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German Pages 254 Year 2016
Caroline Welsh, Christoph Ostgathe, Andreas Frewer, Heiner Bielefeldt (Hg.) Autonomie und Menschenrechte am Lebensende
Menschenrechte in der Medizin | Human Rights in Healthcare | Band 3 hrsg. von Prof. Dr. Dr. Heiner Bielefeldt und Prof. Dr. Andreas Frewer, M.A.
Caroline Welsh, Christoph Ostgathe, Andreas Frewer, Heiner Bielefeldt (Hg.)
Autonomie und Menschenrechte am Lebensende Grundlagen, Erfahrungen, Reflexionen aus der Praxis
Mit freundlicher Unterstützung der Emerging Fields Initiative (EFI) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
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Inhalt
Autonomie und Menschenrechtsschutz am Lebensende. Eine Einführung
Caroline Welsh im Namen der Herausgeber | 7
I. SELBSTBESTIMMUNG : GRUNDLEGUNG, STÄRKUNG, RECHTLICHE STÜTZUNG Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende. Überlegungen aus ethischer Sicht
Jan P. Beckmann | 27 Menschenwürde und Autonomie am Lebensende. Perspektiven der internationalen Menschenrechte
Heiner Bielefeldt | 45 Selbstbestimmung als Zwang? Freiheitsrechte und medizinische Entscheidungen am Lebensende unter den Bedingungen knapper Ressourcen
Oliver Tolmein | 67 Literarische Reflexionen selbst- und fremdbestimmten Sterbens. Medizingeschichtliche Situierung und Aktualität einer Sterbeszene in Manns Buddenbrooks
Caroline Welsh | 95
Lebensende und Sterben – ein zu wenig bekanntes Feld. Empirische Studien zum Meinungsbild in der deutschen Bevölkerung
Constanze Hübner, Andreas Frewer | 119
II. PRAXIS IM GESUNDHEITSWESEN Grenzerfahrungen in der Begegnung des Arztes mit dem Kranken angesichts des Lebensendes
Klaus Gahl | 141 Würdewahrende Pflege – eine Illusion? Organisationale Rahmenbedingungen pflegerischer Praxis
Marianne Rabe | 165 Ärztlich assistierter Suizid – Reflexionen eines Palliativmediziners
Christoph Ostgathe | 185 Praxis und Probleme des assistierten Suizids in der Schweiz aus rechtsmedizinischer Sicht
Christine Bartsch | 203
III. LEBENSQUALITÄT AM LEBENSENDE. LEHREN AUS DER BEHINDERTENRECHTSBEWEGUNG Fragilität des Körpers. Ein menschenwürdiges Leben durch persönliche Assistenz
Marianne Hirschberg | 223 Überraschende Erfahrung von Lebensqualität
Ein Interview mit Dinah Radtke | 237 Autorinnen und Autoren
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Autonomie und Menschenrechtsschutz am Lebensende Eine Einführung C AROLINE W ELSH IM N AMEN
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Die angemessene Gestaltung des Lebensendes ist gegenwärtig eine der vordringlichen Aufgaben der Gesellschaftspolitik im Allgemeinen und der Gesundheitspolitik im Besonderen. Dazu gehört eine adäquate Sterbebegleitung, die in ein umfassenderes Konzept zur menschenwürdigen Gestaltung des Lebensendes eingebettet sein sollte. Ein solches Konzept sollte die Betreuung, Pflege und medizinische Versorgung von Menschen mit Altersgebrechlichkeit, mit Demenz oder von terminal Kranken mit einschließen – und zwar in der häuslichen Umgebung ebenso wie in Pflegeinstitutionen und Krankenhäusern. Es sollte darüber hinaus die Weiterentwicklung der Palliativmedizin und Hospizversorgung sowie auch den Schutz vor physischen, psychischen und medikamentösen Misshandlungen im Gesundheitswesen beinhalten. Menschenrechtspolitisch entwickelt sich erst langsam ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines spezifisch auf die Probleme am Lebensende 1
Wir teilen die Auffassung, dass es sinnvoll ist, sich um eine gendersensible Sprache zu bemühen. Alle diesbezüglich konkret vorgeschlagenen Wege haben aber leider offenkundige Nachteile. Daher haben wir den einzelnen Autoren die Wahl der Form freigestellt.
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hin ausgerichteten Menschenrechtsschutzes. Es gibt einzelne Gerichtsurteile, insbesondere zu Forderungen eines – nach wie vor höchst umstrittenen – Rechts auf einen assistierten Suizid2 und zu menschenrechtsverletzenden Zuständen, u.a. auch in deutschen Pflegeheimen,3 sowie eine Empfehlung des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde bei terminal Kranken und Sterbenden.4 Doch handelt es sich hier größtenteils noch um Neuland.5 Welche Menschenrechte sind in der letzten Lebensphase besonders gefährdet? Wo liegen die Herausforderungen und Probleme des Menschenrechtsschutzes am Lebensende? Reichen die vorhandenen Konventionen und Erklärungen zum Schutz der Menschenrechte am Lebensende aus oder wäre deren Kodifizierung im Rahmen einer Konvention für die Rechte Älterer ratsam? Am 5. und 6. November 2015 hat der Bundestag über zwei für die rechtspolitische Absicherung und den Menschenrechtsschutz am Lebensende wichtige Gesetzesänderungen abgestimmt: zunächst über das »Gesetz zur Förderung der Palliativ- und Hospizversorgung«, am Folgetag dann über den neuen § 217 StGB, das »Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung«.6 Die enge Aufeinanderfolge verdeutlicht, wie sehr beide Beschlüsse miteinander verzahnt sind. Ohne staatliche Maßnahmen zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebensendes, unabhängig von Einkommen und Staatszugehörigkeit, könnte die strengere Regelung des assistierten Suizids wie ein abstrakter Moralismus wirken. Bereits in der Begründung des fraktionsübergreifenden Entwurfs zur »Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung«7 heißt es:
2
Vgl. beispielsweise u.a. zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Pretty vs. UK die Beiträge von Tolmein (2006), 208–226 und Bartsch im vorliegenden Band.
3
UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2011), Nr. 27;
4
Parliamentary Assembly Council of Europe (1999); vgl. dazu Körtner (2013),
vgl. hierzu auch Sethi et al. (2011). 670–696. 5
Dies gilt auch mit Blick auf die Menschenrechte Älterer im Allgemeinen; vgl. Secretary General Report (2011). Zur aktuellen Situation siehe Bielefeldt in diesem Band.
6
Vgl. Deutscher Bundestag (2015a) und (2015b).
7
Deutscher Bundestag (2015a), 9.
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»die jüngsten Initiativen zur Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung sowie zur Stärkung der Pflege« sollen zusammen mit den »Möglichkeiten der Vorsorgevollmacht oder einer Patientenverfügung« den Rahmen bilden, »um gemeinsam mit den Regelungen zur Verhinderung der Ausbreitung der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe eine Kultur der Würde auch am Ende des Lebens zu stärken«.8 Der Bundestag versteht demnach die geschäftsmäßige Unterstützung des Suizids gerade nicht als Alternative zum natürlichen, medizinisch und menschlich begleiteten Sterben. Unter Berufung auf Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) entscheidet er sich stattdessen für Maßnahmen zur »Stärkung der Autonomie auch am Ende des Lebens« und zum »Schutz der Selbstbestimmung«. Hier, in Artikel 1 Absatz 1 GG, findet sich auch die zentrale Aussage des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«. Artikel 1 Absatz 2 GG leitet sodann aus diesem Achtungs- und Schutzauftrag ein Bekenntnis zu den »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« ab. Die angestrebte Kultur der Würde am Lebensende wird hier auf doppelte Weise charakterisiert. Sie wird erstens über den Bezug zum Grundgesetz implizit an eine spezifische menschen- und verfassungsrechtlich geprägte Würdekonzeption gekoppelt, deren zentrale Idee die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde und ihre Funktion als Fundament der Menschen- und Grundrechte ist.9 Zweitens werden »Autonomie« und »Selbstbestimmung« am Lebensende als zentrale Aspekte dieser Kultur der Würde hervorgehoben. Um eine solche »Kultur der Würde am Ende des Lebens« zu entwickeln, bedarf es auf inhaltlich-konzeptioneller, strukturell-organisatorischer, gesundheits- und gesellschaftspolitischer Ebene allerdings noch erheblicher Anstrengungen. Hinsichtlich der notwendigen Versorgungsstrukturen hatte Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Hospizund Palliativversorgung auf einige Schwachstellen desselben hingewiesen.
8
Deutscher Bundestag (2015a), 9, ebenso die beiden folgenden Zitate.
9
Zur juristischen Debatte um den Stellenwert der Menschenwürde im Grundgesetz als »Grundsatz« oder subjektives, einklagbares Recht vgl. Anderheiden (2012), 214–215. Zur Menschenwürde als Fundament des menschenrechtlichen Universalismus vgl. Bielefeldt (2016) und Joerden et al. (2013).
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Gestorben werde »auch in anderen Abteilungen im Krankenhaus, eben nicht nur in der guten Versorgung einer Palliativstation«. Die »allgemeine Palliativversorgung in den normalen Krankenhausstationen« bleibe aber, obwohl sie »oft nicht funktioniert« im Gesetzentwurf unberücksichtigt.10 Nachbesserungsbedarf gebe es auch bei der Qualitätssicherung der geplanten Ausweitung der Palliativversorgung in Alten- und Pflegeheimen. »Es sind schon viele, die eine Palliativversorgung brauchen würden. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass in Pflegeeinrichtungen fast zwei Drittel der Menschen im ersten Jahr nach dem Einzug versterben. Und tatsächlich sind die Pflegeheime einer der weißen Flecken auf der Landkarte der Palliativversorgung.«11 Auch in der Plenardebatte des Bundestags am 5. November 2015 wurde deutlich, dass das neue Gesetz zur »Hospiz- und Palliativversorgung« lediglich einen Anfang bildet, auf den es aufzubauen gilt. So räumte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) ein: »Das kann aus meiner Sicht nur ein wichtiger, weiterer Schritt im Aufbau der Palliativmedizin sein. Damit wird der Bedarf bei weitem nicht gedeckt. Das gebe ich an dieser Stelle offen zu. Aber wir müssen dieses System langsam aufbauen, eine bessere Qualität erreichen und mehr Geld in die Hand nehmen.«12 Elisabeth Scharfenberg (Bündnis 90/Die Grünen) mahnte an: »Das Hospizund Palliativgesetz ist ein Schritt auf dem Weg zu einer guten Hospiz- und Palliativversorgung. Es ist ein Schritt, den wir gehen müssen, und es ist wichtig, diesen Schritt weiterzugehen. Wir legen jetzt erst einige Meter zurück; aber einige Kilometer Wegstrecke liegen noch vor uns.«13 Von der Festschreibung der Palliativversorgung am Lebensende als Menschenrecht, wie es Die Linke in ihrem Entwurf14 forderte, ist die aktuelle Politik demnach noch weit entfernt. Das gilt für Palliativstationen in den Krankenhäusern und Teams der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV), die Schwerkranke und Sterbende mit besonders komplexen Symptomen und Problemen, die einer aufwändigen Versorgung bedürfen, behandeln und begleiten. Es gilt in noch stärkerem Maße für die Allgemeine
10 Radbruch (2015). 11 Zitiert aus Schröder/Zerback (2016), o. S. 12 Deutscher Bundestag (2015c), 12890 D. 13 Ebd., 12891 D. 14 Fraktion Die Linke (2015).
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Ambulante Palliativversorgung (AAPV), welche die ärztliche und pflegerische Versorgung sowie die psychosoziale und gegebenenfalls spirituelle Begleitung der weitaus größeren Bevölkerungsgruppe am Lebensende gewährleisten soll und nach aktueller Gesetzeslage zwar Bestandteil der Regelversorgung sein sollte, aber bisher nicht als Leistung – und somit nicht dem Aufwand entsprechend – erlösrelevant ist. Das »Recht auf Gesundheit« schließt aber jede palliative Versorgung am Lebensende ein.15 Hier ist der Staat dazu verpflichtet, die entsprechende Versorgungsstruktur zügig auszubauen und einen diskriminierungsfreien Zugang zu ermöglichen. Dass Menschen – auch angesichts demographischer Entwicklungen und neuer medizinischer Möglichkeiten der Lebensverlängerung – ihre letzte Lebensphase und ihr Sterben ohne vermeidbares physisches und psychisches Leiden und unter Respekt ihrer Würde erleben können, ist eine Herausforderung, die sich nur in multidisziplinärer Perspektive und in interdisziplinärer Zusammenarbeit angehen lässt. Es liegt daher nahe, die durch die verabschiedeten Gesetze angestrebten Verbesserungen aus der Perspektive unterschiedlicher Wissens- und Praxisfelder konstruktiv und kritisch zu begleiten. Wie könnte eine Kultur des Respekts der Würde und der Selbstbestimmung am Lebensende aussehen? Welche Autonomie-Konzepte bieten sich zur Umsetzung in die Praxis an, und welchen Beitrag können die Menschenrechte auf konzeptioneller, inhaltlich-philosophischer ebenso wie auf politisch-rechtlicher Ebene dazu leisten? Welche gemeinsamen Schnittstellen und Wechselwirkungen ergeben sich durch eine stärkere Vernetzung der zunehmend spezialisierten Fachdiskurse zum Lebensende? Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge suchen Antworten auf diese Fragen. Sie fokussieren aus unterschiedlichen disziplinären Blickrichtungen auf Probleme, Herausforderungen und Lösungsansätze zur Verbesserung der Betreuung Schwerkranker und Sterbender am Lebensende. Sie tun dies unter besonderer Berücksichtigung der »Autonomie« und der Menschenrechte.
15 Vgl. UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2000) und Bielefeldt in diesem Band.
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A UTONOMIE , M ENSCHENWÜRDE , M ENSCHENRECHTE Wenn von Autonomie am Lebensende die Rede ist, so zumeist in Debatten darüber, ob es ein Recht terminal Kranker und Sterbender auf einen (ärztlich) assistierten Suizid oder gar auf Tötung auf Verlangen gibt. Diese Kontroverse wird im vorliegenden Band nicht geführt, wenn auch einige Beiträge darauf Bezug nehmen. Ebenso wenig geht es um Möglichkeiten und Herausforderungen der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht als Instrumente zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende.16 Stattdessen konzentrieren sich die Beiträge auf spezifische Möglichkeiten, Autonomie und Selbstbestimmung am Lebensende zu fördern, und fragen nach Formen ihrer menschenrechtlichen Fundierung. Auf eine einheitliche Verwendungsweise des Autonomie-Begriffs wurde bewusst verzichtet, da es darum ging, das breite Spektrum seines Gebrauchs, aber auch das Potenzial des Begriffs für einen menschenwürdigen Umgang mit dem Lebensende zu erkunden. Daher folgt an dieser Stelle ein problemorientierter Einblick in die medizinethisch und menschenrechtlich relevanten Autonomie-Konzepte, wobei insbesondere die Schnittstellen zwischen diesen Wissensfeldern ausgeleuchtet werden sollen. Mit der inhaltlichen Ausrichtung »Autonomie und Menschenrechte« am Lebensende knüpft der Band an diejenige Forschung zum Thema Sterben an, die sich in den letzten Jahren gleichfalls aus interdisziplinärer Perspektive ausführlich den Themenschwerpunkten »Sterben und Menschenwürde«, »Menschenwürde am Lebensende«, »Autonomie und Menschenwürde am Lebensende«17 gewidmet hat. Die Profilierung der Menschenrechte gegenüber der einseitigen Betonung der Würde und die Stärkung von nicht auf empirische Selbstbestimmungsfähigkeit reduzierbaren oder gar leistungsabhängigen Autonomie-Konzeptionen sollen dazu beitragen, medizinethische und menschenrechtliche Fragestellungen stärker als bisher systematisch zu verschränken.
16 Zum Einfluss verschiedener Konzeptionen von Autonomie und Fürsorge auf den Umgang mit Patientenverfügungen vgl. Platzer (2010). 17 Neben dem einschlägigen Handbuch zum Thema Sterben und Menschenwürde Anderheiden/Eckart (2012) vgl. auch Rothhaar (2015) und Körtner (2013) sowie Wittwer et al. (2010).
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Die Begriffe »Autonomie« und »Menschenwürde« sind Kernelemente sowohl in der Biomedizin und Medizinethik als auch des Menschenrechtsdiskurses. Dabei scheint in vielen bio- und medizinethischen Debatten der Autonomie-Begriff stärker verankert zu sein, während sich die Menschenwürde vor allem über ihre Bedeutung als Fundament der internationalen Menschenrechte profiliert hat. Beide Begriffe sind durch eine offene, eher unscharfe Semantik gekennzeichnet – nicht etwa weil sie generell nicht klar definiert würden, sondern weil sie je nach theoretischem Ansatz und disziplinärer Ausrichtung unterschiedlich gefasst werden. Diese Bedeutungsvielfalt innerhalb und zwischen einzelnen Fachdiskursen macht nicht nur die Problematik, sondern auch das produktive Potenzial dieser Begriffe aus – und zwar insbesondere dort, wo in Phasen des Umbruchs und der Neuorientierung innerhalb einzelner Disziplinen Begriffe und Konzepte zwischen den Disziplinen ausgetauscht werden. Für die Zusammenführung medizinethischer und menschenrechtlicher Fragestellungen – und darum geht es im vorliegenden Band – sind die folgenden Austauschprozesse zwischen medizinethischen und menschenrechtlichen Diskursen relevant. Jenseits seiner philosophischen Tradierung spielt der AutonomieBegriff in der Bio- und Medizinethik eine zentrale Rolle. Eingeführt als Alternative zum paternalistischen Arzt-Patienten-Verhältnis, auch angesichts zunehmender Möglichkeiten der Hochleistungsmedizin, galt die Patientenautonomie, gestärkt durch die Gesetze (§ 630d BGB und § 1901a BGB) zur Einwilligung nach erfolgter Aufklärung (»informed consent«) und zur Patientenverfügung sowie theoretisch profiliert etwa in dem einflussreichen Band zur Prinzipienethik von Beauchamp und Childress,18 über Dekaden als medizin- und bioethisches Leitprinzip.19 Diese Konzeption des Autonomie-Begriffs hat sich in den letzten Jahren insbesondere hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf Fragen des Lebensanfangs und Lebensendes als problematisch herausgestellt. Kennzeichnend für die aktuelle Unzufriedenheit in der Bio- und Medizinethik mit einem auf rationale Selbstbestimmung reduzierten Autonomie-Begriff ist die Bestandsaufnahme aus Felix
18 Beauchamp/Childress (2013), die Erstauflage ihrer Principles of Biomedical Ethics erschien 1979. 19 Baranzke (2013), 635–650. Diese Darstellung ist problemorientiert verkürzt. Zur Vielfältigkeit der Autonomie-Konzepte auch in der Medizin- und Bioethik siehe Illhardt (2008), Härle (2012) und Wiesemann/Simon (2013).
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Thieles20 Einführung in den ersten Teil des interdisziplinären Handbuchs Menschenwürde und Medizin.21 Thiele bezweifelt, dass »der Medizinethik mit den etablierten Konzepten, allen voran dem Prinzip der Autonomie, die geeigneten Mittel für die Bewältigung der anstehenden Debatten zur Verfügung stehen«.22 Als Beispiel für die innere Sinngrenze des AutonomieBegriffs führt er die Situation Demenzkranker an: »Ein im Endstadium Demenzkranker ist aufgrund fehlender Autonomie genauso wenig dazu in der Lage, seinen Willen kundzutun, wie ein Embryo«. Als Alternative zu diesem in bioethischer Theorie auf die rationale Selbstbestimmung reduzierten Autonomie-Begriff präsentiert Thiele – mit explizitem Verweis auf den Gebrauch im menschenrechtlichen Kontext – den Begriff der Menschenwürde.23 »Und tatsächlich scheint es doch […] überzeugender zu sein, über die Würde eines Demenzkranken, eines Menschenaffen oder eines Embryos zu sprechen, wo es keinen Sinn macht, über deren Autonomie zu diskutieren«. Felix Thiele zufolge werde daher die Menschenwürde »als Leitmotiv und zentrale Begründungsinstanz der praktischen Philosophie und Bioethik […] das Mantra der Autonomie verdräng[en]«. Einen etwas anderen Weg schlagen Heike Baranzke und Gunnar Duttge in ihrem 2013 erschienenen Band Autonomie und Würde: Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht und Markus Rothhaar in seinem Aufsatz »Autonomie und Menschenwürde am Lebensende« ein.24 Gleichfalls unzufrieden mit dem auf Selbstbestimmung reduzierten Autonomie-Begriff, knüpfen auch sie am menschenrechtsphilosophischen Würdebegriff an. Indem sie in ihren Begriffsexplikationen die Abhängigkeit des Würdebegriffs von der jeweiligen Autonomie-Konzeption herausstellen, versuchen sie jedoch zugleich die Autonomie für die Medizinethik durch einen Rückgriff auf Immanuel Kants transzendentale Autonomie-Konzeption für die Bio- und Medizinethik zu rehabilitieren. Trotz dieser Ansätze zur Reformulierung bleibt die Auseinandersetzung um den Autonomie-Begriff am Lebensende an die Debatte um den assistierten Suizid und die Tötung auf Verlangen
20 Thiele (2013). 21 Joerden et al. (2013). 22 Thiele (2013), 13, ebenso das folgende Zitat. 23 Ebd., 14, ebenso die folgenden Zitate. Zur menschenrechtlichen Konzeption des Würdebegriffs in der Bioethik vgl. auch Knoepffler (2004). 24 Baranzke/Duttge (2013b); Rothhaar (2015).
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gebunden. Deshalb wird dort, wo es um die Gestaltung des Lebensendes geht, meist der Begriff der Menschenwürde dem der Autonomie vorgezogen.25 Im menschenrechtlichen Kontext kommt dem Begriff der Menschenwürde bereits im Gründungsdokument der Menschenrechte, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), eine tragende Rolle zu. Entsprechend prominent vertreten ist er seither sowohl in der Menschenrechtsphilosophie als auch in internationalen Menschenrechtsdokumenten und einigen nationalen Verfassungen sowie in der rechtswissenschaftlichen Literatur. Obwohl das Recht auf Selbstbestimmung als Manifestation der »Achtung der Würde des Menschen als Verantwortungssubjekt« zur Begründungsfigur der Menschenrechte als Freiheitsrechte gehört, wird der Begriff der Autonomie erst durch seine prominente Platzierung in der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) zu einem menschenrechtspolitischen Leitbegriff.26 Es erscheint allein aufgrund der zentralen Bedeutung von Medizin und Medizinethik für Menschen mit Behinderungen, dass die Nähe, wenn nicht oft sogar Gleichsetzung von individueller Autonomie einerseits und empirischer Selbstbestimmung andererseits vielleicht allzu starke Anleihen beim medizinethischen Konzept der Patientenautonomie macht. Stärker als dies in den medizinethischen Konzepten der Patientenautonomie der Fall ist, wird hier allerdings – in Verbindung mit der Forderung nach gesellschaftlicher Inklusion – ein besonderes Augenmerk auf die weitreichenden Unterstützungsleistungen gelegt, die Menschen mit Behinderungen benötigen, um innerhalb der Gesellschaft autonom bzw. selbstbestimmt leben zu können.
25 Vgl. hierzu Körtner, der das Recht auf Selbstbestimmung als Implikat der Menschenwürde begreift, aus der sich allerdings kein Menschenrecht auf Suizid herleiten ließe. Körtner wendet sich dabei sowohl gegen ein auf Unabhängigkeit und Autarkie hin ausgerichtetes Autonomiekonzept im Kontext der Sterbehilfedebatte als auch gegen eine einseitige Konzentration auf die Förderung selbstbestimmten Sterbens durch Patientenverfügungen. Vgl. Körtner (2013), insbesondere 671 und 683. 26 Ich folge hier den Ausführungen von Bielefeldt (2016), 32–36 zur Bedeutung der individuellen Autonomie im Kontext des Behindertenrechts.
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Die Neukonzeption des Autonomie-Begriffs im menschenrechtlichen Kontext, die Verschränkung von Autonomie und Menschenwürde und die Suche nach einer umfassenden Lesart der Autonomie in der Medizinethik rechtfertigen Versuche, den Autonomie-Begriff für das Lebensende in neuer Weise »fruchtbar zu machen«. Dies geschieht im vorliegenden Band auf drei Ebenen. Im stärker theoretisch ausgerichteten ersten Teil arbeitet Jan Peter Beckmann (Philosophie und Medizinethik) aus ethischer Sicht die Kriterien und Vorzüge eines an Immanuel Kant anknüpfenden Autonomie-Begriffs (Selbstgesetzlichkeit) für den Umgang mit dem Lebensende heraus. Dabei unterscheidet er klar zwischen der Autonomie als einem »den Menschen mit Notwendigkeit auszeichnende[n] Prinzip«, der Selbstbestimmung als einem auf diesem Prinzip basierenden Recht und Akten der Selbstbestimmung. Autonom ist somit jeder Mensch in allen Lebenslagen und -phasen gleichermaßen, denn die Autonomie ist nicht an empirische Fähigkeiten und Leistungen gebunden. Zu fördern und zu stärken bleibt die konkrete Manifestation der Autonomie in der Selbstbestimmung, die für viele Individuen am Lebensende durchaus stark eingeschränkt sein oder gar mehr oder weniger vollständig ausfallen kann. Ein sich auf diese Konzeption von Autonomie berufendes Menschenbild fördere, so Beckmann, den Respekt und die Achtung vor der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Menschen und laufe nicht Gefahr, fehlende Selbstbestimmungsfähigkeit durch Fremdbestimmung – beispielsweise durch übergriffige, falsch verstandene Fürsorge oder durch Handlungen, die gegen den expliziten oder impliziten Willen des Betroffenen gerichtet sind – zu kompensieren. Caroline Welsh (Literatur- und Kulturwissenschaft) greift die von Beckmann ausgearbeitete Begrifflichkeit auf, konzentriert sich jedoch auf die empirische Seite des Begriffspaars und fragt nach konkreten Formen der Selbst- und Fremdbestimmung im Rahmen ärztlicher Sterbebegleitung. Die exemplarische Gegenüberstellung zweier Sterbeszenen aus Thomas Manns Familienroman Buddenbrooks zeigt, dass die Vorstellung eines guten, selbstbestimmten Sterbens hier als ein Sterben in medico absente dargestellt wird. Die Anwesenheit von Ärzten, die einer kurativen Medizin und der Lebenserhaltung um jeden Preis verpflichtet sind, wird demgegenüber bereits um 1900 als
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fremdbestimmtes Sterben erlebt und in ihren negativen Auswirkungen auf den Sterbeprozess dargestellt. Etwas anders stellt sich der Autonomie-Begriff in den stärker aus der Menschenrechtsperspektive argumentierenden Beiträgen (Bielefeldt, Hirschberg, Radtke) dar. Hier übernimmt der Begriff der Menschenwürde die Funktion von Beckmanns Autonomie-Begriff: Sie ist – ebenso wie die Autonomie bei Beckmann – unveräußerlich, leistungsunabhängig, nicht abstufbar und garantiert so die Unhintergehbarkeit des Achtungsanspruchs eines jeden Menschen als Verantwortungssubjekt (Bielefeldt). Damit entfällt in diesen Ansätzen die Notwendigkeit, streng zwischen den Begriffen Autonomie und Selbstbestimmung zu unterscheiden. So überträgt Heiner Bielefeldt (Philosophie und Menschenrechte) den Begriff der »relationalen Autonomie«, wie er im Rahmen der Behindertenrechtskonvention entwickelt wurde, auf die Situation am Lebensende. Autonomie ist hier ein Beziehungsbegriff, der darauf verweist, dass jeder Mensch der Unterstützung durch Andere bedarf, »um selbstbestimmt leben zu können«. Dies sei bei Menschen mit Behinderungen, bei schwerer Krankheit und am Lebensende lediglich in stärkerem Maße der Fall. Die Förderung einer so verstandenen Autonomie ist damit eine menschenrechtspolitische Konsequenz neben anderen – im Beitrag ebenfalls aufgezeigten – Menschenrechtsansprüchen am Lebensende. Dazu gehört u.a. die Gewährleistung der Palliativversorgung im Rahmen des Menschenrechts auf Gesundheit. Marianne Hirschberg (Disability Studies und Gesundheitswissenschaften) geht der Frage nach, welche Theorien der Disability Studies und Erfahrungen aus der Behindertenrechtsbewegung auf das Lebensende übertragbar sind. Dieser Fragestellung ist der dritte Teil des Bandes gewidmet, der neben dem Beitrag Hirschbergs auch ein Interview mit Dinah Radtke zur Lebensqualität und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen enthält. Ausgehend vom Konzept der Fragilität des Körpers, das Behinderungen, Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedürftigkeit bezogen auf die gesamte Lebenszeit eher als Norm denn als Ausnahme betrachtet, entwickelt Hirschberg das Modell der »persönlichen Assistenz« als Lösungsansatz auch für die Stärkung der Selbstbestimmung am Lebensende. Dabei konzentriert sie sich auf Möglichkeiten und Ziele konkreter Förderung autonomer Entscheidungen im Alltag. Sowohl Bielefeldt als auch Hirschberg betonen die Bedeutung gesellschaftlicher Inklusion für die Realisierung eines selbstbestimmten Lebens auch am Lebensende; beide beziehen zudem Position ge-
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gen die Vorstellung von Hilfsbedürftigkeit als Defizit. Bielefeldt wendet sich dabei insbesondere gegen neoliberal verengte Autonomiekonzepte, Hirschberg gegen die Bevormundung »beeinträchtigter Menschen, die Pflege und Unterstützung erhalten«, im »klassischen Pflegesystem«. Unabhängig davon, wie der Begriff der Autonomie im Einzelnen gefasst wird, ist allen Beiträgen gemeinsam, dass sie die Gefahr einer »fremdbestimmenden« falsch verstandenen Fürsorge (Beckmann) nicht durch die Konstruktion von »Autonomie und Fürsorge« als Gegensatzpaar (Bielefeldt) abzuwenden suchen, sondern Fürsorge »in den Dienst der Patientenautonomie« (Rabe) stellen. Das Postulat einer jedem Menschen kraft seines Menschseins inhärenten Auszeichnung – sei es das der Menschenwürde oder der Selbstgesetzgebung (Autonomie) – dient der Sicherung der Achtung auch des in seinen Leistungen eingeschränkten und der Hilfe Bedürftigen als Verantwortungssubjekt und baut seiner Reduzierung auf den Status eines zu pflegenden Objekts vor. Den blinden Flecken medizinethischer Diskurse und öffentlicher Debatten zum Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende geht Oliver Tolmein aus der Perspektive eines praktizierenden Fachanwalts für Medizinrecht nach. Wo greifen Leistungsregulierungen und -begrenzungen gesetzlicher Krankenkassen – verdeckt oder dem Betroffenen schmerzlich bewusst – in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über seine medizinische Versorgung bei schwerer Krankheit und am Lebensende ein? Tolmein macht darauf aufmerksam, dass – von der Öffentlichkeit unbeachtet – ökonomische Steuerungsstrategien erarbeitet werden und in kleinem Kreise Diskussionen über die Allokation eines doch beachtlichen Volumens finanzieller Mittel stattfinden. Er benennt Gründe, warum das neue Hospiz- und Palliativgesetz nicht ausreicht, um die notwendigen Rahmenbedingungen für eine angemessene Versorgung am Lebensende zu gewährleisten und zeigt anhand von Beispielen verweigerter Kostenübernahme von Off-Label-Medikamenten in der ambulanten palliativmedizinischen Versorgung Praktiken verdeckter Rationierung auch in ihrer Konsequenz für die Betroffenen. Tolmeins Beitrag deckt zudem wenig reflektierte Zusammenhänge zwischen Ökonomisierungsstrategien und der ideologisch aufgeladenen öffentlichen Debatte über Sterbehilfe auf. Hier stellt sich die Frage, ob die Emphase des Rechts auf Selbstbestimmung über Todesart und -zeitpunkt das Nachdenken darüber verhindert, dass womöglich ökonomische und ge-
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sundheitspolitische Bedingungen die Entscheidung für einen (assistierten) Suizid in erheblichem Ausmaße bedingen. Mangelnde Aufklärung der Bevölkerung über verschiedene Formen der »Sterbehilfe« und die Angst vor einem einsamen, qualvollen und fremdbestimmten Sterben benennt auch der medizinethische Beitrag von Constanze Hübner und Andreas Frewer als mögliche Gründe für das Interesse der deutschen Bevölkerung an »aktiver Sterbehilfe«. Die Autoren definieren »Sterbehilfe« als Oberbegriff, der alle Formen der Sterbehilfe – aktive, Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, indirekte Sterbehilfe (auch palliative Sedierung) – sowie Sterbebegleitung umfasst. Die Ergebnisse einer auf Fragebögen basierenden Umfrage in der deutschen Bevölkerung zu verschiedenen Formen der Sterbehilfe zeigen, dass die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe dort am höchsten ist, wo der Kenntnisstand nicht ausreicht, um verschiedene medizinische Maßnahmen am Lebensende der aktiven, passiven oder indirekten Sterbehilfe zuzuordnen. Die empirische Untersuchung zeigt, dass bei differenzierter Aufklärung auch die breite Bevölkerung keineswegs Konzepte aktiver Sterbehilfe favorisiert, wie das manche demoskopische Untersuchungen immer wieder nahezulegen scheinen. Der Beitrag ergänzt denjenigen des Palliativmediziners Christoph Ostgathe, der aufgrund ähnlicher Verwirrungen u.a. auch bei Betreuungsrichtern für eine Abkehr von dieser Begrifflichkeit zugunsten der vom Ethikrat bereits 2006 vorgeschlagenen Begriffe plädiert, diese klar definiert und hinsichtlich der rechtlichen Situation in verschiedenen Ländern abklärt. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit wenig bekannten Problemen des assistierten Suizids in der Schweiz. Christine Bartsch berichtet von ihren Erfahrungen als Rechtsmedizinerin bei verpflichtend durchzuführenden Legalinspektionen nach erfolgter Suizidassistenz durch Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz. Anhand verschiedener Fallbeispiele gibt sie Einblick in die Problemfelder der aktuellen Praxis der Suizidassistenz in der Schweiz, die über den Schweizer Kontext hinaus auf potenzielle Gefahren durch das Agieren organisierter Sterbehilfevereine verweisen. Dazu gehören Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Todesart und Todesursache sowie unvollständige oder auch widersprüchliche Dokumentationen in den bei der Inspektion vorgelegten medizinischen Dokumenten – beispielsweise über die auch in der Schweiz als Voraussetzung für eine Suizidassistenz geforderte Urteilsfähigkeit. Der Beitrag macht damit auch auf das reichhaltige, bisher kaum
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aufgearbeitete Quellenmaterial rechtsmedizinischer Analysen und Fallakten aufmerksam. Schwerpunktthema des zweiten Teils ist die Frage, wie ein humanes, menschenwürdiges Sterben sich in der Praxis trotz »zeitlicher, räumlicher, institutioneller und krankenhaus-hierarchischer Bedingungen« (Gahl) vor dem Hintergrund der zunehmenden Hospitalisierung, Rationalisierung und Medikalisierung des Sterbens verwirklichen lässt. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Kranken, Sterbenden und Ärzten (Gahl) bzw. Pflegenden (Rabe) wird hier die Tragfähigkeit und Produktivität von Beckmanns Fassung des Begriffspaars Autonomie/Selbstbestimmung auch für die Praxis deutlich. Der Internist Klaus Gahl erinnert daran, dass ärztliche Sterbebegleitung in der »gemeinsamen menschlichen Grund- und Grenzerfahrung der Sterblichkeit verankert ist« und präsentiert eine Bandbreite menschlicher Grenzerfahrungen für den Sterbenden ebenso wie für den Arzt. Gegen die Gefahren eines verarmten Umgangs mit Kranken und Sterbenden im Klinikalltag, beispielsweise durch den Verlust empathischer Zuwendungsfähigkeit und mangelnder, zum Teil mangelhafter Kommunikation setzt er drei Maximen ärztlichen Handelns: (1) die Achtung der Person des Gegenübers, seiner Würde und seines Selbstbestimmungsrechts auch in Extremsituationen; (2) die »Achtung der Autonomie und der Menschenwürde auch bei eingeschränkter oder aufgehobener Selbstbestimmungsfähigkeit« und (3) die »Achtung der Subjekthaftigkeit« des kranken und sterbenden Menschen. Auch am Lebensende und im Sterben sei der Mensch noch »leibliches Zentrum seiner Empfindungen und Erlebnisse«, reagiere auf Zuwendung, auf Berührung und auf die Art, wie allgemein mit ihm umgegangen werde. Diese Maximen werden anhand verschiedener Grenzerfahrungen mit Blick auf ihre Umsetzung in spezifischen Situationen erläutert. »[G]enügend Zeit und Raum auch für menschliche Zuwendung und Kommunikation« erweist sich hier als unabdingbare Voraussetzung. Marianne Rabe (Pflegewissenschaften) betont ebenfalls die Bedeutung einer sich auf die Person des Gegenübers einlassenden Kommunikation. Wichtig sei diese nicht nur zwischen Pflegern und zu Pflegenden, sondern auch zwischen Pflegenden und Ärzten. Rabe versteht Autonomie gleichfalls als »grundsätzliches Potenzial des Menschen zur Selbstbestimmung und damit als Grundlage der Würde«, verwendet den Begriff allerdings auch im Kontext der Patientenautonomie im Sinne des Rechts auf Selbstbestimmung. Anhand exemplarischer Problemfelder in der Pflege zeigt sie wo – durch die
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Konstruktion eines scheinbaren Konflikts zwischen Patientenautonomie und Fürsorge – im täglichen Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden das Selbstbestimmungsrecht ignoriert und die Würde Schwerkranker und Sterbender verletzt wird. Die Verantwortung für eine »respektvolle Grundhaltung« gegenüber den zu Pflegenden liege allerdings nicht allein bei den einzelnen Mitarbeitern. Ihre »fachlichen und moralischen Handlungsspielräume« würden von den Strukturen des Gesundheitswesens und den Institutionen, in denen sie arbeiten, mitbestimmt. Damit lenkt Rabe den Blick auf die organisationsethische Dimension einer menschenwürdigen Gestaltung des Lebensendes und zeigt auf dieser Ebene verschiedene Lösungsmodelle auf. In den Beiträgen von Klaus Gahl und Christoph Ostgathe wird ein weiteres, für Menschen am Lebensende existenziell wichtiges, aber in der Medizinethik immer noch zu wenig berücksichtigtes Thema angesprochen: die Frage nach dem Umgang mit der Diagnose der Unheilbarkeit einer tödlich verlaufenden Krankheit. Beide sehen hier besondere Herausforderungen sowohl für den Patienten und sein soziales Umfeld als auch für den behandelnden Arzt und zeigen vor unterschiedlichem theoretischem Hintergrund wie eine »empathische Diagnosemitteilung« (Ostgathe), die Übermittlung dieser »Wahrheit angesichts des Lebensendes« (Gahl), im Detail aussehen könnte. Dies in eine gelingende Arzt-Patienten-Beziehung zu integrieren, ist umso wichtiger, da es starke empirische Hinweise darauf gibt, dass die Suizidrate in der Zeit nach der Mitteilung der Diagnose, z.B. einer (potenziell) unheilbaren Krebserkrankungen, deutlich ansteigt. Hier sollte – neben der behutsamen Diagnosemitteilung – auf Grundlage realistischer Therapieziele immer Raum für Perspektive und Hoffnung bleiben (Ostgathe). Danksagung Für die Förderung des Projekts wie auch der Tagung »Autonomie und Menschenrechte am Lebensende«27 sei der Emerging Fields Initiative an der FAU Erlangen-Nürnberg herzlich gedankt. Allen Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes möchten wir für ihre Beiträge wie auch die geduldige und umfangreiche Redaktionsarbeit Dank sagen. Dipl.-Polit. Sabine Klotz vom Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspoli-
27 Tagungsberichte von Schendel sowie Trum/Stowasser: http://www.efi.fau.de.
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tik sei für ihren engagierten Einsatz und ihre große Unterstützung herzlich gedankt. Cornelia Geisler, B.A. und Frauke Scheller, M.A. von der Professur für Ethik in der Medizin danken wir für die Formatierung der Beiträge und die Erstellung der Gesamtdatei.
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I. Selbstbestimmung: Grundlegung, Stärkung, rechtliche Stützung
Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende Überlegungen aus ethischer Sicht J AN P. B ECKMANN
1. E INLEITUNG 1.1 Zur Situation Das Verständnis zentraler Begriffe einer humanen Kultur wird durch die Zeitläufe, vor allem durch aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Politik und Wirtschaft stets aufs Neue herausgefordert. Seit es z.B. der Medizin möglich ist, in den natürlichen Prozess zu Ende gehenden Lebens – sei es verlängernd, sei es verkürzend – einzugreifen, gilt dies in besonderem Maße für das Verständnis der Begriffe »Autonomie« und »Selbstbestimmung«. Der Einzelne, aber auch die Gesellschaft als Ganze müssen sich immer wieder zu vergewissern suchen, was in einer sich ständig verändernden Welt unter diesen beiden für Recht und Moral grundlegenden Begriffen zu verstehen ist. Letzteres erscheint umso dringlicher angesichts der nachgerade verborgenen Wirklichkeit von Sterben und Tod infolge von Hospitalisierung und dadurch verminderter öffentlicher Wahrnehmbarkeit. Auch erscheint der Tod dem Einzelnen naturgemäß stets als der Tod des anderen, die eigene Endlichkeit wird vielfach nur als ein irgendwann – hora incerta – Zu-Ende-Gehen betrachtet. Was dabei übersehen wird, ist das Freiheitspotenzial der Endlichkeit, sich nämlich als Mensch im Unterschied zum
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Tier zur eigenen Sterblichkeit in ein Verhältnis setzen zu können und entsprechend zu leben und zu handeln. Folge: Des Menschen Endlichkeit und ihre Manifestation am Lebensende erscheinen als eine Art Defektphänomene, die den Menschen einzig in seiner Vulnerabilität und nicht auch und dies vorrangig als Freiheitswesen erkennen lassen. Dabei stellt das Lebensende – der Name impliziert es – die zum Leben gehörende Phase menschlicher Existenz dar, allen Einschränkungen zum Trotz. Es gilt, auch in dieser Phase des Menschen Freiheit so gut es geht zu erhalten. Grundlage hierfür sind Autonomie und Selbstbestimmung. 1.2 Der Beitrag der Philosophie Aufgabe der Philosophie und speziell der Ethik ist nicht der Versuch abschließender Antworten von Grundfragen. Vielmehr besteht beider Beitrag zu Grundfragen menschlicher Existenz wie derjenigen des Umgangs mit dem Lebensende in einer kritischen Analyse der normativen Grundlagen und in der praxistauglichen Klärung zentraler Begrifflichkeiten, und dies im Konzert anderer, ebenfalls relevanter Disziplinen. Insofern derartige Begrifflichkeiten vielfach auch moralische Implikationen und Konsequenzen besitzen, müssen dieselben in die philosophische, speziell in eine ethische Prüfung einbezogen werden. Nun stellt ›Ethik‹ im Unterschied zur ›Moral‹ als Praxis ein analytisches Unternehmen dar, mit dessen Hilfe der moralische Anspruch von Handlungen bzw. ihrer Unterlassung argumentativ geprüft wird. Da derartige Handlungen bzw. deren Unterlassung auf Prinzipien und Normen beruhen, gilt es dieselben zu klären. Dies soll im Folgenden in Form dreier Fragen geschehen: I. Was bedeuten »Autonomie«, und »Selbstbestimmung«? II. Wie verhalten sich diese beiden Begriffe zueinander? III. Was folgt aus einer solchen Begriffsklärung für den Umgang mit dem menschlichen Lebensende aus ethischer Sicht?
