gesichtspunkten der Lebenssicherung »zweckfreien« kulturellen Bereiche mit ein. 14 Vgl. UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, General Comment Nr. 12 (vom 12. Mai 1999) bzw. General Comment Nr. 15 (vom 20. Januar 2003). Die General Comments fassen die wichtigsten systematischen Ergebnisse der Ausschuss-Arbeit zusammen und sind allesamt auf der Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zugänglich: www.ohchr.org.

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Gesundheit. 15 Im Blick auf diese Rechte scheint es daher nahe zu liegen, eine direkte Korrespondenz von »basic needs« und »basic rights« zu unterstellen. Man könnte vermuten, dass Menschenrechte die Bedürfnisnatur des Menschen unmittelbar widerspiegeln. Jedem offenkundigen Grundbedürfnis entspräche demnach ein Rechtsanspruch zur Befriedigung dieses Bedürfnisses. Innerhalb der Menschenrechtsdebatte gehört dieser basic-needsAnsatz zu den häufiger vertretenen Positionen. Aus mehreren Gründen ist hier jedoch Vorsicht angezeigt. Zunächst sollte man sich klarmachen, dass Rechte stets eine Rechtsgemeinschaft voraussetzen: Rechte regeln die Verhältnisse zwischen Menschen. Wo immer Menschen Rechte beanspruchen, unterstellen sie damit, dass es einen Adressaten gibt, dem die Verpflichtung zukommt, diese Rechte zu beachten und einzulösen. Im Kontext der Menschenrechte ist dies vornehmlich (wenn auch nicht exklusiv) der Staat, der durch die Ratifizierung menschenrechtlicher Konventionen diesbezüglich eine förmliche Garantenpflicht übernimmt. 16 Hingegen kann es eine Rechtsbeziehung zwischen einem Menschen und einem Naturgut nicht geben – und sei dieses auch noch so lebenswichtig. Insofern sind Begriffe wie »Recht auf Wasser« oder »Recht auf Gesundheit« – im Grunde aber ebenso das klassische »Recht auf Leben« – zumindest missverständlich formuliert. Rechtsbeziehungen können nur zwischen Menschen bestehen. Tatsächlich geht es beispielsweise beim Menschenrecht auf Wasser zuallererst um gesellschaftliche Verteilungs- und Zugangsfragen. Das Recht auf Wasser formuliert den Anspruch, dass niemand in die demütigende Lage geraten soll, um seinen Anteil an diesem lebenswichtigen Gut gegenüber anderen betteln zu müssen. Es soll auch nicht dazu kommen, dass für manche Menschen aufgrund ihrer schwächeren ökonomischen Stellung nur noch Dreckwasser übrigbleibt, weil diejenigen, die es sich leisten können, das Wasser für Luxusinteressen verschwenden. Mit anderen Worten: Es geht um Abbau gesellschaftlicher Machtasymmetrien, Verhinderung einseitiger Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse, faire Verteilung und

15 Vgl. UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, General Comment Nr. 4 (vom 13. Dezember 1991) bzw. General Comment Nr. 14 (vom 11. August 2000). 16 Zu den Verpflichtungen des Staates vgl. Kälin/Künzli (2013), insbes. 81–84.

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Partizipation, Gewährleistung lebenswichtiger Zugänge und andere gesellschaftspolitische Themen. Menschenrechte beschäftigen sich mit dem realen Menschen und stellen seine biologische Bedürfnisnatur stets in Rechnung. Sie spiegeln diese aber – anders als in einem basic needs-Ansatz unterstellt – nicht unmittelbar wider, sondern adressieren sie mittelbar, nämlich vermittelt über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Historisch entstanden – und entstehen – Menschenrechte im öffentlichen Protest gegen ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse. 17 Menschenrechtspraxis zielt nicht darauf ab, menschliches Leid insgesamt abzuschaffen, sondern konzentriert sich auf menschengemachtes Leid, also auf Leid, das eigentlich vermieden werden könnte, dennoch aber aufgrund menschlichen Handelns oder Nichthandelns entsteht und fortbesteht. 18 Zum Handeln bzw. Nichthandeln gehören Vorurteile, Ignoranzen oder Gewohnheiten, also gesellschaftliche Strukturen, die vielen Menschen nicht einmal bewusst sein mögen und die erst einmal aufgedeckt werden müssen, was nur im öffentlichen Diskurs gelingen kann. In den Menschenrechten melden sich mithin Gerechtigkeitsansprüche zu Wort, die sich an andere Menschen, an die Gesellschaft im Ganzen, an den Staat und zuletzt an die internationale Gemeinschaft richten. Fragen von »basic needs« stehen dabei stets im Kontext von »basic justice«; nur so können sie überhaupt menschenrechtlich artikuliert werden.

4. Z UR K OMPLEXITÄT V ULNERABILITÄT

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Auch diejenigen Menschenrechtsansprüche, in denen die biologische Bedürfnisnatur des Menschen explizit angesprochen ist, sollen zugleich dem Selbstverständnis des Individuums Raum geben. Wiederum bleiben Natur und Kultur ineinander verschränkt. So lässt sich das Recht auf Nahrung keineswegs auf die Versorgung mit Kalorien und Proteinen reduzieren, sondern bezieht den Menschen immer als eigenständiges Subjekt mit ein.

17 Vgl. Bielefeldt (1998). 18 Vgl. diesbezüglich auch die Unterscheidung zwischen inhärenter und situativer Vulnerabilität von Mackenzie et al. (2014a) in der Einleitung und im Beitrag von Lutz Bergemann in diesem Band.

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Er soll nicht bloß »gefüttert« werden, sondern die Möglichkeit haben, sich nach seinen eigenen Vorstellungen zu ernähren und an der Gestaltung der Nahrungsproduktion und Nahrungsmittelverteilung verantwortlich mitzuwirken. 19 Deshalb sind verabreichte Essenspakete für Flüchtlinge schikanös und demütigend – jedenfalls überall dort, wo auch die Möglichkeit bestünde, geflüchteten Menschen zum Beispiel finanzielle Unterstützung bei der Selbstversorgung und der freien Auswahl und eigenständigen Zubereitung von Nahrung zu geben. Menschen sind eben nicht nur biologische Wesen, und auch ihre spezifische Vulnerabilität lässt sich nicht auf ihre biologischen Bedürfnisse reduzieren. Fragen der Ernährung hängen unauflöslich zusammen mit kulturellen Selbstverständnissen, etwaigen religiösen Essenstabus, Traditionen von Gastfreundschaft und Geselligkeitspflege, Fastenvorschriften und Fastenbrechen, ggf. auch mit moralischen Überzeugungen, etwa der Weigerung des Fleischverzehrs. Damit verwoben sind Fragen von Menschenwürde und Autonomie. Der zynische Spruch »erst kommt das Fressen und dann die Moral« (Brecht) ist deshalb menschenverachtend. Er reduziert den Menschen auf ein Objekt der Nahrungszufuhr und spielt die Bedürfnisnatur des Menschen gegen seinen Status als Subjekt von Würde und Verantwortung aus. Menschenrechtliche Praxis zielt demgegenüber darauf ab, diesen Dualismus zu überwinden, indem sie den Menschen immer zugleich auch als Subjekt respektiert und stärkt. Menschen sollen nicht nur etwas zu »fressen« haben, sondern als Menschen miteinander »essen« können. Auch menschliches »Essen« hat mit personaler Autonomie zu tun. Dazu sollen die Menschenrechte die notwendigen politischen, rechtlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen schaffen bzw. verbessern. Ähnliches lässt sich über das Recht auf Wasser sagen. Dass ohne Wasser kein Leben – und ergo auch kein menschliches Leben – möglich ist, bleibt dabei stets vorausgesetzt. Fragen der Wasserverteilung sind aber immer zugleich soziale Gerechtigkeitsthemen. 20 Wer sich mit den schmutzigen Rinnsalen begnügen muss, die nach dem womöglich aufreizend luxuriösen Wasserverbrauch der Reichen und Schönen übrig bleiben, wird sich

19 Vgl. UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, General Comment Nr. 12 (vom 12. Mai 1999), Abschnitt 6. 20 Vgl. UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, General Comment Nr. 15 (vom 20. Januar 2003), Abschnitte 13–16.

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nicht nur in seiner täglichen Lebensführung bedroht fühlen, sondern dürfte dies zugleich als permanente Demütigung erleben. Auch dies ist ein Aspekt von Verletzung – also eine Erfahrung von Vulnerabilität. Ohne ausreichendes sauberes Wasser wird außerdem unvermeidlich die persönliche Körperpflege zum Problem. Gerade an Fragen der Hygiene lässt sich die von Plessner herausgearbeitete Doppelstruktur von Leib-Sein und Körper-Haben illustrieren. Der Mensch sieht sich und seinen Körper eben immer auch von außen und gleichsam im Spiegel der Anderen. Körperpflege und Selbstachtung hängen nicht zufällig eng zusammen. Folterpraktiken, die darauf abzielen, die Selbstachtung und den eigenen Willen des Opfers zu brechen, setzen oft hier an: Die Verweigerung der Möglichkeit angemessener Körperpflege gehört zum Standardrepertoire systematischer Demütigung. Solche Erfahrungen stehen mit im Hintergrund, wenn vom Menschenrecht auf Wasser die Rede ist, das daher von vornherein weit mehr ist als die Befriedigung eines biologischen Bedürfnisses. Als weiteres Beispiel lässt sich das Recht auf Gesundheit anführen. Wiederum beschränkt es sich nicht auf Versorgungsaspekte mit Medikamenten und Dienstleistungen – so lebenswichtig diese sein mögen. Der Mensch soll darüber hinaus in Sachen seiner Gesundheit mitreden und verantwortliche Entscheidungen treffen können. Laut General Comment Nr. 14 des UN-Ausschusses über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte schließt das Recht auf Gesundheit »das Recht ein, über die eigene Gesundheit und den eigenen Körper zu bestimmen, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Freiheit, das Recht, frei von Eingriffen zu sein, und das Recht, nicht misshandelt, nicht medizinischer Behandlung oder medizinischen Versuchen ohne Einwilligung unterzogen zu werden«. 21

Zum Recht auf Gesundheit gehören ferner kritische Maßnahmen zur Überwindung einseitiger Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Arzt und Patient genauso wie innerhalb des oft sehr hierarchischen Krankenhausbetriebs. Dies hat eine Gender-Komponente, die nicht aus dem Blick geraten darf. Als immer wichtiger erweist sich außerdem der Umgang mit kultureller Diversität bei Gesundheitsdienstleistungen, was auch Respekt vor religiösen

21 General Comment Nr. 14 (vom 11. August 2000), Absatz 8, zitiert nach der Übersetzung durch das Deutsche Institut für Menschenrechte (2004), 287.

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Vorstellungen einschließt. Gerade in Grenzsituationen von Leben und Tod brauchen Menschen ferner die Begleitung durch ihre Liebsten und Nächsten. Familiären und anderen Beziehungen innerhalb des Krankenhauses angemessenen Raum zu geben, ist daher ebenfalls eine Forderung des Rechts auf Gesundheit. Wie sollen Schamgrenzen etwa bei der bettnahen Pflege wirksam respektiert werden? Die Achtsamkeit, die hier gefordert ist, hat menschenrechtliche Bedeutung. Dabei zeigt sich einmal mehr die Fruchtbarkeit des Plessnerschen Ansatzes bei der Doppelstruktur von Leib-Sein und KörperHaben, von der her sich die Scham – bei aller historischen Variabilität – als ein anthropologisches Grundphänomen ausweisen lässt. In kaum einer Situation manifestiert sich die Vulnerabilität des Menschen so unabweisbar, wie bei der drohenden Verletzung von Schamgrenzen. Der Mensch sieht sich dabei in seiner leibhaften Vulnerabilität exponiert, die sich untrennbar mit kulturellen Prägungen, geschlechtsspezifischen Sensibilitäten und ggf. religiösen Tabuvorstellungen verbindet. Menschliche Vulnerabilität ist wahrlich ein komplexes Phänomen. Die Liste der Beispiele ließe sich leicht fortsetzen. Dabei zeigt sich in immer wieder neuen Facetten, dass die verschiedenen Menschenrechte inhaltlich zusammengehören. Nur in einer integralen Sichtweise und Praxis können sie dem Menschen in seiner komplexen Vulnerabilität gerecht werden. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen und sozialen Rechten andererseits erweist sich damit einmal mehr als fragwürdig. 22 Problematisch wird es vor allem dann, wenn diese gängige typologische Differenz zu ei-

22 Ich habe hier vorerst ganz bewusst das Adjektiv »kulturell« weggelassen. In Anlehnung an den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – der parallel zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte – 1966 verabschiedet wurde und 1976 in Kraft trat, gesellt man den wirtschaftlichen und sozialen Rechten typischerweise auch »kulturelle Rechte« zu, die bislang aber erstaunlich wenig profiliert worden sind. Fragen der »Kultur« im landläufigen Verständnis kommen hingegen typischerweise eher im Kontext der bürgerlichen und politischen Rechte zum Zuge. Wie dem auch sei: Die Pointe meiner Ausführung besteht genau darin, dass diese typischen Zuordnungen eher missverständlich sind und man auf eine ganzheitliche Sichtweise der Menschenrechte hinarbeiten sollte.

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nem Wesensgegensatz stilisiert wird, der in manchen Varianten die künstliche Trennung zwischen Kultur und Natur fortführt. Zu den bürgerlichen und politischen Rechten zählt man zum Beispiel die Rechte auf Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Schutz vor Willkür der Justiz, politische Mitwirkung, Ehe und Familie – mithin Rechte, von denen viele jener Sphäre zugehören, die man landläufig unter »Kultur« subsumiert. In den wirtschaftlichen und sozialen Rechten geht es demgegenüber u.a. um Fragen von Ernährung, sauberem Trinkwasser, Sanitärversorgung, Gesundheit usw., die womöglich eher die Assoziation von »Natur« aufkommen lassen. Diese Zuordnungen waren freilich nie sonderlich konsistent bzw. trennscharf. Wenn man von Plessners Idee einer unauflöslichen Verschränkung von Natur und Kultur ausgeht, erweist sich die hier unterstellte kategoriale Trennung, zumal wenn sie mit Hierarchisierungen einhergeht, als hochgradig ideologisch. Dagegen steht die Idee der »Unteilbarkeit« der Menschenrechte, also die Einsicht in die innere Zusammengehörigkeit unterschiedlicher Rechte, die einander wechselseitig voraussetzen und wechselseitig unterstützen (was übrigens nicht ausschließt, dass es in concreto auch zu normativen Kollisionen kommen kann). 23 Um es mit der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 zu sagen: Alle Menschenrechte sind »universal, unteilbar, voneinander abhängig und aufeinander bezogen«. 24 Noch ein Hinweis am Rande: Der Begriff der Vulnerabilität könnte Anlass dazu geben, eine Kontinuität zwischen Menschen und »non-human animals« herauszustellen. Dies mag in das Postulat von »animal rights« münden – in Analogie und Weiterführung von Menschenrechten. Gegenüber dieser mittlerweile recht populär gewordenen Wortwahl bleibt indes Vorsicht angebracht. Den Stellenwert von Tieren zu verbessern, ist ein Anliegen, in dem sich viele Menschen einig sind. Innerhalb der Rechtsordnung sollen Tiere wirksamer geschützt werden. Sie können aber nicht den Status von Rechtssubjekten erlangen. Es ist ja kein Zufall, dass auch Aktivisten der »animal rights« ihre Appelle und ggf. Anklagen ausschließlich an die Gesellschaft der Menschen richten. Fragen des Tierschutzes werden eben zwischen Menschen verhandelt; eine Alternative dazu ist schwerlich vor-

23 Vgl. Krennerich (2013). 24 Vgl. World Conference on Human Rights (1993), Nr. 5, erster Satz: »All human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated.«

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stellbar. Während Tiere nur insofern zum Kosmos menschlicher Verantwortung dazugehören, als sie Gegenstand menschlicher Sorge geworden sind, können wir unsere moralische und politische Verantwortung nicht mit ihnen teilen. Sie sind, wenn man so will, »Mitgeschöpfe« in einem gemeinsamen Ökosystem, nicht aber Adressaten und Partner bei der Gestaltung einer umfassenden politisch-rechtlichen Ordnung. Der Begriff der Tierrechte droht den Rechtsbegriff daher metaphorisch zu überspannen und damit letztlich zu trivialisieren. Auch Vulnerabilitätskonzepte, die die spezifischen Spannungen der conditio humana ignorieren, gleiten zuletzt ins Triviale ab und enden typischerweise in biologistischen Verkürzungen.

5. W ÜRDE , AUTONOMIE UND V ULNERABILITÄT Die Menschenwürde ist keineswegs, wie Schopenhauer und andere Kritiker gemeint haben, eine leere und folgenlose Pathosformel. Der Begriff der Menschenwürde fungiert zunächst als Prämisse für den Menschenrechtsansatz im Ganzen, indem er »allen Mitgliedern der menschlichen Familie« 25 die Position von Inhabern unveräußerlicher Rechte zuerkennt. Entscheidend ist, dass die Menschen dies tatsächlich erleben können. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verwendet deshalb das Kompositum eines »sense of dignity«. 26 Die empirischen Konnotationen von »sense« sind dabei durchaus beabsichtigt. Innerhalb ihrer Lebenswelt sollen Menschen Bedingungen vorfinden, die es ihnen möglich machen, ein Bewusstsein ihrer Würde und der Würde ihrer Mitmenschen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Dies verlangt Achtsamkeit im Umgang mit der vielfältigen Verletzlichkeit von Menschen: mit ihren Schamgrenzen, ihren Ängsten, ihren vitalen und kulturellen Bedürfnissen und ihren prekären Lebenszielen.

25 So die Formulierung in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948. In der offiziellen deutschen Übersetzung ist die Wendung »all members of the human family« aus unerfindlichen Gründen zu »allen Mitgliedern der Gemeinschaft der Menschen« verblasst. 26 Vgl. Art. 24, Abs. 1 (a) der UN-Konvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen.

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In solcher Achtsamkeit zeigt sich zugleich der Respekt vor der Autonomie des Menschen. Dabei wird offenbar, dass der Autonomiebegriff, wie er vor allem von Kant geprägt wurde, nichts mit isolierter Selbstbezüglichkeit oder »Souveränität« des Individuums zu tun hat, mit der er in der Literatur oft verwechselt wird. Kant selbst wendet sich ausdrücklich gegen das heroische Autarkie-Ideal der Stoiker – in seinen Worten: gegen den »Heroismus des sich über die tierische Natur erhebenden Weisen«. 27 Dagegen gibt er zu bedenken, dass dieses stoische Ideal die Endlichkeit und Gebrochenheit menschlicher Existenz verleugne und in seiner Härte geradezu unmenschlich sei. Mit einer sich über die conditio humana erhebenden »Souveränität« hat die Kantische Autonomie denn auch – entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil – nicht das Geringste zu tun. Sie bezeichnet vielmehr die menschliche Berufung zur moralischen Verantwortung, die letztlich immer eine mit anderen geteilte Verantwortung ist. Als Verantwortungssubjekt braucht der Mensch in seiner Endlichkeit und Fehlbarkeit stets die Unterstützung anderer. Genau diese Perspektive ist von der UN-Behindertenrechtskonvention jüngst noch einmal stark gemacht worden, und zwar dadurch, dass sie die Prinzipien von Autonomie und Inklusion miteinander verklammert. 28 Die Vulnerabilität des Menschen impliziert multiple Abhängigkeiten von der Umwelt und der gesellschaftlichen Mitwelt. Die Menschenrechte fordern nicht die Überwindung dieser Abhängigkeiten – dies wäre unmöglich –, wohl aber den Abbau asymmetrischer Abhängigkeitsverhältnisse, bei denen die einen den Ton angeben und die anderen zu folgen haben. Dem dient der Aufbau einer Infrastruktur gleicher Freiheitsrechte für alle. Wie dargestellt, gehören die unterschiedlichen Menschenrechte in diesem Projekt »unteilbar« zusammen; sie setzen einander wechselseitig voraus und sollen einander wechselseitig ergänzen. Nur so können die Menschenrechte der conditio humana gerecht werden, die durch die unauflösliche Verschränkung von Natur und Kultur charakterisiert ist.

27 Vgl. Kant (1908), 258. 28 Vgl. Graumann (2009).

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Wetz, Franz Josef (2005): Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart: Klett-Cotta. World Conference on Human Rights (1993): Vienna Declaration and Programme of Action, Online: https://www.ohchr.org/Documents/Profes sionalInterest/vienna.pdf [12.07.2018].

Empowerment, soziale Bewegungen und das Recht auf Gesundheit Blickwechsel von der Autonomie zur Partizipation M ARTIN H UTH

1. E INLEITUNG Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Rolle von Praktiken, die unter dem Begriff Empowerment subsumiert werden, in ihrer Relevanz für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit darzustellen. Weiter unten wird eine konzisere Auseinandersetzung mit diesem Begriff stattfinden, vorläufig mag die an Norbert Herriger (2014) angelehnte Bestimmung des Empowermentkonzepts als Sammelbegriff für Praktiken zur (Wieder-)Herstellung von Selbstbestimmung genügen. Schon in der Ottawa-Charta von 1986 als Resultat der ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung wurde Folgendes festgehalten: »Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Lebensumstände und Umwelt zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, daß sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.« 1

1

WHO (1986), Hervorhebungen M.H.

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Im Rahmen dieses Aufsatzes wird es nicht zuletzt darum gehen, welche Art von Verantwortung sich damit verbindet bzw. wer nun letztendlich für den Prozess der Ermöglichung von Selbstbestimmung (qua Empowerment) Verantwortung übernehmen kann und sollte; es wird sich bei näherem Hinsehen herausstellen, dass nicht nur Staaten und ihre Institutionen als Garanten der Menschenrechte in die Pflicht zu nehmen sind, sondern auch Wirtschaftsunternehmen, NGOs und nicht zuletzt die betroffenen Menschen selbst. 2 Daher ist es naheliegend, auch und gerade soziale Bewegungen als Versuch der Mobilisierung zu kollektiver Selbstermächtigung in den Fokus zu rücken. Einerseits tragen sie oftmals entscheidend dazu bei, den konkreten Inhalt des Rechts auf Gesundheit zu bestimmen, zumal gesundheitsbezogene Bedürfnisse sich in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen divers gestalten können und diese Bedürfnisse aus der Sicht staatlicher Institutionen und genereller sozialer Anerkennung nicht immer hinlänglich wahrgenommen werden bzw. wahrnehmbar sind. Hintergrund ist die Tatsache, dass jeweils betroffene Menschen in ihren sozialen Rollen selbst die kompetenten ExpertInnen für die eigenen Angelegenheiten und Bedürfnisse sind, vorausgesetzt, sie sind fähig, diese Bedürfnisse in hinreichendem Maße zu erkennen und zu artikulieren. Andererseits tragen soziale Bewegungen wesentlich zu einer konkreten Umsetzung des Rechts auf Gesundheit bei, weil sie u.a. den Zugang zu gesundheitsrelevanten Ressourcen für bestimmte (meist besonders vulnerable) soziale Gruppen ermöglichen, indem sie die jeweiligen Bedürfnisse sichtbar und anerkennbar machen. Im Rahmen dieser Einleitung ist es sinnvoll, kurz den Begriff der Gesundheit zu reflektieren. Gesundheitsbegriffe erweisen sich als sehr unterschiedlich strukturiert: Christopher Boorse zufolge stellt Krankheit eine Abweichung von einem statistischen Mittelwert dar; Gesundheit sei die Abwesenheit von Krankheit. 3 Boorse vertritt damit einen naturalistischen Zugang zu den Begriffen Gesundheit und Krankheit. Im Kontrast dazu finden sich in den Debatten sogenannte konstruktivistische Theorien, die auf eine mehr oder minder bloße soziale Konstruktion von Gesundheit bzw. Krank-

2

Vgl. schon die Erklärung von Alma Ata, WHO (1978).

3

Wobei weder Gesundheit noch Krankheit normative Bedeutung hätten; vgl. Boorse (1977).

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heit hindeuten: Krank ist, wer sich als krank wahrnimmt. 4 Eine plausible Mittelposition nimmt Charles Rosenberg ein, der Gesundheit und Krankheit als Begriffe auffasst, die sowohl statistisch und naturwissenschaftlich als auch gesellschaftlich geprägt sind und aus dieser Perspektive ein biologisches Korrelat, aber auch ein soziales »Framing« aufweisen. 5 Damit zeigt sich allerdings auch, dass die Anerkennung von Krankheiten als Krankheiten eine fundamentale Rolle spielt für die Medizin, medizinische Einrichtungen und die gesellschaftliche Akzeptanz von besonderen Bedürfnissen, besonderen Aufwendungen und besonderen Rechten (z.B. temporär oder nur bedingt zu arbeiten und trotzdem finanziell unterstützt zu werden).

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Zunächst ist festzustellen, dass dem Recht auf Gesundheit folgende, zweiteilige Bestimmung des Gesundheitsbegriffes zugrundeliegt: 6 1.

2.

4

Ein Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Die Verringerung der auf erkennbare Krankheiten oder Störungen zurückzuführenden Mortalität, Morbidität und Behinderung und die Verbesserung des subjektiv empfundenen Gesundheitszustands.

Engelhardt jr. (1975) und Rosenberg (1992). Aus der Sicht von Boorse wäre dann auch eine Person mit geringer Körpergröße krank, jedoch ohne normative Konsequenzen. Weder Kleinwüchsigkeit noch das Vorliegen des HI-Virus wären dann konstitutiv für irgendwelche moralischen (bzw. politischen) Ansprüche auf Unterstützung durch die Gemeinschaft. Aus der Sicht des Konstruktivismus (der von Engelhardt und Rosenberg nicht selbst vertreten, sondern bloß beschrieben wird) wäre krank, wer aufgrund von Konventionen als krank deklariert wird. Dies hat aus historischer Sicht homosexuelle Menschen ebenso betroffen wie etwa an Drapetomanie »erkrankte« SklavInnen, die »zwanghaft« Fluchtversuche unternommen haben. Die Aporien dieser beiden einseitigen Sichtweisen sind also schnell offensichtlich.

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Vgl. Rosenberg (1992), xvii–xx.

6

Vgl. WHO (1999).

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Die erste in der WHO-Satzung verankerte Definition drückt ein Ideal aus, das das Ziel aller gesundheitlichen Entwicklungstätigkeiten sein sollte (d.h. Gesundheit als ein Grundrecht des Menschen und als ein weltweites soziales Ziel). Es eignet sich allerdings nicht als objektive Messgröße, weshalb man eine enger gefasste Arbeitsdefinition braucht. Für diesen Zweck benutzt man normalerweise die zweite Definition (z.B. in der Gesundheitsstatistik). 7 Grundsätzlich geht die Deklaration des Rechts auf Gesundheit 8 von einem positiven Gesundheitsbegriff aus, der mit erlebtem Wohlbefinden assoziiert wird und sich eben nicht nur auf körperliche und/oder psychische Gesundheit beschränkt, sondern auch die Sozialität in die Gesundheit mit hereinnimmt. Damit ist implizit, aber dennoch deutlich, eine entscheidende anthropologische Voraussetzung gemacht: Das Individuum ist kein solus ipse, das für sich steht und bloß in seiner Individualität betrachtet wird. 9 Die Rolle von Individuen innerhalb sozialer Strukturen, mithin auch ihre Anerkennung, ist also immanenter Teil der Gesundheit. Dies wird in weiterer Folge auch relevant sein im Hinblick auf das Verständnis der Selbstbestimmung eines immer schon sozialen Wesens (siehe die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Autonomie weiter unten). Daran, dass Gesundheit als »Grundrecht« des Menschen und als »soziales« Ziel bestimmt ist, zeigt sich einerseits ein fundamentaler Anspruchscharakter menschlicher Vulnerabilität (auf den hin dieses Grundrecht responsiv bezogen ist); andererseits ist der Adressatenkreis dieses Anspruchs weit und erscheint vielleicht prima facie diffus. Es handelt sich nicht ausschließlich um staatliche Institutionen und VerantwortungsträgerInnen innerhalb dieser Institutionen, sondern um ein Ziel, auf das potenziell alle

7 8

WHO (1999), 258. Schon 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 25) wird der Anspruchscharakter der Gesundheit deutlich: »Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.« (UNO (1948)).

9

Die Anthropologie eines per se sozialen Menschen ist auch sichtbar in der Beschreibung der Gesundheit als eines Anliegens des täglichen Lebens, das nicht nur die eigene Person, sondern auch Nahestehende betrifft; vgl. UNO (2008), 1.

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Mitglieder der Gesellschaft bezogen sind. 10 Damit ist die prinzipielle Möglichkeit zur Übernahme von Verantwortung (für sich und andere) etwas, das dem Menschen generell offen bleiben sollte (durch demokratische Strukturen und Partizipationsmöglichkeiten) und worin wechselseitige Unterstützung nicht nur auf Wohlwollen basiert oder sich gar als supererogatorisch ausnimmmt, sondern durchaus den Charakter einer Verpflichtung annimmt. Zwei (miteinander verbundene) Charakteristika des Rechts auf Gesundheit sind besonders hervorzuheben: Erstens handelt es sich dabei um ein inklusives Recht, d.h. dass die Bedingungen von Gesundheit einen integralen Bestandteil dieses Rechts bilden. Gemeint ist damit der Zugang zu sauberem Trinkwasser, sicheren und adäquaten Nahrungsmitteln, Hygiene, adäquate Unterbringung, entsprechende Arbeitsbedingungen, hinreichende Umweltqualität, Sexual- und reproduktive Gesundheit, Gesundheitserziehung und Information sowie Geschlechtergerechtigkeit. 11 In concreto bedeutet dies, dass sich die Gewährleistung dieses Rechts nicht auf die bloße Gesundheitsfürsorge im engeren Sinn beschränken kann. 12 Diese Leistungen im engeren Sinne bezogen auf Prävention, Behandlung und Rehabilitation sind gleichberechtigt und zeitgerecht zugänglich zu machen. Hier deutet sich an, dass die Verfügbarkeit von Gütern ebenso wie deren Verfügbarmachung eine signifikante Rolle spielen. Im Rahmen der Verfügbarmachung geht es nicht nur darum, ob etwa der politische Wille in einem Staat vorhanden ist, Ressourcen zugänglich zu machen; es ist auch relevant, ob die Bedürfnisse von Individuen und Gruppen hinlänglich sichtbar und anerkannt sind. In den Allgemeinen Bemerkungen zum Recht auf Gesundheit ist festgehalten, dass Diskriminierung bzw. Ungleichbehandlung als solche nicht zwingend offensichtlich sind. 13 Die Anerkennung von spezifischer Vulnerabilität (und der sich damit verbindenden Bedürfnisse)

10 WHO (1978) und (1986). 11 UNO (2008), 3. 12 UNO (2000), 14 und UNO (2008), 3. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die ökonomische Situation, in der sich ein Staat befindet, nur bedingt die Gesundheitspolitik bestimmen sollte; Staaten sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Erfordernissen des Rechts auf Gesundheit entsprechen. 13 UNO (2000), 13.

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wie auch der Selbstbestimmtheit von Menschen in Bezug auf ihre Gesundheit ist offenbar prädeterminiert durch bestehende Strukturen, Praktiken und Verhältnisse. Judith Butlers Begriff der recognizability, den man etwa mit »Anerkennbarkeit« übersetzen könnte, 14 gibt ein wichtiges Fundament für das Verstehen dieser Voraussetzungen für die Anerkennung von Vulnerabilitäten, aber auch von Selbstbestimmtheit ab. Dieses Konzept macht deutlich, dass die bisweilen selektive Sichtbarkeit und Verstehbarkeit von Vulnerabilität abhängig ist von einer Art historischem Apriori; 15 dafür verwendet Butler – in einer gewissen Analogie zu Rosenberg, wenn auch mit einem anderen Fokus – den Begriff des frame. 16 In ihrer Auseinandersetzung mit leiblicher Bedürftigkeit und ihrer Anerkennbarkeit unterscheidet Butler ferner zwischen precariousness und precarity: 17 Unter precariousness versteht sie jene Angewiesenheit, die sozusagen ontologisch ist: Jeder Mensch ist prinzipiell immer – und nicht ausschließlich in Lebensphasen wie Kindheit, Alter oder Krisen – anfällig für Versehrungen unterschiedlicher Art (physische, psychische, soziale, etc.), sodass immer eine Angewiesenheit auf die Verfügbarmachung der oben genannten Güter und soziale Einbindung besteht. Precarity hingegen benennt jene Form der Vulnerabilität, die durch besondere Situationen (Krankheit, Behinderung, Armut etc.) oder auch soziale Rollen (Marginalisierung) konstituiert wird; diese kann Frauen ebenso betreffen wie Menschen mit Behinderung, PatientInnen mit AIDS/HIV, Angehörige von ethnischen Minderheiten innerhalb eines soziokulturellen Kontextes oder Menschen aus bildungsschwachem Milieu (durch die Kombination von biologischen und soziokulturellen Faktoren) 18. Der besondere normative An-

14 Butler (2009), 2. 15 Vgl. ebd., 6. 16 Ebd., 1 u.ö. Mit dem Begriff frame soll ferner ausgedrückt werden, dass die selektive Anerkennbarkeit von Vulnerabilität nicht konstruktivistisch einer Konvention entspringt; vielmehr geht es um subtile Strukturen der Sichtbarkeit, die unseren Entscheidungen und selbst unseren unmittelbaren Wahrnehmungen vorausliegen. 17 Ebd., 3. 18 Vgl. UNO (2000), 13. Hier ist dies explizit für Frauen so dargestellt, jedoch gilt es, die Bedeutung einer Verzahnung von biologischen und soziokulturellen Faktoren für alle Formen der Vulnerabilität kenntlich zu machen.

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spruch, der sich mit der precarity verbindet, wird allerdings nur dann explizit, wenn diese besondere Vulnerabilität als solche anerkennbar (geworden) ist, etwa wenn die Vulnerabilität einer sozialen Gruppe im öffentlichen Diskurs explizit gemacht oder eine bestimmte Pathologie als Pathologie definiert worden ist. Ein fast schon allzu populäres Beispiel hierfür wäre das sog. AD(H)S, das Aufmerksamkeitsdefizit- (und Hyperaktivitäts-)Syndrom; wurden Kinder mit einschlägigen Symptomen 19 in früheren Jahren meist diszipliniert, so gibt es heute die Möglichkeit, therapeutisch mit diesen Symptomen umzugehen, weil sie als Krankheit »geframed« sind. Erst dadurch wird diese Erkrankung anerkennbar und dem Recht auf Gesundheit kann zumindest ein Stück mehr genüge getan werden. 20 Gerade Menschen mit Behinderung oder auffälligem Sozialverhalten haben ferner häufig das Problem, unter »epistemischer Ungerechtigkeit« 21 zu leiden: 22 Ihre Beschreibungen von körperlichen und psychischen Zuständen, ihre Willensäußerungen wie auch ihre Stellungnahmen ganz generell werden nicht immer hinreichend berücksichtigt und ernst genommen. Auch dies könnte man mit der recognizability von Butler in Verbindung bringen, zumal z.B. die soziale Anerkennung von geistig behinderten Menschen als kompetente Subjekte ihres Lebens auf einen historisch gesehen noch jungen Prozess zurückgeht, der – wenn er überhaupt je »abgeschlossen« sein kann – immer noch in Bewegung ist. Frappierender Weise hat dies auch körperbehinderte Menschen betroffen, die in der allgemeinen Wahrnehmung 23 implizit oft auch als eingeschränkt im kognitiven Sinne er-

19 Motorische Unruhe, sprunghafte Aufmerksamkeit, Störung des Sozialverhaltens, Angst, Depression etc.; vgl. Klasen et al. (2016). 20 Dass sich eine solche Praxis in eine Medikalisierung von unerwünschten Verhaltensweisen bei Kindern übersteigern kann, ist zwar zu erwähnen (wiewohl mittlerweile auch einigermaßen gemeinhin bekannt), geht jedoch über das Thema dieses Aufsatzes hinaus. 21 Unter »epistemic injustice« versteht Fricker (2009) entweder die durch ihre soziale Rolle eingeschränkte Glaubwürdigkeit von Individuen (testimonial injustice) oder das Fehlen von adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten für Verletzungen und Diskriminierungen (hermeneutical injustice). 22 Fricker (2009). 23 Butler unterstreicht mehrfach, dass die Frames, von denen sie spricht, nicht auf der Ebene von Intentionen wirksam sind, sondern schon unsere Wahrnehmun-

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schienen sind. 24 Für beide (sehr unterschiedlichen) Personengruppen gilt im Übrigen, dass die bis vor wenigen Jahrzehnten noch relative Unsichtbarkeit dieser Menschen und ihrer Bedürfnisse im öffentlichen Raum eindeutig reduziert ist, aber von umfassender Inklusion bei weitem nicht die Rede sein kann. Zweitens ist relevant, dass das Recht auf Gesundheit – wie alle Menschenrechte – nicht für sich allein steht: »Human rights are interdependent, indivisible and interrelated.« 25 Dies zeigt sich einerseits im Recht auf Gesundheit selbst, das, wie eben angedeutet worden ist, die Bedingungen von Gesundheit integriert und damit auf andere Menschenrechte verweist; dies betrifft insbesondere die Nichtdiskriminierung beispielsweise aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder Behinderung. Andererseits finden sich Elemente des Rechts auf Gesundheit bzw. Verweise auf Gesundheit auch in anderen Formulierungen etwa des International Covenant on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination von 1965, der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (1979) oder in der Convention on the Protection of Persons with Disabilities. 26 Interessant ist dabei die (hier nicht erschöpfend zu beantwortende) Frage, auf welche historischen Ereignisse und/oder auf welche Art der Sichtbarwerdung und Repräsentation diese Formulierungen antworten. Was also waren die historischen Ermöglichungsbedingungen (im Sinne eines historischen Apriori), eine Diskriminierung von Menschen festzustellen, sichtbar zu machen und mit einem (möglichst absoluten) Unterlassungsverbot zu belegen? Greifen wir noch einmal das Beispiel von Menschen mit geistiger Behinderung auf, so denkt man (zu Recht) schnell an die menschenverachtende Behandlung dieser Individuen im Dritten Reich und ihre

gen determinieren (Butler (2009), 29). Insofern liegt hier etwas zunächst und zumeist unseren Intentionen und Entscheidungen voraus. 24 Vgl. Toombs (2001b). 25 UNO (2008), 6, zur »Unteilbarkeit der Menschenrechte« siehe u.a. Bielefeldt (2016), 23. Bedeutsam scheint jedoch, dass Gesundheit als fundamentales Gut betrachtet wird. Sie ist unerlässlich für die Ausübung bzw. den Genuss aller anderen Menschenrechte (UNO (2000), 1); Gesundheit ist also nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts (vgl. Huth (2011), 182). Damit bildet sie nicht nur das Fundament des bloßen Überlebens, sondern auch des guten Lebens. 26 UNO (2008), 9.

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Aufarbeitung nach 1945. Aber die Orientierung an diesem summum malum scheint, wiewohl notwendig und wichtig, nicht hinreichend zu sein, um alle Aspekte der Diskriminierung dieser Menschen in den Blick zu bekommen – bloß als Reaktion auf die Gewalt gegen behinderte Menschen im Dritten Reich wären Forderungen wie Inklusion oder Normalisierung nicht hinreichend erklärbar. Die UNO anerkennt aber explizit, dass Menschen mit Behinderung lange marginalisiert und vernachlässigt worden sind in Strukturen, Richtlinien und Praktiken – auch in nichtautoritären politischen und sozialen Zusammenhängen. Gerade deshalb scheint von Bedeutung zu sein, dass ein Augenmerk darauf gelegt wird, das Recht auf Gesundheit nicht unabhängig von Nichtdiskriminierung, Teilhabe, Autonomie und sozialer Inklusion, Respekt für Andersheit, Fragen der Zugänglichkeit, Chancengleichheit und Achtung für (bzw. auf) sich entwickelnde Fähigkeiten zu sehen und zu behandeln. 27 Es sind also wesentlich subtilere Praktiken und Strukturen als offene Repressionen und Missbrauch, die – gerade aufgrund ihrer Subtilität – in den Blick gerückt werden sollen, um Ungerechtigkeiten in liberalen Gesellschaften hintanzuhalten. Dabei ist speziell die Autonomie dieser Personen – aus historischer Sicht fast unabhängig davon, ob es sich um körperlich, geistig oder mehrfach behinderte Menschen handelt – eine besonders zu beachtende Kategorie. 28 Die tendenzielle oder weitgehende Verobjektivierung dieser Personen in alltäglichen Behandlungspraktiken durch das Fehlen der Beachtung ihres informierten Einverständnisses oder in Kulminationspunkten extremer Vernachlässigung, Ausbeutung, erzwungener Sterilisation (nicht nur im Nationalsozialismus) 29 oder der radikalen Verdinglichung zu Anschauungsobjekten bei Menschenversuchen zeigt eine besondere Vulnerabilität dieser Bevölkerungsgruppe weniger durch fehlende individuelle Fähigkeiten (wobei dies natürlich auch eine Rolle spielt) als durch (oftmals implizite) marginalisierende Strukturen und Praktiken. Gerade diese Einsicht ist aber auch Anlass und Movens dafür, dass diesen Individuen durch EmpowermentInterventionen Kompetenzen zur Verfügung gestellt werden, die ihnen eine

27 UNO (2008), 16. 28 Zur Bedeutung der Autonomie für den Menschenrechtsansatz im Gesundheitswesen siehe u.a. Bielefeldt (2016), 32–42. 29 Vgl. UNO (2008), 16.

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Repräsentation als selbstmächtige Subjekte mit Rechtsansprüchen im öffentlichen Raum ermöglichen. Ferner eröffnet eine solche Historisierung der Menschenrechte die Perspektive einer immer noch ausstehenden Auseinandersetzung mit Ungleichbehandlung. Gemeint ist hiermit, dass es noch andere als die in den existierenden Formulierungen berücksichtigten Bevölkerungsgruppen (wie auch Individuen) gibt, die einer Diskriminierung ausgesetzt sind, die es womöglich allererst festzustellen und anzuerkennen gilt; 30 etwas weiter unten werde ich darauf noch einmal zurückkommen. 31 Die nun schon angedeutete Dimension der Autonomie als wesentliches Element des Rechts auf Gesundheit wird im Verlauf der folgenden Reflexionen noch eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich dabei um die Möglichkeit, wirksame Willensäußerungen zu machen, oder den Schutz vor Behandlungen, die auf keinem informierten Einverständnis beruhen. Eingriffe, die gegen die Willensäußerung oder ohne Willenserklärung bzw. ohne hinreichende Information der Patientin bzw. des Patienten durchgeführt werden, sind grundsätzlich als nicht menschenrechtskonform anzusehen, weil sie nicht mit der Forderung nach Autonomie kompatibel sind. 32 Dabei geht es hier zunächst selbstverständlich nicht darum, dass jemand autonom sein solle, sondern ihre oder seine Autonomie als solche anerkannt sei, wie dies auch Beauchamp und Childress in ihren berühmten Principles of Biomedical Ethics darlegen: »Being autonomous is not the same as being respected as an autonomous agent. To respect an autonomous agent is, at minimum, to acknowledge that person’s right to hold views, to make choices, and to take actions based on personal values and beliefs. Such respect involves respectful action, not merely a respectful attitude.« 33

30 Fineman (2008). 31 Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Struktur, die sich etwa bei Butler (2009) findet, nämlich eine Anerkennung, die immer noch »im Kommen« ist und einer Logik des futur antérieur unterliegt. 32 UNO (2008), 14–15. Unter Autonomie wird im Folgenden – im Anschluss an den alltäglichen Sprachgebrauch – die Selbstbestimmung von Menschen verstanden; es handelt sich also nicht um die Autonomie als praktisch-vernünftige Selbstgesetzgebung, die die Grundlage der Kantischen Ethik bildet. 33 Beauchamp/Childress (2001), 125.

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Eine weitere Überlegung ist im Zusammenhang mit diesen allgemeinen Erwägungen zum Recht auf Gesundheit noch von Bedeutung: Alle bislang genannten Elemente des Rechts auf Gesundheit sind nicht bloß Gegenstand einer Logik, die einzig darauf ausgelegt ist, Übergriffe durch den Staat (etwa in Form von institutioneller Diskriminierung) oder durch Dritte (behandelnde ÄrztInnen, die im Extremfall gar Menschenversuche ohne informiertes Einverständnis durchführen) zu verhindern; dies wäre eine Beschränkung auf ein bloßes Abwehrrecht, die die Möglichkeit einer relationalen, sozial bedingten Autonomie nicht hinreichend berücksichtigen würde. Eine solche Struktur vermutet etwa Roberto Esposito hinter den Begriffen der Person (als normativem Begriff) und den sich damit verbindenden Rechtsstrukturen. 34 Dies scheint jedoch nicht in Erwägung zu ziehen, dass (nicht nur) in der Auslegung des Rechts auf Gesundheit die Begriffe respect, protect, aber eben auch fulfil 35 bzw. die Pflichten der Achtung, des Schutzes sowie der Gewährleistung, wie es in der deutschen Übersetzung heißt, 36 eine prominente Rolle spielen. 37 Respect meint das Bestehen von (absoluten) Unterlassungspflichten, d.h. sozusagen negativen Pflichten. Unter der Kategorie protect werden Regelungen und Maßnahmen subsumiert, die Dritte davon abhalten sollen, die Rechte von Individuen zu verletzen (etwa MedizinerInnen, die Versuche an Menschen ohne deren Einverständnis durchführen). Fulfil schließlich drückt die staatliche Verpflichtung aus, aktiv Mittel zur Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit zur Verfügung zu stellen; damit sind Gesetze ebenso gemeint wie die Bereitstellung von Ressourcen wie einem für alle zugänglichen Gesundheitswesen, Nahrung, sauberem Wasser, Hygiene, Möglichkeiten im Hinblick auf sexuelle bzw. reproduktive Gesundheit oder auch von Informationen. Eine solche Gewährleistungsverpflichtung umfasst das Erkennen von günstigen Faktoren – d.h. eine adäquate Forschungslandschaft –, kulturell angemessene Gesundheitsdienste, Aufklärung und Information sowie das Angebot, bei gesundheitsbezogenen Entscheidungen Unterstützung zu erhalten. 38 In diesem Zusammenhang kann erneut auf Beauchamp und Childress verwiesen wer-

34 Esposito (2011). 35 UNO (2008), 26–27. 36 Vgl. UNO (2000), 19. 37 Vgl. dazu Krennerich (2016), 68–82. 38 UNO (2000), 23.

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den, die die Relationalität der Autonomie in ihrer (medizin-) ethischen Grundlegung anerkennen: »[M]any decisions in health care depend less on respecting autonomy than on maintaining the capacity for autonomy and the conditions of meaningful life.« 39 Gerade der letzte Punkt zeigt wiederum deutlich, dass die implizite Anthropologie dieses Menschenrechts keine ist, die das menschliche Individuum als isolierte, selbstmächtige Entität betrachtet, sondern die Bezogenheit menschlich-leiblichen Existierens als Ausgangspunkt dafür heranzieht, eine eventuell bedingte, graduelle oder relationale Autonomie zu berücksichtigen. Damit ist aber auch schon mehr als angedeutet, dass Empowerment eine wesentliche Rolle in der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit spielen kann und muss.

3. E INE F RAGE VON ANERKENNUNG UND V ERANTWORTUNG In verschiedenen Dokumenten der UNO wie auch der WHO ist festgehalten, dass der jeweilige Staat verpflichtet ist, responsiv im Hinblick auf die jeweilige precarity zu sein: »[The states] should disaggregate their health laws and policies and tailor them to those most in need of assistance rather than passively allowing seemingly neutral laws and policies to benefit mainly the majority groups.« 40

Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass diese besondere Form der Vulnerabilität sichtbar und mithin »anerkennbar« ist. Die generelle Struktur der Anerkennbarkeit ist (auch Butler zufolge) jedoch notgedrungen selektiv; denn eine besondere Aufmerksamkeit auf alle Personengruppen, die vul-

39 Beauchamp/Childress (2001), 126. 40 UNO (2008), 11. Selbst in ökonomisch prekären Situationen des Staates gibt es übrigens eine Verpflichtung, schutzbedürftige Mitglieder einer Gesellschaft durch Programme mit vergleichsweise geringem Kostenaufwand zu schützen. Vor allem jene Menschen, die keine ausreichenden Mittel zur Verfügung haben, sollen Zugang zu Krankenversicherung und Gesundheitsfürsorge erhalten; vgl. UNO (2000), 12.

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nerabel sind, würde aufhören, noch eine besondere Aufmerksamkeit zu sein (und der Begriff der precarity an Relevanz einbüßen). Auch Martha Fineman macht darauf aufmerksam, dass der Begriff der »vulnerablen Gruppe« die Gefahr birgt, selektiv zu sein im Hinblick auf einen Ausschluss von Individuen, die nicht gesondert als vulnerable anerkannt sind. 41 Zwar tragen einige Formulierungen im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit dem Rechnung, etwa wenn »non-exhaustive grounds of discrimination« aufgezählt werden, 42 jedoch zeigt sich damit eigentlich auch, dass eine solche Anerkennung für besonders vulnerable Gruppen und Individuen immer potenziell noch aussteht. 43 Gerade die (strukturelle) Anerkennung ist es jedoch, die den Staat zwar als zentralen, aber nicht alleinigen Akteur bzw. Verantwortungsträger im Hinblick auf die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit konstituiert. Medizinisches Personal ebenso wie Familien, lokale Gemeinschaften sowie NGOs sollen dem Recht auf Gesundheit auf je eigene Weise entsprechen. Ferner werden Wirtschaftsunternehmen als verantwortlich beschrieben. 44 Insbesondere private Anbieter sozialer und gesundheitsbezogener Leistungen dürfen nicht gegen das grundlegende Diskriminierungsverbot verstoßen. 45 »Good governance includes accountability of politicians and managers through an information flow to the public, enhanced civil liberties, lower corruption, and increased responsiveness of an institution to public health needs and problems, and re-

41 Vgl. Fineman (2008). 42 Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische Überzeugung etc., vgl. UNO (2008), 7. 43 Eine solche Selektivität kann übrigens auch dann vorliegen, wenn medizinisches Handeln sich auf seltene Krankheiten bezieht. Unter dem Schlagwort der »neglected diseases« werden solche Krankheiten subsumiert, für die es nur unzulängliche, womöglich besonders hochpreisige oder gar keine Therapie (und auch keine adäquate Forschung zum Erlangen einer solchen Therapie) gibt, vgl. UNO (2008), 8. Dabei ist zu bemerken, dass Diskriminierung ebenso als Ursache wie als Folge dieser Erkrankungen gelten kann. 44 UNO (2008), 30; UNO (2000), 25. 45 UNO (2000), 15.

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ciprocal relationships with a public empowered with greater access to transparent information and control over resources.« 46

Dieses reziproke Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Institutionen einerseits sowie einer »ermächtigten« Öffentlichkeit andererseits, wie es in diesem Passus beschrieben wird, ist jedoch eines, das nicht einfach hergestellt werden könnte und dann Bestand hätte. Es handelt sich vielmehr um ein dynamisches Gleichgewicht (das immer wieder neu zu konstituieren und mithin auch immer in Gefahr ist), zumal sich politische und wirtschaftliche Strukturen ebenso verändern wie Wissensbestände und kulturelle Praktiken. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass es eine merkwürdige Ausblendung gesellschaftlicher Verhältnisse bedeuten würde, »die Öffentlichkeit« als eine homogene Menge an Individuen zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um ein Netz verschiedener sozialer Gruppen, die unterschiedlichen Zugang zu Information und unterschiedliche Grade an Kontrolle über Ressourcen und ihre Lebensumstände ganz allgemein haben – bis hin zu marginalisierten und (bisweilen sehr subtil) unterdrückten Gruppen, die nicht nur in ökonomisch prekären Umständen leben. 47 Machtlosigkeit gilt als entscheidender Risikofaktor für einen schlechten Gesundheitszustand, 48 anerkannter Maßen nicht nur wegen des sich aus ihr ergebenden fehlenden oder eingeschränkten Zugangs zu medizinischer Versorgung, sondern auch wegen der fehlenden oder eingeschränkten sozialen Anerkennung und Selbstwirksamkeitserfahrung. Zumal soziale Erfahrungen internalisiert werden und das (förderliche oder schädliche) Selbstverhältnis von Menschen determinieren, muss ein unterstützendes (pädagogisches) Empowerment als entscheidende Gesundheitsressource betrachtet werden. Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass bereits in Artikel IV der Erklärung von Alma Ata das Recht auf Gesundheit mit einer eindeutigen Obligation zur Partizipation und Selbstermächtigung korreliert: »Die Menschen haben das Recht und die Verpflichtung, sich individuell und kollektiv an der Planung und Umsetzung ihrer Gesundheitsversorgung zu beteiligen.« 49

46 WHO (2006), 10. 47 Vgl. Young (1999), AB 13. 48 Wallerstein (2002), 72–73. 49 WHO (1978), Art. IV; vgl. auch UNO (2000), 31.

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Für die WHO spielt der Begriff des Empowerment schon seit längerem eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit. 50 Norbert Herriger bezeichnet den Begriff des Empowerment als Sammelkategorie für Arbeitsansätze in der psychosozialen Praxis, die zur Entdeckung je eigener Kompetenzen ebenso beitragen sollen wie zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie. 51 Dadurch soll sich einerseits ein Einwirken auf die Fremdwahrnehmung – z.B. geistig behinderter Menschen, aber auch anderer besonders vulnerabler sozialer Gruppen – befördern lassen. Damit ließe sich einer einseitigen Defizitorientierung (s.u.) entgegenwirken, die mehr oder minder subtile Formen der Diskriminierung aufrechterhält und prolongiert. Andererseits sollen sie auch zu einer Änderung der Selbstwahrnehmung und Steigerung des Selbstvertrauens beitragen. Gerade bei schwerer beeinträchtigten Menschen ist es nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit, sie als autonome Personen und als Rechteinhaber wahrzunehmen. Hingegen ist die sog. Defizitorientierung eine subtile, jedoch wirkmächtige Struktur, die sich in Praktiken, Verfahrensweisen und selbst in Wahrnehmungen 52 einschreibt und dadurch ein schwer erkennbares Hindernis bei der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit für geistig behinderte Menschen darstellt. Jedoch betrifft dies bisweilen auch körperlich eingeschränkte Menschen und generell potenziell marginalisierte Personengruppen wie MigrantInnen, psychisch erkrankte Menschen und andere. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Empowerment mit einer Art Paradigmenwechsel assoziiert wird, der von einer Verpflichtung zu Fürsorge und Unterstützung hin zu einem Verständnis des Ermöglichens übergeht. Anstatt also vulnerable Personengruppen als – zugespitzt formuliert – Objekte von Unterstützung und Wohlfahrtsleistung zu begreifen, werden sie als Subjekte der eigenen Lebensgestaltung im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Bedürfnisse verstanden. Eine ähnliche Tendenz findet sich in Martha Nussbaums Capability Approach (2010), der etwas unglücklich mit »Fä-

50 WHO (1978) und (1986). 51 Herriger (2014), 70–81; vgl. schon Rappaport (1987), 122 u.ö. 52 Vgl. Butler (2009), 29.

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higkeitenansatz« übersetzt wird. Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Bedürftigkeit und Autonomie vor dem Hintergrund gerechtigkeitsbezogener Erwägungen legt sie einen Katalog an grundlegenden capabilities vor, die eben nicht vorgegebene Fähigkeiten sind, sondern (ggf. durch Empowerment) zu erwerbende Möglichkeiten der Lebensgestaltung. 53 Nun stellt sich die Frage, worin Empowerment konkret bestehen kann. Empowerment-bezogene Interventionen sind – nicht zuletzt der WHO zufolge – keine allgemeinen Techniken der Befähigung. Da Hürden für Autonomie und den Zugang zu Ressourcen sich in unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten und auch bei unterschiedlichen sozialen Gruppen und Individuen verschieden manifestieren, kann es also keine standardisierten und kontext- bzw. kulturunabhängigen Methoden des Empowerment geben. 54 Dennoch schlägt die WHO einige Eckpunkte einschlägiger Maßnahmen vor: (a) die Verfügbarmachung von Information und Fähigkeiten, um bürgerliche Kontrolle über Ressourcen zu ermöglichen, (b) die Unterstützung kritischen Bewusstseins, einer förderlichen Umwelt sowie eines Gemeinsinnes (sense of community), (c) die Förderung von Gemeinschaft durch die kollektive Einbeziehung in Entscheidungen sowie (d) eine Sensibilität für die Bedürfnisse einer Gemeinschaft, wie die Mitglieder derselben sie selbst definieren. 55 An der Allgemeinheit (und vielleicht Vagheit) dieser Vorschläge wird besonders jene Zurückhaltung deutlich, die eine responsive Grundhaltung gegenüber spezifischen Gruppen und Individuen mit spezifischen Bedürfnissen und Sinnhorizonten verlangt. Als besonders grundlegend stellt sich dabei die Einbeziehung von betroffenen Individuen selbst heraus, 56 um dadurch paternalistische Tendenzen ebenso wie Interventionen, die an konkreten Bedürfnissen vorbeigehen, hintanzuhalten:

53 Die Capabilities bei Nussbaum umfassen: Leben normaler Dauer; Gesundheit; körperliche Integrität; Sinne, Vorstellungskraft, Denken inkl. selbstgewählter Kulturalität und Religion; Gefühle, emotionale Entwicklung; praktische Vernunft inkl. eigener Auffassung des Guten; Zugehörigkeit sowie soziale Grundlagen der Selbstachtung; Konfrontation mit anderen Spezies; Spiel; Kontrolle über die eigene Umwelt im Sinne von politischer Partizipation und von konkreter inhaltlicher Gestaltung, vgl. Nussbaum (2010), 112–114. 54 WHO (2006), 4–5. 55 Ebd., 5. 56 Vgl. ebd., 9.

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»Citizen participation seems critical in reducing dependency on health professionals, ensuring cultural and local sensitivity of programs, facilitating capacity and sustainability of change efforts, enlisting community stakeholders in program improvement, enhancing the productivity, effectiveness and efficiency of programmes [sic!] and enhancing health in its own right.« 57

Partizipation ist nun wiederum ein Begriff, der keine eindeutige Strategie der Umsetzung impliziert, sondern der einen Prozess markiert, in dem unterschiedliche Involvierte auf je verschiedene Weise eine Rolle spielen. Wichtig ist ferner, dass eine Kontrollierbarkeit oder Vorhersagbarkeit eines solchen Prozesses nicht einfach gewährleistet ist, 58 wobei jedoch in unterschiedlichen Kontexten zu erheben wäre, woran eine gelingende Teilnahme zu bemessen wäre. 59 Der Begriff des Empowerment lässt sich in sich noch einmal differenzieren im Hinblick auf mögliche Adressaten und damit verbundene Praktiken: Unterschiedliche Fokussierungen werden eingenommen, wenn es darum geht, Gruppenunterstützung, Bildungsmöglichkeiten, Empowerment der Betreuungspersonen, Unterstützung der PatientInnenentscheidung, Änderungen in den Betreuungsangeboten bzw. den Bemühungen um Stellvertretung zu forcieren. 60 In Anlehnung an Herriger möchte ich drei Perspektiven von Empowermentprozessen besonders hervorheben, 61 die im Hinblick auf eine strukturierte Auseinandersetzung mit dem Konzept besonders bedeutsam erscheinen.