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2. W AS BEDEUTEN »A UTONOMIE « UND »S ELBSTBESTIMMUNG «? 2.1 Gängige Vorstellung Wenn nicht die Termini »Autonomie« und »Selbstbestimmung« gleich miteinander identifiziert werden, so gilt doch einer weit verbreiteten Vorstellung zufolge Erstere als eine Funktion der Letzteren: je mehr Selbstbestimmung, desto mehr Autonomie. Diese Vorstellung spielt in moralischen Diskussionen nicht nur eine gewichtige Rolle, sie hat auch den Vorzug, dass mit ihrer Hilfe schwierige moralische Fragen vergleichsweise einfache Antworten finden: je weniger Selbstbestimmung, desto weniger Autonomie und desto mehr Fürsorge.1 Versteht man unter Autonomie die Fähigkeit, die eigenen Rechtsverhältnisse zu regeln, dann sind Menschen, die dazu aus Gründen ihres jugendlichen Alters oder altersbedingter Umstände wegen nicht in der Lage sind, nicht autonom. Letzteres spielt insbesondere am Lebensende eine wichtige Rolle: je näher dem Tode, desto möglicherweise weniger Autonomie; umso wichtiger die Fürsorge um den sterbenden Menschen. 2.2 Schwierigkeiten dieser gängigen Vorstellung Bei näherer Betrachtung ergeben sich freilich Schwierigkeiten. Denn: Autonomie zur Funktion von Selbstbestimmung zu machen, heißt ein Doppeltes: Erstens: »Autonomie« wird als Fähigkeit angesehen bzw. von Fähigkeiten abhängig gemacht. ›Autonom‹ ist demnach der starke, gesunde, selbstbewusste, unabhängige Mensch, im Unterschied zum schwachen, kranken, seiner selbst unsicheren, von der Mitwelt abhängigen Menschen. Zweitens: »Autonomie« wird als stufbar verstanden: je stärker, selbstbewusster und unabhängiger der Mensch, desto mehr Autonomie; je schwächer, unsicherer und abhängiger, desto weniger Autonomie. So erscheint das Neugeborene noch nicht autonom, der Altersschwache kaum noch autonom sowie der Narkotisierte auf dem OP-Tisch temporär nicht 1
So wird z.B. einer »Ethik der Autonomie« eine »Ethik der Fürsorge« gegenübergestellt. Vgl. Eibach (1997), 218.
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autonom und schließlich der hochgradig geistig Behinderte zeitlebens nicht autonom. Auch ist in Kliniken und Altersheimen häufig zu hören, der Kranke bzw. Heiminsasse sei alters- und/oder krankheitsbedingt in seiner »Autonomie mehr oder weniger stark eingeschränkt« und man müsse dieses »Defizit« durch vermehrte Fürsorge zu »kompensieren« suchen. Ein derartiges Autonomieverständnis kann zu zwei Schwierigkeiten führen: zum einen dazu, dass man möglicherweise nur eingeschränkt auf die Wünsche und Vorstellungen des Kranken hört und damit Gefahr läuft, ihn fremdzubestimmen; und sodann, dass man es mit dem Kranken zwar gut meint, aber objektiv gegen seinen Willen handelt, weil man die rechtlich erforderliche und ethisch gebotene Legitimation durch den informed consent auch des alten und kranken Menschen nicht einholt. Wie das zu vermeiden ist, wird deutlich, wenn man sich die formalen und die inhaltlichen Merkmale von »Autonomie« vergegenwärtigt: 2.3
Die sieben formalen Merkmale von Autonomie
2.3.1 Autonomie meint Selbstgesetzlichkeit, nicht Selbstgesetzgebung. Die Herkunft des Terminus »Autonomie« von griech. autonomía (autós = selbst und nómos = Gesetz) macht unmittelbar deutlich, dass ›autonomía‹ wörtlich »Selbstgesetzlichkeit« bedeutet. Dieselbe besteht nicht etwa nur dann noch nur insoweit, als der Mensch sie faktisch in Anspruch nimmt, also Selbstgesetzgebung praktiziert, sondern unabhängig davon immer, und dies vom Lebensanfang bis zum Lebensende. »Autonomie« ist keine Handlung, sondern ein Sein, »Selbstgesetzlichkeit« eben, und nicht »Selbstgesetzgebung«. Ebenso der Gegenbegriff »Heteronomie«: Auch er stellt keine Handlung, sondern ein Sein dar: Fremdgesetzlichkeit, nicht Fremdgesetzgebung. Den Menschen als fremdgesetzlich anzusehen, hieße, ihn ausschließlich als Objekt, niemals als Träger von Gesetzlichkeit zu betrachten. Sodann: 2.3.2 Autonomie ist keine Eigenschaft (accidens), sondern eine Eigentümlichkeit (proprium) des Menschen. Autonomie kann einem Menschen weder zukommen noch kann sie ihm abgehen, und zwar deswegen nicht, weil der Mensch Autonomie nicht besitzt, sondern weil er autonom ist. Autonomie kann daher kein Accidens sein, das
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einem Träger zukommt, ihm aber auch abgehen kann, sondern ist das, was die Lateiner ein proprium nennen, eine untrennbare, notwendige Eigentümlichkeit. Des Weiteren: 2.3.3 Autonomie meint keine Fähigkeit oder Leistung, sondern eine Verfasstheit. Würde man Autonomie als Fähigkeit oder Leistung begreifen, wären wie gesagt das Neugeborene, der Greis, der Narkotisierte oder der geistig schwer Behinderte nicht autonom, also nicht selbstgesetzlich, weil möglicherweise zu einer solchen Leistung, noch nicht oder nicht mehr oder temporär nicht oder kaum je dazu in der Lage. Davor bewahrt die Genannten das Verständnis von Autonomie als vom Menschen nicht trennbare Verfasstheit. Da es dazu keiner Fähigkeit oder Leistung bedarf, kann es auch keine »Überforderung durch Autonomie«2 geben. Autonomie stellt keine wie auch immer geartete Forderung dar, sondern ein Sein. Sodann: 2.3.4 Als Verfasstheit ist Autonomie naturgemäß nicht abstufbar. Im Falle einer Verfasstheit ist ein Mehr oder Weniger logisch unmöglich. Der Mensch ist vom ersten Atemzug an bis zum letzten autonom, in jeder seiner Zustände und Situationen: stets und ausnahmslos ist er selbstgesetzlich, mag er auch kontingenterweise hier und da nicht selbstgesetzgebend sein.3 Wichtig auch:
2
So die Befürchtung einiger Mitglieder der seinerzeitigen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Vgl. den »Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ›Ethik und Recht der modernen Medizin‹ zur rechtlichen Verankerung der Patientenverfügungen« (Deutscher Bundestag 2004, 9–10).
3
Eine »zunehmende« Autonomie, von der z.B. die Bundesärztekammer (1997) sprach, kann es nach der Logik des hier dargelegten Autonomieverständnisses nicht geben.
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2.3.5 Autonomie ist relational: Sie isoliert nicht die Menschen voneinander, sondern verbindet sie miteinander. Seine Verfasstheit als notwendig und immer autonom trennt den Einzelnen keineswegs von seinen Mitmenschen; im Gegenteil: Autonomie verbindet die Menschen miteinander. Denn: Der Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit des einen ist untrennbar mit dem Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit des anderen verbunden. »Autonomie« ist somit gerade nicht Ausdruck eines isolierten Individualismus, als die sie immer wieder hingestellt wird, sondern im Gegenteil Garant der Gemeinschaftlichkeit des Menschen. Dank ihres relationalen Charakters verbindet »Autonomie« das jeweilige Subjektsein der Menschen miteinander zum ›wir‹. In diese soziale Struktur ist jedermann eingebunden. Die »Selbstgesetzlichkeit« des Einzelnen besteht gerade nicht darin, dass jeder sich seine Gesetze ohne Rücksicht auf den Mitmenschen selbst gibt, sondern selbiges legitimer Weise nur unter Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des Mitmenschen tun kann und darf. Autonomie ist deswegen entgegen weitverbreiteter Auffassung kein den Einzelnen isolierender Status, weil die Selbstgesetzlichkeit des einen in der Selbstgesetzlichkeit des anderen ihre notwendige Bedingung und zugleich ihre natürliche Grenze hat. Mit anderen Worten: Die Selbstgesetzlichkeit des einen ist schon aus Gründen der Logik an die Selbstgesetzlichkeit des anderen gebunden und ohne dieselbe gar nicht denkbar. Folge: 2.3.6 Alle Autonomie impliziert Begrenzung. Autonomie als anthropologisches Prinzip und Selbstbestimmung als Recht beziehen sich damit auf die Verfasstheit des Einzelnen als durch Dritte grundsätzlich nicht verfügbares Subjekt eigenen Tuns und Lassens. Da dieselbe Verfasstheit allen Menschen unterschiedslos zu eigen ist, schließt der Autonomiegedanke notwendig den Respekt vor dem Mitmenschen und seiner Subjekthaftigkeit und prinzipiellen Unverfügbarkeit ein: Der Autonome muss sich selbst beschränken. Schon Immanuel Kant, einer der Väter dieses Gedankens, hat alle Autonomie immer zugleich als Selbstbegrenzung verstanden.4 Hintergrund:
4
Vgl. I. Kants Rede von der »Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein«. Kant (1911), IV, 440.
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2.3.7 Autonomie ist kein Recht, sondern ein den Menschen mit Notwendigkeit auszeichnendes Prinzip. Wäre Autonomie ein Recht, könnte sie wie alle Rechte verletzt und anschließend eingeklagt werden. Beides ist jedoch deswegen nicht möglich, weil Autonomie, wie dargelegt, ein den Menschen mit Notwendigkeit auszeichnendes Prinzip ist. Das Prinzipienhafte ist darin beschlossen, dass der Mensch von sich her autonom ist. Dies manifestiert sich in den drei folgenden inhaltlichen Merkmalen: dem Ansichsein, dem Subjektsein und dem Unverfügbarsein des Menschen. 2.4
Die drei inhaltlichen Merkmale von Autonomie
2.4.1 Autonomie bezieht sich auf das Ansichsein des Menschen, nicht jedoch auf ein Fürsichsein. Das Ansichsein des Menschen hat seinen Grund darin, dass er von sich her ist, was er ist. Das bedeutet nicht, dass er etwa auch für sich wäre. Dem steht Autonomie als Selbstgesetzlichkeit im Wege, die, wie gezeigt, relational und zugleich notwendig mit der Selbstgesetzlichkeit des Mitmenschen verbunden ist. Sodann: 2.4.2 Autonomie ist vom Subjektsein des Menschen nicht zu trennen. Der Mensch ist Subjekt seines Tuns und Lassens. Dieses Merkmal zeigt in augenfälliger Weise die Nähe von Autonomie und Menschenwürde: Wie diese stellt auch jene kein Zuerkennungsprodukt, sondern eine immer schon gegebene Wirklichkeit dar. Autonomie und Menschenwürde verdanken ihre Geltung nicht erst ihrem Anerkanntsein; sie sind vielmehr bereits aufgrund ihres Seins das, was sie sind: vom Menschen nicht trennbare Verfasstheiten. Wir werden hierauf zurückkommen. Und: 2.4.3 Kennzeichen der Autonomie ist die Unverfügbarkeit des Menschen seitens Dritter. Unverfügbarkeit hindert nicht, dass wir Menschen übereinander permanent verfügen, so wie der Autor des hier Vorgetragenen derzeit über die Aufmerksamkeit des Lesers. Wohl aber heißt Unverfügbarkeit, dass über den Einzelnen seitens Dritter niemals in toto genere verfügt werden darf; die Juristen nennen dies im Blick auf die Menschenwürde »Objektverbot«.
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Nach Kant ist dies darin begründet, dass der Mensch »Zweck an sich selbst« ist, d.h. von sich her Zweck.5 Jedwede Zwecksetzung des Einzelnen muss sich an der Selbstzweckhaftigkeit des Mitmenschen orientieren. Fazit: Autonomie bedeutet Selbstsein unter den Bedingungen der Anerkennung des Selbstseins des Mitmenschen.
3. W IE VERHALTEN SICH DIE B EGRIFFE »A UTONOMIE « UND »S ELBSTBESTIMMUNG « ZUEINANDER ? 3.1 Die Unterscheidung zwischen Autonomie und Selbstbestimmung ist unumgänglich. Die skizzierten sieben formalen Merkmale von Autonomie – Selbstgesetzlichkeit, Eigentümlichkeit, Verfasstheit, Nichtstufbarkeit, Relationalität, Selbstbegrenzung und Prinzipiencharakter – sowie die drei inhaltlichen Merkmale – Ansichsein, Subjektsein und Unverfügbarkeit – erfordern eine wichtige Unterscheidung: diejenige zwischen Autonomie einerseits und ihrer Manifestation durch Selbstbestimmung andererseits, ungeachtet des Umstandes, dass beides eng miteinander verbunden ist wie die beiden Seiten ein und derselben Münze. 3.2 Selbstbestimmung ist ein intentionaler Willensakt des autonomen Subjekts. Selbstbestimmung ist die Umsetzung von Autonomie qua Selbstgesetzlichkeit in die Selbstgesetzgebung, dies allerdings, wie gesagt, unter der Bedingung der Beachtung der Selbstgesetzlichkeit aller Mitmenschen. Wie der Terminus ›Selbstbestimmung‹ besagt, bestimmt das autonome Subjekt sich selbst und nicht jemand anderen, und es tut dies selber. Selbstbestimmung enthält mithin einen Doppelaspekt: Das eigene Selbst ist gleichermaßen Subjekt wie Objekt des Bestimmungsaktes. Fehlt Ersteres, ist der Mensch der Gefahr der Fremdbestimmung ausgesetzt; fehlt Letzteres, prak5
Vgl. I. Kant: »Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst […]«. Kant (1911), IV, 440.
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tiziert der Einzelne seinerseits ggf. seinen Mitmenschen gegenüber Fremdbestimmung. Im ersten Fall wird das sich selbstbestimmende Subjekt als heteronom behandelt, im zweiten Fall macht es seinen Mitmenschen heteronom und damit zum reinen Objekt. 3.3 Autonomie ist gegenüber Selbstbestimmung logisch wie ursächlich vorgängig. Das Verhältnis beider Seiten menschlicher Autonomie besteht freilich darin, dass die genannte Eigentümlichkeit logisch und ursächlich ihrer Manifestierbarkeit vorausgeht: Nicht weil und wenn der Mensch über sich selbst zu bestimmen vermag, ist er autonom, sondern weil er autonom ist, besitzt er das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Das hat seinen Grund darin, dass Autonomie, wie dargestellt, kein Recht, sondern ein Prinzip ist, das anthropologische Prinzip eben, dass jeder Mensch unabhängig von Umständen oder Fähigkeiten um seiner selbst willen zu respektieren ist. Auch wenn der Mensch sein Selbstbestimmungsrecht aus kontingenten Gründen nicht in Anspruch nimmt oder nehmen kann, bleibt er unverändert autonom; auch verbleibt das Selbstbestimmungsrecht bei ihm; ein Recht ist schließlich nicht von seiner Inanspruchnahme abhängig. 3.4 Zwischen Autonomie und Selbstbestimmung besteht eine kategoriale Differenz. Der Unterschied zwischen Autonomie und Selbstbestimmung ist kategorialer Natur: Autonomie gehört zur Kategorie dessen, was ist, Selbstbestimmung zur Kategorie dessen, was getan werden kann und darf. Die Logik zwischen beidem ist die zwischen Bedingung und Bedingtem: Selbstgesetzlichkeit gibt es auch ohne faktische Manifestation derselben, diese aber nicht ohne jene. Autonomie kann daher nicht, wie dargelegt, zur Funktion von Selbstbestimmung gemacht werden nach dem Motto: Je stärker die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, desto größer das Maß an Autonomie. Dies wäre nur möglich, wenn man zur Fähigkeit erklärte, was den Menschen ausmacht. Doch der Mensch ist nicht identisch mit dem Potenzial, das er besitzen mag. Eine Identifikation des Menschen mit dem, was er hat oder kann, verstellt den Blick nicht nur auf den gesunden, star-
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ken, seiner selbst gewissen Menschen, sondern einmal mehr auf den kranken, schwachen, an sich selbst möglicherweise zweifelnden Menschen. 3.5 Auch ›Menschenwürde‹ ist kein Funktionsbegriff. Ähnliche Schwierigkeiten entstehen, wenn man die Würde des Menschen zur Funktion etwa seines Lebensschutzes macht. Zwar ist der Schutz menschlichen Lebens ein hohes Rechtsgut unserer Verfassung (Artikel 2 GG), doch gilt dasselbe im Unterschied zur Menschenwürde nicht uneingeschränkt (Bundeswehr, Selbstverteidigungsrecht, straffreie Abtreibung), während die Würde des Menschen ausnahmslos abwägungsavers ist, d.h. gegenüber keiner anderen ethischen Norm abgewogen werden kann, selbst nicht gegen die Fundamentalnorm des Lebensschutzes. So wäre es ein Würdeverstoß, würde man einen Menschen gegen seinen erklärten Willen zum Weiterleben zwingen. Hinzu kommt: Wäre Menschenwürde eine Funktion des Lebensschutzes, dann gäbe es keine über den Tod hinausgehende Verpflichtung zum Respekt vor dem Verstorbenen. Ein solcher auch post mortem geltender Respekt aber ist untrennbar mit der Menschenwürde verbunden.6 Insofern hat das zum Verhältnis Autonomie und Selbstbestimmung Dargelegte seine Entsprechung in der Logik der Beziehung zwischen Menschenwürde und Lebensschutz: Auch diesbezüglich zeigt sich eine elementare kategoriale Differenz: ›Menschenwürde‹ ist ein Prinzip, ›Lebensschutz‹ hingegen ein Recht. Letzteres ist Verletzungen ausgesetzt, die ggf. gerichtlich geahndet werden müssen; Erstere hingegen ist, wie es in Artikel 1 GG ausdrücklich heißt, »unantastbar«, d.h.: Die Würde des Menschen kann schlechterdings nicht angetastet werden, unabhängig davon, dass sie bedauerlicherweise missachtet, mit Füßen getreten und verkannt werden kann. Das ändert jedoch nichts an ihrem Status als anthropologisches Prinzip. Wer die Menschenwürde infrage stellte, würde gleichsam sein eigenes Menschsein infrage stellen. Begreift man, wie hier vorgeschlagen, Autonomie und Menschenwürde formal jeweils als vom Menschen nicht trennbare anthropologische Prinzipien und Selbstbestimmung und Lebensschutz jeweils als elementare
6
Siehe auch Heiner Bielefeldts im vorliegenden Band überzeugend vertretene Position, dass Menschenwürde keine Leistung darstellt.
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Rechte, so wird der zentrale materiale Zusammenhang zwischen beiden Begriffspaaren deutlich: Der Mensch ist autonom = selbstgesetzlich, weil er aufgrund eigenen Rechts existiert; wenn er sich aufgrund dieser Verfasstheit »seine« Gesetze selber gibt, dann ausschließlich in strenger Verpflichtung auf den Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit seiner Mitmenschen. Insofern kann Kant sagen, dass »Autonomie […] also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« ist.7 Dabei steht die Würde des Einzelnen freilich unter der Bedingung der Würde seiner Mitmenschen: Menschenwürde bedeutet, dass der Einzelne die Tatsache seiner Existenz niemals ausweisen muss, zugleich aber auch von keinem Mitmenschen solches verlangen kann. Auch ist Menschenwürde kein Zusprechungsprodukt, so als bedürfte sie der Autorisierung durch Dritte; vielmehr ist sie ein Anerkennungstatbestand, demzufolge jeder Mensch vom ersten bis zum letzten Atemzug (1.) als Zweck an sich selbst und (2.) als Subjekt seines Tuns und Lassens zu gelten hat und zugleich (3.) ob seiner Selbstgesetzlichkeit (»Autonomie«) prinzipiell unverfügbar und jedweder Fremdgesetzlichkeit (»Heteronomie«) entzogen ist. Diese drei Merkmale der Menschenwürde können weder vonseiten Dritter noch vom Träger der Menschenwürde selbst verändert werden. Variierbar hingegen ist, was der Einzelne von sich aus als Ausdruck oder Bestätigung seiner Würde empfindet und vor allem, was er seinem unbestreitbaren Recht auf menschenwürdiges Sterben subsumiert.8 Hier kommt das Freiheitspotenzial von Autonomie zum Vorschein: Freiheit der Selbstbestimmung auch und besonders am Lebensende – unter Anerkennung der entsprechenden Freiheit der Mitmenschen.9
7
Kant (1911), IV, 463.
8
Dies allerdings in den Grenzen des Respekts vor der Würde, Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht seiner Mitmenschen und insbesondere seiner ärztlichen und sozialen (familiären) Umgebung. Eine – strafrechtlich verbotene (§ 216 StGB) – Tötung auf Verlangen scheitert ethisch an der fehlenden Rechtfertigungsmöglichkeit der Instrumentalisierung anderer (hier: der Ärzte oder Familienmitglieder).
9
Vgl. Kants Feststellung: »Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beide Autonomie, mithin Wechselbegriffe«. Kant (1911), IV, 105.
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4. W AS FOLGT AUS DER VORGENANNTEN B EGRIFFSKLÄRUNG FÜR DEN U MGANG MIT DEM MENSCHLICHEN L EBENSENDE AUS ETHISCHER S ICHT ? Sterben und Tod sind Ausdruck menschlicher Endlichkeit. Dieselbe erscheint, wie eingangs erwähnt, als etwas Notwendiges, menschlicher Freiheit Entzogenes: Der Mensch ist – hora incerta – des Todes. ›Endlichkeit‹ kann aber auch einen Gestaltungszusammenhang meinen, dergestalt, dass das Leben des Menschen von Beginn an vom Bewusstsein des jederzeit Sterben-Könnens begleitet wird. Dazu aber vermag der Mensch sich immer wieder erneut in ein Verhältnis zu setzen und sein Leben entsprechend zu gestalten. ›Endlichkeit‹ kann insofern auch Freiheitserfahrung bedeuten. Eben deshalb ist die Betonung der Autonomie insbesondere am Lebensende angesichts oft schwindender Möglichkeiten ihrer Manifestation durch Akte der Selbstbestimmung so wichtig: Nur so wird das Freiheitspotenzial menschlicher Endlichkeit bewahrt. Dies gilt allemalen auch für das Recht auf Vorausbestimmung des eigenen Willens durch eine Patientenverfügung.10 4.1 Palliativmedizin als eine die Endlichkeit des Menschen hinnehmende und seine Freiheit zur Selbstbestimmung stärkende Medizin Eben diese Freiheitserfahrung zu ermöglichen und zu stärken stellt eine zentrale Aufgabe der Palliativmedizin dar. Sie verwirklicht dies durch die möglichst lange Erhaltung und immer wieder zu versuchende Stärkung der Selbstbestimmung des Menschen, der das Ende seines Lebens vor sich hat und sich dazu in ein Verhältnis zu setzen sucht mit dem Ziel der Annahme seines zu Ende gehenden Lebens. Zu beidem ist die Palliativmedizin Dank ihrer Natur besonders geeignet, da sie das kurative Paradigma der Medizin zugunsten einer die menschliche Endlichkeit hinnehmenden Medizin verlassen hat.11 Aufgabe der Palliativmedizin ist über das Schmerzmanagement hinaus die umfassende pyscho-soziale Zuwendung zum – und die 10 Näheres s. Beckmann (1998). 11 Vgl. Beckmann (2009), 408–421.
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Hilfe für den – Patienten. Im Mittelpunkt steht auf seinen Wunsch hin das Zulassen des Sterbens bei gleichzeitigem Versuch bestmöglicher Erhaltung von Lebensqualität für den Patienten, wobei die Urteilskompetenz für die Qualität seines Lebens ausschließlich bei ihm liegt. Palliation ist ihrem Wesen nach keine Defizitbehandlung, sondern Selbstbestimmungsstärkung. Hinzu kommt: Unter ›Lebensende‹ kann man den letzten Lebensmoment eines Menschen verstehen; doch geht es im Vorliegenden nicht um einen bestimmten Augenblick des Lebens eines Menschen, sondern um einen Prozess in seinem Leben. Zwar ist es nicht irgendein Prozess, sondern ein solcher, dessen Ende gewiss ist. Desungeachtet gelten dieselben moralischen Grundsätze wie auch sonst im Leben: Anerkennung der Würde des Menschen, Respekt vor seinem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht und Schutz seines Lebens nach Maßgabe seines Willens. Hinsichtlich dieser drei Fundamentalnormen bedarf es am Lebensende keiner anderen, besonderen oder zusätzlichen Normen des Umgangs. 4.2 Zur-Stelle-Sein, Hinhören und Begleiten Was hingegen aus ethischer Sicht im Prozess des zuende gehenden Lebens hinzukommen muss, sind das Zur-Stelle-Sein, das Hinhören und das Begleitangebot seitens der familialen bzw. der sozialen Umgebung sowie der Gesellschaft als ganzer. Die genannten Verhaltensweisen stehen unter der Bedingung des Willens des Menschen, dessen Leben sich dem Ende zuneigt: Er und niemand anderer entscheidet über Art, Weise und Intensität der genannten Zuwendungen seitens seiner Umgebung. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass der Mensch immer schon, insbesondere aber im Prozess seines dem Ende entgegengehenden Lebens der Achtung seiner Würde, des Respekts vor seiner Autonomie, der Akzeptanz der Manifestationen seines Selbstbestimmungsrechts und der ganzheitlichen Zuwendung seitens der Mitmenschen bedarf. Je größer die Einschränkungen eines seinem Ende zuneigenden Lebens, je nachhaltiger die – lebensverlängernden wie lebensverkürzenden – medizinischen Eingriffsmöglichkeiten, desto wichtiger das Ethos von Achtung, Respekt und Zuwendung.
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4.3 Salus ex voluntate suprema lex esto Die Hinnahme seines zu Ende gehenden Lebens seitens des Schwerkranken oder Sterbenden ist einem Zwang zu einer irgendwie angenommenen Rechtfertigung vor der Gesellschaft weder fähig noch einer solchen bedürftig. Dadurch, dass ein Patient ärztliche und pflegerische Maßnahmen auch dann ablehnen darf, wenn dieselben sein Leben retten könnten, hat der Gesetzgeber dem Einzelnen zugestanden, seinen eigenen Lebensschutz im Konfliktfall seinem Selbstbestimmungsrecht zu unterwerfen – und damit insofern eine Begrenzung staatlicher Lebensschutzpflicht vorgenommen.12 Ein Aufdrängen der Errungenschaften der modernen Medizin, die Grenzen des Lebens ohne den Willen des Patienten auszudehnen, würde in elementarer Weise dem Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen widersprechen. Rechtlich-ethische Grundlage sind die Normen der Menschenwürde und der Autonomie sowie speziell das allgemeine Persönlichkeits- und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Niemand hat die Pflicht, mithilfe der Medizin ein in seinen Augen nicht mehr erträgliches Leben zu verlängern. Die Pflicht des Staates und der Gesellschaft besteht nicht darin, das Leben eines Menschen im Zweifel auch gegen seinen Willen zu schützen, sondern darin, seine Freiheit vor Fremdbestimmung auch und besonders am Lebensende zu garantieren.13 Ethisch heißt dies: salus ex voluntate suprema lex esto – dass das Wohl im Willen besteht, sei oberstes Gesetz.14 Auch der Respekt vor dem Lebensschutz des Sterbenden steht unter dem Prinzip der Menschenwürde, und das bedeutet, dem Sterbenden keine Lebensverlängerung gegen seinen erklärten Willen aufzuzwingen noch ihn in gutgemeinter, doch falsch verstandener Fürsorge daran zu hindern, auf lebenserhaltende und lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Lebensschutz als Lebenszwang zu verstehen, hieße nicht nur Fremdbestimmung zu praktizieren, sondern es auch am Respekt vor der unantastbaren Menschenwürde fehlen zu lassen. Das Ende des Lebens eines Men-
12 Deutscher Bundestag (2009). Vgl. Beckmann (2010), 221. 13 Nach Immanuel Kant ist »Freiheit […] die Grundlage der Menschenwürde«. Kant (1911), IV, 436. 14 Näheres s. Beckmann (2009), 450–488.
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schen ist das Ende seines Lebens, welches zu Ende gehen zu lassen keiner Rechtfertigung vor der Gesellschaft fähig noch bedürftig ist.
5. S CHLUSSGEDANKE Es bedarf insofern nicht erst einer Kodifizierung der Menschenrechte älterer Personen, und zwar deswegen nicht, weil für sie, wie dargelegt, dieselben Prinzipien und Rechte immer schon gelten. Wohl aber bedarf es einer deutlicheren Bewusstmachung und Akzentuierung der erhöhten Verletzlichkeit autonomiebasierter Selbstbestimmung am Lebensende. Die eigentliche Herausforderung an die Gesellschaft und an den Einzelnen am Lebensende des Menschen ist nicht, ihn in noch so wohlmeinender Absicht zu bevormunden, sondern ihn in seiner Unverfügbarkeit zu respektieren und ihn niemals zu zwingen zu begründen, wenn er sein zu Ende gehendes Leben ohne Rückgriff auf die Möglichkeiten der modernen Medizin akzeptiert. Hintergrund ist das seit der Aufklärung etablierte neuzeitliche Verfassungskonzept, dass Gegenstand staatlicher Schutzpflicht das Leben nur unter der Bedingung der Anerkennung der Menschenwürde und des Respekts vor der Freiheit des Individuums ist – dies allerdings unter gleichzeitiger Anerkennung der Würde und der Sicherung der Freiheit der Mitmenschen. Auch das Lebensende ist Teil des Lebens des Menschen. Fragen nach der Tragweite ethischer Prinzipien am Lebensende sind insoweit Fragen nach der Geltung dieser Prinzipien für das ganze Leben des Menschen und somit Fragen nach dem Menschen selbst. Das Besondere der Lebensendesituation liegt darin, dass in ihr menschliches Dasein an seine äußerste Grenze gelangt. Wer oder was der Mensch ist, wird offenbar, wenn es ans Sterben geht. Die Normen und Prinzipien heutigen Verstehens und Umgehens mit zu Ende gehendem menschlichen Leben sagen insofern Entscheidendes über ethische Prinzipien und ihre Tragweite aus. Ausweispflichtig sind nicht Autonomie noch das Selbstbestimmungsrecht noch der Wille des Menschen, sondern die an ihm geplanten und vorgenommenen Handlungen Dritter. Grundlage sind, wie dargelegt, des Menschen Selbstzweckhaftigkeit, sein unverlierbarer Subjektstatus und seine Selbstgesetzlichkeit. Diese drei Merkmale lassen sich voneinander unterscheiden, nicht aber voneinander trennen: Zu unterscheiden sind die drei Merkmale infolge ihrer kategorialen Differenz: Autonomie ist, wie dargelegt, eine Verfasst-
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heit, Subjektsein eine anthropologisch-ethische Bestimmung, und Selbstbestimmung ein Recht. Doch aller kategorialer Verschiedenheit zum Trotz sind alle die Aspekte untrennbar miteinander verbunden: Selbstgesetzlichkeit impliziert immer schon die Selbstgesetzlichkeit des Mitmenschen, alle Selbstbestimmung notwendig den Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Anderen, alles Subjektsein immer auch das interindividuelle Miteinander aufgrund des Subjektseins aller Menschen. Verletzt ist der Respekt vor der Würde eines Menschen, wenn einer oder mehrere dieser drei Aspekte nicht respektiert werden, sei es, dass jemand die Selbstgesetzlichkeit eines Mitmenschen infrage stellt, sei es dass Dritte einen Menschen wegen fehlender Ansprechbarkeit als quasi subjektlos behandeln, sei es, dass eine Missachtung des Selbstbestimmungsrechts vorliegt. Gleichwohl unantastbar ist die Würde des Menschen, weil die drei genannten Aspekte durch ein gemeinsames Band geschützt sind: dadurch nämlich, dass in jedem der drei Aspekte ein und derselbe Bezug enthalten ist, der Bezug des Individuums zur Gesamtheit der Menschen. Kant hat diesen Sachverhalt wie folgt formuliert: »Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann, deren er aber auch sich nicht verlustig machen darf«.15 In der Würde des Einzelnen wird die Würde der Menschheit respektiert, und diese zeigt sich darin, dass der Einzelne seine Würde in der des Mitmenschen wiedererkennt.
L ITERATUR Beckmann, Jan P. (1998): »Patientenverfügungen: Autonomie und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund eines im Wandel begriffenen Arzt-Patienten-Verhältnisses«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 44, 2 (1998), 143–156. Beckmann, Jan P. (2009): Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, Freiburg: Alber. Beckmann, Jan P. (2010): »Zu Grundlage und Umsetzung der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung aus ethischer Sicht«, in: Sturma et al. (2010), 221–241.
15 Kant (1911), IV, 435.
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Bundesärztekammer (1997): »Entwurf der Richtlinie der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung«, in: Deutsches Ärzteblatt 94, 20 (1997), Online: https://www.aerzteblatt.de/pdf/94/20/a1342_4.pdf. Deutscher Bundestag (2004): »Enquete-Kommission »Ethik und Recht der modernen Medizin«, Zwischenbericht Patientenverfügung 2004«, BT-Drs. 15/3700 (13.9.2004), Online: http://dip.bundestag.de/btd/15/ 037/1503700.pdf [23.07.2016]. Deutscher Bundestag (2009): »Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts v. 29.07.2009«, BGBl. I 2009, 2286. Online: http://www. bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav [29.07.2016]. Eibach, Ulrich (1997): »Vom Paternalismus zur Autonomie des Patienten? Medizinische Ethik im Spannungsfeld zwischen einer Ethik der Fürsorge und einer Ethik der Autonomie«, in: Zeitschrift für Medizinische Ethik 43, 3 (1997), 215–231. Kant, Immanuel (1911): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Gesammelte Schriften, Bd. IV, Abt. 1. hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin (Akademie-Ausgabe = AA), Berlin: Reimer, 387-463. Sturma, Dieter/Honnefelder, Ludgar/Fuchs, Michael (Hg.) (2010): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 15, Berlin: de Gruyter.
Menschenwürde und Autonomie am Lebensende Perspektiven der internationalen Menschenrechte H EINER B IELEFELDT
1. EINFÜHRUNG In Würde leben und in Würde sterben – das ist eine Leitidee, die allseits auf Zustimmung stoßen dürfte. Auch das Lebensende soll man in Würde verbringen können. Wer wollte dies nicht? Konsensheischende Formeln verdecken allerdings manchmal erhebliche Differenzen, ja Bruchlinien in der Gesellschaft. So auch hier. Am Begriff der Würde des Menschen, dem obersten Prinzip unserer Verfassung und der internationalen Menschenrechte, machen sich unterschiedliche, ja unvereinbar gegensätzliche Wertvorstellungen fest. Die Einstellung zum Lebensende – dem eigenen Lebensende und dem anderer Menschen – kann dabei die Funktion einer Testfrage annehmen. Im Folgenden geht es mir darum, zunächst eine eigentümliche Zweideutigkeit in der Semantik der Würde herauszuarbeiten. Ich werde einen Leistungsbegriff der Würde, der diese vor allem an elementaren physischen und geistigen Kontrollleistungen des Individuums festmacht (Kap. 2), mit einem universalistischen Verständnis kontrastieren, das die Würde des Menschen als unbedingten Anspruch und Zuspruch fasst (Kap. 3). Anschließend sollen exemplarisch einige menschenrechtliche Konsequenzen der gebotenen Anerkennung der Menschenwürde angesprochen werden (Kap. 4). Von dorther gewinnt auch der Begriff der Autonomie klarere
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Konturen, und zwar als Relationsbegriff (Kap. 5). Der Aufsatz endet mit einem kurzen Blick auf künftige menschenrechtliche Herausforderungen, darunter die Gewährleistung von Palliativversorgung im Rahmen des Menschenrechts auf Gesundheit (Kap. 6).
2. »WÜRDEVERLUSTVERMEIDUNGSMANAGEMENT«? Die Beschäftigung mit dem Lebensende ist angstbesetzt; denn der erwartete nahe Tod wird zur unausweichlichen Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit. Das ist aber nicht alles. Hinzu kommt, vielleicht schlimmer noch, die Angst vor dem sukzessiven Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Das Lebensende ist nicht nur deshalb angstbesetzt, weil es mit dem Leben bald vorbei sein könnte, sondern auch deshalb, weil die letzte Phase sich womöglich eben doch über Jahre erstrecken wird. Die Angst vor Schmerzen verbindet sich mit der Schreckensvision eines Lebens in totaler Abhängigkeit von anderen, selbst bei basalen biologischen Funktionen. Die Besinnung auf die Menschenwürde bringt in diesem Zusammenhang für viele Menschen keinen Trost. Vielleicht bewirkt sie sogar das Gegenteil. Denn die Erwartung sukzessiver Kontrollverluste in der letzten Lebensphase kann sich steigern zur Angst vor dem allmählichen Niedergang der persönlichen Menschenwürde. Dahinter steht ein Verständnis von Würde, das diese in Abhängigkeit von elementaren Leistungen sieht, die das Individuum zu erbringen habe. Die eigene Würde, so die Vorstellung, sei etwas, das es erfolgreich zu behaupten gelte. Zum Würdemanagement gehören beispielsweise die grundlegende Kontrolle über den eigenen Körper, der souveräne Umgang mit überwältigenden Emotionen, der Vollbesitz der Geistesgaben, die bewusste Einhaltung moralischer Prinzipien oder die halbwegs widerspruchsfreie kommunikative Selbstdarstellung nach außen. Die Erbringung solcher Leistungen kann im hohen Alter bekanntlich schwieriger werden und ist am Lebensende manchmal ganz unmöglich. Daher rührt die Angst vor Würdeschwund und zuletzt Würdeverlust. Ausgerechnet der Slogan vom »Leben in Würde« gerät so zur Misstrauenserklärung an die finale Phase der eigenen Biographie. Dass die Würde oft als individuelle Leistung aufgefasst wird, zeigt sich in der Alltagssprache, etwa wenn bestimmten Menschen ein »würdeloses« Verhalten vorgeworfen wird. Nicht nur schuldhaftes Fehlverhalten, sondern
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auch stark schambesetzte Situationen können dem Verdikt der »Würdelosigkeit« verfallen. Ab und zu hört man auch das Kompliment, dass es jemand geschafft habe, unter widrigen Bedingungen trotzdem »seine Würde zu wahren«. Zu den bekanntesten philosophischen Formulierungen eines solchen Verständnisses zählt Schillers Aufsatz über »Anmut und Würde«, die beide gelingen, aber eben auch misslingen können. Nur wer auch in Konfliktsituationen den Vorrang des Geistes »gegen den gebieterischen Trieb zu behaupten« imstande ist, stelle damit seine Würde unter Beweis, so Schiller.1 Innerhalb der Grundrechtsdebatte hat Luhmann eine Leistungstheorie der Menschenwürde vorgelegt, die die Würde vor allem als konsistente kommunikative Selbstdarstellung fasst.2 Auch hier bleibt die Würde an kontingente Erfolgsfaktoren gebunden, auf die keineswegs Verlass ist. Ähnliche Gedanken finden sich selbst bei manchen Menschenrechtstheoretikern, so etwa bei Arnd Pollmann, der mit seiner »gelingensethischen« Konzeption von Würde davon ausgeht, »dass die Bewahrung der Menschenwürde immer zumindest auch von der Kraft der Betroffenen abhängt.«3 Die lakonische Schlussfolgerung lautet: »Nicht alle Menschen und nicht einmal alle Personen haben die volle Würde […].«4 Versteht man die Würde als eine Eigenschaft, die es erfolgreich zu managen gilt, dann liegt es nahe, differente Leistungsgrade der Würdeverwirklichung nicht nur zwischen den Menschen anzusetzen; auch innerhalb ein und derselben Biographie mag die Würde dann dem Auf und Ab wechselhafter Realisierungschancen unterliegen. Hohes Alter birgt in dieser Logik das Risiko besonders dramatischer und rapider Würdeeinbußen. Konkret sind es vor allem zwei Aspekte von Kontrollverlust, die oft als Würdeverlust empfunden werden: Inkontinenz und Demenz. Die Inkontinenz steht für den Verlust an Kontrolle über den eigenen Körper. Nicht mehr selbst zu Toilette gehen zu können, anderen gar mit dem eigenen Körpergeruch zur Last zu fallen, ist für viele Menschen eine unerträgliche Vorstellung. Drastisch formuliert es Udo Reiter: »Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit
1
Schiller (1954), 244.
2
Luhmann (1999), 53–83.
3
Menke/Pollmann (2007), 143.
4
Ebd., 145.
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Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen.«5 Manchmal schlimmer noch ist die Angst vor einem »Würdeverlust« durch das Versinken in der Demenz. In Reiters Worten: »Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern.«6 Reiters Text erschien unter dem Titel »Mein Tod gehört mir«. Den damals angekündigten Suizid hat der Autor einige Monate später vollzogen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass in der Öffentlichkeit die aktuelle Debatte um den professionell assistierten Suizid oft mit dem Thema Demenz assoziiert wird. Dazu hat kürzlich auch Hans Küng beigetragen. Dass ein katholischer Theologieprofessor sich zum Suizid bekennt und sich selbst aktiv auf diese Option einstellt, lässt natürlich aufhorchen. Im Sinne der kirchlichen Lehre betont Küng, dass das Leben ein Geschenk Gottes sei und deshalb hoher Wertschätzung unterliege; im Gegensatz zur christlichen Tradition geht er allerdings davon aus, dass es möglich sein müsse, dieses Geschenk an den Schöpfer zurückzugeben.7 Auf die Frage, wann er den Zeitpunkt dafür gekommen sehe, verwies Küng in einem Fernsehinterview auf etwaige Anzeichen einer beginnenden Demenz: »Wenn die Demenz kommt, beende ich mein Leben«. Er wolle nicht »als Schatten meiner selbst« weiterexistieren.8 Im Blick auf hohes Alter und die letzte Lebensphase wird das persönliche Würdemanagement schwieriger und womöglich immer mehr zum Würdeverlustvermeidungsmanagement. Wo die Zeichen des körperlichen und geistigen Abbaus unübersehbar werden, scheint sich als letzter Ausweg der Suizid anzubieten. Die Option des professionell begleiteten Suizids soll gleichsam die Notbremse bieten, die man rechtzeitig ziehen kann, ehe man in einen Zustand der »Würdelosigkeit« verfällt. Würdeverlustvermeidungsmanagement kann so zum Wunsch führen, die letzte Lebensphase zu überspringen und sich lieber gleich in den Tod zu stürzen – gleichsam in einem finalen Akt der Kontrolle über das eigene Leben vor dem befürchteten Abgleiten in den totalen Kontrollverlust. Hier zeigt sich noch einmal die tiefe Zweideutigkeit der scheinbaren Konsensformel vom »Leben in Würde und Sterben in Würde«. Wie die Rede vom »Leben in Würde« zur Abspaltung
5
Reiter (2014).
6
Ebd.
7
Vgl. Küng (2014).
8
Vgl. Panorama »Anne Will« (2013).
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der letzten Lebensphase von jedweder Erwartung sinnerfüllten Lebens verleiten kann, so kann die Formel vom »Sterben in Würde« suggerieren, man möge sich doch bitte rechtzeitig einen »würdigen Abgang« verschaffen, ehe man in die »entwürdigende« Lage gerät, vollends von der Pflege und Fürsorge anderer abhängig zu werden. Spezialisierte Organisationen halten ihre Angebote bereit – bezeichnenderweise auch unter dem Titel der »Dignitas«.9
3. UNBEDINGTER GRUND DER MENSCHENRECHTE Der Begriff der Menschenwürde, wie er in Dokumenten des Menschenrechtsschutzes vorkommt, unterscheidet sich grundsätzlich von dem soeben skizzierten Leistungsverständnis der Würde. In Abgrenzung dazu möchte ich ihn im Folgenden als »universalistischen Würdebegriff« bezeichnen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, dem »Mutterdokument« des internationalen Menschenrechtsschutzes, steht die Würde schon im ersten Satz der Präambel. Die Erklärung setzt ein mit den Worten: »recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family.« Die Würde wird hier als allen Menschen »inhärent« verstanden. Sie ist nicht das Ergebnis individueller Leistung, die erst einmal vorgelegt werden müsste, sondern kommt jedem Menschen allein deshalb zu, weil er ein Mensch – in der Metaphorik der Erklärung: »Mitglied der menschlichen Familie« – ist.10 Diese Mitgliedschaft wird nicht erworben und kann nicht aufgekündigt werden, sondern ist strikt bei jedem Menschen vorauszusetzen. Bei der »Anerkennung« der universalen Würde handelt es sich dementsprechend nicht um eine kontraktualistisch gedachte, wechselseitig
9
Nach der im November 2015 vom Deutschen Bundestag beschlossenen Novelle des § 217 StGB sind geschäftsmäßige Angebote von Suizidassistenz strafbewehrt verboten. Die öffentliche Debatte wird indessen weitergehen, und Verfassungsbeschwerden gegen das novellierte Gesetz sind bereits angekündigt worden.
10 In der offiziellen deutschen Übersetzung verblasst die Formulierung »members of the human family« unverständlicherweise zu »Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft«.
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bedingte Abmachung. Die Anerkennung der Würde ist kein Geschäft auf Wechselseitigkeit. Vielmehr bildet die allseitige Achtung der Würde die ihrerseits voraussetzungslose Voraussetzung dafür, dass überhaupt verbindliche Abmachungen entstehen können; sie ist die Möglichkeitsbedingung normativer Interaktion überhaupt.11 Was die nähere philosophische, religiöse oder weltanschauliche Ausdeutung der Menschenwürde angeht, zeigen die internationalen Menschenrechtsdokumente eine kluge Zurückhaltung. Um für Menschen unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Orientierungen zugänglich zu sein, enthält die Allgemeine Erklärung nicht die von einigen Delegierten vorab gewünschte Verankerung in einem bestimmten Menschenbild, z.B. in der biblischen Idee der Gottesebenbildlichkeit.12 Ziel der Erklärung ist nicht die Schaffung eines globalen weltanschaulichen Konsenses; damit würde man sich überheben. Vielmehr konzentriert sich die Konsenserwartung auf konkrete rechtspraktische Konsequenzen, die sich aus der universalen Achtung der Menschenwürde ergeben, etwa das kategorische Folterverbot, die Absage an Diskriminierung und die Ermöglichung freier Selbstbestimmung. Dabei bleibt der Stellenwert der Menschenwürde unabdingbar. Sie repräsentiert die Unbedingtheit eines Achtungsanspruchs, der notwendig alle Menschen gleichermaßen umfasst und in den Menschenrechten konkrete rechtsinstitutionelle Rückendeckung erfährt. Nur in der Rückbindung an die Idee der Menschenwürde lässt sich außerdem der besondere Rang der Menschenrechte als »unveräußerlicher« Rechte (»inalienable rights«) plausibilisieren. Zurück zum Thema Lebensende. Das im universalistischen Würdebegriff implizierte Gleichheitsprinzip bezieht sich nicht nur auf alle Menschen, sondern erstreckt sich auch auf alle Lebensphasen des Individuums.13 Menschenwürde ist nicht eine Eigenschaft, die mit der Entfaltung der physischen und geistigen Kräfte des Menschen anwächst, irgendwann ihren Höhepunkt erreicht, um dann allmählich wieder abzuflauen, wie dies
11 Vgl. Bielefeldt (2011), 22–41. 12 Damit ist nicht bestritten, dass religiöse oder philosophische Letztdeutungen der Menschenwürde sinnvoll sein können; sie lassen sich indes nicht in internationalen Menschenrechtsdokumenten festschreiben. 13 Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes kann ich die Frage nach dem Stellenwert des vorgeburtlichen menschlichen Lebens nicht thematisieren.
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von einem Leistungsbegriff der Würde her nahe liegt. Sie ist mit dem Menschsein des Menschen untrennbar verwoben und in allen biographischen Phasen gleichermaßen präsent. Der Verlust elementarer physischer oder mentaler Fähigkeiten darf daher nicht als Einbuße an Würde missverstanden werden. Wie es Franz Müntefering in seiner Antwort auf Udo Reiter formuliert: »Die Würde des Menschen hat nichts zu tun damit, ob er sich selbst den Hintern abputzen kann. Nichts damit, ob er bis 100 zählen und ob er sich erinnern kann.«14 Man mag einwenden, dass das hier dargelegte universalistische Verständnis der Würde in allzu vornehmer Abstraktheit gegenüber traurigen Verhältnissen verbleibt, die faktisch eben doch vielfach als Bedrohung der persönlichen Würde empfunden werden. Was ist damit gewonnen, wenn man einem Menschen, der sich seiner Inkontinenz schämt oder der angesichts einer sich abzeichnenden Demenz verzweifelt, versichert, dies könne seiner Menschenwürde letztlich keinen Abbruch tun? Besteht hier nicht die Gefahr falscher Vertröstung? Während ein Leistungsbegriff von Würdemanagement die zynische Konsequenz birgt, dass die Einbuße elementarer Fähigkeiten als Würdeverlust verzeichnet wird, könnte ein gleichsam »transempirisch-reiner« Würdebegriff ebenfalls zynisch wirken, wenn er die realen Nöte der Menschen ausblendet. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 hat hier neue Klarheit geschaffen, indem sie den – durchaus empirisch klingenden – Begriff eines »sense of dignity« in die Menschenrechtsdebatte eingeführt hat. Menschen sollen die Möglichkeit haben, ein Bewusstsein oder Gefühl (»sense«) ihrer Würde und der Würde anderer zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Im Hintergrund stehen die Unrechtserfahrungen von Menschen mit Behinderungen, die oft genug erleben mussten, dass sich die Gesellschaft – manchmal sogar die eigene Familie – ihrer zu schämen scheint, dass man sie deshalb an den Rand drängt, am liebsten unsichtbar machen würde. Dies kann sich zuspitzen in der Unmöglichkeit, überhaupt ein Bewusstsein der eigenen Würde zu entwickeln, deren Respekt man nie lebenspraktisch erfahren hat. Genau dagegen richtet sich der Anspruch, Menschen positiv dazu zu befähigen einen »sense of dignity« dauerhaft auszubilden.15 Bei der
14 Müntefering (2014). 15 Der Begriff findet sich in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, also im Kontext des Rechts auf inklusive Bildung.
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Formulierung »sense of dignity« handelt es sich also um einen empirischen Begriff, von dem her gesellschaftliche Exklusionsstrukturen konkreter Kritik ausgesetzt werden. Dies geschieht indes in systematischer Rückbindung an die Anerkennung der inhärenten Würde aller Mitglieder der menschlichen Familie, die als solche niemals zur Disposition stehen kann. Diese Prämisse des Menschenrechtsansatzes schlechthin, formuliert in der Allgemeinen Erklärung, wird in der Präambel der Behindertenrechtskonvention denn auch noch einmal ausdrücklich bekräftigt. Auch im Horizont eines solchen Würdeverständnisses geht es in gewisser Weise um »Leistungen«. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass diese Leistungen nicht dem betroffenen Individuum abverlangt werden, sondern von der Gesellschaft zu erbringen sind. Niemand hat vorab den Beweis zu erbringen, dass er über Menschenwürde verfügt. Vielmehr verhält es sich umgekehrt so, dass die Gesellschaft gefordert ist, ihre Strukturen für alle zu öffnen, Barrieren, Diskriminierungen und Exklusionsmechanismen zu überwinden und ggf. auch positive soziale Unterstützungsleistungen zur Verfügung zu stellen. Dem Staat als dem förmlichen Garanten der Menschenrechte kommt dabei die Aufgabe zu, die normativen Eckpunkte auszugestalten und eine angemessene Infrastruktur zu entwickeln. Im Kontext eines universalistischen Verständnisses klingt die Formel »in Würde leben und in Würde sterben« ganz anders als im Zusammenhang eines Leistungsbegriffs individuellen Würdemanagements.16 Wie in allen Lebensphasen soll der Mensch auch am Ende des Lebens den Respekt seiner unveräußerlichen Würde konkret erfahren können. Dies geschieht dadurch, dass man den Menschen als Verantwortungssubjekt ernst nimmt, gerade auch dann, wenn die konkrete Befähigung dazu brüchig wird und Unterstützungsleistungen immer notwendiger werden. Deshalb gilt es, die letzte Lebensphase und das Sterben – gegen Tendenzen totaler Hospitalisierung – wieder als Bestandteil des Lebens zu begreifen und in die Gesellschaft zurückzuholen.17 Dies ist natürlich eine langfristige Aufgabe, die nur durch das Engagement vieler Menschen gelingen kann.
16 Vgl. auch die Beschreibung unterschiedlicher Sterbenarrative bei Welsh (2015), 499–513, insbes. 502. 17 Vgl. dazu auch den Beitrag von Klaus Gahl in diesem Band.
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4. MENSCHENRECHTLICHE FREIHEIT IN EXEMPLARISCHER SPEZIFIZIERUNG Die Menschenrechte sind auch in der letzten Lebensphase unverzichtbar.18 Dazu hier nur einige Beispiele. Nehmen wir etwa das Recht auf Privatsphäre.19 Wie lässt sich gewährleisten, dass Menschen, die rund um die Uhr von physischen Unterstützungsleistungen abhängig sind, überhaupt noch Reste von Privatleben kennen? Wie können sie durchsetzen, dass, wer ins Zimmer kommt, wenigstens vorher anklopft? Wie können Schamgrenzen bei der Körperpflege berücksichtigt werden? Welchen Stellenwert muss man dabei der Geschlechterdifferenz oder unterschiedlichen kulturellen Prägungen der Betroffenen einräumen? Wie funktioniert der Schutz höchstprivater Informationen in der Praxis des Gesundheitswesens oder des Versicherungswesens? Die Schwierigkeiten in allen diesen Handlungsfeldern liegen auf der Hand. Daraus resultiert die Aufgabe, das Recht auf Privatheit auf komplizierte Lebenslagen hin angemessen zu spezifizieren, was nur im Gespräch mit den Betroffenen und ihren Angehörigen gelingen kann. Das führt uns zum Thema der Meinungsäußerungsfreiheit.20 In der Situation am Lebensende geht es offensichtlich nicht um Pressezensur, Internetzensur und staatliche Bevormundung, an die man sonst meist denkt, wenn von Meinungsäußerungsfreiheit die Rede ist. Die Probleme liegen anders. Eine zentrale Herausforderung besteht etwa darin, einem Menschen, der sich vielleicht kaum noch eigenständig artikulieren kann, dabei die notwendige Hilfestellung zukommen zu lassen. Oft bedarf es beson-
18 Manche Rechte verlieren indessen ihre praktische Relevanz oder Anwendbarkeit am Lebensende, so etwa die Rechte auf Berufsfreiheit, Gewerkschaftsfreiheit oder Asyl. 19 Vgl. z.B. Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Die in der AEMR zunächst ohne unmittelbare völkerrechtliche Verbindlichkeit proklamierten Rechte sind in verschiedenen Konventionen der Vereinten Nationen – aber auch in regionalvölkerrechtlichen Konventionen – näher ausgestaltet und mit juristischer Verbindlichkeit ausgestattet worden. Im Rahmen des vorliegenden Artikels kann ich darauf nicht näher eingehen. Ich beschränkte mich in der Regel darauf, die Artikel innerhalb des Gründungsdokuments der UN-Menschenrechte, nämlich der Allgemeinen Erklärung von 1948, zu nennen. 20 Vgl. z.B. Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
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derer Anstrengungen, um persönliche Willensäußerungen überhaupt zu vernehmen, zu verstehen, zu interpretieren oder aus Gesten zu erschließen. Den Angehörigen kommt bei dieser Aufgabe eine zentrale Rolle zu. In Grenzfällen bleibt nur der Ausweg, im Rückblick auf die biographisch verankerten Grundüberzeugungen eines Menschen zu vermuten, was sein Wille in einer bestimmten Situation – etwa bei der Entscheidung über Fortführung oder Abbruch einer Behandlung – sein würde. Damit sind wir bereits beim Recht auf Ehe und Familie.21 Die allermeisten Menschen möchten ihre letzte Lebensphase im Kreis vertrauter Angehöriger verbringen. Im Blick auf dieses Interesse und seine menschenrechtliche Abstützung u.a. durch das Recht auf Familie ließe sich ein Vorrang ambulanter Unterstützungsleistungen gegenüber stationärer Versorgung begründen, soweit dies möglich ist und sofern es dem Willen der Betroffenen entspricht. Natürlich brauchen Angehörige dafür angemessene Unterstützung. Das Recht auf Familie darf allerdings nicht zum Recht der Familie verrutschen, über einen Menschen in der letzten Lebensphase nach Gutdünken zu verfügen. Es bleibt ein Recht des betroffenen Menschen auf Pflege familiärer Beziehungen in der von ihm gewünschten Art und Weise. Religiöse Sinnfragen können am Lebensende eine neue Dringlichkeit erfahren. Für viele Menschen sind daher auch religiöse Symbole und der Zugang zu Seelsorge in dieser Phase besonders wichtig. Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit22 verlangt, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Seelsorge muss allerdings ein Angebot bleiben, das niemandem aufgedrängt wird. Proselytenmacherei am Sterbebett wäre ein offensichtlicher Missbrauch. Auch das Insistieren auf konfessionelle Besonderheiten, die Außenstehenden vielleicht belanglos erscheinen mögen, gehört zur persönlichen Religionsfreiheit dazu und soll respektiert werden. Die Menschenrechte verbieten jede grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Menschen.23 Menschen vermeidbare Schmerzen zuzumuten – etwa aufgrund von Ignoranz, Gleichgültigkeit oder
21 Vgl. z.B. Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 22 Vgl. z.B. Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 23 Vgl. z.B. Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Neben dem Verbot der Folter im engeren Sinne erstreckt sich dieser Artikel im weiteren Sinne auch auf das Verbot grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung.
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problematischer Prioritätensetzung – kann deshalb eine schwere Menschenrechtsverletzung sein. Das Bewusstsein dafür ist in den letzten Jahrzehnten geschärft worden, nicht zuletzt im Kontext der Folterprävention. So obliegt es unabhängigen Präventionsausschüssen, unangemeldete Besuche in Einrichtungen durchzuführen, in denen erfahrungsgemäß besondere Risiken für grausame, erniedrigende oder unmenschliche Behandlung bestehen. Es ist wenig bekannt, dass die Zuständigkeit des nationalen Folterpräventionsmechanismus auch Seniorenheime und Institutionen der Pflege einbezieht, in denen viele Menschen ihre letzten Lebensjahre verbringen.24 Von offensichtlicher Bedeutung ist ferner das Recht auf Gesundheit. Der volle Titel lautet: »Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit«.25 Während das jeweils »erreichbare Höchstmaß« im Laufe des Lebens stark variiert, bleibt das Recht gleichwohl uneingeschränkt bestehen. Am Ende des Lebens wird es typischerweise besonders wichtig. Wie im abschließenden Kapitel noch dargelegt werden soll, beinhaltet das Recht auf Gesundheit auch die Komponente palliativer Versorgung, und zwar gleichranging zu den präventiven und kurativen Aufgaben der Medizin. Ich breche die Aufzählung exemplarischer Menschenrechtsnormen hier ab. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Verein mit weiteren Menschenrechten die Menschenwürde rechtsinstitutionell abstützen – auch in der letzten Lebensphase. Sie leisten dies dadurch, dass sie dem Menschen als Verantwortungssubjekt Achtung entgegenbringen und ggf. Unterstützung angedeihen lassen. Alle Menschenrechte erweisen sich dabei zuletzt als Freiheits-
24 Vgl. Follmar-Otto/Cremer (2004). Bei der weiteren Ausgestaltung des Folterverbots in Artikel 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte ist übrigens eine Ergänzung eingefügt worden, nämlich das Verbot fremdnütziger medizinischer oder sonstiger wissenschaftlicher Experimente an Nichteinwilligungsfähigen. Auch diese Norm kann für den Umgang mit Menschen am Lebensende unmittelbar relevant sein. 25 So Artikel 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird das Recht auf Gesundheit lediglich knapp angedeutet im Kontext des Artikels 25.
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rechte.26 Das gilt nicht nur für Rechte, die dies im Titel tragen – Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Religions- und Weltanschauungsfreiheit –, sondern beispielsweise auch für die Rechte auf Privatsphäre, Familie oder Gesundheit. Die Definition dessen, was als »privat« unter besonderen Schutz fallen soll, obliegt den Betroffenen, die deshalb in der Regel zustimmen müssen, etwa wenn sensible Gesundheitsdaten weitergereicht werden sollen. Das Recht auf Familie schützt die familiären Beziehungen von Menschen, deren Gestaltung zugleich ein Freiheitanspruch ist. Und zum Recht auf Gesundheit gehört die Patientenautonomie, also wiederum ein Freiheitsanspruch.
5. RELATIONALE AUTONOMIE Der den Menschenrechtsansatz prägende Freiheitsanspruch durchzieht auch die Behindertenrechtskonvention vom Dezember 2006, die zu den jüngeren internationalen Menschenrechtsdokumenten zählt. Bemerkenswert ist, dass das Freiheitsprinzip in der Behindertenrechtskonvention sogar eine besonders prägnante Formulierung erfährt, nämlich im Begriff der Autonomie, der in früheren internationalen Menschenrechtsdokumenten gar nicht vorkommt.27 Nachdem bereits die Präambel die Autonomie des Individuums herausstellt,28 verlangt Artikel 3 (a) »respect for inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make one’s own choices, and independence of persons«. Dass ausgerechnet eine Konvention, die die Rechte von Menschen mit Behinderungen (darunter auch geistigen Behinderungen) verankert, den Autonomiebegriff stark macht, mag überraschen. Erklären lässt sich dies aus den massenhaften Erfahrungen von Bevormundung, oft innerhalb separierender »Sonderinstitutionen«. Dagegen fordert die Konvention Respekt der Autonomie und verknüpft sie mit dem Anspruch auf Inklusion aller Menschen in die Gesellschaft. Der Begriff der Inklusion – in der prägnanten Formulierung durch die »Aktion Mensch«:
26 Genauso gilt, dass alle Menschenrechte Gleichheitsrechte sind, infolge der Achtung der gleichen Würde jedes Menschen. Näheres dazu bei Bielefeldt (1998), 68–73. 27 Vgl. zum Folgenden: Bielefeldt (2009). 28 Vgl. Behindertenrechtskonvention, Präambel, Abschnitt n.
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»Dabei sein! Von Anfang an«29 – ist durch die Konvention als menschenrechtlicher Leitbegriff ganz neu profiliert worden. Wie das Inklusionsprinzip im Lichte der Autonomie verstanden werden muss, so gilt im Gegenzug, dass Autonomie nur durch Inklusion verwirklicht werden kann.30 Mit dieser Verklammerung macht die Konvention deutlich, dass Autonomie stets in sozialen Beziehungen erfahren wird, die ihrerseits so gestaltet sein sollen, dass sie der freien Selbstbestimmung aller Raum und Unterstützung geben. Dazu ein Beispiel. Wenn es um wichtige Entscheidungen geht, sollen Betroffene auch im Falle schwerer Behinderung nicht entmündigt werden, solange dies irgend möglich ist, sondern stattdessen Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung erfahren. In der Sprache der Konvention: Es gilt der Vorrang eines »supported descision making« gegenüber Formen eines »substituted decision making«, die für äußerste Grenzfälle vorbehalten bleiben sollen.31 Dieser Grundsatz ist – wie viele andere Orientierungsmarken der Behindertenrechtskonvention – unmittelbar relevant auch für den Umgang mit Menschen in ihrer letzten Lebensphase, wenn die geistigen Kräfte allmählich schwinden. Die Behindertenrechtskonvention hat dazu beigetragen, den in manchen Debatten geradezu zerfledderten Autonomiebegriff für die Menschenrechtsdiskussion wiederzugewinnen. Oft erlebt man in Diskussionen, dass die Begriffe Autonomie und Fürsorge bzw. Unterstützung als Gegensatzpaar verwendet werden. So mag sich der Eindruck verfestigen, Autonomie sei ein Privileg der Starken, Gesunden und Selbständigen, die ihr Leben »voll im Griff« haben. Wer hingegen auf Fürsorge durch andere angewiesen sei, müsse dafür mit einem Verlust an Autonomie bezahlen. Ein solch verengtes Autonomieverständnis ähnelt dem eingangs skizzierten Leistungsbegriff von Würdemanagement. Auch der finale Akt eines Würdeverlustvermeidungsmanagements – der Griff nach dem Giftcocktail – wird ja nicht selten als Manifestation individueller Autonomie propagiert. Der Zuspruch der Autonomie verrutscht auf diese Weise zur Zumutung, auch in schwierigen Lebenslagen doch bitte möglichst selbst klarzukom-
29 Vgl. Aktion Mensch (2010). 30 Vgl. Graumann (2011). 31 Dies hat der zuständige UN-Ausschuss in seinen Concluding Observations zum ersten Deutschen Staatenbericht noch einmal eingeschärft. Vgl. UN-Ausschuss für die Rechte mit Personen mit Behinderungen (2015), Abschnitt 26.
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men. Im Namen einer neoliberal gefassten Autonomie wird das Individuum ganz auf sich selbst zurückgeworfen. »Autonomie« gerät so zum Schlagwort, das Ängste auslösen kann, ja einen geradezu frösteln lässt.32 Die Behindertenrechtskonvention hat den altehrwürdigen Autonomiebegriff von dem kalten, »metallenen« Klang, den er als Schlagwort in manchen Debattenkontexten angenommen hat, befreit und einmal mehr deutlich gemacht, dass es sich, recht verstanden, um einen humanen Beziehungsbegriff handelt.33 Autonomie ist eigentlich immer relationale Autonomie. Zum einen bedarf jeder Mensch Unterstützung, um selbstbestimmt leben zu können. Besonders deutlich wird dies in Situationen erhöhter Vulnerabilität, etwa bei Behinderung, im Falle schwerer Erkrankung, in hohem Alter oder am Lebensende. Die Autonomie, die es dabei zu fördern gilt, ist stets zugleich – in wie auch immer gebrochener, vielleicht nur noch rudimentärer Form – vorauszusetzen. Man kann Autonomie nicht von außen »schaffen«, sondern nur in Wahrnehmung der stets kontingenten Möglichkeiten eines Menschen unterstützen.34 Zum anderen ist die Autonomie aber auch von innen her auf Kommunikation hin ausgerichtet. Autonomie ist keine Einbahnstraße. Der trotzige oder verzweifelte Slogan »mein Tod gehört mir«35 ist daher gerade kein Manifest der Autonomie, als der er fälschlich ausgegeben wird. Der verständliche Protest gegen eine befürchtete Bevormundung in der Sterbephase, der in diesem Slogan zu Wort kommt, gerät dabei zur Selbstabschließung des Individuums: »mein Tod geht euch nichts an«. Gegen diese privatistische Abschottung ist Widerspruch angezeigt; denn sie blockiert von vornherein alle Versuche, das Sterben wieder stärker
32 Der Autonomiebegriff, wie er im Titel der dem vorliegenden Band zugrunde liegenden Tagung »Autonomie und Menschenrechte am Lebensende« vorkam, hatte im Vorfeld skeptische Rückfragen ausgelöst, aus denen hervorging, wie ambivalent dieser Begriff wahrgenommen wird. Bei einem Gesprächspartner von der Presse führte die Verwendung dieses Begriffs gar zur Vermutung, auf der Tagung werde der professionell assistierte Suizid propagiert. Derjenige, der diese Vermutung äußerte, reagierte dann erleichtert, als die Veranstalter ihm erläuterten, dass »Autonomie« in der Tagung anders verstanden werden soll. 33 Vgl. in diesem Sinne auch den Beitrag von Jan P. Beckmann in diesem Band; außerdem Wolff-Metternich (2012), 511–523. 34 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Marianne Hirschberg in diesem Band. 35 So auch der Titel des zitierten Aufsatzes von Reiter.
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als Teil des Miteinanderlebens zu begreifen und in die Gesellschaft zurückzuholen.36 Es ist bedauerlich, dass der Autonomiebegriff in öffentlichen Debatten um das Lebensende fast ausschließlich mit der Option der Selbsttötung assoziiert wird. Vielleicht kann die Behindertenrechtskonvention helfen, dies zu ändern. Es wäre wichtig, neoliberale Verhärtungen und privatistische Engführungen in der Verwendung des Autonomiebegriffs aufzubrechen und wieder deutlich machen, dass Autonomie nur als Relationsbegriff Sinn macht. Nebenbei gesagt, ist dies auch die Pointe Immanuel Kants, der bekanntlich mehr als jeder andere Denker die Autonomie als normatives Leitprinzip etabliert hat. Der Mensch nimmt nach Kant seine Autonomie gerade dadurch wahr, dass er sich selbst überschreitet und über die von ihm ausgebildeten persönlichen Handlungsmaximen zugleich einen Beitrag zur normativen Gestaltung der gemeinsamen Lebenswelt leistet. Dass Kant die Selbsttötung äußerst kritisch sieht, hat systematische Gründe.37
6. PALLIATIVE CARE ALS EIN SICH ENTWICKELNDER MENSCHENRECHTSANSPRUCH Das persönliche Lebensende lässt sich letztlich nicht administrieren oder »verrechtlichen«; es lässt sich auch nicht »vermenschenrechtlichen«. Es besteht aber eine gesellschaftliche Verantwortung dafür,38 dass Menschen ihr Lebensende – auch die Sterbephase – möglichst unter Bedingungen erleben können, die ihrer Würde entsprechen. Das Potenzial der internationalen Menschenrechte, dazu beizutragen, ist groß. Denn die Menschenrechte basieren auf einem Begriff der Menschenwürde, der nicht auf individuelle
36 Die Antwort Münteferings auf Reiter trägt den passenden Titel »Freiheit ist auch die Freiheit des anderen«. 37 Kant lehnt zumindest einen in gleichsam kaltblütiger Bilanzierung verbleibender Glücksoptionen durchgeführten Suizid dezidiert ab. Dies ergibt sich folgerichtig aus seinem Autonomiebegriff. Zum Kantischen Autonomiebegriff vgl. auch Bielefeldt (2003), 68–78. 38 Innerhalb dieser allgemeinen gesellschaftlichen Verantwortung kommt dem Staat eine spezifische Funktion als förmlicher Garant der Menschenrechte zu. Dies kann hier nicht vertieft werden.
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Leistungsfähigkeit abstellt, sondern die Würde in allen Menschen und in allen Lebensphasen gleichermaßen annimmt. Praktisch erfahrbar wird dies nicht zuletzt in der Realisierung der elementaren Rechte, die ihrer inhaltlichen Ausrichtung nach letztlich allesamt Freiheitsrechte sind. Von dorther lässt sich auch der Autonomiebegriff in seiner humanen Bedeutung – nämlich als Beziehungsbegriff – neu vergewissern. Es besteht die Aufgabe, auch die letzte Lebensphase in die Gesellschaft zurückzuholen und hohes Alter und das Sterben als Bestandteile des Lebens zu begreifen.39 In der Konsequenz müsste dies vor allem darauf hinauslaufen, pflegenden Angehörigen mehr Unterstützung zu bieten sowie die Tätigkeit von Pflegefachkräften adäquat zu honorieren.40 Man muss allerdings feststellen, dass das Thema Lebensende im internationalen Menschenrechtsschutz faktisch bislang nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die ihm gebührt. Immer noch bildet es eher ein Randthema. Eine internationale Konvention zu den Rechten älterer Menschen, obwohl schon lange gefordert, gibt es nach wie vor nicht. Entsprechende Vorschläge liegen auf Eis.41 Innerhalb des Diskriminierungsschutzes hat das Thema Altersdiskriminierung42 bislang vergleichsweise wenig Profilierung erfahren. Auch hier bleibt viel zu tun. Immerhin hat der UN-Menschenrechtsrat im Jahre 2013 erstmals eine Sonderberichterstatterin für die Rechte älterer Menschen eingesetzt und damit eine neue Position geschaffen, von der wichtige Impulse auch für die menschenrechtliche Gestaltung des Lebensendes zu erhoffen sind.43 Außerdem hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte 2012 eine umfassende Studie
39 Der Slogan »Dabei sein! Von Anfang an«, mit dem die »Aktion Mensch« den Anspruch der Inklusion übersetzt, könnte erweitert werden in Richtung eines »Dabeisein! Auch am Ende des Lebens«. 40 Vgl. dazu den Beitrag von Marianne Rabe in diesem Band. 41 Zum Stand der Debatte vgl. Mahler (2013). Natürlich sind Fragen des Lebensendes und des hohen Alters nicht in jedem Fall verknüpft, hängen aber doch in der Regel eng zusammen. 42 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters findet sich z.B. in Artikel 21 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta, die im Rahmen des Lissabonner Vertrags im Jahre 2009 rechtlich in Kraft getreten ist. 43 Nähere Informationen dazu gibt das UN-Hochkommissariat unter der Email Adresse: [email protected].
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zu den Rechten älterer Menschen vorgelegt, die nicht zufällig starke Anleihen bei der Behindertenrechtskonvention macht.44 Viele der darin neu konturierten Prinzipien wie »supported decision making«, Barrierefreiheit und Inklusion sind auch für die Verwirklichung der Rechte von Menschen am Lebensende unmittelbar relevant, und es wäre sicherlich sinnvoll, dies in einer eigenen Konvention für die Rechte Älterer genauer auszuarbeiten und rechtsverbindlich zu verankern. Mehr Aufmerksamkeit auch im Menschenrechtskontext erfährt neuerdings das Thema »Palliative Care«.45 Gegen die Dominanz professionellen, oft technisch basierten »Machens« in der Medizin sollen persönliche Zuwendung, Sensibilität für biographische Besonderheiten, Beziehungsarbeit, ggf. auch spirituelle Bedürfnisse wieder mehr Raum gewinnen.46 Deshalb steht der Anspruch auf »Palliative Care« im Schnittpunkt gleich mehrerer Menschenrechte.47 Thematisiert wird er gleichwohl meist im Kontext des Rechts auf Gesundheit, verankert in Artikel 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Wie andere wirtschaftliche und soziale Menschenrechte enthält das Recht auf Gesundheit unterschiedliche Dichtgrade juristischer Verbindlichkeit.48 Während beispielsweise der diskriminierungsfreie Zugang zur bestehenden Gesundheitsinfrastruktur eines Landes unmittelbar gewährleistet sein muss und ggf. auch individuell rechtlich eingefordert werden kann, ist der Staat im Weiteren auch dazu verpflichtet, Infrastrukturentwicklung zu betreiben, um das Recht auf Gesundheit für alle sukzessive immer umfassender zu realisieren; dabei bleibt dem Staat aber ein weiter Ermessensspielraum. Für die Überwachung der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit durch die Staaten ist der UN-Ausschuss für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zuständig, der Berichte prüft und Individualbeschwerden entgegennimmt.
44 Vgl. UN-Hochkommissariat (2012). 45 Ich bevorzuge den englischen Begriff »Care« gegenüber dem sehr viel engeren deutschen Begriff »Versorgung«. 46 Vgl. Eggebrecht/Kettler (2002), 171–195. 47 Alle oben in Kapitel 4 exemplarisch angesprochenen Rechte sind auch hier unmittelbar relevant. 48 Vgl. dazu grundlegend Krennerich (2013).
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Bereits im Jahre 2000 hat dieser UN-Ausschuss in einem »General Comment« zum Recht auf Gesundheit die palliative Komponente der Gesundheitsversorgung thematisiert, und zwar gleichrangig zu den präventiven und kurativen Komponenten.49 Infolgedessen verlangt der Ausschuss »attention and care for chronically and terminally ill persons«. Ziel müsse es u.a. sein, Menschen unnötige Schmerzen zu ersparen.50 Anand Grover, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit von 2008 bis 2014, hat dieses Anliegen wiederholt aufgegriffen und weiter konkretisiert. In seinem Bericht an die UN-Generalversammlung aus dem Jahre 2011 merkte er kritisch an, dass es generell an der Verfügbarkeit von Narkotika mangele, die für palliative Therapien erforderlich seien. 51 Außerdem, so klagte er, würden ältere Menschen in der palliativen Versorgung gegenüber jüngeren oftmals benachteiligt.52 Grovers Nachfolger Dainius Pūras stellte in einer seiner ersten Presseerklärungen als aktuell amtierender Sonderberichterstatter am 11. Oktober 2014 (dem internationalen Jahrestag der Hospizbewegung), Palliativversorgung als »an obligatory integral part« des Rechts auf Gesundheit heraus. In der Praxis sei dies leider bislang kaum spürbar; denn an die 90 % der Menschen weltweit hätten derzeit keinen Zugang zu palliativer Versorgung, so dass diesbezüglich enorme menschenrechtliche Herausforderungen vor uns lägen. Erschienen ist die Presseerklärung unter dem Titel »Who cares about the suffering of older persons at the end of their lives? We do«.53 Es handelt sich dabei um einen Gemeinschaftsakt des Sonderberichterstatters zum Recht auf Gesundheit unter anderem zusammen mit der Sonderberichterstatterin für die Rechte älterer Personen, Rosa Kornfeld-Matte, deren Mandat, wie erwähnt, erst im Jahre 2013 geschaffen wurde. Diese Kooperation hat Signalwirkung. Die neue Aufmerksamkeit für das Thema Palliativversorgung ist ein ermutigendes Zeichen. Natürlich kann man keine Wunder davon erwarten,
49 Vgl. UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2000), Abschnitt 34. 50 Ebd., Abschnitt 25. 51 Vgl. UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit (2011), Abschnitt 55. 52 Vgl. ebd. Abschnitt 57. 53 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit et al. (2014).
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dass bestimmte Leistungen nun sukzessive auch als Menschenrechtsansprüche profiliert werden. Man sollte die Relevanz solcher Entwicklungen aber auch nicht unterschätzen, selbst wenn sie nicht schon kurzfristig zu greifbaren Resultaten führen. Am Beispiel der Behindertenrechtskonvention lässt sich eindrucksvoll zeigen, dass die menschenrechtliche Herangehensweise eine durchaus produktive »Politisierung« von Themen mit sich bringen kann, die zuvor lediglich in Fachkreisen bzw. unter direkt Betroffenen erörtert worden waren. Eine ähnliche menschenrechtlich gestützte Politisierung wäre auch dem menschenwürdigen Umgang mit dem Lebensende zu wünschen. Eine eigene Konvention für die Rechte älterer Menschen wäre ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Aber auch die bislang verfügbaren Instrumente des Menschenrechtsschutzes lassen sich durchaus kreativ nutzen. Obwohl dem Staat die förmliche Gewährleistungsfunktion für die Menschenrechte zukommt, können diese nur in breitem gesellschaftlichen Engagement wirksam werden. Die Hospizbewegung54 bildet eine internationale gesellschaftliche Bewegung, innerhalb derer sich allein in Deutschland Zentausende für Menschen in ihrer letzten Lebensphase einsetzen. Wenn die »Sterbebegleiterinnen«55 der Hospizbewegung, die sich tatsächlich als »Lebensbegleiterinnen«56 verstehen, soziale Kontakte mit schwer Kranken, Sterbenden und ihren Angehörigen pflegen, überwinden sie die Mauern, die durch das angstbesetzte Tabu Sterben entstanden sind. Diese Mauern verengen nicht nur das Leben der unmittelbar Betroffenen und ihrer Angehörigen; sie spalten auch die Gesellschaft. Die Hospizbewegung übernimmt deshalb – über ihr unverzichtbares caritatives Engagement hinaus – auch eine eminent politische Funktion, wenn sie Themen wie Sterben, Tod und Trauer beispielsweise in die Schulen und andere gesellschaftliche Institutionen trägt. Haben wir es bei der Hospizbewegung zugleich auch mit einer Menschenrechtsbewegung zu tun – vielleicht mit einer Menschenrechtsorganisation neuen Typs? Dieser Gedanke scheint noch recht ungewohnt zu sein.
54 Vgl. dazu Jordan (2010), 243–247. 55 Ganz überwiegend handelt es sich um Frauen. 56 So das Selbstverständnis der Aktivistinnen im Hospizverein Forchheim, geleitet von Dieter Behlolavek, mit denen ich im März 2016 intensive und aufschlussreiche Gespräche führen konnte.
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In dem Maße, in dem der Zugang zur Palliativversorgung als Menschenrechtsanspruch allmählich Profil gewinnt, liegt es aber durchaus nahe, die Hospizbewegung als das zivilgesellschaftliche Pendant zum Staat zu verstehen, dem es obliegt, das Menschenrecht auf Gesundheit, einschließlich des Rechts auf palliative Versorgung, nach Maßgabe des Möglichen zu realisieren. Hier eröffnen sich neue politische und rechtliche Handlungsoptionen, die noch nicht annähernd ausgelotet sind. So haben zivilgesellschaftliche Organisationen bei den periodischen Monitoring-Verfahren im Rahmen der jeweiligen Menschenrechtskonventionen weitreichende Mitwirkungsmöglichkeiten,57 von denen beispielsweise die Behindertenverbände mittlerweile mit Erfolg Gebrauch machen. Analoge Entwicklungen wären auch innerhalb der Hospizbewegung denkbar, deren Erfahrungsschatz für eine Menschenrechtskultur im Umgang mit Sterbenden und ihren Angehörigen in jedem Fall unverzichtbar ist.
LITERATUR Aktion Mensch (2010): »Pressemitteilung: ›Inklusion – Dabei sein! Von Anfang an‹«, vom 27.04.2010, Online: https://www.aktion-mensch.de/ presse/pressemitteilungen/detail.php?id=421 [1.08.2016]. Anderheiden, Michael/Eckart, Wolfgang U. (Hg.) (2012): Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 1, Berlin: De Gruyter. Bielefeldt, Heiner (1998): Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt: Primus. Bielefeldt, Heiner (2003): Symbolic Representation in Kant’s Practical Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press. Bielefeldt, Heiner (2009): Das Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. Essay des Deutschen Instituts für Menschenrechte, 3. erweiterte Auflage, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Bielefeldt, Heiner (2011): Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg: Herder.
57 Beratung dafür bietet das Deutsche Institut für Menschenrechte: www.institutfuer-menschenrechte.de.
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Selbstbestimmung als Zwang? Freiheitsrechte und medizinische Entscheidungen am Lebensende unter den Bedingungen knapper Ressourcen O LIVER T OLMEIN
1. D IE ÖKONOMISCHE S EITE DER S ELBSTBESTIMMUNG IM G ESUNDHEITSWESEN In der gegenwärtigen gesundheitspolitischen und bioethischen Debatte ist oft und viel vom Selbstbestimmungsrecht die Rede – unabhängig davon, ob es um Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik geht, um Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch, um assistierten Suizid oder auch Tötung auf Verlangen. Wer sich dabei jeweils selbst bestimmt, oder was das in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht in besonderem Maße vor anderen Möglichkeiten eine Verhaltensweise zu begründen auszeichnet, wird dabei im gesellschaftlichen Diskurs selten reflektiert. So wenig, wie die Problematik konkurrierender Rechte, die beispielsweise Entscheidungen über Embryonen-Auswahl oder Fortführung einer Schwangerschaft prägen können. Auch die Gefahr, dass Selbstbestimmungsrecht bloß formal als Selbstentscheidungsrecht verstanden, Autonomie nicht verwirklicht, sondern ihr entgegensteht, ist der öffentlichen Debatte weitgehend fremd.1
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Vgl. Achtelik (2016); Degener/Köbsel (1992).
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Diese wenig in die Tiefe gehende Akzentuierung eines nicht weiter qualifizierten Selbstbestimmungsrechtes erscheint auch überraschend, weil gerade das zivilrechtlich begründete medizinische Haftungsrecht in Deutschland durch den Gedanken geformt ist, dass nicht schon die bloße MögMöglichkeit, selbst zu entscheiden, eine Qualität bedeutet. Entscheidungen verlangen viel mehr eine ausreichend tragfähige Basis – die auf ausreichender Information beruht –, sonst können sie unwirksam sein. Dieses Erfordernis der informierten Einwilligung, des »informed consent«, ist auch außerhalb der medizinischen und juristischen Fachwelt durchaus bekannt und akzeptiert.2 Das Sozialrecht weist mit Blick auf Patienten deutlich andere Akzente auf, als das Zivilrecht, das der qualifizierten Selbstbestimmung besondere Bedeutung beimisst. Charakteristisch dafür ist das Spannungsfeld zwischen den weit ins Sozialrecht hineinragenden Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Leistungsrecht der Sozialgesetzbücher, beispielsweise des Sozialgesetzbuchs V, das die Grundlage für das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bildet. Die 2009 durch die Ratifizierung auch ins deutsche Recht überführte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) begründet in Artikel 25 für Menschen mit Behinderungen ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit.3 Im SGB V findet sich dagegen kein »Recht auf Gesundheit«, es wäre auch mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V wahrscheinlich schwer zu vereinbaren. Allerdings ist Artikel 25 der UN-BRK nicht ausreichend konkret, als dass er direkte Leistungsansprüche auslösen würde – er bedarf dafür der konkretisierenden Umsetzung in entsprechende Regelungen.4 Das SGB V enthält aber weiter auch keine Vorschriften, die ausdrücklich ein Selbstbe-
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Eine weitere Erfordernis, die nicht zu vernachlässigen ist, ist das Erfordernis der Rechtzeitigkeit: Die Einwilligung muss zu einem Zeitpunkt erteilt werden, der möglichst frei von Entscheidungszwängen ist und ermöglicht, sie zu überdenken. Während die Informiertheit ein materielles Kriterium darstellt, handelt es sich hier um eine prozedurale Anforderung, die in der Regel bei einem 24stündigen Abstand zwischen Einwilligung und operativem Eingriff als gewahrt gilt.