57 Ebd., 8. 58 Ebd. 59 Einfach wäre nun, bloß auf die Wahrnehmung der betroffenen Individuen zu rekurrieren. Wer sich als eingebunden erlebt, ist ja wohl eingebunden. Dem ist in gewisser Hinsicht selbstverständlich stattzugeben, jedoch lauert hinter einer solchen Sichtweise die Gefahr, dass die Anschauungen und wahrgenommenen Bedürfnisse einer sozialen Gruppe selbst korrumpiert sind, ohne dass dies deutlich wird. Wenn Menschen ihre realen Fähigkeiten und Bedürfnisse wie auch die herrschenden Verhältnisse nicht hinreichend einzuschätzen imstande sind, so werden ihre Lebensentwürfe entsprechend hinter oder sozusagen neben ihren Möglichkeiten bleiben. 60 WHO (2006), 11. 61 Herriger (2014), 85–104.

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(a) Empowerment von Individuen (oben angedeutet als Unterstützung der PatientInnenentscheidung) bedeutet, ein Individuum darin zu unterstützen, Kompetenzen und Ressourcen für Selbstvertretung zu entdecken, zu entwickeln und zu nutzen. Dies ist einerseits bedeutsam im Zusammenhang mit medizinischen Maßnahmen im engeren Sinn, zumal dann etwa konkrete gesundheitliche Probleme, Bedürfnisse und Wünsche besser wahrgenommen und formuliert werden können; schon allein die Anamnese zur Erstellung einer Diagnose wird dadurch wesentlich erleichtert und dem Recht auf ein jeweiliges Höchstmaß an Gesundheit besser entsprochen. Andererseits ist belegt, dass eine erhöhte Partizipation bzw. Selbstwirksamkeitserfahrung sich positiv auf den Allgemeinzustand auswirkt und weniger oft eine depressive Symptomatik entsteht oder sich selbige bessert. 62 Ein solches Empowerment kann aber auch eine indirekte Strategie verwenden, als es ebenso Unterstützungssysteme, Pflegepersonal etc. adressieren kann. 63 Hintergrund und Ziel einschlägiger Interventionen zugleich ist ferner die Anerkennung von Autonomie und des Rechts auf Ausübung dieser Autonomie. Auch wenn sich eine solche als relational oder graduell herausstellt, so ist dadurch das genannte Recht darauf in keiner Weise eingeschränkt. 64 Die Erwähnung dieses Rechts, das dem Recht auf Gesundheit immanent scheint, ist deshalb nicht trivial, weil die Perspektive sozialer Anerkennung offenbar durch die »Ideologie des heroischen Subjekts« 65 imprägniert ist und Autonomie daher oft binär verstanden wird – entweder eine Person ist autonom im umfänglichsten Sinne oder ihr wird jegliche Autonomie abgesprochen. 66 Diese in der Literatur mittlerweile oftmals als ableism 67 bezeichnete Form einer subtilen Diskriminierung ist zwar durch

62 WHO (2006), 10. 63 Vgl. ebd., 14. 64 Kniel/Windisch (2005), 22 sowie Bielefeldt (2016), 36 und (2017), 56–59. 65 Herriger (2014), 23. 66 Gerade im Kontext neuerer Theorien zur Vulnerabilität wurde auf die Aporien einer solchen Sichtweise hingedeutet. Zumal Kindheit, Alter, Krisen oder dergleichen in jedem Leben Angewiesenheit und Einschränkungen von Autonomie bedeuten, ist die Ideologie des heroischen Subjekts nicht mehr als ein Phantasma, jedoch eines, das unweigerlich soziale Ausschlüsse, Paternalismus und Diskriminierung erzeugt, vgl. Gilson (2014). 67 Campbell (2009).

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diese Begrifflichkeit expliziter geworden, aber die Debatten um adäquate Formen von Sachwalterschaft und Stellvertretung zeigen, 68 dass hier immer noch große Unsicherheit in den Grenzziehungen zwischen Autonomie, Empowerment und stellvertretender Entscheidung vorliegen. 69 (b) Die soziale Gruppe als Adressat von Empowerment-Interventionen erzeugt einen anderen Fokus, der allerdings mit dem der Individuen überlappend erscheint. Nach innen könnte dies Solidarität und wechselseitige Unterstützung fördern, 70 sodass im günstigsten Fall das unterstützende Empowerment in einen Prozess der Selbstermächtigung umschlägt. Nach außen hin, so wäre denkbar, verbinden sich damit eine Akkumulation von Energie und eine erhöhte Sichtbarkeit der jeweiligen Gruppe und ihrer Anliegen im Hinblick auf die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit – soziale Bewegungen könnten genau hier ihre Grundlage bzw. ihren jeweiligen Startpunkt finden. Adressaten einer solchen Selbstvertretung auf kollektiver Ebene sind einerseits natürlich staatliche Institutionen, andererseits auch »die Gesellschaft« und das kollektive Bewusstsein im Hinblick auf die Bedürfnisse von Menschen mit spezifischer Vulnerabilität. Insofern sind auch generelle Normenänderungen und die Wahrnehmung von Gleichheit mögliche Resultate von Empowerment. 71 (c) Empowerment mit Fokus auf Institutionen nimmt gleichsam die entgegengesetzte Perspektive ein. Es geht nun nicht darum, die Vertretung von berechtigten Interessen zu befördern, sondern vielmehr darum, die Responsivität von Institutionen zu stärken. Damit ist unter anderem gemeint, dass

68 Ackermann/Dederich (2011). 69 Dieser ableism qua strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung drückt sich in fehlender Barrierefreiheit ebenso aus wie im alltäglichen Umgang mit den betroffenen Menschen. Die unsensible Kommunikation buchstäblich über die Köpfe Rollstuhl fahrender Menschen hinweg scheint nach wie vor häufig zu sein – frappierender Weise auch im klinischen Kontext, vgl. Toombs (2001b), 255. Wenn jedoch Kommunikation ein wichtiges Element bzw. auch eine wichtige Ressource für eine gelingende medizinische Behandlung darstellt, folgt daraus natürlich, dass das Recht auf Gesundheit hier – auf eine nicht allzu offensichtliche Art und Weise, aber doch eindeutig – verletzt wird. 70 WHO (2006), 10. 71 Ebd.

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eine gewisse Kenntnis der und Sensibilität für Bedürfnisse und die Situation besonders vulnerabler Menschen zugrundegelegt und unterstützt wird. Unkenntnis genereller Art kann dazu führen, dass spezifische Vulnerabilität nicht oder nur unzureichend wahrgenommen und daher auch in der institutionellen und politischen Praxis marginalisiert wird. 72 Gerade etwa für Menschen mit geistiger Behinderung sind weniger die materiellen als die virtuellen Zugangsschwellen zu Gesundheitseinrichtungen jedweder Art problematisch (etwa wenn Leichter-Lesen-Varianten von Informationen nicht zur Verfügung stehen o.ä.). Die erlebte Asymmetrie (des Ausdrucksvermögens, der sozialen Rollen, der Kenntnisse etc.), an deren unterem Ende sich die betroffenen Menschen zu befinden scheinen, hält viele – nicht zuletzt aus Scham – davon ab, Bedürfnisse und Befindlichkeiten hinreichend und adäquat zum Ausdruck zu bringen. Dies unterminiert einerseits den Zugang zur bestmöglichen Therapie; denn diese hängt wesentlich von einer geglückten Anamnese ab und von der Äußerung je eigener Vorlieben, Ängste, Bedürfnisse usw. Andererseits ist die Autonomie, die ja auf der Artikulation von Wünschen und Vorlieben fußt, selbst dadurch potenziell in Mitleidenschaft gezogen. Die WHO hat bereits vor einiger Zeit datenbasierte Darstellungen der Effizienz von Empowerment publiziert. 73 Diese Effizienz ist zum einen dadurch gegeben, dass Menschen direkt davon profitieren, indem sie Sichtweisen und habitualisierte Verhaltensweisen verändern (seien es nun jene Individuen, die Unterstützung in Anspruch nehmen, oder jene, die eine solche gewährleisten). Allerdings kann die Wirksamkeit sich zum anderen auch indirekt und über den eigentlichen Adressatenkreis hinaus manifestieren, zumal sich durch Empowerment-Interventionen auch Änderungen innerhalb sozialer Beziehungen der direkt Betroffenen einstellen können. 74 A forteriori ist dies bei Maßnahmen zum Empowerment von Frauen der Fall, zumal sich eine Verbesserung des Zugangs zu Information ebenso wie eine Verbesserung der Ernährungssituation oder auch des Zugangs zu Gesundheitsfürsorge eindeutig auf die Gesundheit ungeborener Kinder sowie Säuglingen auswirkt. 75 Schließlich wäre auch denkbar, dass ein weiterer

72 Fineman (2013), ferner Gilson (2014). 73 WHO (2006). 74 Ebd., 13. 75 Ebd.

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Kreis davon profitiert, insofern auch in einem übergreifenden sozialen Kontext ein Wandel von Normen und Perspektiven befördert werden könnte. 76 Denn wenn dieses Empowerment über die konkrete Situation hinaus wirksam ist im Hinblick auf die Struktur der Anerkennbarkeit spezifischer Vulnerabilitäten in einem gesellschaftlichen Bezugsrahmen, so kann der Nutzen tatsächlich mehr als den von der jeweiligen Intervention direkt betroffenen Individuen zugutekommen. Allerdings wäre es problematisch, die Möglichkeiten von Empowerment zu überschätzen und falsche Hoffnungen und Zielsetzungen zu erzeugen: »There are clearly limits to locally-based or specific population programmes for overcoming political, socio-economic or institutional forces that maintain inequities.« 77 Das bedeutet unter anderem, dass bloße Partizipation nicht hinreichend ist, wenn nicht zugleich adäquate Voraussetzungen für eine sinnvolle Selbstvertretung und eine Responsivität der relevanten Institutionen garantiert sind. Damit wird deutlich, dass Empowerment keine Technik oder Methode darstellt, die für sich stehend und ohne weitere Begleitmaßnahmen und -umstände Autonomie und die relevanten Voraussetzungen für Gesundheit einfach herstellen könnte. Zwar macht die WHO explizit, dass Empowerment sich als Strategie bezeichnen lässt, durch die herrschende Strukturen und Überzeugungen herausgefordert werden können (was der Begriff power im Konzept Empowerment andeutet), 78 jedoch verbindet sich damit die Frage nach dem Grad an Autorität und potenzieller Gewalttätigkeit herrschender Eliten und Strukturen. 79 Es wäre mithin denkbar, dass die Intention des Empowerments sich ins Gegenteil verkehrt durch die möglichen Repressionen oder durch die Wechselwirkung zwischen einer sozialen Gruppe und dem breiteren sozialen Kontext. Trotzdem stellen Partizipation und Demokratie prinzipiell ein tragendes Element der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit dar: »A robust public health, with

76 Ebd. 77 Ebd., 14. 78 Vgl. ebd., 18. Schon in der bereits erwähnten Erklärung von Alma Ata von 1978 wurde ausgeführt, dass Partizipation und Gleichstellung von entscheidender Bedeutung sind für Gesundheit. 79 Vgl. auch den Begriff der strukturellen Gewalt bei Young (1999) sowie Galtung (1969) und (1996).

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adequate policies and institutions, is at the same time dependent on truly democratic governance and a demonstration of its adequacy.« 80

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Dem Begriff des Empowerment wurde schon vor fast fünf Jahrzehnten von Paulo Freire in seinem 1970 erstmals erschienenen Buch Pedagogy of the Oppressed 81 eine genuin aktivische Bedeutung verliehen. Dort heißt es, dass die fundamentalen Säulen von Empowerment in »knowledge in solidarity with action« 82 bestehen; ein in Dialog bzw. Verständigung generiertes Wissen bezieht sich dabei auf herrschende Normen und Institutionen, die Teilhabe und Mitbestimmung erschweren oder verunmöglichen. Während Empowerment auch im heutigen Diskurs oft in Verbindung gebracht wird mit einer relationalen Konstitution von Autonomie der betreffenden Individuen und Gruppen, 83 ist die soziale Bewegung ein Phänomen, das in einem engeren Sinne Selbstvertretung und Selbstermächtigung (qua Empowerment) zum Ziel hat; der sozialen Bewegung liegen nicht unbedingt pädagogische Interventionen zugrunde oder voraus. 84 Dabei geht es anfänglich einmal darum, eine Kollektivität bzw. eine Gruppenidentität durch geteilte Anliegen zu konstituieren: »Soziale Bewegungen haben gemeinsame Ziele, Überzeugungen und Deutungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die kollektives Handeln ermöglichen.« 85 Um potenzielle MitstreiterInnen zu gewinnen, sind Strategien der (emotionalen) Affizierung oftmals das Mittel der Wahl:

80 De Camargo Jr. (2017), 1855. 81 Freire (2000). 82 Ebd., 38. 83 Zumal, wenn die einschlägigen Strategien durch pädagogische bzw. unterstützende Maßnahmen umgesetzt werden; vgl. Herriger (2014). 84 Es steht hier nicht zur Diskussion, Fremdempowerment und Selbstempowerment gegeneinander auszuspielen oder auch nur trennscharf von einander abzugrenzen. Vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, das Relationalität und Sozialität als unhintergehbare Elemente der Existenz anerkennt, würde eine solche Demarkationslinie auch keinen Sinn ergeben. 85 Roth/Rucht (2008), 23.

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»Ohne starke Emotionen und Motive, ohne Moral und Empörung, ohne Mitleid und Solidarität, ohne Zuspitzung und Dramatisierung kommen sie nicht zustande und nicht aus.« 86

Thema einer solchen Emotionalisierung ist oftmals eine je noch ausstehende Sichtbarkeit und Anerkennung von besonderen Vulnerabilitäten und Bedürfnissen. Dies trifft auf die sog. Independent Living Bewegung (s.u.) ebenso zu wie etwa auf die sozialen Bewegungen, die in den 1980ern und 90ern auf die Situation von Menschen mit HIV/AIDS aufmerksam gemacht haben. Grundsätzlich ist zu erwähnen, dass sie eine gewisse zeitliche Kontinuität sowie einen gewissen Grad an Organisation erfordern, wobei soziale Bewegungen auch niemals straff durchorganisiert sind, wodurch sie keine politische Interessenvertretung oder gar Institution im engeren Sinn darstellen. 87 Insofern sind sie prototypische Beispiele für eine Verantwortungsübernahme von BürgerInnen, die komplementär zu staatlicher Verantwortung ist; oben wurde schon erwähnt, dass bereits in der Erklärung von Alma Ata aus dem Jahr 1978 explizit die Verantwortlichkeit von BürgerInnen für die Gesundheit über staatliche Institutionen hinaus hervorgehoben worden ist. Außerdem manifestieren sie Formen einer politischen Partizipation, die prinzipiell außerhalb bestehender Strukturen und Institutionen stattfindet. Dies scheint in dem »trivialen« Umstand zu liegen, dass ihr Fokus genau jene Nischen betrifft, die von institutioneller Seite im zeithistorischen Kontext jeweils ausgespart (gewesen) sind. 88 Für unseren Zusammenhang ist nun ein Merkmal von Relevanz, das auf viele, aber nicht alle soziale Bewegungen zutrifft und im folgenden Zitat zusammengefasst ist: »[S]ocial movements play a major role in highlighting distributional and procedural inequities, are often the organizational carriers of constituent concerns regarding various ›social problems‹ frequently function as visible indicators or outcroppings of

86 Ebd., 24. 87 Ebd., 25; ferner Cross/Snow (2012), 522 und Kapilashrami et al. (2016), 414. 88 Herriger (2014), 29.

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emerging social and cultural concerns, and generally provide a ›voice‹ for the adherents and bind them together into highly salient collective identities.« 89

Soziale Bewegungen stellen daher exemplarische Strategien des GruppenEmpowerments dar, zumal sie nicht nur Gruppenidentität und Solidarität nach innen, sondern auch ein gemeinsames und bisweilen konzertiertes Auftreten (nach außen) gegen Marginalisierung befördern 90 sowie eine Sichtbarkeit und Anerkennbarkeit spezifischer Anliegen oder von Ungleichbehandlungen fördern und fordern. 91 Die implizite Anerkennbarkeit von Bedürfnissen und Vulnerabilitäten in einem soziokulturellen Kontext soll in ihrer Selektivität und Exklusivität explizit gemacht und dadurch nicht nur als hegemoniale Struktur zum Thema, sondern veränderbar werden: »Ohne sichtbaren Protest gibt es keine soziale Bewegung. Alltagsroutinen bestätigen den Status quo. Wer mehr und anderes will, muss sich etwas einfallen lassen. Deshalb sind Strategien und Aktionsformen zentral.« 92

Dabei spielen gesundheitsbezogene Bedürfnisse oftmals selbst dann eine eminent bedeutsame Rolle, wenn es sich nicht um soziale Bewegungen mit einem einschlägigen Fokus im engeren Sinne handelt (auf jene mit explizit gesundheitsbezogenen Zielsetzungen werde ich in Kürze gesondert eingehen). »Because health concerns are so pervasive throughout society, people are more likely to focus many grievances through the lens of health.« 93 Als konkretes und wohl auch äußerst prominentes Beispiel nennt Hofmann die

89 Cross/Snow (2012), 523. 90 Vgl. Freire (2000) und Herriger (2014). 91 Jedoch ist damit noch nichts über die inhaltlichen Ziele ausgesagt, die zwischen dem civil rights movement der 1960er Jahre, der Frauenbewegung oder der Independent-Living-Bewegung und radikal-konservativen oder rechtsextremen Bewegungen sehr stark differieren können; es kann gleichsam nur konstatiert werden, dass in jeder dieser Bewegungen als solche wahrgenommene Missstände den Boden einer kollektiven Mobilisierung bilden; siehe Cross/Snow (2012), 524. 92 Roth/Rucht (2008), 26. 93 Brown/Zavestoski (2004), 685.

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civil rights movements: »For many civil rights activists, the fight against segregation was inseparable from demands for national health care.« 94 Es ist aber auch noch darauf hinzuweisen, dass soziale Bewegungen nicht nur von ihrer eigenen Mobilisierungskraft abhängen, sondern auch von politischen und sozialen Strukturen, die hemmend oder begünstigend sind. 95 Dies bedeutet, dass einerseits die politischen Verhältnisse und institutionellen Strukturen, in denen eine soziale Bewegung sich für Anliegen einsetzt, die unter die Forderungen des Rechts auf Gesundheit subsumiert werden können, den Erfolg prädeterminieren. Andererseits sind soziale Bewegungen eingebettet in diskursive Felder, die den Bedeutungshorizont bzw. Möglichkeitshorizont dieser Bewegungen im Voraus mitbestimmen: »[T]he concept of discursive fields […] conceptualizes an aspect of the context in which discourse and meaning-making processes, such as framing and narration, are generally embedded.« 96

Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass soziale Bewegungen nicht zwingend in der Änderung politischer Institutionen (und der damit einhergehenden Änderung von rechtlichen Rahmenregelungen) im engeren Sinne ihre Ziele erfüllt sehen, sondern evtl. auch im Wandel von Atmosphären, des common sense oder allgemeiner Praktiken – d.h in Veränderungen der Struktur jener recognizability/Anerkennbarkeit bzw. frames, von denen oben schon mehrfach die Rede war. Wenn nun jedoch, wie bereits angedeutet, die Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit sich gerade nicht auf die Ebene staatlicher Institutionen und Strukturen beschränken lässt, so finden wir auch in diesem »kulturellen Wandel« 97 einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung dieses Menschenrechts. Dadurch wäre also denkbar, dass auch oberflächlich betrachtet wenig erfolgreiche Bewegungen sich als effektiv herausstellen – nämlich dann, wenn sie die subtilen Strukturen der Anerkennbarkeit verändern und ein kollektives Bewusstsein für Bedürfnisse und Formen der Vulnerabilität schaffen, die bislang nicht oder nicht zureichend anerkannt waren.

94 Hofmann (2003), 80. 95 Cross/Snow (2012), 525. 96 Ebd., 532. 97 Vgl. ebd., 535.

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Soziale Bewegungen mit explizit gesundheitsbezogenen Zielsetzungen finden sich nicht erst im 20. Jahrhundert (einem zeithistorischen Kontext, der für soziale Bewegungen offensichtlich sehr fruchtbar war, denkt man allein an das civil rights movement in den USA); das Phänomen lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. 98 Schon von Anbeginn an waren dieselben orientiert an dringenden, jedoch in der Wahrnehmung der ProtagonistInnen nicht hinreichend anerkannten Bedürfnissen besonders vulnerabler sozialer Gruppen. Kinder stehen an den historischen Anfängen wenig überraschend sehr oft im Fokus, 99 was übrigens auch mit Philippe Ariès’ berühmter These korreliert, dass die Kindheit als eigenes Lebensalter (mit spezifischer Vulnerabilität, wie wir hinzufügen) erst in der Moderne entdeckt worden sei. Dies würde auch den genannten Hinweis bestätigen, dass politische und a forteriori soziale Strukturen (der Anerkennung) die Grundlage für Motivation, Konstitution, aber eben auch Wirkmacht von sozialen Bewegungen bilden. Bevor ich mich auf zwei konkrete Beispiele sozialer Bewegungen konzentriere, die gesundheitsbezogene Anliegen vertreten und damit dem Recht auf Gesundheit zur Manifestation und Umsetzung verhelfen, möchte ich noch kurz verdeutlichen, worin denn eigentlich generell die Wirkmacht solcher Bewegungen gesehen wird. Ich habe schon mehrfach auf die Änderungen in der strukturellen Anerkennbarkeit von gesundheitsbezogenen Bedürfnissen hingewiesen. Allerdings scheint damit diese Wirkmacht noch etwas unterkomplex und zu oberflächlich dargestellt. Einschlägig forschende Soziologen wie Brown und Zavestoski sehen die Auswirkungen sozialer Bewegungen zwar einerseits ebenfalls in dieser Konstitution sozialer Sichtbarkeit und Responsivität, jedoch andererseits in konkreteren Maßnahmen und Veränderungen relevanter Institutionen bis hinein in prima facie relativ gesonderte Bereiche unserer Lebenswelt – wie etwa den Forschungsbetrieb: »First, they produce change in the health care and public systems, both in terms of health care delivery, social policy and regulation. Second, they produce changes in medical science, through the promotion of innovative hypotheses, new methodological approaches to research and changes in funding priorities. Third, health social

98 Brown/Fee (2014), 386. 99 Ebd., 388.

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movements produce changes in civil society by pushing to democratize those institutions that shape medical research and policy-making […].« 100

Es ließe sich also behaupten, dass soziale Bewegungen nicht nur die generelle Aufmerksamkeit für spezifische gesundheitsrelevante Anliegen befördern, sondern auch das Gesundheitssystem im engeren Sinn sowie sogar die biomedizinische Forschung beeinflussen (können). 101 Da auch der Forschung im Rahmen des Rechts auf Gesundheit eine eminente Bedeutung eingeräumt wird, kann ebenfalls in dieser Hinsicht den sozialen Bewegungen eine vielleicht bisweilen subtile, jedoch entscheidende Rolle in der Umsetzung zugeschrieben werden. Ein »klassisches« Beispiel für soziale Bewegungen mit Relevanz für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit ist die Independent Living Bewegung, die – eingebettet im Kontext von Bürgerrechtsbewegung, Selbsthilfebewegung, Verbraucherbewegung, Bewegung für Entmedizinisierung sowie die Bewegung für Deinstitutionalisierung, Normalisierung und Mainstreaming – das Empowerment für behinderte Menschen entscheidend vorangetrieben hat. Noch bis ins 21. Jahrhundert hinein gibt es Ausläufer eines Verständnisses von Behinderung, das einen Umgang mit den betroffenen Menschen in traditionellen medizinischen Rehabilitationssystemen vorsieht. 102 Dies war (und ist zum Teil noch immer) eine entscheidende Einschränkung vor allem im Hinblick auf Selbstbestimmung. Aber auch was die Diskurse und Praktiken innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen anbelangt, ist eine Exklusion von behinderten Menschen bzw. eine eingeschränkte Anerkennung als Rechteinhaber immer noch ein Problem. Jedoch geschah es nicht zuletzt aufgrund der Independent Living Bewegung, dass hier entscheidende Fortschritte erreicht wurden.

100 Brown/Zavestoski (2004), 687. 101 Ebd., 689. 102 Vgl. De Jong (1983). In Wien lebten beispielsweise noch bis vor wenigen Jahren einige geistig und mehrfach behinderte Menschen innerhalb des Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe; sie verbrachten dort also keine temporären stationären Aufenthalte, sondern hatten ihren Lebensmittelpunkt innerhalb der Struktur eines Krankenhauses mit psychiatrischem Schwerpunkt.

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Ab den 1960er Jahren waren es zunächst die sog. Rolling Quads, im Rahmen derer v.a. (zum Teil hochgradig) körperbehinderte Menschen vermittels Demonstrationen auf sich und ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten aufmerksam machten, aber durch dieses fundamentale Empowerment auch auf die generelle Selbstwahrnehmung dieser Menschen Einfluss nahmen: »[The Rolling Quads] realized that we could change some things. First we needed to change our own attitudes about ourselves. […] And go out and change things for others and ourselves.« 103 1972 wurde das erste Centre for Independent Living in den USA etabliert, ab 1981 kam es zur Verbreitung in Europa; 1986 etwa wurde das erste Zentrum in Deutschland eröffnet, 1994 entstand auch eines in Österreich. Ziel dieser Einrichtungen 104 ist es einerseits, informelle Hilfe (nicht nur) in gesundheitsbezogenen Fragen anzubieten und ein Forum für peer support/peer counselling (Beratung durch ExpertInnen in eigener Sache, s.o.) zu gewährleisten. Die an diese Bestrebungen anknüpfende Behindertenbewegung als ganze versucht aber andererseits auch, eine Interessensvertretung nach außen zu bewerkstelligen; gemeint ist hier in erster Linie ebenfalls eine Unterstützung der Anerkennbarkeit der betroffenen Menschen durch Inklusion, Normalisierung und Partizipation. Schließlich möchte ich noch kurz auf das People’s Health Movement eingehen. Dies ist eine vergleichsweise neue soziale Bewegung, die ihre erste Zusammenkunft 2000 (nach etwa einem Jahr Mobilisierungsarbeit) in Bangladesch abgehalten hat. 105 Das Ziel dieser Bewegung ist nicht im eigentlichen Sinne neu zu nennen; es geht um eine Revitalisierung bzw. eine Refokussierung auf jene Anliegen, die schon 1978 in Alma Ata diskutiert und seither in immer neuen Anläufen spezifiziert worden sind (z.B. in der Ottawa Charta 1986). Einmal mehr steht die Umsetzung einer Gesundheitsversorgung im Fokus, die nicht erst bei medizinischen Einrichtungen beginnt, sondern bei den Bedingungen von Gesundheit (s.o.). Für diesen Auf-

103 Ed Roberts, zit. nach medium.com [16.04.2018]. 104 Erwähnenswert erscheint, dass diese Institutionalisierung den Rahmen einer »bloßen« sozialen Bewegung übersteigt; denn es wurde schon darauf hingewiesen, dass soziale Bewegungen dadurch definiert sind, eben nur ein beschränktes Ausmaß an Struktur aufzuweisen und sich nicht zuletzt dadurch von Institutionen zu unterscheiden. 105 Vgl. Kapilashrami et al. (2016), 414.

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satz stellt das People’s Health Movement aus folgenden Gründen ein sprechendes Beispiel für die Rolle sozialer Bewegungen im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit dar: Erstens handelt es sich um eine soziale Bewegung par excellence – es ist eine relativ organisierte, aber nicht durchorganisierte Bewegung von betroffenen Menschen, die sich auf internationaler Ebene etabliert hat. Zweitens ist das Anliegen eines, das immer wieder aufs Neue verhandelt werden muss. Der Prozesscharakter der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit wird damit einmal mehr deutlich; der, oberflächlich betrachtet, alten Forderung nach Partizipation und gerechter Ressourcenverteilung wird im zeitgenössischen Kontext neu Ausdruck verliehen. Drittens wird durch diese Bewegung versucht, Anliegen und Vulnerabilitäten sichtbar und anerkennbar zu machen. Es geht weniger um die Forderung von kleinteiligen Maßnahmen als um die grundlegende Haltung, die sich in politischen Entscheidungen und sozialen Strukturen manifestieren soll. 106

6. C ONCLUSIO Das Recht auf Gesundheit betrifft das Gesundheitssystem mit seinen Einrichtungen, die Verteilung der darin zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch die Grundbedingungen von Gesundheit (sauberes Wasser, Nahrung, adäquate Unterkünfte, Sanitäranlagen, hinreichende Information usw.). Dabei scheint es aber so zu sein, dass die Umsetzung dieses Rechts besondere Formen der Bedürftigkeit und Vulnerabilität berücksichtigen muss, um den darin enthaltenen Forderungen gerecht zu werden; sehr oft muss es – durch Empowerment und das Engagement sozialer Bewegungen – um die grundsätzliche Sichtbarkeit und Anerkennbarkeit (vgl. Butlers Begriff der recognizability) dieser Vulnerabilität(en) gehen, um die gesellschaftliche Solidarität zu konstituieren, die es braucht – denn eine bloß staatliche Verantwortung würde dem Recht auf Gesundheit nicht genüge tun können. Diese Solidarität betrifft nicht nur besondere Aufwendungen, etwa für Kinder, behinderte Menschen oder MigrantInnen, sondern auch die Konstitution bzw. Aufrechterhaltung einer Autonomie, die dann als relationale

106 Vgl. auch ebd.

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Autonomie nicht weniger Achtung verdient als eine »reine Autonomie« (die ohnehin ein Phantasma darstellt). 107 Insofern ist das Empowerment der betreffenden sozialen Gruppen Teil der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit; dies wurde mit Nussbaums Capability Approach verdeutlicht. Zu erwähnen bleibt jedoch, dass eine solche Anerkennbarkeit immer im Prozess bleibt und keinen fixen Erwerb darstellt. Dies bedeutet einerseits, dass sie immer wieder aufs Neue gestiftet werden muss (vgl. das People’s Health Movement, das »jahrzehntealte« Forderungen neu aufgreift) bzw. durch die UNO (etwa mittels Special Rapporteur) 108 überprüft und überwacht werden muss. Andererseits ist es jederzeit möglich, dass Empowerment und soziale Bewegungen die Möglichkeit schaffen, neue Vulnerabilitäten anzuerkennen und die entsprechende Solidarität zu erzeugen. Insofern bleibt die Anerkennung von Vulnerabilität als strukturelle Umsetzung des Rechts auf Gesundheit immer »im Kommen«.

L ITERATUR Ackermann, K.-E./Dederich, M. (Hg.) (2011): An Stelle des Anderen. Ein interdisziplinärer Diskurs über Stellvertretung und Behinderung, Oberhausen: Athena. Beauchamp, T. L./Childress, J. F. (2001): Principles of Biomedical Ethics, Oxford: Oxford University Press. Bielefeldt, H. (2016): »Der Menschenrechtsansatz im Gesundheitswesen. Einige Grundsatzüberlegungen«, in: Frewer/Bielefeldt (2016), 19–56. Bielefeldt, H. (2017): »Menschenwürde und Autonomie am Lebensende. Perspektiven der internationalen Menschenrechte«, in: Welsh et al. (2017), 45–66. Boorse, C. (1977): »Health as a Theoretical Concept«, in: Philosophy of Science 44 (1977), 542–573.

107 Norbert Herrigers Kritik am heroischen Subjekt, das seine eigene Abhängigkeit und Einbettung in einen sozialen Kontext verleugnet, kann hier als Hintergrund für eine Kritik gelten, die die binäre Opposition von Autonomie und Angewiesenheit bzw. Passivität dekonstruiert; vgl. auch Butler (2009). 108 Vgl. UNO (2008), 31–32.

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Ethische Probleme im Gesundheitswesen und Konzepte von Vulnerabilität Chancen für ein menschenrechtliches Empowerment? L UTZ B ERGEMANN

1. E INLEITUNG Ethische Fragen im Gesundheitswesen werden immer differenzierter wahrgenommen. Zunehmend wird deutlich, dass in der ärztlichen und pflegerischen Versorgungspraxis aufgrund der Tendenzen zu Ökonomisierung und Technisierung erweiterte ethische Perspektiven auf die gängigen Ansätze der Klinischen Ethik notwendig werden. 1 Diesem Desiderat kann sinnvoll dadurch entsprochen werden, dass man zugleich auf ein immer noch bestehendes »Wissens- und Wahrnehmungsdefizit« 2 reagiert, das umso beklagenswerter ist, da es ein zentrales normatives Moment der Versorgungspraxis betrifft – die Geltung der Menschenrechte in diesem Bereich. 3 Um allerdings derart das Gesundheitswesen als »Erfahrungsraum« für die Menschenrechte tiefgreifender als bisher zu erschließen und den Geltungsanspruch der Menschenrechte im Gesundheitswesen nachdrücklich einzufordern, 4 bedarf es einer Eigenschaft der conditio humana, die gleich1

Vgl. u.a. Deutscher Ethikrat (2016), 77–81, besonders 81 sowie Maio (2017),

2

Bielefeldt (2016), 20.

152–153, 185–189 und 478–497. 3

Zur Bedeutung des »Menschenrechtsansatzes im Gesundheitswesen« insgesamt siehe das Kapitel »Klärungsbedarf« in Bielefeldt (2016).

4

Vgl. Bielefeldt (2016), 19.

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sam das Aufgabenfeld und die Bezugssphäre menschenrechtlichen Wirkens in der Praxis der Gesundheitsversorgung ausmacht und auf die daher zunächst der Blick zu richten ist als anthropologische Legitimation und Begründung der Anwendung des Menschenrechtsansatzes im Gesundheitswesen. Diese Eigenschaft ist die inhärente Vulnerabilität des Menschen. Im Folgenden sollen daher, aufbauend auf dem universalen Fundament menschlicher Vulnerabilität, die darin dem Universalismus der Menschenrechte korrespondiert, zunächst eine menschenrechtlich orientierte Anthropologie skizziert und deren normative Implikationen exemplarisch konkretisiert werden. Dabei wird das (neu-)phänomenologische Konzept des Leibes und der Leiblichkeit als unhintergehbare Grundvoraussetzung menschlicher Vulnerabilität und gesellschaftlicher Praxis in den Blick kommen. In Bezug auf dieVulnerabilität des Menschen und ihre leibliche Konturierung wird zugleich die Menschenwürde, die das universalistische Fundament der Menschenrechte bildet, 5 in der Form des »Würdeempfindens/-verspürens« (sense of dignity) ausgearbeitet. 6 Aus dieser anthropologischen Basis lässt sich im Anschluss die Bedeutung der Würdeempfindung, des sense of dignity in ihren unterschiedlichen Facetten mit einem exemplarischen Bezug auf das Menschenrecht auf Gesundheit und dessen normative Aspekte entwickeln. So kann zum Abschluss eine Formulierung der Grundform ethischer Probleme im Gesundheitswesen versucht und entlang einer careethischen Praxis der Achtsamkeit eine exemplarische Lösung für sie vorgestellt werden, die den Ansprüchen der freigelegten Grundform dieser Probleme genügen könnte. Auf diese Weise wird die normative Bedeutung der Menschenrechte für die lebensweltlichen Zusammenhänge kranker Personen in ihren Beziehun-

5

Zum Abhängigkeitskeitsverhältnis zwischen Würde und dem »normativen Universalismus« der Menschenrechte sowie dessen Realisierungsbedingung, der »Anerkennung (recognition) der Würde«, siehe Bielefeldt (2016), 24–31, besonders 28–29. Es ist gerade diese Verbindung von Würdeempfindung und Anerkennung, die den Begriff der Menschenwürde und mit ihm die Menschenrechte zu einem Instrument der Analyse werden lässt, das in seinem Potenzial zur »Kritik an konkreten empirischen Sozialverhältnissen […], die der Menschenwürde womöglich eben nicht gerecht werden«, mit dem hermeneutischen Potenzial der leiblich perspektivierten Vulnerabilität konvergiert.

6

Zum »sense of dignity« siehe ebd., 29–31.

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gen zur pflegerischen und ärztlichen Praxis mit »Leben gefüllt« und konkretisiert. 7 D.h. an einem Beispiel soll gezeigt werden, was eine vulnerabilitätssensible Versorgunspraxis umfassen muss, wenn das Menschenrecht auf Gesundheit in der Versorgunspraxis tatsächlich handlungsleitend wäre. So sollen Möglichkeiten und Reichweite des Menschenrechts auf Gesundheit ausgelotet und abgesteckt werden, das auf ein leibphänomenologisch fundiertes und situativ differenziertes Konzept der Vulnerabilität bezogen ist. Dieses Vulnerabilitätskonzept rückt nämlich konkret und vielschichtig entsprechende gesellschaftliche Strukturen bzw. deren Fehlen in den Blick, durch die bestimmte Personengruppen in ihren menschenrechtlich verbürgten Ansprüchen vielfältig beschnitten werden – u.a. aufgrund von Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitsdefiziten sowie wegen des Missbrauchs von Machtasymmetrien, Ungerechtigkeiten und Abhängigkeitsverhältnissen. Da in diesem Beitrag der Umgang mit Vulnerabilität im Gesundheitswesen vermittels des sense of dignity menschenrechtlich ausgerichtet wird, eröffnet eine derartige Analyse Möglichkeiten, die aufgedeckten Probleme fundierten Lösungsansätzen im Sinne eines politisch-rechtlichen Empowerments zuzuführen. Menschenrechtliches Empowerment dient in diesem Kontext dazu, kritikwürdige Aspekte asymmetrischer Beziehungen innerhalb der medizinischen Versorgungsstrukturen sukzessive abzubauen und zu überwinden, ohne dabei die Verwiesenheit der Menschen auf und ihre Abhängigkeit von Beziehungen zu leugnen. Vielmehr werden diese als gemeinsame Situationen konzipiert und explizit mitberücksichtigt. Denn auch die dem normativen Profil der Menschenrechte eingeschriebene Autonomie, die ihrerseits eng verwoben ist mit dem Respekt und der Anerkennung der Würde des Menschen, lässt sich sinnvoll nur als relationale Autonomie denken und eben in entsprechend strukturierten gemeinsamen persönlichen Situationen innerhalb umfassenderer Beziehungsnetze realisieren. 8

7

Grundlegend für eine derartige Konkretisierung bleibt selbstverständlich die sog. »Allgemeine Bemerkung Nr. 14: Das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit (Artikel 12)« des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; siehe deren deutsche Übersetzung in Frewer/Bielefeldt (2016), 241– 275 sowie erläuternd speziell Krennerich (2016).

8

Zur relationalen Autonomie siehe u.a. Bielefeldt (2017), 56–59, sowie Anderson (2014), 134–161 und Dingler (2016), 93–113 zur relationalen Subjektivität.

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Derart lässt sich den negativen Folgen der überbordenden Ökonomisierung und Technisierung im Gesundheitswesen sinnvoll begegnen, Probleme lassen sich klar benennen und die vulnerable kranke Person mit ihren Bedarfen und Bedürfnissen wird wieder in den Mittelpunkt der Versorgungspraxis gerückt.

2. ANTHROPOLOGISCHE G RUNDLAGEN DES SENSE OF D IGNITY UND DER E THIK IM G ESUNDHEITS WESEN : V ULNERABILITÄT UND L EIBLICHKEIT Vulnerabilität – Verletzbarkeit – bildet ein Definitionsmerkmal der conditio humana, ohne das weder die Menschenrechte, die in ihrem wesentlichen Kern vor einem Missbrauch in vulnerablen Situationen schützen und so Würdeverletzungen vermeiden helfen sollen, noch die Humanmedizin oder pflegende und assistierende Tätigkeiten überhaupt denkbar sind. Grundsätzlich kann man mit Matthews/Tobin (2016) unter Vulnerabilität die Abhängigkeit von und das Angewiesen-Sein des Menschen auf andere verstehen, die zugleich als »Offenheit« u.a. gegenüber gesellschaftlichen Begebenheiten konzipiert werden können. 9 Jeder Mensch ist wesentlich empfänglich dafür, »von Anderen und Anderem affiziert zu werden«. 10 Dieses affizierbare Ausgesetzt-Sein gründet nach Pistrol seinerseits direkt in der »Körperlichkeit« des Menschen: »Nicht gibt es eine anfängliche körperliche Integrität, sondern, ganz im Gegenteil, Körperlichkeit manifestiert und ereignet sich erst als und in der Vulnerabilität. Erst in der Offenheit für und im und durch den Angang von Anderen und Anderem konstituiert sich – responsiv – Korporalität, und zwar auf je singuläre Weise.« 11

9

Siehe Matthews/Tobin (2016), 1 und 3 sowie, in einem Rekurs auf Butler, Pistrol (2016), 239–240: »Offensein« als »Bedingung für das Erfahren von Schmerz und Leid«. Vgl. ebenfalls Turner (2006), 28–29.

10 Pistrol (2016), 239. 11 Ebd., 240.

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Aufgrund ihrer universellen Natur kann man in diesem Fall von »inhärenter« oder gar »ontologischer« Vulnerabilität sprechen, da sie allen Menschen zukommt, nur eben nicht in gleicher Intensität oder Ausprägung. 12 Ursache und weiter ausgreifende Ausprägungen dieser inhärenten Vulnerabilität lassen sich also als deren proprium auf die Leiblichkeit des Menschen zurückführen (Pistrol spricht, wie gezeigt, diesbezüglich von »responsiver Korporalität«). Ein skizzenartiges Ausbuchstabieren der Vulnerabilität im Rahmen einer leibphänomenologischen Explikation erhellt allerdings nicht nur weitergehend die anthropologischen Voraussetzungen menschlicher Verletzbarkeit, sondern kann zudem dazu beitragen, die Tiefe und den Umfang ihrer normativen Implikationen sichtbar zu machen, und einen konkretisierenden, praxisrelevanten Bezug zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten herstellen. Der Leib eines Menschen ist dessen absoluter Ort jeder Wahrnehmung und dessen unhintergehbares Wahrnehmungsorgan; er ist dessen grundlegende »Struktur des gespürten Daseins und des Lebendigseins« in der Welt. 13 Der Leib ist der Ort, an dem uns etwas widerfährt, dergestalt, dass der Mensch in seiner personalen Situation seiner Umwelt nicht getrennt gegenüber steht, sondern leibliches Empfinden und Umwelt »einander durchdringen«. 14 Durch den Leib als offene Struktur wirken also anderes und andere auf uns und unser Em- und Befinden ein. Menschliche Subjektivität stellt sich derart bereits auf präpersonaler Ebene durch leiblichaffektives Betroffensein ein. Wie Gugutzer ausführt,

12 Zur entsprechenden Nomenklatur siehe Mackenzie et al. (2014), 7–9: »Inherent vulnerability refers to the sources of vulnerability that are intrinsic to the human condition. These vulnerabilities arise from our corporeality, our neediness, our dependence on others, and our affective and social natures. We are all inherently vulnerable to hunger, thirst, sleep deprivation, physical harm, emotional hostility, social isolation, and so forth. Some of these vulnerabilities are constant […] Others vary depending on a range of factors, such as age, gender, health status, and disability […] Inherent vulnerability also varies depending on a person’s resilience and capacity to cope. […] We note that ultimately all vulnerability is experienced in the body, whether its source is inherent or situational.« 13 Uzarewicz/Moers (2012), 105. 14 Uzarewicz/Uzarewicz (2005), 117 und 178.

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»[verweist] affektives Betroffensein [dabei immer] auf etwas oder jemand Anderen […] Leiblichkeit in dem pathischen Sinne des affektiven Betroffenseins ist eine relationale Kategorie, in der das Eigene (Leib) mit dem Anderen (fremde, auch nichtmenschliche Körper, ebenso Immaterielles) verbunden ist.« 15

Oder, wie es bei Uzarewicz heißt: »Leiblichkeit ist Kommunikation,« 16 die eben aus der grundständigen Relationalität affektiven Betroffenseins hervorgeht. Über diese sogenannte »leibliche Kommunikation« bilden sich größere, situative Zusammenhänge – gemeinsame Situationen – aus, in die die einzelnen Leiber integriert sind. Mit und in diesen gemeinsamen Situationen beeinflussen und verflechten sich individuelle persönliche Situationen wechselseitig mit einander. 17 In ihnen sind auf hoch-labile Weise alle Aspekte der leiblich konstituierten persönlichen Situationen mit ihrer Umwelt verschränkt und deren Bedingungen und Einwirkungen ausgesetzt. Damit rücken auch der Raum und die Atmosphären dieser Umwelt in das Blickfeld. Auch diese werden nämlich immer zugleich als Lebenswelt erfahren und erlebt und wirken auf die leiblichen Befindlichkeiten einer Person ein. 18 Aufgrund dieser Wirkungen werden sie zu potenziell normativ relevanten Kategorien und verleihen dem Vulnerabilitätskonzept zusätzliche, ethisch relevante Dimensionen, denen menschenrechtliche Verpflichtungen ebenfalls genügen sollten, um einen Missbrauch von Vulnerabilität zu verhindern. Der menschenrechtlich relevante sense of dignity 19 entwickelt sich nämlich nur in derartig dynamisch in übergreifende Zusammenhänge eingebundenen persönlichen Situationen und Beziehungen im Sinne eines leiblichen Empfindens und bereits auf elementarer Ebene als vielfäl-

15 Gugutzer (2017), 150. 16 Uzarewicz/Uzarewicz (2005), 145; siehe auch ebd.: »Von leiblicher Kommunikation im Allgemeinen will ich immer dann sprechen, wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblich spürbaren Weise so betroffen und heimgesucht wird, daß er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindestens in Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu richten und sich davon für sein Befinden und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben läßt.« Uzarewicz zitiert hier ihrerseits Hermann Schmitz. 17 Vgl. Uzarewicz/Uzarewicz (2005), 149. 18 Siehe Gugutzer (2017), 150. 19 Bielefeldt (2016), 29–30.

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tig situationsabhängiges affektives Betroffensein: Der sense of dignity wird immer am eigenen Leib gespürt und erlebt, er ist eine Form eigenleiblicher Empfindung. Damit sind zum einen die anthropologischen Grundbedingungen des Angewiesen-Seins und der fundamentalen Abhängigkeit des Menschen skizziert, die ihrerseits die inhärente Vulnerabilität des Menschen ausmachen. Da inhärente Vulnerabilität wesentlich nichts anderes ist als ein spezifischer Modus affektiven Betroffenseins einer offenen Leiblichkeit, weist sie zum anderen über das Individuum hinaus: Sie ist, wie das affektive Betroffensein, immer auch relational, d.h. beziehungs- und damit situations- oder kontextabhängig. Dieser leibphänomenologischen Tatsache wird das Vulnerabilitätskonzept dadurch gerecht, dass es neben der inhärenten die situative Vulnerabilität berücksichtigt. Damit wird eine maßgebliche Kategorie in’s Spiel gebracht, die für das Verständnis und die ethische Relevanz einer im Sinne des sense of dignity aufzufassenden Würde wesentlich ist – die des Kontextes, d.h. der gemeinsamen Situation: »A second source of vulnerability is situational, by which we mean vulnerability that is context specific. This may be caused or exacerbated by the personal, social, political, economic, or environmental situations of individuals or social groups.« 20

Auf der Basis der vorgestellten Anthropologie der Leiblichkeit kommt nämlich »Würde« primär zunächst als empfundene, als gespürte Würde der einzelnen Person in ihrer je persönlichen Situation in Form positiver leiblicher Betroffenheit in Betracht. Die individuelle Situation ist wiederum ebenso komplex wie labil in ihrer Konstitution von den sie einbettenden und mit ihr interagierenden gemeinsamen Situationen abhängig. Daher kommt der Beachtung situativer Vulnerabilitäten, die konkret diejenigen

20 Mackenzie et al. (2014), 7–8; siehe ebd. auch die Rückführung der Vulnerabilität auf die universelle Leiblichkeit des Menschen: »These two sources of vulnerability [i.e. inherent and situational], are not categorically different. […] We note, that ultimately all vulnerability is experienced in the body, whether its source is inherent or situational. Thus, our taxonomy acknowledges the universal nature of corporeal vulnerability, stressed by Butler (2004, 2009) and Turner (2006): it is because we are beings of flesh and blood that we experience vulnerabilities in the ways that we do.«

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Faktoren gemeinsamer Situationen bezeichnen, die das positive individuelle leibliche Betroffensein beeinträchtigen oder gar verhindern können, eine ebenfalls sehr wichtige Rolle zu, 21 wenn es darum zu tun ist, die Würde des Menschen in ihrer universalen und umfassenden Geltung zu wahren: 22 Die »Entwicklung [dieser Würdeempfindung, dieses Spürens von Würde] hängt nämlich wesentlich von den konkreten, empirischen [ – d.h. lebensweltlichleiblichen – ] Lebensumständen eines Menschen ab«, wie auch Bielefeldt (2016) hervorhebt. 23 Dieses leiblich-situative Würdeverständnis lässt die komplexe leibliche Dimension und Reichweite der Menschenrechte und der mit ihnen verbundenen ethischen Verpflichtungen klar erkennen. Der leiblichen Komplexität menschlichen Daseins werden die Menschenrechte durch den Grundsatz ihrer Unteilbarkeit gerecht, der garantieren soll, das für alle Menschen die jeweils individuell notwendigen sozialen

21 Vgl. Huth (2016), 288–289. Huth (ebd.) zitiert in diesem Zusammenhang u.a. Hermann Schmitz: »›Menschen (wie auch Tiere) leben, indem sie aus Situationen schöpfen.‹ […] Diese Situiertheit und Bezogenheit schließt Sozialität mit ein; als leibliche Wesen sind wir Beziehungswesen und auch und gerade in dieser Bezogenheit verwundbar« sowie ebd., 298: Die »Singularität von Bedürfnis und Leiden […] betrifft nicht den nur sichtbaren Körper innerhalb seiner Hautgrenzen, sondern das leibliche Selbst in seiner Bezogenheit auf sich, seine Situiertheit und seine Beziehungen zu Anderen.« Vgl. auch Brenner (2006), 239: »Würde [kann] grundgelegt werden als Weise unangetasteten [leiblichen] Beisich-Seins.« 22 Da diese Würdekonzeption ausdrücklich auch das präpersonale affektive Betroffensein des Menschen umfasst, umgeht sie das Problem der Bestimmung einer Personalität als Voraussetzung für die Anerkennung und Zuschreibung einer dann allerdings nur vermeintlich universalen Menschenwürde. Dazu siehe Huth (2016), 298–300. Vgl. auch Bielefeldt (2017), 49-52 zur Würde als unbedingtem Grund der Menschenrechte. 23 Bielefeldt (2016), 29. Ebd., 30 weist Bielefeldt entsprechend auf das sich daraus ergebende sozialkritische Potenzial des sense of dignity hin. Siehe ebenfalls Pistrol (2016), 242–245.

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Umwelten zu schaffen sind, die ein möglichst positives individuelles leibliches Befinden ermöglichen können: 24 »Mit dem Begriff ›sense of dignity‹ schlägt die Behindertenrechtskonvention eine Brücke zwischen dem Bekenntnis zur Menschenwürde als axiomatischem Prinzip einerseits und der konkreten Lebenswelt der Menschen andererseits, die so gestaltet sein muss, dass diese tatsächlich die Möglichkeit haben, ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde und der Würde anderer entwickeln zu können.« 25

3. P ROBLEME U RSACHEN

IM G ESUNDHEITSWESEN : UND AUSPRÄGUNG

Überaus prekär bleibt jedoch die zentrale Voraussetzung für die Wirksamkeit der Menschenrechte in jedem Feld gesellschaftlicher Praxis: deren Anerkennung, 26 die entsprechend ihrer Bedeutung bereits in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 geltend gemacht wird. Die Prekarität der Anerkennung der Menschenrechte lässt sich wiederum zurückführen auf die ebenfalls prekäre Anerkennung bzw. die unzureichende Achtsamkeit gegenüber der menschlichen Vulnerabilität in ihren spezifischen Ausprägungen und leiblichen Dimensionen bzw. gegenüber deren Appell- und Aufforderungscharakter, etwas gegen menschliches Leiden zu tun bzw. tun zu sollen. 27 Hier

24 Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte siehe Bielefeldt (2016), 23: »Die Menschenrechte bilden einen komplexen normativen Gesamtzusammenhang, in dem die einzelnen Rechte einander wechselseitig voraussetzen und bedingen.« 25 Bielefeldt (2016), 30. 26 Zum prekären Status der Menschenrechte siehe z.B. Turner (2006), 1–6. 27 Dazu vgl. Pistrol (2016), 245: »Denn gerade darin, dass nicht jedes Leben in seiner Abhängigkeit von Anderen und Anderem, in seinem Gefährdetsein und seiner Bedürftigkeit gleich oder überhaupt vernommen wird, wird angezeigt, dass, um mit Butler zu sprechen, ›vulnerability is fundamentally dependent on […] recognition‹«, vgl. Butler (2006), 43. Eine Beschäftigung mit Butlers Nachdenken über Vulnerabilität muss sich also ebenso mit den Strukturen und Voraussetzungen auseinandersetzen, die vulnerabilitätsspezifische Anerkennung

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ist ihrerseits eine wesentliche Ursache dafür zu sehen, dass es gerade in Bezug auf Diversität im Gesundheitswesen zunehmend zu teils gravierenden Problemen kommt, aufgrund derer grundlegende ethische Werte, wie z.B. die Würde oder die Selbstbestimmung der betroffenen Personen, aber auch die Prinzipien der Fürsorge und des Nichtschadens verletzt oder missachtet werden. So bleiben z.B. in der Versorgung und adäquaten Begleitung von Kindern, hochaltrigen Patient*innen, Menschen mit Demenz oder Migrationshintergrund sowie Geflüchteten und Menschen ohne Aufenthaltsstatus, die alle je spezifischen, situativen Vulnerabilitäten in einem hohen Maße ausgesetzt sein können, immer wieder die mit den spezifischen persönlichen Situationen der einzelnen kranken Person verbundenen Bedürfnisse unberücksichtigt. 28 Gerechtigkeitstheoretisch lässt sich davon sprechen, dass bei allen diesen Personengruppen deren besondere »lebensweltliche Dimensionen [ihrer] pluralen und komplexen Identitäten« nicht adäquat berücksichtigt werden, die sowohl einzeln für sich genommen, aber auch kombiniert ein z.T. erhöhtes Risiko bedeuten, diskriminiert und ausgenutzt zu werden. 29 Die Versorgung dieser Patient*innengruppen und noch vielmehr der ihnen zugehörigen, individuellen kranken Personen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen bleibt in besonderem Maße in den Feldern eines reflexiven Managements, des Abbaus von Barrieren, der personenzentrierten Interaktion, der Partizipation und der Interessenvertretung

(»recognition«) fördern können und damit auch mit der Bedeutung von Situationsbedingungen für den sense of dignity. 28 Vgl. dazu Deutscher Ethikrat (2016), 94–114 für einen ersten, kritischen Überblick. Zur diesbezüglichen Lage von »Kindern ohne Papiere« in Deutschland siehe zusätzlich Bornschlegl (2016); zur Situation von Personen mit Demenz vgl. u.a. Riedel (2015), 49: »Das klinische Setting ist bislang nur unzureichend auf die besonderen pflegebezogenen Anforderungen, die betreuungsintensive Begleitung und die symptomspezifischen Bedürfnisse der Betroffenen vorbereitet. So fehlt es bislang flächendeckend an Konzepten und Strukturen für diese vulnerable Zielgruppe.« 29 Zu »lebensweltlichen Dimensionen« siehe Domenig/Cattacin (2015), 40–52. Sie können mit zentralen Zügen persönlicher Situationen – besonders mit Problemem – gleichgesetzt werden.

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hinter ethischen und menschenrechtlichen Standards zurück. 30 Giese (2014) weist z.B. auf folgende, hochproblematische Situation hin, die die Beschaffenheit der gravierenden Probleme im Gesundheitswesen aus einer menschenrechtlich gefärbten Vulnerabilitätsperspektive treffend charakterisiert und zusammenfasst: Kritisch setzt sie sich mit Arbeitsbedingungen im Krankenhaus auseinander, die z.B. dazu führen, dass »gerade ältere und gebrechliche Patienten ohne erkennbare Rücksicht auf ihr Selbstbestimmungsrecht zur Diagnostik oder zu Operationen vorbereitet oder begleitet werden sollen«. 31 In der Versorgungspraxis kollidiere nämlich die »Systemrationalität in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen« mit der Ausrichtung der pflegerischen – und so darf man sicherlich ergänzen: der ärztlichen – Tätigkeiten am Wohl des Patienten, sodass patientenorientiertes, und das ist eben leiblich-lebensweltlich orientiertes, umfassendes Handeln für die Betroffenen, das in einer gemeinsamen Situation ausgeübt wird, unmöglich gemacht wird. 32 Es entsteht eine »constraint environment unconducive to

30 Siehe ebd., 151–187. Diese fünf Felder – Domenig/Cattacin sprechen von »Orientierungen« – bilden »unverzichtbare Pfeiler einer Umsetzung der gerechten Gesundheit in einer Gesundheitsorganisation« (ebd., 152). »Gerecht« ist hier, durchaus mit lebensweltlicher Emphase, in einem umfassenden Sinne als wesentliches Moment selbstbestimmungsermöglichender Sorge zu verstehen, die zugleich menschenrechtlich geboten ist und wirksam dazu beitragen kann, bestehende Vulnerabilitäten aufgrund von Missbrauch, Missachtung, Diskriminierung oder Ausnutzung abzumildern bzw. zu kompensieren: »Die selbstbestimmungsermöglichende Sorge hat die Respektierung und Achtung des Patienten als Person mit eigenen Vorstellungen, Wünschen, Interessen, einer eigenen Geschichte und mit eigenen Rechten zum Ausgangspunkt und schließt an das Adhärenz-Konzept und das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung in der Arzt-Patient- bzw. Pflegende-Patient- und Therapeut-Patient-Beziehung an. […] Gerechtigkeit im Sinne von gleichem Zugang zu Krankenhausleistungen und ihrer gerechten Verteilung umfasst [dabei] sowohl das Gebot der statusindifferenten Gleichbehandlung (equality) als auch das Gebot des fairen und jeweils individuell angemessenen Einsatzes von Ressourcen (equity).« Deutscher Ethikrat (2016), 133. 31 Giese (2014), 566. 32 Ebd., 571.

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the realization of professional values«, 33 in der gerade leibbezogene Kompetenzen und Fähigkeiten keinen Platz haben und keine Berücksichtigung finden. 34 Wie bedeutend diese leibbezogenen Kompetenzen und Aspekte hingegen gerade für einen würde- und selbstbestimmungsermöglichenden Umgang mit besonders vulnerablen Personen sind, soll im Folgenden veranschaulicht werden. Als Beispiel dient die Beschreibung der Situation bettlägeriger Patient*innen in der Sterbephase, unter Bezug auf die leibphänomenologischen Ausführungen von Uzarewicz zu Bettruhe und Bettlägerigkeit und die Bedeutung dieser Differenzierung für einen adäquaten Umgang mit den als »abgründig« 35 charakterisierten Gefühlen der Angst, Wut und Trauer als »Atmosphären im Raum«: »Der einzige Schutz vor derart Abgründigem ist die Umfriedung des Wohnens.« 36 Für eine bettlägerige, sterbende Person ist diese »Umfriedung« ihr Bett, das zumindest ursprünglich »ein besonderer Gefühlsraum [ist bzw. war], ein Aufenthaltsort, in dem wir wohnen. […] Im Bett kommt der Mensch im tiefsten Sinne zur Ruhe. [… Es ist] der umschließende Raum, der Geborgenheit gibt. […] Das Bett gibt unerschütterlichen Halt.« 37

Allerdings ist gerade in Kliniken und Pflegeeinrichtungen der Status des Bettes als positiver Gefühlsraum überaus prekär: Das Bett wird gleichzeitig

33 Ebd., 573. 34 Ebd.: »Die spezifische Expertise, die sich aus dem geschulten Umgang mit dieser leiblichen Nähe zum Patienten ergibt, wird weder im interprofessionellen Kontext noch von der Gesellschaft oder der Berufsgruppe selbst adäquat gewürdigt.« 35 Siehe Uzarewicz (2014), 220: »Die in der gemeinsamen Situation gebundenen Gefühle werden frei. Derart heimatlose Gefühle, die ehemals für alle Beteiligten einen festen Platz hatten, irritieren oder verwirren die Menschen, sie können sich zu ihnen nicht mehr verhalten. Wohin soll ich mit meiner Wut, meiner Trauer? Diese heimatlosen Gefühle ›beirren den Menschen als abgründig, ergreifende Erregungen, die er nicht unterbringen kann.‹« 36 Ebd. 37 Ebd., 211–212.

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zum »Arbeitsplatz des Pflegepersonals«, während es auf seiten der bettlägerigen Person zu einer zunehmenden Ortsfixierung kommt, wobei die Gestaltung des Raumes auf die Qualität dieser leiblich relevanten Veränderungen einen gewissen Einfluss hat. 38 Das zunächst positive »Niederlegen« kann sich zur beständig empfundenen »Niederlage« wandeln, »wenn man sich selbst nicht mehr aufrichten kann […]«. 39 Wichtig ist nun, dass dieses Erleben für die kranken und sterbenden Personen häufig mit einer negativen Empfindung leiblicher Enge verbunden ist, die Angst macht und dazu führt, dass sich das anfängliche »Gefühl des wohligen Geborgenseins […] nun in sein krasses Gegenteil [ver-]kehrt.« 40 Diese Verkehrung leiblicher Befindlichkeit kann zu Situationen von Unruhe, Agitation etc. führen, denen dann wiederum in der »Systemrationalität« der Klinik mit Maßnahmen begegnet wird, die zu entwürdigender Behandlung, z.B. zu Fixierung, führen können. Und zwar dann, wenn auf diese Befindlichkeit nicht mit der erwartbaren und ethisch geforderten leiblichen Kompetenz und Achtsamkeit geantwortet wird. Angemessene Maßnahmen wären, neben einer umfassenden palliativen Begleitung, solche der individuell angepassten Kinästhetik und/oder Basalen Stimulation, 41 um das Bett als Ort des Geborgenseins zu reetablieren. Zugleich gilt es zumindest in diesen Fällen, auch für ›Krankenzimmer‹ im möglichen Umfang eine adäquate »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum«, eine Wohnatmosphäre zu schaffen, die zum Wohlbefinden unabdinglich ist, 42 z.B. durch Vermeidung oder Verringerung grellen Lichtes, schriller Töne, krasser Farben oder des häufigen Umstellens bzw. Verrückens von Einrichtugsgegenständen etc. 43

38 Ebd., 210 und 213. 39 Ebd., 213–214. 40 Ebd., 215. 41 Vgl. Uzarewicz/Uzarewicz (2005), 170–176. 42 Ebd., 167. Vgl. auch die Ausführungen von Musalek (2011), 25–65 zum Thema »Medizin und Gastfreundschaft«, die grundsätzlich folgendem Ziel verpflichtet sind: »[Der] Rückeroberung und Neuimplementierung des Ästhetischen in der Medizin. Das ist im Grunde auch eine Rückbesinnung auf die Welt, in der wir leben, und heißt vor allem die Beachtung der Lebenswelt unserer Patienten.«, ebd., 22. 43 Uzarewicz/Uzarewicz (2005), 167.

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Direkte, aus der eigenen, leibnahen Tätigkeit hervorgehende, fürsorgliche pflegerische Interventionen könnten zudem nach Uzarewicz in einer derartigen Situation über leibliche Kommunikation durch Blick, Stimme/Klang oder Berührung sowie Bewegung erfolgen, die »Weitung ermöglichen«, z.B. durch sanfte Berührung, beruhigendes Zureden oder einen »warmen«, ruhigen und mitfühlenden Blick, um so mit der kranken Person durch die sog. »Einleibung« 44 eine gemeinsame Situation herzustellen und ihr dadurch einen lindernden Ausweg aus der Enge zu ermöglichen. 45 Dies kann ebenfalls durch den Einsatz von »Musik als Therapeutikum« erreicht werden: 46 »Daher verwundert es auch nicht, dass Musik als Therapeutikum eingesetzt wird, wie z.B. Steinkohl von einer Palliativstation berichtet, wo eine Harfenistin den Patienten Musik vorspielt. Sie sprechen kaum miteinander und doch ›weiß‹ die Harfenistin, was sie spielen soll: ›Ich spüre, was sie an diesem Tag mögen.‹ ›Ton ist Schwingung […] das verändert den Raum‹; sie schafft Atmosphäre und greift somit in die leibliche Ökonomie der Patienten ein. Dabei hält sie während des Spiels permanent Blickkontakt mit den Patienten. Sie benutzt also die beiden Kanäle Blick und Stimme (bzw. Ton), um leiblich zu kommunizieren. Für den pflegerischen Bereich ist hier entscheidend, dass man mit Menschen kommunizieren kann, auch wenn sie auf der kognitiven Ebene nicht mehr ansprechbar sind. Zur Stimme gehört auch der Atem. Die phänomenale Wirkung des gemeinsamen Atmens ist sowohl in der Geburtshilfe, als auch allgemein im therapeutischen Kontext bekannt.«

Auf diese Weise wird »ein tieferes Niveau der Kommunikation« erreicht, »die sich auf […] Leiblichkeit stützt« und so dem sense of dignity auch jetzt noch genügt. Vorausgesetzt wird bei der Begründung der Wirksamkeit und Wichtigkeit dieser Interventionen als fürsorglichen und daher ethisch gebotenen

44 Ebd., 152: »›Einleibung bedeutet, dass Gegenstände [und andere Leiber], die nicht zum eigenen Leib gehören, in sein Befinden eingreifen.‹ Einleibung entsteht dadurch, dass eine oder mehrere Personen in ein ›sich bildendes übergreifendes leibliches Gefüge‹ eingebettet sind und zwar durch Bezug auf die Enge des Leibes.« 45 Ebd., 130 und 134. 46 Ebd., 151, dort auch das folgende Zitat.

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Interventionen, dass man über Bewegungen und Berührungen des Körpers, der das Medium des Leibes ist, 47 aber auch über Bewegungssuggestionen (wie z.B. den warmen Blick, die mitfühlende Stimme oder das atmosphärenschaffende Harfenspiel) einen »Zugang zur leiblichen Ebene der kranken Person bekommt, leibliche Kommunikation initiieren und damit die leibliche Ökonomie [ bzw. Befindlichkeit der kranken Person] beeinflussen kann«. 48 Vor diesem Hintergrund geht es daher nicht nur um gleichsam traditionelles, medizinisch orientiertes pflegerisches Handlungswissen – das selbstverständlich absolut notwendig bleibt –, sondern ebenso um Kompetenzen in leiblicher Kommunikation, die das Wissen um leibliche Regungen und ihre Bedeutungen in medizinischen Versorgungskontexten einschließen: Wer z.B. das herausfordernde Verhalten dementer Personen auf deren spezifische »leibliche Disarrangements« 49 zurückführen kann, z.B. auf ein Übergewicht an gespürter Enge bei Angst und Schmerz, das in einen »Impuls ›Weg!‹« mündet, kann diesem Impuls – unter den richtigen Bedingungen – eventuell anders begegnen als durch medikamentöse Intervention, 50 bauliche Einschränkung der Weglauftendenz oder bloße Missachtung. So kann auf einer ganz basalen Ebene, aber unter Beachtung der spezifischen persönlichen Situation der Betroffenen, bereits dem sense of dignity eben durch die persönliche, leibnahe Begegnung in leiblicher Kommunikation, die »Weite ermöglicht«, genügt werden. Da es den Menschenrechten, und auch dem Menschenrecht auf Gesundheit, fundamental darum zu tun ist, die Würde von Menschen besonders in vulnerablen Situationen zu schützen und zu wahren, werden alle, die sich bereits auf dieser Ebene bewusst und artikuliert für den sense of dignity der Betroffenen engagieren, zu Human Rights Defenders.

47 Ebd., 172. 48 Ebd. Hervorhebung L. B.. 49 Uzarewicz/Uzarewicz (2005), 173. 50 Zu diesem Missstand besonders in der klinischen Versorgung von Menschen mit Demenz siehe Deutscher Ethikrat (2016), 104 mit weiteren Literaturangaben.

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Letztendlich ist also, wie in Kapitel 4.1 weiter ausgeführt wird, die leiblich-ethische Kompetenz und Sensibilität 51 des an der Versorgung beteiligten Personals entscheidend, um adäquate Handlungen zu erkennen und zu erspüren, die das Würde-Verspüren und Wohlbefinden wahren, sowie mit der betroffenen Person in einer gemeinsamen Situation in den verschiedensten Formen der Kommunikation – auch der leiblichen Kommunikation – zu derem Wohl auszuhandeln. Kaum etwas davon ist im modernen Klinikbetrieb vorgesehen oder möglich, alles davon wäre und ist nötig, um dem Personal, das direkt mit der Betreuung und Pflege beauftragt ist, die Möglichkeit zu geben und es darin zu bestärken, seine Bedeutung als »Human Rights Defenders« wahrzunehmen. 52 Dieser eklatante Mangel und dieses grundsätzliche, gravierende menschenrechtliche Defizit sind die Ursache vieler ebenso fundamentaler Probleme im Gesundheitswesen im Umgang mit Diversität, die unter den momentan herrschenden, überaus kritischen Bedingungen allzu oft zur Folge haben, dass die zunächst nur potenziellen Risiken situativer Vulnerabilität für die Betroffenen tatsächlich akut werden. In dieser Situation können und sollten Betroffene – Personal und Patient*innen sowie deren An- und Zugehörige – gegenüber den Verantwortlichen u.a. ihr Menschenrecht auf ein Höchstmaß an Gesundheit zur Geltung bringen: Es schließt u.a. das Recht ein, nicht misshandelt zu werden, sowie den Anspruch darauf, dass »medizinische Einrichtungen und ärztliche Betreuung […] die medizinische Ethik achten und kulturell angemessen sein [müssen].« Was auch bedeutet, die »Besonderheiten« der jeweiligen persönlichen Situationen zu berücksichtigen, 53 in denen sich die Betroffenen befinden: in diesem Fall die besonderen, möglicherweise umfassenden Ansprüche, die das individuelle Sterben oder die Erkrankung mit Demenz an die Gestaltung räumlicher Atmosphären und an ärztliche wie pflegerische

51 Gemeint ist damit eine »komplexe Achtsamkeit […], die aufspürt, worum es gerade wirklich geht und nicht starr daran festhält, geplante Maßnahmen abzuarbeiten«, siehe Straubenmüller (2018), 50. 52 Zum medizinischen Personal als »Human Rights Defenders« siehe Bielefeldt (2016), 20. 53 Siehe dazu die deutsche Übersetzung der »Allgemeinen Bemerkung Nr. 14: Das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit (Artikel 12) in Frewer/Bielefeldt (2016), 244 und 248.

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Betreuung stellt. Diesen Ansprüchen korrespondieren auf staatlicher Seite die staatlichen Gewährleistungspflichten (obligations to fulfill), die den Staat dazu verpflichten, »über entsprechende Gesetze, Einrichtungen und Verfahren sowie über staatliche Leistungen in Form von Geld, Gütern oder Dienstleistungen die Voraussetzungen für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit zu schaffen«,

wobei diese Maßnahmen darauf abzuzielen haben, das Recht auf Gesundheit »fortschreitend und umfänglich [zu] verwirklichen«. 54

4. M ENSCHENRECHTLICHES E MPOWERMENT IN M EDIZIN UND G ESUNDHEITSVERSORGUNG Ein ethisch reflektierter Umgang mit den vielschichtigen Dimensionen leiblicher Vulnerabilität könnte also, wie an den Beispielen gezeigt werden sollte, eine nachhaltige Antwort auf die Probleme mit Diversität und Verletzbarkeit im Gesundheitswesen sein. Dieser Umgang bedarf einerseits einer leiblich informierten Achtsamkeit und entsprechender Kompetenzen. Andererseits sind – damit verschränkt – die Menschenrechte nötig als Instrumente, um entsprechende Rahmenbedingungen in der Versorgungspraxis zu schaffen, denn sie halten den Staat und staatliche Institutionen dazu an, die mit dem Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit einhergehenden Verpflichtungen praxisrelevant zu erfüllen. In diesem Kontext stellen die Menschenrechte damit zunächst aufgrund ihrer Unteilbarkeit einen Maßstab dar, anhand dessen beurteilt werden kann, welche Praxis den komplexen wie höchst unterschiedlichen leiblichen Vulnerabilitäten kranker Personen gerecht wird, – wenn sie adäquate Beachtung in der klinischen und altenpflegerischen Versorgung fänden. Ein menschenrechtliches Empowerment aller involvierten Betroffenengruppen – sowohl des medizinisch-pflegerischen Personals als auch der kranken Personen selbst und ihrer Angehörigen – 55 könnte dazu beitragen, die aktu-

54 Siehe Krennerich (2016), 78–82, Zitate auf 78 und 81. 55 Vgl. Aronson/Mahler (2016a), 11: »Die Verwirklichung der Menschenrechte erfordert neben der Gewährleistung einzelner Rechte – wie dem Recht auf [ein

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ell in diesem Bereich zu beobachtenden Probleme zu verringern. Ein derartiges »Befähigen« würde wesentlich implizieren, »Menschenrechte als Gestaltungsinstrument« 56 für eine gute, diversitätssensible Versorgung anzuerkennen und zu etablieren. Dies sollte unter der Zielsetzung erfolgen, kranke Personen dadurch ethisch angemessen als Fürsorgeobjekte zu behandeln, dass man sie ebenso und komplementär als (Menschen-)Rechtssubjekte in ihrem individuellen Personsein anerkennt und achtet. 57 Eine dem entsprechende, achtsame Versorgung und Begleitung bedeutet natürlich wesentlich mehr und umfasst komplexere sowie vielschichtigere Verpflichtungen als z.B. die gemeinhin akzpetierten Rechte von Patient*innen als bloße (Vertrags-)Partner*innen im Sinne des BGB und des Patientenrechtegesetzes, die in dieser Hinsicht viel zu kurz greifen und einem reduktionistischen Personenbild verpflichtet sind. 58 Dies lässt sich am Beispiel der Bedeutung des Arzt-Patientinnen-Gesprächs veranschaulichen. Charles M. Anderson und Martha Montello beschreiben in einem Fallbericht die tiefgreifende, positive Wirkung eines Gesprächs zwischen einem Medizinstudenten und einer Patientin, das sich in wechselseitiger Anerkennung zu einer intensiven, gemeinsamen Situation entwickelt, von der beide im Laufe der Behandlung profitieren: 59 »In ›Forty Acres of Cotton Waiting to Be Picked: Medical Students, Storytelling, and the Rhetoric of Healing‹ I (Anderson) explore the impact of narratives upon the formation of the physician. Near the end of the article, I introduce the story of Mrs. Green, ›a train wreck‹, who has been admitted to the hospital for numerous complaints of end-stage diabetes. The harried medical student who attempts to take her

Höchstmaß an] Gesundheit, Wasser und Sanitärversorgung, Nahrung oder dem Verbot einer Misshandlung oder Freiheitsentziehung – auch die Beachtung von Menschenrechtsprinzipien wie Nichtdiskriminierung, Teilhabe und Inklusion. Dabei geht es nicht nur um die Rechte der Gepflegten [und Versorgten], sondern auch um die Pflegenden [und das weitere medizinische Personal] […]«. 56 Aronson/Mahler (2016b) , 3 (Position Nr. 3). 57 Vgl. ebd., 4 sowie Mahler (2015), 7. 58 Zu entsprechenden Verkürzungen bei der Anwendung des Würdebegriffs und des Autonomieverständnisses bei der Versorgung Sterbender siehe z.B. Bielefeldt (2017), 46–52 sowie 56–59 zur relationalen Autonomie. 59 Anderson/Montello (2002), 91–92.

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history is appalled by the ›case‹ before him, until he accidentially opens a door onto the narrative of the patient’s life by casually remarking that ›she had undoubtedly seen a lot of cotton being raised in her lifetime. […] The symbolic invitation offered by the student’s comment produces remarkable results: ›The moans were immediately stiffled. I […] watched her expression change as her mind took her back to a time and place she had not visited in a very long while. Her facial expression softened, her breathing patterns became quieter, her limbs became still. She did not speak in the halting, grammatically impoverished style that had plagued me during my history and physical, but spoke in a flowing manner that is so characteristic of Southerners. […]‹ Over the course of his treatment of Mrs. Green, the student […] finds himself transformed by the narrative consubstantiality they share. As he resists and finally discards the normative medical narrative of the ›train wreck‹ and opens himself to other possibilities, the medical student comes to know that what has been derailed is not Mrs. Green’s body, but the story that gives meaning to the events that [her] body has experienced over its lifetime. As he enters her world her story offers him, he meets her authentic, historic self and understands that she and he, as different as they might seem, are indeed of the same substance at the deepest level of human experience and value. He is empowered by that knowledge to deliver effective, efficient medical care that brings about significant improvement in her physical, psychological, and social conditions, medical care he simply could not deliver had he not been so fully participated in the narrative events in which her story engages him. In the end, Mrs. Green’s transformation from ›train wreck‹ to teacher to mother to loving friend alters and enriches the student as it enriches her […]: ›[…] she had made contact with a rather naïve medical student and had introduced him to the simple healing power of a hand offered in kindness.‹«

Auch hier findet die personenorientierte Begegnung nicht nur auf sprachlicher, sondern vor allem auf leiblicher Ebene statt, wie die Aussagen zur Tiefe der Begegnung auf einer gemeinsamen, substanziellen Ebene und ihre nachhaltigen Wirkungen nahelegen. Der berichtende Medizinstudent hört nicht nur, was Mrs. Green ihm sprachlich erzählt, sondern zugleich erzählt ihr Leib ihre Geschichte, in ihrer Haltung, ihren Bewegungen, ihrem Ausdruck, der Atmosphäre, die Mrs. Green erzeugt, denn »unsere Erlebnisse und Geschichten graben sich in unseren Leib.« 60 Zugleich besitzen wir alle, wie auch der Medizinstudent, auf den sich Anderson/Montello beziehen,

60 Agbih (2012), 94–95.

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die Fähigkeit, sich in diese narrativen, leiblichen Ausdrücke und Äußerungen einzufühlen und sie zu erspüren, das sprachlich Erzählte mitzuspüren, um so auch vorsprachliche Artikulationen aufzunehmen. 61 Im Mitspüren und Mitvollziehen entsteht eine gemeinsame Situation mit der Patientin, die durch wechselseitige leibliche Kommunikation charakterisiert ist, sowohl Mrs. Green als auch den Medizinstudenten »in Beschlag nimmt« 62 und beide in persönlicher Weise etwas angeht. Für den Medizinstudenten erschließt sich auf diese Weise im resonanten leiblichen Mitvollzug das Erleben Mrs. Greens. 63 Eine achtsame, personenorientierte und vulnerabilitätssensible Gestaltung des Ärzt*innen-Patient*innen-Gesprächs, in der Personen nicht als »Fälle« abqualifiziert oder gar als »train-wrecks« voreilig abgeschrieben werden, schließt folglich zunächst die grundsätzliche Offenheit ein, sich auf diese gemeinsame Situation einzulassen und das empathische Mitspüren und Sich-in-Beschlag-nehmen-Lassen aufrechtzuerhalten. Zudem sollte ein Gespür dafür bestehen, wie man sein Gegenüber wahrhaftig zum Sprechen bringt, d.h. die Tür zu einer authentischen Kommunikation aufstößt: Wie es dem Medizinstudenten eher zufällig widerfährt – deutlich wird auch hier an den Beschreibungen der Reaktionen von Mrs.Green, wie diese »Einladung« seitens des Studenten ihr eine Weitung ihrer persönlichen Situation erlaubt, die sich sofort positiv körperlich-leiblich manifestiert. Im Verlauf des Gesprächs ist das Nachfragen und in diesem Sinne aktive Zuhören von besonderer Bedeutung, da der beschriebene »Verstehensakt zwingend an die gemeinsame [Gesprächs-]situation gekoppelt ist und nicht an eine retrospektive Auslegung der Worte durch die Forscherin[/Ärzt*in].« 64 Schließlich muss die Ärztin ebenso wie die Pflegende, »um eine sprachliche Validierung [des im Gespräch Mitgespürten] erreichen zu können, selbst erst in einen Spürakt eintreten, um das Gespürte ins Bewusstsein heben zu können und um es dann zu reflektieren und sprachlich zu explizieren.« 65 Erst dann kann das in der Gesprächssituation mit der kranken Person erfahrene und

61 Dörpinghaus (2013), 218. Siehe dazu auch das folgende Kapitel 4.1. 62 Ebd., 225. 63 Ebd., 227. Dörpinghaus spricht ebd., 217 auch vom »Forschungsleib als Resonanzraum«. 64 Ebd., 228. 65 Ebd., 229.

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erlebte Wissen auch für andere in der weiteren Behandlung und Begleitung konkret handlungsrelevant gemacht werden. Dafür jedoch braucht es ebenfalls förderliche Rahmenbedingungen, besonders ausreichend Zeit und entsprechend ausgebildetes Personal. 66 Ein erster Schritt für ein derart vulnerabilitätssensibles menschenrechtliches Empowerment aller Beteiligten ist demgemäß die Integration des Themas ›Menschenrechte‹ und ihrer umfassenden Bedeutung für den Umgang mit kranken Personen in die Ausbildung zumindest/wenigstens aller Berufsgruppen, die mit diesen Personen direkten leiblichen Kontakt oder Umgang haben und/oder deren Entscheidungen auf der Leitungs- oder der gesetzgeberischen Ebene die Versorgung in der Praxis betreffen. 67 Sehr sinnvoll wäre in diesem Kontext die Einbindung der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in das Curriculum der Ausbildung bzw. die Bewusstseinsbildung der entsprechenden Berufsgruppen und Personenkreise. 68 Erst dann stünden die erforderlichen Kompetenzen und Ka-

66 Ebd., 397 und 390–392 für die Arbeit der Hebammen und deren Ausbildung; '|USLQJKDXVࡓ Forderungen lassen sich aber problemlos auf alle leibnah Tätigen im Gesundheitswesen ausweiten. Besonders wichtig ist es, »über […] Reflexionsprozesse [den eigenen] Zugang zum leiblichen Spüren [zu] erweitern und eine leibbetonte Fachsprache« zu entwickeln, ebd. 393, evtl. über »eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die genau solche authentischen Situationen schildern und so zu einem eigenen Verständnis beitragen« oder über sog. »Spürprotokolle«, ebd. 392–393, Anm. 295. 67 Vgl. dazu im Bezug auf die Pflege Aronson/Mahler (2016a), 21: »Die aktuelle Bildungsreform mit dem Ziel der Standardisierung und des Ausgleichs des Bildungsstandes von Pflegekräften muss als Möglichkeit gesehen werden, ein umfassendes und spezifisches Menschenrechtskonzept zu schaffen und es unter den Fachkräften aller Qualifikationen und Niveaus, einschließlich Alltagsassisten_tinnen, zu verbreiten. Nur so kann das Konzept der fördernden Prozesspflege erfolgreich gelingen.« 68 Siehe Emmer De Albuquerque Green (o.J.), mit folgender, grundsätzlicher Einschätzung: »Die Pflege-Charta sehen wir als die am besten geeignete Grundlage für die Erörterung der praxisbezogenen Bedeutung menschenwürdiger Pflege mit dem Bestreben, ein einheitliches Verständnis bei unterschiedlichen, aber dabei relevanten Akteuren zu erzielen.«, ebd., 9. Problemlos lässt sich daher diese Charta auch als normativ relevantes Dokument für entsprechende

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pazitäten zur Verfügung, angemessen auf die persönlichen Situationen der Betroffenen einzugehen und mit deren Bedürfnissen sowie derem leiblichen Betroffensein personenorientiert umzugehen. Diese Form des Umgehens macht neben der Berücksichtigung der »biografischen Geschichte« der kranken Personen ganz wesentlich auch »Gespräche und direkte Beobachtungen« erforderlich, mit dem Ziel, die leiblichen Dimensionen individueller Bedürfnisse zu erschließen. 69 Das kann aber nur gelingen, wenn auf der Systemebene die »prekären Arbeitsbedingungen im Pflegesektor« dramatisch verbessert werden, wenn also ebenfalls die Rechte der Pflegenden und Ärzt*innen im erforderlichen Maße wahrgenommen und beachtet werden. 70 Das Wissen um sowie die Beachtung und Umsetzung u.a. folgender Menschenrechte sind ergänzend zur Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen von primärer Bedeutung, wenn es darum gehen soll, die bestehenden Probleme in der medizinischen Versorgungspraxis, die sich bezüglich der unterschiedlichen Ausprägungen leiblicher Vulnerabilitäten ergeben, zu lösen bzw. zumindest zu mildern: 71 • • • • • •

Recht auf Leben Recht, nicht Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden Recht auf Privatheit und Familienleben 72 Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit Recht auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie 73 Abbau von Barrieren

Aus-, Fort- und Weiterbildungen des ärztlichen Personals heranziehen, das in diesem Bereich mehr noch als die Pflege dringenden Nachholbedarf hat. Der Text der Charta ist u.a. zu finden unter https://www.pflege-charta.de/fileadmin/ charta/pdf/140603_-_Aktive_PDF_-_Charta.pdf [13.01.2018]. 69 Vgl. Aronson/Mahler (2016a), 21. 70 Siehe dazu aus menschenrechtlicher Perspektive z.B. Mahler (2015), 14–16 und 22 sowie Aronson/Mahler (2016a), 24–25. 71 Zur folgenden Aufzählung siehe Aronson/Mahler (2016b), 2 (Position Nr. 3). 72 Alle aus dem UN-Zivilpakt. 73 Beide aus dem UN-Sozialpakt.

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• •

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Recht zur Selbstbestimmung Recht auf Leben in der Gesellschaft 74

Für stark eingeschränkte Patient*innen bedeutet eine würdewahrende, menschenrechtlich motivierte Hilfe dann z.B. Folgendes: »Je stärker die Mobilität der Bewohner_innen [von Pflegeinstitutionen] vonseiten der Einrichtungen eingeschränkt wird, desto wichtiger ist es, dass ihre anderen Rechte, insbesondere ihr Recht auf Privatheit und auf soziale Teilhabe, weiterhin geachtet werden und ihnen ausreichend Assistenz geboten wird, abgeschlossene Bereiche auf eigenen Wunsch hin zu verlassen.« 75

Selbstverständlich gehört zum menschenrechtlichen Empowerment auch die Befähigung aller Beteiligten und Betroffenen – also sowohl der Patient*innen als auch des Personals sowie der An-/Zugehörigen –, sich über Missstände beschweren zu können, um als Rechtssubjekt wahrgenommen zu werden, dessen Vulnerabilität in unzulässiger Weise missachtet oder ausgenutzt wurde. Im Gesundheitswesen ist daher neben einer Reform der entsprechenden Aus- und Weiterbildungsinhalte ebenso ein flächendeckendes, unabhängiges und transparent strukturiertes Beschwerde- und Fehlermanagement nötig. 76 Hier gibt es in Deutschland ebenfalls großen Bedarf. 77

74 Alle drei aus der UN-BRK. 75 Aronson/Mahler (2016a), 28; dazu siehe auch ebd., 29–30. Menschenwürde und Autonomie müssen selbstverständlich auch im Nahraum gewährleistet werden, sodass z.B. unbedingt die ethische Sensibilität für Probleme wie das folgende verbessert werden muss: »Der vierte Pflegequalitätsbericht merkt an, dass die Einrichtungen [was Kliniken selbstverständlich einschließt] stärker darauf achten sollten, die Selbständigkeit beim Toilettengang zu fördern und nicht – wie derzeit der Fall – zu Windel- oder Katheterversorgung zu greifen, obwohl dies nicht nötig wäre. Die mangelnde Unterstützung beim Toilettengang führt zu Verletzungen der Autonomie älterer [/aller davon betroffenen] Menschen in der Pflege [und der Versorgungspraxis].« Vgl. Mahler (2015), 12–13. 76 Vgl. zu diesem Punkt mit Blick auf die Langzeitpflege die kritischen Ausführungen in Aronson/Mahler (2016a), 37–41. 77 Vgl. Duttge (2013) und Emrich et al. (2014).

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4.1 Möglichkeiten und Voraussetzungen des menschenrechtlichen Empowerments in der Leiblichkeit Abgesehen von diesen rahmenden Faktoren ist hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Vulnerabilität ebenso wie ihres sense of dignity und ihrer Rechte für betroffene kranke Personen das sie betreuende Personal von unmittelbarer, zentraler Bedeutung. Denn erst die Fähigkeiten des Personals gewährleisten in der konkreten Situation eine umfassende, ethisch-menschenrechtlichen Maßstäben genügende Versorgung, in der das Würdeempfinden der kranken Personen nicht eingeschränkt wird. Eine hinreichende, ethisch inspirierte und menschenrechtlich aufgekärte Befähigung zu leiblicher Hermeneutik ist dabei eine Grundvoraussetzung, um den Leib zum »Resonanzboden« 78 eines achtsamen, menschenrechtlichen Empowerments als Antwort auf die leibliche Vulnerabilität des zu versorgenden Gegenübers zu machen. In dieser Befähigung, wie sie u.a. am Beispiel der personenorientierten Gesprächsführung zumindest exemplarisch anschaulich gemacht werden sollte, offenbart sich so gleichsam das positive Potenzial unserer Leiblichkeit, das dazu geeignet ist, eben auch »vielfältigste, sehr subtile Formen der Verletzung der Menschenwürde« 79 in der gemeinsamen Situation mit der zu versorgenden Person zu erfassen: »[Der Mensch ist in der Lage,] leiblich zu spüren, und es ist eine hervorstechende Eigenschaft seines Leibes, dass er imstande ist, insbesondere vage Verhältnisse, Stimmungslagen, Nuancen oder Befindlichkeiten, vor allem alle qualitativen Aspek-

78 Dörpinghaus (2013), 80. 79 Henze/Piechotta-Henze (2012), 6, Anm. 3; dort führen Henze/Piechotta-Henze folgende Beispiele an, die alle als Ausprägungen leiblicher Vulnerabilität gelesen werden können: »Missachtung individueller Wünsche, Bedürfnisse und Gewohnheiten der Patienten; mangelnde Aufklärung über Sinn, Art und mögliche Folgen medizinischer und pflegerischer Maßnahmen; künstliche Ernährung anstelle persönlicher Betreuung und Unterstützung beim Essen; Fixieren, Psychopharmaka und psychischer Druck bis hin zu psychischer Gewalt, um ›schwierige‹ Patienten ruhig zu stellen; unpersönliche[s], primär durch medizinische Fachterminologie geprägtes Sprechen über Patienten als Nummer oder Krankheitsfall usw.«

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te, ungewöhnlich rasch zu registrieren. […] Dabei ist der Träger seiner Empfindungen der Leib.« 80

Wie u.a. die Beispiele der Harfenistin und der von Anderson/Montello dargestellten narrativen Begegnung zwischen der Patientin Mrs. Green und dem Medizinstudenten zeigen, verfügt der Mensch grundsätzlich über die Fähigkeit, vermittels der auch oben in Kapitel 2 erläuterten »leiblichen Kommunikation« Erkenntnisse über die persönliche Situation seines Gegenübers und über sein eigenes Tun zu gewinnen. 81 In diesem Kontext ist es von besonderer Bedeutung, dass tatsächlich die gesamte Situation der anderen Person wahrgenommen werden kann und aus ethisch-menschenrechtlicher Perspektive auch wahrgenommen werden sollte, um der Vulnerabilität des/der konkreten Anderen 82 in vollem Umfang gerecht werden zu können: »Situationen sichern [nämlich] den lebendigen Kontakt zu dem, was den Menschen wirklich etwas angeht«, da »sie das affektive Betroffenwerden [ermöglichen]«. 83 Wesentlich ist nun der epistemologische Gehalt dieser leiblich empfundenen Situationswahrnehmung, denn Situationen beinhalten mannigfaltige, u.a. ethisch relevante Bedeutungen: »Situationen sind nach Schmitz von vielsagenden Eindrücken geprägt und selbst unerschöpflich. Sie sind immer mit Bedeutsamkeit aufgeladen, die binnendiffus in Erscheinung tritt, und werden durch diese zusammengehalten. Bedeutungen im hier gemeinten Sinne stellen mindestens Sachverhalte (›es ist etwas‹) dar, hinzu können Programme (›es soll etwas sein‹) oder Probleme (›es wird etwas bewältigt‹) kommen. Der Mensch ist unentwegt in Situationen eingebunden, die ihn leiblich betreffen. In ihnen wird vom Menschen ›vieles verstanden (Sachverhalte), vorgenommen (Programme) und bewältigt (Probleme), ohne dass mehr als ein weniges einzeln bewusst wird […]‹.« 84

80 Dörpinghaus (2013), 80–81. 81 Ebd., 102–103. 82 Zum Konzept des »konkreten Anderen«, seinen normativen Implikationen und einer kritischen Reflexion siehe u.a. Dingler (2016), 100–105. 83 Dörpinghaus (2013), 103. 84 Ebd.

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Durch dieses breit vorhandene, erspürende Einfühlungsvermögen sind Versorgende in die Lage versetzt, in ihrer Fürsorge adäquat auf die Situation ihres konkreten Gegenübers zu antworten und ihr zu entsprechen, »weil sich erst [über den leiblichen Eindruck] ein interpretatorischer Zugang […] zu den für [die kranke Person] maßgebenden Sinn- und Bedeutungszuschreibungen ergibt«. 85 Vorausgesetzt, man kann sich diese Offenheit für die persönliche Situation der anderen Person bewahren, das Spüren zulassen, reflektieren und letztendlich sprachlich explizieren. Es muss also in der unmittelbaren Beziehung zur kranken Person darum gehen, dieses Informationspotenzial gezielt zu heben und handlungsrelevant werden zu lassen, da es »[i]n der Situation für die Spürende [darauf ankommt], durch geschickte Auswahl der explizierten einzelnen Bedingungen sich ein passendes Bild von der Lage zu machen. Dieses Bild erlaubt ihr dann in Folge den Zugriff, die Situationen zu händeln [sic] und mit ihnen fertig zu werden.« 86

In diesem Kontext wiederum spielt die sog. Fassung als ein wichtiger Aspekt der Disposition bzw. des Habitus der Versorgenden eine zentrale Rolle: Unsere leibliche Fassung entscheidet darüber, wie wir anderen Personen begegnen und welche Formen der Einleibung, der leiblichen Kommunikation und der Achtsamkeit uns ihnen gegenüber möglich sind: »[Auch] die Sensibilität, das Fingerspitzengefühl [beruht] auf leiblicher Kommunikation, durch die wir den Anderen am eigenen Leibe spüren. Das wichtigste Medium, ihn so aufzufangen, ist die Fassung. Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Jeder Mensch, […], hat seine eigentümliche Fassung. Diese wird zum Teil durch institutionell geprägte Rollen bestimmt, also etwa dadurch, wie jemand auf seine besondere Art Kind, Mutter, Großmutter, Lehrer, Arzt, Bauer, Bettler ist; zum anderen Teil beruht sie auf dem, was der Psychiater Jürg Zutt

85 Ebd., 166. Die Ausführungen von Dörpinghaus beziehen sich im Original auf das Spüren der Hebamme, sind aber hier der Intention des vorliegenden Textes entsprechend verallgemeinert worden, was sachlich – aufgrund der Universalität leiblicher Kommunikation und ihrer Potenziale – keinerlei Problem darstellen sollte. 86 Ebd., 117.

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›innere Haltung‹ nennt, also der habituell gewordenen Weise, wie ein Mensch z.B. stolz, liebenswürdig, bedächtig, mit ruhiger Bestimmtheit, von mißtrauischer Vorsicht geleitet ist und diese besondere Fassung in alles Verhalten einfließen läßt, womit er an Menschen und Dinge herangeht und sich mit ihnen auseinandersetzt. Die Fassung ist immer auch leiblich und wird im leiblichen Umgang eingesetzt. Wer […] seine Fassung etwas locker schwingen läßt, ohne sie gleich zu verlieren, kann damit jene Schwingungen der Nuancen vielsagender Eindrücke auffangen und damit auf die Anderen und die Umstände sensibel eingehen. Die leicht gelockerte Fassung wird zum Vehikel vorgreifenden Verständnisses in leiblicher Kommunikation.« 87

Zu erkennen ist, dass die Fassung eines Menschen der zentrale Aspekt seiner Persönlichkeit ist, in den menschenrechtliches Wissen und eine sensible Achtsamkeit im Sinne der Care-Ethik integriert werden sollten, damit sie entsprechend kontextbezogen habitualisiert und im Anschluss daran praxisrelevant werden können. 88 In ihrer primären Form wird durch ein derartiges Einflechten von menschenrechtlichem Wissen und Achtsamkeit in die persönliche Fassung eine fürsorgliche Antwort auf die Bedürfnisse der kranken Person möglich, die sich – via Einleibung – durch die Perspektive der ersten Person auszeichnet und es verhindert, die kranke Person zu objektivieren, d.h. zu einem bloßen Gegenstand der medizinischen Behandlung zu reduzieren und so deren Integrität zu missachten. 89 Huth (2016) weist darauf hin, dass diese Form der »zwischenleiblichen Resonanz« eine »funda-

87 Schmitz (2005), 148–149. 88 Zur Komplexität der Achtsamkeit und deren ethischer Relevanz im Umgang mit vulnerablen Personen siehe z.B. Dingler (2016), 113: »Menschen, die sich anderen achtsam zuwenden, müssen sich zurücknehmen können, offen bleiben für die Resonanz und sich ständig wechselnden Bedürfnisse der Menschen, denen Zuwendung gilt. Die Subjektivität von Menschen, die sich anderen achtsam zuwenden (care giver), und Menschen, die diese Zuwendung erfahren (care receiver), entsteht und verändert sich in der wechselseitigen Bezogenheit, innerhalb einer asymmetrischen, nicht reziproken Beziehung.« Diese Achtsamkeit und Fürsorge ermöglicht es, »Komplexität ernst zu nehmen und nicht voreilig zu reduzieren, Probleme als eingebettet und verschachtelt zu verstehen und ihnen entsprechend zu begegnen.« Vgl. auch Baart/Timmerman (2016), 141 sowie Straubenmüller (2018). 89 Vgl. Marin (2016), 149–150.

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mentalethische Bedeutung« habe, da in ihr der konkrete Andere als »konkretes Du« erfahren und anerkannt werde, mit entsprechender Subjektivität und Bedürfnissen. 90 Aus dieser Anerkennung wiederum ergeben sich »positive Fürsorgepflichten gegenüber leiblichen, als solche angewiesenen Wesen in ihrer Bezogenheit auf Andere und Anderes.« 91 Diese Pflichten können bei einer entsprechenden Ausbildung vermittels der Fassung der Person in deren Handeln menschenrechtlich konkretisiert werden. 92 Damit würde die ideale Fassung von Versorgenden/care givers sowohl inhaltliches Wissen um die Menschenrechte in ihrer Komplexität der Unteilbarkeit integrieren als auch »ethisches Know-How, das als Verhaltensdisposition in unsere Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstrukturen eingeschrieben ist und damit einen immanenten Teil des ›Logos der ästhetischen Welt bildet‹«. 93

Korrespondierende Rahmenbedingungen vorausgesetzt, würde eine derart strukturierte und ausgebildete Fassung die care giver dazu befähigen, in ihrer Beziehung zu kranken Personen auf Probleme, die sich auf Diversität und leibliche Vulnerabilität beziehen, umfassend im emanzipatorischen Sinne menschenrechtlichen Empowerments bereits auf der Ebene des affektiven Betroffenseins der care receiver einzugehen und zu antworten. Zusätzlich zu den bereits erörterten Beispielen personen- und leiborientierter Praxis lässt sich eine konkrete Umsetzung bzw. Operationalisierung dieser Fassung an der sog. »Präsentischen Praxis« veranschaulichen, 94 die konzipiert wurde, um in sozialen, medizinischen und pflegerischen Kontexten eine gute, menschennahe und auf die einzelne Person und ihre Bedürfnisse bezogene Arbeit zu ermöglichen. 95 Um das Ziel zu gewährleisten,

90 Huth (2016), 290–291. 91 Ebd., 298. 92 Ebd., 293–294: »Der Leib ist Träger des Verhaltens […], er ist sozusagen durchformt von habituellen Verhaltensdispositionen, die wir im Laufe der individuellen Entwicklung nicht zuletzt durch unsere Sozialisation angeeignet, inkorporiert haben.« 93 Ebd., 292. 94 Dazu siehe Timmerman/Baart (2016), 189–208. 95 Vgl. ebd., 190.

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unter »einem hohen systemischen Druck« dennoch »Beziehungen eingehen und aufrechterhalten« zu können, 96 nennt die präsentische Praxis konkret u.a. folgende Fähigkeiten, die zugleich als zentrale Momente einer fürsorglichen Fassung im obigen Sinne verstanden werden können und die besondere hermeneutische Kompetenzen betreffen: 97 • •

• •



die Bereitschaft, sich der Lebenswelt der Betroffenen auszusetzen und einen entsprechenden Perspektivwechsel vorzunehmen, das Eingehen auf die Lebenswelt, den Lebenslauf, die Sehnsüchte und die Aufgaben des konkreten Gegenübers und die Anerkennung und Bestätigung des verwundbaren Anderen, die Bereitschaft und Fähigkeit, dabei zu bleiben, auch wenn die Situation schwierig oder gar aussichtslos ist oder wird, die Offenheit, selbst durch die Bewegungen und Bedürfnisse des/der Anderen bewegt zu werden und »aufmerksam und sensibel zu sein für schwerwiegende Probleme innerhalb der vielen kleinen Alltäglichkeiten des Lebens« und Achtsamkeit und Beachtung aus wirklichem Interesse für den konkreten Anderen.

Letztlich sollte eine derartige Fassung in die Lage versetzen, bestenfalls alle folgenden Teilfragen – eventuell in abgewandelter Form – mit »Ja« zu beantworten und gemeinsam mit dem/der Betroffenen eine Lösung zu finden: »Zählt es (1) für dich (2), dass mir (3) dies (4) hier (5) immer wieder (6) so passiert (7), weh tut (8) und aufhören muss (9)?« 98

96 Ebd. 97 Zu den folgenden Eigenschaften siehe ebd., 196. Vgl. ebd., 205: »Bei Sorge und Hilfe (care) geht es im Grunde um ein Anknüpfen an die Verwundbarkeit und Bedürftigkeit der anderen Person, um eine relationale Abstimmung. Notwendig hierfür sind Achtsamkeit, radikale Verbindung zu der und Orientierung an der Lebenswelt, ebenso wie Bereitschaft, sich von dem Verlangen und dem Appell der anderen Person berühren zu lassen.« 98 Ebd., 194.

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4.2 Ästhetische Bildung als Befähigung der care giver zum menschenrechtlichen Empowerment der care receiver Um eine derart wünschenswerte charakterliche, habituelle Disposition zu erreichen, ist es erneut notwendig, sich der Bedeutung und der Form der dafür notwendigen Aus-, Fort- und Weiterbildung zuzuwenden, die für die erforderliche Art und Weise der Durchformung und Flexibilisierung der Fassung eine wichtige Rolle spielen kann und aus menschenrechtlichethischer Perspektive spielen sollte. Unser Leib ist, wie gezeigt, »das Vehikel [..], welches die leiblichen Empfindungen in jeder Art des Ausdrucks nach außen transportiert und umgekehrt die äußere Wahrnehmung nach innen aufnimmt«. 99 Daher bedarf es zur Erfassung der Erlebnisse und Befindlichkeiten des Gegenübers Aus- und Weiterbildungskonzepte, die den eigenen Leib als Erkenntnisorgan gleichsam zur Hebung des ethisch relevanten Informationspotenzials befähigen, das in der binnendiffusen persönlichen Situation der zu versorgenden, kranken Person aufgehoben ist. Dafür ist es nötig, Zugänge zu möglichst gehaltvollen Situationen zu gewinnen über »leibliche Partizipation, also [die] Teilhabe an den Empfindungen des [konkreten] Anderen«, und »die eigenleibliche Präsenz und Resonanz« dem konkreten Anderen – als »konkretem Du« – gegenüber zu intensivieren und zu verfeinern. 100 Diese Form der Ausbildung, in der es darum geht, »den pathischen Teil der Wahrnehmung zu stärken«, und in der strukturiert der Frage nachgegangen wird: »Wie wirkt diese Situation auf mich?«, wird auch als »Ästhetische Bildung« bezeichnet. 101 Sie ermöglicht »ein Wissen um das, was ich bewirke, beziehungsweise was auf mich wirkt, sowie die Fähigkeit, diese leiblichen Phänomene zu artikulieren«, also ein Wissen, das für alle im Gesundheitswesen Tätigen zentral und notwendig ist, um gut zu entscheiden und gut zu handeln, bestehende Vulnerabilitäten zu kompensieren und die Würde der vom eigenen Handeln betroffenen Personen zu achten sowie in der eigenen Praxis zu wahren. 102

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Weidert (2014), 102.

100 Ebd., 104; es geht also darum, verschiedene Formen der sog. »pathischen Wahrnehmung« (ebd.) einzuüben, um »ein gutes Gespür« für das Gegenüber und seine Bedürfnisse zu bekommen, ebd., 105. 101 Ebd., 106, sowie Weidert (2007), 99–100. 102 Weidert (2007), 100.

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Vanlaere, Timmerman und Grypdonck (2016) stellen in dieser Hinsicht ein ebenso interessantes wie relevantes Lernkonzept vor, um »Pflegehandeln am eigenen Körper zu erfahren«: das »›Ausgesetztsein‹ in simulierten Situationen«. Es soll hier abschließend als Beispiel für diejenige Form von Ästhetischer Bildung vorgestellt werden, mit der das inhaltliche Wissen um die Menschenrechte notwendig verwoben werden sollte, das bereits in Kapitel 4 als ein Teil der persönlichen Fassung umrissen wurde. Erst dann können sich durch sorgendes Handeln ein menschenrechtliches Empowerment aller vulnerablen Personengruppen im Gesundheitswesen (also einschließlich des Personals von Kliniken, Pflegeeinrichtungen etc.) und eine maßgebliche Verbesserung der Versorgungspraxis einstellen. Mit der Folge, dass asymmetrische Beziehungen in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen abgebaut und gemildert werden, während gleichzeitig die Verwiesenheit der Beteiligten aufeinander und ihre Abhängigkeit von Beziehungen wahrgenommen sowie der sense of dignity der Betroffenen situativ anerkannt werden kann. Ziel dieser »erfahrungsorientierten« Bildungsmaßnahme ist es, »Menschen, die andere pflegen, [darin zu schulen/zu üben], diese Tätigkeit im Sinne einer Ethik der Achtsamkeit auszuüben«. 103 Im Fokus steht das Erlernen einer Praxis durch den reflektierten Umgang mit »der Wechselwirkung zwischen der Erfahrung, achtsam zugewandt zu pflegen […], und der Erfahrung, als Patient Teil achtsamer Zuwendung am eigenen Leib zu werden […]«. 104 Zu diesem Zweck wird ein Perspektivwechsel eingeleitet, um das Einfühlungsvermögen und die Sensibilität der Teilnehmenden für die Bedürfnisse ihrer Gegenüber zu erweitern, indem jene »für zwei Tage und eine Nacht in einer simulierten Pflegesituation die Position eines pflegebedürftigen Patienten ein[nehmen]«. 105 Im Gegensatz zu einer allzu

103 Vanlaere et al. (2016), 231. 104 Ebd., 233. 105 Ebd., 232. Letztendlich wird hier tatsächlich der für die Klinische Ethik so zentrale Perspektivwechsel des »put yourself in my shoes« leiblich erfahrbar gemacht und für eine bessere Versorgungspraxis einer Ethik der Achtsamkeit operationalisiert. Auf die Bedeutung dieses Perspektivwechsels für das Gelingen der sog. healing-situation weist bereits Pellegrino (2004), 197 nachdrücklich hin: »The virtues of medicine are those traits of character that predispose the physician habitually to act in a way that effects healing. But

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»starren Fassung« 106 ermöglicht dieser Perspektivwechsel eine Flexibilisierung und damit eine »komplexe Achtsamkeit«, 107 wie sie von Straubenmüller als Teil guter Pflege hervorgehoben wird. Auf diese Weise lässt sich das wechselseitige Verständnis verbessern und aufgrund der Unabweisbarkeit und Intensität sowie der Evidenz des Erlebten praxisrelevant zum Teil der persönlichen Fassung machen. Damit soll in der persönlichen Fassung das beständige Bemühen darum verankert werden, »zu entdecken, was für den Pflegebedürftigen [/die kranke Person] auf dem Spiel steht«, 108 um so die kranke Person als Person zu bewahren, sie in ihren Möglichkeiten zu fördern und »sie zu ihrem Recht kommen zu lassen«. 109 Dabei spielt auch die Verletzlichkeit des Menschen als Erfahrungsinhalt eine zentrale Rolle.110

these virtues cannot be defined without some genuine grasp of the life-world of the patient by the doctor, and the doctor of the patient.« Ebenso Zaner (2004), 239 und 244–245: »The doctor-patient relationship, thus, is essentially a special form of what Schutz calls Du-Einstellung: being-oriented-to-another. […] Sick people frequently, although not always expressly, want the doctor to see things from their point of view: ›put yourself in my shoes.‹ […] To ›put yourself in my shoes‹, rather, is to see things as the patient experiences them while yet remaining oneself. To be compassionate is not to obliterate the always crucial distinction between doctor and patient.« Dies gelingt über Einleibung und leibliche Kommunikation in gemeinsamen Situationen, die ihrerseits eine entsprechende, quasi eingeübte Fassung voraussetzen. 106 Schmitz (2005), 149 beschreibt die Folgen einer starren Fassung so: »Wer seine Fassung starr festhält, wie der nur an ordentlicher Einhaltung der Kunstregeln des Berufs bei dessen Ausübung interessierte […] Arzt […], wird verschlossen bleiben wie ein blinder Spiegel und an Mitmenschen wie an allem, was ihm etwas zu sagen hat, mehr oder weniger vorbeisehen, sofern es sich um nicht explizit mitgeteilte, ›mitschwingende‹ Nuancen handelt.« 107 Straubenmüller (2018), 50. 108 Vanlaere et al. (2016), 235. 109 Ebd., 237. 110 Ebd., 235: »Sich der generellen Verletzlichkeit des Menschen bewusst zu sein, zu begreifen, was die Verletzlichkeit vergrößert und was man tun oder vermeiden sollte, spielt dabei eine wichtige Rolle.« Das Gute, was in einer derart informierten Praxis erreicht werden soll, ebenso wie das Potenzial dieser Praxis zum Empowerment liegt darin, »den richtigen Umgang mit realen

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Sich der Versorgungspraxis am eigenen Leib auszusetzen und in der Rolle der care receiver aus deren lebensweltlicher Perspektive Pflegesituationen in ihrer ganzen, zunächst binnendiffusen Komplexität zu erfahren, die anschließend reflektiert und expliziert wird, 111 führt nach Vanlaere et al. zu einem nachhaltigen, handlungsrelevanten Erfahrungswissen. Dieses Wissen befähigt seine Träger*innen eben auch dazu, »subtile Formen der Verletzung der Menschenwürde« von nun an achtsam wahrzunehmen und ihnen wirksam und personenorientiert entgegenzuwirken. 112 Jetzt kann das Wissen um die Rechte der Pflegebedürftigen, wie sie z.B. in der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen aufgeführt sind, aktiviert werden und wertvolle Orientierung und Argumentationshilfen für das Durchsetzen von Maßnahmen zur Abhilfe der erkannten, zunächst leiblich empfundenen Missstände liefern. 113 Damit bewirkt dieses am eigenleiblichen Spüren ausgerichtete Lernprojekt aufgrund des Perspektivwechsels im besten Fall eine positive Sensibilisierung und eine wünschenswerte Flexibilisierung der leiblichen Fassungen der Teilnehmenden. Diese wiederum kann ihrerseits aufgrund eines tieferen Verständnisses für die vielfältige Vulnerabilität kranker Menschen und für die Bedeutung eines negativen oder positiven Umgangs mit dieser Vulnerabilität in der Versorgungspraxis

Menschen und ihren unterschiedlichen Pflegebedürfnissen zu finden«, um so »den anderen in all seinen Aspekten zu fördern« ebd., 236. 111 Ebd., 240. 112 Ebd., 243–247. 113 Ebd., 242 mit mehreren Beispielen für leibliche Erfahrungen, die in diesem Rahmen gemacht werden und in die Fassung der Teilnehmenden übergehen, z.B.: »Körperliche Erfahrungen drängen sich auf: Teilnehmende berichten, […] wie demütigend es ist, wenn Pflegekräfte etwas mit einem tun, das sie nicht angekündigt haben […] aber auch positive Erlebnisse hinterlassen einen bleibenden Eindruck [!], zum Beispiel das Gefühl, bei einem Entspannungsbad in herrlich warmes Wasser getaucht zu werden und mit voller Aufmerksamkeit und Zuwendung gepflegt zu werden. […] Andere wiederum stellen das [negative] Gefühl der Abhängigkeit dar: Sie hätten sich winzig klein gefühlt, es aber nicht geschafft, darüber zu sprechen. Sie erfuhren es z.B. als unangenehm, dass sie während eines laufenden Fernsehprogramms zu ihrem Bett gebracht wurden, ohne dass man sie nach ihrem Einverständnis gefragt hatte.«

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dazu führen, das eigene Handeln zu verändern. Als Bestandteil der eigenen Fassung und des eigenen Habitus werden also diese Erlebnisse und dieses Wissen im besten Fall praxisrelevant und haben positive Auswirkungen auf Achtsamkeit und Anerkennung der individuellen Ansprüche und Bedürfnisse der kranken Personen. Eine derart durchformte Fassung lässt die situativen Ausprägungen inhärenter Vulnerabilität als moralisch imponierende Zeichen oder Hinweise hervortreten, die entsprechendes Handeln motivieren. 114 Kombiniert mit einem Wissen um die Menschenrechte als Gestaltungsinstrument für gute Versorgungspraxis, das über den Nahraum der eigenen Tätigkeit hinaus seine Wirksamkeit entfalten kann, könnte eine derartige Aus- und Weiterbildung gleichzeitig zu einem wirksamen Instrument der institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Veränderung werden. Die Menschenrechte, z.B. gleichsam aufbereitet in der Charta der Rechte hilfeund pflegebedürftiger Menschen, könnten in diesem Prozess dann institutionen-übergreifend dazu genutzt werden, für längst überfällige Veränderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen u.a. und besonders hinsichtlich verbesserter Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen einzutreten. Diese Veränderungen könnten an der Allgemeinen Bemerkung Nr. 14: Das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit (Artikel 12) des UN-Ausschusses für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte sowie der UN Behindertenrechtskonvention ausgerichtet und entlang des PANEL-Konzepts der WHO mit konkreten Inhalten und Verpflichtungen gefüllt sowie in die Praxis implementiert werden. 115 Bemerkenswert ist, dass diese Lern- bzw. Lehrkonzepte, die in Form der Ästhetischen Bildung tatsächlich nachhaltig und ursächlich, – weil auf die leibliche (Ver-) Fassung der Teilnehmenden ausgerichtet –, dazu beitra-

114 Zur Verletzbarkeit als »sign« oder »marker« in diesem Sinne vgl. Wrigley/ Dawson (2016), 208–210. 115 Siehe WHO (2015); »PANEL« steht für die fünf zentralen Elemente eines Rahmenkonzepts, das von der WHO entwickelt wurde, um der Achtung der Menschenrechte, besonders gegenüber Menschen mit Demenz, mehr Praxisrelevanz zu verschaffen. Die fünf Eckpfeiler von PANEL, an denen sich entsprechende Bestrebungen ausrichten sollten, sind: Participation, Accountability, Non-Discrimination, Empowerment und Legality. Vgl. auch Schmidhuber et al. (2015), 272–274 sowie Bergemann et al. (2017).

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gen können, konkrete Verbesserungen in vielen Problembereichen der Gesundheitsversorgung zu bewirken, vorrangig im Bereich der Kranken- und Gesundheitspflege entwickelt, initiiert und erforscht werden. Hier werden, wie gezeigt, Wissensformen generiert und gelehrt, die aufgrund ihrer ethischen und menschenrechtlichen Relevanz ebenso alle anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen angehen, 116 die direkten Umgang mit kranken Personen haben oder deren Entscheidungen die Bedingungen betreffen, unter denen kranke Personen betreut und fürsorglich begleitet werden (müssen). In höchstem Maße bedenklich und erstaunlich ist es allerdings, dass diese Konzepte und die ihnen zugrunde liegende Anthropologie gerade von den Berufsgruppen nicht oder lediglich unzureichend zur Kenntnis genommen werden, die auf höheren Systemebenen Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen. Besonders die Berufsgruppen und Verantwortlichen, die sich bisher diesem Wissen ebenso wie der Bedeutung der Menschenrechte in der Medizin (weitestgehend) verschlossen haben, müssen sich also der ebenso beschämenden wie unbequemen Frage stellen, warum sie ethisch und menschenrechtlich relevante Erkenntnisse zur Lösung von Problemem im Umgang mit Diversität und Vulnerabilität in der Medizin nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen bzw. nicht oder nur in ungenügender Weise in die eigene Praxis einfließen lassen. Mit Nachdruck ist daher gegenüber diesen Personenkreisen folgende Aufforderung des Deutschen Ethikrats zu unterstützen, die einen zentralen Ansatz zur Lösung der Probleme im Gesundheitswesen zum Ausdruck bringt: »Festzustellen ist, dass gerade die von der Pflege entwickelten prozess- und kooperationsorientierten Ansätze für eine Neuorientierung im Krankenhaus von besonderer Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Bedeutung der Pflege für eine identitätsstiftende Entwicklung des Krankenhauses neu zu bewerten und der Pflege insgesamt eine höhere Wertschätzung zukommen zu lassen.« 117

116 Zum besonderen Status und zum spezifischen Charakter des Pflegewissens siehe Giese (2018), 27–28 und Straubenmüller (2018), 51. 117 Deutscher Ethikrat (2016), 81.