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Dazu: Hendriks/Lewis (2014).
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Zur Anwendung von Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention im Sozialrecht vgl. BSG, Urteil v. 6.03.2012.
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stimmungs- oder Wunsch- und Wahlrecht für Patienten begründen, wie sie die §§ 1 und 9 des Sozialgesetzbuchs IX für Menschen mit Behinderungen enthalten.5 Stattdessen stützt sich das SGB V auf den Grundsatz von Solidarität und Eigenverantwortung, rückt also die Anforderungen – gesundheitsbewusste Lebensführung, frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen, aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung – an die Versicherten in den Mittelpunkt. Auch wenn diese Grundsätze das jeweils individuelle Behandlungsverhältnis zwischen Ärztin/Arzt und Versicherten weniger prägen, als vorstellbar wäre, schaffen sie doch einen tatsächlichen und ideologischen Rahmen, innerhalb dessen Entscheidungen über Behandlungs- und Versorgungsmaßnahmen getroffen werden. Dieser Rahmen ist auf bemerkenswert andere Weise bestimmt, als das die öffentliche Hervorhebung des »Selbstbestimmungsrechts« vermuten ließe. Das Medizinrecht führt diesen Ansatz, der globale Pflichten formuliert, gleichzeitig aber Rechte nur als konkrete Leistungsansprüche ausgestaltet, im Wirtschaftlichkeitsgebot weiter. Hier wird die Möglichkeit selbstbestimmter Entscheidungen weitgehend relativiert. Das in § 12 SGB V ausformulierte Wirtschaftlichkeitsgebot hat seinen Ursprung in der Notverordnung vom 26. Juli 1930,6 also einer damals höchst umstrittenen machtpolitischen Maßnahme auf Grundlage des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung in einer Phase, in der nach dem Börsencrash von 1929 und angesichts der dramatischen Situation der deutschen Wirtschaft Krisenbewältigung durch autoritäre Gesetzgebung versucht wurde. Das in der medizinrechtlichen Literatur und der sozialrechtlichen Praxis nicht infrage gestellte, sondern wie selbstverständlich hingenommene oder sogar überzeugt verfochtene Wirtschaftlichkeitsgebot verlangt heute wie vor knapp neunzig Jahren, dass die erbrachten Leistungen »ausreichend, wirtschaftlich und zweckmäßig« zu sein haben, »das Maß des Notwendigen nicht überschreiten [dürfen]« und, soweit sie nicht wirtschaftlich oder nicht notwendig sind, vom Versicherten nicht beansprucht, vor allem vom Leistungs-
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§ 1 SGB IX: »Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen […], um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu fördern«; § 9: »Bei der Entscheidung über die Leistungen […] wird berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen«. Ähnlich § 9 Absatz 2 SGB XII.
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Vgl. Reichsministerium des Innern (1930), insbes. 352, Nr. 48.
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erbringer aber auch nicht bewirkt werden dürfen. Es ist den konkreten Leistungsvorschriften vorangestellt und gibt diesen damit einen festumrissenen Rahmen vor. Die darin zum Ausdruck gebrachte Ökonomisierung durch Leistungsregulierung hat angesichts der erheblichen Ausgaben, die für Krankenversorgung, Gesundheitserhalt und Pflege getätigt werden, zumindest einen rationalen Kern. Im Jahr 2015 verzeichnete die soziale Pflegeversicherung Ausgaben für Leistungen in Höhe von 26,64 Milliarden Euro (bei allerdings 30,61 Milliarden Euro Einnahmen). Die Ausgabenträger (also auch der Privatpersonen und privaten Pflegekassen) lagen 20147 bei knapp 42 Milliarden Euro, wobei die ambulante Pflege nur etwa ein Drittel der Kosten erfordert. Die Kosten der ambulanten Versorgung steigen allerdings auch deutlich stärker an, als die Mittel, die in der stationären Pflege eingesetzt werden.8 Zehn Jahre zuvor, 2005, betrugen die Ausgaben noch 16,98 Milliarden Euro, die Einnahmen lagen damals mit 17,38 Milliarden Euro nur knapp darüber.9 Die Ausgaben für die Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII betrugen 2013 3,82 Milliarden Euro.10 Die stationären Krankenhauskosten beliefen sich 2014 sogar auf 81,2 Milliarden Euro (bereinigt um nichtstationäre Kosten).11 Die Gesundheitsausgaben aller Ausgabenträger, zu denen die verschiedenen Sozialversicherungen zählen, aber auch die Private Krankenversicherung und die Privathaushalte, betrugen 2014 knapp 328 Milliarden Euro, das entsprach einem Anteil am Bruttoinlandprodukt von 11,2 Prozent (1992 waren es 9,4 %, 2005 aber bereits 10,5 %).12 Diese Daten unterstreichen die ökonomische Bedeutung des Gesundheitssektors, sie belegen aber nicht, dass es derzeit eine prioritäre gesundheitspolitische Aufgabe sein müsste, die finanziellen Ressourcen zu schonen. Eher werfen die Zahlen Fragen nach dem Einsatz der Ressourcen auf: Ist es beispielsweise sinnvoll und unvermeidlich, dass die Ausgaben für den Krankenhaussektor die Ausgaben für Pflege um ein Mehrfaches übersteigen? Und wäre es nicht wünschenswert, den Anteil der Ausgaben für Prävention und Gesundheitsschutz, der derzeit gerade mal 3,8 % der
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Zahlen für 2015 existieren noch nicht.
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Gesundheitsberichterstattung des Bundes.
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Bundesministerium für Gesundheit.
10 Statistisches Bundesamt (2015a). 11 Statistisches Bundesamt (2015b). 12 Gesundheitsberichterstattung des Bundes.
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Gesundheitsausgaben beträgt,13 zu steigern? Berücksichtigt werden muss auch die Verschiebung von Kostenanteilen im Gesundheitssystem zu Lasten der Privaten, deren Anteil an den Gesamtkosten des Gesundheitssektors 1995 noch bei 10,34 % lag, 2014 aber bei 13,16 %.14 Das Gesundheitswesen, eine sehr personalintensive Branche, ist aber nicht nur ein Kostenfaktor, sondern ist zugleich ein bedeutender und expandierender Beschäftigungssektor, in dem derzeit 5,2 Millionen Menschen arbeiten; bezieht man die Bereiche Wellness und Gesundheitstourismus ein, sind es sogar mehr als 6 Millionen Menschen.15 Andererseits ist es aber auch deutlich, dass angesichts dieses beachtlichen Volumens Fragen des Mitteleinsatzes und der Ausgabenhöhe insgesamt nicht undiskutiert bleiben, nur weil die Gesundheitsökonomie im öffentlichen Diskurs lediglich punktuell Erwähnung findet – und dann vorzugsweise im Rahmen einzelner Skandale. Vielmehr bleibt der Kreis derer, die sich ökonomische Steuerungsstrategien ausdenken und über die Allokation der beachtlichen Mittel diskutieren, klein. Die Öffentlichkeit ist zwar über einzelne Aspekte der Versorgungsqualität unzufrieden, beispielsweise über lange Wartezeiten für Behandlungstermine; im Allgemeinen herrscht aber die unzutreffende Vorstellung vor, dass die den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung zugesprochene Leistung auch die erforderliche Leistung sei, ohne dass Allokations- und Mittelbegrenzungsentscheidungen hier eine nennenswerte Rolle für die Bewilligung spielten. Die erheblichen Beträge, die für Pflege und Krankenversorgung Jahr für Jahr ausgegeben werden, unterstreichen aber auch, dass der nunmehr mit erheblicher öffentlicher Anteilnahme intensivierte Ausbau der Palliativversorgung, wie er insbesondere mit dem Gesetz zur Stärkung der Hospizund Palliativversorgung 2015 in Deutschland vorangetrieben worden ist16 – einem Gesetz, das die Palliativversorgung zu einem Bestandteil der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung gemacht hat – mit dem
13 Rosenbrock/Gerlinger (2014), 67. 14 Eigene Berechnungen auf Basis der StBA; vgl. Statisches Bundesamt (2016). 15 Zahlen des Statistischen Bundesamtes, aufbereitet durch das Bundesministerium für Gesundheit (2016). 16 Zu den Motiven und dem Kontext dieses Gesetzes vergleiche den Gesetzentwurf der Bundesregierung: Deutscher Bundestag (2015a). Das Gesetz vom 1. Dezember 2015 veröffentlicht: Deutscher Bundestag (2015b).
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geschätzten Aufwand von 150 bis 200 Millionen Euro im Jahr,17 ein Betrag in eher zu vernachlässigender Höhe ist. Zwar macht es keinen Sinn, die Qualität einer gesundheitspolitischen Maßnahme danach zu bemessen, was für Kosten sie verursacht. Wenn aber schwerwiegende Mängel der Versorgung sich in einem speziellen Bereich, hier der medizinischen Versorgung am Lebensende, konzentrieren,18 ist durchaus auch darauf hinzuweisen, dass der Einsatz von Mitteln in der geplanten Höhe die Versorgungsdefizite nicht in ausreichendem Umfang beseitigen kann.
2. R ATIONALISIERUNG – P RIORISIERUNG – R ATIONIERUNG Als Methoden, um die Kosten zu begrenzen bzw. ihren Anstieg einzuschränken, gibt es unterschiedliche, sich gegenseitig allerdings nicht ausschließende Verfahrensweisen:19 einerseits kann versucht werden, den Einsatz der Mittel zu rationalisieren. Rationalisierung zielt darauf, Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen und beispielsweise unnötige Leistungen nicht zu erbringen. Als schwierig erweist sich hierbei allerdings festzustellen, welche Leistungen »unnötig« sein sollen. Die Anforderung, medizinische Leistungen müssten evidenzbasiert sein und die damit verbundene Hoffnung, evidenzbasierte Leistungen seien tatsächlich rational begründet und insoweit sparsam, ist in der Praxis nicht ganz so einfach umzusetzen. Zum einen existiert nicht für alle Bereiche der medizinischen Versorgung eine ausreichende Evidenz. Zum anderen kann evidenzbasierte Medizin in Konflikt mit individuellen Erfahrungen des behandelnden Arz-
17 Vgl. o.V. (2015). 18 Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin kritisierte im laufenden Gesetzgebungsverfahren beispielsweise, dass nur 15 % der bundesweit 2.000 Krankenhäuser überhaupt über Palliativstationen verfügen – ein Mangel dem auch durch das HPG nicht abgeholfen werden kann. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie schätzten, dass allein für den Ausbau eines ausreichenden Versorgungsangebots zur Beratung und Sterbebegleitung in der Hälfte der Einrichtungen der stationären Altenpflege 275 Millionen Euro an Kosten entstehen werden. 19 Vgl. Deutscher Ethikrat (2011).
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tes oder den Wünschen und Anforderungen des individuellen Patienten geraten.20 Andererseits ist Rationalisierung die am wenigsten einschneidende Möglichkeit, gesetzte ökonomische Ziele im Gesundheitswesen zu erreichen. Als weitere Möglichkeit steht vor allem die Priorisierung zur Verfügung. Dieser Begriff bezeichnet die systematisch begründete Bildung von Ranglisten medizinischer Interventionen. Die Priorisierung von medizinischen Leistungen führt dazu, dass auch als sinnvoll und möglicherweise (lebens-)notwendig erkannte medizinische Leistungen nicht gewährt werden, wenn sie auf der Rangliste weiter unten rangieren. Die Priorisierung medizinischer Leistungen wird insbesondere im US-Bundesstaat Oregon in erheblichem Umfang praktiziert.21 Eng verwandt mit der Priorisierung ist die Rationierung, die davon ausgeht, dass innerhalb der zur Verfügung stehenden Leistungsmöglichkeiten eine Auswahl getroffen werden muss, auf welche medizinischen Maßnahmen für welche Patienten in Zukunft innerhalb des Solidarsystems verzichtet werden muss. Eine verbreitete Möglichkeit Rationierung zu betreiben ist die Anwendung des sogenannten QALY-Maßstabes (QALY = quality adjusted life years), der medizinischen Behandlungsmaßnahmen danach gewichtet, wie mit den vorhandenen Mitteln möglichst viele qualitätsvolle Lebensjahre erhalten werden können.22 Sowohl die Anwendung von Rationierungsverfahren, als auch der Einsatz von Listen zur Priorisierung setzen in erheblichem Maße Wertungsentscheidungen voraus: was ein Lebensjahr als »qualitativ wertvoll« erscheinen lässt, ist nicht in ausreichendem Maße objektivierbar. Hier droht insbesondere die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranken, deren Lebensqualität voraussichtlich als niedriger eingestuft werden wird, als die von grundsätzlich gesunden bzw. nicht-behinderten Menschen. Aber auch die Kriterien, nach denen via Priorisierung Entscheidungen getroffen werden, erweisen sich zumindest oft als verdeckt subjektiv geprägt, weil auch hier Qualitätsentscheidungen getroffen werden müssen, die auf Werten gründen, die in einer heterogenen Gesellschaft nicht allgemein verbindlich anerkannt sind und sein können.
20 Vgl. Eichler et al. (2015). 21 Vgl. Staber/Rothgang (2010). 22 Koch/Gerber (2010).
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Auch wenn im bundesdeutschen Gesundheitswesen eine Diskussion über Leistungsbegrenzungen nicht offen stattfindet, gibt es doch vielfältige faktisch vorhandene Leistungsbegrenzungen. Diese sind bisweilen gesetzlich geregelt. Beispielsweise normiert § 34 SGB V, welche Arznei-, Heil- und Hilfsmittel von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen sind. Neben sogenannten Bagatell-Arzneimitteln gehören hierzu insbesondere auch sogenannte Lifestyle-Medikamente, die sich aber für bestimmte Patientengruppen durchaus als wichtige Behandlungsmethoden erwiesen haben.23 Auch die Begrenzung von durchaus sinnvollen Leistungen für Zahnersatz oder bestimmte Formen zahnmedizinischer Interventionen (Wurzelbehandlungen) fallen in diese Kategorie. Eine Form von Leistungsbegrenzung sind auch die im SGB V festgeschriebenen Festbeträge für Arznei- und Hilfsmittel, die dazu führen, dass bestimmte Medikamente und Hilfsmittel Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung gestellt werden können. Die wohl wichtigsten Behandlungsbegrenzungen sind in den Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses festgeschrieben, dessen Richtlinien beispielsweise über häusliche Krankenpflege,24 Methoden vertragsärztlicher Versorgung,25 bestimmte Arzneimittel-Versorgungen,26 die Anforderungen an die Kostenübernahme von Krankentransporten27 oder die Kriterien für die Bewilligung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV)28 das Versorgungsgeschehen umfassend prägen. Das erscheint insbesondere deswegen problematisch, weil der Gemeinsame Bundesausschuss zwar gesetzlich geregelter Weise vorgeht, ansonsten aufgrund seiner Zusammensetzung aber keineswegs als repräsentatives Entscheidungsgremium angesehen werden kann, zumal seine Mitglieder auch nicht in transparenter oder von der Bevölkerung beeinflussbarer Weise gewählt oder abberufen werden können. Auch Gerichtsverfahren, mit denen Leistungsansprüche verfolgt werden,
23 Zum Rechtsstreit um einen als diskriminierend empfundenen Versorgungs-Ausschluss von »Cialis« für Menschen mit Multipler Sklerose vgl. BSG, Urteil v. 6.03.2012. 24 Gemeinsamer Bundesausschuss (2015). 25 Gemeinsamer Bundesausschuss (2016a). 26 Gemeinsamer Bundesausschuss (2016b). 27 Gemeinsamer Bundesausschuss (2016c). 28 Gemeinsamer Bundesausschuss (2010).
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können im Ergebnis zu Leistungsbegrenzungen führen, wenn durch die Gerichte beispielsweise die Versorgung mit bestimmten Hilfs- oder Arzneimitteln bei bestimmten Krankheiten oder Behinderungen ausgeschlossen wird.29
3. K OSTENÜBERNAHME FÜR O FF -L ABEL V ERORDNUNGEN IN DER AMBULANTEN PALLIATIVMEDIZINISCHEN V ERSORGUNG ALS B EISPIEL FÜR M ÖGLICHKEITEN VERDECKTER R ATIONIERUNG Ein Bereich, in dem die – wenn auch nur verdeckt ökonomisch motivierte – Leistungsbegrenzung im deutschen Gesundheitswesen besonders prägend präsent ist, ist die Versorgung von Patienten mit Medikamenten im sogenannten Off-Label- oder No-Label-Use30 oder gegebenenfalls auch durch den Einsatz von Nicht-Arzneimitteln wie Medizinalhanf (hier kommt insbesondere Cannabis sativa in Betracht). Ausgangspunkt ist dabei, dass für Patienten mit schweren chronischen oder fortschreitenden Erkrankungen Standardmedikationen gar nicht zur Verfügung stehen, die Behandlung mit zugelassenen Medikamenten von den Patienten nicht vertragen oder als zu belastend empfunden wird, was insbesondere aufgrund der jeweiligen Nebenwirkungen nicht selten vorkommt. Wenn es gleichzeitig wirksame, aber nicht zugelassene Medikamente (oder neue Behandlungsmethoden, wie beispielsweise nur aus der Apotheke erhältliche Rezepturarzneimittel) gibt, die keine Nebenwirkungen aufweisen oder Nebenwirkungen, die von den
29 Beispielsweise der Ausschluss von Rollfietsen als Hilfsmittel: BSG, Urteil v. 12.08.2009. Ähnlich die Versagung von Dronabinol als Arzneimittel: BSG, Urteil v. 6.03.2012. 30 Off-Label-Use betrifft die Behandlung mit in Deutschland oder Europa arzneimittelrechtlich zugelassenen Fertigarzneimitteln außerhalb der vorgesehenen Indikation; No-Label-Use bezieht sich auf die Behandlung mit Medikamenten, die in Deutschland nicht nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassen sind; dabei kann es sich auch um sogenannte Rezepturarzneimittel handeln, die in der Apotheke hergestellt werden.
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Patienten besser toleriert werden können, stellt sich die Frage, ob die gesetzliche Krankenkasse hier die Kosten übernimmt. Das erweist sich oft als nicht durchsetzbar. Den Patienten bleibt dann nur, die Kosten privat zu tragen oder die für sie wirkungsvolle bzw. besser verträgliche Therapie nicht in Anspruch zu nehmen. Dieses Problem stellt sich in besonderem Maße in der Palliativmedizin. Zwar spielen auch hier Evidenz und das Bemühen um Standardisierungen in der Behandlung längst eine wichtige Rolle.31 Die Therapieoptionen in der Palliativmedizin sind gleichzeitig aber dadurch geprägt, dass für viele Patienten keine Standard-Therapien zur Verfügung stehen und ihre komplexen Krankheitsbilder so beschaffen sind, dass keine arzneimittelrechtlich für diese Behandlungen zugelassenen Medikationen oder Verabreichungswege zur Verfügung stehen, unter anderem auch deswegen, weil der Markt zu klein ist, um in diesem Bereich kostspielige Forschungen und Zulassungen von Medikamenten zu betreiben, zum anderen aber auch, weil Forschung in diesem Sektor aufgrund der Vulnerabilität der Patienten außerordentlich schwierig ist.32 Hier ist nicht der Ort, um die Auseinandersetzung, die seit vielen Jahren vor den Sozialgerichten und dem Bundesverfassungsgericht über die Kostenübernahme für Behandlungen in diesem Bereich geführt wird, im Einzelnen aufzuarbeiten.33 In der Praxis zeigt sich aber, dass der auf Grundlage der sogenannten Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 (BVerfG 1 BvR 347/98) eingeführte § 2 Absatz 1a SGB V keine ausreichende gesetzliche Grundlage dafür bietet, die Behandlung von Patienten mit einem palliativen Behandlungsbedarf sicherzustellen, wenn diese nur mit Off-Label- oder No-Label-Use-Medikationen gedeckt werden kann. § 2 Absatz 1a SGB V ermöglicht Kostenübernahme für Medikationen im Off-Label-Use, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: 1. muss eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegen, für die 2. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, dafür aber 3. eine
31 Vgl. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) et al. (2015); Davies et al. (2013); Ahmedzai et al. (2012). 32 Klinkhammer (2014). 33 Vgl. Deutsch (2014); Joussen (2012); Penner/Bohmeier (2011); Hart (2010); Hess (2010); Ulmer (2007); Dettling (2006).
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andere Leistung, bei der eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Ein entsprechender Behandlungsbedarf besteht besonders häufig bei Patienten mit bestimmten Ausprägungen von Multipler Sklerose, von Ataxie, weit fortgeschrittenen Krebserkrankungen oder schweren Formen von ADHS. Allerdings scheitert hier die Übernahme der Kosten des Einsatzes entsprechender Medikamente im Off-Label-Use im Rechtsstreit zumeist an der geforderten »Lebensbedrohlichkeit« der Erkrankung, die nach Auffassung des Bundessozialgerichts eine »notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik verlangt«, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch sei. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen müsse, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde (BSG vom 28.02.2008, B 1 KR 15/07 R). Selbst bei schweren und weit fortgeschrittenen Formen der Multiplen Sklerose nimmt die Rechtsprechung die Erfüllung dieses Kriteriums nicht an. Auch bei Patienten in oder kurz vor der Sterbephase mit palliativem Behandlungsbedarf, der eine Off-Label oder No-Label-Use-Behandlung erfordert, hat das Bundessozialgericht aber kaum überwindbare Hürden für eine Kostenübernahme von Medikationen im Off-Label-Use errichtet. Eine entscheidende Rolle spielt hier die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 13. Oktober 2010 (B 6 KA 48/09 R): In diesem Verfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit eines Regressbescheides wegen der Verordnung von Megestat® und Dronabinol® für Patienten gestritten wurde, die an Bronchialkrebs oder anderen Tumoren der Thorax-Organe erkrankt gewesen waren, haben die Bundesrichter zwar anerkannt, dass jeweils eine »lebensbedrohliche Erkrankung« vorlag, eine Kostenübernahme für Arzneimittel bei der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung kann nach dieser Entscheidung aber nur dann nach dem SGB V erfolgen, wenn das Arzneimittel auf die lebensbedrohliche Erkrankung selbst einwirkt beziehungsweise einwirken soll. Es genüge nicht, dass der Einsatz des Arzneimittels darauf gerichtet sei, die weiteren Auswirkungen der Erkrankung beziehungsweise ihrer Behandlung abzumildern. Im konkreten Verfahren waren bei dem sterbenskranken Patienten Megestat® und Dronabinol® zur
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Behandlung der Kachexie (körperlicher Auszehrung u.a. als Folge von Appetitlosigkeit) behandelt worden. Megestat® ist nach dem Arzneimittelgesetz nur für die Anwendung bei der Kachexie im Fall von Brust- und Gebärmutterkrebs zugelassen, Dronabinol® ist als Rezepturarzneimittel zwar verkehrsfähig, aber in Deutschland nicht als Fertig-Arzneimittel zugelassen. In seiner Entscheidung führte das Bundessozialgericht aus: Die vom Kläger praktizierte Anwendung von Megestat® und Dronabinol® bei Patienten mit einem fortgeschrittenen Bronchialkarzinom oder einem Karzinom der Thorax-Organe sei nicht darauf gerichtet gewesen, die lebensbedrohliche Erkrankung als solche zu heilen oder positiv auf ihren Verlauf einzuwirken, sondern zielte »nur« auf die Verbesserung der Lebensqualität in dem Sinne, dass der Erkrankte wieder mit Appetit natürliche Nahrung zu sich nimmt und dadurch der tumorinduzierten Kachexie entgegengewirkt wird. Der Kläger wollte nicht auf die lebensbedrohliche Erkrankung als solche einwirken, sondern nur deren weitere Auswirkungen abmildern. Entgegen der Ansicht des Klägers komme es hier nicht darauf an, ob durch den Einsatz von Megestat® und Dronabinol® der Appetit von Patienten wiederhergestellt und ob dadurch eine günstigere Prognose hinsichtlich der diesem noch verbleibenden Lebenszeit erreicht werden konnte. Der Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 sehe aber bildlich gesprochen nur vor, dem Patienten den Strohhalm der Hoffnung auf Heilung, an den er sich klammere, nicht wegen Fehlens wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu verweigern. Hoffnung in diesem Sinne könne ein Patient aber nur mit Behandlungsmethoden verbinden, die darauf gerichtet seien, auf die mutmaßlich tödlich verlaufende Grunderkrankung als solche einzuwirken: »Allein die Hoffnung einer – unter Umständen ganz geringen – Chance auf Heilung der Krankheit oder auf nachhaltige, nicht nur wenige Tage oder Wochen umfassende, Lebensverlängerung rechtfertigt es, die Voraussetzung an den Nachweis der Wirksamkeit von Behandlungsmethoden so weit zu reduzieren, wie das in dem Beschluss des BVerfG erfolgt ist.«34
Damit privilegiert das Bundessozialgericht nicht nur den Off-Label-Use im Bereich der kurativen Medizin gegenüber dem Off-Label-Use im Bereich
34 BSG, Urteil v. 13.10.2010.
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der Palliativmedizin, was insbesondere deswegen in erheblichem Maße problematisch ist, da Therapie-Empfehlungen in der Palliativmedizin in sehr viel mehr Fällen zulassungsüberschreitend, also Off-Label, sind, als das in der kurativen Medizin der Fall ist.35 Gravierender noch erscheint, dass hier in gravierender Weise in das Selbstbestimmungsrecht des Versicherten eingegriffen wird. Das Selbstbestimmungsrecht verwirklicht sich hier in der Form eines Übereinkommens von Patient und Arzt über eine in der konkreten Situation bei dem individuellen Patienten am besten oder sogar einzig vertretbar erscheinende Entscheidung. Dass diese besondere Form der Selbstbestimmung nicht umgesetzt werden kann, weil die Kosten dafür nicht übernommen werden, ist dann besonders gravierend, wenn nicht einmal eine Alternative zur Verfügung steht. Immerhin geht es hier in der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts auch um die Wahrung der körperlichen Integrität und der Gesundheit. Und es geht, worauf das Bundesverfassungsgericht in seiner Nikolausentscheidung verwiesen hat, um die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei muss die objektiv-rechtliche Pflicht des Staates berücksichtigt werden, die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung verlangt auch von gesetzlichen Krankenversicherungen, diese Rechtsgüter möglichst zu wahren. Im konkreten Verfahren befand das Bundesverfassungsgericht: »Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von GG Art 2 Abs. 2 S 1 geforderten Mindestversorgung.«36
In der gleichen Entscheidung, die noch vor Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention mit ihrem Artikel 25 getroffen wurde, unterstreichen die Verfassungsrichter aber auch das Recht des Staates zu normieren, dass die gesetzliche Krankenversicherung dem Versicherten Leistungen nach dem allgemeinen Leistungskatalog nur unter Beachtung des Wirtschaftlich-
35 Vgl. Thöns et al. (2010). 36 BVerfG, Beschluss v. 6.12.2005.
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keitsgebots zur Verfügung stellt: »Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist.«37 Eine besondere Ausprägung haben diese Probleme des Off-Label- bzw. No-Label-Use von Medikamenten in der Anwendung von Medizinalhanf (Cannabis) erfahren. Die Ausgangslage in vielen dieser Fälle ist, dass es sich um chronisch schwerstkranke Patienten handelt, für die die Schulmedizin keine angemessenen Medikationen bereithält oder nur Medikationen, die so nebenwirkungsreich sind, dass sie für die Patienten nicht in Frage kommen. Die Kosten für die alternativen Behandlungsmöglichkeiten mit Dronabinol® (einem THC-haltigen Rezepturarzneimittel), Marinol® (dem entsprechenden Fertigarzneimittel, das über keine deutsche Zulassung verfügt) oder Medizinalhanf, die sich zumeist bereits als erfolgreich erwiesen haben, können von den Patienten oft nicht getragen werden, da sie aufgrund ihrer schweren chronischen Erkrankungen in der Regel erwerbsunfähig und daher Bezieher von Sozialleistungen sind und über keinerlei Vermögen verfügen, die Kosten aber nicht von den Krankenkassen übernommen werden. Für den Bezug von Medizinalhanf können Patienten in Ausnahmefällen zwar eine individuelle Genehmigung des Bundesamtes für Arzneimittel (Bundesopiumstelle) erhalten. Der Medizinalhanf wird dann über die Niederlande bezogen und in einer deutschen Apotheke käuflich erworben. Auch die Kosten dieser Medizinalhanf-Behandlungen sind allerdings für die meisten chronisch schwerkranken Patienten, denen diese Behandlung Linderung verschafft, nicht bezahlbar, sodass der nächste Schritt der kostengünstige Eigenanbau von Cannabis in der eigenen Wohnung ist,38 der aber von der zuständigen Behörde, der Bundesopiumstelle, auf Anweisung des Bundesgesundheitsministeriums nicht erlaubt wurde.39 Die Lage der Patienten, die überhaupt nur palliative Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen können, denen die Schulmedizin wenig bis nichts anzubieten hat und die deswegen auf Behandlungsmöglichkeiten ausweichen müssen, die aber im System der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vorgesehen sind und als Leistung auch nicht finanziert werden, erweist sich so seit langem als aussichtslos. Dass den Patienten, die in ihrer
37 BVerfG, Beschluss v. 6.12.2005. 38 Eingehend hierzu Tolmein (2013). 39 Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 11.06.2014.
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Not in Ermangelung von Alternativen dennoch Cannabis anbauten zudem noch Strafverfolgung droht, weil sie gegen § 29 BtmG verstoßen, macht die Situation zudem schwer akzeptabel.40 Das Bundesverwaltungsgericht hat nach 16jährigem Rechtsstreit 2016 nun die Situation gelöst und die Bundesrepublik verpflichtet, dem Kläger in diesem Grundsatzverfahren eine Eigenanbaugenehmigung zu erteilen.41 Als tragendes Argument sahen die obersten Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter dabei an, dass dem Kläger ein gesetzlicher Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse nicht zugestanden werde, er dringend behandlungsbedürftig sei und ihm deswegen die Selbsthilfe nicht verwehrt werden dürfte, wenn nicht die zwingenden Versagungsgründe des Gesetzes zu konstatieren wären. Als Reaktion auf diese – angesichts der drogenpolitisch motivierten Prohibition unerwünschte – Entscheidung hat der Gesetzgeber nunmehr mit einem Gesetz reagiert,42 das die Verordnung von Medizinalhanf zu Lasten der Krankenversicherung ermöglicht. Bemerkenswert ist dabei, dass für die Verordnung von Medizinalhanf nicht erforderlich sein soll, dass die schwere Krankheit akut lebensbedrohlich ist. Zudem soll es auch ausreichen, dass die Anwendung von Medizinalhanf auf die Symptome der Grunderkrankung positiv einwirkt.43 Im Ergebnis führt das dazu, dass künftig Patienten
40 Zu einem solchen Fall: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss v. 11.02.2015. 41 BVerwG, Urteil v. 6.04.2016. 42 Deutscher Bundestag (2016). 43 § 31 Absatz 6 SGB V heißt im Entwurf: »(6) Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht und 3. die oder der Versicherte sich verpflichtet, an einer bis zum ... [einsetzen: Datum des letzten Tages des auf das Inkrafttreten folgenden 60. Monats] laufenden nicht-interventionellen Begleiterhebung zum Einsatz dieser Arzneimittel teilzunehmen.«
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für deren Erkrankung keine Standardtherapie zur Verfügung steht oder für die die Durchführung einer Standardtherapie aufgrund der erheblichen Nebenwirkungen unzumutbar ist wenn sie andere Fertigarzneimittel im Off-Label-Use benötigen, voraussichtlich weiterhin keine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung erhalten. Besteht allerdings die Chance, dass ihnen Cannabis-Blüten helfen, können sie die Verordnung von Medizinalhanf verlangen. Damit werden Patienten, denen Medizinalhanf hilft, aufgrund der niedrigeren Verordnungsvoraussetzungen gegenüber Patienten, die andere Medikationen im Off-Label-Use benötigen, privilegiert. Zu erklären ist diese Privilegierung nur dadurch, dass der Staat über die Bundesopiumstelle, die Kosten für Cannabis als Medizin kontrollieren kann, während das bei Fertigarzneimitteln auf dem freien Markt nicht möglich ist, was insbesondere bei teuren onkologischen Medikamenten, die im Off-Label-Use verwendet werden, erhebliche Kosten verursachen kann. Eine sachgerechte Lösung allerdings oder gar eine die den Grundrechten der Patienten und der Therapiefreiheit des Arztes Rechnung tragen würde, ist das allerdings nicht.
4. U NZUREICHENDE V ERSORGUNGSSTRUKTUREN AM L EBENSENDE Aber nicht nur die therapeutische und medikamentöse Behandlungssituation von Palliativpatienten ist ausgesprochen schwierig. Auch die Versorgungsstruktur für Palliativpatienten, die oftmals auch einen erheblichen pflegerischen oder ärztlichen Versorgungsbedarf haben, ist in Deutschland trotz der Anstrengungen und Verbesserungen der letzten Jahre noch unzureichend. Das betrifft sowohl die ambulante Versorgung durch spezialisierte Pflegedienste als auch die Versorgung in stationären Hospizen und auf Palliativstationen. Hinsichtlich der stationären Hospize erweist sich hier schon § 39a SGB V, der keine Kostenübernahme regelt, sondern lediglich einen Kostenzuschuss, als problematisch. § 39a SGB V sieht vor, dass Versicherte, die keiner Krankenhausbehandlung bedürfen, Anspruch auf einen Zuschuss zu stationärer oder teilstationärer Versorgung in Hospizen haben, wenn eine ambulante Versorgung im Haushalt oder in der Familie des Versicherten nicht erbracht werden kann. Die zuschussfähigen Kosten werden hier unter
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Anrechnung der Leistungen nach dem SGB XI mittlerweile (nach Verabschiedung des HPG) bei Erwachsenen und Kindern zu 95 % von der Krankenkasse übernommen. Tatsächlich ist es so, dass die stationären Hospize, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene, 20 % bis 30 % ihrer tatsächlichen Kosten nicht von den Krankenkassen erstattet erhalten, weil die Kostenzahlung nicht nur auf die Zahlung des Zuschusses begrenzt ist, sondern auch die Pflegesätze selbst oftmals nicht kostendeckend verhandelt wurden. Hier werden in vielen Fällen aus Zeiten alter Vereinbarungen überschlagsmäßig ausgehandelte Kostenbeträge zugrunde gelegt. Zudem wird eine Reihe von Kosten, welche die stationären Hospize haben, von manchen Krankenkassen nicht anerkannt, beispielsweise Planstellen für eigenes Küchenpersonal (weil gerade der Bedarf sterbender Menschen am besten durch individuelle Versorgung sichergestellt werden kann) oder auch für die Öffentlichkeitsarbeit, die andererseits aber erforderlich ist, um den restlichen, von den Kassen nicht übernommenen Pflegesatz über Spenden einwerben zu können. Insgesamt stellt sich die Situation der stationären Hospize daher so dar, dass gerade in Regionen, in denen Spendenmittel aus der Bevölkerung nur in geringem Umfang zu akquirieren sind, auch die Etablierung eines stationären Hospizes aufgrund dieser Regelungen deutlich schwieriger ist. Dem Gesetzgeber ist zuzugeben, dass die Interessenverbände der Hospize selber, unter Rückgriff auf die bürgergesellschaftliche Tradition dieser Versorgungsform, Wert darauf gelegt haben, dass hier andere Kostenübernahmeregelungen gelten als beispielsweise bei Krankenhäusern. Es muss allerdings mittlerweile die Frage aufgeworfen werden, ob dieser Weg der Hospizfinanzierung über Zuschüsse der Krankenkassen wirklich zukunftsweisend ist, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass auf diesem Wege eine flächendeckende erforderliche Versorgungsstruktur etabliert werden kann. Dass hier nicht allein diese bürgergesellschaftlichen Beweggründe ausschlaggebend sind, zeigt sich beispielsweise ja auch an den unterschiedlichen Zuschusszahlungshöhen bei Erwachsenen- und Kinderhospizen. Kinderhospize haben überdies spezielle Probleme, die mit der besonderen Versorgungssituation von Kindern, die lebensbegrenzende Erkrankungen haben, zusammenhängen. Anders als bei Erwachsenen, die am Lebensende für einige Wochen in eine stationäre Hospizversorgung gehen, ist es bei Kindern so, dass diese bisweilen Erkrankungen haben, die ihnen noch
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ein jahrelanges Weiterleben ermöglichen, allerdings unter einer hohen Versorgungsintensität. Dadurch wird das Familiensystem, in dem die Kinder aufwachsen – und das sich voll auf ihre Versorgung einstellen muss – in besonderem Maße belastet, sodass in den auf Basis von § 39a Absatz 1 SGB V beschlossenen Rahmenvereinbarungen geregelt ist, dass die Zahlung von Zuschüssen unter Berücksichtigung der Situation des familiären Gesamtsystems bereits ab Diagnosestellung erfolgen kann (Rahmenvereinbarungen § 2 Absatz 1 lit. c). Diese Zuschussregelung wird aber von vielen gesetzlichen Krankenkassen – gestützt auch durch eine Entscheidung des Sozialgerichts Koblenz (S 8 KR 352/13 ER vom 26. Juni 2013) – eng ausgelegt und allenfalls zögerlich umgesetzt. Immer wieder gibt es Fälle, in denen Kinderhospize keine Zuschüsse erhalten, wenn die von ihnen aufgenommenen schwerstkranken Kinder sich nicht bereits in einer Sterbephase oder in einer akuten medizinischen Krisensituation befinden. Diese Voraussetzungen sind in den Rahmenvereinbarungen aber nicht enthalten. Während sich die Hospizversorgung auf diese Weise als eine Art atypische Gesundheitsversorgung darstellt, die aber typische Versorgungsbedarfe im Gesundheitswesen deckt, zeigt sich im Bereich der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), dass auch diese gesetzgeberisch regelhaft ausgestalteten Leistungen, die zudem durch Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses konkretisiert sind, nur ausgesprochen schleppend anlaufen. Die Ausgaben für die SAPV betrugen 2013 175 Millionen Euro.44 Bei der Schaffung dieser Leistung war im GKV-WSG bereits für 2009, also vier Jahre vorher, ein Betrag von 390 Millionen Euro angesetzt worden. Das führt dazu, dass viele potenzielle SAPV-Patienten diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen können, weil keine spezialisierten ambulanten Palliativdienste vorhanden sind, die sie erbringen können, oder weil die vorhandenen SAPV-Dienste bereits völlig überlastet sind. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat darauf hingewiesen, dass im Jahr 2013 lediglich 31.400 Patienten in die SAPV neu aufgenommen worden sind, ein jährlicher Bedarf von 80.000 Patienten, die SAPV-Behandlungen bedürfen, aber anzunehmen ist.45
44 Gemeinsamer Bundesausschuss (2013). 45 Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (2014).
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Auch im Bereich der Palliativstationen in Krankenhäusern, deren Kosten, anders als die von stationären Hospizen, vollständig gedeckt werden, die aber auch einen anderen Versorgungsauftrag haben, ist es so, dass lediglich 15 % der bundesweit rund 2.000 Krankenhäuser über Palliativstationen verfügen. Von den übrigen Krankenhäusern haben nur wenige einen multiprofessionellen Palliativdienst, wie er eigentlich für jedes Krankenhaus mit mehr als 250 Betten vorgehalten werden sollte.46 Während beispielsweise in der Transplantationsmedizin mittlerweile anerkannt ist, dass jedes Krankenhaus einen Transplantationsbeauftragten haben sollte, ist im ungleich größeren und personenintensiveren Bereich der Palliativmedizin keineswegs davon auszugehen, dass jedes Krankenhaus über einen Palliativbeauftragten verfügt. Als ein besonderes Problem im klinischen Bereich beispielsweise erweist sich die im Fallpauschalen-System (DRG) verankerte Reduktion auf patientenindividuelle Leistungsinanspruchnahme, welche die Entwicklung stationärer palliativmedizinischer Versorgungsstrukturen behindert. Wesentliche Kostenfaktoren einer palliativmedizinischen Behandlung und Begleitung fehlen im OPS-System und führen gegenwärtig zu einer systematischen Unterfinanzierung der Stationen. Daher muss zur Sicherstellung der Finanzierung der stationären Palliativversorgung eine differenzierte Finanzierung multiprofessioneller mobiler Palliativdienste und Palliativstationen durch kostendeckende Abbildung im Fallpauschalen-System oder eine entsprechende Finanzierung unabhängig von der bestehenden Fallpauschalen-Systematik ermöglicht werden. Ein besonderes Problem, das sich in diesem Zusammenhang stellt, ist auch das des Rechtsschutzes, der Palliativpatienten – zumindest wenn sie sich in der letzten Lebensphase befinden – faktisch keinen Zugang zum Recht ermöglicht. Selbst die im neuen §13 Absatz 3a SGB V vorgesehenen dreiwöchigen Entscheidungsfristen der Krankenkassen sind für Palliativpatienten nicht schnell genug. Zudem haben Palliativpatienten häufig weder die Energie noch die Ressourcen, um in dieser Situation einen Rechtsstreit über ihnen zustehende Leistungen, gleich welcher Art, führen zu können oder das eben auch nicht zu können. Auch das Patientenrechtegesetz hilft ihnen hier wenig weiter, da es zu stark auf das Verhältnis Arzt-Patient im haftungsrechtlichen Sinne fokussiert ist, strukturrechtlich aber wenig anzubieten hat. Hier
46 Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (2014).
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sind erhebliche Lücken, die geschlossen werden müssen, damit Palliativpatienten Möglichkeiten haben, sich gegen ungerechtfertigte Leistungsverweigerungen der Krankenkassen zu wehren. Dass im Rahmen der Patientenbeteiligung und der Patientenbeteiligungsverordnung (§140f SGB V) keine Organisationen zur Wahrnehmung von Rechten palliativer Patienten vertreten sind, es auch kein Verbandsklagerecht in diesen Bereichen gibt, in denen der Individualrechtsschutz strukturell versagen muss, macht überdies deutlich, dass hier auch im Bereich der rechtlichen Strukturen Veränderungen dringend erforderlich sind.
5. D ER V ORTEIL DER S ELBSTOPTIMIERUNG FÜR DIE G ESUNDHEITSÖKONOMIE Betrachtet man diese tatsächlichen und gesetzlichen Bedingungen der Versorgung (insbesondere im Bereich der medizinischen Behandlung am Lebensende) und kontrastiert sie mit dem öffentlichen Diskurs über Selbstbestimmungsrecht im Rahmen der verschiedenen Debatten-Ansätze zum Thema Sterbehilfe, der auf die Regulierung und Freigabe immer weiterer Bereiche des Lebensschutzes von hochbetagten und multimorbiden oder schwer behinderten Menschen ausgerichtet ist, so erscheint das Ergebnis paradox. Während die Debatte über Sterbehilfe, insbesondere in der Variante der Hilfe zum Sterben, also der Lebenszeit verkürzenden Varianten, mit großem öffentlichen Einsatz und einem höchst interessierten und engagierten Publikum, das auch mit eigenen Meinungen nicht hinter dem Berg hält, geführt wird, ist die Debatte über das Leistungsgeschehen und die Grenzen der Versorgung, die durch das Wirtschaftlichkeitsgebot und konkrete gesetzliche Rahmenbedingungen verursacht sind, eine Angelegenheit für Expertinnen und Experten und gegebenenfalls die Betroffenen und ihre Familien. Das schlägt sich auch in parlamentarischen Übungen nieder: Während die Grundsatzdiskussionen über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 Strafgesetzbuch) im Parlament als Gewissensentscheidung behandelt wurde, mit der Konsequenz, dass auch die Abstimmung darüber freigegeben wurde, die Abgeordneten also nicht in einen Fraktionszwang eingebunden waren, galt das für die Debatte und Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland nicht – genauso wenig übrigens wie die Debatte
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über das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, das künftig die Verordnungsfähigkeit von Cannabis als Medizin im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sicherstellen soll. Die materiellen Faktoren also, die das Versorgungsgeschehen und damit die konkreten Lebensumstände von Patienten in der letzten Lebensphase zwingend und nachdrücklich beeinflussen, sind im öffentlichen Diskurs vergleichsweise wenig präsent. Dagegen sind die ideologisch geprägten Debatten, denen ein Bild von schwer kranken Menschen und Menschen mit erheblichen Behinderungen unterliegt, welches ihr Leben auf Leiden verkürzt und im Kern als »nicht lebenswert« ansieht,47 ein viel beachtetes Thema, das mit großem Interesse wahrgenommen und auch in der Populärkultur zunehmend häufig aufgegriffen wird. Besonders brisant erscheint diese paradoxe Entwicklung, weil die Ökonomisierung des Gesundheitswesens trotz allem durchaus ihre Grenzen kennt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wie sie in der erwähnten Nikolausentscheidung vom 6. Dezember 2005 sichtbar geworden ist, erscheint hierfür charakteristisch: auch wenn das Wirtschaftlichkeitsgebot und der Handlungsspielraum des Gesetzgebers nachdrücklich vertreten werden, wird gleichzeitig die offene Verweigerung von erforderlichen oder hilfreichen Leistungen für sterbenskranke Menschen als nicht akzeptabel charakterisiert. Diese Rechtsprechung wirkt aber in erster Linie symbolisch, denn die fachgerichtlichen Urteile, die dann doch nur in äußerst seltenen Einzelfällen einem Leistungsanspruch zur Durchsetzung verhelfen, prägen die Wirklichkeit weitaus stärker. Vor allem aber ist die gegenwärtige Lage dadurch geprägt, dass es ökonomische und ideologische Anreize zur Selbstoptimierung gibt, die zu einer selbst gewählten Begrenzung des Leistungsgeschehens führen. Eine Schlüsselstellung nimmt hier § 1901a BGB ein, die Regelung der Patientenverfügung, die dazu geführt hat, dass viele Menschen frühzeitig den Verzicht auf lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maßnahmen, wie beispielsweise die maschinelle Beatmung oder die künstliche Ernährung verfügen, weil der dann nur noch zu lebende Zustand von ihnen als würdelos bezeichnet und wahrgenommen wird. Was in öffentlichen Debatten nicht wahrgenommen oder allenfalls unkritisch zur Kenntnis genommen
47 Vgl. hierzu auch das Interview mit Dinah Radtke in diesem Band [Anm. der Herausgeber].
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wird, ist, dass diese Entscheidungen auch eine individuelle ökonomische Dimension haben können, weil beispielsweise eine ausreichende individuelle pflegerische Versorgung über zwölf und mehr Stunden am Tag von kaum jemandem bezahlt werden kann, sodass diese Konstellationen stets den Bezug von Sozialhilfe mit all ihren Folgen (Verwertung des Vermögens, vollständige Aufzählung von Renten und Pensionen) erfordern. Die kostenträchtige pflegerische Versorgung, die zumeist teure medizinische Behandlung am Lebensende, die beide die Sozialversicherungssysteme ökonomisch belasten, erweisen sich so auch individuell für viele Patienten als wirtschaftlich ruinös. In Kontrast dazu wird die damit erreichte Lebensqualität als vergleichsweise niedrig angesehen; das Leben als Mensch mit hohem Pflegebedarf und erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen scheint den ökonomischen Aufwand gerade auch in der zunehmend typisierten privaten Sichtweise der jeweils Einzelnen in zunehmendem Maße nicht zu lohnen. Dagegen wirkt das Versprechen eines selbst kontrollierten, ökonomisch nicht besonders belastenden und auch weder schmerzhaften, noch langwierigen ärztlich assistierten Sterbens – handele es sich dabei um eine unterstützte Selbsttötung oder gar eine Tötung auf Verlangen – vielfach als »saubere« und »attraktive« Lösung. Das Selbstbestimmungsrecht, das bei diesen Entscheidungen wahrgenommen wird, ist tatsächlich aber nicht von den ökonomischen und gesundheitspolitischen Bedingungen abzulösen, welche die Art und Weise wie es wahrgenommen wird, in erheblichem Ausmaß bedingen. Dieser Zusammenhang allerdings wird in der öffentlichen Debatte kaum je erörtert; ihn aufzudecken erscheint angesichts der vielfältigen Verflechtungen von ökonomischen und physischen Ängsten, von wirtschaftlichen Sorgen und gesamtwirtschaftlichen, scheinbar unveränderlichen Bedingungen sowie von Werten wie Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die weitgehend unhinterfragt den gesellschaftlichen Alltag prägen, fast ausgeschlossen.
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Literarische Reflexionen selbst- und fremdbestimmten Sterbens Medizingeschichtliche Situierung und Aktualität einer Sterbeszene in Manns Buddenbrooks C AROLINE W ELSH
1. E INLEITUNG In ihrem Buch Geschichten vom Sterben (2013) erzählt die Palliativmedizinerin Petra Anwar in literarisch aufgearbeiteter Form über ihre Erfahrungen in der ambulanten Betreuung von Sterbenden. Die ärztliche und pflegerische Palliativversorgung soll in ihrer ambulanten Variante ein Sterben in der vertrauten häuslichen Umgebung ermöglichen. Sie wird eingeleitet durch eine mit dem Patienten abgesprochene Therapiezieländerung, weg von der Bekämpfung der unheilbaren Krankheit hin zu einer palliativmedizinischen Sterbebegleitung.1 Ihr Ziel ist es, die letzten Lebensmonate, Wochen oder Tage im Rahmen des Möglichen schmerz- und symptomfrei zu
1
Ich verwende den Begriff der Sterbebegleitung im Sinne der Hilfe beim Sterben in Abgrenzung zu dem der Sterbehilfe, verstanden als Hilfe zum Sterben. Unter Sterbebegleitung werden damit alle Formen der Unterstützung des Sterbenden durch palliative, seelsorgerische und andere Maßnahmen zusammengefasst, die nicht mit einer gezielten Lebensverkürzung (Sterbehilfe durch Suizidassistenz oder Tötung auf Verlangen) einhergehen. Zur Begründung vgl. Welsh (2015), 500–502. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ostgathe in diesem Band.
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halten, die rationale und emotionale Selbstbestimmungsfähigkeit und körperliche Mobilität zu stärken und sich am Willen des Patienten und dessen Vorstellung von Lebensqualität zu orientieren. Die Geschichten erzählen aus der Perspektive der Palliativmedizinerin von Einzelschicksalen: vom Umgang des Kranken mit seinem, nun mehr oder weniger unkontrolliert wuchernden Krebs, von gelungener Symptomlinderung und seinen Grenzen, von psychischen Krisen und ihrer Bewältigung. Sie berichten auch vom Einsatz der Familienangehörigen und der Bedeutung ihrer Erfahrung mit dieser Form von Sterbebegleitung auch hinsichtlich der Einstellung zum eigenen Sterben. An einer Stelle reflektiert Anwar darüber, welche Wirkung das Erzählen dieser Geschichten entfalten kann: »Manchmal erscheinen reale Sterbefälle schon allein dadurch, dass man sie erzählt, tröstlich und versöhnlich, so als hätte der Tod immer auch etwas Schönes, Gutes und wäre gar nicht so schwer, wie wir befürchten. Geschichten bringen Ordnung in das 2
Chaos, schaffen Zusammenhänge und runden sich am Ende meist zu einem Sinn.«
Tröstlich und versöhnlich wirken in der Tat fast alle Geschichten vom Sterben in diesem Buch. Diesem Effekt entspricht auch die Funktion der Geschichten. Es sind Geschichten gegen die Angst. Sie zielen darauf ab, gesellschaftliche Bilder über das Sterben zu verändern, und informieren zugleich über palliativmedizinische Möglichkeiten des Umgangs mit dem Lebensende. Anwar hat ihr Buch auf Vermittlung des Piper-Verlags in enger Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller John von Düffel geschrieben. In dieser Koproduktion vereinigen sich zwei ganz verschiedene Formen des Wissens: das medizinische und ärztliche Wissen Anwars um die Theorie und Praxis palliativmedizinischer Sterbebegleitung und das Wissen des Schriftstellers um literarische Darstellungsmöglichkeiten und -traditionen, das in die literarische Arbeit an neuen Bildern vom Sterben eingeht. In dieser Kombination palliativmedizinischen und literarischen Wissens liegt das Potenzial dieser Texte: sie integrieren zeitgenössische Praktiken palliativmedizinischer Sterbebegleitung in die ästhetische Darstellungstradition eines selbstbestimmten, »guten Todes«.
2
Anwar (2013), 103.
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Worin genau besteht das literarische Wissen, auf das Autoren zur Darstellung verschiedener Sterbeformen zurückgreifen können – und welchen Beitrag kann die Literaturforschung zum Thema »Autonomie und Menschenrechte am Lebensende« leisten? Nach einem kurzen Überblick über verschiedene Formen literarischen Wissens konzentriert sich der Hauptteil des Beitrags auf zwei Sterbeszenen aus Thomas Manns Familienroman Buddenbrooks. Aufstieg und Verfall einer Familie (1901). Sie werden durch die Einbettung in zwei unterschiedliche Konstellationen einer doppelten Lektüre unterzogen: Zunächst wird der historische Text zur aktuellen Debatte um Formen selbst- und fremdbestimmten Sterbens in Beziehung gesetzt. Die literarischen Sterbedarstellungen werden dazu aus ihrem spezifischen historischen Kontext herausgelöst und in einer palliativmedizinisch und medizinethisch informierten Lektüre daraufhin befragt, ob sie etwas zur Veranschaulichung, kritischen Reflexion oder Lösung gegenwärtiger Probleme und Herausforderungen am Lebensende beitragen können. Die zweite Kontextualisierung der Sterbeszenen hat demgegenüber gerade umgekehrt eine umfassendere historische Einbettung zum Ziel. Im Zentrum dieser medizinhistoriographischen Kontextualisierung steht der historische Wandel ärztlicher Sterbebegleitung im Zuge der Durchsetzung der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
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Grundsätzlich lassen sich zwei Formen des Wissens in literarischen Texten unterscheiden: Zunächst das in den Inhalt des Werkes eingehende Wissen in der Literatur – es ist prinzipiell unbegrenzt, denn das Wissen aller Disziplinen und Lebensbereiche kann darin zusammen mit dem historisch spezifischen Wissen einer Kultur eingehen. Sodann das Wissen der Literatur. Zu dem im Zusammenhang mit literarischen Sterbedarstellungen wichtigen Wissen der Literatur gehört einmal das Wissen um die ästhetischen Darstellungsmöglichkeiten im Medium der Sprache. »Ästhetisch« meint hier, in Anlehnung an die Definition der Ästhetik durch ihre Begründer Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), eine nicht auf das logische Denken, sondern auf die sinnlich-anschauliche Erkenntnis hin ausgerichtete Darstellungsweise, wie sie traditionell insbesondere den schönen Künsten zuge-
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schrieben wird.3 Dieses Wissen geht ein in die literarische Arbeit an neuen Bildern zur Darstellung des Sterbens, beispielsweise angesichts neuer medizinischer Möglichkeiten oder veränderter institutioneller Rahmenbedingungen. Es manifestiert sich in den ästhetisch schönen Sterbedarstellungen in der Literatur des 19. Jahrhunderts und im Kontrastprogramm dazu, in der Darstellung der Hässlichkeit und Schrecklichkeit des Sterbens in der Literatur der Moderne.4 So steht eine Ästhetik des Hässlichen beispielsweise in Gottfried Benns Gedicht Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke im Dienste der Kritik an der Massenabfertigung von Krebspatienten auf der neu eingerichteten Krebsstation der Charité zu Beginn des 20. Jahrhunderts.5 Dieses ästhetische Wissen um sinnlich-anschauliche Darstellungsweisen und ihre emotionale Wirkung auf den Leser findet sich auch in den Darstellungen des Sterbens bei Anwar und Düffel – etwa in der Beschreibung einer Patientin, deren Gesicht zunehmend vom Krebs zerfressen wird, die sich aber mit einem geschickt verbundenen Tuch um den Kopf dennoch weiterhin selbstbewusst und ohne Scham in ihrer Stadt bewegt und ihre Selbständigkeit aufrechterhält – ein Bild vom Sterben unter palliativmedizinischer Sterbebegleitung, das dazu geeignet ist, sich dem Gedächtnis der Leser als Beispiel für eine durch die Palliativmedizin ermöglichte Selbstbestimmung am Lebensende einzuschreiben.6 Das literarische Wissen umfasst zweitens die Kenntnis narrativer, dramatischer und lyrischer Formen und Verfahrensweisen zur Gestaltung des zu Erzählenden.7 Dieses Wissen wird im Zusammenhang mit Darstellungen von Grenzsituationen am Lebensende besonders relevant, wo es um die Darstellungen von Gedanken und Gefühlen der Betroffenen geht. Hierzu gehört das Wissen beispielsweise um verschiedene Möglichkeiten der Darstellung des Bewusstseinsstroms aus der subjektiven Innenperspektive –
3
Baumgarten (2007), § 1.
4
Vgl. zum Wandel literarischer Sterbedarstellungen Anz (1983).
5
Vgl. Elsaghe (2010), 105–116 und Gann (2007), 17–23. Voswinckel (2014) stellt demgegenüber aus medizinischer Sicht die Bedeutung der 1903 eröffneten Krebsbaracken der Berliner Charité für die Krebsforschung und die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Patienten heraus.
6
Anwar (2013), 60.
7
Einen guten Einblick in die narrativen Verfahren bieten Martinez/Scheffel (2007), 55–67.
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eine in der Literatur der Moderne entwickelte Form des Erzählens, die der Schriftsteller und Arzt Arthur Schnitzer in seiner Novelle Sterben mit großem Effekt einsetzt8 – oder die Kenntnis der Möglichkeiten eines allwissenden Erzählers, der (beispielsweise in Thomas Manns Familienroman Buddenbrooks) aus der Perspektive der 3. Person Singular Bewusstseinsschichten der Figuren aufdecken kann, um zu erzählen, »was sich eine Figur in dieser Form selbst noch gar nicht bewusst gemacht hat, oder sogar, was sie sich gar nicht bewusst machen kann«.9 Der Literatur der Gegenwart steht damit eine ganze Bandbreite an Erzähltechniken zur Darstellung des Sterbens zur Verfügung. Hinzu kommt drittens das Wissen der Literaturgeschichte, das bereits in die vorausgehenden Beispiele eingegangen ist. Die Literatur ist in ihrer Gesamtheit ein Archiv, das Texte aus allen Epochen für die Gegenwart präsent hält. Das hier versammelte Wissen ist nicht nur Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, es fließt auch in die Entstehung neuer literarischer Texte mit ein. Es dokumentiert den historischen Wandel kultureller Einstellungen zu Sterben und Tod und enthält verschüttetes Wissen über den Umgang mit dem Lebensende, das, wie ich am Beispiel Thomas Manns zeigen möchte, auch heute noch von Bedeutung sein kann. Insgesamt stellt das Wissen der Literatur also wichtige Darstellungsverfahren und ein Archiv zur Verfügung. Literarische Texte können in der Kombination von literarischem Wissen, Erfahrungswissen und Wissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen – etwa der Medizin, Medizinethik und -geschichte, der Soziologie, Psychologie, Ethnologie und Philosophie – zur individuellen und kollektiven Auseinandersetzung mit der Frage »Wie wollen wir, wie will ich sterben?« – aber auch zur Frage »Wie wollen wir nicht sterben?« beitragen und in Gedankenexperimenten auf aktuelle wie auch zukünftige Probleme und Herausforderungen hinweisen. Sie setzen zudem den einzelnen Menschen, das Altern, den unheilbar Kranken oder den Sterbenden in Bezug zu seiner Lebenswelt, zeigen ihn in Interaktion mit seiner Umgebung, im Austausch mit seinen Mitmenschen und im Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Themenfeld Literatur und Medizin ist daher nicht nur für die Literaturwissenschaft, sondern auch für Medizinethik und Menschenrechte inte-
8
Vgl. Pietzker (2007), 41–43.
9
Martinez/Scheffel (2007), 56.
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ressant. Menschenrechtsverletzungen werden dort sichtbar, wo menschenrechtlich problematische Aspekte wie etwa die Würde verletzende Verhältnisse in der Betreuung von Menschen am Lebensende thematisiert oder das komplexe Verhältnis zwischen notwendiger ärztlicher Fürsorge und dem Recht auf Selbstbestimmung auch am Lebensende innerhalb der Fiktion erkundet wird.10
3. S ELBSTBESTIMMTES S TERBEN UND SEINE V ERHINDERUNG IN T HOMAS M ANNS B UDDENBROOKS (1901) »War es noch ein Kampf mit dem Tode? Nein, sie rang jetzt mit dem Leben um den Tod. ›Ich will gerne…‹ keuchte sie… ›ich kann nicht… Was zu schlafen!… Meine Herren, aus Barmherzigkeit! was zu schlafen…!‹ Dieses ›aus Barmherzigkeit‹ machte, dass Frau Permaneder laut aufweinte und Thomas leise stöhnte […]. Aber die Ärzte kannten ihre Pflicht. Es galt unter allen Umständen, dieses Leben den Angehörigen so lange wie nur irgend möglich zu erhalten, während ein Betäubungsmittel sofort ein widerstandsloses Aufgeben des Geistes bewirkt haben würde. Ärzte waren nicht auf der Welt, den Tod herbeizuführen, sondern das Leben um jeden Preis zu konservieren.«11
Diese Passage wird gerne als Plädoyer Thomas Manns für die Möglichkeit ärztlichen »Tötens auf Verlangen« interpretiert.12 In der Tat scheint das, zitiert man diese Stelle, ohne den Kontext zu berücksichtigen, angesichts der Aktualität des Themas um 1900 auch plausibel. Dietrich von Engelhardt vertritt demgegenüber allerdings die gegenteilige Position, dass Tötung auf Verlangen in den Buddenbrooks »ausdrücklich abgelehnt« werde.13 Er liest obige Stelle als ärztliche Verweigerung sowohl der »passiven Sterbehilfe« (also des Sterbenlassens) als auch der Gabe von sedierenden Medikamen-
10 Einen Überblick über interdisziplinäre Forschungsfelder und -fragen zum Themenbereich Literatur und Medizin bietet Zelle (2013). 11 Mann (1989), 567–568. 12 So beispielsweise Lindner/Ort (2000), 263–264 und Grübler (2011), 66. 13 Engelhardt (2005), 224.
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ten, die eine »indirekte Euthanasie« bewirken, d.h. unbeabsichtigt den Todeseintritt beschleunigen könnten.14 Für beide Positionen lassen sich im Text gute Argumente finden. Die folgende Analyse wird zeigen, dass die zeitgenössische Debatte um die Tötung auf Verlangen unter anderem bei terminal Kranken mit unerträglichen Schmerzen hier in der Tat anklingt.15 Sie ist jedoch eingebettet in eine differenzierte Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Praktiken ärztlicher Sterbebegleitung. Analysiert man die gesamte Sterbeszene der Konsulin Buddenbrook, aus der das Zitat entnommen ist, wird deutlich, dass das Zitat Bestandteil einer kritischen Reflexion über den Umgang einer rein kurativen, an den Naturwissenschaften ausgerichteten Medizin um 1900 mit Schwerkranken und Sterbenden ist. Man kann aus ihr lernen, wie die Selbstbestimmungsfähigkeit am Lebensende durch ärztliche Maßnahmen nicht gefördert, sondern geradezu behindert wird. 3.1 Aspekte selbst- und fremdbestimmten Sterbens Der Familienroman erzählt über vier Generationen hinweg vom Aufstieg und Verfall der Familie Buddenbrook. Über die Generationen verteilt, werden fünf Sterbeszenen ausführlicher dargestellt. Zusammengenommen ergeben sie eine kleine Kulturgeschichte des Sterbens zwischen 1850 und 1900.16 Eine Analyse der Sterbeszenen des Romans gibt einen Einblick in frühe Reaktionen auf die sich durch die moderne Medizin verändernde Haltung zu Sterben und Tod. Das ist für uns auch heute interessant. Haben sich doch in diesem Zeitraum die modernen Naturwissenschaften und mit ihnen die Medizin im heutigen Sinne entwickelt.17
14 Engelhardt (1999), 69. 15 Zur medizingeschichtlichen Aufarbeitung der Debatte um die Tötung auf Verlangen und ihrer Verbindung mit der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« zwischen 1895 und 1945 vgl. Hohendorf (2013), 27–72. 16 Eine gute Einführung in alle fünf Sterbeszenen des Romans geben Grote (1996), 83–113 und zusammenfassend Steinhoff (2013), 1801–1803; einen Überblick über Krankheit und Sterben bei Thomas Mann, u.a. in den Buddenbrooks, bietet Engelhardt (1999). 17 Vgl. hierzu Gahl im vorliegenden Band zur Medikalisierung, Hospitalisierung und Rationalisierung.
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Die Darstellung des Sterbens der Konsulin Buddenbrook, der wichtigsten weiblichen Protagonistin der zweiten Generation, ist die dritte der fünf ausführlicheren Sterbeszenen des Romans.18 Es ist die erste Sterbeszene, in der das Wissen der modernen Medizin um Krankheitsentstehung und -verlauf eine zentrale Rolle spielt. In den vorausgehenden Sterbeszenen erscheinen Ärzte wenn überhaupt nur am Rande. Krankheitsverlauf und medizinische Behandlung werden kaum thematisiert. Stattdessen wird dort ein anderes, kulturell tradiertes Wissen über den Umgang mit dem Sterben präsentiert. So wird der Tod des alten Johann Buddenbrook als »Euthanasie« im ursprünglichen antiken Sinne des Wortes: als »guter Tod« dargestellt. Im hohen Alter wendet sich Johann Buddenbrook senior nach dem Tode seiner Frau auch selbst vom Leben ab. Er übergibt die Leitung der Firma an seinen Sohn und blickt auf das geschäftige Leben um ihn herum und auf sein eigenes Leben zurück, das er beides mit einem leichten Kopfschütteln als kurios kommentiert. In dieser Verfassung reicht, wie es im Roman heißt, »irgendein kleiner Frühlingsschnupfen, um ihn bettlägerig zu machen, – und dann, in einer Nacht, kam die Stunde, wo die Familie auch sein Bett umstand, wo er zum Konsul [seinem Sohn] sagte: ›Alles Glück – du? Jean? Und immer courage!‹ Und zu Thomas [seinem Enkelkind]: ›Hilf Deinem Vater!‹ Und zu Christian [seinem jüngeren Sohn]: ›Werde was Ordentliches!‹ – worauf er schwieg, Alle anblickte und sich mit einem letzten ›Kurios‹! nach der Wand kehrte …«.19
Mit dieser Darstellung eines besonnenen, schmerzlosen und gefassten Todes in fortgeschrittenem Alter, der zugleich genügend Zeit für einen Abschied von der Familie lässt, wird eine typologische (Ideal)Vorstellung vom »guten Tod« aufgerufen, wie sie sich neben anderen Idealvorstellungen in der Antike unter dem Begriff der »Euthanasie« herausbildete,20 und in der Sterbedarstellung des Kaisers Augustus durch den Historiker Sueton
18 Sie ist es zumindest dann, wenn man die Darstellung des Sterbens beim Ehepaar Johann Buddenbrook senior aufgrund ihrer Zusammengehörigkeit und kürze als eine Szene zählt. 19 Mann (1989), 71. 20 Zur Geschichte des Euthanasiebegriffs in der Antike vgl. Potthoff (1982), Roelcke (2006) und Benzenhöfer (2009), 13–19.
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(120 n. Chr.) sowie in den mittelalterlichen Epen und barocken Ars moriendi-Büchern weitertradiert wurde.21 Im 19. Jahrhundert findet sich diese Vorstellung eines würdigen und gefassten Sterbens nicht nur in literarischen Sterbedarstellungen. Sie prägt als anzustrebendes Ideal auch die bürgerliche Sterbekultur.22 Für den Bezug zur gegenwärtigen Situation interessant ist, dass sich die Sterbeszene wie eine in die Nähe der Karikatur geratene Übertreibung des dem Menschen Möglichen liest: Dargestellt wird ein freiwilliges Abschließen mit dem Leben in Vorbereitung auf das eigene Sterben, das im Wissen um den unmittelbar bevorstehenden Tod einen Abschied von der Familie ermöglicht und in der Bewegung eines aktiven Sich-Wegdrehens von den Lebenden den Tod selbstbestimmt einleitet.23 Auffällig ist zudem, dass von Ärzten in der gesamten Szene nicht die Rede ist. Die literarische Darstellung eines solchen, aus der heutigen Perspektive selbstbestimmten und selbstständig gestalteten Sterbens in medico absente ist um 1900 kein Einzelfall. Ebenso wie der Patriarch der Buddenbrooks stirbt auch der Freiherr von Stechlin in Fontanes drei Jahre zuvor veröffentlichtem Roman Der Stechlin (1898) in Abwesenheit von Ärzten. In beiden Fällen ist damit eine wenngleich unterschiedlich gelagerte Kritik der zeitgenössischen ärztlichen Praxis der Sterbebegleitung verbunden.24 Das Sterben der Konsulin in der nächsten Generation ist deutlich im Kontrast zu dieser Szene konzipiert. Die Darstellung ist gefüllt mit medizinischem Wissen zum Verlauf einer zunächst einseitigen, schließlich beidseitigen Lungenentzündung, ihren Symptomen, den möglichen Komplikationen und einzelnen Verlaufsstadien der Pneumonie. Hinzu kommen Details über »[g]räßliche Merkmale der beginnenden Auflösung«25 eines
21 Vgl. Eckart (2012). 22 Kiesel (2012), 200. 23 Ariès (1982), 734. Auch die Abkehr von der Welt in der Geste des Sich-zur-Wand-Drehens ist keine spontane Geste, die den Tod als einen individuellen Tod charakterisiert. Sie verweist stattdessen auf eine alte kulturelle Praktik, die Philippe Ariès bereits im Alten Testament nachweist. Mit der Darstellung des Todes Tristans in Gottfried von Straßburgs Roman Tristan und Isolde erhält sie Einzug in das Archiv literarischer Sterbedarstellungen. 24 Zu Fontanes Stechlin ausführlich Käser (1998), 208–232. 25 Mann (1989), 564.
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durch die wochenlang andauernde Bettlägerigkeit wundgelegenen Körpers. Im Zentrum steht, über zehn Seiten hinweg – bis zum Eintritt der auf weiteren vier Seiten detailliert ausgeführten qualvollen Sterbenacht – die Krankheit und ihre Bekämpfung. Darauf richtet sich nicht nur die gesamte Energie zweier Ärzte und einer Krankenschwester, sondern auch der Patientin selbst: »Denn die Konsulin verlangte beständigen Dienst an ihrem Bette. Je mehr sich ihr Zustand verschlimmerte, desto mehr wandte sich ihr ganzes Denken, ihr ganzes Interesse ihrer Krankheit zu. […] Diese Krankheit, diese Lungenentzündung war in ihren aufrechten Körper eingebrochen, ohne dass irgendwelche seelische Vorarbeit ihr das Zerstörungswerk erleichtert hätte. […] Sie betete viel; aber fast mehr noch überwachte sie, so oft sie bei Besinnung war, ihren Zustand, fühlte selbst ihren Puls, maß ihr Fieber, bekämpfte ihren Husten […].«26
Die Ärzte sind mit diesem Verhalten der Konsulin »ganz außerordentlich zufrieden«, ja »als Patientin ist sie [ihnen] unübertrefflich«.27 Die erzählerische Einbettung dieser Arzt-Patienten-Interaktion in den Gesamtkontext erzählt hingegen eine andere Geschichte. Von der Konzentration auf die Krankheit und ihrer Bekämpfung ist die Konsulin, sind auch die Ärzte, obwohl sie um den wahrscheinlich tödlichen Ausgang wissen, so in Anspruch genommen, dass jegliche Form einer psychischen Vorbereitung auf das Sterben entfällt.28 Darunter leidet auch die Kommunikation mit, ja das gesamte Verhältnis zu ihren Angehörigen. Die Konsulin war »von Alldem so in Anspruch genommen, daß sie beinahe nur noch mit den Ärzten sprach und wenigstens nur im Gespräch mit ihnen aufrichtiges Interesse an den Tag legte. […] Ihre Angehörigen empfanden peinlich die Gleichgültigkeit, mit der die alte Dame ihnen begegnete; sie nahm sich wie eine Art Geringschätzung aus, die besagte: ›Ihr könnt mir doch nicht helfen.‹ […] Es war, als wollte sie sagen: ›Kinder, ihr seid Alle liebe Leute, aber ich – ich muss vielleicht sterben!‹ Die beiden Ärzte
26 Mann (1989), 560–561 [Hervorhebung der Autorin]. 27 Ebd., 563. 28 Vgl. auch Engelhardt (1999), 50 und 67.
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hingegen empfing sie mit lebhafter und interessierter Wärme, um eingehend mit ihnen zu konferieren …«.29
Die Kommunikation der Konsulin mit den Ärzten stärkt ihre Hoffnung, die Krankheit besiegen zu können. Obwohl sie ahnt, dass sie vielleicht sterben muss, wird seitens der Ärzte alles getan, ihr und in etwas geringerem Maße auch den Angehörigen die Bedrohlichkeit der Lage zu verheimlichen. In der Sterbenacht geschieht daher, was die Konsulin bereits zu Beginn ihrer Erkrankung befürchtet hatte, dass die »Krankheit ganz selbstständig, in letzter Stunde und in gräßlicher Eile, mit Körperqualen ihren Widerstand zerbrechen und die Selbstaufgabe herbeiführen müsse«, weil sie »nicht eigentlich bereit war, zu sterben«.30 Das ist der Moment, in dem die Konsulin leidend und bei vollem Bewusstsein um ihre Niederlage wissend, aber in ihrer Unfähigkeit, das Leben loszulassen, ihre letzte Bitte, mit Variationen dreifach wiederholt, an die Ärzte hervorbringt: »Etwas zu schlafen …! Ein Mittel.« Was lernen wir aus dieser Szene gerade in ihrem Kontrast zur vorausgehenden Sterbedarstellung des Schwiegervaters der Konsulin? Erstens: Sterben wird in beiden Sterbedarstellungen als ein sowohl physiologischer als auch psychologischer Prozess dargestellt. Ein sanftes, leichtes Sterben erscheint aus dieser Perspektive dann wahrscheinlicher, wenn man sich zuvor psychisch darauf vorbereiten kann. Dazu gehört der abschließende Rückblick auf das eigene Leben ebenso wie die Kommunikation mit und der Abschied von den Angehörigen. Zweitens: Indem sich die Konsulin in die Hände von Ärzten begibt, die einer rein kurativen Medizin verpflichtet sind, und sich mit diesen zusammen auf die Bekämpfung der Krankheit konzentriert, begibt sie sich in der Logik der Darstellung der Möglichkeit eines selbstbestimmten Sterbens: Es ist am Ende die Krankheit, die »ganz selbstständig« ihren Widerstand »zerbricht«. Indem nicht mehr der Sterbende, sondern die Krankheit als »selbstständig« bezeichnet wird, impliziert diese Sterbeszene des Romans, dass die fehlende Akzeptanz des Sterben-Müssens die Selbstbestimmungsfähigkeit Sterbender auf doppelte Weise untergräbt. Hatte die Konsulin zuvor das Sterben verdrängt und mit den Ärzten um ihr Leben gekämpft, so »rang sie jetzt mit dem Leben um
29 Mann (1989), 562. 30 Ebd., 561 [Hervorhebung der Autorin].
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den Tod«31 und erwartet konsequenter Weise auch in diesem neuen gemeinsamen Kampf mit den Ärzten von den Ärzten »ein Mittel«. Drittens: Die gezielte Täuschung der Patientin hinsichtlich ihres Zustandes bis in die Sterbephase hinein und die von den Ärzten beförderte Hoffnung auf Genesung in aussichtsloser Lage trägt hier zu ihrem schweren Sterben bei. Freiheit im Angesicht des Todes erscheint eher dann möglich, wenn man sich, wie beim Schwiegervater der Konsulin geschehen, mit der Unausweichlichkeit des Sterbens aussöhnen kann. Eher hinderlich für einen selbstbestimmten Umgang mit dem Lebensende sind Lügen am Krankenbett aus falsch verstandener Fürsorge.32 Gegenüber den Alternativen, die der Roman in diesen beiden Sterbeszenen aufzeigt – ein selbstbestimmtes Sterben in medico absente und ein fremdbestimmtes Sterben in medico praesente – gilt es für die Gegenwart zu fragen, was aus ihrem Vergleich für die aktuelle Situation im ärztlichen Umgang mit Sterbenden zu lernen ist. Ein Sterben (verstanden als länger andauernder Prozess) in medico absente ist heute angesichts einer deutlich vorangeschrittenen Medikalisierung des Lebensendes eher unwahrscheinlich. Auch die Vermeidung der Wahrheit am Krankenbett aus paternalistischer Fürsorge ist heute aufgrund der gegenwärtigen Bedeutung von informed consent und Patientenautonomie sowohl in der Medizinethik als auch im menschenrechtlichen Kontext keine Option. Die Frage ist also eher, wie das Arzt-Patienten-Verhältnis so zu gestalten ist, dass die Selbstbestimmungsfähigkeit am Lebensende und in der Sterbephase im Rahmen des Möglichen durch die Ärzte und Pflegenden befördert werden kann. Die Konzentration auf Möglichkeiten der Stärkung der Selbstbestimmungsfähigkeit am Lebensende schließt dabei ärztliche Fürsorge nicht aus; sie stellt die Fürsorge im Gegenteil in den Dienst der Patientenautonomie.33 Im
31 Mann (1989), 567. 32 Vgl. zur Mitteilung der Unheilbarkeit bei fortgeschrittenen tödlichen Erkrankungen a) aus der gegenwärtigen Perspektive: Gahl und Ostgathe in diesem Band; b) medizinhistorisch: Stolberg (2011), 178–185; in der Literatur um 1900: Welsh (2011), 282–294. 33 Vgl. hierzu neben den Beiträgen in diesem Band von Bielefeldt zur »relationalen Autonomie« und von Hirschberg zur »persönlichen Assistenz« auch Härle (2012), der ausführlich auf die Verbindung von Selbstbestimmung und ärztli-
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Unterschied zum Verhalten der Ärzte gegenüber der Konsulin, wäre hier nach eingehender Besprechung mit der Patientin und ihren Angehörigen die Möglichkeit einer Therapiezieländerung weg von einer rein kurativen Medizin hin zu einer palliativen Versorgung zu erwägen. Natürlich ist die damit verbundene Annahme des Sterben-Müssens durch die Betroffenen nicht conditio sine qua non für ein selbstbestimmtes Sterben – eine solche Aussage wäre eine moralische Setzung, die dem Einzelnen den selbstbestimmten Entscheidungsraum nicht öffnen, sondern verschließen würde. Auch eine (soweit es der geistige Zustand erlaubt) informierte Entscheidung, bis zum Lebensende auf die kurative Medizin zu setzen, ist eine Möglichkeit selbstbestimmten Sterbens. Entscheidend ist jedoch, dass eine Kommunikation mit Sterbenskranken und ihren Angehörigen stattfindet, in der – so umfassend und kompetent, wie es die geistigen, psychischen (und im Falle der Ärzte auch zeitökonomischen und professionellen) Möglichkeiten der Betroffenen erlauben – ein realistisches Bild über den Zustand des Patienten vermittelt wird.34 Erst auf dieser Grundlage eröffnen sich mögliche Freiräume zur selbstbestimmten Gestaltung des eigenen Lebensendes. Die Darstellung des schweren Sterbens der Konsulin im Kontrast zum Sterben ihres Stiefvaters impliziert allerdings, dass ein Festhalten an der kurativen Medizin sowohl seitens der Ärzte als auch der Patienten um 1900 keine individuelle Entscheidung des Einzelnen darstellt. Sie ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, Bestandteil einer historisch spezifischen medikalen Kultur und eng mit dem Aufstieg der naturwissenschaftlich orientierten Medizin verknüpft. 3.2 Marginalisierung der euthanasia medica in der Frühphase der modernen Medizin Vergleicht man die Sterbedarstellungen Anwars von 2000 mit denen Thomas Manns, könnte man meinen, dass die palliativärztliche Sterbebegleitung eine späte Errungenschaft der modernen Medizin darstellt. Das ist
cher Fürsorge am Lebensende im Sinne einer »informierenden Fürsorge« als Grundlage selbstbestimmter Entscheidungen eingeht. 34 Zu den Herausforderungen und Möglichkeiten einer schonenden Kommunikation des Befunds tödlich verlaufender Erkrankungen vgl. Ostgathe in diesem Band und Müller-Busch (2012).
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zwar insofern richtig, als die heutige Palliativmedizin sowohl institutionell als auch wissenschaftlich in der modernen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin verankert ist. Ihr stehen damit heute ganz andere Möglichkeiten insbesondere bei der Symptombehandlung zur Verfügung. Sterben um 1900 in medico praesente ist jedoch nicht dadurch charakterisiert, dass es damals noch keine palliativmedizinische Sterbebegleitung gab, sondern dadurch dass es sie vielmehr nicht mehr gab. Bereits die frühneuzeitliche Medizin unterschied zwischen einer die Ursache der Krankheit beseitigenden kurativen (cura curativa) und einer palliativmedizinisch (lat. pallium: Mantel) symptomlindernden (cura palliativa) Medizin.35 Allerdings diente der Begriff zur Bezeichnung symptomlindernder Behandlungsformen bei allen unheilbaren Krankheiten, ganz unabhängig davon, ob sie lebensbedrohlich waren oder nicht. Als ärztliches Spezialwissen um den Umgang mit terminal Kranken und Sterbenden erlebte die Palliativmedizin ihre erste Blütezeit zwischen 1790 und 1850 unter dem Begriff der Euthanasie. In einer Fülle von Texten zur euthanasia medica wurde damals das Wissen um die Herbeiführung eines guten Todes zu einem eigenständigen ärztlichen Wissensgebiet ausgearbeitet.36 »Euthanasie« meinte allerdings nicht, wie erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts üblich, die gezielte medikamentöse Herbeiführung des Todes auf Wunsch des Sterbenden. Diese wurde von den meisten Ärzten vehement abgelehnt. Euthanasie bewirken bedeutete vielmehr »die Plagen der Krankheit zu mildern, die Seele zu stählen, dass sie mit kraftvoller Resignation den Tod duldet, oder das Bewusstseyn desselben zu verdunkeln«.37 Explizit wird die Herbeiführung eines sanften Sterbens insbesondere dort, wo – wie bei der Konsulin Buddenbrook – »die Krankheit [...] schmerzhaft [ist] und hart, und das Bewusstseyn helle«,38 als ärztliche Aufgabe, ja als Pflicht des Arztes herausgestellt. Er soll »auch bei den unheilbarsten Krankheiten, bis zu
35 Vgl. zum Folgenden Stolberg (2011), 43–56 und 119–131. 36 Zur Geschichte des Euthanasiebegriffs und den unterschiedlichen Phasen des Bedeutungswandels vgl. Benzenhöfer (2009); Roelcke (2006) zur Antike und Aufklärung; Hohendorf (2013) zu Moderne, Nationalsozialismus und Gegenwart; Welsh (2011) zu Aufklärung und Moderne. 37 Reil (1816), Kapitel XV, »Euthanasia, oder von den Hülfen, erträglich zu sterben«, 573. 38 Ebd., 572–573.
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dem letzten Hauch des Lebens« »thätig« bleiben und sobald er eine Krankheit »als eine unheilbare, [sic!] erkennt, […] seinen ganzen Plan auf Euthanasie anlegen […]«.39 Ausführlich erörtern diese Texte Möglichkeiten der Schmerzbehandlung, der Pflege Schwerstkranker am Lebensende und auch der ärztlichen Seelsorge (cura psychica).40 Wiederholt finden sich Warnungen an die Ärzte, dass »eine zwar wohlgemeinte, doch deshalb nicht weniger verwerfliche ärztliche Geschäftigkeit« in der Sterbephase gerade das Gegenteil von Euthanasie, nämlich eine Dysthanasie, also ein besonders qualvolles Sterben bewirken kann.41 Dieses Wissen um die ärztliche Sterbebegleitung geht mit dem Aufstieg der modernen Medizin im Verlaufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich verloren. Die Geschichte der Marginalisierung der Palliativmedizin ist damit zugleich eine Geschichte des Rückschritts in einem Bereich, ausgelöst durch den Fortschritt in einem anderen Bereich. Zwar ist das Wissen um die Maßnahmen der euthanasia medica nach wie vor vorhanden,42 es wird jedoch weder (wie heute) innerhalb der neuen wissenschaftlichen Paradigmen weiterentwickelt noch in der ärztlichen Ausbildung weitergegeben. Stolberg führt das Desinteresse an der Sterbebegleitung an der Wende zum 20. Jahrhundert vor allem auf einen »überbordenden therapeutischen Optimismus und Aktionismus am Krankenbett« zurück.43 Der Befund der Unheilbarkeit tödlich verlaufender Krankheiten und der Einsatz des Sterbeprozesses wurden aus der Perspektive dieser Ärzte zu einer Erfahrung therapeutischen Scheiterns.44 Ein Eingeständnis, welches man so lange wie möglich hinausgezögerte, indem man sich auf die »Verlängerung des Lebens [… als] vornehmste Pflicht des Arztes«45 berief. Das folgende Beispiel erfolgreicher ärztlicher Sterbebegleitung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, wie die letzten Stunden im Leben der Konsulin hätten verlaufen können, sofern ihre Ärzte elementare Hand-
39 Ebd., 564. 40 Stolberg (2011), 149–153. 41 Hennemann (1830), 175, zitiert bei Stolberg (2011), 128. 42 Vgl. Mendelsohn (1897), 1–7 und 36–39. Wiederabgedruckt in Grübler (2007), 50–61. 43 Stolberg (2011), 130–131, Zitat 131. 44 Vgl. Gahl und Ostgathe in diesem Band. 45 Moll (1902), 131.