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II. VULNERABILITÄT UND SELBSTBESTIMMUNG: PROBLEME IN DER KLINISCHEN PRAXIS

Autonomie und Lebendnierenspende Menschenrechte in der Transplantationspraxis K ATHARINA S CHIEBER , S ONJA G AAG , Y ESIM E RIM

Die Nierentransplantation ist die Behandlungsmethode der Wahl bei Nierenerkrankungen im Endstadium. 1 Im Gegensatz zur Dialysebehandlung bringt eine Nierentransplantation eine verbesserte Lebensqualität mit sich sowie eine höhere Lebenserwartung. 2 In den westlichen Ländern herrscht jedoch seit Jahren ein Ungleichgewicht zwischen transplantierbaren postmortem Organspenden und Patienten, bei welchen eine Organtransplantation indiziert ist. 3 So waren 2016 in Deutschland etwa 8.000 Personen auf der Warteliste für eine Nierentransplantation angemeldet, wohingegen jedoch nur um die 2.100 Patienten tatsächlich transplantiert wurden. Als durchschnittliche Wartezeit für eine Transplantation wird ein Zeitraum von sechs bis sieben Jahren veranschlagt. 4 Als Alternative zur post-mortem Spende ist die Lebendspende eine etablierte Behandlungsmethode. Für den Empfänger ist der Erhalt einer Lebendspende mit vielen Vorteilen verbunden. So verkürzt sich die Wartezeit auf ein Organ, die Überlebensrate des Transplantats und des Empfängers sind im Vergleich zu einer post-mortem Spende höher. 5 Das Gesundheitsrisiko für den Lebendspender ist in der Regel gering. In vielen Studien wird bestätigt, dass Spender langfristig keine Defizite bezüglich ihrer gesund1

Testa/Siegler (2014).

2

Ingsathit et al. (2013); Rebollo et al. (2000) und von der Lippe et al. (2014).

3

Kirste (2010) und Heemann/Renders (2012).

4

Siehe Deutsche Stiftung Organtransplantation (2017).

5

Heemann/Renders (2012); Nemati et al. (2014) und Testa/Siegler (2014).

116 | K. SCHIEBER, S. GAAG, Y. ERIM

heitsbezogenen Lebensqualität berichten, sondern mit der Normalbevölkerung vergleichbar – teilweise sogar besser abschneiden. 6 Allerdings zeigen Langzeitstudien auch, dass die Wahrscheinlichkeit, an Bluthochdruck oder chronischem Nierenversagen zu erkranken, bei Lebendspendern höher ist als bei Nichtspendern. 7 Medizinethisch wird die Lebendspende immer wieder diskutiert. Beauchamp und Childress beschrieben vier Prinzipien, die im Bereich der Medizinethik wichtige Anhaltspunkte für moralisch-ethisches Verhalten in Heilberufen geben: 8 Respekt vor der Autonomie des Patienten, Schadensvermeidung, Fürsorge sowie Gerechtigkeit. Entsprechend impliziert eine Lebendspende ein ethisches Dilemma, da eine gesunde Person verletzt werden muss, damit einer kranken Person geholfen wird. Das Prinzip der Schadensvermeidung (es wird bewusst ein Schaden zu Lasten des Lebendspenders verursacht) steht im Konflikt mit dem Prinzip der Fürsorge (die Transplantation ist indiziert und wird zu Gunsten des Empfängers durchgeführt). Diesbezüglich wurde in Deutschland 1997 das Transplantationsgesetz (TPG) verabschiedet, welches die Spende von Organen regelt. Voraussetzung für eine Lebendspende ist, dass Spender und Empfänger miteinander verwandt sind oder sich in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen. Eine Lebendspende ist nach §8 TPG außerdem nur zulässig, wenn der Spender volljährig und einwilligungsfähig ist, über die Entnahme aufgeklärt worden ist und in diese eingewilligt hat. Zudem muss der Spender nach ärztlicher Beurteilung »geeignet sein und voraussichtlich nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt werden« (§8 Absatz 1 Satz 1c TPG). Dementsprechend besteht der Prozess der Lebendspende aus unterschiedlichen Etappen, die vor der Transplantation von Spender und Empfänger durchlaufen werden müssen: verschiedene medizinische Untersuchungen, eine psychosomatische Evaluation, Informations- und Aufklärungsgespräche zur Lebendspende sowie eine Befragung durch die Lebendspendekommission (siehe Abbildung 1).

6

Fournier et al. (2012); Garcia et al. (2013); Glotzer et al. (2013); Erim et al. (2015) und Wirken et al. (2015).

7

Meyer et al. (2017); Mjoen et al. (2013) und Muzaale et al. (2014).

8

Beauchamp/Childress (2009).

A UTONOMIE UND L EBENDNIERENSPENDE

| 117

Die psychosomatische Evaluation des Spenders dient dazu, dessen psychische Eignung zur Spende festzustellen. Autonomie und Freiwilligkeit sind dafür wichtige Voraussetzungen. 9 Dabei wird im Einzelnen versucht, die Motivation des Spenders besser zu verstehen, seine psychische Widerstandsfähigkeit sowie persönliche Ressourcen zu ermitteln und zu überprüfen, ob die Informationsvermittlung an den Bedürfnissen des Spenders ausgerichtet war. 10 Als Implikationen für die praktische Arbeit formulierten Schroth et al. Empfehlungen zur Gestaltung von Patientengesprächen für die Evaluation der Patientenautonomie von Lebendnierenspendern, 11 die Rahmenbedingungen wie auch inhaltliche Aspekte beinhalten (vgl. Tab. 1). Biller-Andorno weist zusätzlich auf die Notwendigkeit hin, mit dem potenziellen Lebendspender stets Einzelgespräche zu führen, damit dieser nicht durch die Anwesenheit des Empfängers unter Druck gerät. Ebenso sollte in jedem Fall ein Zeitraum des Nachdenkens gewährt und keine Operationstermine angesetzt werden, bevor eine finale Entscheidung getroffen wurde. 12 Die Lebendspendekommission hat die Aufgabe, zu überprüfen, ob die Einwilligung zur Lebendspende freiwillig erfolgt, u.a. um einen Organhandel auszuschließen (siehe §8 Absatz 3 TPG). Die Befragung durch die Kommission dient somit auch der Sicherstellung der Autonomie des Lebendspenders, da »in medizinethischer und rechtlicher Sicht […] die Klärung der Freiwilligkeitsthematik dem Bereich der Patientenautonomie zuzuordnen« ist. 13 Gerade im Bereich der Lebendspende ist die »Freiwilligkeit« und »Autonomie« der Entscheidung jedoch fraglich. Denn schon das Angebot der medizinischen Maßnahme impliziert, dass die Lebendspende eine empfehlenswerte Methode ist. Patienten erwarten von ihren Ärzten, dass diese keine gesundheitsschädigenden Empfehlungen aussprechen, was dazu führen kann, dass möglicherweise Risiken von Patienten als vernachlässigbar betrachtet werden. Zudem besteht zwischen Spender und Empfänger eine enge Beziehung, was von Gesetzes wegen eine Grundvoraussetzung für die

9

Erim et al. (2013).

10 Ebd. 11 Schroth et al. (2006). 12 Biller-Andorno (2011). 13 Schroth et al. (2006), 16.

118 | K. SCHIEBER, S. GAAG, Y. ERIM

Spende ist. Folglich ist der Spender mit dem Leid des Empfängers vertraut, er weiß um die Dringlichkeit eines Transplantats und die gesundheitlichen Risiken, die sich für den Empfänger ergeben, wenn er kein neues Organ erhält. Häufig ist außerdem der Wunsch, dem Empfänger zu helfen, so zentral, dass Spender sich mit den Risiken für die eigene Gesundheit kaum auseinandersetzen. 14 Im Fokus steht die Hoffnung auf Verbesserung der Lebensqualität des Empfängers, eine gemeinsame verbesserte Lebensqualität und gewonnene gemeinsame Lebenszeit. Zudem können aus der Verweigerung einer Spende Schuldzuschreibungen durch den Spender selbst, den Empfänger sowie das familiäre Umfeld entstehen. Eine höchst aversive Konsequenz, die Druck bei der Entscheidung zur Lebendspende bewirken kann. Vor allem bei Ehepartnern bzw. Personen, die im selben Haushalt leben, ist die Situation komplex. Sie sind häufig an der Versorgung des chronisch nierenerkrankten Empfängers beteiligt, kümmern sich beispielsweise um dessen Versorgung, Transport zur Dialyse und den Haushalt. Somit ergibt sich auch für den gesunden Spender eine massive Einschränkung in dessen Alltag, was einen hohen Leidensdruck verursachen kann. Eine Lebendspende würde also eine Verbesserung der Lebensqualität des Empfängers und des Spenders mit sich bringen. In einer retrospektiven Befragung von Lebendnierenspendern wurden Erfahrungen während des Prozesses der Lebendspende ausgewertet. 15 Die Untersuchungsgruppe bestand aus 144 Lebendspendern mit einem Durchschnittsalter von 58,7 Jahren (Anteil weiblicher Spender bei 65,3%), deren Nierenspende im Durchschnitt 5,4 Jahre (SD=3.4) zurücklag (siehe Tab. 2). Aus den Antworten auf die Frage, wie sie zur Entscheidung gekommen seien, eine ihrer Nieren zu spenden, ergaben sich vier Kategorien: Jeweils um die 30% berichteten entweder, dass der immer schlechter werdende Gesundheitszustand des Empfängers ihnen die Entscheidung abgenommen habe oder dass sie die Lebensqualität des Empfängers und der Familie verbessern wollen, indem dem Empfänger die Dialyse erspart wird, oder dass sie einfach helfen wollten. Der verbleibende Anteil berichtete, sie seien durch Medien und Arztgespräche darauf gebracht worden. Eine Beteiligung an der Pflege des Empfängers gaben knapp 60% der Lebendspender an. Mehr

14 Schroth et al. (2006). 15 Schieber et al. (2018).

A UTONOMIE UND L EBENDNIERENSPENDE

| 119

als die Hälfte von diesen wertete dies als belastend. Knapp 12% der Studienteilnehmer berichteten, während der Lebendspende leichte bis mittel ausgeprägte Zweifel an ihrer Entscheidung gehabt zu haben. Jedoch meinten 98% der Spender zugleich, dass sie erneut eine Nierenspende durchführen würden, wenn sie könnten (siehe Tab. 3). Weitere Ergebnisse der Befragung können bei Schieber et al. (2018) im Detail nachgelesen werden. Die Studie zeigt, dass Lebendspender sehr um die Gesundheit des Empfängers bemüht sind und eine hohe Hilfsbereitschaft an den Tag legen. Diese und weitere Gegebenheiten stellen Faktoren dar, die die Entscheidung zur Lebendspende beeinflussen können. Zudem spielen Aspekte wie zum Beispiel das individuelle Verständnis von (Familien-)Beziehungen, Werten und religiösen Weltanschauungen eine wichtige Rolle. 16 Ebenso ist davon auszugehen, dass die Dringlichkeit und Überlebenswichtigkeit der Spende den in Frage kommenden Spender massiv in seinem Entscheidungsprozess beeinflussen. Die Verantwortung für drohende negative Konsequenzen tragen zu müssen, stellt eine große Bürde dar. Es bleibt zu diskutieren, inwiefern das Treffen einer völlig freiwilligen und autonomen Entscheidung im Falle einer Lebendspende tatsächlich möglich ist. V. Fournier et al. beschreiben, dass Lebendspender häufig die Entscheidung zu spenden als einziges ethisch korrektes Verhalten wahrnehmen. Deshalb erwarten die Spender, dass ihre Entscheidung respektiert und ihre Entscheidungsfähigkeit oder der Grad der Entscheidungsfreiheit nicht in Frage gestellt werden. Viele Spender seien dankbar, dass sie die Gelegenheit haben, aktiv helfen zu können, statt passiv dem Fortschreiten der Erkrankung des Empfängers zusehen zu müssen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass dieser Wunsch unterstützt werden muss, auch wenn eine vollkommene Entscheidungsfreiheit fraglich ist. 17 In Anbetracht dessen erscheint es umso wichtiger, dass den Lebendspendern eine kontinuierliche Unterstützung angeboten werden muss, um diesen zu helfen, aufkommende Zweifel, Unsicherheiten und Ängste bewältigen zu können. So könnte beispielsweise in der klinischen Praxis angedacht werden, jedem Lebendspender einen festen Ansprechpartner zuzuordnen, der psychologisch und medizinethisch geschult ist und den Prozess der Lebendspende begleitet.

16 Moazam (2012). 17 Fournier et al. (2013).

120 | K. SCHIEBER, S. GAAG, Y. ERIM

V. Fournier et al. betonen zusätzlich, dass in der Diskussion über autonomes Entscheidungsverhalten im Rahmen einer Lebendspende auch die Zustimmung des Empfängers Beachtung finden sollte. 18 Tatsächlich handeln ethische Diskussionen meist von der Autonomie des Lebendspenders. Es wird davon ausgegangen, dass der Empfänger natürlich einer lebensrettenden Spende zustimmt. Dabei sollte auch der Empfänger zunächst informiert werden, welche Konsequenzen sich für den Spender und ihn ergeben können, wenn er die Spende annimmt. So wäre es hierbei denkbar, das Einverständnis des Empfängers im Rahmen einer informierten Zustimmung einzuholen. Die Lebendorganspende ist und bleibt ein vieldiskutiertes Thema. Letztendlich liegt es jedoch in der Hand eines jeden Betroffenen, im Rahmen der Vorgaben des Transplantationsgesetzes seinen individuellen Umgang damit zu finden. Aufgabe des Behandlers muss es sein, vorschnelle Entscheidungen zu hinterfragen und stattdessen den Spender zu ermutigen, sich Zeit zu nehmen, um alle Aspekte der Entscheidung abzuwägen. Dabei wäre es sinnvoll, unabhängige Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen, die den Spender in seinem Entscheidungsprozess unterstützen.

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18 Ebd.

A UTONOMIE UND L EBENDNIERENSPENDE

| 121

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A UTONOMIE UND L EBENDNIERENSPENDE

Abbildungen und Tabellen Abbildung 1: Prozess der Lebendspende (siehe auch www.transplantation-verstehen.de/lebendspende)

| 123

124 | K. SCHIEBER, S. GAAG, Y. ERIM

Tabelle 1: Kriterien zur Abklärung der Patientenautonomie (basierend auf Schroth et al. 2006)

Allgemeine Voraussetzungen x

Positives Gesprächsklima an

Spezifische inhaltliche Aspekte x

einem ungestörten Ort mit ausreichend verfügbarer Zeit

Mit welchen Beweggründen? x

schaffen x

x

Respektvolle, offene, prob-

x

Grad der Informiertheit?

lemsensitive, auskunftsberei-

x

Wie kam die Entscheidung zur

Schriftliche Informationen

Spende zustande? x

Wurde sich auch mit negativen

mündlich erläutern

Konsequenzen auseinanderge-

Informierte Zustimmung

setzt?

durch Wiedergabe der In-

x

Wie ist die Qualität der Bezie-

formationen durch den Pati-

hung zwischen Spender und

enten mit eigenen Worten

Empfänger zu bewerten?

prüfen x

Welche Informationsquellen wurden herangezogen?

te Haltung einnehmen x

Wer hat Lebendspende initiiert?

x

Wie sind die Differenzierungsfä-

Gespräch schriftlich doku-

higkeit, das Abstraktionsvermö-

mentieren und durch den Pa-

gen und spezifische Persönlich-

tienten gegenlesen und un-

keitsvariablen beim Spender zu

terzeichnen lassen

bewerten?

A UTONOMIE UND L EBENDNIERENSPENDE

| 125

Tabelle 2: Soziodemographische Angaben zu den befragten Lebendspendern von Schieber et al. (2018) Gesamtstichprobe (n = 144)

Variablen Geschlecht Weiblich

n (%)

94

(65.3)

Männlich

n (%)

50

(34.7)

M (SD)

58.7

(8.6)

Alter range

41 - 81

In einer Partnerschaft Ja

n (%)

122

(87.1)

Nein

n (%)

18

(12.9)

Hauptschule

n (%)

60

(41.7)

Realschule

n (%)

45

(31.3)

Abitur

n (%)

39

(27.0)

Vollzeit/Teilzeit

n (%)

80

(55.9)

Hausfrau/-mann

n (%)

28

(19.6)

Rente

n (%)

35

(24.5)

Schulabschluss

Berufstätigkeit

Alter zum Zeitpunkt der Spende

M (SD) range

53.1

(8.3)

31 - 71

126 | K. SCHIEBER, S. GAAG, Y. ERIM

Alter des Empfängers zum Zeitpunkt der Spende Vergangene Zeit seit der Spende in Jahren

M (SD) range M (SD) range

42.0

(13.5)

3 - 69 5.4

(3.4)

1 - 12

Verhältnis des Spenders zum Empfänger Elternteil

n (%)

58

(40.3)

(Ehe-) Partner

n (%)

58

(40.3)

Bruder/Schwester

n (%)

16

(11.2)

Anderes

n (%)

12

(8.2)

Hinweis: Aufgrund fehlender Werte können Stichprobengrößen abweichen

A UTONOMIE UND L EBENDNIERENSPENDE

| 127

Tabelle 3: Ergebnisse aus der Befragung von Lebendspendern bei Schieber et al. (2018) Gesamtstichprobe (n = 144) n

%

Ja

84

58.7

Nein

59

41.3

Gar nicht

34

23.6

Etwas-mittel belastet

39

27.1

Viel-sehr viel belastet

11

7.7

Gar keine Zweifel

127

88.2

Leichte Zweifel

15

10.4

Mittel starke Zweifel

2

1.4

3

2.1

141

97.9

Waren Sie an der Pflege des Empfängers beteiligt?

Wenn ja, fühlten Sie sich dadurch belastet?

Hatten Sie irgendwann Zweifel an Ihrer Entscheidung?

Nachdem Sie die Nierenspende durchgeführt haben, würden Sie dies noch einmal tun? Nein Ja

Hinweis: Aufgrund fehlender Werte können Stichprobengrößen abweichen

Gute Behandlung bei medikamentenresistenter Tuberkulose Ethische Fragen in vulnerablen Situationen der »postantibiotischen Ära« A NDREAS R EIS , C HRISTINA H EINICKE , E RNESTO J ARAMILLO , A NDREAS F REWER

1. E INLEITUNG Tuberkulose ist eine der häufigsten Infektionskrankheiten weltweit, die vor allem vulnerable Gruppen betrifft. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist mit dem Tuberkelbacillus infiziert. Im Jahr 2014 erkrankten weltweit 9,6 Millionen Menschen und starben 1,5 Millionen an Tuberkulose. Schon Rudolf Virchow (1821–1902) erkannte die sozialmedizinische Dimension der Tuberkulose und den Zusammenhang von benachteiligten Lebensbedingungen mit Infektionskrankheiten: »Die künstlichen Seuchen sind vielmehr Attribute der Gesellschaft, Produkte der falschen oder nicht auf alle Klassen verbreiteten Cultur; sie deuten auf Mängel, welche durch die staatliche und gesellschaftliche Gestaltung erzeugt werden und treffen daher auch vorzugsweise diejenigen Klassen, welche die Vortheile der Cultur nicht mitgenießen«. 1

1

Virchow (1849), 47.

130 | A. R EIS, C. H EINICKE, E. J ARAMILLO, A. FREWER

Seit dem Beginn der HIV-Epidemie in den 1980er Jahren sind ethische und menschenrechtliche Fragen, die sich bei der Diagnose und Behandlung von Infektionskrankheiten stellen, vermehrt in den Vordergrund getreten. Wegen der starken Komorbidität von HIV und Tuberkulose rückten auch die Tuberkulose-Programme in den Fokus der Öffentlichkeit. Seit dem besorgniserregenden Auftreten der medikamenten-resistenten TB-Formen vor etwa zehn Jahren sind die ethischen Fragen, insbesondere hinsichtlich des gerechten Zugangs zu teuren Behandlungsmaßnahmen und von etwaigen Zwangsmaßnahmen bei nicht kooperativen Patienten, weiter ins Zentrum der internationalen Debatten gerückt. Der vorliegende Artikel erörtert zunächst einige der zentralen ethischen Fragestellungen. Im Weiteren wird die Arbeit der Weltgesundheitsorganisation im Bereich Ethik und Tuberkulose kurz dargestellt und schließlich ein Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungen und Herausforderungen der nächsten Jahre gegeben.

2. E PIDEMIOLOGIE

DER

T UBERKULOSE

Obwohl die Häufigkeit und Mortalität der Tuberkulose insgesamt um ca. 2% pro Jahr sinkt, bleibt sie die tödlichste Infektionskrankheit der Welt, noch vor HIV/AIDS, und die neunt-häufigste Todesursache weltweit. 2 Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen von 10,4 Millionen Infizierten weltweit im Jahr 2016 aus, und 1,7 Millionen Menschen starben an der Erkrankung. 3 Im Vergleich verteilen sich nur etwa 3% der Tuberkulose-Fälle auf die europäische Region, 4 was etwa 290.000

2

World Health Organization (2018).

3

Ebd.; vgl. auch Greenaway et al. (2003); Médecins du Monde European Observatory On Access To Healthcare (2009); Health for Undocumented Migrants and Asylum Seekers (HUMA) Network (2010); Kaji et al. (2015); Kentikelenis et al. (2015) und Mylius (2015).

4

Albanien, Andorra, Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Großbritannien, Island, Israel, Irland, Italien, Kasachstan, Kirgisistan, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Makedonien, Malta, Moldawien, Monaco, Montenegro, die Niederlande, Norwegen, Öster-

G UTE B EHANDLUNG

BEI MEDIKAMENTENRESISTENTER

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Neuerkrankungen bzw. einer Inzidenz von 32 Fällen auf 100.000 Einwohner entspricht. 5 Deutschland liegt im EU-Vergleich im oberen Mittelfeld (5.915 Tuberkulosen im Jahr 2016; 7,2 Neuerkrankungen auf 100.000 Einwohner). 6 Weltweit traten nach Schätzungen etwa 600.000 Fälle mit Resistenz für Rifampizin auf, darunter 490.000 Fälle von multiresistenter Tuberkulose (MDR TB = resistent ggü. Isoniazid und Rifampicin). 7 Es verstarben etwa 240.000 Menschen an resistenten Formen der Tuberkulose. Die europäische Region (siehe Anmerkung 4) weist den höchsten Anteil multiresistenter Tuberkulosefälle auf. 8 Innerhalb Europas sind es vor allem Russland und Nachfolgestaaten der Sowjetunion, welche die Zahlen in die Höhe treiben. Hier ist teilweise jede fünfte neu entdeckte Tuberkulose multiresistent. In Deutschland lag 2016 in etwa bei 3% der Fälle eine MDR-TB vor. 9 2013 wurde sogar zum ersten Mal von drei Fällen von »XDR« gesprochen. 10 Diese Form ist nicht nur gegen Standardmedikamente resistent, sondern auch gegen mehrere Zweitlinienmedikamente. Weltweit fallen etwa 10% aller resistenten Formen unter die Definition XDR-TB. Insgesamt werden 83% aller neu aufgetretenen Tuberkulosefälle erfolgreich behandelt. Bei Multiresistenz fällt diese Zahl auf nur 54% und bei XDR-TB auf nur 30%. 11 Multiresistenz entwickelt sich zu einem zunehmenden Problem auch in der Bekämpfung von HIV oder Malaria. Daher verabschiedete beispielsweise die Weltgesundheitsversammlung 2015 einen globalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenz, und zum ersten Mal fand eine »World Antibiotics Awareness Week« im November des gleichen Jahres statt. Mit Blick auf das Auslaufen der Millenium Development

reich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, San Marino, Schweden, Schweiz, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tadschikistan, Tschechien, Turkmenistan, Türkei, Ukraine, Ungarn, Usbekistan, Weißrussland, Zypern. Vgl. European Center for Disease Prevention and Control/WHO (2018). 5

Ebd.

6

Brodhun et al. (2017).

7

WHO (2018).

8

Ebd., 56.

9

Brodhun et al. (2017).

10 Brodhun et al. (2014). 11 WHO (2018a).

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Goals 2015 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung 2014 außerdem ein ambitioniertes »End TB« Programm, welches eine Reduktion der Inzidenz der Tuberkulose um 95% bis 2035 im Vergleich zu den Fallzahlen aus 2015 erreichen will. 12 Besonders gefährdet, an Tuberkulose zu erkranken, sind bestimmte Risikogruppen, allen voran Gefängnisinsassen. Das relative Risiko ist beispielsweise in der Slowakei auf das rund 50fache gegenüber der Normalbevölkerung erhöht. 13 Innerhalb der EU und auch innerhalb Deutschlands gibt es leider keine standardisierten Screening-Untersuchungen von Gefängnisinsassen. Schätzungen gehen von einem 8–9fach erhöhten relativen Risiko im Vergleich zur Normalbevölkerung aus. Dabei spielt die Überrepräsentation der Mitglieder von Risikogruppen wie i.v.-Drogenabhängigen, Alkoholkranken und Menschen mit ausländischen Wurzeln in Gefängnissen eine nicht unerhebliche Rolle. 14 Eine weitere vulnerable Gruppe sind Menschen mit HIV-/Tuberkulose-Koinfektion. Diese Personen haben ein höheres Risiko, eine aktive Tuberkulose bei Kontakt mit den Erregern zu entwickeln und insgesamt eine höhere Wahrscheinlichkeit, an der Infektion zu versterben. Die WHO empfiehlt, jeden Menschen, der eine nachgewiesene Tuberkulose-Infektion hat, auf HIV zu testen. Deutschland und auch viele andere Länder tun dies nicht standardmäßig, 15 sondern überlassen die Entscheidung zur Indikationsstellung dem behandelnden Arzt. So war global betrachtet nur bei etwa der Hälfte der gemeldeten Fälle der HIVStatus bekannt. 16 In Ländern mit einer hohen Anzahl an HIV-Infizierten empfiehlt die WHO eine Isoniazid-Prophylaxe zur Tuberkuloseprävention. Aktuell gelingt dies nur in 13 von 41 Hochrisikoländern. 17 Bei der Prophylaxe, Diagnostik und Behandlung von Tuberkulose stellen sich vielfältige ethische Fragen, welche Tuberkulose-Programme auf internationaler und nationaler Ebene adäquat berücksichtigen müssen, um langfristig diese Erkrankung wirksam bekämpfen zu können. Im Folgenden werden einige der zentralen ethischen Fragestellungen diskutiert.

12 WHO (2015b), 12. 13 European Center for Disease Prevention and Control/WHO (2014). 14 Ebd., 5. 15 Fiebig et al. (2014). 16 WHO (2015a), 3. 17 Ebd., 78.

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3. Z ENTRALE ETHISCHE F RAGESTELLUNGEN BEI T UBERKULOSE -P ROGRAMMEN 3.1 Zugang zu Diagnostik und Medikamenten Auf globaler Ebene bleibt der adäquate Zugang zu diagnostischen Untersuchungen und Behandlungsmaßnahmen unzureichend. Insbesondere vulnerable Gruppen in Entwicklungsländern können sich häufig diese Maßnahmen nicht leisten, wenn sie von den TB-Programmen nicht kostenfrei angeboten werden. Da selbst geringe Kosten das Monatseinkommen der Patienten häufig übersteigen, ist es für effektive Programme von essenzieller Wichtigkeit, alle mit TB verbundenen Leistungen den Patienten ohne Zuzahlung zur Verfügung zu stellen. Andernfalls wird es immer Patienten geben, die entweder die notwendige Therapie erst gar nicht beginnen oder sie nicht zu Ende führen. Dies hat nicht nur zur Folge, dass sie infektiös bleiben und potenziell weitere Personen anstecken, sondern könnte auch der weiteren Entwicklung medikamenten-resistenter TB-Stämme Vorschub leisten. Deshalb gibt es für gute Behandlung sowohl aus individueller als auch Public Health-Perspektive ein großes Interesse daran, die Therapietreue (compliance) zu stärken. Einen Sonderfall stellen Patienten dar, die schon mit medikamentenresistenter Tuberkulose infiziert sind. In diesem Fall müssen sogenannte »Second-line« oder »Third-line«-Therapien angewendet werden, die allerdings wegen der hohen damit verbundenen Kosten in vielen Ländern noch nicht annähernd flächendeckend zur Verfügung stehen. Hier ergibt sich eine besondere Verpflichtung für die nationalen TB-Programme und die internationalen Geber, eine ununterbrochene Therapie sicherzustellen. Leider wurde 2014 in der Europäischen Region in 15% der MDR-Fälle und in 30% der XDR-Fälle nach 36 Monaten Behandlung keine Heilung erreicht. 18 Falls diese Patienten weiterhin infektiös bleiben, müssen dauerhafte Lösungen für ihre Isolierung gefunden werden. Des Weiteren sollten die TB-Programme für ein ausreichendes Angebot an palliativen Maßnahmen sorgen, die im Bereich der Tuberkulose und der Infektionskrankheiten allgemein allzu oft noch gar nicht Bestandteil der Behandlung sind. 18 Eker (2014), 30.

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3.2 Der Umgang mit vulnerablen Personen in TB-Programmen: Zwang bei Non-Compliance? Ein wichtiger ethischer Fragenkomplex betrifft mögliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Patienten, die nicht »compliant« sind. Grundsätzlich sollten alle mit Tuberkulose verbundenen Maßnahmen auf freiwilliger Basis und mit Einverständnis des Patienten durchgeführt werden. In der Tat ist die Einbeziehung des Patienten wegen der monatelangen Therapie bei TB eine unabdingbare Voraussetzung für die Therapietreue. In den allermeisten Fällen zeigen sich Patienten nach ausreichender Aufklärung kooperativ. Umgekehrt ist eine hohe Zahl von nicht-kooperativen Patienten häufig ein Zeichen dafür, dass den Aufklärungsgesprächen nicht genügend Wichtigkeit und Zeit eingeräumt wird. Dies zeigt sich sogar bei der Behandlung von TB-Patienten auf süddeutschem Boden und in der »ZauberbergHaftanstalt«, wie ein plastischer Fallbericht zeigt: Der Arzt »betritt das Zimmer von Iwan, 19 der nicht sein Patient sein will«. 20 Dieser Kranke hat eine offene Tuberkulose und wird gegen seinen Willen in der TB-Anstalt nahe Regensburg festgehalten: »Und weil er nicht an diesem Ort sein will, hat er gestern ein Fenster eingetreten.« Der Arzt lässt sich seinen Ärger nicht anmerken; beim Gutenmorgengruß wäre ein Lächeln hilfreich, aber der Mundschutz ist im Weg. Das Einzige, was den stämmigen russischen Patienten interessiert, ist die Frage: »Wann komme ich hier raus?« Er lebt seit zwei Wochen in der »Klinik für Lungen- und Bronchialkunde« am Bezirkskrankenhaus Parsberg; dies ist eine Spezialklinik für uneinsichtige TB-Patienten, die gegen ärztliche Anordnungen verstoßen oder in anderen Krankenhäusern negativ aufgefallen sind (z.B. wegen Randalierens). Die TB-Erkrankung ist ansteckend; würde man ihn freilassen, könnte er für andere Menschen eine Gefahr bedeuten. Hier werden ethische Grundkonflikte der Behandlung deutlich; diese Zwangsmaßnahmen sind eine schwierige Gratwanderung: Der Patient äußert Gewaltbereitschaft und sogar autodestruktive Tendenzen: »Wenn ich hier nicht rauskomme, reiße ich mir ein Auge raus.« Es ist ein tägliches Ringen zwischen Arzt und Patient – »keiner ist bereit aufzugeben«. Die Prinzipien von Autonomie und Nichtschaden sowie Wohltun für den einzelnen Patienten wie auch die

19 Name geändert. 20 Selgelid/Reichmann (2011).

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Gesellschaft treten in einen scharfen Kontrast. Schließlich sind zwei Arten von Zwangsmaßnahmen als ultima ratio zu unterscheiden: die zwangsweise Isolierung und die Zwangsbehandlung. Die Gesetze zum Infektionsschutz bzw. zur Seuchenprävention erlauben in den meisten Ländern, wie auch in Deutschland, die Isolierung gegen den Willen der Patienten, wenn eine hohe Infektionsgefahr und folglich eine Gefährdung der Allgemeinheit besteht. 21 Doch sollte die zwangsweise Isolierung niemals ein Routinebestandteil der TB-Programme sein. Vielmehr sollte sie sich auf extrem seltene Fälle beschränken, in denen ein Patient sich trotz aller wiederholten Versuche, ihn von der Notwendigkeit einer Isolation zu überzeugen, dieser beständig widersetzt, obwohl er entweder nachweislich oder höchstwahrscheinlich infektiös ist und eine Diagnostik ablehnt. In diesen Fällen erscheint aus ethischer Perspektive eine Zwangsisolation als ultima ratio gerechtfertigt, wenn sie den Bedingungen der Siracusa-Prinzipien gemäß durchgeführt wird: 22 u.a. Rechtmäßigkeit, legitimes Ziel, Notwendigkeit für die öffentliche Gesundheit. Darüber hinaus muss die Isolierung unter humanen Konditionen erfolgen, und es müssen die Bedürfnisse des täglichen Lebens von der Institution abgedeckt werden. Auch in Deutschland gibt es für diesen Zweck eingerichtete Institutionen, 23 sie sind allerdings in vielen osteuropäischen Ländern weiter verbreitet. Während die Zwangsisolation unter Einhaltung ethischer Rahmenbedingungen weithin als ultima ratio akzeptiert ist, ist die Zwangsbehandlung aus ethischer und menschenrechtlicher Perspektive abzulehnen. Stattdessen sollte eine erzwungene Isolierung durchgeführt werden, bis der Patient in die Therapie »einwilligt«. Schon allein aus praktischen Gründen wäre eine effektive Zwangsbehandlung, die über Wochen invasive Eingriffe notwendig machen würde, nahezu unmöglich. Aus ethischer Sicht ist die Nicht-Einwilligung des Patienten zu akzeptieren, da er durch die Isolierung keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt; allerdings ist eine potenziell wochenlange Zwangsisolation in speziellen Einrichtungen wesentlich teurer als eine Therapie, die meist zuhause durchgeführt werden kann. Deswegen stellen sich, vor allem in Gesundheitssystemen mit geringen finanziellen Mitteln, Fragen der Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Opportunitätskosten.

21 Bundesministerium der Justiz und des Verbraucherschutzes (2016). 22 UN Economic and Social Council/UN Commission on Human Rights (1985). 23 Schmalenbach (2014).

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3.3 Situative Verletzlichkeit als TB-Risiko: Vulnerable Gruppen und Tuberkulose Tuberkulose ist seit jeher eine Erkrankung der sozial Schwachen einer Gesellschaft. Der erfolgreiche Kampf Westeuropas gegen TB wird heute nicht nur auf die Entwicklung von Antibiotika, sondern auch auf die erhebliche Verbesserung der Lebensumstände, insbesondere die insgesamt verbesserte Hygiene- und Wohnsituation zurückgeführt. So überrascht es wenig, dass heute gerade Menschen in besonderen Wohnsituationen, wie Obdachlose und Menschen in Sammelunterkünften (Seniorenheimen, Flüchtlings- und Aufnahmelagern, Gefängnissen) ein erhöhtes Erkrankungsrisiko tragen. Im Jahr 2014 betrug der Anteil von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland 9% der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig betrafen ca. 55,7% aller Tuberkulose-Fälle diese Gruppe. Mit einer Inzidenz von 33,6 auf 100.000 war das Risiko dieser Subpopulation damit um etwa den Faktor 13 erhöht. 24 Zur Eindämmung der Tuberkulose werden in Deutschland bei der Aufnahme von Asylbewerbenden Screening-Untersuchungen durchgeführt, die in der Regel eine Röntgenaufnahme der Lunge und einen Gamma-Releasetest beinhalten. Besondere Herausforderungen bei der Behandlung dieser Gruppe können die sprachliche und kulturell angemessene Vermittlung von Informationen zur Diagnostik und Therapie oder die Garantie einer Kontinuität der Behandlung im Fall einer Abschiebung in Drittländer (nach der Dublin 2-Regelung) bzw. in das Heimatland sein. Die WHO fordert zusätzlich alle Mitgliedsstaaten auf, bei gesicherter TBDiagnose alle Betroffenen einem HIV-Test zu unterziehen, was Fragen der angemessenen Aufklärung und der Zusicherung von Behandlung im Krankheitsfall weiter zuspitzt. Die Anforderungen für die Zustimmung zu HIV-Tests sind nämlich in vielen Ländern deutlich höher als für andere Infektionskrankheiten (schriftliche Einverständniserklärung, ausführliches Beratungsgespräch etc.), und immer noch sind benötigte antiretrovirale Therapien nicht in allen Ländern vorhanden. HIV-Tests sollten aber nur angeboten und durchgeführt werden, wenn bei positivem Resultat auch eine adäquate Therapie angeboten werden kann.

24 Brodhun et al. (2015), 7.

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Zusätzlich zu diesen »alltäglichen« Herausforderungen in der Diagnostik und Behandlung betreffen fast alle in Deutschland gemeldeten MDR/ XDR-Fälle Menschen mit Migrationshintergrund. 25 Sogenannte »Illegale« 26 haben zwar die Möglichkeit, Kosten für Diagnostik und Behandlung vor einem Gericht in Übereinstimmung mit dem Asylbewerberleistungsgesetz einzuklagen, jedoch muss dabei der Aufenthaltsstatus dargelegt werden. 27 Des Weiteren besteht die theoretische, aber praktisch unrealistische Möglichkeit, für die Kosten der Behandlung selbst aufzukommen. In der Praxis werden Kosten wohl häufig von wohltätigen Organisationen, den Leistungserbringern oder den Sozialämtern getragen. Diese Regelungen und das häufige Fehlen geregelter Wohn- und Lebensumstände lassen eine hohe Inzidenz der Tuberkulose in dieser Gruppe vermuten. Selbst wenn man die Debatte um das Ausmaß, in dem ein Staat auch für das Wohl »illegaler« Einwanderer verantwortlich ist, außer Acht ließe, wäre allein im Hinblick auf die gesundheitlichen Auswirkungen für die Allgemeinbevölkerung eine kritische Prüfung der bestehenden Rechtsnormen gerechtfertigt. 28 Das relative Risiko für Gefängnisinsassen als einer weiteren, besonders vulnerablen Personengruppe kann in Deutschland momentan nicht präzise angegeben werden, da nicht alle Bundesländer umfassende Screeningmaßnahmen bei Aufnahme in die Justizvollzugsanstalten (JVA) durchführen. Deutsche Schätzungen, basierend auf den verfügbaren Daten, gehen von einem durchschnittlich 11fach erhöhten Risiko aus; 29 innerhalb Europas weist das relative Risiko eine enorme Spannbreite auf (RR 0 in Malta und Norwegen bis 111 in Israel). 30 Der Prozentsatz der MDR/XDR -Fälle ist im Vergleich zur Normalbevölkerung ebenfalls stark erhöht. In der Population

25 Figuera-Munoz/Ramon-Pardo (2008); British Medical Association (2012); Wild (2012); Abarca et al. (2013); Aldridge et al. (2014) und Pottie et al. (2015). 26 Cuadra (2010); Ärzte der Welt e.V. (2013) sowie Mylius/Frewer (2015). 27 Bundesministerium des Inneren (2007), 22–23; siehe auch den Beitrag von Kanalan et al. in diesem Band. 28 Turner (2006); Selgelid/Reichmann (2011); Wild (2012); Wild/Heilinger (2013); Woodward et al. (2014); WHO/Migration Health Division/International Organization for Migration (2014) und Mylius/Frewer (2015). 29 Bös/Groß (2014). 30 Eker (2014), 27.

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der Justizvollzugsanstalten sind zahlreiche bekannte Risikofaktoren überrepräsentiert, u.a. Obdachlosigkeit, i.v. Drogenabusus, starker Tabakkonsum, Geburtsland mit hoher TB-Inzidenz und frühere Gefängnisaufenthalte. Die Behandlung und das Monitoring der Therapieadhärenz gestaltet sich bei dieser Patientengruppe oft als herausfordernd, da die Häftlinge häufig vor Therapieende aus der JVA entlassen werden. Aus der Tatsache, dass der Staat die Rechte des Einzelnen durch Inhaftierung begrenzt und somit auch die freie Arztwahl und den Zugang zu Gesundheitsleistungen erschwert, lässt sich eine besondere Verpflichtung des Staates ableiten, gesundheitserhaltende und -fördernde Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Bundesweit einheitliche Regelungen zur Aufnahmeuntersuchung in Justizvollzugsanstalten könnten weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung –insbesondere der multiresistenten Tuberkulose – in der Gesamtbevölkerung leisten. 3.4 Mangel an Forschung Seit Jahrzehnten gibt es im Bereich der Prävention, Diagnostik und Behandlung der Tuberkulose nur sehr vereinzelte Fortschritte. Der Tuberkulin-Test ist seit mehr als einem Jahrhundert gebräuchlich, die BCGImpfung hat wichtige Fortschritte gebracht, aber die Entwicklung eines hochwirksamen Impfstoffes steht aus, und bis vor kurzem gab es keine Neu-Entwicklungen im Bereich der Anti-Tuberkulotika. Trotz des dringend notwendigen Forschungsbedarfs stagnieren sogar die Ausgaben für TBForschung seit 2009 bei unter 700 Millionen US$ pro Jahr. Da führende Experten den für die Eliminierung der Tuberkulose notwendigen Forschungsaufwand auf ca. 2 Milliarden US$ jährlich schätzen, besteht demnach eine Finanzierungslücke von ca. 1,3 Milliarden US$ pro Jahr. 31 Da in kaufkräftigen Industrieländern ein lukrativer Markt für Tuberkulose-Prävention, Diagnostik und Behandlung praktisch nicht existiert, verlassen zudem immer mehr Pharma-Unternehmen das Forschungsfeld TB, und die Forschungsgelder müssen zunehmend von der öffentlichen Hand bereitgestellt werden. Viele der ethischen Fragen, die sich bei Tuberkulose-Programmen stellen, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mangel an Forschung. So sind die zum Teil sehr hohen Medikamenten-Preise ein

31 Frick (2014).

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großes Hindernis für die Zugangsgerechtigkeit, insbesondere bei marginalisierten Gruppen. Verstärkte Lobby-Arbeit und eine Schärfung des Bewusstseins für den eklatanten Forschungsmangel auf globaler Ebene sowie bei Forschungsagenturen und anderen Geldgebern im Bereich Tuberkulose sind daher dringend notwendig, ganz besonders auch im Interesse vulnerabler Personengruppen.

4. D AS WHO-P ROJEKT In den letzten Jahren steigt das Bewusstsein für die ethischen Fragen, die sich insbesondere bei der Behandlung von medikamenten-resistenten Tuberkulose-Formen ergeben. Im Jahr 2009 etablierte die Weltgesundheitsorganisation erstmals eine Expertengruppe zum Thema »Ethik und Tuberkulose«, um die relevanten ethischen Fragen zu analysieren und den nationalen Tuberkulose-Programmen eine Hilfestellung bei der Lösung komplizierter Fragestellungen an die Hand zu geben. Die Experten aus den Bereichen Ethik, Menschenrechte, Gesundheitsrecht, Tuberkulose und Public Health entwickelten WHO-Richtlinien zu dem Thema, die im Jahr 2010 veröffentlicht wurden. 32 Diese ersten internationalen Richtlinien zum Thema Ethik und Tuberkulose umfassten die wichtigsten moralischen Fragen, vom Zugang zu Medikamenten über Patienteneinwilligung und Zwangsmaßnahmen bis hin zu Fragen der Forschungsethik. Seither wurden sie in zahlreichen Workshops auf regionaler und nationaler Ebene bekannt gemacht, u.a. in Holland, Griechenland, China, Aserbaidschan, Malaysia, Guatemala und Mexiko. Viele nationale Tuberkulose-Programme haben begonnen, die Richtlinien zu implementieren; sie haben dabei Eingang in die staatliche Gesetzgebung im Bereich Tuberkulose und Infektionskrankheiten gefunden. Seit der Publikation der WHO-Richtlinien im Jahr 2010 hatten sich neue ethische Fragen ergeben, die eine Revision und Erweiterung des Dokuments notwendig erscheinen ließen. Anzuführen wären hier zum Beispiel Situationen, in denen Patienten keine kurativen Therapie-Optionen mehr haben, aber weiterhin infektiös bleiben. Des Weiteren bestand die Frage, ob Personen mit latenter Tuberkulose systematisch präventiv behandelt werden sollten, wobei die Nutzen und Risiken für das

32 WHO (2010).

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Individuum bzw. die Allgemeinheit sorgfältig abzuwägen sind. Schließlich wirft auch die chronische Unterfinanzierung der Erforschung neuer Tuberkulose-Medikamente viele ethische Fragen auf; es scheint ein klares Versagen der Marktmechanismen vorzuliegen. Diese neuen ethischen Fragestellungen wurden in einer überarbeiteten Version der WHO-Richtlinien abgehandelt, die im Jahr 2017 erschien. Die revidierte Fassung betont sowohl die menschenrechtlichen Aspekte der Behandlung der Tuberkulose als auch Public Health-Ethik – Prinzipien wie Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit, und Partizipation. 33

5. S CHLUSSÜBERLEGUNGEN Auf globaler Ebene wirft die Tuberkulose-Epidemie weiterhin viele alte und auch neuartige ethische Fragestellungen auf. Angesichts der steigenden Inzidenz in Ost-Europa und der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen ist ein Ansteigen der TB-Infektionen auch in West-Europa zu erwarten. 34 Die damit verbundenen ethischen Fragen sollten von der Gesundheitspolitik gut bedacht und in den Tuberkulose-Programmen adäquat umgesetzt werden. Ob sich die Menschheit bereits in einer »post-antibiotischen« Ära befindet, ist noch nicht endgültig abzusehen; ganz sicher ist jedoch die Notwendigkeit, für eine gute Behandlung die moralischen Aspekte im Sinne einer neuen »Global Health Ethics« zu berücksichtigen. Dabei sollte die komplexe Vulnerabilität besonders relevanter Risikogruppen eine zentrale Rolle spielen bei der Planung und Umsetzung zukünftiger Maßnahmen. Disclaimer PD Dr. Andreas Reis und Dr. Ernesto Jaramillo sind Mitarbeiter bei der Weltgesundheitsorganisation. Sie sind für Inhalte, die in der vorliegenden Publikation zum Ausdruck gebracht werden, allein verantwortlich. Die getroffenen Aussagen repräsentieren nicht notwendigerweise die Entscheidungen oder die Politik der Weltgesundheitsorganisation.

33 WHO (2017). 34 Brodhun et al. (2014) und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015).

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Die Beteiligung der Ärztin Christina Heinicke am vorliegenden Beitrag erfolgte im Rahmen ihres Dissertationsprojekts an der Professur für Ethik in der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und im Kontext eines Praktikums bei der Weltgesundheitsorganisation (Genf). Prof. Andreas Frewer war Leiter der EFI-Forschungsgruppe »Human Rights in Healthcare« (FAU) und Mitglied der internationalen WHOArbeitsgruppe »TB Guidance«. Die Standards der Forschungsethik im Sinne der Deklaration von Helsinki sind eingehalten; eine Genehmigung durch eine Ethikkommission war nicht erforderlich, da für den Beitrag keine patientenbezogenen Studien durchgeführt wurden. Datenschutzrechtlich ergeben sich keine Probleme. Die Autor*innen geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

D ANKSAGUNG Wir danken der Weltgesundheitsorganisation für die langjährige Unterstützung der Arbeitsgruppen zur Formulierung von global gültigen TBRichtlinien sowie den beteiligten internationalen Expertinnen und Experten für ihren engagierten Einsatz. Dem EFI-Forschungsprojekt »Human Rights in Healthcare« an der FAU Erlangen-Nürnberg möchten wir für den fruchtbaren Austausch im Rahmen von internen und öffentlichen Foren danken sowie der Fondation Brocher (Schweiz) für die Unterstützung und Ausrichtung einer Fachtagung.

L ITERATUR Abarca, T. B./Pell C./Bueno Cavanillas, A./Guillen Solvas, J./Pool, R./ Roura, M. (2013): »Tuberculosis in migrant populations. A systematic review of the qualitative literature«, in: PLoS One 8, 12 (2013), e82440, Online: http://journals.plos.org/plosone/article/file?id= 10.1371/journal. pone.0082440&type=printable [15.08.2018]. Aldridge, R. W./Yates, T. A./Zenner, D./White, P. J./Abubakar, I./Hayward, A. C. (2014): »Pre-entry screening programmes for tuberculosis in migrants to low-incidence countries: a systematic review and metaanalysis«, in: Lancet Infectious Diseases 12, 14 (2014), 1240–1249.

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G UTE B EHANDLUNG

BEI MEDIKAMENTENRESISTENTER

T UBERKULOSE

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Zur Vulnerabilität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen M ARTINA S CHMIDHUBER , E LMAR G RÄSSEL

1. E INFÜHRUNG Vulnerabilität ist ein Merkmal der conditio humana: Menschen sind aufgrund ihres leiblich verfassten Menschseins verletzlich. Hunger, Durst, Schlafentzug, soziale Isolation – all dies macht menschliche Wesen vulnerabel. Die Autorinnen Catriona Mackenzie, Wendy Rogers und Susan Dodds sprechen in diesem Zusammenhang von ontologischer bzw. inhärenter Vulnerabilität. 1 Darüber hinaus nennen sie in ihrer Taxonomie situative Vulnerabilität, die Menschen in bestimmten Kontexten treffen kann, z.B. wenn sie Opfer einer Naturkatastrophe oder pflegebedürftig werden. 2 Schließlich nennen sie als dritte Form die pathogene Vulnerabilität, deren Quelle sowohl asymmetrische interpersonale Beziehungen als auch institutionelle Strukturen sein können, etwa wenn eine pflegebedürftige Person von ihrem Pflegenden sexuell missbraucht wird. 3 In besonders vulnerablen Situationen befinden sich Personen mit akuten oder chronischen Erkrankungen, so auch Menschen mit Demenz. Sie haben nicht all die Möglichkeiten und Ressourcen, die Gesunden zur Verfügung stehen. Wer jedoch oftmals in diesem Zusammenhang vergessen wird, sind die pflegenden Angehörigen, die aufgrund der Belastung der Versorgung des Menschen mit Demenz ebenfalls zu jenen Personen zählen, die sich in 1

Vgl. Mackenzie et al. (2014b), 7.

2

Vgl. ebd.

3

Vgl. ebd., 9.

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vulnerablen Situationen befinden. Sie sind neben den Menschen mit Demenz, die als primär Betroffene bezeichnet werden können, sekundär von dieser Situation betroffen. 4 Im Folgenden sollen diese beiden Personengruppen im Hinblick auf ihre Vulnerabilität im Sinne der eingangs genannten Taxonomie von Mackenzie et al. in speziellen Kontexten in den Fokus genommen werden. Davor soll zunächst ein kurzer Überblick über das Demenzsyndrom gegeben werden. 5

2. D EMENZ –

EIN

Ü BERBLICK

Der Oberbegriff Demenz umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern mit unterschiedlicher Ursache. Nach ICD 10 ist das Demenzsyndrom durch ein spezifisches Symptommuster gekennzeichnet, das sich auf kognitive Leistungen und nicht-kognitive Symptome bezieht. Die häufigste Demenzform ist die Alzheimer-Demenz (60–70%). 6 Aufgrund der insgesamt steigenden Lebenserwartung nimmt die Inzidenz der Erkrankung zu. Denn je höher das Lebensalter, umso größer ist das Risiko zu erkranken. Die Alzheimer-Demenz zählt zur Gruppe der primären Demenzformen. Das bedeutet, dass das Gehirn direkt erkrankt ist und, da hirnorganische Erkrankungen nicht heilbar sind, die Erkrankung allmählich fortschreitet. Im Gegensatz zu primären Demenzen entstehen sekundäre Demenzen aufgrund anderer körperlicher Beeinträchtigungen. Das Gehirn reagiert auf ein körperliches Problem, wie z.B. Medikamente, Erkrankungen (z.B. Schilddrüsenfunktionsstörungen) oder Mangelzustände. Sekundäre Demenzen können aufgrund der Möglichkeit, konkret Einfluss zu nehmen (Medikation verändern, Ursache behandeln), verbessert, stabilisiert oder sogar geheilt werden. 7 Aufgrund der Häufigkeit und der Tatsache, dass die Alzheimer-Demenz als primäre Demenzform nicht heilbar ist, soll vor allem diese Erkrankung in den Blick genommen werden. Der Verlauf der Alzheimer-Demenz wird

4

Die Bezeichnungen »primär« und »sekundär« Betroffene sind übernommen aus

5

Zu weiterer Fachliteratur siehe auch Frewer et al. (2015); Frewer/Schmidhuber

6

Vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2011), 9.

7

Vgl. Engel (2006), 12.

Gräßel/Niefanger (2012), 100. (2016) und Schmidhuber et al. (2017).

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grob in drei Stadien eingeteilt: (1) Im Frühstadium nimmt die Gedächtnisleistung kontinuierlich ab, Gegenstände werden verlegt, starke Stimmungsschwankungen fallen auf und die Orientierungsfähigkeit lässt nach. Die Probleme im Alltag werden vom primär Betroffenen selbst wahrgenommen, was ihn belastet und in weiterer Folge zur Depression führen kann. (2) Im mittleren Stadium verstärken sich die Probleme in der selbständigen Lebensführung. Im Alltag wird Hilfe zum Einkaufen, Kochen, Benutzen von Verkehrsmitteln etc. benötigt, was beim Betroffenen angesichts seiner Hilflosigkeit Aggressionen auslösen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von »herausforderndem Verhalten«. 8 (3) Im schweren Stadium verlieren Menschen mit Demenz ihre verbalen und motorischen Fähigkeiten, sodass sie gewaschen, ihnen das Essen gereicht und sie angekleidet werden müssen. Vertraute Personen werden häufig nicht mehr erkannt und/oder ihre Namen vergessen. Die Patienten werden oftmals sogar bettlägerig und müssen künstlich ernährt werden. 9 Die Tagesverfassung der Betroffenen kann in den ersten Stadien sehr stark schwanken. Sogar innerhalb eines Tages können sich sowohl die Stimmung als auch das Gedächtnis des Erkrankten von relativ gut bis ganz schlecht verändern. 10 Die Erkrankung ist in jener Phase, in der ein Betroffener merkt, dass er immer mehr vergisst, die Orientierungsfähigkeit abnimmt und er mit seinem Alltag überfordert ist, besonders bedrückend. Als »gnädige Schwelle« wird jener Punkt der Erkrankung bezeichnet, ab dem der Betroffene vergisst, dass er vergisst. Für die pflegenden Angehörigen ist der Prozess jedoch meist bis zum Schluss belastend, weil sie hautnah miterleben, wie sich ein Mensch, der ihnen nahesteht, verändert und wie er immer mehr abbaut. So erläuterte Inge Jens in einem Interview über ihren an Demenz erkrankten Mann Walter Jens: »Er ist nicht mehr mein Mann. Er ist in einer Welt, zu der ich wenig oder gar keinen Zugang habe.« 11

8

Maier et al. (2011), 120.

9

Vgl. ebd., 33–39.

10 Vgl. ebd., 35. 11 Winkler (2010).

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3.1 Diagnosestellung Die Diagnosestellung umfasst eine ausführliche Erhebung der Anamnese sowie eine Fremdanamnese der Bezugspersonen und wird mit geriatrischmedizinischen, neurologisch-psychiatrischen und neuropsychologischen Untersuchungen ergänzt. Es geht vor allem darum, andere Erkrankungen auszuschließen 12 und die Krankheitssymptome genau zu erfassen. Allein das Warten auf die Diagnose setzt Menschen mit Demenz einer situativen Vulnerabilität aus, weil sie Angst vor der vielleicht schon vermuteten Diagnose und ihren Folgen wie Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung etc. haben können. Darüber hinaus gibt es im Zuge der Diagnosestellung zwei Risiken. Einerseits besteht die Gefahr, dass Ärzte zu früh Demenz diagnostizieren, weil von verschiedenen Seiten immer wieder postuliert wird, dass die frühe Diagnose für weitere Entscheidungen so wichtig ist. 13 Bedeutsam ist jedoch, zwischen normaler Altersvergesslichkeit, Mild Cognitive Impairment (MCI) und Demenz zu unterscheiden. Eine Demenzdiagnose kann eine starke psychische Belastung für den Betroffenen sein. Wenn die Diagnose fälschlicherweise gestellt wurde, ist diese psychische Belastungssituation völlig unnötig. Hier wird deutlich, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis ein asymmetrisches ist und den ratsuchenden Betroffenen einer pathogenen Vulnerabilität aussetzen kann. Ebenso ist die Differentialdiagnose zur Depression nicht einfach. In der Frühphase der Demenz treten häufig depressive Symptome auf, und umgekehrt haben Menschen mit schweren depressiven Störungen häufig auch Gedächtnis- und Merkstörungen, wie sie bei einer Demenz vorkommen. 14 Andererseits kann auch eine zu späte Diagnose sehr problematisch sein. Viele Menschen mit Demenz versuchen, ihre Symptome noch längere Zeit zu kaschieren. Besonders intelligente Menschen schaffen es, mit Wortspielen oder Witzen ihrer Vergesslichkeit die Bedeutung zu nehmen. Auch wenn die Angehörigen dann zwar schon merken, dass sich die betroffene

12 Vgl. Schmidhuber et al. (2014), 108–109. 13 Vgl. dazu etwa die Überlegungen in Schmidhuber et al. (2014). 14 Ebd., 110.

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Person verändert hat, dauert es meist noch einige Zeit, bis sie erkennen, dass es sich um eine Demenz handeln könnte, und sie einen Arztbesuch zur Abklärung als notwendig erachten. Die späte Arztkonsultierung kann jedoch zur Folge haben, dass die Erkrankung dann schon weiter fortgeschritten ist, d.h. dass sich der primär Betroffene nicht mehr in der ganz frühen Erkrankungsphase befindet und deshalb möglicherweise gewisse Vorausplanungen (Advance Care Planning) aufgrund der eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten nicht mehr möglich sind. Das betrifft etwa das Verfassen einer Patientenverfügung und einer Vorsorgevollmacht. Die situative Vulnerabilität nimmt also auch dann zu, wenn die Diagnose zu spät gestellt wird und dadurch gewisse Möglichkeiten, wie das Schreiben einer Patientenverfügung, aufgrund des fortgeschrittenen kognitiven Abbaus verhindert werden. Durch eine späte Diagnose wird außerdem die Chance vertan, in einem frühen Krankheitsstadium durch ein gezieltes Training kognitive und alltagspraktische Fähigkeiten zu stabilisieren – nachgewiesen ist dies z.B. für die nicht-pharmakologische Mehrkomponententherapie MAKS® (siehe unter www.maks-therapie.de). Das bedeutet, es wird für eine gewisse Zeit verhindert, nachgewiesen ist dies für zwölf Monate, 15 dass die Fähigkeiten weiter nachlassen, wie dies für den unbehandelten Verlauf bei neurodegenerativen Erkrankungen typisch ist. Von der Stabilisierung der Fähigkeiten profitieren die Betroffenen und sekundär auch das Umfeld, insbesondere die Pflegenden. Denn Menschen mit Demenz, deren Fähigkeiten noch länger erhalten bleiben, fühlen sich wohler, wodurch das herausfordernde Verhalten stark reduziert wird. Das macht das Zusammenleben mit einem Menschen mit Demenz für die sekundär Betroffenen wesentlich leichter. Die Diagnose ist für viele Personen anfangs ein Schock, selbst wenn schon die Vermutung im Raum stand. Immerhin werden mit der Erkrankung der fortschreitende Verlust der Selbstkontrolle und zunehmende Abhängigkeit von anderen verbunden – die Vulnerabilität nimmt im Laufe der Erkrankung stark zu, und die nicht unberechtigte Angst vor Stigmatisierung besteht häufig. Auf der anderen Seite kann die Diagnose in weiterer Folge auch als entlastend empfunden werden, weil man nun endlich genau Bescheid weiß, was es mit den Symptomen auf sich hat. Das bedeutet zudem, dass nun krankheitsgerechtes Verhalten von der Umgebung erwartet wer-

15 Graessel et al. (2011).

152 | M. SCHMIDHUBER, E. GRÄSSEL

den darf und eine Grundlage für gute medikamentöse und nicht-medikamentöse Weiterbehandlung geschaffen wurde. Daraus ist zu folgern, dass eine frühe Diagnose Vulnerabilitätsketten verhindert, weil die vorhandenen Fähigkeiten noch gut gefördert und Wünsche und Vorhaben, wie das Erstellen einer Patientenverfügung und einer Vorsorgevollmacht, noch artikuliert und umgesetzt werden können. Freilich bedarf es dafür geeigneter interpersonaler Beziehungen und institutioneller Strukturen, um situative und pathogene Vulnerabilitäten zu verhindern. 3.2 Autonomie Die Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung werden vor allem im alltagssprachlichen Gebrauch, aber auch in verschiedenen wissenschaftlichen Positionen weitgehend synonym verwendet. Eine philosophische, eher selten vertretene Position, will diese beiden Begriffe aber getrennt voneinander verstanden wissen. In dieser Sicht wird jeder Mensch als für sich selbst stehendes, körperlich von anderen abgegrenztes Individuum, als autonom verstanden – dies gilt auch im Zustand der Demenz. Selbstbestimmung bedeutet hingegen, tatsächlich selbst entscheiden und bestimmen zu können, was man will und wie man handeln möchte. 16 Das können Menschen mit Demenz ab einem gewissen Stadium nicht mehr. Aufgrund des schlüssigen Wortstamms autos und nomos (sich selbst Gesetze gebend) soll im Folgenden dem ersten Verständnis der synonymen Verwendung von Autonomie und Selbstbestimmung gefolgt werden. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit Demenz wegen der Erkrankung sehr schnell ihre Autonomie abgesprochen wird. Aufgrund ihrer Symptomatik wird vom Umfeld nahezu intuitiv an Möglichkeiten der Autonomie des/der primär Betroffenen gezweifelt, was ihn/sie pathogen vulnerabel macht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Autonomie keine Allesoder-Nichts-Fähigkeit ist. Vielmehr ist es notwendig, das Stadium des Menschen mit Demenz zu berücksichtigen und herauszufinden, was der Betroffene noch selbst entscheiden kann. Das betrifft in der Regel die »kleinen« Dinge des Lebens, denen wir als gesunde Menschen häufig gar nicht besonders viel Bedeutung zuschreiben, etwa die Wahl der Kleidung, der Speise und einer bevorzugten Tätigkeit. Es sind Entscheidungen, die Men-

16 Vgl. Beckmann (2013), 183 und Beckmann (2017).

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schen mit Demenz noch lange treffen können, auch wenn die Fähigkeit dazu im Laufe der Erkrankung graduell abnimmt. In bestimmten, lokalen Bereichen kann man Entscheidungsautonomie noch lange fördern und unterstützen. 17 Sowohl für professionell Pflegende als auch für pflegende Angehörige ist es deshalb eine besondere Herausforderung, die richtige Balance zwischen Über- und Unterforderung zu finden. Denn das redliche Vorhaben, Menschen mit Demenz noch möglichst lange selbstständig handeln zu lassen und nicht zu entmündigen oder zu infantilisieren, kann zur Überforderung und sogar zu Gefahrensituationen führen. In manchen Bereichen ist dies besonders schwierig zu entscheiden. So etwa im Bereich der Fahrtüchtigkeit. Nur weil jemand die Diagnose Demenz erhält, bedeutet dies nicht automatisch, dass er nicht mehr verkehrstüchtig ist. Vor allem die Mobilität ist für viele Menschen von großer Bedeutung, und sie möchten ungern diese Form der Unabhängigkeit aufgeben. Hier sind spezielle Tests erforderlich, um herauszufinden, ob sich der Betroffene selbst und andere im Straßenverkehr trotz der Erkrankung nicht gefährdet. 18 Ein weiterer schwer einzuschätzender Bereich ist Sexualität. Auch ältere Menschen haben das Bedürfnis nach Nähe und Sexualität, die Diagnose Demenz hebt dieses Bedürfnis nicht auf. Allerdings stellt sich die Frage, ob Menschen mit Demenz noch spüren, was der andere will und was (sozial) angemessen ist. Nicht selten wird erlebt, dass ein noch verheirateter Mann mit Demenz im Seniorenheim sich um eine andere Sexualpartnerin in der Nähe kümmert, weil er seine eigene Frau vergessen hat, selbst wenn sie ihn regelmäßig besucht. Die Frage, wie damit umzugehen ist, bedarf großer Sensibilität sowie des individuellen Eingehens auf den Einzelnen und muss mit allen Beteiligten besprochen werden.

17 Vgl. Schmidhuber (2013). 18 Vgl. z.B. Albert/Nikolaus (2009) und Leve (2017).

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3.3 Lebensqualität Laut Weltgesundheitsorganisation ist Lebensqualität die »subjektive Wahrnehmung eines Menschen über seine Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen er lebt, und in Bezug auf seine Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.« 19 Nun weiß man von Menschen mit Demenz, dass sich diese ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr auf eine reflektierte Art und Weise über ihre Stellung im Leben in Relation zu ihrer Kultur und ihren Wertvorstellungen Gedanken machen können. Auch aus der Außenperspektive würden vermutlich viele gesunde Menschen behaupten, dass ein Leben mit schwerer Demenz aufgrund der Abnahme der kognitiven Fähigkeiten, der zunehmenden Hilfsbedürftigkeit und des Verlustes von Selbstständigkeit an Qualität verliert. Häufig besteht die Tendenz, die eigene Vorstellung von Lebensqualität anderen überzustülpen. Vor allem bei Menschen mit Demenz, bei denen es auf den ersten Blick schwer zu sein scheint, herauszufinden, was ihnen gut tut und was für sie Lebensqualität bedeutet, besteht das Risiko, den eigenen Maßstab anzulegen, ohne zu hinterfragen, was der Betroffene selbst will, und ihn auf diese Weise in eine pathogene Vulnerabilität zu bringen. Aber so individuell Lebensqualität bei gesunden Menschen ist, so individuell ist sie auch bei Menschen mit Demenz – jeder versteht etwas anderes darunter. Es gilt zu berücksichtigen, dass Menschen mit Demenz durchaus noch Qualität in ihrem Leben erfahren können, was jedoch stark von ihren individuellen Vorlieben wie auch ihrer Biographie abhängt und davon, wie sehr ihnen ihr Umfeld in ihren Bedürfnissen entgegenkommt. In diesem Zusammenhang ist Biographiearbeit unter Einbeziehung der Angehörigen ein wichtiger Aspekt im Umgang mit Menschen mit Demenz. Nur wenn man etwas über die Lebensgeschichte des Menschen erfährt und darüber, was er mochte und was er sehr gerne gemacht hat, z.B. welche Musik er gerne gehört hat, kann in der Betreuung darauf eingegangen werden und auf diese Weise etwas zu seiner Lebensqualität beigetragen werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es durchaus auch Brüche in Lebensverläufen geben kann, d.h. dass jemand etwas früher sehr gerne mochte, sich dies aber im Zuge der Demenzerkrankung geändert haben kann. Eines der prominentesten Beispiele ist wohl der 2012 verstorbene Rhetorikprofessor Walter Jens,

19 Vgl. WHO (1997).

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der vor seiner Demenzerkrankung als Asket galt und im Zustand der Demenz besondere Freude am Essen hatte. 20 Diese Brüche zeigen sich immer wieder bei Menschen mit Demenz, was die Vermutung nahe legt, dass erst im Zuge der Erkrankung Vorlieben deutlich werden, die sich Menschen im gesunden Zustand nicht zugestanden haben. Auch die pflegende Angehörige Gabriela Zander-Schneider berichtet in ihrem Buch von Brüchen dieser Art: »Beim Abendessen im Hotel stellte ich zum wiederholten Male fest, dass die Mahlzeiten meiner Mutter eine ganz besondere Freude bereiteten. Sie ließ keine der angebotenen Speisen am Büfett aus und probierte gleich mehrmals hintereinander. Sie, die sonst immer so sehr darauf bedacht war, nicht zuzunehmen, schien hier sämtliche Kalorien außer Acht zu lassen. Der Rotwein am Abend schien ihr ebenfalls sehr zu entsprechen, und zu meinem Erstaunen saß sie zwischendurch öfter mal am Pool und löffelte eine riesige Portion Eis. Aber meine Mutter mochte gar kein Eis!«

21

Es ist also wichtig, dass die Biographie des Menschen mit Demenz in all ihren Facetten berücksichtigt wird, um auf das eingehen zu können, was für Menschen mit Demenz Lebensqualität bedeutet. Es darf aber auch nicht starr daran festgehalten werden, weil sich die Vorlieben im Zuge der Erkrankung ändern können. 3.4 Forschung Ein schwerwiegendes Problem stellt die Teilnahme von Menschen mit Demenz an Forschung dar, weil es hier um die Einwilligungsfähigkeit geht. Unumstritten ist, dass es wichtig ist, Menschen mit Demenz in medizinische Studien einzubeziehen, um in diesem Bereich Fortschritte erzielen zu können, die dazu führen sollen, eines Tages Demenzen wie die AlzheimerDemenz präventiv vorbeugen oder wirksam behandeln zu können. Nun ließe sich argumentieren, dass man Forschung auf Menschen mit Demenz beschränken könnte, die noch einwilligungsfähig sind. Andererseits bedarf es aber auch der Forschung an Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen

20 Jens (2010). 21 Zander-Schneider (2011), 31.

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Stadium, um über diese Gruppe mehr zu erfahren und wirksame Behandlungsmaßnahmen zu finden. Für jede dieser Herausforderungen ist Forschung unabdingbar. Mit genau diesem umstrittenen Thema hat sich im November 2016 der Deutsche Bundestag beschäftigt. 22 Ist es ethisch legitim, Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die möglicherweise keinen Nutzen mehr aus der Studie ziehen, an der sie teilnehmen, in diese dennoch zu integrieren? Und wenn ja, wie soll ihre Einwilligung erfolgen? Der Bundestag hat beschlossen, dass eine Probandenerklärung – ähnlich einer Patientenverfügung – vorliegen muss, die der Betroffene im noch einwilligungsfähigen Zustand mit ärztlicher Beratung verfasst hat. Wenn dann der Fall eintritt, dass der Betroffene an einer Studie teilnehmen soll, muss über die Probandenerklärung hinaus auch der gesetzliche Betreuer zustimmen. Falls der Proband im Laufe der Studie oder auch davor eine Regung zeigt, die darauf hinweisen könnte, dass er sich nicht wohl fühlt, und er den Anschein erweckt, abbrechen zu wollen, muss dies sofort geschehen. Das bedeutet, dass die Probandenverfügung und die Zustimmung des gesetzlichen Betreuers sofort an Gültigkeit verlieren, wenn der Betroffene etwas anderes signalisiert. Damit ist der Schutz des Menschen mit Demenz auf jeden Fall gegeben und seine vulnerable Situation wird nicht ausgenutzt. Kritisch zu hinterfragen ist allerdings, wann ein Signal zum Abbruch ernst genommen wird. Denn wenn Teilnehmende für eine Studie gesucht werden, besteht möglicherweise die Gefahr, ein einmaliges Kopfschütteln des potenziellen Probanden noch nicht als ernsthaften Wunsch zur NichtTeilnahme zu verstehen. Gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich die Stimmung bzw. Meinung von Menschen mit Demenz selbst im Laufe des Tages mehrmals ändern kann, ist es schwierig, herauszufinden, was die einzelne Person wirklich will oder nicht will. Hier bedarf es der besonderen Sensibilität, damit nichts getan wird, was dem Patienten Leid zufügt. Eine weitere Herausforderung stellt sich hinsichtlich der Aufklärung. Studien zeigen, dass selbst Angehörige nicht immer alles verstehen, was ihnen im Aufklärungsgespräch mitgeteilt wird. Umso schwieriger ist es bei Menschen mit Demenz. 23 Im Kontext der Aufklärung stellt sich deshalb die

22 Vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw45-de-amgnovelle-zweite-beratung/477828 [15.02.2018]. 23 Schütz et al. (2016) und Jongsma (2016).

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Frage, auf welche Art und Weise aufgeklärt werden soll. In einfacher Sprache oder besser mittels eines Videos? Um Menschen mit Demenz in dieser sehr vulnerablen Situation zu schützen, ist es erforderlich, sich die Antworten auf diese Fragen sehr genau zu überlegen und sensibel gegenüber den Probanden vorzugehen, damit die Absicht der Forschenden die Probandenbedürfnisse nicht überdeckt. 3.5 Fragen am Lebensende Während die Probandenverfügung speziell darauf ausgelegt ist, die Teilnahme an Studien zu klären, gilt eine Patientenverfügung – in Deutschland seit 2009 gesetzlich verankert – für viel mehr. Sie gilt vor allem am Lebensende, wenn der Patient selbst nicht mehr entscheiden kann, wie er behandelt werden möchte. Deshalb ist es möglich, eine Patientenverfügung im selbstbestimmungsfähigen Zustand zu verfassen und darin festzuhalten, wie man in antizipierten Situationen behandelt oder nicht mehr behandelt werden möchte. Im Fall der Demenz ist der Umgang mit einer Patientenverfügung aus mehreren Gründen besonders schwierig: Zunächst ist es eine Herausforderung, sich vorzustellen, wie man sich im Zustand der Demenz fühlt und welche Behandlungen man dann nicht mehr möchte. Die Frage nach der Lebensqualität stellt sich auch in diesem Zusammenhang: Wie möchte man seinen letzten Lebensabschnitt verbringen? Wenn man selbst keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann, ist dann eine PEG–Sonde wünschenswert? Wobei hier zu bedenken ist, dass die medizinische Indikation einer PEG bei weit fortgeschrittener Demenz ohnehin fraglich ist. 24 Möchte man bei einer Lungenentzündung im fortgeschrittenen Stadium der Demenz noch Antibiotika verabreicht bekommen? Ein anderes Problem stellt der Widerruf der Patientenverfügung bei Menschen mit Demenz dar. An und für sich ist es möglich, eine einmal verfasste Patientenverfügung jederzeit wieder mündlich oder schriftlich zu widerrufen. Bei Menschen mit Demenz stellt sich allerdings die Frage, wie lange sie dazu noch fähig sind bzw. wie lange ihnen die Fähigkeit dazu noch zugesprochen wird bzw. werden sollte. Ab welchem Zeitpunkt soll die geistige Kapazität eines Menschen mit Demenz nicht mehr als ausreichend gelten, um seine Patientenverfügung zu widerrufen? Dies ist eine schwieri-

24 Siehe u.a. Synofzik (2007) sowie Maio (2017), 285–288.

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ge Einschätzung, bei der die Meinungen auseinander gehen. Manche sind der Ansicht, dass die Entscheidung des Menschen vor der Demenz diejenige ist, die zu berücksichtigen ist, weil sie autonom gemacht wurde. Andere gehen so weit, dass sie befürworten, auch gestische und mimische Äußerungen des Menschen mit Demenz ernst zu nehmen und gegebenenfalls als Widerruf zu werten. 25 Mit dieser zweiten Variante wird versucht zu verhindern, dass eine situative zu einer pathogenen Vulnerabilität des primär Betroffenen eskaliert, und ihn bis zum Schluss als einen Mitmenschen mit seinen Wünschen und Vorstellungen ernst zu nehmen. Ein weiterer Aspekt, der aber nicht nur im Falle von Menschen mit Demenz zu berücksichtigen ist, ist die Interpretation einer Patientenverfügung. Häufig kommt es vor, dass die Patientenverfügung nicht genau auf die aktuelle Situation zutrifft und Interpretationsspielraum vorhanden ist. Genaue Formulierungen, die zu konkreten Situationen passen, sind erforderlich, um eine Patientenverfügung zu einem hilfreichen Instrument zu machen. Die Herausforderungen einer Patientenverfügung verweisen auf die Autonomie-Thematik. Eine Patientenverfügung soll als Instrument zur Förderung der Autonomie dienen; es soll niemand einer Behandlung unterzogen werden, die er nicht möchte oder nicht gewollt hätte. Die Schwierigkeiten hinsichtlich Interpretation und Widerruf der Patientenverfügung zeigen allerdings, dass Menschen, insbesondere in vulnerablen Situationen, stets auf andere angewiesen sind. Denn die Interpretation einer Patientenverfügung ist eine »hermeneutische Leistung« 26 und verweist auf die Relationen, in die wir als soziale Wesen stets eingebettet sind. Eine frühe Diagnose, nach der mit den Angehörigen und dem Hausarzt/der Hausärztin über Wünsche und Vorstellungen am Lebensende gesprochen werden kann, ermöglicht es, diese Wünsche und Vorstellungen im nicht mehr einwilligungsfähigen Zustand umzusetzen. Die Angehörigen spielen dabei freilich eine besondere Rolle, deren eigene Vulnerabilität nun betrachtet werden soll.

25 Vgl. Dabrock (2007). 26 Vgl. Frewer/Fahr (2009), 116.

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4. P FLEGENDE ANGEHÖRIGE Rund 70 Prozent der pflegebedürftigen Menschen mit Demenz in Deutschland werden zu Hause versorgt. Davon sind es wiederum 92 Prozent, die regelmäßig Hilfe und Unterstützung von Privatpersonen erhalten. Es handelt sich dabei um informelle Pflegepersonen, die diese Tätigkeit nicht erwerbsmäßig durchführen. Zu 90 Prozent sind es pflegende Angehörige, wie Kinder, Schwiegerkinder oder (Ehe-)Partner. In drei von vier Fällen sind es Frauen, die die Pflege der Angehörigen übernehmen. 27 Pflegende Angehörige sind jene Personengruppe, die von der Demenz indirekt resp. sekundär betroffen und deshalb vielen vulnerablen Situationen ausgesetzt sind. Sie sind aufgrund der Belastung sowohl in ihrer physischen als auch in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt. So zeigen Studien, dass bei pflegenden Angehörigen die Wahrscheinlichkeit einer Depression mit zunehmender pflegerischer Belastung steigt. 28 Ein Beispiel, das Reimer Gronemeyer aufgreift, soll dies verdeutlichen: 29 Eine kinderlose, alleinstehende Angehörige konnte sich von ihrer Berufstätigkeit freistellen lassen, um ihre Mutter täglich selbst zu pflegen. Die Pflege ihrer Mutter ist für sie vor allem auch psychisch belastend: »Meine Mutter lebt in ihrer Welt, sie spricht den ganzen Tag so gut wie überhaupt nichts, steht zum Essen auf, abends zum Fernsehen, und das ist für mich natürlich so gut wie unerträglich geworden.«

30

Obwohl sie die Situation so unerträglich findet und nie ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, kann sie sich nicht überwinden, ihre Mutter in ein Heim zu geben. Ihre sozialen Kontakte sind abgerissen, sie fühlt sich einsam und hat das Gefühl, außerhalb der Gesellschaft zu leben. Die Mutter hingegen liegt den ganzen Tag herum, isst offenbar noch gerne und schaut gerne fern. Sie scheint das Nichtstun zu genießen. Die pflegende Angehörige erhält keine Unterstützung von anderen Angehörigen, einmal im Monat badet jemand vom Pflegedienst die Mutter, und einmal in der Woche wird

27 Vgl. Gräßel/Behrndt (2016), 169–170. 28 Vgl. ebd., 177. 29 Vgl. Gronemeyer (2013), 209–212. 30 Ebd., 209.

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sie in die Betreuungsgruppe der Alzheimergesellschaft gebracht. Das sind die wenigen kurzen Zeiten, zu denen die Pflegende für sich ist. Gronemeyer gibt zu bedenken, dass »das Leiden an der Demenz oft die pflegenden Angehörigen stärker trifft als die Betroffenen.« 31 Wie dieses eine Beispiel von vielen deutlich zeigt, kann die räumliche Nähe zu dem zu Pflegenden eine belastende Situation sein. In Deutschland leben 70 Prozent der pflegenden Angehörigen mit der pflegebedürftigen Person unter einem Dach. Das erleichtert die unmittelbare Hilfestellung für den primär Betroffenen. Für die pflegende Person bedeutet dies aber, dass sie kaum Möglichkeiten zum Rückzug hat. Eine weitere Entlastung für die Hauptpflegeperson ist erforderlich, damit diese ihre Ressourcen gut einteilen und weiterhin gute Pflege leisten kann. 32 Häusliche Pflege ist immer ein Stressfaktor für die pflegenden Angehörigen, mit dem sehr unterschiedlich umgegangen werden kann. Es lassen sich dabei drei Copingstrategien nach Carver unterscheiden: (1) Emotionsorientiertes Coping: Humor aktivieren, emotionale Unterstützung suchen, der Sache etwas Positives abgewinnen; (2) Problemorientiertes Coping: die eigenen Anstrengungen in der Angelegenheit erhöhen, Unterstützung von anderen suchen, gezieltes Planen etc. und (3) dysfunktionales Coping: den Umgang mit der Angelegenheit aufgeben, Selbstkritik üben, Alkohol und andere Drogen einnehmen. 33 Während dysfunktionales Coping grundsätzlich mit negativen Auswirkungen verbunden ist, hilft vor allem die Kombination aus emotions- und problemorientiertem Coping, mit der Situation besser zurecht zu kommen. Es ist aber durchaus auch denkbar, dass für manche die Pflege eines Angehörigen positive Konsequenzen hat bzw. die positiven Seiten darin gesehen werden, etwa das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden, neue Fähigkeiten durch die Pflegetätigkeit erworben zu haben, Zeit mit der pflegebedürftigen Person zu verbringen, Sinnstiftung zu erfahren. Dennoch ist die emotionale Belastung, so zeigt auch das angeführte Fallbeispiel, häufig erheblich. Neben Lethargie ist es das sogenannte »herausfordernde Verhalten« von Menschen mit Demenz, mit dem es umzugehen gilt. Aggressives Verhalten entsteht häufig dann, wenn zwischenmenschliches Verständnis

31 Ebd., 211. 32 Vgl. Gräßel/Behrndt (2016), 171. 33 Vgl. ebd., 172–173.

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nicht gelingt, wenn beispielsweise empfundene Schmerzen nicht verbal mitgeteilt werden können oder das Gefühl entsteht, nicht verstanden zu werden. 34 Wenig überraschend ist, dass dieses Verhalten bei den pflegenden Angehörigen verständlicherweise auch seine Spuren hinterlässt und diese deshalb ebenfalls aggressiv reagieren können. Studien zeigen, dass bei zunehmender Belastung durch die Pflegesituation auch von Seiten des Pflegenden problematische Verhaltensweisen auftreten, etwa Vernachlässigung, körperliche Gewalt und häufig verbale Aggression. 35 Durch die Überforderung des Pflegenden wird der primär Betroffene pathogen vulnerabel. Ein stabileres Umfeld und bessere strukturelle Unterstützungsangebote für Pflegende könnten dies vermeiden helfen. Aufgrund der vulnerablen Situationen, denen pflegende Angehörige ausgesetzt sind, bedarf es also der Unterstützung von verschiedenen Seiten. So kann bereits eine Beratung für pflegende Angehörige hilfreich sein, ebenso Pflegekurse, in denen gelehrt wird, wie man mit herausforderndem Verhalten adäquat umgehen kann. Angehörigengruppen, die in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit bieten, über Emotionen wie Schuld, Scham, Überforderung und Ekel zu sprechen, können eine wesentliche Stütze sein und das Gefühl geben, nicht alleine zu sein. Das Sprechen miteinander über schwierige Situationen in der Pflege kann zudem helfen, voneinander zu lernen. 36 Über all diese Angebote hinaus ist es freilich erstrebenswert, dass alle bewährten Unterstützungs- und Entlastungsangebote wie etwa professionelle Pflege und Betreuung flächendeckend und leistbar angeboten werden.

5. S CHLUSSÜBERLEGUNGEN In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen aufgrund verschiedener Umstände äußerst vulnerablen Situationen ausgesetzt sind. Das bedeutet, dass sie eines besonders aufmerksamen, sensiblen Umfeldes bedürfen. Bereits bei der Mitteilung der Diagnose ist es unerlässlich, behutsam vorzugehen. Leider berichten Ange-

34 Maier et al. (2011), 123–125. 35 Vgl. Gräßel/Behrndt (2016), 178. 36 Ebd., 180–181.

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hörige immer wieder von wenig sensiblen Ärzten, die sehr schonungslos bei der Mitteilung vorgehen. 37 Danach ist es erforderlich, Menschen, die die Diagnose Demenz erhalten haben, auf die Möglichkeiten des Advance Care Planning aufmerksam zu machen. Dabei sollten allerdings auch die Chancen und Risiken einer Patientenverfügung und einer Probandenverfügung – wie sie oben erörtert wurden – besprochen werden. Um Autonomie und Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu fördern, ist es notwendig, dass ein guter Austausch zwischen den (pflegenden) Angehörigen, dem behandelnden Arzt und dem Menschen mit Demenz besteht. Was möchte der primär Betroffene? Was ist möglich und umsetzbar? Häufig besteht die Gefahr, mehr über Menschen mit Demenz als mit ihnen zu entscheiden. Hat man jedoch vor Augen, dass Autonomie keine Alles-oder-Nichts-Fähigkeit ist, kann man sie noch relativ lange in überschaubare, aber für sie bedeutende Entscheidungen einbeziehen. Was die Unterstützung der pflegenden Angehörigen betrifft, rücken vor allem strukturelle Fragen in den Vordergrund: Zunächst ist es erforderlich, Angebote besser bekannt zu machen, auch verstärkt über das Internet, um Menschen flächendeckend und umfassend besser zu erreichen. Wo Angebotslücken existieren, sollte die Verfügbarkeit verbessert werden. Darüber hinaus ist es unabdingbar, dass die Entlastungsangebote für alle pflegenden Angehörigen, die Bedarf haben, auch finanzierbar sind. Aufgrund der Tatsache, dass die Mehrheit der pflegenden Angehörigen Frauen sind, ist es erforderlich, dass sich auch mehr Männer angesprochen fühlen, und die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass Pflege- und Erwerbstätigkeit kompatibel sind. Grundsätzlich ist es wichtig, dass Menschen, die sich der bedeutsamen und hoch einzuschätzenden Aufgabe der Pflege widmen, keine langfristigen Nachteile in der Erwerbsarbeit entstehen – ähnlich wie bei Elternzeit. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass es auch – und in Zukunft immer mehr – sprachliche und kulturelle Barrieren aufgrund vieler pflegender Angehöriger mit Migrationshintergrund geben wird. Für diese Gruppe sind niederschwellige kulturspezifische Informations-, Beratungsund Unterstützungsangebote notwendig. Nicht zuletzt geht es auch darum, weiterhin Versorgungsforschung voranzutreiben, um die Wirkung von Ent-

37 Vgl. z.B. Zander-Schneider (2011), 16 und Basting (2012), 17.

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lastungsangeboten zu evaluieren und auf Basis der Forschungsergebnisse das Unterstützungsangebot weiterhin verbessern zu können. 38 Es zeigt sich also, dass es einerseits des Bewusstseins und der Sensibilität bedarf, um Menschen mit Demenz gut betreuen und unterstützen zu können. Andererseits spielen viele strukturelle Faktoren in der Pflege eine Rolle, die stets mit finanziellen Rahmenbedingungen verbunden sind. Beides in den Blick zu nehmen und zu verbessern, kann den kommenden Generationen – sowohl den primär als auch den sekundär Betroffenen – die Situation erleichtern.

L ITERATUR Basting, Anne Davis (2009): Das Vergessen vergessen. Besser leben mit Demenz, Bern: Hogrefe. Beckmann, Jan P. (2013): »Das Recht auf Erstellung von Vorausverfügungen aus ethischer Sicht«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 59 (2013), 179–190. Beckmann, Jan P. (2017): »Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende. Überlegungen aus ethischer Sicht«, in: Welsh et al. (2017), 27–43. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2011): Demenz-Report. Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können, Online: https://www. berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Demenz/Demenz_online.pdf [30.08.2018]. Dabrock, Peter (2007): »Formen der Selbstbestimmung. Theologisch– ethische Perspektiven zu Patientenverfügungen bei Demenzerkrankungen«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 53 (2007), 127–144. Engel, Sabine (2006): Alzheimer & Demenzen – Die Methode der einfühlsamen Kommunikation, Stuttgart: Trias. Freiburg, Rudolf/Kretzschmar, Dirk (Hg.) (2012): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann. Frewer, Andreas/Bergemann, Lutz/Schmidhuber, Martina (Hg.) (2015): Demenz und Ethik in der Medizin. Standards zur guten klinischen Pra-

38 Vgl. Gräßel/Behrndt (2016), 183–184.

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xis. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 8. Würzburg: Königshausen & Neumann, Frewer, Andreas/Bruns, Florian/Rascher, Wolfgang (Hg.) (2009): Hoffnung und Verantwortung. Herausforderungen in der Medizin. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 2. Würzburg: Königshausen & Neumann. Frewer, Andreas/Fahr, Uwe (2009): »Ethikberatung zu Patientenverfügungen. Erfahrungen und Beispiele am Universitätsklinikum Erlangen«, in: Frewer et al. (2009), 111–128. Frewer, Andreas/Reis, Andreas/Bergemann, Lutz (Hg.) (2014): Gute oder vergütete Behandlung? Ethische Fragen der Gesundheitsökonomie. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 7. Würzburg: Königshausen & Neumann, Frewer, Andreas/Schmidhuber, Martina (2016): Der überwachte Patient. Ethik und Menschenrechte bei der Entwicklung von Medizintechnik, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 62, 1 (2016), 3–11. Gräßel, Elmar/Behrndt, Elisa-Marie (2016): »Belastungen und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige«, in: Jacobs et al. (2016), 168–187. Gräßel, Elmar/Niefanger, Dirk (2012): »Angehörige erzählen. Vom Umgang mit Demenz: Einige sozialmedizinische und narratologische Beobachtungen«, in: Freiburg/Kretzschmar (2012), 99–116. Graessel, Elmar/Stemmer, Renate/Eichenseer, Birgit/Pickel, Sabine/ Donath, Carolin/Kornhuber, Johannes/Luttenberger, Katharina (2011): »Non-pharmacological, multicomponent group therapy in patients with degenerative dementia: a 12-months randomized, controlled trial«, in: BMC Medicine 9 (2011), 129. Gronemeyer, Reimer (2013): Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit, München: Pattloch. Jacobs, Klaus/Kuhlmey, Adelheid/Greß, Stefan/Klauber, Jürgen/ Schwinger, Antje (Hg.) (2016): Pflege Report 2016. Schwerpunkt: Die Pflegenden im Fokus, Stuttgart: Schattauer. Jens, Tilman (2010): Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh: Goldmann. Jongsma, Karin (2016): »Patientenverfügungen für die Demenzforschung aus ethischer Perspektive betrachtet«, in: Ärzteblatt BW 12 (2016), 612– 615. Leve, Verena/Ilse, Katharina/Ufert, Marie/Wilm, Stefan/Pentzek, Michael (2017): »Autofahren und Demenz. Ein Thema für die Hausarztpra-

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xis?!«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 50, 2 (2017), 55– 62. Lukas, Albert/Nikolaus, Thorsten (2009): »Fahreignung bei Demenz«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 42, 3 (2009), 205–211. Mackenzie, Catriona/Rogers, Wendy/Dodds, Susan (Hg.) (2014a): Vulnerability. New Essays in Ethics and Feminist Philosophy, New York: Oxford University Press. Mackenzie, Catriona/Rogers, Wendy/Dodds, Susan (2014b): »Introduction: What Is Vulnerability, and Why Does It Matter for Moral Theory?«, in: Mackenzie et al. (2014a), 1–29. Maier, Wolfgang/Schulz, Jörg B./Weggen, Sascha/Wolf, Stefanie (2011): Alzheimer & Demenzen verstehen. Diagnose, Behandlung, Alltag, Betreuung, Stuttgart: Trias. Maio, Giovanni (2017): Mittelpunkt Mensch. Lehrbuch Ethik in der Medizin. Mit einer Einführung in die Ethik der Pflege, 2Stuttgart: Schattauer. Schmidhuber, Martina/Bergemann, Lutz/Frewer, Andreas (2015): »Public Health and Clinical Ethics for Patients with Dementia. Synopsis of International Perspectives«, in: Frewer et al. (2015), 269–278. Schmidhuber, Martina/Bergemann, Lutz/Frewer, Andreas (Hg.) (2017): Ethical Dimensions of International Dementia Plans. New Strategies for Human Rights. Global Health, Ethics and Human Rights, Vol. 3. Würzburg: Königshausen & Neumann. Schmidhuber, Martina/Bergemann, Lutz/Legal, Friederike (2014): »Sinnvolle Vergütung für gute Behandlung? Zum Zusammenhang ökonomischer und ethischer Überlegungen am Beispiel der frühen Demenzdiagnose«, in: Frewer et al. (2014), 99–132. Schmidhuber, Martina (2011): »Der Stellenwert von Autonomie für ein gutes Leben Demenzbetroffener«, in: Salzburger Beiträge zur Sozialethik 5 (2011), Online: https://www.uni-salzburg.at/fileadmin/multi media/Zentrum_fuer_Ethik_und_Armutsforschung/documents/Publika tionen/Schmidhuber-StellenwertVonAutonomie.pdf [22.02.2018]. Schütz, Holger/Heinrichs, Bert/Fuchs, Michael/Bauer, Andreas (2016): »Informierte Einwilligung in der Demenzforschung. Eine qualitative Studie zum Informationsverständnis von Probanden«, in: Ethik in der Medizin 28 (2016), 91–106.

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III. AUTONOMIE, VULNERABILITÄT UND RECHT AUF GESUNDHEIT: DAS BEISPIEL MIGRATION

Migrantinnen und Migranten ohne Papiere im Gesundheitssystem Zwischen Menschenrecht, humanitärer Hilfe und Migrationskontrolle M AREN M YLIUS

1. Hintergrund Ein Mann mittleren Alters kommt unruhig und aufgewühlt in eine Beratungsstelle. Er ist sehr verzweifelt und äußert drängende Suizidgedanken bei einer bekannten Depression. Die Sanitäter des herbeigerufenen Rettungswagens drohen die Polizei zu informieren, sollte nicht umgehend der Ausweis des Patienten vorgelegt werden. Doch der Mann hat keinen Ausweis, die Drohung mit der Polizei zeigt Wirkung, der Mann verschwindet sofort. 1 Migrantinnen und Migranten ohne Papiere sind bei den Behörden (noch) nicht oder nicht mehr registriert, verfügen häufig über keine gültigen Papiere und sind von der unmittelbaren Ausweisung bedroht. Sie sind nicht krankenversichert und erhalten keine Unterstützung durch das Sozialamt für die Kosten einer ärztlichen Behandlung, falls sie nicht bereit zur Abschiebung sind. 2 Gesundheit stellt aber zumeist nur einen Faktor unter vielen in ihrer Alltagswirklichkeit dar. Häufig befindet sich in Deutschland bereits ein soziales Netz, und der Aufenthalt hier ist mit Hoffnungen auf eine Perspektive verbunden. Die eigenen finanziellen Ressourcen wurden 1

Der Fall hat sich im Jahr 2016 in einer Großstadt zugetragen. Nähere Angaben erfolgen zum Schutz der Identität des Betroffenen an dieser Stelle nicht.

2

Siehe z.B. von Manteuffel et al. (2017).

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genutzt, um nach Deutschland zu gelangen, die Abschiebung stellt somit häufig keine tatsächliche Handlungsoption dar. 3 Deutschland hat sich 1973 im UN-Sozialpakt zum universellen und uneingeschränkten Menschenrecht auf Gesundheit bekannt. 4 Doch bleiben die gesetzlichen Regelungen bisher unangetastet, die einen niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung, als wichtiges Element zum Erhalt der Gesundheit, tatsächlich verhindern. 5 Dies hat Auswirkungen auf ärztliche Handlungsoptionen im Krankheitsfall, mit denen sich im Gesundheitssystem handelnde Akteure früher oder später auseinandersetzen müssen. 6 Aus ärztlicher Perspektive ist eine Behandlung nach Aufenthaltsstatus und nicht nach medizinischen Leitlinien unmoralisch und schwer aushaltbar. Der ärztliche Eid (das Ärztegelöbnis) als Teil der Musterberufsordnung gelobt, dass die »Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten […] oberstes Gebot meines Handelns sein« soll. 7, Dennoch sind der kostenlosen Behandlung bei einer im Allgemeinen kostenintensiven Diagnostik und Therapie aufgrund der aktuellen Gesetzeslage enge Grenzen gesetzt. Zudem ist den Betroffenen unbekannt, welche Ärztin und welcher Arzt abweisen oder bereit sind zu behandeln. Um eine Versorgung sicherzustellen, bleibt dann der Aufschub einer bereits früher festgestellten Notwendigkeit zur Behandlung, bis der medizinische Notfall eintritt, dessen Behandlung im Krankenhaus sichergestellt sein muss. 8 Die gesundheitliche und arbeitsrechtliche Situation von Menschen ohne Papiere erweist sich damit immer wieder als äußerst prekär. Daher unterstützen vor allem in größeren Städten humanitär tätige Hilfsorganisationen, der Öffentliche Gesundheitsdienst und seit einigen Jahren zunehmend kommunale Stellen und

3

Vgl. die Fallschilderungen in Huschke (2013), 85–101 und in Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität (2018).

4

UN-Sozialpakt [08.06.2018].

5

Vgl. Antwortschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 21.11.2017 auf die Kleine Anfrage von Harald Weinberg, MdB, und Antwortschreiben von Dr. Ole Schröder, MdB, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern vom 29. Januar 2014 auf einen Brief von Katja Dörner, MdB.

6

Vgl. Bundesärztekammer (2016) sowie Biswas et al. (2011).

7

Vgl. World Medical Association (2010) und Bundesärztekammer (2011), 4.

8

Vgl. Killinger (2009).

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Länderprojekte bei einer gesundheitlichen Versorgung von Menschen ohne Papiere. 9 In Niedersachsen können diese zum Beispiel seit 2016 einen Krankenschein für eine Gesundheitsversorgung erhalten. Im folgenden Beitrag wird zunächst am Beispiel einer Patientin die rechtliche Situation der Gesundheitsversorgung von Migrantinnen und Migranten ohne Papiere in Deutschland dargestellt. 10 Diese Patientin hatte ebenfalls eine Beratungsstelle aufgesucht, die eine ärztliche Versorgung vermittelt. Inwieweit solche Stellen einen niederschwelligen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung ermöglichen, wird dann am Beispiel des Projekts in Niedersachsen 11 diskutiert.

2. G ESETZLICHE BESTIMMUNGEN M. R. ist Anfang 30 und stammt aus einem zentralafrikanischen Land. Vor einem Jahr ist sie per Schiff über Italien in die Europäische Union (EU) eingereist. Da Angehörige von ihr in Deutschland leben und die Situation vor Ort desaströs ist, verlässt sie Italien. In Deutschland wohnt sie wechselnd bei Angehörigen, Freunden und Bekannten. Durch verschiedene Tätigkeiten in Haushalten hat sie ein unregelmäßiges und geringes Einkommen. Nach einem dreiviertel Jahr vermutet sie eine Schwangerschaft, zudem plagen sie seit mehreren Monaten kontinuierlich wiederkehrende starke Bauchschmerzen. M. R. musste in Italien einen Asylantrag stellen, sie hätte nicht nach Deutschland weiterreisen dürfen. Sie ist nun unregistriert in Deutschland, bei Kontakt zu den Behörden läuft sie Gefahr, sofort abgeschoben zu werden, nachdem sie alle Ressourcen zur Migration nach Deutschland genutzt hat. So wie M. R. leben auch andere Menschen in Deutschland ohne Papiere, undokumentiert. Die Gründe sind vielfältig. Wie M. R. werden Menschen papierlos, da der zuerst betretene EU-Staat für den Asylantrag zuständig ist, die Betroffenen aber weiterreisen, z.B. weil Angehörige in einem anderen (EU-)Land leben oder weil unhaltbare Zustände für die

9

Vgl. z.B. die Darstellung in Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität (2017) und Schade et al. (2015).

10 Die personenbezogenen Daten sind verändert, um eine Identifikation der Patientin auszuschließen. 11 Siehe unten Kapitel 3.

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Betroffenen im Ankunftsland der EU herrschen. 12 Menschen werden aber auch papierlos, weil der Asylantrag abgelehnt wurde, weil das Visum abgelaufen ist oder ihr Aufenthaltsstatus nach einer Scheidung vom aufenthaltsberechtigten Ehepartner verloren gegangen ist. Menschen können also in vielen Situationen ihr Recht zum Aufenthalt in Deutschland verlieren und dann »vollziehbar ausreisepflichtig« sein (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 Asylbewerberleistungsgesetz, AsylbLG). Leben Personen ohne Aufenthaltspapiere in Deutschland, sind sie faktisch von Rechten ausgeschlossen, obwohl diese in Deutschland als Menschenrechte anerkannt worden sind und damit in ihrer uneingeschränkten und universellen Geltung gewährleistet werden müssen bzw. müssten. Hierzu gehören das Recht auf Bildung, das Recht auf fair bezahlte Arbeit oder das Recht auf einen Zugang zur Gesundheitsversorgung. 13 Da die Migrationsabwehr spätestens seit den 1990er Jahren vom Gesetzgeber priorisiert wird, 14 soll oftmals vor der Inanspruchnahme eines Menschenrechts eine Meldung an die Behörden erfolgen, wie es mit § 87 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) beschlossen wurde. 15 M. R. müsste also das zu ihrem Wohnort gehörende Sozialamt aufsuchen, ihren fehlenden Aufenthaltstitel offenlegen und einen Krankenschein beantragen. Das Sozialamt würde nun seine Zuständigkeit prüfen, die Daten gemäß des § 87 AufenthG an die Ausländerbehörde übermitteln, und M. R. muss dann jederzeit mit ihrer Abschiebung rechnen. 16 Sie müsste hierzu persönlich abwägen, ob der Zugang zu einer ärztlichen Behandlung es rechtfertigt, ihren Migrationsweg abzubrechen.

12 Siehe z.B. die Berichte von Ärzte ohne Grenzen: http://www.msf.org/en/ article/greece-overcrowded-dangerous-and-insufficient-access-healthcare-moria [16.06.2018] sowie den Bericht von Mirzay/Chiovenda (2017). 13 Vgl. Funck et al. (2015) zu Bildung, Fischer-Lescano et al. (2012) zu Arbeit sowie Krennerich (2016) zum Menschenrecht auf Gesundheit. 14 Vgl. Karakayali (2008), 181. 15 Die Übermittlungspflicht wurde 1990 mit dem neuen Ausländergesetz (AuslG) eingeführt (§ 76 AuslG). 16 Weiterführende Informationen zur Rechtslage, die für die Gesundheitsversorgung von MigrantInnen ohne Papiere relevant ist, finden sich z.B. bei Manteuffel (2018); Gerdsmeier (2010) und ausführlich dargestellt in Manteuffel et al. (2017) sowie Mylius (2016).

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2.1 Menschenrechte und Migrationskontrolle Menschenrechte unterscheiden sich von anderen Rechten, wie z.B. Staatsbürgerrechten, dadurch, dass sie unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus gelten. 17 Sie kommen allen Menschen in einem Land zu, »allein aufgrund ihres Menschseins«. Menschenrechte können niemandem in einem Staat entzogen werden, sondern müssen für alle gleichermaßen geachtet, gewährleistet und geschützt werden. 18 Zu den Menschenrechten gehört das Bekenntnis zum gleichberechtigten Zugang zu einer Gesundheitsversorgung, wie es mit dem UN-Sozialpakt 1976 in Kraft getreten ist. In der deutschen Gesetzgebung finden sich im AsylbLG auch die Regelungen zur Gesundheitsversorgung undokumentierter Migrantinnen und Migranten wieder (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit § 4 AsylbLG). Es werden die Gesundheitsleistungen aufgeführt, für die die Kosten getragen werden und ein Krankenschein beim zuständigen Sozialamt erhalten werden kann. Undokumentierte Migrantinnen und Migranten können laut § 4 AsylbLG eine Gesundheitsversorgung bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen sowie die vorgesehenen Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen ௅ wie gesetzlich Krankenversicherte auch ௅ erhalten. Allerdings hat der Bundesgesetzgeber mit dem AufenthG dem migrationskontrollierenden Element vor dem Menschenrecht Vorrang eingeräumt. Dort ist nämlich festgehalten, dass jede Behörde einen fehlenden Aufenthaltsstatus der Ausländerbehörde oder Polizei melden muss, und zwar umgehend und ungefragt. Über die hohen Kosten im deutschen Gesundheitssystem entfällt zudem faktisch vermutlich zumeist die Möglichkeit zur Selbstzahlung einer Behandlung. Damit wird die Gesundheitsversorgung für Migrant*innen und Migranten ohne Papiere de facto über zwei Arme ausgehebelt: Zum einen würde das Sozialamt mit der Krankenscheinausgabe umgehend eine Meldung herausgeben mit der Konsequenz der Abschiebung betroffener Personen. Zum anderen bestehen dank der behördlichen Meldepflicht Unsicherheiten bei Ärztinnen und Ärzten, ob papierlose Menschen gemeldet werden müssten. Und diese Unsicherheit besteht, trotz des Wissens um das hohe Gut der ärztlichen Schweigepflicht. 19 Auch in den

17 Vgl. Krennerich (2016), 61–62. 18 Vgl. Bielefeldt (2016), 24–25. 19 Vgl. Börchers (2013).

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internationalen Abkommen zum Schutz des Kindes und der Frauenrechtskonvention bekennen sich die Unterzeichnerstaaten wie Deutschland zum Menschenrecht auf einen tatsächlichen Zugang zur Gesundheitsversorgung. 20 Im Kommentar des UN-Sozialausschusses, der die Umsetzung des UN-Sozialpakts überprüft, wurde explizit ausgeführt, dass der tatsächliche Zugang auch meint, dass keine unüberwindbar hohen finanziellen Hürden bestehen dürfen. 21 2.2 Medizinischer Notfall Was macht nun die schwangere M. R. mit den wiederkehrenden Bauchschmerzen? Sie könnte direkt in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen. Sie könnte Glück haben, untersucht und behandelt werden. Das ist eher unwahrscheinlich. 22 Grundsätzlich gilt auch für den ärztlichen Kontakt im Rahmen einer stationären Behandlung oder einer notfallmäßigen, ambulanten Versorgung im Krankenhaus die ärztliche Schweigepflicht. Handelt es sich um einen medizinischen Notfall, muss umgehend behandelt werden, das Krankenhaus kann sich im Nachhinein an das zuständige Sozialamt wenden und einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. 23 Die ärztliche Schweigepflicht verlängert sich dann über die Verwaltung des Krankenhauses bis ins Sozialamt hinein, personenbezogene Daten dürfen dann nicht an andere Behörden, wie z.B. die Polizei, weitergegeben werden. 24 Dies gilt allerdings tatsächlich nur solange, wie die Patientin/der Patient nicht persönlich beim Sozialamt erscheinen muss, z.B. aufgrund der Schwere einer Erkrankung oder weil das Amt zum Zeitpunkt der Behandlung geschlossen

20 Vgl. Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) vom 20. November 1989, Art. 24, Abs. 1. 21 Vgl. International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment No. 14 (2000), 34. 22 Vgl. Mylius (2016), 175–177. 23 Vgl. Börchers (2013), 35–36. 24 Bundesrat (2009): Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AVV zum AufenthG, http://dip21.bundestag.de/dip21/brd/2009/0669-09.pdf [13.08.2018]). Für eine ausführliche und immer noch gültige Erläuterung siehe Katholisches Forum »Leben in der Illegalität« (2009).

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war. 25 Letztendlich bestehen die Ämter aber doch zumeist auf einer persönlichen Vorstellung des Betroffenen und geben die Daten dann an die Ausländerbehörde weiter. 26 Häufig wollen Krankenhäuser allerdings schon direkt vor Aufnahme von ansprechbaren Patientinnen bzw. Patienten einen Ausweis sehen und den Nachweis über einen Kostenträger. Geschieht dies nicht, wird mitunter die Polizei informiert. Die ärztliche Schweigepflicht wird umgangen mit dem Hinweis, die Identität müsse zuerst festgestellt werden. 27 Vermutlich handelt es sich hierbei v.a. um den Wunsch der Krankenhäuser, eine fehlende Kostenerstattung zu vermeiden. Zusammengefasst münden die derzeitigen gesetzlichen Konstellationen in eine faktische Barriere für undokumentierte MigrantInnen, eine Gesundheitsversorgung zu erhalten, und die Kostenträgerschaft für die Versorgung wird in die Krankenhäuser verlagert. 28 2.3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) Die Vorrangstellung der Übermittlungspflicht kann sogar die Diagnostik, Kontrolle und Behandlung meldepflichtiger Infektionserkrankungen verhindern, wenn auch der Umfang auftretender Fälle vermutlich vernachlässigbar ist. 29 Mit wenigen Ausnahmen sind übertragbare Erkrankungen, die einer Meldepflicht unterliegen, wie z.B. Tuberkulose, Röteln oder Masern, namentlich meldepflichtig (§§ 6, 7 Infektionsschutzgesetz, IfSG). Wird beispielsweise eine ansteckungsfähige Tuberkulose (TB) diagnostiziert,

25 Siehe das Urteil vom 30. Oktober 2013 des Bundessozialgerichts (B 7 AY 2/12 R). 26 Diese Information bildet Aussagen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedener Sozialämter und Berichte der Beratungsstellen ab sowie das Ergebnis einer Befragung von Krankenhäusern in Niedersachsen, Berlin und Hamburg im Jahr 2015. Vgl. dazu Mylius (2016), 173–177. 27 Vgl. Börchers (2013), 35–36. 28 Siehe z.B. Mitteilung Nr. 82/2014 der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft: www.nkgev.de [08.06.2018]. 29 Kühne/Gilsdorf (2016) legen die Zahlen meldepflichtiger Infektionskrankheiten bei Asylsuchenden dar. Da das Risikoprofil von Menschen ohne Papiere zunächst ähnlich sein dürfte, können die Daten zumindest einen Hinweis auf den Umfang auftretender Fälle geben.

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würde dies eine Umgebungsuntersuchung durch das Gesundheitsamt nach sich ziehen, um weitere TB-Fälle zu verhindern. Sollte nun z.B. bei Frau M. R. eine ansteckungsfähige Tuberkulose diagnostiziert werden, würde das Gesundheitsamt u.a. die Aufgabe haben, sie danach zu fragen, mit welchen Personen engerer Kontakt in der Vergangenheit bestanden hatte sowie wer diese Personen waren und wie sie zu erreichen wären. 30 Nur eine vertrauensvolle Atmosphäre kann die Möglichkeit eröffnen, dass die Betroffenen bereit sind, Informationen zu geben. Das IfSG sieht bei offensichtlicher Mittellosigkeit die Behandlung ansteckender Lungentuberkulose und sexuell übertragbarer Erkrankungen auf Kosten öffentlicher Mittel vor (§ 19 IfSG), doch tatsächlich suchen Gesundheitsämter immer wieder den Kontakt zum Sozialamt, um dort eine Kostenübernahme zu erreichen. 31 Dies setzt dann allerdings wieder die Übermittlungspflicht in Gang, die der Schweigepflicht des ärztlichen Personals am Gesundheitsamt entgegensteht. Die Folge ist ein unbedingtes Vermeidungsverhalten Betroffener, was die Absicht des IfSG konterkariert, Kontaktpersonen zu identifizieren und eine Weiterverbreitung zu vermeiden (§ 25 IfSG). Der geringe und nachteilige Effekt des unbedingten Kontroll-Willens hatte in den 1990er Jahren zur Schaffung anonymer und kostenloser Angebote für HIV-Infizierte geführt 32 und mündete in die Schaffung des § 19 IfSG, der mit dem neuen Infektionsschutzgesetz 2001 in Kraft trat. In der amtlichen Begründung wird die Bedeutung niederschwelliger Angebote aus Public Health Perspektive unterstrichen: »Dass die generelle Ausübung von Zwang, namentlicher Erfassung und polizeilicher Kontrolle dazu führen kann, dass Personen mit Geschlechtskrankheiten ärztliche Kontakte (und damit eine Behandlungsmöglichkeit) meiden, zeigen zahllose medizinische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Dies betrifft insbesondere bestimmte soziale Gruppen, die aus verschiedenen Gründen die klassischen Versorgungseinrichtungen meiden. Gerade diese Gruppen können jedoch durch sexuell übertragbare Krankheiten besonders gefährdet sein und können diese – wenn nicht

30 Vgl. Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) (2011), 373. 31 Diese Aussage beruht auf Erfahrungen der Medizinischen Flüchtlingsberatung Hannover und entspricht der Empfehlung des DZK. 32 Steffan et al. (2002), 6.

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unverzüglich sachgerecht beraten und behandelt wird – auch entsprechend weitergeben. […] Dass Gesundheitsämter im Bereich der ärztlichen Schweigepflicht und des medizinischen Datenschutzes umfassendes Vertrauen genießen, hat gerade die Arbeit in den AIDS- und Geschlechtskranken-Beratungsstellen gezeigt. […] Das hinter dem Angebot von Beratung und Untersuchung stehende Ziel, sexuell übertragbare Krankheiten und Tuberkulose bei anders nicht zu erreichenden Personengruppen zu erkennen und Dritte vor Ansteckung zu schützen, kann durch die Möglichkeit der aufsuchenden Arbeit und einer sofortigen medikamentösen Therapie – sofern möglich – seitens des Gesundheitsamtes besser erreicht werden. Es wird allerdings auf die Einzelfälle beschränkt, in denen die Personen das bestehende ärztliche Versorgungsangebot nicht wahrnehmen und deshalb die Gefahr der Weiterverbreitung der sexuell übertragbaren Krankheit oder der Tuberkulose besteht.« 33

3. M ODELLPROJEKT

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Das Land Niedersachsen hat 2015 ein Modellprojekt implementiert, um Hindernisse in der Gesundheitsversorgung von »Menschen ohne definierten Aufenthaltsstatus« abzubauen. 34 In Vergabestellen in Göttingen und Hannover werden seit Anfang des Jahres 2016 Behandlungsscheine ausgestellt, die ähnlich einer Krankenversicherungskarte gesetzlich Krankenversicherter die Kostenübernahme für bestimmte ärztliche und andere gesundheitliche Leistungen zusichert. In den Vergabestellen wird geprüft, ob die Betroffenen die Voraussetzungen zum Erhalt erfüllen. Migrantinnen und Migranten ohne definierten Aufenthaltsstatus können in den Stellen einen Schein erhalten, wenn sie über keine ausreichenden eigenen finanziellen Mittel verfügen und der Beratungsanlass durch § 4 AsylbLG gedeckt ist. Erfährt M. R. von der Vergabestelle z.B. durch Freunde und Bekannte, könnte sie zur Sprechstunde die Stelle aufsuchen. In der Vergabestelle wird erst einmal nach dem Beratungsanlass gefragt, also weshalb M. R. einen Behandlungsschein benötigt. Dann würden die Umstände ihres Aufenthalts erfragt – warum sie keine Papiere hat und ob sie eine Legalisierungsbera-

33 Bales et al. (2003). 34 Vgl. Niedersächsischer Landtag (2014): Entschließung vom 18.12.2014, Drucksache 17/2621. Unterrichtung Medizinische Versorgung für Flüchtlinge in Niedersachsen sicherstellen.

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tung in Anspruch nehmen möchte. Dort können alle aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten besprochen werden, um das Ziel zu erreichen, einen Aufenthaltstitel und damit auch einen regulären und ungehinderten Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten, der zudem selbstbestimmtes (Gesundheits-) Handeln befördert. Des Weiteren wird in der Vergabestelle geklärt, wie M. R. ihren Lebensunterhalt bestreitet bzw. ob sie über ein Einkommen verfügt, mit dem sie die Kosten einer gesundheitlichen Versorgung selbständig tragen kann. Die Behandlung der Bauchschmerzen während der Schwangerschaft, über die M. R. klagt, fällt unzweifelhaft als Versorgung bei einem Schmerzzustand unter die in § 4 AsylbLG genannten Leistungen, für die gemäß der Modellprojektvorgaben die Kosten übernommen werden. M. R. wird in der Vergabestelle geraten, außerdem die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen, um frühzeitig krankhafte Veränderungen bei Mutter oder Kind erkennen zu können. Auch dafür bekommt sie einen Behandlungsschein, der für diesen Anlass ein Quartal gilt. Werden bei dem frauenärztlichen Gespräch aber z.B. schwere psychische Belastungen festgestellt, und dass M. R. ihren Lebensalltag nicht mehr bewältigen kann, kann eine psychiatrische Behandlung nicht über das Modellprojekt finanziert werden. Welche Erkrankungszustände nicht als akut oder Schmerzzustand definiert sind, wird ärztlich entschieden. Gleichzeitig schafft die Verschiebung dieser Entscheidung in die ärztliche Praxis Unsicherheiten beim Gesundheitspersonal darüber, wie umfassend Diagnostik, der Gebrauch von Überweisungen und Behandlungen sein dürfen. Denn der Maßstab der ärztlichen Entscheidung ist in dieser Situation verändert worden; nicht die medizinische Indikation, entsprechend der Leitlinien soll entscheidend sein, sondern verwaltungsrechtliche Aspekte, die einen gesonderten Maßstab für Menschen fordern, die unter das AsylbLG fallen. Bei manchen, im Allgemeinen sehr häufigen Erkrankungen sind offensichtlich dauerhafte Behandlungen nötig, so z.B. beim Bluthochdruck 35, bei »Zuckerkrankheit« 36, Multipler Sklerose oder HIV-Infektion. Nach medizinischer Leitlinie ist bei diesen Erkrankungen aber auch fast immer ein sofortiger Therapiebeginn vorgesehen, um schwerwiegende Folgeerkrankungen

35 Bei essentieller arterieller Hypertonie. 36 Diabetes mellitus, Typ I und meist auch bei Typ II.

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oder schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. 37 Für den ärztlichen Laien und insbesondere den nicht-informierten Patienten bzw. die Patientin ist die Bedeutung des frühen Behandlungsbeginns zunächst abstrakt oder sogar nicht bekannt. Kommt es dann zu schweren Erkrankungszuständen und die Betroffenen suchen die Notaufnahme eines Krankenhauses auf, kann eine Behandlung durch ein fortgeschrittenes Krankheitsbild deutlich erschwert sein. Die entstandenen, nun vermutlich deutlich höheren Kosten einer Krankenhausbehandlung bleiben in solchen Fällen zumeist unbeglichen. M. R. kann in der Vergabestelle und in der ärztlichen Praxis zu notwendigen Untersuchungen oder auch Impfungen beraten werden sowie diese dann anonym und kostenlos erhalten Das niederschwellige Angebot soll eine eigenmächtige Entscheidung ermöglichen. Die Auswertung der ersten zwei Jahre der Tätigkeit der beiden Vergabestellen in Göttingen und Hannover, Februar 2016 bis Januar 2018, zeigen eine deutliche Zunahme der Inanspruchnahme. Es wurden insgesamt 698 Behandlungsscheine an 236 Personen ausgegeben. Im Mittel wurden zunächst 17 (02-07/2016), zuletzt 44 Scheine pro Monat (08-01/2018) ausgegeben. Die Zahl der Praxisbesuche lag deutlich höher und liegt í für den bisher für Diagnosen und Praxisbesuche auswertbaren Zeitraum vom 01.02.2016 bis 30.09.2017 í bei mindestens 800 Besuchen zuzüglich der zahnärztlichen Besuche, der Krankenhausbesuche sowie der nicht abgerechneten Praxisbesuche. 58% der Behandlungsscheine erhielten Frauen, in 9% gingen die Scheine an Personen unter 18 Jahre, die 15% der Ratsuchenden ausmachten. 60% aller Ratsuchenden waren zwischen 18 und 39 Jahre alt. Die häufigsten Herkunftsregionen der Personen, an die Behandlungsscheine ausgegeben wurden, variieren je nach betrachteten Zeiträumen und Gruppierung der Staaten sowie Standort der Vergabestelle. Werden der gesamte Zeitraum von zwei Jahren betrachtet und die Regionen wie folgt zusammengefasst, kam die Mehrheit der Betroffenen aus den Staaten Zentralafrikas (33%) und den BalkanStaaten (29%). 23,5% der 698 Scheine wurden mit Bezug zu Schwangerschaft ausgegeben, also aufgrund von Vorsorgeuntersuchungen, Beschwerden und Geburt sowie der Nachsorge. 55 Schwangere kamen im Mittel in

37 Siehe hierzu die von den ärztlichen Fachgesellschaften veröffentlichten Leitlinien, beispielsweise zum Bluthochdruck: Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, Vorstand/Deutsche Hochdruckliga, Vorstand (2013); zu HIV: die Deutsche AIDS-Gesellschaft (2017).