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lungsanweisungen der euthanasia medica beherzigt hätten. Der Berliner Professor für Medizin, Friedrich Wilhelm Hufeland, hatte bereits in den 1830er Jahren die Angst der Ärzte vor dem Einsatz von Opium zur Erleichterung des Sterbens kritisiert, und es besonders in schweren Fällen empfohlen. Opium eigne sich, so Hufeland, nicht nur zur Schmerztherapie und zur Linderung der Angst, sondern gebe zugleich »den Muth und die Kraft zum Sterben, ja es befördert physisch selbst jene Stimmung der Gemüths, die zur Erhebung des Geistes in die himmlischen Regionen geschickt macht«.46 Als Beleg schildert Hufeland den Fall eines Patienten, der ebenso wie die Konsulin Buddenbrook unter starker Atemnot und Todesängsten leidet. Doch nimmt der weitere Sterbeverlauf der beiden aufgrund der unterschiedlichen Behandlung einen diametral entgegengesetzten Verlauf.47 Hufelands Patient schläft nach der Gabe von Opium ein, um am folgenden Morgen wie verwandelt aufzuwachen. Und zwar: »ganz heiter, frei von allem Schmerz und Angst, und dabei so gestärkt und beruhigt in seiner Seele, daß er mit der höchsten Fassung und Freudigkeit Abschied von den Seinigen nahm, ihnen seinen Segen und noch manch gute Ermahnung gab, dann wieder ruhig einschlief, und im Schlafen aufhörte zu sein.«48
Hier trägt die ärztliche Behandlung in ihrem Ergebnis dazu bei, die traditionelle Vorstellung eines gefassten und in gewisser Weise auch selbstbestimmten guten Todes zu ermöglichen.49 Die Ärzte der Konsulin verweigern demgegenüber ihrer Patientin in der Sterbenacht auch auf deren mehrfache Bitte hin ein Narkotikum. Sie be-
46 Hufeland (1837), 853, zitiert aus Stolberg (2011), 133. 47 Bei der Konsulin: »Um vier Uhr wurde es schlimmer und schlimmer. […] Die Atmung drohte gänzlich zu versagen und die Ängste nahmen zu ›Etwas zu schlafen …!‹ brachte sie hervor. ›Ein Mittel!‹ Aber man war weit davon entfernt, ihr etwas zu schlafen zu geben«, vgl. Mann (1989), 567; dagegen Hufelands Beschreibung: »Die fürchterlichste Todesangst mit ständiger Gefahr der Erstickung bemächtigte sich seiner, er gerieth in wahre Verzweiflung und sein Zustand war selbst für die Umstehenden eine nicht zu ertragende Pein.« Hufeland (1837), 853; zitiert aus Stolberg (2011), 133. 48 Hufeland (1837), 853, zitiert aus Stolberg (2011), 133–134. 49 Vgl. die obigen Ausführungen zum Sterben Johann Buddenbrooks.
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fürchten, dass »ein Betäubungsmittel sofort ein widerstandsloses Aufgeben des Geistes bewirkt haben würde«.50 Stattdessen stärken sie »mit verschiedenen Mitteln ihr Herz und [bringen] durch Brechreiz mehrere Male momentane Erleichterung hervor«.51 So kann die Konsulin weder schlafen noch sterben. Stattdessen ringt sie in zunehmender physischer und psychischer Not »mit dem Leben um den Tod«.52 Dabei verlagert sich ihre Hoffnung auf Hilfe weg von den Ärzten, die weiterhin um ihr Leben kämpfen, hin zu Stimmen bereits verstorbener Verwandter. Nicht die ärztliche Kunst, sondern eine Stimme von jenseits der Grenze des Todes ermöglicht es schließlich der Konsulin doch noch fast freudig aus dem Leben zu treten. Was passiert im Verlaufe dieses akribisch dargestellten Todeskampfes mit ihrem Wunsch nach ärztlicher Unterstützung? Handelt es sich wirklich jedes Mal um dieselbe Bitte um ein Mittel? Schauen wir uns die dreifach wiederholte Bitte der Konsulin genauer an. Zunächst deutet nichts darauf hin, dass die Sterbende etwas anderes verlangt als »Etwas zu schlafen«.53 »Um vier Uhr wurde es schlimmer und schlimmer. […] Die Atmung drohte gänzlich zu versagen und die Ängste nahmen zu. ›Etwas zu schlafen…!‹ brachte sie hervor. ›Ein Mittel!‹ Aber man war weit davon entfernt, ihr etwas zu schlafen zu geben.«
Ähnlich wie beim Patienten Hufelands könnte auch hier ein Narkotikum eine Ruhephase eingeleitet haben, auf die im Anschluss ein ruhiges und gefasstes Sterben im Kreise der Familie hätte stattfinden können. Diese erste Aufforderung an die Ärzte lässt sich also noch als eine Bitte um Hilfe beim Sterben verstehen.54 Etwas später, in der ersten Wiederholung ihres Wun-
50 Mann (1989), 568. 51 Ebd. 52 Ebd., 567. 53 Ebd., ebenso das darauffolgende Zitat. 54 Engelhardt (1999) versteht das Verhalten der Ärzte am Sterbebett der Konsulin insgesamt als Verweigerung sowohl einer »indirekten Euthanasie« als auch einer »passiven Sterbehilfe« – sowohl die Vergabe lindernder Mittel, die zu einer Beschleunigung des Todeseintritts führen könnten (indirekte Sterbehilfe/ Euthanasie), als auch das Sterbenlassen im Sinne eines Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen (passive Sterbehilfe), seien den Ärzten der Konsulin untersagt. (Vgl. ebd., 69).
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sches kämpft die Konsulin jedoch bereits darum, sterben zu können. Zwar bittet sie noch immer um »was zu schlafen…!«,55 doch entspringt diese Bitte der Feststellung, dass sie zwar sterben will, es aber nicht kann. In ihrem Gespräch mit Stimmen ihrer verstorbenen Verwandten heiß es: »›Ich will gerne…‹ keuchte sie… ›Ich kann nicht… Was zu schlafen!... Meine Herren, aus Barmherzigkeit! was zu schlafen…!‹« Hier wird die Grenze zwischen der Bitte um ärztliche Hilfe beim Sterben im Sinne einer Leidensverminderung hin zu einer Bitte um Hilfe zum Sterben im Sinne einer gezielten Lebensverkürzung zumindest berührt. Nach einer weiteren Stunde schwersten Leidens und falscher ärztlicher Geschäftigkeit ist ihre dritte Bitte um ein Mittel schließlich nur noch als eine Bitte um den Tod zu verstehen: »Jetzt komme ich… Sofort… Diesen Augenblick noch… So… Ich kann nicht… Ein Mittel, meine Herren…«.56 Die Beschreibung des schweren fremdbestimmten Sterbens der Konsulin führt damit eindringlich vor, dass gerade die Verweigerung angemessener Hilfe beim Sterben zu Situationen führen kann, in denen die Bitte um Hilfe zum Sterben als einziger noch bleibender Ausweg erscheint. Es handelt sich damit weder ausschließlich um eine Kritik an der Verweigerung passiver oder indirekter Sterbehilfe, wie Engelhardt meint,57 noch um ein Plädoyer Manns für den ärztlich assistierten Suizid oder eine ärztliche Tötung auf Verlangen, wie Ort und Lindner behaupten.58 Die Szene analysiert selbst den Zusammenhang zwischen einer ärztlichen Sterbebegleitung, die sich auf Lebenserhaltung und -verlängerung konzentriert und die medizinische Symptomlinderung vernachlässigt, und dem Wunsch des so behandelten Leidenden nach ärztlicher Sterbehilfe. Mussten die beiden, wie der allwissende Erzähler kritisch-ironisch kommentiert, »notdürftig unterrichteten Mediziner« ihr das Mittel wirklich verweigern? Wie sieht es aus mit Überlegungen zum Umgang mit der Gefahr einer nicht beabsichtigten Lebensverkürzung als Folge der Gabe von Narkotika und anderer Schmerzmittel um 1900? Stolberg hat gezeigt, dass Ärzte an der Wende zum 20. Jahrhundert wieder deutlich zurückhaltender wurden und dazu tendierten, ihren Patien-
55 Mann (1989), 567. 56 Mann (1989), 568. 57 Vgl. Fußnoten 13 und 14. 58 Vgl. Fußnote 12.
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ten eher einen qualvollen Tod zuzumuten, als potenziell lebensverkürzende Mittel einzusetzen.59 Auch einige der Ärzte kritisierten diese neue Zurückhaltung ihrer Kollegen. Der zeitgenössische Mediziner Albert Moll geht in seiner Ärztlichen Ethik (1902) noch einen Schritt weiter, indem er zusätzlich zur Kritik an der sparsamen Anwendung von Schmerzmitteln bei Schwerkranken und Sterbenden auch auf die Gefahr der Herbeiführung einer Bewusstlosigkeit durch die Gabe von Narkotika eingeht: »Selbstverständlich wird der Arzt versuchen, durch allerlei Mittel, besonders durch Narkotika, die Schmerzen der Sterbenden zu lindern. Ich würde das nicht besonders erwähnen, wenn nicht von anderer Seite behauptet wäre, dass der Arzt nicht das Recht habe, den Sterbenden bewusstlos zu machen. Wenn Narkotika nur in solchen Dosen den Schmerz beseitigen, dass man gleichzeitig einen Betäubungszustand erzeugt, so kann daraus kein Grund gegen die Darreichung der Narkotika hergeleitet werden.«60
In seiner Begründung fragt Moll nach der Würde des Menschen im Schmerz und im Zustand der Bewusstlosigkeit. Sein Kriterium für ein menschenwürdiges Sterben ist nicht die Frage, ob ein Mensch bei vollem Bewusstsein stirbt oder in einer terminalen (oder wie wir heute sagen würden palliativen) Sedierung, sondern ob der Schmerz es dem Leidenden überhaupt noch ermöglicht, an seiner Umgebung teilzunehmen. »Es schädigt doch die Würde eines Menschen nicht, wenn ich diesen durch ein Narkotikum bewusstlos mache, zumal wenn er durch den lebhaften Schmerz so in Anspruch genommen ist, dass ihm das Bewusstsein für die Umgebung, ein Urteil über die Welt abgeht«.61
4. F AZIT Die Darstellung des Sterbens der Konsulin Buddenbrook erinnert im Kontrast zur Sterbeszene ihres Schwiegervaters daran, dass ältere, zum Teil
59 Stolberg (2011), 136 und 170–175. 60 Moll (1902), 130. 61 Ebd.
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über Jahrhunderte tradierte kulturelle Wissensformen zur Vorbereitung auf und zum Umgang mit dem Sterben durch eine zunehmende Medikalisierung des Lebensendes verdrängt wurden. Sie dokumentiert und reflektiert zugleich – u.a. in der Thematisierung des von den Ärzten verweigerten Narkotikums und des ärztlichen Primats der Lebensverlängerung um jeden Preis – die Marginalisierung eines bereits existierenden und zum Teil auch in der Praxis etablierten ärztlichen Spezialwissens um den Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden im Zuge der Herausbildung unserer heutigen, naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin. Thomas Manns Darstellung des schweren Sterbens der Konsulin ist meines Wissens die früheste ausführliche Darstellung der Konsequenzen dieser Entwicklungen für Sterbende in der deutschsprachigen Literatur. Doch auch die späteren Texte von Max Nassauer Sterben … ich bitte darum! (1911) und Alfred Henschkes (Klabund) Die Krankheit (1917) deuten darauf hin, dass das ältere palliativmedizinische Wissen in Vergessenheit geraten war. Sie implizieren zudem, dass das ärztliche Primat der Lebenserhaltung um jeden Preis innerhalb der Gesellschaft auf Kritik stieß.62 In der Darstellung dieser literarischen Texte verlängern die ärztlichen Maßnahmen nicht das Leben, sondern den schmerzhaften und qualvollen Sterbeprozess.63 Aus dieser Perspektive ist die dreimalige Bitte der Konsulin um »Ein Mittel« kein Plädoyer für die Liberalisierung der Sterbehilfe. Die Darstellung ihres schweren Sterbens kritisiert vielmehr die damalige Marginalisierung palliativmedizinischen Wissens in der Tradition der euthanasia medica. Es ist eine Kritik, die allerdings zugleich andeutet, dass gerade das Bestreben der biowissenschaftlich orientierten, kurativen Medizin, das Leben so lange wie irgend möglich zu erhalten, in seiner Konsequenz dazu führt, dass am Ende auch ein Mittel benötigt wird, um es zu beenden.64
62 Vgl. zur literarischen Kritik am Primat der Lebenserhaltung Max (2013), 46–54; zu Konflikten zwischen Ärzten und Laien Stolberg (2011), 174–178. 63 Katrin Max hat hier zurecht darauf hingewiesen, dass die Darstellungen des häßlichen Sterbens in der Literatur der Moderne nicht nur innerästhetische Gründe haben, sondern auch auf tatsächliche Veränderungen in der ärztlichen Sterbebegleitung hinweisen. Vgl. Max (2013), 49–51. 64 Zu ähnlich gelagerten Reflexionen in der Gegenwartsliteratur vgl. Welsh (2015), 506–508.
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Die Lektüre der Buddenbrooks macht damit auf ein heute noch hochaktuelles Thema aufmerksam: auf die Gefahr, das eigene Sterben als Bestandteil des Lebens zu verdrängen, anstatt sich damit auseinanderzusetzen, in der Hoffnung, die Ärzte werden das schon alles richten. Sie erinnert zudem daran, dass die Frage der Therapiezieländerung nicht nur die Voraussetzung der institutionellen Palliativmedizin bildet, sondern bei jeder Form ärztlicher Betreuung am Lebensende rechtzeitig zu berücksichtigen ist. Zusammen gelesen markieren Manns Buddenbrooks (1901) und Anwars Geschichten vom Sterben (2013) Anfang und Ende einer Dominanz der kurativen, auf Lebensverlängerung hin ausgerichteten Medizin in der letzten Lebensphase.
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Lebensende und Sterben – ein zu wenig bekanntes Feld Empirische Studien zum Meinungsbild in der deutschen Bevölkerung C ONSTANZE H ÜBNER , A NDREAS F REWER
1. HINTERGRUND UND ZIELE »Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte bloß nicht dabeisein, wenn es passiert.«1 Viele Menschen in unserer Gesellschaft scheinen sich einen schnellen, kaum merkbaren Übergang vom Leben zum Tod als die für sie beste Form des Sterbens zu wünschen: Einfach morgens nicht mehr aufwachen.2 Dieser Wunsch trifft auf eine Wirklichkeit, in der längere
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Dieses Zitat von Woody Allen (*1935) könnte in gewisser Weise als eine moderne Variation des Epikur (341–271/270 v.Chr.) zugeschriebenen Satzes »Wenn wir sind, ist der Tod nicht da, wenn der Tod ist, sind wir nicht da« gesehen werden, wobei das Vorhandensein eines existenziellen Unbehagens (in der flapsigen Version des populären Regisseurs) bzw. die erstrebte Angstfreiheit (epikureische Philosophie) ein entscheidender Unterschied ist. Vgl. u.a. Frewer (2002), 20.
2
Vgl. Hübner (2016). Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf die Ergebnisse der philosophischen Dissertation (2015) der Erstautorin an der FAU Erlangen-Nürnberg. Der Zweitautor war Betreuer dieser Studie.
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Sterbeprozesse mittlerweile eher die Regel als eine Ausnahme sind.3 Aufgrund verbesserter hygienischer und medizinischer Versorgung, ausreichender Nahrung und insgesamt – relativ – friedlicher Verhältnisse ist es möglich geworden, in (Mittel-)Europa ein langes Leben zu führen.4 Bei dieser epochalen Veränderung handelt es sich um eine Steigerung der Lebenserwartung bei Geburt, die sich mit einem Wegfall der hohen Säuglingssterblichkeit früherer Zeiten deutlich erhöht hat. Einem Neugeborenen, das heute gesund das Licht der Welt erblickt, wird eine mittlere Lebenserwartung von gegenwärtig etwa 80 Jahren5 in die Wiege gelegt. Eine gewisse Kehrseite der Medaille unseres vergleichsweise sicheren und langen Lebens ist jedoch, dass nicht Krankheiten mit kurzem Verlauf wie Infektionen, Grippe oder andere akute Leiden gewöhnlich unser Leben beenden, sondern vielfach chronische Krankheiten mit progredientem oder schmerzhaftem Verlauf. Das Statistische Bundesamt (2013) nennt die folgenden zehn häufigsten Sterbefälle in Deutschland des Jahres 2011 nach den Kriterien der »International Classification of Diseases« (ICD-10): Chronisch-ischämische Herzkrankheit, akuter Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, bösartige Neubildungen der Bronchien und der Lunge, sonstige chronisch-obstruktive Lungenkrankheit, Schlaganfall, hypertensive Herzkrankheit, Pneumonie, bösartige Tumoren der Brustdrüse, bösartige Neubildungen des Dickdarms.6 Somit werden laut deutscher Statistik die Er-
3
Vgl. Frewer/Winau (2002a) und Frewer et al. (2009). Siehe auch Deutsche Hospiz-Stiftung (2008), Thönnes/Jacobi (2011), Frewer (2012) sowie Hübner (2016).
4
Vgl. Fischer (2010) sowie generell zur Sozialgeschichte des Todes Ariès (1980).
5
Aus dem Datenreport des Statistischen Bundesamtes des Jahres 2013 geht hervor, dass die mittlere Lebenserwartung der Männer gegenwärtig ca. 77,7 Jahre und die der Frauen 82,7 Jahre beträgt, vgl. Statistisches Bundesamt (2013).
6
Vgl. Wuermeling (2010). Die statistische Ermittlung der Todesursachen in Deutschland ist dem Autor zufolge allerdings nicht ganz unbedenklich, da beispielsweise die Mehrzahl der Todesursachen, welche durch eine Obduktion aufgeklärt worden seien, der ärztlich festgestellten Todesursache auf dem Leichenschauschein nicht entsprächen und somit den Wert der Todesursachenstatistik erheblich reduzierten. Dennoch seien sie einigermaßen erkenntnisrelevant, weil die Fehlerquote relativ gleichbleibend sei und grobe Veränderungen in der Häufigkeit der verschiedenen Todesursachen noch erfasst würden.
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krankungen von Herz- und Kreislauf als häufigste Todesursache angegeben. Aufgrund dieser Daten kann die Institutionalisierung von Sterben und Tod weitgehend den medizinischen wie auch hygienischen Fortschritten zugeschrieben werden.7 Viele Menschen in Deutschland beenden ihr Leben aus diesem Grund in einer Einrichtung, häufig unter Verlust oder Einschränkung der Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Der Wunsch nach einem schnellen Tod wird hervorgerufen durch eine Realität, die nicht selten mit einer längeren Sterbephase verbunden ist. Die Angst vor einem einsamen Sterben in bestimmten Institutionen, aber auch vor einem »Dahinsiechen« scheint kontinuierlich zu wachsen. Die Medizin hat demnach für nicht wenige Menschen sogar bedrohliche Züge angenommen, wenn es um den Sterbeprozess geht (»an Apparaten«).8 Diese Furcht bietet einen möglicherweise gefährlichen Nährboden für den Ruf nach Sterbehilfe im Allgemeinen und anscheinend den nach aktiver Sterbehilfe bzw. Tötung auf Verlangen im Besonderen, denn viele Menschen suchen Auswege aus dieser – für sie so wahrgenommenen – »inhumanen« Sterbesituation; so möchten sie den Zeitpunkt und die Art ihres Sterbens selbst bestimmen. Ein Wunsch, der im Grunde verständlich ist und offenbar dem ubiquitären Gestaltungswillen des Menschen entspricht, aber doch differenzierter betrachtet werden sollte. Muss man unter diesen Bedingungen erwarten, dass sich der Wunsch, aktive Sterbehilfe bzw. Tötung auf Verlangen in Deutschland zu legalisieren, als eine mögliche Problemlösung am Lebensende in der Bevölkerung verbreitet? So wird im Folgenden aus medizinethischer Sicht erstens gefragt, ob würdevolles und friedliches Sterben nicht eher ein Sterben mit adäquater Schmerzbehandlung (falls nötig) darstellt, ein liebevolles Begleiten in einer angenehmen Atmosphäre im Sinne einer »Ars moriendi« – sei es in einer Institution oder in häuslicher Umgebung – ohne dass als einzige und »wahre Lösung« der assistierte Suizid, ein Freitod oder dann eben die gezielte Tötung auf Verlangen in Betracht gezogen werden muss?9 In
7
Vgl. Fischer (2010).
8
Vgl. Erbguth (2010).
9
Auswirkungen des neuen Hospiz- und Palliativgesetzes und des Verbots eines kommerzialisierten medizinisch-assistierten Suizids im Jahr 2015 auf die Sterbesituation der Menschen in Deutschland müssen erst noch abgewartet werden. Siehe dazu etwa Jäger (2015) und (2016) sowie Tolmein im vorliegenden Band.
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diesem Zusammenhang wird zweitens gefragt, ob der Ruf nach aktiver Sterbehilfe tatsächlich dem Wunsch nach einer gezielten Tötung gleichkommt oder vielmehr dem einer Erlösung – wie beispielsweise die passive oder indirekte Sterbehilfe sie auch bieten – von einer als schwierig erlebten Situation. Drittens wird gefragt, ob sich Menschen bei der Vorstellung einer »qualvollen« Situation auch dann noch wünschen zu sterben, wenn sie von den Möglichkeiten der Palliativmedizin wüssten, welche die Sterbequalität maßgeblich und in nahezu allen Fällen bis hin zur Palliativen Sedierung zu verbessern mag.10 All diese Fragen wurden anhand einer empirischen und experimentellen Studie untersucht, mit dem Anliegen, nicht nur den Kenntnisstand der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der Sterbehilfeformen zu eruieren, sondern auch ihre Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe bzw. ihre Ablehnung in Abhängigkeit vom Kenntnisgrad. In diesem Zusammenhang wird unter Sterbehilfe das gesamte Spektrum der Sterbehilfe verstanden, auch deshalb, um die semantische Nähe des Hilfebegriffs zur Lebensverkürzung zu lockern; Hilfe bedeutet demnach nicht nur, einem Menschen schneller zum Tod zu verhelfen, sondern auch, ihm Fürsorge und Beistand zukommen zu lassen. Sterbehilfe als Oberbegriff umfasst somit alle Formen der Sterbehilfe: Aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, indirekte Sterbehilfe (auch palliative Sedierung) sowie Sterbebegleitung (siehe Tab. 1).
10 Vgl. Borasio et al. (2014). Der assistierte Suizid wird nicht nur in der Politik, sondern auch in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert; vgl. auch Gavela (2013), Hillenkamp (2014) und Nauck et al. (2014). Zur zentralen Dimension der Hoffnung in diesem Kontext vgl. insbesondere Frewer et al. (2010).
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Tab. 1: Sterbehilfeformen und ihre Charakteristika Sterbehilfeform
Sterbebegleitung
Behandlungsabbruch
Passive Sterbehilfe
Charakteristik Unter Sterbebegleitung versteht man die psychische Begleitung wie Trost und Beistand. Doch nicht nur psychische Begleitung, sondern auch die Erfüllung von Grundbedürfnissen der Sterbenden wie ausreichender Wärmeschutz, genügende Flüssigkeitszufuhr, Schlafmöglichkeit und soziale wie spirituelle Zuwendung ist Bestandteil der Sterbebegleitung. Voraussetzung ist, dass die Sterbebegleitung gemäß dem Willen oder dem mutmaßlichen Willen des Patienten erfolgt. Ein Behandlungsabbruch weist grundsätzlich eine große Übereinstimmung mit der passiven Sterbehilfe auf. In Abgrenzung zu ihr ist ein Behandlungsabbruch im engeren Sinne dann als ein solcher zu bezeichnen, wenn der Sterbeprozess noch nicht in eine irreversible Phase eingetreten ist. Der wirkliche oder mutmaßliche Wille des Patienten muss dafür nachweislich vorliegen. Unter passiver Sterbehilfe wird der Verzicht von Intensivmedizin und Maßnahmen verstanden, die unter Umständen den Sterbevorgang des Patienten künstlich verlängern. Ein Verzicht bedeutet hier entweder ein Unterlassen oder ein Beenden. Solche Maßnahmen sind etwa künstliche Beatmung, künstliche Ernährung mittels einer PEGSonde, Dialyse, Gabe von Medikamenten und Wiederbelebung (Reanimation). Der Patient erhält lediglich eine Basisversorgung wie z.B. Stillen von Durst und Hunger (vgl. Woellert/ Schmiedebach [2008]).11 Es muss der Wille oder mutmaßliche Wille des Patienten vorliegen.
11 Als Alternativbezeichnung zur passiven Sterbehilfe wurde vom Deutschen Ethikrat »Änderung des Therapieziels« vorgeschlagen, vgl. hierzu u.a. Ostgathe im vorliegenden Band. Gleichwohl sind die Begriffe »aktive« und »passive«
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Aktive Sterbehilfe
Indirekte Sterbehilfe
Die aktive Sterbehilfe, die einen tödlichen Krankheitsverlauf gezielt abkürzt und den Tod des Patienten herbeiführt oder beschleunigt, um dem Patienten weitere Leiden zu ersparen, ist strafbar als »Mord« nach § 211 Strafgesetzbuch (StGB) (1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niederen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. Als Totschlag nach § 212 StGB: (1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. Als Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB: (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar. Unter indirekter Sterbehilfe versteht man gemäß dem Willen oder mutmaßlichen Willen des Patienten die Verabreichung von Medikamenten, die Leiden des Patienten reduzieren können, wenn auch ein möglicherweise schnellerer Tod als Nebenwirkung billigend in Kauf genommen wird. So muss die Intention des Arztes die Erhöhung des Wohlbefindens bzw. die Schmerzlinderung sein, nicht aber das Sterben des Patienten, auch wenn eine Erhöhung der Schmerzmittel den Tod schneller herbeiführen könnte.
Sterbehilfe in der deutschen Bevölkerung immer noch weit verbreitet; auch in anderen Ländern werden sie zudem durchaus noch verwendet.
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Das Thema »Sterbehilfe«12 ist für die deutsche Bevölkerung13 bis heute – trotz vieler Berichte, Talkshows und Zeitungsartikel zuletzt im Umfeld der Novelle des § 217 StGB – leider immer noch oder auch wieder ein relativ unbekanntes Terrain. Ziel dieser Studie war es daher, das Wissen der Deutschen genauer zu untersuchen und darüber hinaus zu analysieren, ob mit der Kenntnis, was aktive Sterbehilfe tatsächlich bedeutet, sich die eventuelle Befürwortung von denjenigen ohne Kenntnis unterscheidet.
2. F ORSCHUNG ZUM L EBENSENDE – M ETHODEN DER U NTERSUCHUNG Es sollten die zentralen Fragestellungen der Untersuchung14 von den Studienteilnehmern beantwortet werden, die wie folgt lauteten: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Informiertheitsgrad bezüglich der Sterbehilfeformen und dem Anteil der Befürworter der aktiven Sterbehilfe? Erzeugt die Kenntnis der Palliativmedizin bei den Untersuchungsteilnehmern einen Sinneswandel, so dass die aktive Sterbehilfe weniger attraktiv erscheint? Die Basishypothesen, die aus den oben genannten Fragestellungen formuliert wurden, lauteten infolgedessen: •
•
Der Anteil der Befürworter der aktiven Sterbehilfe (AV) ist mit Aufklärung (UV) über die aktive/passive Sterbehilfe im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne solche Aufklärung geringer.15 Der Anteil der Befürworter der aktiven Sterbehilfe (AV) ist mit Aufklärung (UV) über die Palliativmedizin im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne solche Aufklärung geringer.
12 Ähnlich wie die Begriffe der aktiven und passiven Sterbehilfe wird auch derjenige der indirekten Sterbehilfe vom Deutschen Ethikrat kritisiert; vgl. u.a. Wittwer et al. (2010) und Ostgathe im vorliegenden Band. 13 Auch für Ärzte und Politiker etc. 14 Die Befragung fand in den Jahren 2007 und 2008 statt. Zu Reliabilität, Validität und Voruntersuchungen siehe Hübner (2016). 15 UV (unabhängige Variable): Art der Fragen und Inhalte der gegebenen Informationen; AV (abhängige Variable): Antwortverhalten der Befragten.
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Operationalisiert wurden die oben genannten Fragestellungen mit Hilfe eines Fragebogens.16 Dieser bestand aus Items sowohl mit Antwortvorgaben als auch aus Items mit offener Beantwortung. Letztere haben einerseits den Nachteil, dass es an dem Befragten liegt, wie er die gestellte Frage beantworten wird und hierdurch Interpretations-, Auswertungs-, Kodierungsund Kategorisierungsprobleme generieren könnte, dennoch wurde auf den Erhalt auch solcher Daten großen Wert gelegt, um zu ergründen, welche Gedanken sich die Befragten zu dem Problem des Abstellens lebensverlängernder Maßnahmen machten. Nicht zuletzt werden Items mit offener Beantwortung insbesondere dann eingesetzt, wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – um ein wissenschaftlich neu zu ergründendes Feld handelt, und um neue Hypothesen zu generieren.17 Es war von vornherein so gedacht, vier verschiedene Konzeptionen ein und desselben Fragebogens zu entwerfen, um die Bedingung des »Informationsgrads« (UV) der Probanden hierdurch zu operationalisieren. Die Fragen sowie deren Reihenfolge in allen vier Varianten des Fragebogens wurden aus Gründen der Standardisierung konstant gehalten. Der einzige Unterschied der Fragebögen lag im Informationsgehalt- bzw. Informationsgrad der Fragen und begleitenden Texte = Variation der UV. Dieses experimentelle Design18 sollte ein unterschiedliches Antwortverhalten zwischen den Gruppen generieren. Der erste Fragebogen beinhaltete demgemäß keine Aufklärung zur aktiven Sterbehilfe sowie zur Palliativmedizin (s. Tab. 2). Er wurde der Kontrollgruppe (n = 116) vorgelegt, um zu überprüfen, was sie unter »aktiver Sterbehilfe« verstand und welche Meinung sie zu dieser Sterbehilfeform vertritt. Die zweite Gruppe (Experimentalgruppe A; n = 101) erhielt eine Fragenbogenversion, die bei gleicher Reihenfolge mit derselben Fragestellung jedoch zusätzlich eine Information zur aktiven Sterbehilfe und pas-
16 Da es sich bei der Studie um ein neues Forschungsfeld handelt, standen keine bereits evaluierten Instrumente für die Konstruktion des Fragebogens zur Verfügung, so dass der Aufbau des Fragebogens auf theoriegeleiteten Annahmen (Hypothesen) beruhte. 17 Vgl. Bortz/Döring (1995). 18 Experiment wird definiert als Planmäßigkeit einer Untersuchungsdurchführung zur Prüfung von Hypothesen. Weitere Kriterien sind Variierbarkeit und Wiederholbarkeit.
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siven Sterbehilfe beinhaltete. Hier sollte untersucht werden, wie sich diese Aufklärung auf das Antwortverhalten in Bezug auf die Kenntnis von der aktiven Sterbehilfe auswirken und ferner ob und wie sich die Einstellung zu ihr von der Einstellung der Kontrollgruppe unterscheiden würde. Ebenso verhielt es sich mit der dritten Gruppe (Experimentalgruppe B; n = 115), die zwar keine Information zur aktiven Sterbehilfe erhielt, jedoch eine zur Palliativmedizin. Nur die vierte Gruppe (Experimentalgruppe C; n = 105) erhielt beide Informationen.
Tab. 2: Informationen zur Palliativmedizin sowie zur aktiven und passiven Sterbehilfe
Information zur Palliativmedizin
Der Gegenstand der Palliativmedizin ist die Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nur noch geringen Lebenserwartung, weil sie an einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leiden. Die Palliativmedizin arbeitet multidisziplinär und sieht die Kooperation der Ärzte verschiedener Disziplinen miteinander und mit anderen Personal- und Berufsgruppen vor. Durch eine ganzheitliche Behandlung soll Leiden umfassend gelindert werden, um dem Patienten und seinen Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung zu helfen und ihm eine Verbesserung der Lebensqualität zu ermöglichen. Die Palliativmedizin hat eine eindeutige Haltung zur Sterbehilfe: Sie lehnt die aktive Sterbehilfe in jeder Form ab.
Information zur aktiven/ passiven Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe und passive Sterbehilfe werden oft miteinander verwechselt. Zum besseren Verständnis stellen wir Ihnen kurz den juristischen Unterschied zwischen beiden Arten der Sterbehilfe dar.
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Ein Beispiel: Eine 85jährige Patientin wird künstlich über eine Magensonde ernährt. Sie möchte, dass ihr diese entfernt wird, da sie bereit zum Sterben ist und ihre Lebensqualität eingeschränkt erlebt. Ihrem Wunsch wird entsprochen; die Patientin stirbt nach kurzer Zeit. Definition »passive Sterbehilfe«: Unter passiver Sterbehilfe versteht man das Unterlassen von Intensiv-Medizin und Maßnahmen, die den Sterbevorgang des Patienten künstlich verlängern können. Ein Beispiel für aktive Sterbehilfe: Ein sich im Endstadium befindender Tumorpatient leidet unter starken Schmerzen. Er bittet den Arzt, von seinem Leiden erlöst zu werden. Der Arzt entspricht dem Wunsch und verabreicht dem Todkranken eine Injektion, die den Tod des Mannes bewirkt.
Neben dem – durch die erhaltenen bzw. nicht erhaltenen Informationen – provozierten Antwortverhalten bezüglich der Einstellung zur »aktiven« Sterbehilfe wurde auch das unterschiedliche Antwortverhalten hinsichtlich der Einschätzung der Sterbehilfeformen untersucht. So wurden sechs Fälle von Sterbehilfe beschrieben (siehe Tab. 3), von denen mindestens einer der aktiven Sterbehilfe zugeordnet werden sollte.
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Tab. 3: Fälle der Sterbehilfe
Beschreibung Entfernung der Magensonde. Patient bekommt keine Nahrung mehr.
Dosis der Schmerzmittel wird erhöht, um Schmerzen zu lindern. Der Tod wird billigend in Kauf genommen.
Palliativpflege in einem Hospiz.
Adäquate medizinische Behandlung und menschliche Fürsorge, um das Wohlbefinden des Patienten zu steigen und das Sterben zu erleichtern.
Verabreichen einer tödlichen Injektion.
Beatmungsapparat wird abgestellt.
Auch hier wurde angenommen, dass sich mit Erhalt der relevanten Informationen im Fragebogen das Antwortverhalten der Gruppen (hier: geringerer Anteil der Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe) im Vergleich zu denjenigen ohne Erhalt dieser Aufklärung (hier: größerer Anteil der Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe) unterscheiden würde. Die sechs Fälle der Sterbehilfe bezogen sich auf einen Fall der aktiven Sterbehilfe, zwei Fälle der passiven Sterbehilfe, zwei Fälle der Palliativmedizin sowie einen Fall der indirekten Sterbehilfe. Besonders der Fall »Abstellen der lebenserhaltenden Geräte« sollte aus Sicht der Forschung die Probanden in gewisser Hinsicht »dazu verleiten«, diese Maßnahme für eine Form der aktiven Sterbehilfe zu
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halten, dda vermutet wuurde, dass es gerade g dieser F Fall ist, der immer wieder für aktivve Sterbehilfe gehalten g wird. Der Fragebogen soollte im Hinblick auf die Einnstellung zur ak ktiven Sterbehilfe uund die Einorrdnung der Steerbehilfeformeen einen Effek kt provozieren, einee Eigenschaft, die sich in Befragungssituattionen normaleerweise störend ausswirken kann, hier aber erw wünscht war. Z Zum Zweck der d Einstellungsmeessung in Abhäängigkeit von der Art der Innformationen wurden w vier nahezu ggleich große Gruppen G (s. Ab bb. 1) der Testtpersonen unteer randomisierten B Bedingungen gebildet, g damit die Unterschieede der Befürw wortung der »aktivenn« Sterbehilfe sichtbar s würdeen. ogenversionenn in der Gesam mtstichprobe Abb. 1: Verteilungsforrm der Fragebo (hier wiie auch bei deen folgenden Abbildungen A haandelt es sich um eigene Darstelllungen)19
Differeenzierung nach n Frageb bogentyp
19 Siehee Hübner (2016)).
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3. BEOBACHTUNGEN UND ERGEBNISSE Insgesamt wurden 1.161 Fragebögen sowohl elektronisch als auch postalisch versandt. Mit 437 ausgefüllten und auswertbaren Fragebögen stellte die Rücklaufquote von 38 % ein durchaus zufriedenstellendes Ergebnis dar. Die Ergebnisse hinsichtlich der Einschätzung der Untersuchungsteilnehmer zu den einzelnen Sterbehilfeformen (s. Tab. 3) in Abhängigkeit von der Fragebogenversion werden im Folgenden ausführlich dargestellt, da sie zentrale Resultate der Studie bilden. Hinsichtlich der aktiven Sterbehilfe wurde folgendes Ergebnis sichtbar: Anhand von Abbildung 2 ist ein signifikanter Unterschied zwischen denjenigen Gruppen zu erkennen, die keine Information zur aktiven bzw. passiven Sterbehilfe erhalten hatten und denjenigen, denen die relevanten Informationen dargeboten wurden (Chi-Quadrat-Test nach Pearson: χ2 = 20,297; Signifikanz p < 0,001; df = 3). Abb. 2: Ist die Verabreichung einer tödlichen Injektion aktive Sterbehilfe?
Verabreichen einer tödlichen Injektion ist aktive Sterbehilfe 14,5% 11,9%
17,6%
16,4% 10,5%
5,5% Keine Information
18,8%
Information Information zur zur Palliativmedizin aktiven/passiven Sterbehilfe
Nein
4,8% Alle Informationen
Ja
Dies stellt ein wichtiges Ergebnis dar, da – wie unten noch genauer zu sehen ist – die richtige Einschätzung der aktiven Sterbehilfe für die Einstellung zu ihr von grundlegender Bedeutung ist. Weitere schlüssige Ergebnisse hinsichtlich der Einschätzung der einzelnen Sterbehilfeformen waren wie folgt:
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•
»Ist das Entfernen einer Magensonde eine Maßnahme der aktiven Sterbehilfe?« (Chi-Quadrat nach Pearson: χ2 = 4,127; p = 0,284; df = 3). Es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen, da es hierzu keine relevanten Informationen gab.
•
»Ist das Abstellen des Beatmungsapparates eine Maßnahme der aktiven Sterbehilfe?« (Chi-Quadrat nach Pearson: χ2 = 2,319; p = 0,509; df = 3). Auch hier hatte es keine relevante Information gegeben und somit auch keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen.
Abb. 3: Ist die adäquate medizinische Behandlung eine Maßnahme der aktiven Sterbehilfe?
Adäquate medizinische Behandlung ist aktive Sterbehilfe 15,0% 11,4%
18,8%
17,6%
9,3% 4,3%
Keine Information
Information Information zur zur Palliativmedizin aktiven/passiven Sterbehilfe
Nein
•
18,6%
5,0%
Alle Informationen
Ja
»Ist die Erhöhung der Schmerzmitteldosis eine Maßnahme der aktiven Sterbehilfe?« (Chi-Quadrat nach Pearson: χ2 = 0,477; p = 0,924; df = 3). »Ist die adäquate medizinische Behandlung eine Maßnahme der aktiven Sterbehilfe?«
In der Einschätzung der »adäquaten medizinischen Behandlung« (die nichts anderes als Palliativmedizin darstellt, als solche aber nicht genannt wurde) gab es Unterschiede bezüglich dieser Einschätzung. Dennoch war den
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Gruppen, welche die relevanten Informationen erhielten (siehe Abb. 3) bewusst, dass es sich bei der adäquaten medizinischen Behandlung nicht um aktive Sterbehilfe handeln könne (Chi-Quadrat nach Pearson: χ2 = 20,065; p < 0,001; df = 3). Eine Aufklärung hinsichtlich der Sterbehilfearten schien tatsächlich die Einstellung zur aktiven Sterbehilfe zu beeinflussen. Dies belegen die Ergebnisse der vorliegenden Studie (s. Abb. 4). So war die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe mit dem Erhalt einer Information zu ihr deutlich geringer als ohne sie. Auf den ersten Blick schien die Darbietung von nur einer Information – sei es die zur aktiven/passiven Sterbehilfe oder die zur Palliativmedizin – keinen statistisch signifikanten Unterschied zu generieren. Auf den zweiten Blick jedoch beruht die zu geringe (und knapp signifikante) Korrelation auch auf den Einfluss der Daten der Nicht-Informierten auf den Datenpool. Nur beide Informationen gemeinsam erreichten bei der vierten Gruppe (Experimentalgruppe C) einen statistisch relevanten Unterschied hinsichtlich der Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe zur Kontrollgruppe. Dieses Ergebnis ist durchaus plausibel, denn mit Erhalt der Informationen zur passiven und aktiven Sterbehilfe sowie zur Palliativmedizin blieben den Probanden nicht mehr genug andere Sterbehilfeformen des Items 8 »übrig«, die sie für aktive Sterbehilfe hätten halten können.20 Da die vierte Gruppe dem höchsten Aufklärungsfaktor unterlag, war dementsprechend auch dort die größte statistisch signifikante Korrelation zu erwarten. Dieses Ergebnis macht demnach deutlich, dass mit steigernder Aufklärung die Wahrscheinlichkeit, verzerrte Umfrageergebnisse zu generieren, statistisch signifikant sinkt.
20 Dieses lautete: »Bitte kreuzen Sie die Kästchen an, die Sie für eine Maßnahme der aktiven Sterbehilfe halten«.
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Antwortverhallten in Abhäng gigkeit von der Fragebogenveersion Abb. 4: A
Insgesam mt zeigte sich,, dass die Zuw weisungen der Sterbehilfearteen zur aktiven Sterrbehilfe und Paalliativmedizin n dann richtig w waren, wenn die d Untersuchungsteeilnehmer die hierfür h relevan nten Informatioonen erhalten hatten. h Ferner konnnte ein signifikkanter Unterscchied hinsichtllich der Zustim mmung zur aktiven Sterbehilfe veerzeichnet werrden: Je besserr der Informieertheitsgrad hinsichtllich der aktiveen Sterbehilfe, desto größer dder Unterschieed zwischen den Gruuppen (Chi-Quuadrat nach Pearson: χ2 = 200,297; p < 0,00 01; df = 3). Die Gruuppen mit keinner oder nicht relevanter r Infoormation entsch hieden sich signifikaant häufiger füür die aktive Sterbehilfe S alss die aufgeklärrte Gruppe. Umgekeehrt formuliert entschied sich h die aufgeklärrte Gruppe stattistisch signifikant gegen die akttive Sterbehilfe fe. Sicherlich m müssen auch die d Limitierungen dder vorliegendeen Studie geseehen werden. Im m Rahmen ein ner philosophischenn Dissertation konnten nichtt Tausende voon Personen befragt werden; hierr haben Meinuungsforschungssinstitute häufiig höhere Zahllen, aber oft leider auuch stark vereeinfachte, nich ht selten sugggestive Fragegestellungen oder kriitisierbare Errhebungsmetho oden, die denn methodischen n Kriterien kaum staandhalten, da streng s wissenschaftlich gesehhen, häufig feh hlende bzw. mangelhhafte Randomiisierung durch monetär motiivierte und fürr die Befragung naach relevantenn Kriterien geffilterte Befraggungspools vorliegt (z.B. YouGovv). Strukturell ist die Heterrogenität der U Untergruppen,, die durch Random misierung realissiert wird, durcchaus beabsichhtigt, denn je heterogener h die Stichhprobe ist, destto besser bildeet sie die Grunddgesamtheit ab b. Der Zeitraum deer Datenausweertung ist im Rahmen R wissennschaftlicher QualifikatiQ onsarbeiiten leider häuffig verlängert.