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der 18. Schwangerschaftswoche (SSW) zum ersten Mal in die Vergabestelle (Spannweite: 5. SSW bis 40. SSW) und erhielten über den Behandlungsschein zumeist zum ersten Mal eine Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung. In Deutschland krankenversicherte Frauen nehmen zu 85% vor der 13. SSW ihre erste Vorsorgeuntersuchung in Anspruch, in den Vergabestellen waren es 36,7% der Schwangeren, die ihre SSW bei Erstkontakt angaben (55 von 66 Schwangeren). 38 142 von 163 Personen (87%) erhielten im zweiten Projektjahr zum ersten Mal einen Behandlungsschein. Die meisten Personen wurden zunächst an einen Allgemeinmediziner/eine Allgemeinmedizinerin vermittelt (25%) oder an eine gynäkologische Praxis (24%). 87 von 237 Ratsuchenden (36,7%) erfuhren durch andere Beratungsstellen von den Vergabestellen, 53 Ratsuchende (22,4%) durch Freunde oder Bekannte. Bei insgesamt 698 Praxisbesuchen zwischen 02/2016 und 09/2017 (ohne Krankenhaus und zahnärztliche Praxen) wurden 13 Impfungen für neun Personen abgerechnet, davon vier Säuglinge und zwei Frauen im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge. Ohne Betrachtung der Vorsorgeuntersuchung bei Schwangeren wurden insgesamt 20 Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt, davon neun bei Säuglingen und im Übrigen mit einer Ausnahme nur bei Frauen. Bei mindestens 27 Personen wurde u.a. eine chronische Erkrankung diagnostiziert, für deren Behandlung keine Kostenübernahme vorgesehen ist. Die häufigsten Diagnosen hierfür lagen in der Gruppe der Herzkreislauf-Erkrankungen (z.B. Bluthochdruck), der Infektionskrankheiten (z.B. chronische Virushepatitis), der endokrinologischen Erkrankungen (wie Diabetes mellitus) und des Muskel-Skelett-Systems (z.B. Bandscheibenschäden). 39

38 Robert Koch-Institut (2015), 108. 39 Die Diagnosen, die im Rahmen von ambulanten ärztlichen Behandlungen gestellt wurden, konnten bisher für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 31. 12.2017 ausgewertet werden. Dabei wurden die Diagnosen verglichen mit der gemeinsamen Diagnoseliste der Bundeskassenärztlichen Vereinigung und der Gesetzlichen Krankenkassen. Für bisher n=154 ICD-10-Diagnosen (von der WHO erstellte 10. Revision der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems/Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme), die für chronische Erkrankungen kodieren, haben die erwähnten Erkrankungsgruppen jeweils einen Anteil von 22–33%.

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In Einzelfällen beschwerten sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Arztpraxen, Menschen ohne Krankenversicherungskarte aufnehmen zu sollen, aufgrund der notwendigen händischen Eingabe der Daten ins System, unter Verweis auf eine fehlende Zuständigkeit »des Staates, Asylanten« zu behandeln oder aufgrund von Vorbehalten gegenüber den bis dahin nicht bekannten Behandlungsscheinen. Die Erfahrungen der Migrantinnen und Migranten ohne Papiere mit dem Gesundheitssystem und wiederrum der Ärztinnen und Ärzte mit dem Behandlungsregime wurden im Rahmen des Projektes in Niedersachsen nicht systematisch erhoben, es liegen lediglich anekdotische Berichte vor. In Einzelfällen wurde sowohl von guten wie schlechten Erfahrungen berichtet. Von dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, auf der einen Seite und Freude über das Gefühl einer guten Behandlung auf der anderen Seite. Es gab vereinzelt Klagen der Praxen, dass Termine nicht wahrgenommen wurden, Patientinnen und Patienten fordernd auftraten oder Sprachbarrieren Beratungen zum unüberwindlichen Problem machten. Die Freude über sehr dankbare Patientinnen und Patienten wurde ebenfalls geschildert. 40 Nach dem Wechsel der Landesregierung in Niedersachsen im November 2017 soll es keine Verlängerung des Modellprojektes geben und die Tätigkeit der Vergabestellen zum 30.11.2018 auslaufen. Damit würde der niederschwellige Zugang zu einer Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere enden.

4. D ISKUSSION

UND

S CHLUSSFOLGERUNGEN

In Deutschland zeigt sich wie in anderen Staaten, dass es einen tatsächlichen Bedarf an niederschwelliger ärztlicher Versorgung gibt und Maßnahmen der Prävention selten durchgeführt werden. M. R. steht dabei stellvertretend für viele Frauen, die undokumentiert in Deutschland leben und unvermittelt eine Gesundheitsversorgung benötigen. M. R. konnte das Menschenrecht auf Gesundheit wahrnehmen, da das Bundesland Niedersachsen zum für sie richtigen Zeitpunkt gesetzgeberische Möglichkeiten genutzt hatte, um diesem Menschenrecht in der Umsetzung tatsächlich Geltung zu

40 Die Auswertungen wurden auf dem Kongress Armut und Gesundheit 2018 in Berlin vorgestellt, vgl. Mylius (2018).

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verschaffen. An der Gesetzeslage, die die Gesundheitsversorgung beeinflusst, und der praktischen Situation in Deutschland wird die Priorisierung ausgewählter Politikfelder deutlich. Es ist wenig überraschend, dass Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, sich häufig in irregulären Beschäftigungsverhältnissen befinden und nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um ärztliche Behandlungen in Deutschland finanzieren zu können. Der faktische Zugang zur Gesundheitsversorgung ist auch in fast allen anderen EU-Ländern für undokumentierte Migrantinnen und Migranten deutlich eingeschränkt durch hohe finanzielle Hürden, die Prämisse des Nachweises einer Registrierung und die Angst vor einer drohenden Abschiebung nach Inanspruchnahme. 41 Die eigene Beurteilung der Schwere der Erkrankung entscheidet, wieviel Risiko hingenommen wird, eine ärztliche Behandlung zu erhalten.42 Selbstmedikation, Krankenversicherungskarten anderer und telefonische Unterstützung aus dem Herkunftsland sind alternative Versorgungsstrategien, wie sie auch von undokumentierten Migrantinnen und Migranten aus Deutschland geschildert wurden. 43 Es ist für Betroffene undurchsichtig, in welchen Fällen sie gemeldet werden und in welchen nicht. Zudem sind sprachliche Barrieren eine Hürde, Bekannte und Freunde könnten falsch übersetzen oder interessengeleitet. Das Fehlen von guidelines innerhalb des Gesundheitssystems, wie mit der fehlenden Registrierung und Finanzierung umgegangen werden soll, wird ebenfalls bemängelt 44 sowie immer wieder die Beachtung des internationalen Menschenrechts in nationaler Gesetzgebung eingefordert wird. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung von Migrantinnen und Migranten wird in vielen anderen europäischen Staaten ebenfalls als eine Komponente der Migrationskontrolle verstanden. 45 Die Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft sowie ökonomische Faktoren werden nachgeordnet. Denn dass Hospitalisierungen bei bestimmten Erkrankungen durch eine ambulante Versorgung und Prävention vermieden

41 Übersichten finden sich z.B. in Flegar et al. (2016); Suess et al. (2014); Rosano et al. (2017); European Union Agency for Fundamental Rights (2011) und Woodward et al. (2014). 42 Vgl. Biswas et al. (2011). 43 Vgl. Huschke (2013) und Mylius (2016). 44 Vgl. Biswas et al. (2011), 10. 45 Deblonde et al. (2015), 6.

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werden könnten und damit auch vermeidbare Kosten entstehen, ist bereits bekannt. Eine Studie aus Italien beispielsweise zeigte, dass undokumentierte Migrantinnen und Migranten ein höheres Risiko aufwiesen, aufgrund präventabler Erkrankungszustände hospitalisiert zu sein. 46 Durch finanzielle Hürden werden tatsächlich auch die Behandlungen bestimmter übertragbarer Erkrankungen verhindert, obwohl diese in Deutschland mit dem Infektionsschutzgesetz extra Berücksichtigung finden sollten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO-Europa und die European Commission Communication on Combating HIV/AIDS formulierten als Ziel »[to] achieve, by 2010, universal access to treatment for HIV/AIDS for all those who need it«, um u.a. Transmissionen zu reduzieren. Eine Übersichtsarbeit von 2015 zeigt, dass trotz der bekannten Bedeutung einer früh einsetzenden HIV-Therapie für die individuelle Gesundheit und die Reduktion der Übertragung die meisten Staaten der EU/EEA 47 für Migranten und Migrantinnen keine antiretrovirale Therapie anbieten. Im Jahr 2014 hatten 13 von 29 EU/EEA-Staaten an das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) gemeldet, dass undokumentierte Migrantinnen und Migranten keinen Zugang zu einer HIV-Behandlung haben. 48 Ähnliches gilt für Tuberkulose (TB). In der Global TB-Stop-Strategy von WHO und ECDC wird zur Bekämpfung der Tuberkulose weltweit der niederschwellige Zugang zur TB-Therapie empfohlen. Seine Umsetzung findet sich in Deutschland ebenfalls im § 19 IfSG. Doch bei der Tuberkulose ist nicht nur die Gesetzgebung inkonsistent, sondern auch die dazugehörigen Leitlinien sind es. Dort findet sich weiterhin der Verweis auf die Meldung eines Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, bei dem eine Tuberkulose diagnostiziert wurde, an die Ausländerbehörden. 49 Kontaktpersonennachverfolgungen von Tuberkulose-Fällen, um weitere Infektionen frühzeitig zu erkennen, sind damit praktisch ausgeschlossen.

46 Vgl. Mipatrini et al. (2017), 462. 47 EEA steht für European Economic Area, zu der neben den EU-Mitgliedsländern Island, Liechtenstein und Norwgen gehören. Anfang 2014 zählte Kroatien noch nicht dazu. 48 Vgl. Deblonde et al. (2015), 6 und European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) (2014). 49 Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (2011), 373.

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Die Inanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen durch undokumentierte Migrantinnen und Migranten ist in Niedersachsen sehr gering, doch könnte die Etablierung diskriminierungsfreier Zugangswege hier eine Option öffnen, Prävention stärker zu integrieren und z.B. Impfungen auch tatsächlich durchzuführen. Auch in anderen EU-Ländern nehmen undokumentierte Migrantinnen und Migranten im Vergleich zur übrigen Allgemeinbevölkerung seltener Präventionsangebote wie Screening oder Impfungen in Anspruch. 50 In einer prospektiven Kohortenstudie aus der Schweiz zeigte sich beispielsweise, dass undokumentierte Migrantinnen im Vergleich zu sich legal in der Schweiz befindlichen Frauen signifikant häufiger ungewollt schwanger sind, verspätet Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen, seltener ein Screening auf ein Gebärmutterhalskarzinom in Anspruch genommen hatten und häufiger Gewalterfahrungen machten. 51 Auch Kinder, die mit ihren Eltern ohne Papiere in Deutschland leben, sind nicht von der Übermittlungspflicht ausgenommen. Einschränkungen im Leistungsumfang der gesundheitlichen Versorgung von undokumentierten Migrantinnen und Migranten der durchaus als wegweisend zu bezeichnenden Projekte in einigen Bundesländern werden mit dem Bezug zum Asylbewerberleistungsgesetz begründet. Die Einschränkungen im AsylbLG sind für Asylsuchende für maximal 15 Monate vorgesehen. Dass für Migrantinnen und Migranten ohne Papiere diese Zeiträume nicht bestehen, wird in seinen gesundheitlichen Konsequenzen nicht beachtet. Die Nicht-Behandlung chronischer Erkrankungen wird solange befördert, bis akute Erkrankungszustände auftreten, die eine Behandlung im Krankenhaus offensichtlich erfordern. Auf der anderen Seite werden Migrantinnen und Migranten ohne Papiere hinreichende gesundheitliche Kenntnisse unterstellt, da sie in der Abwägung von Abschiebung und Behandlung von Symptomen explizit die Konsequenzen ihrer Entscheidung beurteilen müssen, und wenn diese zugunsten des Verbleibs in Deutschland ausfällt, die Folgen zu tragen haben. Die Verlagerung in die Notaufnahme von Krankenhäusern wird damit explizit in Kauf genommen. Wenn keine Kostenübernahme erfolgt, sind es die einzelnen Krankenhäuser, auf die die Kosten verlagert werden, und das Individuum, das die Folgen einer verspä-

50 Siehe z.B. De Jonge et al. (2011); Wolff et al. (2008) und Wendland et al. (2016). 51 Wolff et al. (2008).

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teten Diagnostik erfährt. Das betrifft auch die besonders vulnerablen Menschen unter ihnen, Kinder, Schwangere und traumatisierte Personen. In einzelnen Kommunen und Bundesländern wird allerdings die Handlungsnotwendigkeit gesehen, Hemmnisse in der Gesundheitsversorgung abzubauen, da diese kein Instrument der Migrationskontrolle sein darf. Die vom Gesetzgeber zugrunde liegende Vorstellung eines Handels – Versorgung gegen Abschiebung – funktioniert offensichtlich nicht. Manche Bundesländer und Kommunen haben dies erkannt. Es bleibt damit weiterhin eine politische Entscheidung, in welchem Umfang der Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Gewährung anderer Menschenrechte umgesetzt werden.

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Das Menschenrecht auf Gesundheit und die medizinische Versorgung irregulärer Migrant_innen Vulnerabilität diesseits der Grenze 1 I BRAHIM K ANALAN , M ARKUS K RAJEWSKI , H ANNA G EKS

1. E INLEITUNG Die Herausforderungen, die mit der Aufnahme von Hunderttausenden von geflüchteten Menschen in jüngerer Zeit verbunden sind und waren, haben die rechtliche und soziale Situation der in Deutschland teilweise bereits seit Jahren lebenden irregulären Migrant_innen 2 in der politischen und medialen Aufmerksamkeit zurücktreten lassen. In Literatur und Praxis wird jedoch schon länger darauf hingewiesen, dass die medizinische Versorgung dieser Menschen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht prekär ist. Das geltende Recht erweist sich dabei in doppelter Hinsicht als problematisch: Es begründet zum einen nur einen eingeschränkten Versorgungsanspruch und stellt dessen Realisierung zum anderen unter Bedingungen, die vielfach den Zugang zu den entsprechenden Leistungen faktisch verhindern. Die diesbezüglichen Zusammenhänge und tatsächlichen Folgen sind bereits wiederholt dargestellt worden und werden im Folgenden nur kurz

1

Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine erweiterte und überarbeitete Fassung von Kanalan/Krajewski (2017).

2

Zum Begriff unten 2.1.

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erläutert. 3 Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf der Bewertung der Rechts- und Sachlage vor dem Hintergrund der internationalen Menschenrechte. Die spezifisch menschenrechtliche Perspektive wird dabei aus zwei Gründen gewählt: Zum einen haben eine Reihe von aktuelleren Entscheidungen des EuGH und des EGMR die besondere Relevanz der Menschenrechte für den Schutz von Flüchtlingen sowie anderen Migrant_innen aufgezeigt und so die Unzulänglichkeiten des jeweils geltenden nationalen Rechts verdeutlicht. 4 Zum anderen erlaubt der menschenrechtliche Fokus die normative Bewertung des geltenden Rechts auf der Basis eines – dem Grundgesetz in diesem Umfang (noch?) fremden – Menschenrechts auf Gesundheit und der damit verbundenen Diskriminierungsverbote einschließlich deren Konkretisierung durch die zuständigen internationalen Spruchkörper. Der folgende Beitrag skizziert zunächst, welche Personen als irreguläre Migrant_innen bezeichnet werden, und zeigt die besondere Vulnerabilität ihrer Lebenssituation auf (2.). Im Anschluss daran werden die rechtlichen Grundlagen und die tatsächlichen Gegebenheiten des Zugangs zu Leistungen der medizinischen Versorgung für irreguläre Migrant_innen aufgezeigt (3.). Dabei wird deutlich, dass bereits auf der Ebene des geltenden Rechts nur ein eingeschränkter Versorgungsumfang gewährt wird. Selbst dieser wird faktisch oft nicht wahrgenommen, da die Inanspruchnahme von den Betroffenen eigentlich zustehenden Leistungen negative aufenthaltsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Sodann wird kurz dargestellt, wie sich die medizinische Versorgung irregulärer Migrant_innen tatsächlich gestaltet (4.). Die Rechts- und Sachlage wird dann an internationalen menschenrechtlichen Standards gemessen (5.). Zur Konkretisierung dieser Standards wird dabei die Praxis der zuständigen Vertragsausschüsse der einschlägigen Übereinkommen und anderer Institutionen der Vereinten Nationen dargestellt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass sich die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik nicht in der

3 4

Siehe unten die Kapitel 3.–3.2. Sie etwa EuGH v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 (N.S. u.a. ./. Vereinigtes Königreich); EuGH v. 14.11.2013 – C-4/11 (Deutschland ./. Kaveh Puid), juris; EGMR v. 21.1.2011 – 30696/ 09 (M.S.S. ./. Belgien u.a.), juris; EGMR v. 4.11.2014 (Nr. 29217/ 12) (Tarakhel ./. Schweiz), NVwZ 2015, 127; EMGR v. 15.12.2016 (Nr. 16483/12) (Khlaifia u.a. ./. Italien), juris.

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Ermöglichung eines theoretischen Zugangs irregulärer Migrant_innen zu Gesundheitsleistungen erschöpfen, sondern dass Deutschland verpflichtet ist, den Zugang auch tatsächlich zu ermöglichen. Der Beitrag schließt mit reformpolitischen Überlegungen, wie ein menschenrechtskonformer Zustand hergestellt werden könnte (VI.).

2. I RREGULÄRE M IGRANT _ INNEN ALS M ENSCHEN BESONDERS VULNERABLEN S ITUATIONEN

IN

2.1 Begriffliche Grundlage: Irreguläre Migrant_innen Als irreguläre Migrant_innen werden Menschen bezeichnet, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, weil sie nicht über einen für sie erforderlichen Aufenthaltstitel verfügen und keinen Anspruch auf eine Duldung gem. § 60a AufenthG haben. 5 Damit erfasst der Begriff nicht Asylsuchende, deren Aufenthalt nach § 55 AsylG gestattet wird. Das Aufenthaltsrecht überträgt irregulären Migrant_innen keine Rechte. 6 Faktisch werden sie vom Zugang zu sozialen Leistungen und damit auch von der Integration in die Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen. 7 Die Gründe, die zur Irregularität führen, sind vielfältig. Unter anderem kann es sich um Personen handeln, die ohne einen erforderlichen Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet eingereist sind sowie weder einen Asylantrag gestellt noch einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis haben und deren Abschiebung nicht nach § 60a AufenthG ausgesetzt werden kann. Es kann sich auch um Personen handeln, die zuvor einen Aufenthaltstitel hatten, Asylsuchende waren oder deren Abschiebung ausgesetzt war, bei denen nunmehr aber die Voraussetzungen für einen weiteren, rechtlich zulässigen Aufenthalt nicht vorliegen. 8 Gemeinsam ist diesen Personen, dass sie

5

Will (2008), 60. Bei geduldeten Personen bleibt die Ausreisepflicht weiterhin bestehen, eine Abschiebung kommt aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in Betracht.

6

Krajewski (2017a), 123, 146–147 m.w.N.

7

Hoffmann (2009), 13, 16–17.

8

Vgl. dazu auch ebd.

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kein Recht auf einen Aufenthaltstitel haben, sich jedoch tatsächlich in Deutschland befinden. In der internationalen Praxis und der migrationsrechtlichen Literatur hat sich der Begriff »irreguläre Migrant_innen« eingebürgert. 9 Synonym dazu wird auch der Begriff der »undokumentierten Migrant_innen«, »Menschen ohne Papiere« (sans papiers), »Menschen ohne Aufenthaltsstatus« oder »Illegale« verwendet, 10 da die betroffenen Personen über keinen Identitätsnachweis verfügen oder sie nicht bei den Ausländerbehörden registriert sind. Die genaue Zahl irregulärer Migrant_innen ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von 200.000 bis zu einer halben Million Menschen in Deutschland aus. 11 Viele von ihnen leben aus Furcht vor möglichen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen unerkannt und müssen bei jedem Behördenkontakt fürchten, dass eine Abschiebung eingeleitet werden kann. Die Statuslosigkeit bzw. Illegalisierung führt jedoch nicht zugleich zur Rechtslosigkeit. 12 Für irreguläre Migrant_innen gelten die JedermannGrundrechte des Grundgesetzes und international verbürgte Menschenrechte 13 ebenso wie zivil-, arbeits- und sozialrechtliche Ansprüche des einfachen Rechts, 14 auch wenn ihre Durchsetzung in der Praxis erheblichen Schwierigkeiten begegnet. 15 2.2 Vulnerabilität Die Lebenssituation irregulärer Migrant_innen erweist sich als besonders vulnerabel im Sinne des neueren Menschenrechtsdiskurses. Das Konzept der Vulnerabilität stammt aus der Resilienzforschung und bezeichnet eine besondere Verwundbarkeit bzw. Verletzlichkeit einer Person aufgrund von bestimmten, in der Person liegenden Eigenschaften oder aufgrund der Situation, in der sie sich befindet. Aus diesen Verwundbarkeiten lässt sich ih-

9

Oswald (2007), 170.

10 Fischer-Lescano et al. (2012), 8. 11 Vogel (2015), 2. 12 Tohidipur (2012), 41, 45–66. 13 Bielefeldt (2006), 81; Kanalan (2015). 14 Kanalan (2012), 91 sowie Will (2008), 136 ff. 15 Dazu unten 3.1. und 3.2.

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rerseits eine besondere Schutzbedürftigkeit der Person ableiten. 16 Merkmale oder Eigenschaften, die die Vulnerabilität auslösen, sind z.B. Geschlecht, Alter, Behinderung, aber auch der Aufenthaltsstatus. Besondere Faktoren für die Bestimmung der Vulnerabilität und hieraus folgende Schutzbedürftigkeit sind u.a.: Diskriminierung, Stigmatisierung, staatliche Abhängigkeit, soziale Exklusion und Benachteiligung aufgrund unterschiedlicher Merkmale sowie eine bestimmte Gewalterfahrung. 17 Das Konzept wird bereits seit einiger Zeit in personen- und medizinrechtlichen 18 sowie zunehmend auch in migrationsrechtspolitischen 19 Diskursen verwendet, auch wenn Vulnerabilität (noch) kein allgemein anerkanntes Rechtskonzept ist. Im Recht der Europäischen Union hat sich das Konzept der Vulnerabilität vor allem im Flüchtlingsrecht etabliert. 20 Aus menschenrechtlicher Sicht meint Vulnerabilität eine Lebenslage, die der vollen und gleichberechtigten Nutzung der Menschenrechte abträglich ist. 21 Das Konzept wurde in diesem Diskurs in erster Linie durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte entwickelt und von ihm verwendet. Der Ausschuss weist immer wieder darauf hin, dass der Staat seinen menschenrechtlichen Pflichten insbesondere hinsichtlich verletzlicher 22 und marginalisierter Gruppen nachkommen muss. 23

16 Huster (2012), 565. 17 Kanalan (2016), 161, 180 m.w.N. Vgl auch Huster (2012), 566 sowie Birnbacher (2012), 561. 18 Lipp (2016), 843; Damm (2013), 201; Huster (2012), 565 und Birnbacher (2012), 562–563. 19 Insbesondere mit Blick auf Fluchtursachen Gnüchtel (2016), 172, 173–174; Kreck (2016), 50 ff. 20 Ausführlich Kanalan (2016), 178–179. 21 Krennerich (2013), 122. 22 Der Ausschuss verwendet teilweise statt »vulnerable« den Begriff »disadvantaged«, vgl. z.B. CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 18 (Right to Work) v. 6.2.2006, UN-Doc. E/C.12/GC/18. Er scheint beide Adjektive als Synonyme zu verwenden, vgl. auch Allgemeine Bemerkung Nr. 13 (Right to Education) v. 8.12.1999, UN-Doc. E/C.12/1999/10. 23 Siehe z.B. CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 14 (Right to Highest Attainable Standard of Health) v. 11.8.2000, UN-Doc. E/C.12/2000/4, Ziff. 12, 18, 35 ff.; Allgemeine Bemerkung Nr. 13 (Right to Education) v. 8.12.1999, UN-Doc.

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In der Rechtsprechung des EGMR spielte das Konzept der Vulnerabilität bzw. Schutzbedürftigkeit zunächst vor allem bei Menschenrechtsverletzungen von Roma und Sinti eine Rolle. 24 Maßgeblich für die Vulnerabilität war die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Herkunft. Später verwendete der Gerichtshof das Konzept allgemein im Rahmen der Diskriminierung, so z.B. aufgrund der Behinderung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. 25 Eine weitere Gruppe, die der Gerichtshof als besonders vulnerabel einstufte, waren zuletzt Minderjährige und Asylsuchende. In der Rechtssache M.S.S. gegen Belgien hat der Gerichtshof ausgeführt, dass sich die Schutzbedürftigkeit aufgrund des Aufenthaltsstatus, d.h. der Zugehörigkeit zu einer unterprivilegierten und verletzlichen Gruppe, ergeben kann. 26 Dies hat der Gerichtshof in der Rechtssache Tarakhel gegen die Schweiz wiederholt und für Minderjährige weiter präzisiert. 27 Die besondere Vulnerabilität irregulärer Migrant_innen ist vor diesem Hintergrund evident. Sie liegt darin, dass die Entdeckung ihrer Existenz, ihres Aufenthalts und ihres Aufenthaltsstatus die Gefahr ihrer Abschiebung begründet, sowie in der Tatsache, dass sie durch das Recht exkludiert und marginalisiert werden. 28

E/C.12/1999/10, Ziff. 6; Allgemeine Bemerkung Nr. 15 (Right to Water) v. 20.1.2003, UN-Doc. E/C.12/2002/11, Ziff. 12 f., 38 ff. 24 Siehe EGMR v. 13.11.2007 (Nr. 57325/00) (D.H. u.a. ./. Tschechische Republik); EGMR v. 16.3.2010 (Nr. 15766/03) (Oršuš u.a. ./. Kroatien). 25 EGMR v. 20.5.2010 (Nr. 38832/06) (Alajos Kiss ./. Ungarn); EGMR v. 28.5.1985, Series A no. 94 (Abdulaziz u.a. ./. Vereinigtes Königreich); EGMR v. 22.1.2008 (Nr. 43546/02) (E.B. ./. Frankreich); EGMR v. 11.7.2002 (Nr. 28957/95) (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich). 26 EGMR v. 21.1.2011 (Nr. 30696/09) (M.S.S. ./. Belgien u.a.). 27 EGMR v. 4.11.2014 (Nr. 29217/12), (Tarakhel ./ . Schweiz) NVwZ 2015, 127. 28 Vgl. auch MacPherson/Gushulak (2004).

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3. E INFACHRECHTLICHE R ECHTSGRUNDLAGEN DER MEDIZINISCHEN V ERSORGUNG IRREGULÄRER M IGRANT _ INNEN Auch irreguläre Migrant_innen sind im deutschen Recht nicht vollkommen rechtlos gestellt. Sie haben grundsätzlich Zugang zu medizinischen Leistungen. Diese Ansprüche sind jedoch bereits in rechtlicher Hinsicht begrenzt und werden nicht im gleichen Umfang gewährt wie Leistungen gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen. Zudem ist die Durchsetzbarkeit für irreguläre Migrant_innen selbst aufgrund ihrer prekären aufenthaltsrechtlichen Situation faktisch unmöglich. 3.1 Eingeschränkte Anlässe und reduzierter Umfang der Versorgungs- und Behandlungsansprüche Die medizinische Versorgung irregulärer Migrant_innen wird durch das AsylbLG bestimmt. 29 Nach § 1 Nr. 5 AsylbLG haben auch ausreisepflichtige Personen grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz. Die in § 4 AsylbLG festgelegte medizinische Versorgung weist gegenüber der Gesundheitsversorgung nach SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende, sog. »Hartz IV«-Ansprüche) und SGB XII (Sozialhilfe) teilweise erheblich reduzierten Inhalt und Umfang auf. 30 Das System der Gesetzlichen Krankenversicherung nach SGB V findet für Personen, die nach dem AsylbLG anspruchsberechtigt sind, grundsätzlich keine Anwendung. Die Gesundheitsversorgung nach dem AsylbLG umfasst die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen (§ 4

29 Hierzu ausführlich Falge et al. (2009), insbesondere dort Frings (2009), 143; Farahat (2014), 269. 30 Ausführlich Kanalan (2016), 178–179; vgl. auch Farahat (2014), 270–271 m.w.N.

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Abs. 1 Satz 1 AsylbLG). Dieser Anspruch garantiert lediglich eine medizinische Notversorgung bei Krankheit. 31 Bei akuten Erkrankungen besteht ein Anspruch auf Versorgung und Behandlung nur dann, wenn es sich um einen unvermutet auftretenden, schnell und heftig verlaufenden regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand handelt, der aus medizinischen Gründen der ärztlichen Behandlung bedarf. 32 In der Praxis umstritten ist allerdings, welche Erkrankungen im Einzelfall akut sind. 33 So wird die Behandlung wegen posttraumatischer Belastungsstörungen teilweise mit der Begründung abgelehnt, dass es sich nicht um eine akute Erkrankung handele. 34 Zudem schränken die Sozialämter den Anspruch teilweise dadurch ein, dass entgegen des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG zusätzlich vorausgesetzt wird, dass eine akute Erkrankung mit Schmerzen verbunden sein muss. 35 Chronische Erkrankungen werden grundsätzlich von den Leistungen nach § 4 Abs. 1 AsylbLG nicht erfasst. 36 Ausnahmsweise kann dies anders sein, wenn ein zusätzlicher akuter Krankheitszustand auftritt, der unter Umständen in ein lebensbedrohliches Stadium eingetreten ist. 37 Außerdem sind langfristige Behandlungen ausgeschlossen, da in der Regel von einem kurzen Aufenthalt der betroffenen Personen ausgegangen wird. 38 In der Praxis

31 Weitergehende Einschränkungen werden bei einer Versorgung mit Zahnersatz vorgenommen. Diese erfolgt nur, soweit sie im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist (§ 4 Abs. 1 S. 3 AsylbLG). 32 Kaltenborn (2015), 161–162; Frerichs (2014), § 4 AsylbLG Rn. 38 f.; Wahrendorf (2014), § 4 AsylbLG Rn. 11 f. 33 Klerks (2014), 32, 37 m.w.N. Siehe auch Frerichs (2014), § 4 AsylbLG Rn. 52 f. 34 Vgl. z.B. SG Landshut, v. 24.11.2015 – S 11 AY 11/14, beck online; siehe auch Wahrendorf (2014), § 4 AsybLG Rn. 11. 35 Frings (2009), 148–149. 36 Wahrendorf (2014), § 4 AsylbLG Rn. 12; Farahat (2014), 270 jeweils m.w.N. 37 Hohm (2010), § 4 AsylbLG Rn. 4 f.; Wahrendorf (2014), § 4 AsylbLG Rn. 12 m.w.N und Kaltenborn (2015), 162 m.w.N. 38 So die Gesetzesbegründung BT- Drucks. 12/4451, 9. Aus der Rechtsprechung vgl. z.B. SG Landshut, v. 24.11.2015 – S 11 AY 11/14, beck online. Diese Behauptung ist weder empirisch belegt noch überzeugend. Denn nach dem AsylbLG sind auch Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, an-

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halten sich irreguläre Migrant_innen – ebenso wie manche Asylsuchende oder Geduldete – teilweise jedoch monate- oder gar jahrelang im Bundesgebiet auf. Bei einer Behandlung aufgrund von Schmerzzuständen ist eine Beschränkung auf akute Erkrankungen nicht vorgesehen. In diesem Fall besteht ein Anspruch auf Behandlung auch bei länger andauernden oder chronischen Krankheiten. 39 An das Vorliegen der Voraussetzungen werden aber hohe Anforderungen gestellt. Die Voraussetzung ist in der Regel dann erfüllt, wenn ein unangenehmer Sinnes- und Gefühlszustand vorliegt, welcher mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigung verknüpft ist und daher aus medizinischen Gründen einer ärztlichen Behandlung bedarf. 40 Die Versorgung zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten unterliegt dagegen keinen Einschränkungen, soweit sie medizinisch geboten ist (§ 4 Abs. 1 S. 2 AsylbLG). Daher werden Schutzimpfungen nunmehr entsprechend der Versorgung nach SGB XII (§§ 47, 52 Abs. 1 S. 1) auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbracht. 41 Auch Vorsorgeuntersuchungen, wie Zahnvorsorge, Krebsvorsorge und Gesundheitsuntersuchungen, werden ohne Einschränkungen geleistet. 42 Ohne Einschränkungen erfolgen ebenso die Leistungen für werdende Mütter und Wöchnerinnen. 43 Hier sind ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und Heilmittel zu gewähren (§ 4 Abs. 2 AsylbLG). Im Ergebnis erweist sich der Leistungsumfang der Gesundheitsversorgung nach § 4 Abs. 1 AsylbLG als erheblich eingeschränkt. Er bezieht sich vor allem auf die Behandlung der Krankheitssymptome. Ein Anspruch auf eine umfassende und grundlegende, auf Dauer angelegte Therapie besteht

spruchsberechtigt. Zudem bleiben viele der Anspruchsberechtigten über mehrere Jahre in Deutschland. 39 Hohm (2010), § 4 AsylbLG Rn. 6; Frerichs (2014), § 4 AsylbLG Rn. 43 und Wahrendorf (2014), § 4 AsylbLG Rn. 14. 40 Hohm (2010), § 4 AsylbLG Rn. 6. 41 Rixen (2015), 1640–1641; BT. Drs. 18/6185, 46. 42 Anders Frerichs (2014), § 4 AsylbLG Rn. 62. Er geht davon aus, dass diese Leistungen, auch soweit sie geboten sind, nur in beschränktem Umfang zu gewähren seien. 43 Frerichs (2014), § 4 AsylbLG Rn. 55 f.

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nicht. 44 Erst Recht dürfte kein Anspruch auf eine optimale und bestmögliche Versorgung angenommen werden. 45 Die grundsätzlich deutlich eingeschränkten Leistungen nach § 4 Abs. 1 AsylbLG können unter Umständen um Leistungen nach § 6 Abs. 1 AsylbLG erweitert werden. 46 Danach können sonstige Leistungen beansprucht werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind. Das ist der Fall, wenn die Behandlung aus medizinischer Sicht unbedingt erforderlich ist und eine gleich geeignete und günstigere Behandlung nicht in Betracht kommt. 47 Daher können nach § 6 Abs. 1 AsylbLG Leistungen zur Behandlung chronischer oder psychologischer Erkrankungen gewährt werden. 48 Die Vorschrift fungiert als Auffangnorm, um in atypischen Bedarfsfällen eine Kompensation vorzunehmen. Es handelt sich um eine Ausnahmevorschrift, die keine allgemeinen Leistungserweiterungen nach sich ziehen, strukturelle Defizite ausgleichen und mithin verfassungs- sowie europarechtliche Bedenken ausräumen kann. 49 Zudem eröffnet die Vorschrift den Sozialbehörden ein Ermessen hinsichtlich der Gewährung weitergehender Leistungen, das jedoch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 AsylbLG in der Regel, insbesondere aufgrund menschen- und grundrechtlicher Vorgaben, auf Null reduziert sein dürfte. 50 Ferner kommt ein Anspruch auf eine medizinische Versorgung in Betracht, wenn die Betroffenen eine Beschäftigung ausüben. Unabhängig von der Ausreisepflicht und der aufenthaltsrechtlichen Irregularität unterliegen irreguläre Migrant_innen bei einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit der Versicherungspflicht nach § 5 SGB V und sind somit krankenversichert. 51 In diesem Fall besteht ein uneingeschränkter Anspruch auf Krankenbehand-

44 Kaltenborn (2015), 162 und Eichenhofer (2013), 169–170. 45 LSG Baden-Württemberg, B. v. 11.2.2007 – L 7 AY 6025/ 06, juris, Leitsatz 1, Rn. 5 m.w.N. 46 Siehe auch Farahat (2014), 270 m.w.N. und Frings (2009), 149–150. 47 Wahrendorf (2014), § 6 AsylbLG Rn. 11 und Kaltenborn (2015), 162. 48 Frerichs (2014), § 6 AsylbLG Rn. 59 ff. 49 Ausführlich dazu Kanalan (2016), 168–169, 188–189. Siehe auch Frerichs (2014), § 6 AsylbLG Rn. 15 m.w.N. 50 Vgl. Frerichs (2014), § 6 AsylbLG Rn. 42 f. 51 Ausführlich dazu Kanalan (2012), 102–106.

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lung nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung – auch wenn die tatsächliche Inanspruchnahme regelmäßig praktisch unmöglich sein dürfte (dazu sogleich). 3.2 Mitteilungspflicht als Hindernis für den tatsächlichen Zugang zu Versorgungs- und Behandlungsleistungen Die tatsächliche Inanspruchnahme des soeben skizzierten Anspruchs auf medizinische Versorgung erweist sich in der Praxis als äußerst schwierig bis unmöglich. 52 Im Grunde ist die Gesundheitsversorgung in der Regel nur um den Preis einer Aufenthaltsbeendigung (Abschiebung) möglich. Der Grund hierfür liegt in § 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. 53 Die Realisierung der Ansprüche nach §§ 4, 6 AsylbLG setzt grundsätzlich voraus, dass die Betroffenen bei der zuständigen Sozialbehörde (Sozialamt) vorsprechen und einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Hierbei prüfen die Sozialbehörden, ob tatsächlich ein Anspruch nach § 4 iVm § 1 AsylbLG besteht (Bedürftigkeitsprüfung). Dabei muss der Betroffene regelmäßig seinen irregulären Aufenthalt offenbaren und zudem Auskunft über Wohnort und Vermögensverhältnisse geben. Die Feststellung des irregulären Aufenthalts jedoch begründet zugleich die Pflicht der Sozialbehörde, unverzüglich die Ausländerbehörde oder die Polizei über den irregulären Aufenthalt zu unterrichten (§ 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). 54 Damit geht die Gefahr einher, dass gegen den Betroffenen aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet werden. Die Möglichkeit der Aufdeckung des irregulären Aufenthalts führt daher in der Praxis dazu, dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen eine existenzielle Folge haben kann. Die Mitteilungspflicht öffentlicher Stellen erweist sich letztendlich als eine erhebliche faktische Zugangshürde. 55 Neben der genannten Versorgung kommt eine medizinische Versorgung im Rahmen der Notfallversorgung in Betracht. 56 In einem Notfall, das heißt, wenn eine medizinische Behandlung zum Erhalt der Gesundheit un-

52 Vgl. auch Farahat (2014), 271–272. 53 Vgl. auch Frings (2009), 153. 54 Siehe auch Farahat (2014), 272. 55 Ebd., 272 und Frings (2009), 153. 56 Ausführlich Schülle (2014), 363.

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aufschiebbar ist und die Hilfe sofort erfolgen muss, besteht ein Anspruch auf medizinische Versorgung gegenüber Krankenhäusern und Ärzten. Da in solchen Fällen den Betroffenen nicht zumutbar ist, zuvor die Kostenübernahme von der Sozialbehörde einzuholen, werden sie zunächst behandelt. Die Abrechnung erfolgt später zwischen dem Leistungserbringer und dem Sozialamt. Ein Anspruch des Nothelfers ergibt sich, entgegen früher vertretener Auffassung, 57 nicht aus analoger Anwendung des § 25 SGB XII, sondern vielmehr aus einem abgetretenen Anspruch des Hilfebedürftigen nach § 4 AsylbLG gegenüber dem Sozialamt. 58 Aufgrund der neueren Entscheidung des BSG und der Abrechnung aus einem abgetretenen Anspruch, könnte die Behandlung in Notfällen schwieriger werden, da der Nothelfer dem Risiko ausgesetzt ist, seine Kosten nur mit viel Aufwand abzurechnen bzw. auf seinen Kosten sitzen zu bleiben. 59 Hinzu kommt, dass auch in diesen Fällen erhebliche Schwierigkeiten beim tatsächlichen Zugang zu Versorgungs- und Behandlungsleistungen bestehen. Unter diesen Umständen besteht zwar keine Mitteilungspflicht öffentlicher Krankenhäuser nach § 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, weil hier ein sogenannter verlängerter Geheimnisschutz gilt. Aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen nämlich Ärzte nach § 88 AufenthG i.V.m. § 203 StGB nicht der gleichen Mitteilungspflicht wie Sozialbehörden. Dieser Geheimnisschutz gilt auch für die Krankenhausverwaltung, sodass öffentliche Krankenhäuser von der Mitteilungspflicht ausgenommen sind. 60 Mitarbeiter_innen privater Krankenhäuser sowie Ärzte haben von vorneherein keine Mitteilungspflicht, weil es sich bei diesen nicht um öffentliche Stellen i.S.v. § 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG handelt. Aber dennoch bestehen erhebliche Hürden auch bei der Gesundheitsversorgung im Rahmen eines Notfalls. Denn selbst hier muss eine Bedürftigkeitsprüfung durch das Sozialamt vorgenommen werden. Dies bedeutet, dass die Betroffenen den Nachweis erbringen müssen, dass sie tatsächlich leistungsberechtigt sind.

57 Farahat (2014), 271 mit entsprechenden Nachweisen. 58 BSG, Urt. v. 30.10.2013 – B 7 AY 2/12 R – juris. 59 Ossege (2014), 526. Kritisch zu der Entscheidung des BSG auch Schülle (2014), 363. 60 Farahat (2014), 271 m.w.N. Fraglich ist allerdings, ob die Sozialbehörden, die von den Krankenhäusern die Informationen erhalten, ebenso einem verlängerten Geheimnisschutz in diesen Fällen unterliegen, vgl. ebd., 271–272.

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Diesen können sie in der Regel dadurch erbringen, dass sie unter Angabe der oben genannten Daten ihre aufenthaltsrechtliche Situation offenlegen müssen. Mit der Kenntniserlangung über den irregulären Aufenthalt sind die Sozialbehörden aufgrund des § 87 Abs. 2 AufenthG damit konfrontiert, die Daten der Ausländerbehörde zu übermitteln. Hierdurch sind die Betroffenen aber der Gefahr der Abschiebung ausgesetzt. Die Bedürftigkeitsprüfung und die damit verbundene Mitteilungspflicht der Sozialbehörden machen die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Grunde unmöglich. 61 Vergleichbare Hindernisse bei der tatsächlichen Inanspruchnahme der Leistungen bestehen im Fall der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund einer Beschäftigung. Auch in diesen Fällen führt § 87 Abs. 2 AufenthG dazu, dass die Betroffenen im Falle der Geltendmachung ihrer Ansprüche damit rechnen müssen, dass die Krankenkassen den irregulären Aufenthalt der Ausländerbehörde bzw. der Polizei mitteilen. Denn die gesetzlichen Krankenkassen unterliegen als öffentliche Stellen der Mitteilungspflicht nach § 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. 62 Im Ergebnis dürfte davon ausgegangen werden können, dass tatsächlich die Betroffenen nur im Falle schwerster Erkrankungen, die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen, weil aufgrund der ernsthaften Lebensgefahr die Aufdeckung des irregulären Aufenthalts in Kauf genommen wird oder aufgrund der Schwere der Krankheit ein Abschiebeschutz (nach § 60a AufenthG) in Betracht kommen könnte.

61 Ebd., 272–273. 62 Vgl. Kanalan (2012), 110–111 und Farahat (2014), 272.

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4. N ICHTINANSPRUCHNAHME

VON G ESUNDHEITS LEISTUNGEN DURCH IRREGULÄRE M IGRANT_INNEN UND TATSÄCHLICHE V ERSORGUNG DURCH P RIVATE : E MPIRISCHE E RKENNTNISSE

4.1 Nichtinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch irreguläre Migrant_innen Die tatsächliche Versorgungssituation von irregulären Migrant_innen ist nur schwer zu beurteilen, weil sich die Betroffenen nicht zu erkennen geben wollen. Empirische Studien und Berichte von Flüchtlingsorganisationen deuten jedoch bereits seit einiger Zeit darauf hin, dass in der Praxis die Leistungen nach § 4 AsylbLG an irreguläre Migrant_innen nicht erbracht werden bzw. von diesen nicht wahrgenommen werden. Nur selten sind irreguläre Flüchtlinge in der Lage, die Kosten selbst zu zahlen. Aus diesem Grund verzichten die niedergelassenen Ärzte teilweise auf ihre Vergütung. Kostenlose Behandlungen finden jedoch nur in begrenztem Umfang statt. Aussagen von Krankenhäusern unterstützen diese Vermutung. In einer umfassenden empirischen Untersuchung wird ein Krankenhaus zitiert, das angibt, Behandlungen nur durchzuführen, wenn sie nicht »unabweisbar« sind. Ein anderes Krankenhaus führt in nicht lebensbedrohlichen Fällen nur eine »low care-Versorgung« durch. 63 Auch werden irreguläre Migrant_innen früher aus stationärer Behandlung entlassen. 64 Trotz einer erhöhten Bereitschaft von Ärzten, irreguläre Kinder zu behandeln, entsprechen die Untersuchungen von Neugeborenen teilweise nicht den deutschen Behandlungsstandards. 65 Neben der bereits erwähnten Angst der Betroffenen vor der Entdeckung ihres irregulären Aufenthalts, spielt in der Praxis auch Rechtsunsicherheit eine große Rolle. 66 Zudem wird die Kontinuität der Behandlungen oft durch fehlende Vorbefunde und Überweisungsmöglichkeiten erschwert. 67 Beson63 Mylius (2016), 277. 64 Castañeda (2009), 1556–1557 und Mylius (2016), 277. 65 Castañeda (2009), 1556. 66 Sayed (2015), 169–172; bzgl. Rechtunsicherheit vgl. die ähnliche Bemerkung im Fragebogen von Mylius (2016), 279. 67 Schülle et al. (2017), 5.

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ders problematisch ist, dass die Betroffenen häufig erst ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, wenn die Krankheit bereits weit fortgeschritten ist. 68 Diese Faktoren werden als die Hauptgründe für einen chronischen Verlauf der Krankheiten gesehen. 69 4.2 Gesundheitsversorgung durch freie Träger und private Gruppen Die tatsächliche Gesundheitsversorgung von irregulären Migrant_innen wird zunehmend von privaten Initiativen übernommen. Diese verfolgen unterschiedliche Ansätze und gewähren Leistungen in unterschiedlichem Umfang. Es gibt zum einen tatsächliche Behandlungsangebote auf Spendenbasis und zum anderen Netzwerke, die an niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser vermitteln. Außerdem erfolgt teilweise eine Versorgung durch die Gesundheitsämter. In über 30 Städten wird von Hilfsorganisationen wie der der Malteser, Ärzte der Welt und Praxis ohne Grenzen spendenbasierte ambulante Versorgung durch eine kostenlose und anonyme Behandlung angeboten. 70 Eine der ältesten ist die seit 2001 in Berlin betriebene spendenfinanzierte Anlaufstelle der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (ursprünglich Malteser Migranten Medizin), die auf die Gesundheitsversorgung von irregulären Migrant_innen ausgerichtet ist, aber auch deutsche Staatsangehörige ohne Krankenversicherung versorgt. 71 Wie groß der Bedarf ist, lässt sich schon daraus erkennen, dass 2015 ca. 2.206 Patienten behandelt wurden. 72 Um eine umfassende und professionelle Behandlung zu ermöglichen, verhandeln die Malteser mit niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern über die Versorgung von speziellen oder akuten Fällen

68 Castañeda (2009), 1556–1557. 69 Malteser Migranten Medizin Berlin (2015), 4 und Sayed (2015), 170–171, 176. 70 Vgl. https://www.malteser.de/unsere-standorte.html [09.07.2018]; http://www.praxisohnegrenzen.de/unsere-standorte/ [23.05.2018]; http://www.aerztederwelt.org/projekte/inlandsprojekte.html [23.05.2018]. 71 Vgl. http://www.malteser-berlin.de/migration-auslandsdienst/maltesermigran ten-medizin.html [23.05.2018]. 72 Malteser Migranten Medizin Berlin (2015), 7.

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und die anfallenden Kosten. 73 Das Angebot haben die Malteser inzwischen auf 19 Standorte in Deutschland ausgeweitet. 74 Es gibt eine ähnliche Anzahl sogenannter Büros für medizinische Flüchtlingshilfe (Medibüros/Medinetze), die mit niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern kooperieren. Jedoch besteht die Hilfeleistung nur aus der Vermittlung von irregulären Migrant_innen an Ärzte, die bereit sind, kostenlos oder zu einem geringen Selbstzahlersatz zu behandeln. 75 Ein anderes Konzept wird von sog. Clearingstellen verfolgt, welche vor allem beratend tätig werden und versuchen, den Aufenthalt irrregulärer Migrant_innen zu legalisieren, eine Möglichkeit zur Integration in das Gesundheitssystem zu finden oder an Hilfsorganisationen zu vermitteln. 76 Clearingstellen gibt es in acht deutschen Städten. 77 Durch soziale und rechtliche Beratung, wie sie z.B. durch die Clearingstellen oder die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung in Berlin erfolgt, ist es teilweise möglich, den Betroffen zu helfen, indem alle Möglichkeiten im schwer durchschaubaren rechtlichen Gefüge ausgeschöpft werden. Ein weiteres Konzept, das bisher in fünf Städten existiert, sind Humanitäre Sprechstunden, bei denen die Gesundheitsämter die ambulante Versorgung durchführen. 78 Maren Mylius führte eine Vollerhebung der deutschen Gesundheitsämter durch, bei der allerdings 63% der antwortenden Ämter das Konzept der Humanitären Sprechstunde nicht bekannt war. 79 Etwa ein Viertel der Gesundheitsämter in Deutschland schätzten, Kontakt zu irregulären Migrant_innen zu haben. In Städten ab 100.000 Einwohner ist dies signifikant häufiger der Fall. 80 Die Hälfte dieser Gesundheitsämter gaben an, irreguläre Migrant_innen nach § 19 IfSG behandelt zu haben. 81 22% bemühten sich, irreguläre Migrant_innen für Beratung und Diagnostik zu

73 Ebd., 4. 74 Vgl. https://www.malteser.de/unsere-standorte.html [30.05.2018]. 75 Vgl. Medibüro Berlin, im Internet unter https://medibuero.de/wer-wir-sind/ [23.05.2018]; vgl. http://medibueros.m-bient.com/startseite.html [23.05.2018]. 76 Anderson et al. (2010), 5, 9. 77 Schülle et al. (2017), 9. 78 Ebd., 7. 79 Mylius/Frewer (2014), 444. 80 Ebd., 440, 443. 81 Ebd., 443.

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erreichen, über zwei Drittel davon hatten auch tatsächlich Kontakt zu irregulären Migrant_innen, während 91% der Gesundheitsämter ohne Kontakte sich auch nicht um solche bemühten. 82 Die meisten Gesundheitsämter ohne Kontakt sahen die Versorgungslage auch nicht als mangelhaft an. 83 Das legt den Schluss nahe, dass Informationskampagnen erfolgversprechend sind, wenn denn ein Interesse besteht, diese vulnerable Gruppe zu versorgen. Ein wiederum anderes Instrument sind sog. Anonyme Krankenscheine, die bisher in Göttingen und Hannover durch vertrauliche Vergabestellen ausgegeben und über spezielle Fonds der Bundesländer finanziert werden. Mit diesen können die Betroffenen einen Arzt ihrer Wahl aufsuchen. Der Anonyme Krankenschein ist damit die einzige Lösung, die eine komplette Integration in das reguläre Gesundheitssystem erlaubt. Allerdings können bisher nur Leistungen nach § 4 AsylbLG abgerechnet werden. 84 Obwohl die Versorgungsdichte durch Hilfsorganisationen in den letzten Jahren stark zugenommen hat, muss davon ausgegangen werden, dass diese nicht die Versorgung aller irregulären Migrant_innen gewährleisten kann. 85 Die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit und Illegalität spricht daher von kompensatorischem Engagement, das größtenteils in einer Parallelstruktur zum Gesundheitssystem stattfindet. 86 Gegen die Annahme, dass ein paralleles Gesundheitssystem besteht, sondern dafür, dass es vielmehr vom Zufall abhängt, ob ein Zugang zu Gesundheitsversorgung möglich ist, sprechen Ergebnisse zweier Studien. Eine ergab, dass irreguläre Migrant_innen größtenteils durch informelle Wege (Bekannte oder Verwandte) zu den Ärzten fanden, während die andere zu dem Ergebnis kam, dass die jeweiligen Initiativen unabhängig voneinander agierten, was vor allem auf ein mangelndes Interesse politischer Träger zurückgeführt wurde. 87

82 Ebd., 440, 444. 83 Mylius (2016), 248–249. 84 Schülle et al. (2017), 7. 85 Dafür spricht die große Zahl an behandelnden Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten und deren Erlösausfälle aus den Studien Wiesner et al. (2008), 19– 20 und Mylius (2016), 272–274, 280. 86 Schülle et al. (2017), 6. 87 Wiesner et al. (2008),17, 19–20 und Sayed (2015), 177–178.

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Die empirischen Studien zeigen insofern, dass der Zugang irregulärer Migrant_innen zu medizinischer Versorgung aufgrund von »Mitleid statt Menschenrecht« erfolgt. 88

5. M ENSCHENRECHTLICHE ANFORDERUNGEN 5.1 Inhalt und normative Grundlagen des Menschenrechts auf Gesundheit Das Menschenrecht auf Gesundheit ist in zahlreichen internationalen Menschenrechtsübereinkommen niedergelegt. Es findet bereits in Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) Erwähnung, wenn auch noch keine ausdrücklich eigenständige Normierung. 89 Die zentrale normative Verankerung des Rechts auf Gesundheit ist Art. 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte (IPwskR) von 1966. Daneben wird das Recht auf Gesundheit u.a. in Art. 11 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979, Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes von 1989 und Art. 25 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 geschützt. Die genannten Übereinkommen sind durch die entsprechenden Zustimmungsgesetze gem. Art. 59 Abs. 2 GG in die innerstaatliche Rechtsordnung einbezogen worden und sind daher Teil des geltenden Rechts. 90 Als völkerrechtliche Verträge nehmen sie dabei grundsätzlich den gleichen Rang wie formelle Bundesgesetze ein. Für die Rechte der EMRK ist allerdings anerkannt, dass sie als Auslegungshilfe für die entsprechenden Grundrechte dienen und insofern praktisch einen höheren Rang als einfaches Bundesrecht einnehmen können. Diese Argumentation ließe sich auch auf andere völkerrechtlich geltende Menschenrechte übertragen. 91 Das Menschenrecht auf Gesundheit umfasst das Recht eines jeden Menschen auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger

88 Huscke (2013), 206; zustimmend auch Mylius (2016), 147. 89 Krennerich (2016), 59–60. 90 Kaltenborn (2015), 164. 91 Krajewski (2017b), 8.

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Gesundheit. Damit ist ausdrücklich nicht das Recht, gesund zu sein, gemeint. 92 In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 zum Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit (General Comment No 14) hat der für die Umsetzung des IPwskR zuständige Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte den Inhalt des Rechts auf Gesundheit und die daraus folgenden Staatenpflichten konkretisiert. 93 Zentral sind dabei folgende vier Elemente: Erstens die allgemeine Verfügbarkeit (availability) funktionierender Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Dienste, zweitens die Zugänglichkeit (accessibility) zu medizinischen Einrichtungen und ärztlichen Diensten, drittens die ethische und kulturelle Annehmbarkeit (acceptability) von medizinischen Einrichtungen und ärztlicher sowie pflegerischer Betreuung und viertens die wissenschaftliche und medizinische Qualität (quality) der Einrichtungen und der Versorgung. Dabei ist für den vorliegenden Zusammenhang vor allem die wirtschaftliche Zugänglichkeit von zentraler Relevanz. Hierunter wird vor allem die Bezahlbarkeit vorhandener Leistungen verstanden. Der Ausschuss hat in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 dazu ausgeführt, dass medizinische Einrichtungen und ärztliche Betreuung für alle erschwinglich sein müssen. Die Kostenstruktur für Leistungen der Gesundheitsfürsorge muss sicherstellen, dass diese »für alle, einschließlich sozial benachteiligter Gruppen, erschwinglich sind.« 94 Wie alle sozialen Menschenrechte steht auch das Menschenrecht auf Gesundheit unter dem Vorbehalt, dass seine volle Verwirklichung gem. Art. 2 Abs. 1 IPwskR nur »nach und nach« erfolgen muss und dass dabei die dem Staat zur Verfügung stehenden Ressourcen zu beachten sind. Allerdings muss der Staat diese auch ausschöpfen. Insbesondere der englische Originalwortlaut (»to the maximum of its available resources«) macht deutlich, dass der Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel vollumfänglich einsetzen muss.

92 Krennerich (2016), 60 und Eichenhofer (2013), 172. 93 CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 14 (Right to Highest Attainable Standard of Health) v. 11.8.2000, UN-Doc. E/C.12/2000/4. Zitiert wird im Folgenden die deutsche Übersetzung in Frewer/Bielefeldt (2016), 241–275. 94 CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 14 (Right to Highest Attainable Standard of Health) v. 11.8.2000, UN-Doc. E/C.12/2000/4, Ziff. 12.

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5.2 Diskriminierungsfreier Zugang zu Gesundheitsleistungen Neben den Konkretisierungen des Rechts ist weiterhin bedeutsam, dass »jede Diskriminierung in der Gesundheitsfürsorge und den zugrunde liegenden Gesundheitsparametern« verboten ist. 95 Das Diskriminierungsverbot betrifft insbesondere den Zugang zu medizinischen Einrichtungen und ärztlicher Betreuung. Es steht auch anders als spezifische Gewährleistungspflichten nicht unter dem Vorbehalt der schrittweisen Realisierung. Vielmehr sind die Diskriminierungsverbote des Rechts sofort anwendbar. 96 Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, diese Leistungen für jeden Menschen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Vertragsstaates ohne Diskriminierung zugänglich zu machen. In diesem Zusammenhang betont der Ausschuss besonders, dass »insbesondere für die besonders schutzbedürftigen und an den Rand der Gesellschaft gedrängten Gruppen der Bevölkerung« medizinische Einrichtungen und ärztliche Betreuung, »de iure und de facto ohne Verletzung des Diskriminierungsverbots zugänglich sein« müssen. 97 Damit wird deutlich, dass auch eine Situation, in der Menschen aufgrund staatlicher Maßnahmen und Regelungen faktisch vom Zugang zu Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind, obwohl ihnen diese Leistungen von Rechts wegen grundsätzlich zustehen würden, eine Menschenrechtsverletzung darstellen kann. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 zum Recht auf Gesundheit hat der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgehalten, dass die Versagung oder Erschwerung des gleichberechtigten Zugangs zu vorbeugenden, heilenden und lindernden Gesundheitsdiensten für jeden Menschen, einschließlich »für Gefangene oder Inhaftierte, Minderheiten, Asylsuchende und illegale Immigranten« eine Verletzung der staatlichen Pflicht zur Achtung der Menschenrechte darstellt. 98 Damit wird deutlich, dass die aufenthaltsrechtliche Statuslosigkeit einer Person, die vollziehbar ausreisepflichtig ist, nichts daran ändert, dass auch sie den

95 Ebd., Ziff. 18. 96 Ebd., Ziff. 30. 97 Ebd., Ziff. 12 (b) (i). 98 Ebd., Ziff. 33.

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Schutz der Menschenrechte gegenüber dem Staat, in dem sie sich aufhält, geltend machen kann. Die Verpflichtung zur Beachtung der Menschenrechte von Migrant_innen unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status wurde auf der Erklärung der UN-Sondervollversammlung zu Flucht und Migration am 19. September 2016 noch einmal ausdrücklich bekräftigt. In der sog. Erklärung von New York heißt es u.a.: »We are committed to protecting the safety, dignity and human rights and fundamental freedoms of all migrants, regardless of their migratory status, at all times.« 99 Der Ausschuss hat in seinen Abschließenden Bemerkungen zu verschiedenen Staatenberichten immer wieder auf die besondere Situation von irregulären Migrant_innen hingewiesen. In den Abschließenden Bemerkungen zum Staatenbericht des Vereinigten Königreichs zeigte sich der Ausschuss unter der Überschrift »Zugang zu Gesundheit“« besorgt darüber, dass Flüchtlinge, Asylsuchende sowie Roma weiterhin beim Zugang zu Gesundheit diskriminiert werden. Der Ausschuss bemerkte insbesondere, dass das Einwanderungsgesetz von 2014 (Immigration Act 2014) den Gesundheitszugang von temporären und irregulären (»undocumented«) Migrant_innen weiter eingeschränkt habe. 100 Der Ausschuss empfahl Großbritannien, Maßnahmen zu ergreifen, die Flüchtlingen, Asylsuchenden, Roma sowie temporären und irregulären Migrant_innen Zugang zu allen notwendigen Gesundheitsleistungen gewähren, und erinnerte Großbritannien an seine Pflicht zur Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Zugangs zu Gesundheit. 101 Ähnlich zeigte sich der Ausschuss mit Blick auf Griechenland bereits 2015 besorgt, dass Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise den Zugang von Asylsuchenden und irregulären Migrant_innen zur Gesundheits-

99

United Nations General Assembly, New York Declaration for Refugees and Migrants, 19.9.2016, A/RES/71/1, Ziff. 41 (Hervorhebung der Autoren).

100 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, Concluding observations on the sixth periodic report of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, 14.7.2016, UN-Doc. E/C.12/GBR/CO/6, Ziff. 55. 101 Ebd., Ziff. 56.

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versorgung weiter verschlechtert hätten. 102 Der Ausschuss empfahl Griechenland, Maßnahmen zu ergreifen, sodass u.a. irreguläre Migrant_innen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung hätten, einschließlich der Bereithaltung von Übersetzerdiensten und Informationen über Gesundheitsleistungen. 103 5.3 Bewertung der rechtlichen und tatsächlichen Versorgungslage von irregulären Migrant_innen aus menschenrechtlicher Sicht Aus dem Vorstehenden ergibt sich unstreitig, dass die Verweigerung oder Erschwerung des Zugangs zu grundlegenden Gesundheitsleistungen für irreguläre Migrant_innen grundsätzlich eine Verletzung des Menschenrechts auf Gesundheit darstellt. 104 Mit Blick auf die medizinische Versorgung von irregulären Migrant_innen ist dabei zunächst die wirtschaftliche Zugänglichkeit von Relevanz. Zwar stehen in Deutschland generell hinreichende Gesundheitseinrichtungen und -leistungen zur Verfügung, die auch im Allgemeinen von ausreichender Qualität sind und im Wesentlichen als annehmbar angesehen werden können. Allerdings stehen diese Leistungen Personen, die vom Anwendungsbereich des AsylbLG erfasst werden, nur dann in vollem Umfang zur Verfügung, wenn sie diese Leistungen privat bezahlen, was regelmäßig unmöglich ist. Damit ist die wirtschaftliche Zugänglichkeit irregulärer Migrant_innen nur eingeschränkt gegeben und erfasst nur die im Rahmen des AsylbLG zur Verfügung stehenden Leistungen. Hiervon sind – wie gesagt – chronischen Krankheiten ohne akute Schmerzsymptome sowie Zahnbehandlungen ausgenommen. Insofern ist bereits auf dieser Ebene eine Verletzung des Menschenrechts auf Gesundheit anzunehmen, da irreguläre Migrant_innen keinen wirtschaftlichen Zu-

102 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, Concluding observations on the second periodic report of Greece, 27.10.2015, UN-Doc. E/C.12/GRC/ CO/2, Ziff. 25. 103 Ebd., Ziff. 26. 104 Krennerich (2016), 71.

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gang zu medizinischen und ärztlichen Leistungen haben, die auf diese Krankheiten und pathologischen Zustände bezogen sind. 105 Auf einer weiteren Ebene sind sodann zwei Diskriminierungstatbestände auszumachen. Zum einen werden Personen, die in den Anwendungsbereich des AsylbLG fallen, gegenüber anderen In- und Ausländern diskriminiert, da der nach dem AsylbLG vorgesehene Leistungsumfang regelmäßig unter dem Niveau der regulären Gesundheitsversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung liegt. Es handelt sich hierbei um eine de jure Diskriminierung, die an den aufenthaltsrechtlichen Status anknüpft. Da der aufenthaltsrechtliche Status nicht als ausdrücklich verbotener Diskriminierungstatbestand in Art. 2 Abs. 2 IPwskR erwähnt wird, müsste es sich um eine Diskriminierung aus »einem anderen Grund« i.S.d. Art. 2 Abs. 2 IPwskR handeln. In der Ausschusspraxis sind hierbei Behinderung, Alter, Staatsangehörigkeit, Ehe- und Familienstand, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität, Gesundheitsstatus, Wohnort sowie wirtschaftliche und soziale Situation anerkannt. 106 Das Merkmal der Staatsangehörigkeit versteht der Ausschuss dabei weit und fasst auch Diskriminierungen gegenüber Ausländern unabhängig von ihrem rechtlichen Status oder ihrer Dokumentierung darunter. 107 Dem entspricht auch die Sicht der Staatengemeinschaft, die in der Erklärung von New York niedergelegt ist. 108 Der gegenüber Asylbewerbern reduzierte Umfang der Gesundheitsleistungen ist durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gegenüber Deutschland bereits als Verletzung von Art. 2 Abs. 2 IPwskR gerügt worden. 109 Man wird diese Bewertung ohne Weiteres auf andere

105 Ähnlich ebd., 72; Eichenhofer (2013), 174 und Kaltenborn (2015), 164. Im Ergebnis wohl auch Kluth (2013), 186. 106 CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 20 (Non-discrimination in economic, social and cultural rights (art. 2, para. 2, of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights), v. 2.7.2009, UN-Doc. E/C.12/GC/20, Ziff. 28 ff. 107 Ebd., Ziff. 30. 108 United Nations General Assembly, New York Declaration for Refugees and Migrants, 19.9.2016, A/RES/71/1. 109 Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Abschließende Bemerkungen des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Deutschland, 12.7.2011, UN-Doc. E/C.12/DEU/CO/5, Ziff. 13 (Über-

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nach dem AsylbLG berechtigte Personengruppen wie irreguläre Migrant_innen übertragen können. Neben dieser de jure-Diskriminierung findet sich zum anderen eine de facto-Diskriminierung von irregulären Migrant_innen. Anders als andere Gruppen, die in den Anwendungsbereich von § 4 AsylbLG fallen, sehen sie sich an der Inanspruchnahme der rechtlich zur Verfügung stehenden Leistungen wegen der Mitteilungspflicht der Gesundheits- und Sozialbehörden gehindert. Diese Erschwernis betrifft nur irreguläre Migrant_innen, da nur diese mit negativen staatlichen Konsequenzen rechnen müssen, wenn sie ihre Leistungen in Anspruch nehmen. Da § 87 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur für irreguläre Migrant_innen gilt, liegt zwar eine de jure-Diskriminierung bezüglich der Mitteilungspflicht vor. Rechtlich werden irreguläre Migrant_innen indes nicht von den Leistungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss ist vielmehr die tatsächliche Folge der rechtlichen Diskriminierung bezüglich der Mitteilungspflicht. Da der irreguläre Aufenthalt – ebenso wie die regulären Aufenthaltskategorien – als besonderer Status 110 i.S.d. Art.2 Abs. 2 IPwskR angesehen werden kann, 111 liegt in dieser faktischen Diskriminierung ebenfalls eine Verletzung von Art. 12 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 IPwskR vor. Selbst wenn man in der Mitteilungspflicht und dem faktischen Ausschluss von irregulären Migrant_innen von Gesundheitsleistungen keine unmittelbare Verletzung des Art. 12 IPwskR sehen würde, wäre der Staat aufgrund seiner menschenrechtlichen Schutz- und Gewährleistungspflicht gehalten, die tatsächliche Nichtinanspruchnahme der angebotenen Leistungen durch die Gruppe der irregulären Migrant_innen zur Kenntnis zu nehmen, nach deren Ursachen zu forschen und nach alternativen Regelungen zu suchen. Geht man wie hier von Beschränkungen des Art. 12 IPwskR bzw. von Diskriminierungen i.S.d. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 IPwskR aus, stellt sich die Frage, ob und wie diese Einschränkungen gerechtfertigt werden

setzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), http://www.institutfuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konven tionen/ICESCR/icescr_state_report_germany_5_2008_cobs_2011_de.pdf. [09.08.2018]. 110 Zum Status allgemein Krajewski (2017a), 123. 111 Krennerich (2016), 70.

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können. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass sich Diskriminierungen grundsätzlich nicht mit Hinweis auf mangelnde Ressourcen rechtfertigen lassen. 112 Weiterhin sind nach Art. 4 IPwskR nur solche Einschränkungen gestattet, »die gesetzlich vorgesehen und mit der Natur dieser Rechte vereinbar sind und deren ausschließlicher Zweck es ist, das allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft zu fördern«. Insbesondere müssen Beschränkungen der Paktrechte verhältnismäßig sein, das bedeutet, dass das am wenigsten einschränkende Mittel angewendet werden muss, wenn mehrere Arten von Einschränkungen verfügbar sind. 113 Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte stellt dabei vor allem auf Einschränkungen ab, die ihrerseits Rechte anderer schützen. 114 Insofern erscheint es grundsätzlich problematisch, Einschränkungen oder Diskriminierungen mit migrationspolitischen Argumenten zu rechtfertigen. Daher kann auch nicht auf die – in der Praxis ohnehin oft nicht bestehende – kurze Verweildauer der betroffenen Personen abgestellt werden. Unzulässig ist zudem die faktische Diskriminierung irregulärer Migrant_innen. Die Mitteilungspflicht der Behörden, die diese stärker trifft als andere Migrant_innengruppen, dient der Durchsetzung des Aufenthaltsrechts, insbesondere dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Der Vollzug nationalen Rechts ist als legitimes Ziel anzusehen. Allerdings wäre hier wiederum zu fragen, ob die Maßnahme verhältnismäßig ist. Dabei ist zu beachten, dass die vorgesehene gesetzliche Regelung in der Praxis oft dazu führt, dass die betroffenen Personen überhaupt keine Leistungen mehr in Anspruch nehmen. Eine derartige Situation ist nicht mit der Natur des Menschenrechts auf Gesundheit i.S.d. Art. 4 IPwskR vereinbar und damit auch nicht zu rechtfertigen.

112 CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 14 (Right to Highest Attainable Standard of Health) v. 11.8.2000, UN-Doc. E/C.12/2000/4, Ziff. 30. 113 Ebd., Ziff. 28. 114 Ebd.

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5.4 Menschenrecht auf effektive Wahrnehmung von Menschenrechten (»Recht, Rechte wahrzunehmen«) Angesichts der willkürlichen Ausbürgerungen durch totalitäre Regime in den 1920er und 1930er und den millionenfachen Vertreibungen in den 1940er Jahren postulierte Hannah Arendt 1949 für vertriebene und staatenlose Menschen das Recht, »Rechte zu haben«, 115 und leitete daraus ab, dass es nur ein einziges Menschenrecht gäbe, nämlich »das Recht, einem politischen Gemeinwesen zuzugehören.« 116 Da Menschenrechte heute jedoch universell gelten und als Geltungsgrund gerade keine Staatsangehörigkeit voraussetzen, führt die Staatenlosigkeit nach heutigem Verständnis der Menschenrechte nicht zur Rechtlosigkeit von Staatenlosen. 117 Allerdings lässt sich Arendts Grundgedanke heute für die Situation irregulärer Migrant_innen fruchtbar machen. 118 Ebenso wie seinerzeit für die staatenlosen Flüchtlinge während und nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt das geltende Recht heute die besondere Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit irregulärer Migrant_innen nicht ausreichend zur Kenntnis. Zwar schließt das geltende Recht sie nicht de jure von der Realisierung der Menschenrechte, in concreto des Menschenrechts auf Gesundheit aus. Tatsächlich können die betroffenen Personen diese Rechte jedoch nicht oder nur zu einem sehr hohen Preis realisieren. Daher verfügen sie zwar über Rechte, sind jedoch nicht in der Lage, diese auch geltend zu machen. Insofern könnte der Arendt’sche Gedanke vom »Recht, Rechte zu haben« zu einem »Recht, Rechte de facto wahrzunehmen« ausgebaut werden. In dieser Lesart wäre ein Menschenrecht auf effektive Wahrnehmung oder Geltendmachung von Menschenrechten – wenn auch nicht das einzige – so doch das zentrale Menschenrecht, besonders mit Blick auf die komplexe Vulnerabilität des Menschen. Ohne die Möglichkeit, Rechte auch tatsächlich realisieren zu können, bleibt die Ausgestaltung der sozialen Menschenrechte durch den Gesetzgeber unvollständig und letztlich irrelevant.

115 Arendt (1949), 745, 759. 116 Ebd., 769. 117 Benhabib (2008), 62–74. 118 Ebd., 206–213.

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6. Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass der faktische Ausschluss von irregulären Migrant_innen von Gesundheitsleistungen menschenrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann und eine ethisch überaus bedenkliche Missachtung ihrer vielschichtigen Vulnerabilität bedeutet. Die Bundesrepublik Deutschland verletzt insoweit Art. 12 und Art. 2 Abs. 2 IPwskR. Auch wenn irreguläre Migrant_innen rechtlich gesehen bestimmte Ansprüche nach dem AsylbLG haben, ist auf die tatsächliche Inanspruchnahme abzustellen. Menschenrechte sind in diesem Sinne kein »Supertrumpf«, der den irregulären Migrant_innen auf Umwegen ein Aufenthaltsrecht verschafft. 119 Sie enthalten jedoch subjektive Rechte, die staatliche Pflichten begründen. Die staatliche Pflicht, den Zugang zu Gesundheitsleistungen diskriminierungsfrei zu gewähren und bei einer systematischen Nichtinanspruchnahme von Leistungen durch bestimmte Personenkreise nach deren Ursachen zu forschen und diese zu beseitigen, treten dabei klarer und eindeutiger zu Tage, wenn man die Normen des IPwskR konsequent anwendet, als wenn man die hier angesprochenen Zugangsbeschränkungen allein aus der Perspektive des Grundrechtsschutzes und damit allenfalls vor dem Hintergrund eines Menschenrechts auf ein soziales Existenzminimum untersuchen würde. Auf diese Weise zeigt sich ebenso, dass differenzierte Vulnerabilitätskonzepte zum Aufdecken und Benennen von sozialen Missständen nutzbar gemacht werden können. Diese Verletzungen können in vielfältiger Weise beendet werden. In keinem Fall dürfte es jedoch ausreichend sein, auf private Initiativen zu vertrauen. Vielmehr muss der Staat selbst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass irreguläre Migrant_innen auch tatsächlich Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten. De lege ferenda würde sich zunächst die Abschaffung der Mitteilungspflicht für weitere Behörden, insbesondere die Sozialämter, anbieten. Die Ausschlusswirkung der Mitteilungspflicht des § 87 AufenthG hat der Gesetzgeber mit Blick auf den Schulbesuch von Kindern irregulärer Migrant_innen bereits 2011 erkannt und die Mitteilungspflicht für Bildungs- und Erziehungseinrichtungen daher abgeschafft. 120 Diese Ab-

119 So die zugespitzte Frage von Schorkopf (2017), 225–226. 120 Zur Rechtslage zuvor Hanschmann (2010), 80.

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schaffung sollte auf Gesundheits- und Sozialämter ausgedehnt werden. 121 Damit würde allerdings lediglich die Diskriminierung zwischen irregulären Migrant_innen auf der einen und den übrigen nach dem AsylbLG berechtigten Personen auf der anderen Seite behoben werden. Eine völkerrechtskonforme Ausgestaltung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen würde jedoch weitergehende Veränderungen des geltenden Rechts erfordern. Letztlich würde nur die Abschaffung der Sonderversorgungsituation nach dem AsylbLG und die Eingliederung aller derzeit in dessen Anwendungsbereich fallenden Personen in das System der Gesundheitsleistungen entsprechend SGB XII zu einem menschenrechtskonformen Zustand führen.

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121 Kanalan (2012), 112; Krajewski (2017a), 123. Dazu auch Kluth (2013), 187. Zu früheren Vorschlägen siehe Cyrus (2010), 317, 319.

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Weibliche Geflüchtete und das Recht auf Gesundheit Zwischen Vulnerabilität, Autonomie und Empowerment S ABINE K LOTZ

1. E INLEITUNG Die Flucht gilt per se als »vulnerable« 1 Situation, in der Geflüchteten 2 eine besondere »Schutzbedürftigkeit« zugesprochen wird: Geflüchtete laufen Gefahr, weitere traumatisierende Erlebnisse, eine unzureichende Versorgung und einen begrenzten Zugang zu (Menschen-)Rechten während der Flucht und in den Aufnahmeländern zu erfahren. Als besonders vulnerabel gelten dabei Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung – nach EU-Recht auch Personen mit psychischen Störungen sowie Menschen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. 3

1

Damit möchte ich nicht zum Ausdruck bringen, dass die Menschen »an sich« vulnerabel sind. Ich vertrete eher die Ansicht, dass die Geflüchteten sich in einer »vulnerablen Situation« befinden.

2

Der Begriff bezeichnet in diesem Fall alle Menschen auf der Flucht. Dabei wird nicht in Bezug auf den Rechtsstatus unterschieden, da eine Differenzierung für diesen Artikel nicht relevant ist.

3

RL 2013/33/EU, Artikel 21.

226 | S. KLOTZ

Mit einem zunehmenden Anteil an weiblichen Geflüchteten 4 sind damit verbundene Themen auf die wissenschaftliche 5 und politische Agenda gelangt. Dass dabei das Augenmerk auch auf die gesundheitlichen Bedürfnisse der Frauen gerichtet werden sollte, wird in der Allgemeinen Empfehlung des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau deutlich: »Special attention should be given to the health needs and rights of women belonging to vulnerable and disadvantaged groups, such as […] refugee[s]«. 6 Aufgrund eines hohen Anteils an Schwangeren unter den Geflüchteten wird die Frage nach der Versorgung im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und den damit verbundenen Rechten relevant. 7 Gerade die sexuelle und reproduktive Gesundheit weiblicher Geflüchteter gilt als gefährdet, bzw. sind die Frauen von einem begrenzten Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und den damit verbundenen Rechten betroffen. 8 Im Zusammenhang mit weiblichen Geflüchteten werden diese Rechte sogar »oftmals als unbedeutend abgetan […] oder ignoriert«. 9 Doch gerade ein unzureichender Zugang zu geburtshilflicher Notfallversorgung auf der Flucht kann zu einer erhöhten Mütterund Säuglingssterblichkeit unter den weiblichen Geflüchteten führen. 10 Die Relevanz der reproduktiven und sexuellen Gesundheit weiblicher Geflüchteter findet auch Anerkennung im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter des Europäischen Parlaments. Dort werden die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, einen »uneingeschränkten Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und den damit verbunde-

4

Im Jahr 2016 betrug der Anteil an weiblichen Geflüchteten in der Europäischen Union 32% (absolut: 406.565). Siehe dazu Eurostat (2018).

5

Zum Beispiel untersuchen Beykol/Bendel (2016) in ihrer Fallstudie die Auf-

6

A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 6.

7

UNHCR et al. (2015).

8

Diese Erwägung wird unter anderem dem Bericht des Ausschusses für die Rech-

nahme von weiblichen Geflüchteten in Belgien und Deutschland.

te der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter im Europäischen Parlament zugrunde gelegt. Siehe dazu Europäisches Parlament (2013), J. 9

Ebd., P.

10 UNHCR (2008), 272.

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nen Rechten […] sicherzustellen und unverzügliche Ressourcen für die Gesundheitsfürsorge bereitzustellen«. 11 Bei diesen politischen Forderungen stellt sich die Frage, wie es um das Recht auf Gesundheit und die damit verbundene gesundheitsrelevante Versorgung von weiblichen Geflüchteten im Zuge eines steigenden Anteils an Frauen bestellt ist. Generell wird in der Flüchtlingspolitik eine männlich dominierte Perspektive beklagt, einhergehend mit einem Vulnerabilitätsverständnis, in dem die Frau als passiv und hilflos skizziert wird. 12 Dabei können aus dieser vulnerablen Situation durchaus Formen des Empowerments und der Autonomie erwachsen – zumindest sollte dies weiblichen Geflüchteten generell nicht abgesprochen werden. Demnach widmet sich dieser Artikel der speziellen Frage nach dem Recht auf Gesundheit unter Berücksichtigung einer Geschlechterperspektive sowie der Konzepte der Vulnerabilität und des Empowerments. Unter dieser Prämisse wird der Blick auf Deutschland 13 geworfen, und einzelne Projekte werden dort näher beleuchtet.

2. G ESUNDHEIT

UND

F RAUEN

2.1 Exkurs: Das Recht auf Gesundheit 14 Völkerrechtlich verankert ist das »Recht eines jeden Menschen auf ein für ihn erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit« 15 im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (ICESCR, kurz WSK-Pakt). Es wird allerdings nicht als ein Recht

11 Europäisches Parlament (2016), para. 29. 12 Siehe Gliederungspunkt 4.2. 13 Deutschland eignet sich aufgrund eines hohen Aufkommens an Geflüchteten. Bei dieser Einzelfallbetrachtung können allerdings keine generalisierenden Aussagen getroffen werden, da einige Überlegungen lediglich exemplarisch dargelegt werden. 14 Für eine ausführliche Darstellung sowie eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Recht auf Gesundheit siehe: Bielefeldt (2016) sowie Krennerich (2013), (2015), (2016a) und (2017). 15 ICESCR, Artikel 12.

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verstanden, gesund zu sein. Kein Vertragsstaat 16 könnte solch ein Recht garantieren – allein schon aufgrund der unterschiedlichen genetischen Disposition eines Menschen. 17 Stattdessen fordert dieses Recht ein, »soziale Bedingungen zu schaffen und zu erhalten«, 18 damit Menschen ein »erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit« erlangen können. 19 Das Recht auf Gesundheit erstreckt sich keinesfalls nur auf eine zeitgerechte und angemessene Gesundheitsfürsorge, sondern auch auf die sogenannten zugrunde liegenden Parameter – wie zum Beispiel den Zugang zu gesundheitsbezogenen Informationen einschließlich der reproduktiven und sexuellen Gesundheit. 20 Dieses Recht umfasst auch Freiheiten, etwa frei über die eigene Gesundheit und seinen eigenen Körper bestimmen zu können. 21 In der Europäischen Union ist das Recht auf Gesundheit in der revidierten Europäischen Sozialcharta (ESC) verankert. Analog zum UN-Verständnis wird auch hier darunter kein Recht verstanden, gesund zu sein. Stattdessen hat jeder Mensch das Recht, »alle Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, die es ihm ermöglichen, sich des besten Gesundheitszustandes zu erfreuen, den er erreichen kann«. 22 Im Zusammenhang mit Geflüchteten wird die gesundheitliche Versorgung über die Aufnahmerichtlinie 23 im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems geregelt. Im Gegensatz zum Recht auf Gesundheit müssen die EU-Mitgliedsstaaten hier lediglich eine »erforderliche medizinische Versorgung« gewährleisten, »die zumindest eine Notversorgung sowie eine unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und psychischen Stö-

16 Aus Gründen der Vereinfachung wird im Folgenden für »Vertragsstaaten« nur noch der Begriff »Staaten« verwendet. 17 Kälin/Künzli (2013), 358 und Krennerich (2016a), 65. 18 Krennerich (2016a), 67. 19 Ebd. 20 E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 11. 21 Ebd., Ziff. 8. 22 Revidierte ESC, Teil I, Satz 11. 23 Die Aufnahmerichtlinie legt gemeinsame Standards für die Aufnahme, Versorgung und Unterbringung – zum Beispiel die Unterbringung und den Zugang zum Arbeitsmarkt – von Personen fest, die internationalen Schutz beantragen. Diese Richtlinie ist Bestandteil des gemeinsamen europäischen Asylsystems.

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rungen« 24 beinhaltet. 25 Im Zuge der Neuauflage der Aufnahmerichtlinie (2013) wurden die Bedürfnisse von schutzbedürftigen Personen unter den Geflüchteten, wie zum Beispiel Schwangeren, stärker berücksichtigt. 26 2.2 Geschlechterperspektive Erst seit den 1980er Jahren gibt es eine starke Geschlechterperspektive im Menschenrechtsdiskurs und somit einen Wendepunkt in Politik und Wissenschaft: Ausgelöst durch Frauenrechts-Aktivistinnen wird seitdem der intrinsische Zusammenhang zwischen Gesundheit von Frau und Menschenrechten stärker anerkannt. 27 Selbstverständlich wurde bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte betont, dass jeder den Anspruch auf die verkündeten Rechte und Freiheiten unabhängig vom jeweiligen Geschlecht besitze; 28 völkerrechtlich verankert wurden die (Frauen-)Rechte jedoch erst mit der im Jahr 1979 verabschiedeten UN-Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW; kurz Frauenrechtskonvention). 29 In der nachfolgenden Tabelle wird deutlich, welche Spannbreite an Rechten die Frauenrechtskonvention im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit umfasst. Dabei wird der Begriff »Gesundheit« analog zum Konzept des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 30 verstanden. Auf diese Weise wird die Perspektive der Frau durch ihre gesundheitsrelevanten Interessen und Bedürfnisse ergänzt.

24 Richtlinie 2013/33/EU, Artikel 19. 25 Scholz (2016), 183. 26 Richtlinie 2013/33/EU, Kapitel 4. 27 Wang/Pillai (2001), 238. 28 AEMR, Artikel 2. 29 Die Frauenrechtskonvention wurde von 189 Staaten ratifiziert und nur von 6 Staaten (beispielsweise Iran, Sudan, Somalia) nicht unterzeichnet (Stand: 3. Januar 2018). Siehe dazu OCHRC Dashboard, unter: http://indicators.ohchr. org/ [03.01.2018]. 30 Der UN-Ausschuss übernimmt im Allgemeinen die Aufgabe, die Verwirklichung der im Sozialpakt niedergelegten Menschenrechte zu begleiten und deren Umsetzung zu kontrollieren. Im Allgemeinen Kommentar Nr. 14 (E/C.12/2000/ 4, vom 11. August 2000) wird das Recht auf Gesundheit durch den Ausschuss konkretisiert.

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Tabelle 1: Artikel in der Frauenrechtskonvention im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit Artikel Artikel 10(h)

Artikel 11, Absatz 1(f) Artikel 12, Absatz 1 Artikel 12, Absatz 2

Artikel 14, Absatz 2(b)

Artikel 14, Absatz 2(h) Artikel 16, Absatz 1(e)

Recht bzw. Rechte Zugang zu Bildungsinformationen, die zur Gesundheitserhaltung und zum Wohlergehen der Familie beitragen, einschließlich der Aufklärung und Beratung zur Familienplanung Recht auf Schutz der Gesundheit und auf Sicherheit am Arbeitsplatz, einschließlich des Schutzes der Fortpflanzungsfähigkeit Zugang zu den Gesundheitsdiensten, einschließlich derjenigen im Zusammenhang mit der Familienplanung Zugang zu einer angemessenen und erforderlichenfalls unentgeltlichen Betreuung der Frau während der Schwangerschaft sowie während und nach der Entbindung und für die ausreichende Ernährung während der Schwangerschaft und der Stillzeit Zugang zu angemessenen Gesundheitsdiensten, einschließlich Aufklärungs- und Beratungsdiensten und sonstigen Einrichtungen auf dem Gebiet der Familienplanung in ländlichen Gebieten Zugang zu angemessenen Lebensbedingungen (insbesondere zum Beispiel im Hinblick auf Wohnung und sanitäre Einrichtungen) in ländlichen Gebieten Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Familienplanung

Quelle: A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 28 (eigene Darstellung).

In der Tabelle wird zudem deutlich, dass die sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie die damit verbundenen Rechte 31 ein wichtiges Feld darstellen, wenn es um das Recht auf Gesundheit bei Frauen geht: der Zugang zu

31 Aus Gründen der Vereinfachung wird im folgenden Text für sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte die Kurzform »sexuelle und reproduktive Gesundheit« verwendet.

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Diensten der Familienplanung (Art. 10, 12 und 14 Abs. 2b 32), der Schutz der Fortpflanzungsfähigkeit (Art. 11) sowie das Recht auf eine freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Familienplanung (Art. 16). 33 Unter sexueller Gesundheit wird Folgendes verstanden: »State of physical, emotional, mental und social well-being in relation to sexuality«. 34 Dies sieht nicht nur Freiheit von Erkrankungen, sondern auch ein positives Konzept für Sexualität vor. Dieser Ansatz bedeutet konkret, selbstbestimmt und frei von Diskriminierung, Zwang und Gewalt über alle Anliegen entscheiden zu können, die Sexualität wie auch reproduktive und sexuelle Gesundheit betreffen. 35 Reproduktive Gesundheit wird in einer ähnlichen Weise definiert, 36 nur dass damit einhergeht, frei darüber entscheiden zu können, wann und mit wem man wie viele Kinder bekommen möchte. 37 Dieses Begriffsverständnis hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt, denn bis weit in die 1990er Jahre konzentrierten sich die Themen und Debatten ausschließlich auf die Geburten- und Bevölkerungskontrolle; weitere Themen wie die Sexualität von Frau und Mann wurden dabei außen vor gelassen. 38 Dies änderte sich schlagartig mit der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo (1994). Dort fand eine Abkehr vom bisheri-

32 In diesem Artikel ist die Zugänglichkeit zu entsprechenden medizinischen Diensten in ländlichen Gebieten verankert. Amnesty International berichtet jedoch von einer begrenzten Verfügbarkeit von sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen in ländlichen Gebieten, z.B. in Burkina Faso. Siehe dazu Amnesty International (2012), 21. 33 Siehe Tabelle 1. 34 WHO (2015), 5. Der relevante General Comment Nr. 22 (E/C.12/GC/22, vom 2. Mai 2016) verwendet die Begriffsdefinition der WHO. 35 WHO (2015), 13. 36 Im Aktionsplan der UN-Weltbevölkerungskonferenz wird reproduktive Gesundheit wie folgt definiert: »State of complete physical, mental and social wellbeing […] in all matters relating to the reproductive system and to its function and processes«. Siehe dazu UNFPA (2004), 45. 37 Amnesty International (2012), 1 und UNFPA et al. (2014), 18. 38 McIntosh/Finkle (1995), 223–225 und UNFPA et al. (2014), 18.

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gen engen Fokus hin zu dem erwähnten umfassenden Verständnis von sexueller und reproduktiver Gesundheit statt. 39 Ähnlich wie beim Recht auf Gesundheit 40 wird die sexuelle und reproduktive Gesundheit anhand der folgenden vier Kategorien konkretisiert: Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit (accessibility), Annehmbarkeit (acceptability) und Qualität (quality). Gesundheitseinrichtungen mit ausgebildetem Personal und Programmen sowie der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln 41 und Informationen müssen verfügbar sein – die sexuelle und reproduktive Gesundheit einschließend. 42 Unter der Kategorie Zugänglichkeit wird verstanden, dass allen Menschen medizinische Einrichtungen, ärztliche Betreuung und gesundheitsrelevante Informationen im Zusammenhang mit sexueller und reproduktiver Gesundheit ohne Diskriminierung physisch und wirtschaftlich zugänglich sind. 43 So werden in der Frauenrechtskonvention die Staaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen im Gesundheitswesen zu leisten, um eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in gesundheitsrelevanten Bereichen zu gewährleisten. Um zu verstehen, was dies konkret bedeutet, lohnt es sich, sich vor Augen zu führen, was unter einer Gender-Diskriminierung überhaupt verstanden wird: Diese ist »jede mit dem Geschlecht 44 begründete Unterscheidung,

39 Amnesty International (2012), 2; Shalev (2000), 40; Wang/Pillai (2001), 231 und UNFPA (2004), iii. 40 Krennerich (2016a) führt die Kategorien am Recht auf Gesundheit näher aus. In dem Fall reicht es aus, die Kategorien nur an der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu verdeutlichen. Für eine ausführliche Darlegung der Kategorien siehe Danish Institute for Human Rights (2017). 41 Diese Liste der WHO enthält unentbehrliche Arzneimittel, die die wichtigsten gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung abdecken. Dort sind unter anderem Verhütungsmittel (einschließlich Kondome) aufgelistet. Für die aktuelle (14.) Liste siehe WHO (2017). 42 E/C.12/GC/22, vom 2. Mai 2016, Ziff. 12–14 und UNFPA et al. (2014), 83–84. 43 E/C.12/GC/22, vom 2. Mai 2016, Ziff. 15. 44 Neben dem Geschlecht kennt das Diskriminierungsverbot noch weitere verbotene Gründe (prohibited grounds), wie zum Beispiel Rasse, Religion und politische Einstellung sowie nationale oder soziale Herkunft. Für eine vollständige

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Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte […] beeinträchtigt oder vereitelt wird«. 45 Nicht jede unterschiedliche Behandlung ist dabei gleich eine Diskriminierung. Jegliche Form der Unterscheidung muss als »reasonable« und »objective« begründet werden sowie mit den Konventionen vereinbar und nicht auf etwaige Ressourcenzwänge zurückzuführen sein. 46 Welche Fälle könnten nun unter dem Diskriminierungsverbot problematisch sein? Zum Beispiel darf der Zugang zu Empfängnisverhütungsmitteln für unverheiratete Frauen (ausschließlich) aufgrund ihres Familienstandes nicht verweigert werden; 47 ferner darf der Zugang zu sexuellen und reproduktiven (Gesundheits-)Diensten nicht aufgrund der sexuellen Orientierung und aufgrund des Geschlechtes – wie dies in einigen Ländern gegenüber LGBT*I* 48 praktiziert wird – eingeschränkt sein. 49 Unter Zugänglichkeit wird darüber hinaus der Zugang zu Informationen und (sexueller) Aufklärung betont, die essenziell sind, um die Gesundheit schützen sowie eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung über alle Belange der sexuellen und reproduktiven Gesundheit treffen zu können. 50 Gerade sprachliche Barrieren können eine negative Auswirkung auf die Ausübung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte haben. 51 Unter Annehmbarkeit wird verstanden, dass alle medizinischen Einrichtungen und Dienste hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit den Grundsätzen der medizinischen Ethik folgen und kulturell angemessen sein sollten. 52 Dabei sollten die kulturelle Prägung der Menschen und genderspezifische Aspekte sowie die sexuelle Diversität Einzelner res-

Liste der Gründe siehe beispielsweise unter E/C.12/GC/20, vom 2. Juli 2009, Ziff. 15. 45 CEDAW, Artikel 1. 46 E/C.12/GC/20, vom 8. November 2010, Ziff. 13 und Wiewei (2004), 8. 47 UNFPA et al. (2014), 78. 48 LGBT*I* ist die Abkürzung für die englischen Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexuell/Transgender und Intersexual. 49 UNFPA et al. (2014), 23 und 113. 50 WHO (2015), 2. 51 IOM (2013), 43–44. 52 E/C.12/GC/22, vom 2. Mai 2016, Ziff. 20 und UNFPA et al. (2014), 84.

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pektiert und berücksichtigt werden. 53 Um die Kategorien abzuschließen: Alle medizinischen Einrichtungen und ärztlichen Behandlungen hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit müssen unter wissenschaftlichen und medizinischen Aspekten von guter Qualität sein. 54 Damit das Recht auf Gesundheit gewährt werden kann, konkretisiert der Frauenrechtsausschuss 55 eindeutige Verpflichtungen für die Staaten gemäß der Triade: Achtungspflicht (obligation to respect), Schutzpflicht (obligation to protect) und Gewährleistungspflicht (obligation to fulfil). Die Achtungspflicht sieht vor, dass Frauen der Zugang zu Kliniken oder Gesundheitsdiensten nicht verwehrt werden darf aufgrund unzureichender Zustimmung durch Dritte (zum Beispiel durch den Partner), 56 weil Frauen unverheiratet sind oder aufgrund des Geschlechtes. 57 Denn das Recht auf Gesundheit sieht – wie bereits oben erwähnt – explizit vor, frei über seinen eigenen Körper zu bestimmen, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. 58 Eine mögliche andere Barriere, die dem Recht auf Gesundheit entgegenstehen könnte, ist die Kriminalisierung von medizinischen Verfahren, die (ausschließlich) Frauen betreffen. 59 So fordert der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit die Staaten auf, den Schwangerschaftsabbruch 60 zu entkriminalisieren. 61 Konkret sollten die Staaten es

53 Ebd. und Krennerich (2016a), 68. 54 E/C.12/GC/22, vom 2. Mai 2016, Ziff. 21 und UNFPA et al. (2014), 85. 55 In der General Recommendation No. 24 (A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999) wird die Gesundheit von Frauen anhand des Artikels 12 näher konkretisiert. 56 Zum Beispiel berichtet Amnesty International von Fällen, in denen die Benutzung von Verhütungsmitteln durch den Ehepartner der Frau reglementiert wird. Siehe dazu Amnesty International (2012), 26. 57 A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 14. 58 E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 8. 59 A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 14. 60 El Salvador ist eines der Schwerpunktländer der globalen Kampagne »My Body. My Rights« von Amnesty International. Dort wurde die Regierung aufgefordert, das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung zu respektieren. In El Salvador herrscht ein absolutes Abtreibungsverbot, ferner droht Frauen bei einer Fehlgeburt sogar eine Haftstrafe. Siehe dazu Amnesty International (2014). 61 OHCHR (o.J.).

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unterlassen, den Zugang zu Verhütungs- und sonstigen Mitteln, die der sexuellen und reproduktiven Gesundheit dienen, sowie zu gesundheitsbezogenen Informationen zu beschränken bzw. zu behindern. 62 Die Schutzpflicht verpflichtet hingegen die Staaten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um eine Verletzung von Rechten bzw. jegliche Form der Diskriminierung durch Dritte zu verhindern. 63 Es handelt sich hierbei um tatsächliche und drohende Eingriffe durch nicht-staatliche, private Akteure – aber auch durch fremde Staaten. Die Schutzpflichten werden auch als staatliche Handlungsgebote eingestuft, d.h. Verletzungen können sich ebenso durch unterlassenes Handeln der Staaten ergeben. 64 In diesem Zusammenhang werden die sexuelle 65 und geschlechtsspezifische Gewalt 66 als wichtige Themen eingestuft. 67 Diese Formen der Gewalt verkörpern nicht nur eine Verletzung des Rechts auf Gesundheit, sie verletzen ebenso weitere Menschenrechte, wie zum Beispiel das Recht, frei von Folter und un-

62 E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 34. 63 Cook/Undurraga (2012), 331. 64 Krennerich (2013), 105–106. 65 Für den Artikel wird bewusst der Begriff »sexuelle Gewalt« anstatt »sexualisierte Gewalt« verwendet, um zu betonen, dass es sich um einen Gewaltakt handelt, bei dem unter Machtausübung die sexuelle Integrität einer Person verletzt wird. Dem Begriff »sexualisierte Gewalt« liegt zwar ein stärkerer Fokus auf die Perspektive der davon Betroffenen zugrunde, jedoch wird mit dem Begriff »sexuelle Gewalt« der Tatbestand gleichsam konkreter erfasst. Für eine exakte Begriffsdefinition siehe dazu u.a. die Istanbul-Konvention Art. 36. 66 In der UN-Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen wird (geschlechtsspezifische) Gewalt gegenüber Frauen folgendermaßen definiert: »Any act of gender-based violence that results in, or is likely to result in, physical, sexual or psychological harm or suffering to women, including threats of such acts, coercion or arbitrary deprivation of liberty, whether occurring in public or in private life«. Siehe dazu A/RES/48/104, vom 20. Dezember 1993, Artikel 1. Mit dieser Definition wird auch der private Bereich, in dem sich häusliche Gewalt ereignen kann, aufgegriffen. So gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und einer unzureichenden Ausübung der mit der sexuellen und reproduktiven Gesundheit verbundenen Rechte. Siehe dazu u.a. UNFPA et al. (2014), 23. 67 A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 15.

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menschlicher Behandlung zu sein. 68 Demnach sollen Staaten Gesetze verabschieden und politische Maßnahmen formulieren, die die Frauen vor Gewalt und sexuellem Missbrauch durch Dritte schützen. 69 Dass in diesem Sinn alle geeigneten rechtlichen, administrativen, ökonomischen und sonstigen Maßnahmen getroffen werden, wird unter der Gewährleistungspflicht verstanden. 70 In ihrem Rahmen sind die Staaten verpflichtet, eine möglichst umfassende Ausübung des Rechts auf Gesundheit durch aktives staatliches Handeln zu gewähren. 71 So sollen die Staaten für Frauen den Zugang zu Informationen, Bildung und Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit ohne Diskriminierung ermöglichen, damit sie umfassend an allen gesundheitsrelevanten Entscheidungen partizipieren können. 72 Bereits der Ausschuss für WSK-Rechte betont, alle Menschen darin zu unterstützen, ihre gesundheitsrelevanten Entscheidungen wohlüberlegt treffen zu können. 73 Neben diesen staatlichen Verpflichtungen ist es notwendig, eine Geschlechterperspektive 74 in allen gesundheitsrelevanten Programmen und Richtlinien zu etablieren, die auch die unterschiedlichen Gesundheitsbedürfnisse von Frauen im Gegensatz zu Männern nicht außer Acht lässt sowie zur Beseitigung von (Geschlechter-)Stereotypen 75 beiträgt. 76 Die unter-

68 WHO (2015), 35–36. 69 Für weitere Empfehlungen zum staatlichen Handeln siehe A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 15(a)–(d). 70 A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 17. 71 Krennerich (2013), 106. 72 A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 18. 73 E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 37(iv). 74 Dabei sollten selbstverständlich auch die Perspektiven von LGBT*I* und auch Männern nicht außen vorgelassen werden. 75 Artikel 5 der Frauenrechtskonvention verpflichtet die Staaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, »um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen.

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schiedlichen Bedürfnisse ergeben sich allein schon aus biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau, 77 wie zum Beispiel Menstruationszyklus, Menopause und Fortpflanzungsfähigkeit. Auch können psychologische Faktoren zwischen den Geschlechtern variieren, wie zum Beispiel durch eine höhere Prävalenz für Frauen bei Essstörungen und Depressionen. 78 Ein zu starker Fokus rein auf die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern verkennt jedoch sozial konstruierte Unterschiede. 79 Um dies näher zu verstehen, scheint eine Differenzierung zwischen den beiden unterschiedlichen Begriffen »Geschlecht« (biologische Faktoren) und »Gender« (sozial konstruierte Faktoren) notwendig. 80 Aufgrund sozial konstruierter Geschlechterrollen bzw. Stereotypen könnten Frauen – auch beim Recht auf Gesundheit – einer Benachteiligung unterliegen. Ebenso können patriarchalische Gesellschaftsstrukturen und geringe Partizipationsmöglichkeiten bei gesundheitsrelevanten Entscheidungen sowie kulturelle Praktiken und Gender-Stereotypen einer Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in den gesundheitsrelevanten Bereichen entgegenstehen. 81 Ein gendersensibler bzw. geschlechtsspezifischer Ansatz im Gesundheitswesen 82 muss demnach neben den biologischen Unterschieden auch den sozial konstruierten Faktoren begegnen, die einen Einfluss auf das Recht auf Gesundheit sowie auf die Geschlechterdiskriminierung haben. 83 Allerdings ist selbst der Menschenrechtsdiskurs nicht davor gefeit (Geschlechter-)Stereo-

76 E/C.12/GC/22, 2 May 2016, Ziff. 25. Dies wird ebenso vom UN-Ausschuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte empfohlen. Siehe dazu E/C.12/ 2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 20. 77 Mit dieser starren Unterscheidung zwischen Frau und Mann wird die Perspektive von Transsexualität und Intersexualität außen vorgelassen. Damit soll keine Wertung einhergehen; diese Perspektiven werden lediglich aufgrund des anderen inhaltlichen Fokus‘ dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt. 78 Albert (2015) und WHO (o.J.). 79 Cook (2013), 342. 80 Cook (1995), 352–354 und (2013), 342. 81 Cook (1994), 5–6 und (2013), 344 sowie Wang/Pillai (2001), 231–232. 82 Für ein Praxis-Tool siehe beispielsweise Sida et al. (2011). 83 Cook (1995), 358.

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typen zu (re)produzieren, sodass es immer gilt, den Diskurs kritisch zu hinterfragen. 84

3. V ULNERABILITÄT , AUTONOMIE UND E MPOWERMENT FÜR G EFLÜCHTETE Die erste und einfachste Erklärung zur Bedeutung des Begriffs »Vulnerabilität« wäre die Übersetzung ins Deutsche mit »Verwund-« und »Verletzbarkeit«. 85 In einem weiteren, älteren Verständnis wird Vulnerabilität als Gegensatz zur Autonomie gesehen, mit dem eine eingeschränkte Handlungsmacht assoziiert wird; d.h. es wird darunter verstanden, dass man seine Entscheidungen nicht frei treffen bzw. diese nicht adäquat formulieren könne. 86 Im Gegenzug dazu gingen mit der Autonomie die Selbstbestimmung und eine substantielle Unabhängigkeit einher. 87 Mit dem Begriff der Vulnerabilität wird zudem ein erhöhtes Risiko verletzt zu werden zugeschrieben; daraus kann eine entsprechende »Schutzbedürftigkeit« der Einzelnen oder von Gruppen abgeleitet werden. 88 Dabei besteht die Gefahr, dass Einzelne und Gruppen als bedürftig, hilflos und abhängig konnotiert werden – auch wenn neuere Ansätze eine gewisse verallgemeinernde Etikettierung bestimmter Gruppen vermeiden. 89 Eine derartig universelle Zuschreibung birgt das Risiko, dass Vulnerabilität sich zu einem zu breiten und verallgemeinernden Ansatz entwickelt, indem »jeder« als vulnerabel eingestuft wird. Dieser Ansatz würde nur geringen praktischen Nutzen mit sich bringen, da unter anderem kontextspezifische Bedürfnisse von (vulnerablen) Individuen bzw. Gruppen kaum identifiziert werden könnten. 90 Für Vulnerabilität und ein daraus abzuleitendes Konzept herrscht also kein einheitliches Verständnis: So entfaltet sich der Begriff bzw. das Konzept zwischen den und innerhalb der diversen Disziplinen mit unterschied-

84 Bielefeldt (2009), 10. 85 Pistrol (2016), 234. 86 Wild (2014), 298. 87 Mackenzie (2014), 34. 88 Ebd., 35. 89 Mackenzie (2014), 34 und Wild (2014), 298. 90 Mackenzie et al. (2014a), 6.

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lichen Bedeutungsschwerpunkten, Zuschreibungen von Vulnerabilität und Ursachen bzw. Erklärungen von Vulnerabilität sowie voneinander abweichenden (moralischen) Pflichten. 91 In der Philosophie ist der Vulnerabilitätsbegriff zum Beispiel vor allem im Kontext der Ethik relevant. Dort zeigt sich die Verletzbarkeit des Menschen in seinem Bedürfnis nach Anerkennung, angeknüpft etwa an die Anerkennungstheorie von Axel Honneth. 92 Wrigley und Dawson 93 kategorisieren die bestehenden Konzepte und Ideen der Vulnerabilität folgendermaßen: • •



Vulnerabilität ist eine universelle Bedingung menschlichen Daseins – z.B. bei Judith Butler. Vulnerabilität beinhaltet ein oder mehrere spezifische Zuschreibungen, Situationen oder Gruppen. Sie dient hier als ein heuristisches Werkzeug, um beispielsweise Bedingungen bzw. Umstände identifizieren zu können, die zu einer Vulnerabilität führen bzw. potenzielle Vulnerabilitäten verschlimmern könnten. 94 Vulnerabilität beinhaltet ein allumfassendes ethisches Konzept, wie zum Beispiel bei Goodin als »susceptibility to harm to one’s interest« 95 definiert.

Im Weiteren erfolgt keine exakte Begriffsdefinition von Vulnerabilität; es wird das (verallgemeinernde) Verständnis zugrundgelegt, dass Situationen bzw. Bedingungen zu einer eingeschränkten Handlungsmacht führen können und demnach die Autonomie oder Integrität des Einzelnen bzw. bestimmter Gruppen bedroht sein könnte. Deshalb wird Vulnerabilität nicht als universelles Merkmal von Menschen auf der Flucht, sondern als ein Umstand eingestuft, der sich auf die bestehende Situation und den politischen Status der Geflüchteten zurückführen lässt. 96 Dies orientiert sich an der Annahme, dass Vulnerabilität als eine soziale Bedingung gesehen wird,

91 Für einen Überblick darüber siehe beispielsweise Burghardt et al. (2017), 19–33 und Mackenzie et al. (2014a), 1–29. 92 Ebd., 27–28. 93 Wrigley/Dawson (2016), 205–208. 94 Ebd., 206–207. 95 Mackenzie et al. (2014a), 12. 96 Bustamante (2002), 340.

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mit der eine gewisse Machtlosigkeit und ein Verlust der agency einhergehen kann, um eigene Bedürfnisse sowie Rechte gegenüber anderen geltend zu machen. 97 Umso mehr gewinnt dabei die Autonomie an Bedeutung, die in jeglichem (ethischen) Konzept der Vulnerabilität sowie (politischen) Maßnahmen berücksichtigt werden sollte, um ein größtmögliches Maß an Autonomie von Menschen bzw. von Gruppen (wieder-)herzustellen. 98 Die Autonomie in das Blickfeld zu rücken ermöglicht es auch, der mit der Vulnerabilität assoziierten Machtlosigkeit sowie einem Paternalismus entgegenzuwirken. 99 Maßnahmen und Programme, die dabei einer nicht-paternalistischen Form gerecht werden, erkennen vulnerable Personen und Gruppen als gleichberechtigte Personen an. 100 Primär geht es darum, einen gleichberechtigten Zugang zu Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Dazu gehört auch, dass Menschen in der Lage sind, an gesundheitsrelevanten Entscheidungen zu partizipieren. 101 Dabei kommt das Konzept des Empowerments zum Tragen. 102 Der Begriff kann mit »Selbstbemächtigung« oder »Selbstbefähigung« übersetzt werden. Somit bezeichnet dies einen Prozess, in dem Menschen die Kraft und Fähigkeit gewinnen, selbstbestimmt ihr Leben zu führen. 103 Darüber hinaus kann darunter im Sinne eines politischen Verständnisses ein »konflikthafte[r] Prozeß der Umverteilung von politischer Macht, in dessen Verlauf Menschen oder Gruppen von Menschen aus einer Position relativer Machtunterlegenheit austreten und sich ein Mehr an demokratischem Partizipationsvermögen und politischer Entscheidungsmacht aneignen«, 104 verstanden werden. Um ein Empowerment im politischen Sinn zu ermöglichen, erscheint es notwendig, dass Menschen als Rechteinhaber empowert werden, selbstermächtigt ihre Bedürfnisse und Rechte zu artikulieren. Dabei erscheint nicht nur das jeweilige »Outcome« relevant, sondern auch bereits vorherige (Ent-

97 98

Siehe dazu beispielsweise Mackenzie et al. (2014a), 6. Anderson (2014) legt die Verbindung zwischen Autonomie und Vulnerabilität ausführlich dar.

99

Mackenzie (2014), 45.

100 Ebd., 55. 101 E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 23, 34 und 54. 102 UNFPA et al. (2014), 81. 103 Klotz (2016), 61–64. 104 Herriger (2010), 14.

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scheidungs-)Prozesse, an denen Individuen bzw. Gruppen/Organisationen beteiligt werden. 105

4. V ULNERABILITÄT

UND

F LUCHT

4.1 Das Recht auf Gesundheit Im Zusammenhang mit Flucht sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben: das Diskriminierungsverbot und die Kategorie Annehmbarkeit. Dabei erscheint es nicht mehr notwendig, erneut ausführlich darzulegen, dass das Recht auf Gesundheit insbesondere für vulnerable Personen oder Gruppen – wie Geflüchtete – gewährt werden muss. 106 Wiederholend zum Diskriminierungsverbot: Es müssen für »alle« – insbesondere für schutzbedürftige Gruppen – medizinische Einrichtungen und Dienste sowie ärztliche Betreuung zugänglich sein. 107 Die Staaten sind verpflichtet, einen gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten sowie heilende und lindernde Gesundheitsdienste für jeden Menschen bereitzustellen. 108 Einige Maßnahmen und Praktiken können dabei von Staaten mit geringem Ressourcenaufwand umgesetzt werden, um einer möglichen Diskriminierung von vulnerablen Einzelnen oder Gruppen entgegenzuwirken. 109 Die im

105 Im allgemeinen Kommentar über das Recht auf Gesundheit wird »die Beteiligung der Bevölkerung an allen gesundheitsbezogenen Entscheidungen auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene« thematisiert; siehe E/C.12/ 2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 11. 106 Beispielsweise A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 6; E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 34 und E/C.12/GC/22, vom 2. Mai 2016, Ziff. 16 und 31. 107 E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 12. 108 Ebd., Ziff. 34. 109 Die Treatment Action Campaign (TAC) aus Südafrika verwendet bei ihren Forderungen dieses Argument der geringen Kosten. TAC ist ein Zusammenschluss aus überwiegend HIV-Erkrankten mit schwarzer Hautfarbe, die sich unter anderem für einen verbesserten Zugang zur HIV-Medikation einsetzen. Diese Organisation wird als eines der Best Practice-Beispiele herangezogen. Es zeigt, wie eine Gruppe – trotz der geringen Handlungsmacht und einer be-

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WSK-Pakt verankerte progressive Verwirklichung 110 befreit die Staaten jedoch nicht vom Diskriminierungsverbot. 111 Für den Aspekt der Annehmbarkeit bietet Domenig 112 den Ansatz der transkulturellen Kompetenz, der vom Personal im Gesundheitswesen im Umgang mit Geflüchteten verwendet werden sollte. Darunter wird die Fähigkeit zur kompetenten Interaktion mit Migranten bzw. Geflüchteten verstanden. Dies bezieht mit ein, dass man individuelle Lebenswelten in unterschiedlichen Kontexten erfasst und begreift und daraus entsprechende Handlungsweisen für die Praxis ableitet. 113 Als transkulturell kompetent gilt demnach, wer Geflüchtete angepasst an ihre Bedürfnisse und respektvoll behandelt sowie sich für eine (gesundheitliche) Chancengleichheit einsetzt. Getragen wird dieses Konzept von folgenden Pfeilern: Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung sowie narrativer Empathie. Dadurch, dass die transkulturelle Kompetenz den Anspruch erhebt, in der Praxis nicht zu stereotypisieren und mittels einer großen Flexibilität Geflüchteten im Gesundheitswesen zu begegnen, bietet der Ansatz folgendes Potenzial: Er nimmt die unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnisse von Geflüchteten – die keineswegs eine homogene Gruppe sind – wahr und begegnet diesen kultursensibel und respektvoll. 114 Konkret heißt das: der Ansatz führt in der Praxis zu einer »guten« Interaktion mit Geflüchteten und kann mögliche (interkulturelle) Barrieren in der Gesundheitsfürsorge ausräumen.

stehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung – Forderungen hinsichtlich des Rechts auf Gesundheit durchsetzt. Siehe dazu Heywood (2009). 110 Der WSK-Pakt sieht vor, dass den Staaten eine progressive Umsetzung ihrer Verpflichtungen auferlegt ist – mit einer unmittelbaren und sofortigen Wirksamkeit für die Vertragsstaaten. Das bedeutet, dass die Staaten Maßnahmen ergreifen müssen, um die Verpflichtungen stufenweise verwirklichen zu können. 111 Klotz (2018). 112 Domenig (2007). 113 Althaus et al. (2010), 79. 114 Domenig (2007), 172–174.