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4. SCHLUSSFOLGERUNGEN Aus den Ergebnissen lässt sich allgemein schlussfolgern, dass Aufklärung bezüglich der unterschiedlichen Sterbehilfeformen ein wirksames Mittel sein kann, um Klarheit über unterschiedliche Sterbehilfearten zu gewinnen. Darüber hinaus weist vieles darauf hin, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinesfalls, wie häufig behauptet wird, die aktive Sterbehilfe für ein geeignetes Mittel zur Leidensminderung hält. Vielmehr kann aus dem Ergebnis geschlossen werden, dass die Zustimmung der Befragten zur aktiven Sterbehilfe bei Meinungsumfragen sehr wahrscheinlich deutlich geringer ausfallen würde, wenn sie bei Meinungserhebungen vorher wirksam aufgeklärt gewesen wären. Eine zentrale Problematik der Sterbehilfe-Frage liegt demnach offenbar darin, dass Menschen nicht bewusst ist, dass sie nicht aufgeklärt sind und dass sie daher auch nicht wissen können, dass eine Sterbehilfe-Problematik überhaupt besteht. Das daraus resultierende Dilemma ist: Wenn ein existierendes Problem nicht erkannt wird, besteht zwar objektiv Handlungsbedarf, subjektiv aber wird der Handlungswille fehlen. Zwar soll nicht behauptet werden, dass die Zunahme der Informiertheit zwangsläufig die Bereitschaft erhöht, sich näher mit dem Thema auseinanderzusetzen, doch mit Sicherheit würden die Ergebnisse der Meinungsumfragen anders ausfallen. Als Fazit soll betont werden, dass Tötung auf Verlangen schwerkranker Menschen unter den Alternativen der Sterbehilfe die problematischste ist: Nicht die aktive Sterbehilfe sollte in das Gesundheitswesen implementiert, sondern der weitere Ausbau der Palliativstationen und Hospizbetreuung vorangetrieben werden. Es ist daher weniger die Pflicht der Gesundheitspolitik zu fragen, wie eine schwierige Sterbesituation beendet, als vielmehr, wie die Sterbequalität erhöht werden kann. Es sollte ein würdevolles Sterben für möglichst alle Menschen angestrebt werden, die (in einer Institution) ihr Leben beenden. Die Implementierung der aktiven Sterbehilfe in das deutsche Gesundheitssystem zu einem Zeitpunkt, in dem immer noch zu wenige Menschen wissen, was Palliativmedizin und aktive Sterbehilfe wirklich bedeuten, wäre infolgedessen ein sehr gefährliches Unterfangen. Letztendlich muss bezweifelt werden, dass Bürger die für eine Einführung von aktiver Sterbehilfe votieren, wirklich das bekommen, was sie wollen. Vielfach spielen wohl auch weiterhin die zu Beginn des Beitrags genannten Ängste und die Unkenntnis über sinnvolle Alternativen eine große Rolle.
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LEBENSENDE UND STERBEN – EIN ZU WENIG BEKANNTES FELD | 137
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II. Praxis im Gesundheitswesen
Grenzerfahrungen in der Begegnung des Arztes mit dem Kranken angesichts des Lebensendes K LAUS G AHL
1. E INFÜHRUNG Die Begegnung des Arztes mit dem Kranken angesichts des Lebensendes, angesichts von Sterben und Tod gehört zu den schwersten Aufgaben seines Handelns – sei es ein natürliches oder ein durch medizinische Maßnahmen beeinflusstes Lebensende. Für den Kranken wird die Mitteilung einer unheilbaren, todbringenden Erkrankung zu einer Grenzerfahrung. Auch der Arzt1 begegnet in solcher Situation dem Sterben, obwohl dem Sterben eines Anderen. Aber er erfährt sich selbst in doppelter Weise als der Unausweichlichkeit des Todes ausgesetzt: als der gegenüber dem Tod machtlose, ohnmächtige Arzt, dessen Aufgabe und moralische (Selbst-)Verpflichtung die Erhaltung des Lebens ist, und er erfährt sich selbst als sterblich; auch er wird selbst einmal »den Weg gehen [müssen], den man nicht wiederkömmt«.2 So wird er – wenngleich weder rational noch emotional in gleicher Intensität und Bewusstheit – das Sterben und den Tod des sich ihm 1
Wenn im Folgenden von dem Arzt nur als Maskulinum gesprochen wird, so ist doch immer auch die Ärztin mitgedacht. Mögen geschlechtsspezifische Unterschiede ärztlicher Betreuung kranker Menschen bestehen, die ich nicht leugnen will, so sind sie für die folgenden Überlegungen doch unerheblich.
2
Claudius (1799), 545.
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anvertrauenden Menschen nicht nur als ein biologisch notwendiges, rein natürlich erklärbares Faktum ansehen. Er begegnet vielmehr der menschlichen Sterblichkeit als fundamentaler Unausweichlichkeit. Wo diese eigene Betroffenheit nicht mehr die ärztliche Grundhaltung mitbestimmt, wird das ärztliche Handeln in seinem Kern gefährdet. Wo sie jedoch erlebt wird, kann sie sowohl für den Kranken als auch für den Arzt zu einer wesentlichen Erfahrung der Versöhnung mit dem Sterben-Müssen werden. Oft bringt uns erst die Grenzerfahrung einer Krankheit, zumal einer todbringenden Krankheit unsere Zeitlichkeit, unsere Sterblichkeit zu Bewusstsein. Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der Zeit gewinnen darin eine unausweichliche Endgültigkeit des Lebens. Der zukunftsoffene Horizont wird enger, die Gegenwart wird durch Trauer, Angst, durch Hadern oder Zorn, durch Rückzug des Kranken in sich selbst, durch das ambivalente Gefühl von Abwehr und Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung verdunkelt. Akzeptanz und Ergebenheit in das Nicht-Abwendbare, leeres Warten, bereite Geduld oder religiös erfülltes Hoffen sind mögliche Verhaltensweisen zur Zeitlichkeit des Menschen. Dem muss der Arzt wiederum Rechnung tragen, nicht nur der rational oder emotional erfahrenen Zeit, sondern auch der Begrenztheit des Lebens, der Unausweichlichkeit des Todes. Dieser eigenen und der für den Sterbenden erlebten Grenzerfahrung darf der Arzt nicht durch einen das Sterben oft verlängernden Aktionismus entgegentreten, wie es uns etwa der Arzt in Grimms Märchen »Der Gevatter Tod« vorführt.3 Vielmehr ist auch das Sterben noch als Lebensphase zu sehen. Das Sterben ist nicht nur ein biologischer, sondern auch ein leiblich-existenzieller Prozess. Es ist die letzte Lebensleistung eines Menschen,
3
Grimm/Grimm (1984), Bd. 1, 224–226. In Grimms Märchen »Der Gevatter Tod« versucht der durch seinen Gevatter, den Tod, zu einem berühmten Arzt gewordene Sohn eines armen Mannes den Tod zu überlisten, indem er zunächst den todkranken König im Totenbett umdreht, sodass der Gevatter Tod ans Kopfende zu stehen kommt; nur am Fußende stehend weist der Tod auf das unabweisliche Ende. »Hernach verfiel die Tochter des Königs in eine schwere Krankheit.« Wieder »hob [er] die Kranke auf und legte ihr Haupt dahin, wo die Füße gelegen hatten«. Daraufhin konnte er die Kranke heilen. Nun wird er von seinem Gevatter, dem Tod, selbst mit dem Tode bestraft. Zur Bedeutung des Märchens als Paradigmenwechsel hin zur modernen Medizin vgl. Käser (1998), 26–38.
GRENZERFAHRUNGEN IN DER BEGEGNUNG DES ARZTES MIT DEM KRANKEN | 143
ist Abschied in der Hingabe des als Geschenk erfahrenen Lebens. Dem Sterbenden darin beizustehen, ihm zu helfen, in Frieden von der Welt zu gehen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Arztes. Drei kurz skizzierte Kasuistiken aus der ärztlichen Praxis mögen die Bandbreite möglicher Grenzerfahrungen in der Begegnung des Arztes mit dem Kranken deutlich machen, in denen sich für beide der Blick auf das (mögliche) Lebensende, auf Sterben und Tod öffnen kann. Frau D., 57 Jahre alt: Klinikaufnahme wegen einer tiefen Beinvenenthrombose mit Lungenembolie Anfang Dezember. Eine Ultraschalluntersuchung des Bauches erweckt den Verdacht auf pathologische Strukturen in der Leber: Anlass zur weiteren (CT-)Diagnostik, die den Verdacht erhärtet. Rat zur weiteren Diagnostik! Warum? Weil auch ein vielleicht bösartiger Tumor ausgeschlossen werden müsse. Nach einem ausführlichen diagnostischen Aufklärungsgespräch mit der Kranken, Ärger und Zorn des Ehemannes darüber, dass bereits beim bloßen Verdacht von Tumor gesprochen werde; er habe schon zwei Frauen an Krebs verloren! Wenn eine Diagnostik nötig sei, dann erst nach Weihnachten und Aufklärung über einen Tumor erst, wenn die Diagnose gesichert sei! – Die weitere Diagnostik schließt einen bösartigen Tumor aus, der Befund entspricht einem gutartigen Hämangiom.
Keine spektakuläre Geschichte, eine Geschichte mit günstigem Ausgang: kein bösartiger Tumor, kein Konflikt zwischen schützender Vorenthaltung und vollständiger Eröffnung der Wahrheit einer todbringenden Krankheit. Dennoch zeigt sie uns eine erste Konfrontation des Kranken mit der Möglichkeit des bevorstehenden Lebensendes. Die zweite Geschichte ist die eines 69-jährigen Mannes, der wegen einer sog. instabilen Angina pectoris notfallmäßig eingewiesen wurde. Gleich im ersten Gespräch äußert er den dringenden Wunsch nach einer Herzoperation, er könne so wegen seiner Schmerzen nicht weiterleben. Bis zu der erforderlichen Herzkatheteruntersuchung bereitet der Patient alles Nötige für eine rasche Verlegung zur Operation in einem auswärtigen herzchirurgischen Zentrum vor. – Offensichtlich ein entschiedener, dynamischer Mann, der bis vor wenigen Tagen fast unbehindert körperliche Belastungen wie Radfahrten und entsprechende Aktivitäten leisten konnte. Die Diagnostik ergibt einen desaströsen Befund: die linke Herzkammer stark erweitert mit einer weit ausgedehnten Infarktnarbe (der Patient wusste von keinem entsprechenden Ereignis!), die übrigen Wandabschnitte hochgradig eingeschränkt in
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ihrer Kontraktionsfähigkeit; das Koronarsystem mit Verschluss der rechten und der Zirkumflex-Arterie und subtotaler Einengung des Vorderwandgefäßes – inoperabel für einen Bypass. Der Patient kann unseren Beschluss, von einer Operation abzusehen und medikamentös zu versuchen, ihn leidlich beschwerdefrei zu machen, nicht einsehen. Es müsse doch irgendwie zu helfen sein, er könne jedenfalls so nicht weiterleben. Zwei Tage später verstirbt er. Warum gerade jetzt? Bislang hatte er im Selbstvertrauen unbeeinträchtigter körperlicher Leistungsfähigkeit gelebt, jetzt aber wissend um die Bedrohung, die nicht abgewehrt werden kann durch den gewünschten operativen Eingriff, erleidet er den Tod.
Zwei sehr unterschiedliche Begegnungen mit Kranken und mit dem Sterben und dem Tod! Die geschilderten Krankengeschichten können den Eindruck erwecken, als gehe es allein für den Kranken um sein – vielleicht durch die aktuelle Krankheit vorgezeichnetes – Lebensende. Gewiss, er ist der Betroffene, der Bedrohte. Auf zwei Ebenen aber betreffen sie auch den Arzt, auch für ihn sind es mögliche »Grenzerfahrungen«: •
•
in seiner Funktion und Verantwortung wie auch dem notwendigen menschlichen Aushalten seiner doppelten Rolle als Mediziner und als Bezugsperson, als persönliches Gegenüber für den Kranken und in seiner eigenen Endlichkeit angesichts des Lebensendes eines Anderen.
Funktion und Verantwortung – das eine nicht ohne das Andere! Beides gehört zu den fachlichen Aufgaben des Arztes, zu der »sachlichen Entsprechung von Krankheit und Medizin« und der »personalen Entsprechung von Mensch in Not und Mensch als Helfer« in der Beziehung von Arzt und Krankem.4 Im Blick auf die eigene Profession ist es die Erfahrung der begrenzten medizinischen Möglichkeiten wirksamer Behandlung für den Kranken, der durch die quälenden, ihn fast vernichtenden Schmerzen und die existenzielle Not in die Verzweiflung getrieben wird. Für den Arzt ist es oft das Gefühl des Versagens, das als narzisstische Kränkung empfunden wird und ihn nicht selten in einen nicht zu rechtfertigenden Aktionismus treibt. Kann er es aushalten, dem Schwerkranken zu sagen, dass nicht nur
4
Weizsäcker (1926), 13.
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»die Medizin«, sondern auch er als der direkt angesprochene Helfer nichts tun kann – mindestens nicht das, was der Kranke dringend wünscht? Es ist auch die Grenzerfahrung, dass das Krankheitsgeschehen, das Kranksein nicht allein mit naturwissenschaftlich fassbaren Vorgängen, sondern sehr stark mit seelischen Erschütterungen zusammenhängt, die brutal in den Lebensprozess eingreifen und fast unvermittelt zum Tode führen können. »Der Kranke hat nicht nur seine Krankheit, er macht [er gestaltet] sie [auch].«5 Er ist ihr nicht nur unterworfen (subjectus), sondern ist auch Akteur seines Krankheitshandelns, Subjekt seines Krankseins. Es ist die unleugbare Erfahrung sozio-psycho-somatischer Zusammenhänge, die sich (wie die zweite Kasuistik zeigt) vor jeder Art psychotherapeutischer oder psychoanalytischer Interpretation aufdrängt. Eine weitere Geschichte ist die der 42-jährigen Ehefrau eines Arztes, für den sie »alles« war, für den sie auf Kinder verzichtet hatte zugunsten gemeinsamer Weltreisen. Sie litt, als sie stationär zu uns kam, an einem inkurablen hochmalignen diffusen Lungenkarzinom, das der Ehemann (trotz sachgerechter Aufklärung) als eine bald überwindbare Lungenentzündung zu leugnen suchte und im Gespräch mit ihr konsequent ausklammerte bis zum Schluss, trotz ihrer ständigen Bitte, über ihre »Krankheit zum Tode« auch mit ihm sprechen zu dürfen; sie hat seine Verdrängung und die daraus resultierende Leere ihrer Gespräche in den letzten Tagen vor dem ihr ganz deutlichen und in Hingabe angenommenen Sterben fast nicht ertragen können. Sie ist nach kurzer Krankenhauszeit in seiner Abwesenheit gestorben, an der Hand einer Schwester und des sie betreuenden Arztes.
Für mich war dies wieder eine in mehrfacher Hinsicht belastende Grenzerfahrung: die Kranke selbst stellt sich der Diagnose der bösartigen, unheilbaren Krankheit, sie nimmt das Leiden und die Unausweichlichkeit des Lebensendes auf sich und wünscht sich dringend das offene Gespräch mit ihrem Ehemann, der als Arzt um die Situation weiß; sie kann aber das Gespräch nicht führen, weil er den vorgezeichneten Tod verdrängt. Damit drängt sich dem behandelnden Arzt die Frage auf: Will ich selbst aufgeklärt sterben? Möchte ich ggf. den Status einer nicht (mehr) behandelbaren Krankheit wissen? Möchte ich die Prognose nach Dauer und Qualität eines voraussichtlich nicht mehr zu verbessernden Krankheitszustandes er-
5
Weizsäcker (1946/47), 208, passim.
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fahren? Aus der Sicht des Gesunden: ja, ich möchte aufgeklärt sterben, möchte wissen, dass es mit mir zu Ende geht; nicht medizinisch-technische Daten, keine vermeintlich exakten Zeitangaben. Ich wünsche mir die Kraft, die Bereitschaft, anzunehmen und auszuhalten, was unvermeidbar ist – einschließlich des Leidens einer Krankheit. Wieviel unerträgliches, auch vermeidbares Leiden, verbunden mit Auflehnung, Hass, Verzweiflung habe ich erlebt und wieviel Tapferkeit, Ergebenheit, Vergebung und Frieden auch in schweren Krankheits- und Sterbephasen?! Wie aber lassen sich diese Grenzerfahrungen in der Begegnung zwischen Arzt und Krankem so gestalten, dass auch diese letzte Phase noch zum Leben hinzugehört und noch wichtig und lebenswert ist. Wo liegen die Herausforderungen unter den Bedingungen gegenwärtigen medikalisierten und hospitalisierten Sterbens? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden in vier Abschnitten nachgehen: • • • •
Sterben und Tod verschwinden aus der Öffentlichkeit (2.) Aspekte eines menschenwürdigen und humanen Sterbens (3.) Maximen ärztlichen Handelns am Lebensende (4.) Die Sinnfrage (5.)
2. S TERBEN UND T OD VERSCHWINDEN AUS DER Ö FFENTLICHKEIT 2.1 Sterben und Tod im Krankenhaus Mit der zunehmenden Hospitalisierung alter und auf den Tod hin kranker Menschen in Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeeinrichtungen haben sich über meine fast 40jährige Berufszeit auch die Grenzerfahrungen in der Begegnung mit Kranken angesichts des Lebensendes geändert. War in den 1960er und 70er Jahren noch zu spüren, wie Familien die Einweisung ihrer Angehörigen in die fremde Obhut als Trennung erlebten, so war seither mehr und mehr der Eindruck zu gewinnen, dass die Kranken der institutionellen Versorgung anheimgegeben, ja abgeschoben wurden. Solche Ausgrenzung und Überantwortung der Kranken an fremde Personen, an lebensweltlich fremde Funktionsabläufe, die Hospitalisierung und Verantwortungsübertragung an die institutionalisierte Medizin geht mit einer zu-
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nehmenden Medikalisierung und Rationalisierung des Sterbens einher. Damit wird auch die Rolle des Arztes immer mehr zu der eines Funktionärs im Gesundheitssystem rationalisiert. Mit der Hospitalisierung werden die Kranken herausgerissen aus der vertrauten Umgebung, aus persönlichen Beziehungen, aus Gewohnheiten, aus einem eigenen Zeitgefüge, aus einem selbstgestalteten, privaten Leben. Sie müssen sich einfügen und werden in die funktionsorientierten Abläufe der Klinik eingepasst. Mit dieser Desozialisation ist häufig eine Störung des Zeitgefühls verbunden, ein Abbruch der selbst gestalteten Lebenszeit, auch eine Derealisation bis hin zur Selbstentfremdung, zur Depersonalisation. Derealisation und Depersonalisation können sich in unterschiedlicher Intensität und Manifestation auf das Verhältnis zu sich selbst, zum eigenen Leib beziehen. In subtiler oder gar erschreckender Form können sie sich im Verlust des Schamgefühls äußern. Diesem »Selbst-« und (vermeintlichen) »Selbstwertverlust« korrespondiert oft eine Störung der Beziehung des Kranken zu seiner Mit- und Umwelt. Das Altern schon, mehr noch das erwartete Sterben ist ohnehin ein Prozess allmählichen sozialen Rückzugs, quasi ein vom Kranken, auf den Tod hin kranken Menschen teils aktiv, teils passiv nolens-volens erfahrener Desozialisationsprozess. Dieser Prozess des sozialen Sterbens bis zum sozialen Tod wird oft durch die Hospitalisierung angestoßen und beschleunigt. Indem Kranke angewiesen sind auf Hilfe für alltägliche Kleinigkeiten, beim An- und Entkleiden, bei der Bettpflege, der Toilette, bei der Ernährung etc., werden sehr persönliche, auch intime Bereiche berührt, in denen Kranke leicht durch Missachtung in ihrem Scham- und Würdegefühl verletzt werden können. Dem Kranken wird auch die Selbständigkeit in Entscheidungen genommen, nicht nur da, wo eventuell schwerwiegende Fragen (z. B. nach Therapie-Abbruch oder Einwilligung in medizinische Maßnahmen) anstehen. Er wird infantilisiert und in seiner krankheits- oder altersbedingten Tendenz zur Regression bestärkt. Selbstwertverlust, sozialer Rückzug und Infantilisierung sind im Horizont personaler Lebens- und Wertorientierung der Kranken zu beachten. Für Ärzte und Pflegepersonal bringt die Hospitalisierung von Sterben und Tod eine Häufung der Konfrontation mit Sterbenden, zu denen eine professionelle, aber (mindestens primär) keine persönliche Beziehung besteht. Darin liegt die Gefahr möglicher De-Emotionalisierung und Rationalisierung des Umgangs mit den Kranken. Sicher sind diese Prozesse nicht nur als psychologisch erklärbare (Selbst-)Schutzstrategien gegen eine zu
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starke psychische Belastung und gar Überwältigung durch die tägliche Erfahrung von Leid und Angst, Sterben und Tod zu sehen. Sie sind zum Teil auch im Blick auf eine angemessene und von Kranken erwartete, sachlich und rechtlich beanspruchte Versorgung unabdingbar. Doch darf die Gefahr der Dehumanisierung in der Betreuung der Kranken nicht übersehen werden. Oft resultieren mangelhafte und mangelnde Kommunikation, eine immer schlechtere, weil auf die jeweilige Rolle und Funktion hin eingeschränkte Fremd- und Selbst-Wahrnehmung wie auch eine wachsende Unfähigkeit zum Gespräch mit den Kranken. Fatal ist dabei der Verlust der Wahrnehmung des Mangels als eines solchen; will sagen: das Defizitäre solchen verarmten Umgangs wird nicht mehr als ein Mangel realisiert. Der Verlust empathischer Zuwendungsfähigkeit wird vielleicht durch fachlich-pragmatische Kompetenz kaschiert. Die existenzielle Dimension, das Leiden als seelisches Erlebnis, als Grenzerfahrung, entzieht sich der Wahrnehmung. Gegenseitige Sprachlosigkeit, Verschweigen oder Verdrängen dieser Erlebnisbereiche aus dem Gespräch sind die Folgen. Zeitliche, räumliche, institutionelle und krankenhaus-hierarchische Bedingungen wie die arbeitsteilige Versorgung erschweren auch für den Arzt den Umgang mit Kranken angesichts des Lebensendes. Mangelhafte oder fehlende Ausbildung der Kommunikation mit unheilbar Kranken und Sterbenden führt dann auch zur mangelhaften fachlichen und menschlichen Kompetenz bezüglich kognitiv-rationaler, emotional-empathischer und existenziell-solidarischer Wahrnehmung des Kranken. 2.2 Rationalisierung des Umgangs mit Kranken und Sterbenden Die »Rationalisierung« vollzieht sich meist schleichend und unbewusst. Der Umgang mit Kranken, auch mit Schwerkranken und Sterbenden, der in der Intensivmedizin oft auf die Beobachtung der Vitalparameter von Atmung, Blutdruck, Herzrhythmus, Urinausscheidung und auf eine Basisversorgung reduziert wird, wird in unterschiedlicher Bedeutung rationalisiert: zunächst im Sinne der zeitlichen Ökonomisierung mit der Verkürzung der Zeiten der unmittelbaren Fürsorge für den Schwerstkranken und Sterbenden; zweitens im Sinne der »informierenden Aufklärung« über Befunde, über notwendige Diagnostik, über die Diagnose oder über das therapeutische Procedere, d. h. über objektive Daten ungeachtet von deren Re-
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levanz für den Kranken angesichts des Sterbens. Auch wird oft die Wahrheit am Krankenbett vermieden mit der scheinbar vernünftigen Begründung, die Rücksicht gebiete moralisch Schweigepflicht, um Hoffnungen des Kranken nicht zu zerstören; dabei wird oft – durchaus berechtigt – darauf hingewiesen, dass die medizinische Diagnose und die Prognose Unsicherheiten offenlassen. Schließlich werden auch im Sinne einer Medikalisierung von Sterben und Tod diese nur als Folge pathophysiologischer Prozesse erklärt.6 Sterben und Tod werden nicht in ihrer psychologischen und existenziellen Bedeutung, wie der Kranke das Sterben erlebt, sondern als Folge biologischer Mechanismen gesehen. Hierauf stützt sich oft die apologetische Erklärung vieler Ärzte, es sei doch medizinisch »alles getan«, um dieses oder jenes (pathophysiologische) Ereignis abzuwenden. Die miteinander verknüpften Prozesse der Professionalisierung des eigenen Handelns, der Versachlichung und Verdinglichung des Kranken und der Rationalisierung des Umgangs mit ihm und nicht zuletzt die Technisierung der Patientenversorgung sind zwar einerseits sachlich erforderlich. Andererseits muss sich der Arzt prüfen, ob nicht solche Prozesse auch Wege seines Ausweichens und seiner Verdrängung der Auseinandersetzung mit dem Leid, der Not und der Angst des Sterbenden und der eigenen Betroffenheit sind, als Flucht vor emotionaler Überflutung, als Abwehr der Gefahr psychischer Überwältigung. Die Rationalisierung markiert auch Grenzen der Wahrnehmung, der Sprache und Empathie. Führen doch derartige Prozesse zu einer emotionalen, sprachlichen und nonverbalen kommunikativen Verarmung mit der nachteiligen Wirkung auf vielleicht erforderliche Sterbebegleitung. In einem Teufelskreis wechselseitiger Sprach- und Kommunikationsunfähigkeit unterliegen die Kranken einem psychologischen Hospitalismus. Auch wird die eigene Grenzerfahrung angesichts des Lebensendes ausgeblendet.
6
Siehe hierzu Nulan (1994), deutsche Übersetzung von Heinemann/Tiffert (1994).
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3. A SPEKTE
EINES MENSCHENWÜRDIGEN UND HUMANEN S TERBENS
3.1 Menschenwürde am Lebensende Im Horizont des vorliegenden Buches soll auch die Menschenwürde in der Grenzerfahrung der Begegnung des Arztes mit dem Kranken angesichts des Lebensendes in den Blick genommen werden. Ist doch in dieser Begegnung – ob ausgesprochen oder als implizierter Appell an den Arzt – die Bitte vieler Kranker und auch Gesunder, menschenwürdig sterben zu dürfen, oft deutlich spürbar. Was kann das heißen: menschenwürdig zu sterben? Und wie kann ich den darin liegenden Appell in das ärztlich-praktische Handeln umsetzen? Dem Kranken menschenwürdig zu begegnen, heißt vor allem, ihn in seinem Person- und Subjekt-Sein zu achten – unabhängig von seinen Fähigkeiten, Eigenschaften oder Verhaltensweisen, unabhängig von dem physischen oder psychischen Zustand oder der Befähigung zu emotionalen, mentalen oder sozialen Leistungen, unabhängig von sozialer oder ethnischer Zugehörigkeit. Seine Menschenwürde geht auch nicht mit dem körperlichen Verfall, mit dem Verlust der physischen oder psychischen Selbstkontrolle, nicht mit der eingeschränkten Selbstbestimmungsfähigkeit verloren. Ist doch die Menschenwürde ein nicht hintergehbares Prinzip, ein unzerstörbarer Wert jedes Einzelnen. Sie begründet, fundiert (das ist ihre ontologische Tiefe) einen normativen, einen Sollensanspruch (das ist ihre verpflichtende, deontologische Dimension) an den Mitmenschen: die Würde des Anderen – wie die eigene – zu achten auch unabhängig von dessen Befähigung zur Sittlichkeit oder autonomer Selbstbestimmung.7 Diese Achtungsbeziehung verbietet auch die Instrumentalisierung und (Total-)Verfügung: Auch dort, wo der Kranke, der sterbende Mensch die Gegenseitigkeit der Würdeachtung nicht (mehr) realisieren kann, muss sie für den Arzt der tragende Grund der Beziehung sein.
7
Zur Differenzierung zwischen Autonomie und Selbstbestimmung vgl. Beckmann in diesem Band.
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3.2 Gefahren der Würdeverletzung unter den Bedingungen hospitalisierten Sterbens Aus den geschilderten Bedingungen des »hospitalisierten Sterbens« in Kliniken und Altenpflegeheimen lassen sich mit Blick auf das Ziel, ein humanes, menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen, – ungeachtet der Schwierigkeiten konkreter Definition oder der Beschreibung von Menschenwürde – folgende Gefahren der Würdeverletzung zusammenfassen: die Missachtung des Individuums in seiner Einzigartigkeit und der Person in ihren Beziehungen zu anderen Personen; so auch die Missachtung des SubjektSeins des Kranken in seiner Leiblichkeit, die ihm auch noch in seinem hinfälligen Leib ermöglicht, sich selbst als Beziehungssubjekt zu fühlen. Es ist auch die Missachtung von Scham, die die Betreuenden für den seiner Selbstkontrolle verlustig gehenden Kranken, für den Schwachen empathisch mitempfinden müssen; auch die Missachtung der erlebten, erwünschten oder ersehnten Hoffnung auf Selbstüberschreitung auf ein Gegenüber oder eine Gemeinschaft oder auf Gott. Menschenunwürdig ist auch die Missachtung physischer, psychischer und sozialer Bedürfnisse, d.h. auch die Unbekümmertheit um Wünsche, um angemessene Leib- und Seelsorge einschließlich der Unterlassung adäquater medizinischer Versorgung mit der Behandlung von Schmerzen, der Milderung von Angst und Unruhe. Menschenunwürdig ist schließlich auch eine medizinische Sterbeverlängerung ebenso wie eine gezielte Lebensverkürzung des Kranken. Demgegenüber wäre in den Kliniken und Altenpflegeheimen darauf zu achten, dass trotz der notwendigen zeitlichen Ökonomisierung genügend Zeit und Raum auch für menschliche Zuwendung und Kommunikation bleibt. Zeit und Raum gewähren ist nicht (nur) im messbaren Sinne gemeint. Der Arzt muss sich Zeit nehmen und dem Kranken geben können, er muss den »rechten Augenblick«, den hippokratischen καιρός zu erkennen lernen, wann der Kranke sprechen, wann er schweigen, ob und wann er hören will. Der »Raum« muss Möglichkeiten des offenen Gesprächs, vielleicht unter vier Augen, vielleicht in Anwesenheit von Pflegepersonen oder Angehörigen, vielleicht mit einem Seelsorger gewähren. Es muss im Gespräch Raum sein für das, was der Kranke hören und sagen will. Häufig wünscht er weniger die sachliche oder praktische Information als vielmehr die unmittelbare, empathische Nähe. Das berührt die Frage, wann und wie
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der Arzt den Ernst einer möglicherweise oder sicher todbringenden Diagnose nahe bringen darf, soll oder gar muss. 3.3 Wahrhaftigkeit und Wahrheit am Krankenbett Wahrhaftigkeit und Wahrheit am Krankenbett8 lassen den Arzt wieder eine Grenzerfahrung erleben: eine Grenzerfahrung für den Arzt und für den Kranken. Geht doch die Vermittlung einer schwerwiegenden Diagnose oder einer ungünstigen Prognose über die juristisch vorgeschriebene, medizinisch-sachlich auch erforderliche (diagnostische, prognostische, therapeutische und die Selbstbestimmungs-) Aufklärung hinaus in die personal-existenzielle Dimension mitmenschlicher Beziehung. Die Wahrheit am Krankenbett muss Schonung, Behutsamkeit und ggf. auch Vorenthaltung vollständiger Information zulassen dann, wenn zu befürchten ist, dass der Kranke durch die Information in Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung gerät, aus der ihm vielleicht nur schwer herauszuhelfen ist. Der Arzt muss den Emotionen und Affekten, den Ängsten und Sorgen des Kranken Rechnung tragen. Dazu müssen Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität für die mimisch-gestischen, nonverbalen Signale oder symbol-sprachlichen Äußerungen des Kranken geschult werden. Er muss sich prüfen, ob seine Information für den Kranken konsistent ist mit bereits Gesagtem und dem, wonach der Kranke fragt, und ob es relevant ist angesichts des Lebensendes. Er muss auch die dialogische Dimension der Wahrheitsbeziehung beachten, die emotionale Resonanz, die Betroffenheit des Kranken, seine Bereitschaft, die Wahrheit »angesichts des Lebensendes« anzunehmen. Das ist meist ein Prozess, der das fortdauernde Gespräch erfordert, die je angemessene Form, die Bedingungen und Umstände, den Zeitpunkt, den »rechten Augenblick«, der nicht ein einmaliges Gespräch, sondern Dauer ist; es muss offen bleiben, wann, wie oft, wie lange solche Gespräche zu führen sind. Kranke haben oft ein Gespür für die Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit des Arztes; sie fühlen sich betrogen, wenn in optimistisch-paternalistischer Wohlmeinung »schon alles gut« zu werden behauptet wird. »Die Hauptqual für Iwan Iljitsch lag in der Lüge, in der von allen anerkannten Lüge, dass er nur krank und nicht ein Sterbender sei, dass er sich nur ruhig verhalten und
8
Vgl. hierzu auch Ansohn (1965); Gahl (2010).
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die Medizin nehmen solle und alles dann wieder gut werde. Was immer sie ihm eingaben – er wusste, dass für ihn nichts anderes daraus folgen würde als noch quälendere Leiden und der Tod. Und ihn peinigte diese Lüge, ihn peinigte es, dass sie nicht offen bekennen wollten, was sie wussten und was er wusste, sondern ihn belogen und ihn selber zwangen, an dieser Lüge teilzuhaben. Die Lüge, die Lüge, die sich an seinem Sterbebett breitmachte […], diese Lüge war furchtbar quälend für Iwan Iljitsch. […] Diese Lüge um ihn und in ihm vergiftete mehr als alles andere die letzten Lebenstage von Iwan Iljitsch«.9
Wahrhaftigkeit ist aber nur im echten Gespräch durchzuhalten. So kann der Arzt vom Vorwissen des Kranken, von seinen Befürchtungen, seinen Vorstellungen und Ängsten erfahren, auch von seinen Abwehr- und Bewältigungsaffekten. Der Verantwortungsbereitschaft des Arztes entspricht das Vertrauen des Kranken. Auch muss sein Recht auf Nicht-Wissen respektiert, d. h. Aufklärung darf nicht aufgezwungen werden. Die Wahrheit einer todbringenden Krankheit ist eine Grenzerfahrung für beide, für den Kranken und für den Arzt. Zu beachten sind die (oft kritisch diskutierten) Schritte der Bewältigung der Diagnose einer todbringenden Krankheit seitens des Kranken, wie sie von Elisabeth Kübler-Ross eindrucksvoll geschildert werden.10 Es ist ein Prozess: aus der Unwissenheit und Unbekümmertheit in vermeintlicher Gesundheit ist oft die erste Reaktion die Erschütterung durch die Eröffnung der Diagnose, eine Abwehr, ein Nicht-wahrhaben-Wollen, ein Verleugnen der Krankheit. Aus der Auflehnung gegen sie folgt manchmal ein Hadern, ein Verhandeln mit dem Schicksal. Viele, sehr viele Kranke werden depressiv und hoffnungslos, ehe sie resignieren oder sich (oft aggressiv) in der Aussichtslosigkeit in ihr »Schicksal« fügen und es annehmen. Selten ist die (gläubige) Hingabe ausdrücklich zu erleben. Diese Schritte sind nicht regelhaft in zeitlicher Folge zu vollziehende Bewältigungsschritte sondern in ihrer Intensität und Dynamik wechselnde, sich unterschiedlich überlagernde Affekte, die der schwerkranke oder der alte Mensch angesichts des Lebensendes mehr oder weniger bewusst erlebt, durchleidet. Hier ist auch der Arzt oft bis an die Grenzen seiner Kompetenz und seiner seelischen Belastbarkeit gefordert.
9
Tolstoi (1948), 168–170.
10 Kübler-Ross (1985).
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4. M AXIMEN ÄRZTLICHEN H ANDELNS AM L EBENSENDE 4.1 Grundsätze ärztlichen Handelns Humanes, menschenwürdiges Sterben in der Klinik verlangt eine den pflegerischen und medizinischen Sacherfordernissen entsprechende Betreuung einschließlich der bestmöglichen Leidenslinderung und der symptomorientierten Behandlung, d. h. nicht in jedem Fall eine kurative Therapie um jeden Preis. Bei einem nicht (mehr) heilbaren Leiden mit infauster Prognose kann Behandlungsbegrenzung ein erster Schritt ärztlicher Begleitung in ein menschenwürdiges, humanes Sterben sein: die Änderung des Therapiezieles von der kurativen zur palliativen Betreuung; wo gewünscht oder bei nicht beherrschbaren Beschwerden (Schmerz, Unruhe bis zu psychotischen Zuständen, quälende Angst) auch unter Einsatz (bis vor wenigen Jahren noch sog.) terminaler, heute palliativer Sedierung.11 Ein den Bedürfnissen des Kranken oder der medizinisch zu beurteilenden Situation unangemessener Aktionismus ist inhuman. Die Achtung der Person des Gegenübers, die Achtung der Menschenwürde sei (esto!) die Maxime des ärztlichen Handelns. Diese Achtung gilt es durchzuhalten auch in den Extremsituationen der Intensivmedizin wie ggf. in der Achtung einer Entscheidung zum Behandlungsverzicht und einem friedlichen Sterben und Sterben-lassen. Gerade unter den Bedingungen der Hospitalisierung ist die Achtung der Autonomie, der Menschenwürde und des Selbstbestimmungsrechtes in besonderer Weise gefährdet. Sie müssen aber integraler Bestandteil der Ermöglichung humanen Sterbens in der Klinik sein. Die Begegnung mit Sterben und Tod stellt den Arzt immer wieder neu vor die Frage nach den Maximen seines Umgangs mit sterbenden Kranken. Vordringlich gilt die Achtung der Autonomie und der Menschenwürde auch bei eingeschränkter oder aufgehobener Selbstbestimmungsfähigkeit. Dazu gehört die Achtung des ausdrücklichen oder des mutmaßlichen Willens des Sterbenden. Hat er vielleicht vorausverfügend medizinische (diagnostische oder therapeutische) Maßnahmen abgelehnt oder – sofern medizinisch sinnvoll und vertretbar – beansprucht, so gilt es, sein Selbstbestimmungsrecht zu achten. Die dritte Maxime, die Achtung der Subjekt11 Neitzke/Frewer (2004); Frewer (2005), 812–815; Klie/Student (2007), 131–133.
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haftigkeit des kranken, sterbenden Menschen in seiner Leiblichkeit und Zeitlichkeit konzentriert das ärztliche Handeln auf den Kranken, den sterbenden Menschen als Subjekt, das er auch noch angesichts des Lebensendes ist: leibliches Zentrum seiner Empfindungen und Erlebnisse, seines wenn auch eingeschränkten Handelns, Reagierens auf Zuwendung, auf Berührung, auf den Umgang mit ihm. Er ist auch im Sterben noch Subjekt seiner Lebens- und seiner Leib-Zeit. Ihm gebührt unsere Achtung. Zu diesen Maximen kommen die aus der US-amerikanischen auch in die deutsche medizin-ethische Diskussion übernommenen Prinzipien des »Wohltuns« (»beneficence«, »salus aegroti«), der Schadensvermeidung (»non-maleficence«, »nil nocere«) und der Gerechtigkeit (»justice«).12 Gerechtigkeit ist hier nicht (nur) im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit, sondern in dem der sachlich-medizinischen Angemessenheit und der persönlichen Zuwendung zu verstehen. 4.2 Wiederbelebung Ärztliches Handeln angesichts des Sterbens unter den Bedingungen hochtechnisierter Medizin ist nicht nur mit Blick auf handlungsleitende Maximen und Möglichkeiten, sondern auch auf seine Grenzen hin zu reflektieren. Dazu gehört die Frage nach der Rechtfertigung von Wiederbelebung. Wiederbelebung = Reanimation heißt pragmatisch zunächst einmal Wiederherstellung der Vitalparameter, der Kreislauffunktion mit einem für die Sauerstoffversorgung und Durchblutung des Gehirns ausreichenden Blutdruck und der (Be-)Atmung. Ist schon die Technik solcher manchmal geradezu brutal erscheinenden Maßnahmen oft erschreckend, so rührt die psychische Belastung für die beteiligten Personen an ihre Existenz, an einem sterbenden Menschen den Kampf (!) um ein Leben zu sehen, dessen Ausgang unbestimmt ist – ob zu einem zumutbaren oder sogar glücklichen Leben oder zu einem (in der Meinung mancher Angehörigen oder auch öffentlicher Äußerungen) defizitären Weiterexistieren oder zum definitiven Tod. Es bleibt meist die Ungewissheit, ob im Sinne des Kranken gehandelt wird. Oft wird auch das Scheitern einer Reanimation als narzisstische Kränkung, als ein Verlieren im Kampf um Lebensrettung empfunden. Welcher Sturm von Gefühlen wütet in den um die Wiederbelebung
12 Beauchamp/Childress (1994).
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bemühten Pflegekräften und Ärzten?! Will der derart behandelnde Arzt selbst unter solchen Bedingungen sterben? Was wissen wir auch von den Gefühlen der reanimierten Patienten? Selbstverständlich können wir allenfalls ein wenig von dem Erleben der erfolgreich Reanimierten erfahren. Einige sind sehr dankbar für den Erfolg der Wiederbelebung. Die meisten Kranken schweigen aber darüber, einige sind entsetzt und verzweifelt, weiterleben zu müssen, oder darüber, dass in »das Rad des Schicksals« eingegriffen wurde. Die Erfahrung ständiger Bedrohung, sterben zu müssen, das wohl angstvoll erlebte »Zwischen« zwischen Leben und Tod oder das Erlebnis, tot gewesen zu sein, macht die meisten reanimierten Menschen stumm und verschlossen. »Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen« zu sein, mag eine Floskel in der Bewältigung des psychischen Erlebnisses sein – eine Floskel oder ähnliche »Sprüche« auch von manchen Ärzten oder Pflegekräften, die in diesem Kontext nicht mehr als die Hilflosigkeit und die Sprachunfähigkeit gegenüber solchen Erfahrungen zeigen. Der Arzt muss sich fragen und fragen lassen, welches ärztliche und menschliche Selbstverständnis hinter dem mit allen verfügbaren medizinisch-technischen Mitteln geführten Kampf gegen den Tod steht, gegen das Unverfügbare, auch »mitten im Leben vom Tod umfangen« zu sein.13 Ist vielleicht das Lebensgefühl des uns ständig begleitenden Todes, das Leben im Bewusstsein der fundamentalen Unsicherheit weithin verloren gegangen? Medizinische Wiederbelebung, die als ein Handeln gegen den Grundsatz »Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit« gesehen werden kann, bedarf der Rechtfertigung. Der Arzt trägt die Verantwortung der Entscheidung, ob die medizinische Situation einer abwendbaren Lebensbedrohung entspricht und ob die akut verfügbaren Mittel geeignet sind, diese Bedrohung zu bannen. Die dazu erforderliche Sachkompetenz darf uns nicht blind machen für die Person und die Würde des sterbenden Menschen, für seinen mutmaßlichen Willen und seinen stets geltenden Achtungsanspruch.
13 Nach der Antiphon »media vita in morte« [sumus] aus dem 11./12. Jh.; 1. Strophe deutsch im 15. Jh., 2. und 3. Strophe von Martin Luther (1483–1546). »Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen«.
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4.3 Sterbebegleitung Auch die ärztliche Sterbebegleitung ist in der gemeinsamen menschlichen Grund- und Grenzerfahrung der Sterblichkeit verankert. Ihr tragender Grund ist unsere Solidarität im Leben auf den Tod hin. Für das ärztliche Handeln, für die leibliche und seelische Betreuung erfordert der Umgang mit dem Sterbenden die Sensibilität, die Wahrnehmungsfähigkeit für Nuancen des Tones, des Sprechens, der Mimik und Gestik, die Duldung von sich überlagernden und vielleicht ständig wechselnden Affekten des Kranken. Sie erfordert auch das Aushalten der Spannung von erwarteter Nähe und notwendiger oder noch tolerierter Distanz, die Achtung der kranken Person in ihren leiblichen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen und Wünschen – die Achtung der Persönlichkeit des Sterbenden auch trotz des oft erschütternden Abbaus geistiger, emotionaler, sozialer und habitueller Kompetenzen. Trotz deren zunehmender Einschränkungen darf die Würde des Menschen nicht durch Missachtung oder Versachlichung verletzt werden. Auch dort, wo die Scham im Krank-Sein, im Sterbeprozess nicht (mehr) als Affekt erlebt wird, verletzt der Arzt durch Missachtung des Anderen die Gegenseitigkeit von Scham; ist diese doch – analog der Menschenwürde – auch ein reziprokes Verhältnis. Beide – Scham wie Würdeachtung – gelten dem Schutz der Person. Wer die Würde des Mitmenschen antastet, missachtet oder verletzt, der begibt sich auch seiner eigenen Würde. Hier zeigen sich wieder die ontische und die deontologische Seite der Menschenwürde: der Würdegrund und der Würdeanspruch im Achtungsgebot.
5. D IE S INNFRAGE Umfragen in unserer Gesellschaft sprechen dafür, dass die Angst vor dem Sterben häufiger und stärker ist als die Angst vor dem Tod.14 Es ist wohl weniger die Angst vor zunehmender Vereinsamung oder dem Abschied von nahen Menschen oder geliebten Tätigkeiten als vielmehr die Angst vor Schmerzen oder anderen körperlichen Beschwerden und vor dem mentalen Abbau und dem darin sich äußernden Persönlichkeitsabbau und dem be-
14 Ahrens/Wagner (2015).
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fürchteten Freiheits- und Würdeverlust. Dieses defizitäre Schreckbild der Sterbephase lässt viele Menschen sie als sinnlos, grausam, menschenunwürdig erscheinen. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach dem Sinn des Sterbens und des vorbereiteten Todes. Mit der möglichen Sinnfindung im »Kranksein zum Tode« kann die Zeitlichkeit des Menschen trotz aller Zufälligkeiten und Bedrohungen, trotz aller Brüche und allen Versagens für den Sterbenden noch den Aspekt des biographischen Zusammenhangs, der Nicht-Zufälligkeit der eigenen Lebensgeschichte gewinnen. Wird im Vergehen und Vergessen der Verlust von Zeit spürbar, so kann in der Erinnerung und in der Erwartung Lebenszeit vergegenwärtigt, konzentriert werden. Darin mag biographische Sinneinheit deutlich werden. Trägt schon das Sterben ein Janus-Gesicht auf die abnehmende Zukunft und die – soweit noch erinnert – zunehmende Vergangenheit, so zielt die angesichts des Lebensendes sich aufdrängende Sinnfrage ebenfalls auf die beiden Zeitrichtungen: die auf die Vergangenheit orientierte Frage danach, welchen Sinn ich meinem Leben gegeben, welche Spuren ich vielleicht hinterlassen habe, für wen ich vielleicht wichtig gewesen bin – und die auf die Zukunft orientierte Frage, worauf dieses Leben hinausläuft: auf die totale Auslöschung in einem rein materiellen, biologischen Zerfall oder auf ein Weiterleben oder eine Wiedererweckung zu einem neuen Leben. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn der aktuellen, todbringenden Krankheit und des Sterbeprozesses: hat das Leiden einen läuternden oder einen nur destruktiven Sinn? Ist das Sterben Erlösung im Sinne der Beendigung eines nicht mehr tolerierten Leidens oder Lebens oder im Sinne von Befreiung zu einer neuen Wirklichkeit? Sofern der Kranke solche Sinnfragen auch an den Arzt stellt, wird meist schnell deutlich, dass ein rein naturwissenschaftlich-medizinisches Krankheits- bzw. Sterbe- und Todesverständnis keine sinnvolle Antwort zulässt. Der Arzt ist auf sich selbst, auf sein menschliches Selbstverständnis verwiesen. Ist schon das Sterben eine Lebensphase des Abschieds, so kann sie vielleicht durch einen neuwertenden Rückblick auf das Leben, auf Beziehungen, auf prägende Ereignisse, vielleicht durch Dankbarkeit, erinnertes Glück und Freude, vielleicht durch Trauer, Schmerz und Reue einen gültigeren Sinn gewinnen. Sie ist schließlich eine Lebensphase des Kranken, in der er auch noch die ihm entgegengebrachte Achtung seiner Würde und Autonomie spüren kann. Das wird ermöglicht in der Haltung grundsätzlicher Selbstidentifizierung des Arztes mit dem Ster-
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benden, in der Achtung der Unverfügbarkeit als Spiegel eigener Würde. Der Arzt wird darin dem Kranken, dem Sterbenden Raum und Zeit, Zuwendung und Offenheit schenken müssen – einen beide Personen umgreifenden Horizont von »Gegenseitigkeit des Lebens« und »Solidarität des Todes«; das heißt das stets offene, nicht abgeschlossene Mit-Sein mit dem Mitmenschen bzw. der endgültigen, unwiderruflichen »unerbittlichen Realität« des Todes.15 Der »Tod [ist] nicht nur ein Gegenspieler des Lebens, sondern ein Teil des Lebens selbst, ohne den Leben nicht Leben wäre«. Wo dieser Raum in der medizinischen Versachlichung und Verdinglichung der kranken, sterbenden Person verkümmert, büßt auch der Arzt eine ihm als Person wie ihm als Helfer für den Mitmenschen wesentliche Dimension seines Menschseins ein. Mit der Sinnfrage gewinnt diese Lebensphase noch einen spezifischen Wert, des Lebens wert. Mögen pragmatische oder rationale oder gar ökonomische Argumente der Sterbephase mit dem Verlust bewusst gelebter Verbindungen mit den Angehörigen einen eigenen Wert absprechen, so kann der Kranke doch bis in den Prozess des Erlöschens von mentalen und Sinnesfunktionen noch Nähe wahrnehmen. Die Beobachtung vegetativer Reaktionen auf die Berührung von Sterbenden spricht für die Möglichkeit emotionaler Intersubjektivität auch noch in dieser Lebens- oder Sterbephase; so kann die haptische Kommunikation, das Streicheln, mit dem möglichen Ausdruckswert der Begleitung auch dieser Lebensphase noch einen Wert geben. Selbst wenn der Sterbende (vielleicht) die Berührung nicht mehr als Zuwendung wahrnimmt, kann dieser endgültige Abschied vielleicht für die Zurückbleibenden ein lebensveränderndes Licht auf deren Vergangenes oder Zukünftiges werfen. Allen vermeintlich im Sinne des Sterbenden wohlmeinenden Beurteilungen (man wünsche Erlösung von Leiden und Schmerzen, von Vereinsamung bis hin zu utilitaristischen Begründungen der praktischen, psychologischen und finanziellen Entlastung der Angehörigen), das »Restleben« sei nicht mehr sinnvoll oder lebenswert, sein Weiterleben habe jeden Sinn verloren, zum Trotz hat dieses Leben doch noch Sinn. Niemand außer der auf den Tod hin Kranke selbst kann das Leben als lebenswert einschätzen – niemand.
15 Weizsäcker (1951), 612 und 628. Im Abschnitt IV »Die Solidarität des Todes und die Gegenseitigkeit des Lebens«, besonders in den Kapiteln 16, 17, 19 und 20 behandelt Weizsäcker die Durchdringung dieser Polarität.
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In welchem Sinne kann oder muss sich der Arzt gar einer Mindereinschätzung der letzten Lebensphase als unwert entgegenstellen? Im Zusammenhang mit der Sinnfrage angesichts des Lebensendes wurde auf die Möglichkeiten zutiefst menschlicher Erlebnisweisen dieser nachdrücklich zum Leben gehörenden Phase hingewiesen – Erfahrungen, die (selten) im Gespräch zwischen dem Arzt und dem Kranken geäußert werden: die Dankbarkeit für ein erfülltes Leben, die Trauer für die Angehörigen, die Reue und Vergebung von Schuld, das Gefühl, in Frieden aus dem Leben gehen zu dürfen. Solche Erfahrungen gehen über alle Unwertbestimmungen »angesichts des Lebensendes« hinaus. Da sie auch den letzten Abschied noch prägen können, verbietet sich jede ökonomische und soziale, auch biologische Einschätzung als minderwertig oder lebensunwert. Auch für den Arzt stellt sich die Sinnfrage – für ihn wiederum in doppelter Perspektive: auf die Sinnhaftigkeit seines Tuns für den Kranken, den Sterbenden, und reflexiv auf die eigene Person. Gehört doch – über die sachlich geforderte Kompetenz hinaus – zu den existenziellen Grenzerfahrungen des Arztes in der Begegnung mit dem Kranken angesichts des Lebensendes die antizipierte Möglichkeit und schließlich die Unausweichlichkeit seines eigenen Todes, der eigenen Sterblichkeit – zumeist im medizinischen Alltag verdrängt und nur hin und wieder sich zu Wort meldend. Oder wird gar die affektive und existenzielle Dimension von Sterben und Tod, wie sie in den emotionalen Äußerungen seitens der Kranken und Sterbenden angesichts des Lebensendes artikuliert werden, durch den professionellen Umgang seitens des Arztes geradezu ausgeblendet? Verliert die Beziehung des Arztes zum Kranken die Rückbeziehung in der »Grenzerfahrung« des Arztes durch dessen professionellen Umgang mit dem Kranken? Werden die konstitutive Gegenseitigkeit auch des Lebensendes und die Solidarität des Todes durch die nur noch funktional-praktische Beziehung des Arztes zum Sterbenden unterdrückt? Der eigene Tod kann allenfalls das bewusst vorweggedachte, in das eigene Leben hereingenommene Ende dieses meines Lebens sein, das darin Abschluss, vielleicht Sinndeutung, Erfüllung findet, oder Reue, Vergebung und Frieden. Der Tod bleibt das absolute, brutale Ende – dort, wo er nicht im Glauben und in der Hoffnung auf ein zukünftiges Leben transzendiert werden kann. Zwar vielleicht nicht im Selbstbezug auf den eigenen Tod zu erreichen, so ist es doch möglich, durch Sterbe- und Todesrituale anlässlich des Lebensendes eines Mitmenschen dessen und vielleicht auch das eigene
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Leben über die Aktualität des Sterbens hinaus auf den Tod hin je eigen zu gestalten. Aus solcher Reflexion auf das eigene Ende kann auch der Sinngebung des Lebensendes des Sterbenden Raum gegeben werden.
6. A USBLICK »Grenzerfahrungen in der Begegnung des Arztes mit dem Kranken angesichts des Lebensendes« gehören wesentlich zu seinen Aufgaben, ja zu den unter Umständen schwersten Belastungen, die er wahrzunehmen und auszuhalten hat. Er begegnet darin ja nicht einem objektiven (biologischen), neutralen, ungeschichtlichen, beziehungslosen und apersonalen Prozess und Faktum. Er begegnet der eigenen Endlichkeit und Sterblichkeit. Vielleicht ahnt er auch die vom sterbenden Mitmenschen wie von ihm selbst eines Tages zu leistende Aufgabe von Lösung, Abschied, Verzicht, Überantwortung, vielleicht auch von Vergebung und Hingabe. Wie der Arzt diese Aufgabe im »cyklomorphen Umgang«16 mit Sterbenden leistet und aushält, prägt sein Selbstverständnis als Arzt und seine Haltung gegenüber dem Kranken, dem Sterbenden. Seine Selbstbetroffenheit, die unausweichliche Möglichkeit, selbst zu erkranken und zu sterben, prägt sein Menschenbild, das sein Verständnis eigenen Krankseins und das des Anderen bestimmt, ebenso seine Achtung der Menschenwürde, die er im Kranken und Sterbenden noch angesichts des Todes zu achten fähig ist. Sein Umgang wird auch geprägt von der existenziellen Solidarität, derer er in der Grenzerfahrung, in der Begleitung Sterbender bewusst zu werden vermag. Begegnung mit Sterben und Tod erfordert aber nicht nur eine Reflexion des Selbstverständnisses der Ärzte und ihres Verständnisses von Krankheit und Kranksein im Sinne einer anthropologischen Medizin, vielmehr ist unser aller Besinnung auf unsere Sterblichkeit zu fordern. Was für den Arzt pragmatisch für seinen Umgang mit dem Sterbenden, für seine ärztliche
16 Weizsäcker (1956), 67–69. Dort beschreibt Weizsäcker die Ich-Du-Begegnung und die Wir-Bildung als eine zirkuläre, aus der je eigenen Position in die des Gegenübers hinausgehende und wieder zurückkehrende Kreisbewegung, eine zirkuläre d. h. »cyklomorphe« Bewegung, einen cyklomorphen Umgang.
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Haltung gilt, darf auch für jeden Einzelnen angesichts der Unausweichlichkeit vor dem eigenen Sterben und Tod gelten.
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Würdewahrende Pflege – eine Illusion? Organisationale Rahmenbedingungen pflegerischer Praxis M ARIANNE R ABE
1. W ÜRDE , A UTONOMIE , P ERSONSEIN : W ORUM ES IN DER E THIK GEHT Die Erfahrung, wie Menschen in manchen Institutionen sterben, kann für die Betroffenen, aber auch für die dort Tätigen eine Belastung sein. In aller Regel hält die Institution nicht inne, obwohl jedes Sterben etwas Besonderes ist. So kann es geschehen, dass Menschen in der letzten Lebensphase noch regelmäßig umgelagert und gewaschen werden, obwohl es ihnen nur Beschwerden macht, aber keine Zeit ist für teilnehmende Anwesenheit am Bett und beruhigende Berührungen. Die Ethik im Gesundheitswesen hat durch die Vielzahl der Herausforderungen am Lebensende an Bedeutung und Kontur gewonnen, auch wenn sie keineswegs auf diesen Fokus begrenzt blieb. Neue Möglichkeiten der Medizin verschoben die Grenzen zwischen Leben und Tod und warfen dadurch ethische Fragen auf. Der Begriff der Würde spielt in diesen Debatten eine zentrale Rolle, denn Technik, Arbeitsteilung, Standardisierung und Routine in Institutionen verbessern zwar deren Effizienz, sind aber zugleich potenziell Bedrohungen der Würde der Patienten. Die Bedrohung der Würde liegt in der Gefahr, durch die Technik, Arbeitsteilung, Standardisierung und Routine den individuellen Patienten mit seiner ureigenen Geschichte und seiner Art, mit seiner Krankheit oder seinem Sterben umzu-
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gehen, aus dem Blick zu verlieren, von den Bedürfnissen der Patienten und Patientinnen abzusehen und ihn »zur Nummer«, zum Objekt zu machen.1 »Würde heißt, dass man mich als Person anerkennt«, sagte ein Bewohner einer Pflegeeinrichtung bei einem Interview.2 Quasi als Gegenbewegung gegen die paternalistischen Traditionen3 in Medizin und Pflege hat die Patientenautonomie in den letzten Jahrzehnten sehr an Bedeutung gewonnen.4 Sie wird zumeist als Abwehrrecht gegen eine als übergriffig empfundene Medizin verstanden. Positiv gewendet beinhaltet sie das Recht auf verständliche Aufklärung und Respektierung der persönlichen Eigenheiten und Wünsche bei der Therapieplanung, insbesondere das Recht auf Ablehnung von Maßnahmen, die ärztlich indiziert erscheinen. Die Engführung des Verständnisses von Autonomie auf informed consent und Entscheidungsfindung führt jedoch in das Missverständnis, Autonomie habe vor allem etwas mit rationalen und verbalen Fähigkeiten zu tun. Somit würde denjenigen Menschen Autonomie abgesprochen, die empirisch nicht über Ausdrucksvermögen und grundlegende geistige Fähigkeiten verfügen.5 Wer jedoch mit solchen Menschen zu tun hat, weiß, dass sie durchaus Eigenheiten und Strebungen zeigen und als Person erfahrbar sind. Über die Extension des Autonomiebegriffes wird in der Ethik im Gesundheitswesen kontrovers diskutiert. So vertritt Ralf Jox ein enges Verständnis der Autonomie: Man dürfe Willen und Wohlergehen nicht verwechseln. 6 Demgegenüber fordert Irmgard Hofmann aus pflegerischer Sicht, auch nonverbale Äußerungen als Ausdruck des Willens anzuerkennen und in die Ermittlung des mutmaßlichen Willens einzubeziehen.7
1
Vgl. Rehbock (2009), 45–47 und 53–57.
2
Pfabigan (2010), 36. Die Zitate stammen aus einer Befragung von Bewoh-
3
Paternalismus beschreibt die Überzeugung von Helfern, besser als die Patienten
ner/innen und Beschäftigten in der geriatrischen Langzeitpflege. oder Hilfsbedürftigen zu wissen, was für diese gut ist. Philosophisch kritisiert wurde diese Haltung, die auch von einem Staat ausgehen kann, bereits von Immanuel Kant (in »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«) und John Stuart Mill (in »Über die Freiheit«). 4
Vgl. Wiesemann (2013), 14; Rehbock (2005), 313–316.
5
Rehbock (2009), 317–322.
6
Jox (2013), 337.
7
Hoffmann (2013), 360–362.
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Die Autonomie hat eine enge inhaltliche Verbindung zur Würde, repräsentiert doch auch sie das Unverwechselbare, Eigene und Unverfügbare an jedem Menschen.8 Als dritter Begriff für die wechselseitige Anerkennung von Menschen als moralisches Gegenüber hat sich in der Ethik der Personbegriff etabliert. Er ist, so Theda Rehbock in ihrem Grundsatzwerk über »Personsein in Grenzsituationen«, eine »anthropologische Präsupposition der Moral«.9 Wenn wir einem Menschen begegnen, stellen wir nicht erst anhand empirischer Gegebenheiten (wie Eigenschaften und Fähigkeiten) fest, dass auch dieser ein Mensch ist, sondern wir unterstellen es von vornherein »im praktischen Kontext gemeinsam geteilter Situationen und Geschichten«. 10 Diese Positionierung für einen weiten Begriff der Person bezieht auch Stellung zum oben angesprochenen Streit um die Extension des Willensbegriffes und damit der Autonomie. So wie das Menschsein und Personsein nicht erlischt, wenn bestimmte Fähigkeiten nicht (mehr) gegeben sind, so ist es auch mit der Autonomie als grundsätzliches Potenzial des Menschen zur Selbstbestimmung und damit als Grundlage der Würde. 11 Allerdings gibt es um den Personbegriff eine vergleichbare Diskussion, die sich vor allem mit dem Namen von Peter Singer verbindet. Singer vertritt die These, dass nicht alle Menschen (Angehörige der Gattung Mensch) notwendig zugleich Personen seien, weil das Personsein an Merkmale wie Selbstbewusstsein, Rationalität und Zukunftsorientierung sowie grundlegende geistige Fähigkeiten gebunden sei.12 Die Zuschreibung der Personalität ist hier auch mit dem Lebensschutz verknüpft: Wer nicht Person ist, also kein eigenes Interesse am Leben habe, der dürfe schmerzlos getötet werden. Dazu gehören nach Singers Vorstellung sowohl Säuglinge 13 als auch Menschen im Koma.14 Auch wenn diese Ideen für die meisten Menschen hierzulande fremd sind und daher überwiegend nicht geteilt werden, gibt es doch immer wieder die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Leben mit
8
Vgl. zum Zusammenhang von Autonomie und Menschenwürde auch die Beiträ-
9
Rehbock (2009), 56–60.
ge von Beckmann und Bielefeldt in diesem Band. 10 Rehbock (2005), 59. 11 Vgl. Beckmann in diesem Band [Anm. der Herausgeber]. 12 Singer (1994), 120. 13 Ebd., 219–221 und 225–227. 14 Ebd., 244–246.
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Einschränkungen oder Behinderungen. Wenn diese Frage anders als aus der Perspektive des Betroffenen gestellt oder beantwortet wird, gerät sie in eine gefährliche Nähe zu der Anmaßung, den Sinn des Lebens von außen zu beurteilen. Für Pflegende ist es undenkbar anzunehmen, dass ein schwerkranker oder sterbender, selbst ein hirntoter Mensch, nicht mehr Person ist. Ihre Hauptaufgabe besteht nicht im »Beseitigen« von Krankheit, sondern im Begleiten von Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft mit Einschränkungen leben müssen. Daher gehört es zu ihrem Ethos, jeden Menschen, unabhängig von seinem körperlichen oder geistigen Zustand, als Person zu betrachten. Im Folgenden werde ich zunächst einige exemplarische Problemfelder in der Pflege aufzeigen, um anschließend genauer zu beschreiben, wie die Strukturen von Organisationen auf die Möglichkeit Einfluss nehmen, Würde und Autonomie zu wahren. Im letzten Schritt wird die Frage nochmal im Sinne eines Abschlussfazits gestellt: Ist es eine Illusion zu glauben, man könne in der pflegerischen Praxis Würde und Autonomie wahren?
2. E XEMPLARISCHE P ROBLEMFELDER IN DER P FLEGE »Das Schlimmste ist, das ganz abhängig zu sein.« 15 Alle Menschen, die vorübergehend oder dauernd auf Hilfe angewiesen sind, erleben einen Verlust der Kontrolle und Einflussmöglichkeit bei alltäglichen Verrichtungen wie Aufstehen, Essen und bei der Gestaltung des Tagesablaufs. Dazu kommt die Gefahr der Missachtung der Intimsphäre durch unsensiblen Umgang mit den Schamgrenzen der Patienten. Verstärkt wird das Ganze durch die in vielen Institutionen des Gesundheitswesens vorherrschende asymmetrische Kommunikation, die die Kranken degradiert, nicht ernst nimmt und sie nicht selten mit ihren Ängsten und Nöten allein lässt. Damit sind sowohl die Wahrnehmung der Autonomie als auch die Würde bedroht. »Menschen pflegen bedeutet nicht nur körperlich pflegen und Essen geben, sondern mit Seele und Geist und mit Gefühl.« 16 Bei der Pflege 15 Pfabigan (2010), 32, mündliche Originalzitate. 16 Ebd., 30.
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schwerstkranker und sterbender Menschen ergeben sich immer wieder scheinbare Konflikte zwischen Würde und Autonomie auf der einen und Fürsorge und Verantwortung auf der anderen Seite, für die hier einige Beispiele genannt werden. Die Beispiele sollen auch verdeutlichen, dass Autonomie und Fürsorge sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig korrigieren und ergänzen. Denn wohlverstandene professionelle Fürsorge geht nicht von abstrakten Standards aus, sondern stellt sich in den Dienst der Patientenautonomie. Auch der Respekt vor der Autonomie, der derzeit als Leitbegriff der Ethik so im Vordergrund steht, nutzt nichts ohne eine begleitende Haltung der Fürsorglichkeit, denn kranke Menschen sind keine »autonomen« Kunden, sondern durch ihre Krankheit in ihren Lebensaktivitäten eingeschränkt und deshalb grundsätzlich auf Anteilnahme und Fürsorge angewiesen. 2.1 Ablehnung von Essen und Trinken Am Ende des Lebens lehnen viele Menschen das Essen und Trinken ab. Für die Pflegenden und Ärzte ist hier eine Abwägung nötig: Ist diese Ablehnung Ausdruck des Willens des Kranken und eines natürlichen Weges zum Ende, oder hat sie andere Gründe (Schmerzen, Essen schmeckt nicht). Obwohl es zur professionellen Sorgfalt gehört, diese Frage zu stellen, werden stattdessen medizinische »Fakten« und Standards bestimmend (nötige Flüssigkeitsmenge etc.). Zu akzeptieren, dass ein Leben zu Ende geht und damit auch die Energie und der Lebenswille des Betroffenen schwinden, ist für viele Helfer noch immer problematisch. Oft werden aus falsch verstandener Fürsorge Maßnahmen ergriffen, die nicht am Willen und Wohl des Patienten ausgerichtet sind, sondern möglicherweise Ergebnisse eines übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses sowie einer Scheu vor der Beschäftigung mit existenziellen Fragen sind.17
17 Vgl. dazu die Beiträge in dem Band »Essen und Trinken im Alter«, der die Problematik unter (organisations-)ethischen, pflegerisch-medizinischen, anthropologischen, spirituellen und sozialwissenschaftlichen Aspekten ausleuchtet.
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2.2 Ablehnung von Pflegemaßnahmen »Na[,] ich habe einmal gesagt, nein[,] mir ist nicht gut, mir tut alles weh, heute wird nicht gewaschen […]. Aber das ist eben sehr schwer […], der hat gesagt, schau, das muss sein, und bei ihm habe ich mich dann erweichen lassen. […] Aber man wurde mehr oder weniger gezwungen […].«18
Auch für Pflegende ist es belastend, wenn sich Patienten bei Pflegemaßnahmen wie Körperpflege oder Mobilisation deutlich verspannen und zur Wehr setzen. Die Ausdrucksformen reichen von klarer verbaler Ablehnung über Unmutsbekundungen und Abwehrbewegungen bis hin zu handfester Gegenwehr mit Gefahren für die Pflegenden durch Schläge oder Bisse. Pflegende möchten den Patienten helfen und ihnen nicht gegen ihren Willen etwas aufzwingen. Manche Maßnahmen, wie etwa Mobilisation oder Flüssigkeitszufuhr, sind jedoch ärztlich angeordnet, und es fehlt bei den Pflegenden an beruflichem Selbstbewusstsein, solche Anordnungen im Sinn des Patienten in Frage zu stellen und zu diskutieren. Mobilisation und Flüssigkeitsversorgung sind überdies Gegenstand von Überprüfungen durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen.19 Obwohl es intuitiv einsichtig ist, dass jede Form von Zwang und Nötigung nicht akzeptabel ist, wird hier oft ein Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge konstruiert. Die Orientierung an einer von außen (z.B. durch Leitlinien) bestimmten Idee vom Wohl des Patienten obsiegt dann gegenüber der moralischen Intuition.20
18 Pfabigan (2010), 50. 19 Ein Krankenkassenvertreter sagte bei einer Diskussion, bei der »den Kassen« vorgeworfen wurde, unsinnige Maßnahmen zu fordern, nur weil diese in Standards stehen, ganz klar, dass die Patientenautonomie Vorrang habe. Es müsse allerdings die Ablehnung der Pflegemaßnahme sowie die Suche nach Alternativen dokumentiert werden. 20 Eine Gruppe von Schweizer Pflegenden entwickelte mit der Ethikberaterin Stella Reiter-Theil eine ethische Orientierungshilfe beim Widerstand gegen Pflegemaßnahmen am Beispiel der Mundpflege. Schäfer et al. (2011), 185.
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2.3 Aufklärung und Information des Patienten: fehlende Dialogkultur »Würde bedeutet, dass man einen nicht für einen Trottel anschaut.«21 Dies ist eine treffende Beschreibung der weit verbreiteten asymmetrischen Kommunikation zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen. Das Spektrum reicht vom »Lateinisch sprechen« bis zur Überredung zu Behandlungen, von der subtilen Drohung bei »Renitenz« bis hin zu Ignoranz und Verweigerung der Kommunikation. Vor allem aber beschreibt sie das Nicht-Ernstgenommen-Werden, persönliche Wünsche werden als irrational abgetan, Einwände übergangen, zur Vernunft im Sinne der Medizin wird gemahnt. Auch hier wird deutlich, dass »Autonomie« allein als orientierender Wert nicht genügt, wenn es um Entscheidungsfindung geht, es bedarf auch der Fürsorge, der Verantwortung und des Dialogs. Die Praxis der Gesundheitsberufe ist keine dialogische; Dialog braucht Freiräume, und die fehlen meist. Entsprechend ist die Kommunikation mit den Patienten oder Bewohnern oft instrumentell, zielgerichtet und dadurch verkürzt. Es fehlen das Zuhören und die Einsicht in die Begrenztheit jeder auch wissenschaftlichen Erkenntnis. Stattdessen werden angeblich objektive »Befunde« den »irrationalen« Empfindungen gegenübergestellt. Die Anforderungen an informiertes Einverständnis oder geteilte Entscheidungsfindung lesen sich wie fromme Wünsche; alle finden es irgendwie gut, aber die meisten handeln anders. Allerdings hat diese Praxis einen Preis, denn die ungenügende Kommunikation erstreckt sich auch auf die Teams und führt zu Spannungen vor allem zwischen Pflegenden und Ärzten. Pflegende sind buchstäblich näher am Patienten und bekommen dessen Reaktion auf Aufklärungsgespräche oder eine fragwürdige Behandlung unmittelbar mit. Wenn sie bei der Entscheidungsfindung nicht einbezogen werden, werden sie von Zweifeln geplagt, was sie hier tun und für wen. Spannungen mit gegenseitigen Entwertungen sind oft die Folge. »Die Ärzte quälen die Patienten mit unnötigen Therapien« versus »Die Pflege argumentiert bloß emotional und ist ja immer für Aufhören«. Das gemeinsame Ziel gerät aus dem Blick. Hier wird die Bedeutung des institutionellen Umfelds deutlich, und es zeigt sich, dass moralisches Handeln nicht nur von Einzelnen selbst zu verantworten bzw. zu leisten ist.
21 Pfabigan (2010), 33.
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3. Ü BERSCHREITUNG DER I NDIVIDUALETHIK : DIE I NSTITUTION ALS MORAL AGENT IN 22 DER O RGANISATIONSETHIK Den oben skizzierten Problemen steht jede/r im Gesundheitswesen Tätige zunächst mit der eigenen Moralität und Professionalität gegenüber. Die ethische Betrachtung ist damit aber noch unvollständig, denn die fachlichen und moralischen Handlungsspielräume der professionell Helfenden werden auch durch die Institution bestimmt, in der sie arbeiten. Tatsächlich ist die Würde der Patienten und manchmal auch der Mitarbeiter durch Strukturen des Gesundheitswesens und von Gesundheitsinstitutionen bedroht. Das enthebt die Einzelnen jedoch nicht ihrer Verantwortung für ihre Haltung und für ihr Verhalten. »In der Tat besteht die Herausforderung für Organisationen darin, moralisches Handeln nicht nur an Einzelpersonen zu delegieren, sondern ihre eigenen Prozesse und Verfahrensregeln so zu gestalten, dass bestimmte Werte überhaupt erst wirksam werden können. Gegen Verstöße müssen Sanktionen erfolgen. In diesem Sinne gibt es keine organisationale Unschuld.«23
Hiermit wird beschrieben, was wir heute unter Organisationsethik verstehen. Selbst wenn die Organisation als Akteur schwer greifbar ist, so ist es doch offenkundig, dass auch Institutionen eine Moral haben. Diese äußert sich nach außen durch das etwa in einem Leitbild geäußerte Selbstverständnis und nach innen durch das, was Organisationen hervorbringen, um ihr Ziel zu erreichen: Strukturen, Hierarchien, Dialog, Kultur, Gemeinsamkeitsgefühl. Eine Organisation als moralischer Akteur wird nicht nur von 22 Die Begriffe »Institution« und »Organisation« werden hier synonym verwendet, weil sie für diesen Diskussionszusammenhang große inhaltliche Überschneidungen haben: Institutionen sind soziale Gebilde, die bestimmte gesellschaftlich wichtige Aufgaben regeln (z.B. Erziehung und Bildung, Recht, Gesundheit). Organisationen sind arbeitsteilige Zusammenschlüsse von Menschen zur Erreichung bestimmter Zwecke. Der Begriff der Organisation kann sich auf Prozesse beziehen oder Funktionen beschreiben (z.B. der Leitung). Er steht aber auch für die Struktur, z.B. in Institutionen. 23 Fischer (2006).
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der Leitungsebene repräsentiert, denn diese kann die vorgenannten Faktoren nicht allein erzeugen oder vorgeben. Die Moral einer Institution gründet sich ebenso auf die Mitarbeiterschaft, das Ausmaß von Mitverantwortung, das jeder zu übernehmen bereit ist, sowie auf Traditionen und Erfahrungen. Wenn, wie es das vorherrschende Verständnis beschreibt, die Ethik die jeweils herrschende Moral reflektiert, kritisiert und begründet, so bedeutet das für die Organisationsethik, dass sie über das Handeln von Einzelpersonen hinaus die Strukturen und Kulturen reflektiert, die den moralischen Handlungsspielraum der Beschäftigten bestimmen. Dabei soll es hier um vier Faktoren gehen, an denen sich die Moralität einer Organisation festmachen lässt: Ethikstrukturen, Qualitätsentwicklung, Kultur und Ökonomie. 3.1 Dialog ermöglichen: Ethikstrukturen Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich in deutschen Kliniken zunehmend Ethikstrukturen in Form von Fallberatungen und/oder Ethikkomitees etabliert. 24 Ausgebildete Berater unterstützen dabei Teams oder Einzelne bei der Strukturierung und Klärung komplexer Situationen und Entscheidungsfragen. Oft ermöglichen die Berater Dialoge, die in der täglichen Routine immer wieder unterbleiben, was gerade bei schwierigen und belastenden Entwicklungen bei Patienten zu Missverständnissen und Spannungen führen kann. Ethikberatung erhöht die Entscheidungsqualität, weil sie einen Freiraum für Dialoge schafft. Durch die Berater wird zudem sichergestellt, dass man einander zuhört und die verschiedenen Aspekte der Situation, aber auch verschiedene Handlungsoptionen deutlich werden. Dabei müssen gerade Pflegende oft ermutigt werden, ihre Wahrnehmungen einzubringen. Auch eine Intuition kann ein wichtiger Beitrag zur Klärung einer schwierigen Situation sein, wenn sie nachvollziehbar erläutert wird. Übrigens sind Gefühle und Intuitionen keineswegs eine Domäne der Pflege, auch Mediziner besinnen sich darauf, wenn es Raum dafür gibt. Wo dies möglich ist, sollen auch Patienten oder Angehörige in die ethische Reflexion einbezogen werden, ohne dass jedoch Angehörigen eine Entscheidungslast aufge-
24 Vgl. u.a. Frewer et al. (2012).
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bürdet wird. Im Grundsatz geht es immer um den (mutmaßlichen) Willen des Patienten.25 In den letzten Jahren gibt es zunehmend auch Angebote von Ethikberatung für außerklinische Versorgungseinrichtungen wie etwa in der Altenhilfe.26 Der Bedarf an solchen Beratungen in Einrichtungen für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, in Palliativbereichen sowie im ambulanten Bereich (ambulante Pflege, Arztpraxen) wird zunehmend deutlich, und es entwickeln sich auch hier Angebote ethischer Reflexion, wie etwa trägerübergreifende oder niedergelassene Ethikberatungen.27 Indem die Ethikberatung Teams oder Einzelne dabei unterstützt, schwierige Konstellationen jenseits der Denkroutinen auch unter existenziellen und ethischen Aspekten zu betrachten und – wo möglich – den Patienten oder die Angehörigen einbezieht, rückt sie zugleich den Patienten wieder in den Mittelpunkt des Interesses, aus dem er durch Knappheit personaler und finanzieller Ressourcen sowie Routine immer wieder vertrieben wird. Ethikberatung trägt damit zur Wahrung der Patientenwürde und zur Berücksichtigung von Patientenautonomie bei. 3.2 Qualitätsentwicklung »Qualität in der [Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft] CBT ist lebenswertorientiert. Sie berücksichtigt die fachliche Sicht und die ethische Verantwortung. Menschen[,] die den Weg zu uns finden, sind für uns mehr als Kunden. Denn Qualität ist für uns nicht in einer DIN-Norm fassbar, Qualität garantiert der Mensch.«28
Diesem innovativen Ansatz der CBT stehen die eher formalen Systeme gegenüber, die viele Gesundheitsinstitutionen als Reaktion auf die gesetzliche Verpflichtung zur Qualitätssicherung 29 (vor allem zu Fehler- und Beschwerdemanagement sowie Risikomanagement) eingeführt haben. Solche
25 Reiter-Theil (2011), 175–182. 26 Siehe insbesondere Bockenheimer-Lucius et al. (2012). 27 Aktuelle Informationen dazu unter www.ethikkomitee.de. 28 Homepage der Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft (CTB), Online: http://www.cbt-gmbh.de/ueber-uns/qualitaet.html [22.07.2016]. 29 SGB V § 137; SGB XI § 80a.
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QM-Systeme machen sich vor Ort vor allem durch erhöhte Dokumentationsanforderungen bemerkbar. Die Mitarbeiter/innen erleben die Qualitätsentwicklung nicht als Möglichkeit, eigene Verbesserungsideen einzubringen, sie stellen keine Verbindung zu Werten her, die eigentlich eine Grundlage von Qualitätsentwicklung sind. Qualitätstheorien versuchen zu beschreiben, was das Gute in der jeweiligen Institution ausmacht. Letztlich geht es auch hier um ethische Fragen, denn es gibt »nichts Gutes außerhalb der Moral.«30 Ein gelungenes Beispiel für die Einbeziehung von Verbesserungsideen in das Risikomanagement kommt aus dem Elisabethenstift in Lauingen. Bei schwer dementen, bettlägerigen Patienten gab es immer wieder Verletzungsgefahr durch Unruhe und die Tendenz, über die Bettgitter zu klettern. Eine dauerhafte Fixierung erscheint hier ebenso wenig als akzeptable Möglichkeit wie eine medikamentöse Sedierung, nur um den Bewegungsdrang zu reduzieren. Pflegekräfte hatten daraufhin die Idee, die Patienten auf eine Matratze auf dem Boden in einer Ecke des Raumes zu legen und dort zu pflegen. Nach anfänglicher Skepsis stimmten die Ärzte dem Versuch zu. Es zeigt sich, dass dies für einige Patienten eine sehr gute Möglichkeit war, sich selbst etwas zu bewegen, ohne Schaden zu nehmen. Der Medikamentenbedarf ging deutlich zurück und die Patienten wirkten entspannter. Schließlich übernahm eine Firma Thomashilfen die Produktion entsprechender Matratzen mit Auspolsterung der Seiten. 31 Eine Verbesserungsmaßnahme, die unmittelbar positive Wirkung auf die Würde der so betreuten Menschen, aber auch auf die der Pflegekräfte hat, die nicht mehr an belastenden Fixierungsmaßnahmen mitwirken müssen. 3.3 Kultur Die Kultur einer Einrichtung ist spürbar und erfahrbar, aber nicht allein von oben erzeugbar. Sie entsteht aus einem Zusammenwirken von Umfeld, Lei-
30 Nach Rehbock (2005), 70: Rehbock bezieht hier Stellung zu einem Streit in der Ethik. Gegenwärtig unterscheiden viele Autoren kategorial zwischen moralischen und außermoralischen bzw. normativen und evaluativen Aspekten. »Solche Ansätze verkennen die Tatsache, dass es genau genommen nichts Gutes außerhalb der Moral gibt.« 31 Vgl. auch Poschwatta (2013), 34.
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tung und Mitarbeiterschaft. Allerdings liegt eine große Verantwortung beim oberen Management, denn dieses lebt einen Führungsstil vor, der sich nach unten fortsetzt. Flache Hierarchien und Partizipationsmöglichkeiten für Mitarbeiter/innen sind im Gesundheitswesen noch nicht die Regel. Insbesondere Krankenhäuser werden oft noch sehr konventionell hierarchisch geführt: Das obere Management trifft die Entscheidungen über die Verteilung der Ressourcen, wobei oft technisch-medizinische Anforderungen als wichtiger angesehen werden als die Verbesserung des Umfelds, Komfort für Patienten und Mitarbeiter/innen sowie die Gesundheitsförderung und Weiterbildung der Mitarbeiter/innen. Zwei Beispiele guter Praxis sollen erhellen, wie man an der Unternehmenskultur arbeiten kann: Die Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft betreibt im Raum Köln Altenpflegeheime, Mehrgenerationenhäuser und ein Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung. In ihren Qualitätsleitlinien werden unter der Überschrift »Achtung auch im Wort ausdrücken« Beispiele für erwünschte und unerwünschte Formulierungen genannt, wie etwa »Serviette umlegen« statt »Lätzchen anziehen«, »Unterstützung oder Hilfestellung« statt »Versorgung« oder »Tod, verstorbener Bewohner« statt »Abgang«.32 Für die Gesundheitsförderung für Mitarbeiter/innen unter dem Titel »WOGE« (Wohlbefinden und Gesundheit) hat das Unternehmen 2011 den Gesundheitspreis der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) erhalten. Das Programm umfasst kostenlose Gesundheits-Checks und Impfungen, Pausenkultur, ergonomische Beratung am Arbeitsplatz, Massagen, Ernährungsberatung, Yoga, Pilates, Lauftreffs und Wandergruppen, Meditationsangebote und Fastenwochen.33 Die Paul Gerhardt Diakonie, ein evangelisches Gesundheitsunternehmen in Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, legt bei ihren Fortbildungen Wert auf die Stärkung von Kompetenzen für den Alltag. Sie ist das Kompetenzzentrum für das Konzept »respectare«® und bietet Fortbildungen mit der Begründerin des Konzepts, Annette Berggötz, an.
32 Vgl. Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft (2000) Online: https:// www.cbt-gmbh.de/fileadmin/user_upload/allgemein/PDF/Qualitaetsleitlinien. pdf [5.09.2015]. 33 Vgl. Homepage der Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft (CTB