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4.2 Geschlechterperspektive Migrations- und asylpolitische Themen galten lange Zeit als männlich dominiert: In der rechtlichen Flüchtlingskonstruktion waren männliche Lebenswelten normsetzend, sodass weiblichen Geflüchteten, die beispielsweise aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität flohen, unzureichend Rechnung getragen wurde. 115 Zwar erfahren zunehmend die (rechtlichen) Regelungen eine Berücksichtigung der Frau, jedoch besteht nach wie vor die Herausforderung einer geschlechter- bzw. gendersensiblen Perspektive. 116 Es besteht auch immer noch die Gefahr, der Frau stereotype Attribute zuzuschreiben, wie zum Beispiel »schwach«, »hilfsbedürftig«, »passiv« oder »without agency«. 117 Auf diese Weise wird der Frau ihre Handlungskompetenz in der vulnerablen Situation der Flucht abgesprochen. Hingegen existiert durchaus die Möglichkeit, dass gerade diese situative Vulnerabilität eine »empowernde« Wirkung für weibliche Geflüchtete mit sich bringen könnte: Der Verlust von gewohnten (eher unterdrückenden) Geschlechterrollen könnte zur Ermächtigung von weiblichen Geflüchteten beitragen, da diese Geschlechterrollen und -beziehungen im neuen Umfeld nicht mehr im gleichen Maße gelebt werden können. 118 Allerdings verharren Angebote (wie zum Beispiel Frauencafés) in den jeweiligen Aufnahmeländern oftmals in niederschwelligen Maßnahmen, in denen das Potenzial und die Selbstermächtigung der geflüchteten Frauen nicht hinreichend gefördert werden. 119 Das Konzept der Vulnerabilität könnte dazu dienen, ursächliche Strukturen zu identifizieren (zum Beispiel einen männlich dominierten Flüchtlingsbegriff), mit denen eine eingeschränkte Handlungsmacht der geflüchteten Frau einhergeht – ohne dabei der Frau generell Handlungskompetenz abzusprechen. Durchaus sollte der »besondere« Bedarf von geflüchteten Frauen nicht vernachlässigt werden, da diese in gewisser Weise »doppelt« betroffen sind. Das heißt, es besteht Vulnerabilität aufgrund ihrer Situation als Geflüchtete und ihres Geschlechtes. Denn es wird davon ausgegangen,

115 Krause (2015) und (2017), 82. 116 Hess et al. (2016), 177 und Krause (2017), 82. 117 Hess et al. (2016), 179 und Krause (2017), 79. 118 Krause (2015) und (2017), 80 119 Terre des Femmes (2017), 9.

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dass Menschen auf der Flucht unter einem schlechteren Gesundheitszustand im Vergleich zur Bevölkerung leiden und Frauen dabei stärker von negativen Gesundheitseffekten betroffen sind als Männer. 120 4.3 Taxonomie: Vulnerabilität von Frauen Aufbauend auf den Überlegungen zum Zusammenhang von Vulnerabilität, Autonomie und Empowerment in Kapitel 3 sollen nun, mit Bezug auf die Taxonomie von Mackenzie et al. (2014a), 121 die Ursachen von Vulnerabilität und deren spezifische Folgen für Geflüchtete und geflüchtete Frauen in den Blick genommen werden. Diese nämlich erkennt einerseits die ontologische Vulnerabilität an, die dem menschlichen Dasein inhärent ist, und ermöglicht es auf der anderen Seite, kontextspezifische Formen von Vulnerabilität zu identifizieren sowie zwischen verschiedenen Ursachen bzw. Quellen und Zuständen der Vulnerabilität zu unterscheiden. 122 Dabei wird auch die Rolle von sozialen und politischen Strukturen berücksichtigt, die Vulnerabilität generieren bzw. verschlimmern können. 123 Mackenzie et al. unterscheiden zwischen drei verschiedenen »Formen«, in denen Vulnerabilität vorkommt, und zwei verschiedenen »Zuständen« der Vulnerabilität. Bei den Formen wird zwischen inhärenter, situativer und pathogener Vulnerabilität unterschieden; die zwei Zustände, in denen Vulnerabilität auftreten kann, werden als Okkurrenz und Disposition bezeichnet. 124 Bei der inhärenten Vulnerabilität wird an die Idee der ontologischen Vulnerabilität angeknüpft: Zum Beispiel sind alle Menschen vulnerabel hinsichtlich Nahrung; alle (er)leiden Hunger, wenn kein Essen zur Verfügung steht. Andere Beispiele variieren durch viele Faktoren und sind vor allem abhängig von der Resilienz einer Person sowie ihrer Handlungsfähigkeit, die Situation bewältigen zu können (sogenannte Copingstrategien). 125 Hinsichtlich der Frau ergibt sich eine gewisse inhärente Vulnerabilität al-

120 Adanu/Johnson (2009), 180. 121 Mackenzie et al. (2014a). 122 Ebd. (2014), 7. 123 Mackenzie (2014), 38. 124 Mackenzie et al. (2014a), 7. 125 Ebd. sowie Mackenzie (2014), 38–39.

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lein durch die Schwangerschaften, wobei nicht alle Schwangeren automatisch als vulnerabel gelten. Bei Frauen besteht zudem ein höheres Risiko, an einer Angststörung, an Depressionen und an somatischen Beschwerden zu leiden. 126 Diese Prävalenz zeigt sich auch bei weiblichen Geflüchteten im Vergleich zu männlichen Geflüchteten. 127 Die situative Vulnerabilität bedeutet, dass Vulnerabilität kontextspezifisch ist und demnach durch die persönliche, soziale, politische, ökonomische oder ökologische Situation verursacht oder sogar verschlimmert wird. Somit steht diese Vulnerabilität in Abhängigkeit vom sozialen Kontext. 128 Die situative Vulnerabilität in den Herkunftsländern kann im weitesten Sinn auf die (möglichen) Fluchtursachen zurückgeführt werden. 129 Im Aufnahmeland hingegen wird die situative Vulnerabilität durch politische, rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verschärft, bei denen ordnungspolitische Erwägungen vor (menschen-)rechtlichen und ethischen Aspekten dominieren können. Dies wird zum Beispiel bei Menschen ohne Papiere deutlich, die aufgrund bestehender Regelungen oder auch aus Angst weder präventiv noch bei akuter Krankheit das Gesundheitswesen aufsuchen. Dabei gelten insbesondere Lebensumstände, die aus den Rahmenbedingungen vor Ort resultieren, als potenzielle Krankheitsursachen. 130 Neben den Lebensumständen und externen Faktoren hängt der Gesundheitszustand ebenso von intrinsischen Faktoren ab: Ob und inwiefern sich eine Person selbst als vulnerabel erlebt, kann von der eigenen Selbstwahrnehmung abhängen. Geflüchtete schätzen ihren eigenen Gesundheitszustand trotz bestehender Erkrankung als gut ein, wenn im Aufnahmeland eine Verbesserung ihrer Grundbedürfnisse eintritt, wie zum Beispiel durch ein Gefühl der Sicherheit sowie durch Zugang zu Wohnraum und Ernährung. 131 Im Gegensatz zu einer Differenzierung zwischen inhärent und situativ – die an den Ursachen von Vulnerabilität anknüpft – zielt die Unterscheidung zwischen dispositioneller Vulnerabilität und Okkurenz darauf ab, ob eine

126 Bustreo (2015). 127 Collins et al. (2010), 4 und Hollander et al. (2011). 128 Mackenzie et al. (2014a), 7 und Mackenzie (2014), 39. 129 Mackenzie (2014), 39–40. 130 Spura et al. (2017), 465. 131 Ebd.

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Vulnerabilität auftritt oder nicht. Zum Beispiel sind alle Frauen im gebärfähigen Alter dispositionell vulnerabel hinsichtlich möglicher Komplikationen während der Geburt. 132 Ob solche Komplikationen 133 jedoch auftreten (Okkurenz) oder nicht, hängt von einer Vielzahl von – inhärenten oder situativen – Faktoren ab, wie beispielsweise dem eigenen Gesundheitszustand sowie dem Entwicklungsstand eines Landes und der dortigen Gesundheitsversorgung. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Gebärmutterhals- und Brustkrebs sind mit die häufigsten Krebsarten, an denen Frauen weltweit sterben (ca. 500.000 pro Jahr). Ob Frauen daran erkranken oder nicht, kann unter anderem vom Zugang zu medizinischen Leistungen abhängen. Demnach ereignet sich die Mehrheit der Tode in Folge von Gebärmutterhals- und Brustkrebs in Ländern mit einem geringen und einem mittleren Einkommensniveau – also dort, wo Früherkennung, Prävention und Behandlung nur unzureichend verfügbar sind. 134 Ein weiteres Beispiel, an dem der Zusammenhang zwischen inhärenter und situativer Vulnerabilität und dem Auftreten von Vulnerabilität deutlich wird, sind die traumatischen Erlebnisse der Geflüchteten: Schätzungen gehen davon aus, dass 40% der Geflüchteten infolge ihrer Erlebnisse auf der Flucht eine Traumafolgestörung entwickeln, die von Depressionen und Angststörungen begleitet wird. Falls eine entsprechende Behandlung in den Aufnahmeländern nicht erfolgt, könnten sich Krankheitsbilder chronifizieren und das psychische Leiden verschlimmern. Frauen und Kinder gelten dabei als besonders gefährdet. 135 Tatsächlich zeigt sich bei geflüchteten Frauen eine höhere Prävalenz, eine psychische Erkrankung bzw. Störung zu erleiden. 136 Neben den ohnehin belastenden Faktoren und Risiken auf der Flucht – wie zum Beispiel sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt – 137 zeigen sich bei geflüchteten Frauen auch post-migrations-

132 Mackenzie et. al. (2014), 8. 133 Im Jahr 2013 starben 300.000 Frauen weltweit aufgrund von Komplikationen während der Schwangerschaft und bei der Geburt. Siehe dazu Bustreo (2015). 134 Ebd. 135 Deutscher Bundestag (2015d), 1–2 und Deutscher Bundestag (2015e), 1. 136 WHO (o.J.). 137 Bustreo (2015); UNHCR (2003) und York (2012). Auch Männer erfahren in einem zunehmenden Maße sexuelle Gewalt in Konfliktregionen. Siehe dazu Krause (2017), 89 und WHO (2015), 35.

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spezifische Stressoren, die zur Erklärung ihrer besonderen Vulnerabilität herangezogen werden können, wie zum Beispiel die Unterbringung von weiblichen Geflüchteten ohne getrennte sanitäre Anlagen und ohne Privatsphäre bzw. (weibliche) Rückzugsräume. 138 Auch ist die unsichere Lebenssituation im Aufnahmeland ein weiterer möglicher Stressor für (weibliche) Geflüchtete, der ein bestehendes Trauma verschlimmern oder sogar eine Traumafolgestörung (mit-)erzeugen kann. Die Stressoren sind (teilweise) situativen Faktoren geschuldet und können eine Vulnerabilität (Okkurenz) bei den Frauen erzeugen bzw. verschlimmern. 139 Selbstverständlich können genetische Dispositionen sowie weitere nicht benannte Faktoren eine Rolle spielen, ob eine Vulnerabilität auftritt oder nicht. Die Relevanz der erwähnten Stressoren im Zusammenhang mit Vulnerabilität kann jedoch nicht negiert werden. Diese von Mackenzie et al. vorgeschlagenen Kategorien von Vulnerabilität können nicht immer klar getrennt werden. Inhärente Ursachen können sich in wenigen oder auch umfangreichen Umweltbedingungen widerspiegeln, beispielsweise ist der Gesundheitszustand einer Person von sozioökonomischen Faktoren abhängig. Wiederum kann eine situative Vulnerabilität eine inhärente Vulnerabilität hervorrufen. 140 Auch zeigt sich, dass externe (aber auch interne) Faktoren eine Rolle spielen, ob eine Vulnerabilität auftritt oder nicht. 141 Eine pathogene Vulnerabilität besteht, wenn der paradoxe Effekt eintritt, dass getroffene Maßnahmen die Vulnerabilität nicht abmildern, sondern die bestehende Verletzbarkeit verschlimmern oder sogar neue Verletzlichkeit generieren. 142 Es besteht die Gefahr, dass im Gesetzgebungsprozess (Gender-)Stereotypen produziert werden, die bestehende Realitäten reproduzieren – anstatt den dabei bestehenden Herausforderungen zu begegnen. 143 So können Regelungen zum Schutz der Frau in Reaktion auf eine bestehende Geschlechterungleichheit zum Paradoxon des Feminismus füh-

138 Jovanovic (2016) und Kurmeyer et al. (2017), 5. 139 Zum Beispiel nehmen mit der längeren Dauer des Asylverfahrens psychische Störungen signifikant zu. Siehe dazu Schouler-Ocak/Kurmeyer (2017), 43. 140 Mackenzie (2014), 39. 141 Mackenzie et al. (2014a), 8. 142 Ebd. 143 Otto (2010), 4.

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ren – gekennzeichnet mit weniger Macht und Ressourcen für die Frauen. 144 Ein Beispiel für eine pathogene Vulnerabilität im Zusammenhang mit Flucht wäre die Dublin-Verordnung. 145 Ursprünglich diente diese dazu, den Effekt »refugee in orbit« zu vermeiden – d.h., dass sich kein EU-Mitgliedsstaat für das Asylbegehren zuständig fühlt und der Geflüchtete von Land zu Land buchstäblich hin- und hergeschoben wird. 146 Dies war zwar ursprünglich als angemessen gedacht gewesen, da unerwünschte Effekte weitere Belastungen für Geflüchtete mit sich bringen könnten. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass dieses Ziel nicht eingelöst wurde. 147 Nach wie vor erweist es sich – gerade auch mit Blick auf das Menschenrecht auf Gesundheit und die gesundheitliche Vulnerabilität der Geflüchteten – als problematisch, dass diese in EU-Mitgliedsstaaten inhaftiert 148 sowie in Herkunftsländer 149 und EU-Mitgliedstaaten 150 rücküberstellt werden, in denen keine ausreichende medizinische Versorgung im Sinne des Rechts auf Gesundheit und sexuell-reproduktiver Gesundheit existiert.

144 Charlesworth (2005), 2 sowie Otto (2010), 4 und (2014), 318. 145 Bergemann et al. (2017), 333. 146 Die Dublin-Verordnung regelt, welcher EU-Mitgliedsstaat für das Asylverfahren zuständig ist. Wichtiges Zuständigkeitskriterium ist dabei die »illegale« Grenzüberschreitung – d.h., zuständig für das Asylbegehren ist der Staat, dessen Gebiet der Geflüchtete zuerst betreten hat. Neben der Intention, den Effekt »refugee in orbit« zu vermeiden, diente die Verordnung auch dazu, ein »Onestate-only-Prinzip« zu etablieren und einem »asylum shopping« entgegenzuwirken. Ursprünglich ist das Dublin-System kein Verteilungssystem, das die Geflüchteten gerecht auf die EU-Mitgliedsstaaten verteilt, sondern ausschließlich eine Zuständigkeitsregelung. Für mehr Information über das DublinSystem siehe Bendel (2016b) und Pro Asyl (2016). 147 Pro Asyl (2008), 9. 148 Siehe dazu beispielsweise den Bericht von Pro Asyl (2012), in dem über die Missstände im ungarischen Asylsystem und insbesondere über die Inhaftierung von Geflüchteten berichtet wird. 149 Pro Asyl (2008), 9. 150 Zum Beispiel berichten Mirzay/Kerr Chiovenda (2017) über Barrieren im Gesundheitswesen (kein Dolmetscher etc.) in Griechenland, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung dort für Geflüchtete aus Afghanistan erschweren.

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4.4 Empowerment und Autonomie Das Empowerment-Konzept ist für den Gesundheitsbereich mit seiner Betonung von Selbstbestimmung und autonomer Lebensführung diesbezüglich ebenso bedeutsam wie nützlich. Denn insbesondere für vulnerable Gruppen in kritischen (Lebens-)Situationen ermöglicht das Konzept durch den Fokus auf deren Stärken und Fähigkeiten, eine selbstbestimmte und autonome Lebensführung (wieder-)herzustellen. 151 Selbstverständlich gerät das Konzept bei Geflüchteten im Kontext ausländerrechtlicher Regelungen an seine Grenzen. Dennoch bestehen in der Praxis für Akteure im Gesundheitswesen Handlungsräume, innerhalb deren Empowerment möglich und geboten wäre. Was ist nun relevant im Zusammenhang mit Menschen auf der Flucht? Empowerment in der Praxis lässt sich zunächst anhand der folgenden unterschiedlichen Ebenen näher konkretisieren: der individuellen Ebene, der Gruppenebene und der institutionellen Ebene. 152 Empowerment auf der individuellen Ebene zielt darauf, dass einzelne Menschen befähigt werden, aus ihrer Situation der Machtlosigkeit herauszutreten und ihr Leben mit all den persönlichen Rechten und Freiheiten selbstbestimmt leben zu können. 153 Konkret heißt das, dass Frauen dazu empowert werden sollten, dass sie ihre Entscheidungen über alle gesundheitsrelevanten Fragen (einschließlich Sexualität und Reproduktivität) informiert sowie frei – ohne Gewalt und Diskriminierung – treffen können. Um hier selbstermächtigt zu sein, spielt der Zugang zu Information über das Recht auf Gesundheit eine zentrale Rolle. 154 Im Mittelpunkt der Gruppenebene steht kollektives Handeln in Form von bürgerschaftlichem Engagement oder Selbstorganisation. Prozesse des Empowerment sind hierbei in eine kollektive Antwort auf gemeinsame Erfahrungen eingebettet und vollziehen sich in der Gemeinschaft. Das ge-

151 Herriger (2002), 1. 152 Bei Herriger (2002) und (2010) wird noch die Gemeindeebene angeführt, die die Mobilisierung von Ressourcen der Bewohner eines Stadtteils betrachtet. Aufgrund der dezentralen Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland wird diese Ebene hier außen vor gelassen. 153 Herriger (2002), 4 und (2010) 87–130. 154 UNFPA et al. (2014), 82.

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meinsame Handeln birgt emotionale, instrumentelle (z. B. Bereitstellung von materiellen Hilfen) und kognitive Unterstützung sowie die Stärkung der sozialen Identität (z. B. Stärkung des Selbstwerts) und die Vernetzung in sich. 155 Gemäß den Stufen der Partizipation ist die Selbstorganisation bzw. das Engagement die letzte, sodass für die Gruppenebene zunächst Entwicklungen und Prozesse auf der Individualebene sowie auf der institutionellen Ebene notwendig erscheinen. 156 Geflüchtete begegnen auf der Gruppenebene jedoch Herausforderungen, die ein kollektives Handeln in Form einer Selbstorganisation erschweren. So kann die Interessenlage von Geflüchteten als schwaches Interesse eingestuft werden, das heißt als »eine relative Benachteiligung in der politischen Interessenkonkurrenz, die aus einer Minderausstattung mit den für die Artikulations-, Organisations-, Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit notwendigen sozialen Eigenschaften resultiert«. 157 Weitere Faktoren können ein (kollektives) Engagement der Geflüchteten erschweren bzw. verhindern, wie zum Beispiel eine hohe Fluktuation in der Gruppe (beispielsweise durch Abschiebungen und/oder positive Asylbescheide) und eine hohe Heterogenität (beispielsweise durch damit einhergehende sprachliche Barrieren). 158 Mit der institutionellen Ebene werden die Institutionen und Akteure ins Blickfeld genommen, die ein Empowerment von Geflüchteten überhaupt ermöglichen bzw. fördern. 159 Maßnahmen und Entscheidungen auf dieser Ebene können die beiden vorherigen Ebenen begünstigen bzw. beeinträchtigen. Grundsätzlich erfordert Handeln auf dieser Ebene eine nationale Gesundheitsstrategie mit Programmen, Maßnahmen und einer Politik, die das Recht auf Gesundheit für Geflüchtete im Sinne der staatlichen Verpflichtungen achten, schützen und gewähren sowie eine Beteiligung im Sinne des Empowerments vorsehen. Zunächst erfordert dies, dass alle Personen und

155 Herriger (2010), 130–157. 156 Die Partizipation umfasst sieben Stufen: (1) sich informieren, (2) zu Entscheidungen Stellung nehmen, (3) Beiträge miteinbringen, (4) an Entscheidungen mitwirken, (5) Freiräume der Selbstverantwortung nutzen, (6) Entscheidungsfreiheit ausüben und (7) zivilgesellschaftliche Eigenaktivität. Siehe dazu Straßburger/Rieger (2014), 28. 157 Winter/Willems (2000), 14. 158 Klotz (2016), 61–64. 159 Herriger (2010), 157–178.

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Gruppen gleichberechtigt an den gesundheitsrelevanten Rechten durch einen fairen und transparenten Prozess partizipieren dürfen.160

5. B EISPIEL D EUTSCHLAND 5.1 Daten und Zahlen Auch in Deutschland – nicht nur auf europäischer Ebene – stieg im Jahr 2017 der Anteil der Frauen unter den Geflüchteten auf rund 39% an. 161 Umfassende Kenntnisse des tatsächlichen Gesundheitsstatus von (weiblichen) Geflüchteten existieren in Deutschland nicht bzw. nur unzureichend. Zwar werden seit 2008 mit der Berliner Gesundheitsberichterstattung und dem Sozialstatistischen Berichtswesen relevante Daten erhoben, die die Geschlechterperspektive berücksichtigen; 162 dabei gibt es allerdings bislang nur unzureichend systematisch standardisierte Daten über die Gesundheit der Geflüchteten im Sinne einer (bundesweiten) Gesundheitsberichterstattung. 163 Entsprechende Informationen – neben den wichtigen qualitativen Untersuchungen und Studien, deren Ergebnisse aus Fallserien stammen, 164 – könnten jedoch den bestehenden gesundheitsrelevanten Versorgungsbedarf sowie -lücken bei Geflüchteten nur bedingt aufdecken. Um die bestehende Daten- und Forschungslage zu verbessern, wäre es hingegen erforderlich, umfassendere Kenntnisse des (tatsächlichen) Gesundheitsstatus der Geflüchteten zu sammeln – wie zum Beispiel durch die Integration der

160 De Vos et al. (2009), 26. 161 Statista (2018). 162 Deutscher Bundestag (2015a), 45. 163 Im 3. Gesundheitsbericht des Bundes wird zwar Migration thematisch behandelt, aber hier wird ebenso betont, dass die Daten und gesundheitsrelevanten Informationen über einzelne (Sub-)Gruppen wie Geflüchtete unzureichend seien. Siehe dazu Bundesministerium für Gesundheit (2016), 176–183. 164 Es gibt einige qualitative Studien über geflüchtete Frauen, um Erkenntnisse über die Situation in Deutschland zu erlangen, siehe dazu beispielsweise Beykol/Bendel (2016) und Kurmeyer et al. (2017).

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Gruppe der Geflüchteten in das Gesundheits-Monitoring des Robert-KochInstituts. 165 5.2 Rechtliche Regelungen Die medizinische Versorgung für Geflüchtete wird in Deutschland über das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt. Dort ist festgelegt, welche medizinischen Leistungen Geflüchteten 166 in den ersten 15 Monaten 167 zustehen. Die Umsetzung des AsylbLG wird – aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands – an die Bundesländer delegiert. Die medizinische Versorgung sieht im § 4 AsylbLG eine Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie Leistungen während der Geburt und bei Schwangerschaft vor. Demnach werden alle Leistungen bei Schwangerschaft und Entbindung einschließlich Hebammenhilfe und Vorsorge gewährleistet – analog zu den medizinischen Leistungen gemäß der gesetzlichen Krankenversicherung. 168 Davon ausgenommen sind jedoch Hilfen bei Schwangerschaftsabbrüchen und zur Familienplanung. 169 Ergänzt wird die gesundheitliche Versorgung für Geflüchtete durch § 6 AsylbLG. Dort ist eine sogenannte Auffangklausel bzw. Öffnungsklausel normiert, gemäß der »sonstige Leistungen im Einzelfall gewährt werden, […] wenn sie zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind«. Unter dem Begriff »sonstige Leistungen« können psychotherapeutische Behandlungen sowie Schwangerschaftsverhütung und Vorsorge gegen sexuelle Krankheiten genehmigt werden. Darunter fallen auch – neben den medizinischen Leistungen – Erstausstattung bei Schwangerschaft und Geburt. Allerdings

165 Bozorgmehr et al. (2016); Leopoldina et al. (2015), 7–8 und Razum et al. (2016). 166 Der Begriff „Geflüchtete“ umfasst neben Asylbewerber*innen im Verfahren auch Personen mit Duldung nach § 1 AufenthG. 167 Nach den 15 Monaten ist das Sozialgesetzbuch anzuwenden, wenn der oder die Geflüchtete die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, zum Beispiel durch falsche Angaben zur Identität oder bei mangelnder Mitwirkung bei der Passbeschaffung; siehe dazu Classen (2016a), 4. 168 Classen (2016b), 10. 169 Grube et al. (2014), Rn. 29–31.

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sind dabei Hilfen zu Schwangerschaftsabbrüchen und Hilfen zur Familienplanung ausgenommen. AsylbLG-Bezieherinnen können aber für einen Schwangerschaftsabbruch eine Kostenübernahme bei einer gesetzlichen Krankenkasse am Wohnort beantragen. 170 In der Rechtskommentierung wird darauf verwiesen, dass § 6 AsylbLG restriktiv auszulegen ist; demnach werden »sonstige Leistungen« eher selten genehmigt. 171 Somit obliegt § 6 einem Ermessensspielraum und ist für die Behörden als eine »KannRegelung« anzuwenden. 172 Mit dem verabschiedeten Asylbeschleunigungsgesetz (dem sogenannten Asylpaket I) im Oktober 2015 wird die Einführung einer Gesundheitskarte für Geflüchtete auf Bundesebene erleichtert. Fortan sind die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, eine Rahmenvereinbarung mit den Ländern abzuschließen. Dabei erfolgt eine Übernahme der Versorgung der Geflüchteten auf der gesetzlichen Grundlage des AsylbLG. Im Zuge dessen erhalten die Geflüchteten eine elektronische Versicherungskarte. 173 5.3 Die faktische Gesundheitsversorgung weiblicher Geflüchteter in Deutschland: Einschätzung und Bewertung Anknüpfend an die vorherigen Ausführungen werden nun einige Überlegungen zum Recht auf Gesundheit bei weiblichen Geflüchteten angestellt. Zunächst wird die Geschlechterperspektive in Deutschland kurz ausgeführt: Auf der Bundesebene ist für die Gesundheitspolitik unter anderem das Bundesministerium für Gesundheit zuständig. Dieses befasst sich zum einen mit den Gesundheitsrisiken und Krankheiten, die bei Frauen auftreten, häufiger vorkommen oder anders auftreten und verlaufen als bei Männern, zum anderen mit dem Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf die Gesundheit der Frau. Auf Bundesebene wird eine geschlechtsspezifische Vorgehensweise in der Prävention sowie in der Gesundheitsförderung und -versorgung durch regelmäßige Frauen- und Gesundheitskongresse unterstützt. Einzelne Bundesländer verfolgen einen geschlechtsspezifischen Ansatz in

170 Classen (2016b), 11. 171 Grube/et al. (2014), Rn. 1. 172 Flüchtlingsrat Berlin (2016), 11. 173 Wächter-Raquet (2016), 11–12.

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der Gesundheitspolitik – wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, das 2012 ein Kompetenzzentrum für Frauen und Gesundheit eingerichtet hat. 174 Insgesamt wird dabei jedoch den Bedürfnissen von Frauen im deutschen Gesundheitswesen nicht genügend Rechnung getragen, männlich dominierte Strukturen würden dem entgegenstehen; es fehle demnach an einer aussagefähigen Gesundheitsberichterstattung im Hinblick auf Sex, Gender und Diversity, sodass die Gesundheitspolitik und -gesetzgebung (gender-)sensibel weiterentwickelt werden muss. 175 Bevor vor diesem – problematischen – Hintergrund etwas über das Recht auf Gesundheit bei weiblichen Geflüchteten gesagt werden kann, muss zunächst die neuere Entwicklung der Gesundheitskarte für Geflüchtete eingeordnet werden. Fortan ermöglicht es die elektronische Versicherungskarte den Geflüchteten, direkt einen Arzt bzw. eine Ärztin aufzusuchen. Davor wurde im Rahmen eines Antrags- und Prüfverfahrens durch eine(n) Mitarbeiter*in des Sozialamts ein Krankenschein ausgestellt, der den/die Geflüchtete*n zu einem Arztbesuch berechtigt. Kritisiert wird dabei nach wie vor, dass bei diesem Verfahren ein Ermessensspielraum bis hin zur Willkür existiere und die Gefahr bestehe, dass Krankheiten verschleppt werden sowie dass bei dem AsylbLG Rechtsunsicherheiten bestünden. 176 Allein schon aus medizinischer Sicht gestaltet sich eine klare Abgrenzung zwischen »akut« und »chronisch« als schwierig, da auch eine Nichtbehandlung von chronischen Erkrankungen ein Risiko gesundheitlicher Folgeschäden birgt. 177 Aus menschenrechtlicher Sicht – insbesondere in Anbetracht des Diskriminierungsverbots – ist es kritisch zu sehen, dass den Geflüchteten im Gegensatz zum deutschen Bundesbürger lediglich eine »Notversorgung« zukommt. Völkerrechtler halten demnach die gesetzlichen Regelungen nicht mit dem Recht auf Gesundheit vereinbar. 178 Die Bundesregierung rechtfertigt diese jedoch damit, dass der WSK-Pakt kein »leistungsrechtliches Gleichstellungsgebot« vorsehen würde. Demnach könnte daraus kein generelles Verbot abgeleitet werden, für Geflüchtete ein »besonderes«

174 Bundesministerium für Gesundheit (2016) und Deutscher Bundestag (2015a), 44–45. 175 CEDAW Allianz (2016), XV. 176 Siehe dazu beispielsweise Flüchtlingsrat Berlin (2016), 11–16. 177 Agbih (2017), 51. 178 Eichenhofer (2013); Kaltenborn (2015) und Lindner (2015).

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Versorgungsrecht für die Gesundheitsfürsorge zu schaffen. 179 Gemäß der Logik des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) wäre solch ein begrenzter bzw. ungleicher Zugang zur Gesundheitsfürsorge allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn Geflüchtete einen gruppenspezifischen Minderbedarf an gesundheitlicher Versorgung hätten. 180 Es erscheint schwierig, solch einen Minderbedarf bei Geflüchteten zu diagnostizieren – im Gegenteil, es zeigt sich durch die erwähnten Postmigrations-Stressoren vermutlich eher ein »Mehrbedarf«. 181 Auch obliegt die Einführung der Gesundheitskarte den Bundesländern. Nach wie vor ist dort jedoch keine einheitliche Praxis zu beobachten, und einige Bundesländer – wie zum Beispiel Bayern – weigern sich sogar, die Gesundheitskarte einzuführen.182 Hinsichtlich des Rechts auf Gesundheit und angesichts der Vulnerabilität bei geflüchteten Frauen sind in diesem Kontext drei Themen von besonderer Bedeutung: sexuelle und reproduktive Gesundheit, psychische Gesundheit sowie sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt. Schwangeren Geflüchteten kommen alle medizinischen Leistungen vor und während der Geburt im Sinne der vorgesehenen Versorgung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu. Es wird u.a. jedoch beklagt, dass durch die Schließung geburtshilflicher Abteilungen die Geburtshilfe immer seltener (physisch) zugänglich wäre. 183 Das AsylbLG lässt einen starken Fokus auf die Fortpflanzungsfähigkeit der Frau erkennen. Dem liegt ein enges Begriffsverständnis zugrunde, bei dem die Frau in einer problematischen Weise auf ihre Fortpflanzungsfähigkeit reduziert wird; ein weites sowie positives Ver-

179 Deutscher Bundestag (2015c), 4. 180 Durch das Urteil des BVerfG im Jahr 2012 musste die Höhe der Geldleistungen im AsylbLG angehoben werden, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren. Das Gericht urteilte, dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch relativierbar sei. Nach dem Urteil wurde – insbesondere von zivilgesellschaftlichen Organisationen – hervorgehoben, dass auch Gesundheit Bestandteil dieses Existenzminimums wäre und die Abschaffung des AsylbLG unabdingbar sei. Siehe dazu BVerfG (2012). 181 Klotz (2018) und Krennerich (2016b). 182 Flüchtlingsrat Berlin (2016), 10–11 und Schammann/Kühn (2017), 17–18. Für einen Überblick über die Einführung der Gesundheitskarte in den einzelnen Bundesländern siehe Wächter-Raquet (2016), 24. 183 CEDAW-Allianz (2016), 31.

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ständnis im Sinn der sexuellen und reproduktiven Gesundheit wird nicht bzw. kaum berücksichtigt. So besteht hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zum Teil ein erheblicher Handlungsbedarf: Der Zugang zu Verhütungsmitteln für weibliche Geflüchtete ist nur bedingt möglich, da nur in einzelnen Bundesländern und Kommunen eine Kostenübernahme erfolgt. Eine einheitliche Regelung zur Kostenübernahme existiert nicht und hängt demnach von der jeweiligen Kommune ab. 184 Trotz einiger Bemühungen 185 besteht weiterer Handlungsbedarf, sodass Folgendes gefordert wird: •

• • • • •

zugängliche und verfügbare Informationen über die sexuelle und reproduktive Gesundheit in den Muttersprachen und in Frauenräumen bzw. in Gesprächskreisen, um Vertrauen zu schaffen und sich an den spezifischen Bedürfnissen der Frauen orientieren zu können; 186 eine gynäkologische Ansprechpartnerin für geflüchtete Frauen sicherzustellen; die Koordination und Qualifizierung von muttersprachlichen Gesundheitspromotorinnen, die als Flüchtlingslotsinnen tätig werden; die Einrichtung von mobilen Beratungsmöglichkeiten, zum Beispiel gynäkologischen Beratungsbussen für Frauen; Sprachkursangebote nur für Frauen mit gesundheitlichem, präventivem Bezug und Hebammen-Sprechstunden mit weiblichen Dolmetscherinnen. 187

Hinsichtlich der psychischen Gesundheit sind die (tatsächliche) Belastung der weiblichen Geflüchteten 188 sowie die psychische und psychosoziale

184 Ebd. und Deutscher Bundestag (2015b), 13. 185 Zum Beispiel das Konzept »Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe der Sexualaufklärung und Familienplanung« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 186 Kurmeyer et al. (2017), 6. 187 Bähr (2015), 6. 188 Wie bereits unter Gliederungspunkt 5.1 erwähnt wurde, liegen dazu keine quantitativen Daten vor. Im Rahmen einer qualitativen Studie der Charité Berlin wurden insgesamt 639 weibliche Geflüchtete befragt. Davon gaben 40%

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Versorgung vor Ort relevant. Das AsylbLG 189 eröffnet durchaus einen Anspruch auf eine geeignete psychologische Betreuung für besonders vulnerable Gruppen. 190 In der Praxis bemängeln zivilgesellschaftliche Organisationen jedoch, dass eine entsprechende, bedarfsgerechte gesundheitliche und psychosoziale Versorgung nach wie vor durch die Leistungseinschränkungen im AsylbLG begrenzt werde. 191 So wird nur wenigen Geflüchteten eine Psychotherapie gewährt, da psychische Erkrankungen als nicht »akut« eingestuft werden; oder es wird auf die Möglichkeit einer medikamentösen – häufig unzureichenden – Behandlung verwiesen. 192 Die Aussichten auf einen Therapieplatz für Geflüchtete in der gesundheitlichen Regelversorgung sind demnach gering, sodass ein eklatantes Versorgungsdefizit bzw. eine unzureichende Betreuung in diesem Bereich besteht. 193 Mit der Einführung der Gesundheitskarte wurde auch die Verbleibdauer im AsylbLG verkürzt: Fortan erhalten Geflüchtete nach 15 Monaten (alte Regelung: 48 Monate) bereits Anspruch auf die Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkasse. Diese »positive« Entwicklung ist zunächst begrüßenswert. Allerdings entsteht mit der kurzen Verbleibdauer ein paradoxer Effekt, sodass eine pathogene Vulnerabilität vorliegt: Die psychosozialen Zentren können die Psychotherapie bei Geflüchteten, die in einer gesetzlichen Krankenkasse sind, nicht mehr abrechnen; denn die Zentren sind keine Vertragspartner der Krankenkassen. Bereits begonnene Psychotherapien müssen demnach abgebrochen werden und/oder eine Bewilligung der Psychotherapie in den Zentren wird kaum mehr möglich. 194 Dies ist insofern problematisch, da die psychische und psychosoziale Versorgung der Ge-

der Befragten eine stark ausgeprägte Traurigkeit als wesentliche psychische Beschwerden an. Siehe dazu Schouler-Ocak/Kurmeyer (2017), 43. 189 Gemäß § 6 können »sonstige Leistungen« insbesondere gewährt werden, »wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich« sind. 190 Deutscher Bundestag (2016b), 3. 191 Deutscher Bundestag (2016a), 4. 192 Bundespsychotherapeutenkammer (2015), 13. Siehe auch Kahl/Frewer (2017). 193 Baron/Flory (2016), 114–115; Deutscher Bundestag (2016a), 4 und 11–12. 194 Mit der Einführung der Gesundheitskarte. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Zentren keine Vertragspartner der Krankenkassen sind. Siehe dazu BAfF (2015), 1.

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flüchteten größtenteils von gerade diesen Zentren getragen wird. 195 Hinzu kommt, dass auch die Dolmetscherkosten nicht über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Gerade eine sprachliche Verständigung zwischen Therapeut*in und Klient*in ist aber essenziell, damit eine korrekte Aufklärung, Diagnostik und Behandlung erfolgen kann. 196 Ein weiterer Handlungsbedarf besteht bei der Ermittlung der besonderen Schutzbedürftigkeit 197 bei Geflüchteten, denn in Deutschland gibt es bundesweit kein implementiertes Verfahren, mit dem diese ermittelt wird. 198 Nach EU-Flüchtlingsrecht gelten jedoch als besonders schutzbedürftig: Schwangere, Personen mit psychischen Störungen sowie Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt erlitten haben. 199 Dieses Recht greift nicht nur die psychische Gesundheit und die sexuelle und reproduktive Gesundheit auf, sondern auch Personen, die sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben. In Deutschland obliegt die Umsetzung den Bundesländern. Nur in einigen Bundesländern – in Bremen und Brandenburg – wird eine entsprechende Schutzbedürftigkeit bestimmt. Dabei blieben jedoch zahlreiche essenzielle Fragen unbeantwortet, wie zum Beispiel, ab welchem Zeitpunkt die Bestimmung begonnen

195 In den Zentren werden jährlich über 12.000 Klient*innen versorgt. Davon erhalten 35% eine Psychotherapie. Ergänzend versuchen die Zentren, durch ein bedarfsgerechtes und niederschwelliges Behandlungsangebot das bestehende Versorgungsdefizit in diesem Bereich aufzufangen. Siehe dazu BAfF (2017a), 1. 196 BAfF (2015), 2 und Deutscher Bundestag (2016a), 8. Laut Studien würde sich die dolmetschergestützte Psychotherapie mit Geflüchteten in ihrer Wirkung nicht bzw. kaum von Psychotherapien in einer gemeinsamen Sprache unterscheiden. Siehe dazu Deutscher Bundestag (2016a), 8. 197 Unter Artikel 21 wird zur Bestimmung der Schutzbedürftigkeit gefordert, dass die Mitgliedstaaten die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen berücksichtigen müssen. Um dies wirksam umzusetzen, müssen die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 22 beurteilen, ob bei der Person (bzw. Antragsteller*in) besondere Bedürfnisse bei der Aufnahme bestehen. Siehe dazu RL 2013/ 33/EU. 198 Deutscher Bundestag (2015e), 4 und (2016a), 10. 199 RL 2013/33/EU, Artikel 21.

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wird und wer dafür zuständig ist. 200 Nach wie vor besteht die Forderung, geeignete Strukturen und Instrumente in Deutschland zu entwickeln, um eine Schutzbedürftigkeit frühzeitig identifizieren zu können – zum Beispiel durch gezielte Schulungen des Personals in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften. 201 Auch wird unter der Gewährleistungspflicht beim Recht auf Gesundheit betont, dass Gesundheitsdienste einschließlich der Behandlung und Bewältigung von Traumata für Frauen gewährleistet werden sollen, insbesondere bei Geflüchteten. 202 Dies kann nur erfolgen, wenn ermittelt wird, ob dafür ein entsprechender Bedarf beim Einzelnen besteht. Bei der sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt besteht in Deutschland ebenfalls nach wie vor ein hoher Handlungsbedarf. Im Jahr 2015 betonte Rabe, 203 dass ein diesbezüglicher Schutz in den Unterkünften kaum thematisiert werde und Gewalt gegen weibliche Geflüchtete in den Unterstützungssystemen nur eine marginale Rolle spiele. 204 Im Rahmen der Bundesinitiative zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften wurden 2016 205 jedoch zusammen mit Partnern (wie zum Beispiel der UNHCR) Mindeststandards erarbeitet, mit dem Ziel, besonders gefährdete Personengruppen vor Gewalt zu schützen sowie den Zugang zu

200 BAfF (2017b), 3. 201 Deutscher Bundestag (2015e), 4 und (2016a), 10 sowie Schouler-Ocak/Kurmeyer (2017), 50. 202 A/54/38/Rev. 1, chap. I, 1999, Ziff. 16. 203 Heike Rabe (2015) konstatiert in einer Studie über geschlechtsspezifische Gewalt in Flüchtlingsunterkünften ein erhebliches Defizit an Gewaltschutzmaßnahmen. 204 Rabe (2015), 3. 205 In der Neuauflage der Mindeststandards wurden weitere vulnerable Personengruppen erfasst, wie zum Beispiel Geflüchtete mit Behinderung und LGBT*I*. Auch wurden die Leitlinien für die Bereiche Personal, strukturelle und bauliche Voraussetzungen sowie Prävention von und Umgang mit Gewalt- und Gefährdungssituationen in der Neuauflage ergänzt. Siehe dazu Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017) und Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2017).

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Bildungsangeboten und der psychosozialen Versorgung zu verbessern. 206 Dieser Schutz und der Zugang zur psychosozialen Versorgung werden auch durch Angebote von Trägern ermöglicht, die durch Mittel aus den EUAsyl-, Migrations- und Integrationsfonds finanziert werden. 207 In einigen Bundesländern existieren ebenso Gewaltschutzkonzepte zum Schutz von Frauen und Kindern. 208 Trotz dieser vielen »guten« Ansätze und eines bestehenden Versorgungsangebots 209 – die in ihrer Wichtigkeit auf keinen Fall geschmälert werden dürfen – fehlt es dennoch bislang an einer gesetzlichen Verankerung eines ganzheitlich verbindlichen Gewaltschutzkonzeptes mit festgelegten Mindeststandards speziell für Frauen und andere vulnerable Personengruppen, wie zum Beispiel LGBT*I*. 210 Auch wird angemahnt, dass die (psycho-)gynäkologische Versorgung geflüchteter Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, vielfach nicht ausreichend ist und der entsprechende spezifische Bedarf der Frauen nicht gewährleistet werde. 211 Wie bereit schon erwähnt, kann das Konzept Empowerment beim Recht auf Gesundheit relevant sein, jedoch existiert kein umfassendes ganzheitliches Empowerment-Gesamtkonzept. Einzelne Maßnahmen, Instrumente und Projekte ermöglichen jedoch auf den verschiedenen Ebenen die Selbstbefähigung weiblicher Geflüchteter. 212 So wird auf der individuellen Ebene der Zugang zu Informationen – damit unter anderem eine selbstbestimmte

206 Für weitere Informationen siehe die Homepage der Bundesinitiative unter http://www.gewaltschutz-gu.de/die_initiative/ [10.04.2018]. 207 Der Caritasverband Rhein-Mosel-Ahr e.V. wird bei der Behandlung psychosozialer Leiden Geflüchteter durch diese finanziellen Mittel unterstützt – auch bei Frauen, die sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben. Für weitere Beispiele vgl. Deutscher Bundestag (2015b), 6. 208 Zum Beispiel in Sachsen und in Brandenburg. Siehe dazu Staatsministerium des Innern. Freistaat Sachsen (2016) und Land Brandenburg, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (2016). 209 Zum Beispiel Frauenhäuser und das anonyme Hilfstelefon »Gewalt gegen Frauen«. 210 Flüchtlingsrat Niedersachsen (2017), 3. 211 CEDAW-Allianz (2016), 31. 212 Für einen ausführlichen Überblick über bestehende Projekte im Bereich Empowerment für weibliche Geflüchtete siehe Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband (2016).

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Entscheidung getroffen werden kann – ermöglicht; zum Beispiel durch das Web-Informationsportal Zanzu der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 213 oder die Einzelfallberatungen von Organisationen wie pro familia und AWO. In der Einzelfallberatung könnte auch ein Unterstützungsmanagement erfolgen, um gemeinsam mit den geflüchteten Frauen die bestehenden Lebensumstände im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten zu verbessern. 214 Abschließend lässt sich allerdings feststellen, dass weibliche Geflüchtete erhöhten Informationsbedarf zu gesundheitsrelevanten Themen – wie zum Beispiel Schwangerschaft und genitale Beschneidung – haben, der durch das bestehende konventionelle Angebot nicht gedeckt wird. Dabei könnte auch mit niederschwelligen Angeboten – wie Gesprächskreisen – der Zugang in einer vertrauensvollen und kultursensiblen Atmosphäre unter Frauen geschaffen werden. 215 Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund von Sprachbarrieren werden von weiblichen Geflüchteten nur selten beklagt; stattdessen berichten diese häufiger von einer wahrgenommenen Diskriminierung und Stigmatisierungen, die einen negativen Einfluss auf ihre Gesundheit und ihr Empowerment haben. 216 Auf der Gruppenebene zeigt sich, dass sich weibliche Geflüchtete – trotz der erwähnten Schwierigkeiten – durch Selbstorganisationen, wie zum Beispiel Women in Exile, mobilisieren und ihre Rechte selbstbestimmt einfordern. Dies knüpft an ein politisches Verständnis von Empowerment an: Die Einzelnen werden nicht nur ermächtigt, ihr je eigenes Leben mit all den Rechten und Freiheiten selbstbestimmt leben zu können; sie werden auch dazu empowert, ihre Rechte gegenüber den Pflichtenträgern (Staaten) im Kollektiv einzufordern. Auf institutioneller Ebene besteht Handlungsbedarf

213 Dort werden in 13 verschiedenen Sprachen Informationen zu den Bereichen Körperwissen, Familienplanung und Schwangerschaft, Verhütung, Beziehung und Gefühle, HIV/STI und Sexualität sowie Rechte und Gesetze in Deutschland zur Verfügung gestellt. Die Rechte beziehen sich jedoch nur auf versicherte Frauen. Siehe dazu https://www.zanzu.de/de [13.08.2018]. 214 Zum Beispiel wäre nach Artikel 4(5) AufnG in Bayern ein Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft nach Abschluss des Verfahrens für Familien und Alleinerziehende mit einem minderjährigen Kind und in begründeten Einzelfällen möglich, wie zum Beispiel bei Schwangerschaft und Krankheit. 215 Kurmeyer et al. (2017), 27–28. 216 Schouler-Ocak/Kurmeyer (2017), 43.

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aufgrund eines fehlenden Gesamtkonzeptes auf Bundesebene. An den folgenden Beispielen wird aber durchaus deutlich, inwiefern das Empowerment-Konzept auch auf institutioneller Ebene eingebunden werden kann. 5.4 Best Practice-Beispiele Eine niedrigschwellige Gesundheitsförderung für weibliche Geflüchtete kann u.a. durch den Zugang zu Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit in den Muttersprachen in Frauenräumen erfolgen. 217 Hack et al. stellen dabei die ethische Frage, ob »wir« in der Lage sind, adäquat – durch Maßnahmen, Konzepte, Praktiken etc. – auf eine bestehende Vulnerabilität zu reagieren. 218 In Folge wird an zwei unterschiedlichen Beispielen – Women in Exile und pro familia – verdeutlicht, wie eine empowernde Antwort auf eine bestehende Vulnerabilität aussehen kann, ohne die weiblichen Geflüchteten in ihrem Recht auf Gesundheit zu bevormunden. Women in Exile 219 ist eine Initiative, die 2002 in Brandenburg von geflüchteten Frauen gegründet wurde. Basierend auf der doppelten Diskriminierungserfahrung als Frau und als Geflüchtete, organisierte sich die Initiative für die Rechte geflüchteter Frauen. Dabei liegt der Fokus von Women in Exile auf der Abschaffung aller diskriminierenden Gesetze gegen Geflüchtete sowie auf den Verschränkungen von Rassismus und Sexismus. 220 Um dies durchzusetzen, tourten die Frauen u.a. im Jahr 2014 durch Deutschland, um sich mit anderen vernetzen und austauschen zu können. Aber auch in Workshops und zahlreichen Veranstaltungen (zum Beispiel Empowerment-Seminaren) sollen Frauen darüber informiert werden, welche Rechte sie haben und wie sie diese einfordern können. 221 Im Jahr 2017 startete Women in Exile & Friends – unter Beteiligung von solidarischen Akti-

217 Bähr (2015), 6. 218 Hack et al. (2017), 284. 219 Siehe dazu die Homepage von Women in Exile unter https://www.women-inexile.net [10.04.2018]. 220 Für die Wechselwirkungen zwei oder mehrerer Dimensionen, die diskriminierend wirken können, hat sich der Begriff »Intersektionalität« durchgesetzt. Siehe dazu Winker/Degele (2009), 10. Für weiter Informationen siehe Domenig/Cattacin (2010), 40–43. 221 Körting (2016) und Vollrath (2014).

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vist*innen ohne Fluchthintergrund – ein Projekt zum Thema »Recht auf Gesundheit für Flüchtlingsfrauen«, in dem geflüchtete Frauen durch Workshops und Veranstaltungen gezielt über das Thema Gesundheit informiert werden. 222 Insbesondere soll dabei die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert werden sowie ein Austausch und eine Vernetzung mit relevanten Akteuren erfolgen. Das Projekt hat das Ziel, dass weibliche Geflüchtete empowert werden, sich selbst über ihre Rechte zu informieren und diese Rechte im Bereich Gesundheit auch einzufordern. 223 Die Organisation knüpft mit ihrer Arbeitsweise an der situativen und pathogenen Vulnerabilität sowie einem politischen Verständnis von Empowerment auf der Gruppenebene an. So setzt sich Women in Exile dafür ein, die Öffentlichkeit für die (geschlechtsspezifischen) Bedürfnisse von geflüchteten Frauen zu sensibilisieren. Zudem deckt die Organisation kontextspezifische Bedürfnisse von weiblichen Geflüchteten auf und identifiziert, inwiefern der soziale Kontext der Erfüllung/dem Eingehen auf diese Bedürfnisse entgegensteht. Durch die inhaltliche Ausrichtung, Fragen von Rassismus und Diskriminierung zu begegnen, beleuchtet die Organisation auch mögliche pathogene Vulnerabilitäten. Hinsichtlich des Empowerments kann die Initiative selbst schon als beachtliche Form der Selbstbefähigung eingestuft werden, indem sich »Betroffene« selbstorganisiert für ihre eigenen Rechte stark machen und durch ihr Engagement flüchtlingsrelevante Themen auf die politische und gesellschaftliche Agenda setzen. So treten die weiblichen Geflüchteten aus einer Position relativer Machtunterlegenheit heraus und eignen sich eine zunehmende (politische) Entscheidungsmacht und demokratisches Partizipationsvermögen an. Darüber hinaus finden die »Betroffenen« in der Selbstorganisation gegenseitige Unterstützung und Vernetzung, um ein selbstbestimmtes Leben (wieder-)herzustellen. 224 Pro familia wurde 1952 in Kassel gegründet und ist ein nichtstaatlicher deutscher Verband für Sexual-, Schwanger- und Partnerschaftsberatung. Ihr Angebot umfasst u.a. Beratung, Information und sozialpädagogische Unterstützung zu den Themen Sexualität. Pro familia setzt sich für das Recht auf selbstbestimmte Sexualität und Fortpflanzung und auf selbstbestimmte se-

222 Women in Exile & Friends (2017). 223 Women in Exile (2017). 224 Schiffauer et al. (2017), 251.

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xuelle Orientierung und Identität sowie das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit ein. Im Zusammenhang mit Flucht bietet der Verband fremd- und mehrsprachige Broschüren an, qualifiziert seine Mitarbeiter*innen für eine migrationssensible Beratung und organisiert Projekte, die einen besseren Zugang zu Information und Beratung schaffen. 225 Der pro familia-Kreis Groß-Gerau schuf das Projekt »Muttersprachliche Lotsinnen für weibliche Flüchtlinge«, mit dem die physische und psychische gesundheitliche Versorgung von weiblichen Geflüchteten in Bezug auf Familienplanung verbessert wird. 226 Die Situation vor dem Projekt war gekennzeichnet u.a. durch den Einsatz von Kindern und Arbeitskollegen als Dolmetschern sowie einer problematischen, nicht wertneutralen Übersetzung durch professionelle und private Dolmetscher. Dies führte zu einem Setting, in dem die weiblichen Geflüchteten in der Beratung in beschämende Situationen gerieten oder in denen tabuisierte Themen gar nicht angesprochen wurden. Um dem entgegenzuwirken, stellt pro familia eigens geschulte muttersprachliche Lotsinnen an, die sich im Rahmen einer Schulung mit Frauenthemen wie zum Beispiel Schwangerschaft auseinandersetzten und dafür sensibilisiert wurden. 227 Ein weiteres Projekt bietet der pro familiaOrtsverband Frankfurt am Main an, in dem weibliche Geflüchtete in Unterkünften über Familienplanung, Frauengesundheit und soziale Hilfen informiert werden. Dieses niederschwellige Angebot schafft einen »Raum« für gesundheitsrelevante Themen sowie gegenseitigen Austausch und Vernetzung hin zu einer Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung, frei über den eigenen Körper entscheiden zu können. 228 Pro familia knüpft mit diesen Initiativen an der situativen und inhärenten Vulnerabilität an und identifiziert dabei bestehende Herausforderungen: In Groß-Gerau werden bestehende Problematiken durch Dolmetscher bei Themen der Sexualität aufgedeckt. In Frankfurt wird hingegen aufgezeigt, dass geflüchtete Frauen unter fehlenden Informationen leiden und somit die Orientierung im deutschen Gesundheitswesen erschwert sei. 229 Dies deckt

225 Siehe dazu die Homepage von pro familia unter https://www.profamilia.de [10.04.2018]. 226 Pro familia-Kreis Groß-Gerau (2016), 25. 227 Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband (2016), 17–20. 228 Ebd., 33–35. 229 Ebd., 20.

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bestehende Herausforderungen auf, mit denen geflüchtete Frauen in ihrer situativen Vulnerabilität konfrontiert sind. Den Herausforderungen wird mit einem Empowerment-Verständnis begegnet, indem die Frauen durch eine (kultursensible) Aufklärung und Begleitung unterstützt werden. Insbesondere im Projekt des pro familia-Kreises Groß-Gerau haben weibliche Geflüchtete die Chance, ihre Handlungskompetenz in doppelter Weise zu erfahren: Sie können als Frau selbstbestimmt über ihre eigene Gesundheit entscheiden und als Lotsin andere Frauen darin stärken.

6. S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Ausführungen zeigen eine erhöhte Vulnerabilität weiblicher Geflüchteter während der Flucht und in den Aufnahmeländern. So sind sie häufiger mit geschlechtsspezifischen Herausforderungen konfrontiert, die das Recht auf Gesundheit – einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit – beeinträchtigen können. Ob jedoch Vulnerabilität auftritt, hängt von zahlreichen Faktoren ab, die durch staatliche Akteure beeinflusst werden können. Dies zeigt sich insbesondere bei der erhöhten Gefahr, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt zu erfahren, denn durch einen adäquaten Schutz seitens der verantwortlichen Akteure könnten die bestehenden Risiken deutlich eingedämmt werden. Ob Vulnerabilität verstärkt wird, kann demnach vom staatlichen Handeln abhängen. In Deutschland liegen zwar keine quantitativen Daten über die Lebenslage und den Gesundheitszustand von weiblichen Geflüchteten vor, dennoch wird in den wenigen qualitativen Studien deutlich, dass eine ausgeprägte psychische und körperliche Symptombelastung bei Frauen besteht. Auch zeigen sich Herausforderungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit durch einen starken Fokus auf die Fortpflanzungsfähigkeit der Frau. Ebenso besteht bei der psychischen Gesundheit nach wie vor eine eklatante Versorgungslücke in Deutschland, die das Recht auf Gesundheit als erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit nur unzureichend gewährt. Es bedarf demnach in Deutschland eines gendersensiblen Gesamtansatzes, der den biologischen und sozial konstruierten Faktoren sowie den »besonderen« Bedürfnissen weiblicher Geflüchteter gerecht wird. Niederschwellige Angebote – wie zum Beispiel Gesprächskreise – einzelne Projekte und Maßnahmen sowie Selbstorganisati-

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onen erweisen sich durchaus als wichtig; nur sollte die Verwirklichung nicht lediglich durch Dritte getragen werden. Für die Praxis können dabei entsprechende Ansätze, wie zum Beispiel die transkulturelle Kompetenz von Domenig, das Empowerment-Verständnis und Best Practice-Beispiele, dienlich sein. Die Entwicklung in Deutschland hinsichtlich des Rechts auf Gesundheit bleibt abzuwarten. Bislang ist im Koalitionsvertrag nur vorgesehen, dass die Akteure im Gesundheitswesen verstärkt mehrsprachige gesundheitsfördernde Angebote unterbreiten sollen. Durch den starken Fokus des Vertrages auf effizientere (Asyl-)Verfahren lässt sich vermuten, dass größere Veränderungen in der gesundheitsrelevanten Versorgung für geflüchtete Frauen ausbleiben werden. 230

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Autorinnen und Autoren mit Adressen

PD Dr. phil. Lutz Bergemann Wiss. Mitarbeiter an der Professur für Ethik in der Medizin Geschäftsstelle des Klinischen Ethikkomitees am UK Erlangen Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Kochstraße 4, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. (TK) Yesim Erim Ärztliche Leiterin, Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung Universitätsklinik Erlangen Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A. Professur für Ethik in der Medizin Leiter der Geschäftsstelle des Ethikkomitees am UK Erlangen Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected]

282 | A UTORINNEN UND A UTOREN MIT A DRESSEN

Sonja Gaag, cand. med. Doktorandin an der Abt. Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Hannah Geks, cand. jur. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht Schillerstraße 1, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Elmar Gräßel Leiter des Zentrums für Medizinische Versorgungsforschung Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik, UK Erlangen Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Christina Heinicke, Ärztin Doktorandin an der Professur für Ethik in der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Dr. phil. Martin Huth Institut für Philosophie, Universität Wien Universitätsstraße 7 (NIG), A – 1010 Wien Österreich E-Mail: [email protected] Dr. Ernesto Jaramillo, MD World Health Organization Stop TB Department 20, Avenue Appia, CH – 1211 Genève Schweiz E-Mail: [email protected]

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

MIT

A DRESSEN | 283

Dr. jur. Ibrahim Kanalan Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg (CHREN) Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Schillerstraße 1, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Dipl.-Pol. Sabine Klotz Wiss. Mitarbeiterin an der Professur für Ethik in der Medizin GRK »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. jur. Markus Krajewski Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Erlangen-Nürnberg Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg (CHREN) Schillerstraße 1, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Dr. PH Maren Mylius, Ärztin Post-Doc-Stipendiatin an der Professur für Ethik in der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] PD Dr. med. Andreas Reis, MD, MSc Global Health Ethics, World Health Organization 20, Avenue Appia, CH – 1211 Genève Schweiz E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Katharina Schieber Wiss. Mitarbeiterin an der Abt. Psychosomatik und Psychotherapie UK Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected]

284 | A UTORINNEN UND A UTOREN MIT A DRESSEN

PD Dr. phil. fac. theol. Martina Schmidhuber Wiss. Mitarbeiterin an der Professur für Ethik in der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected]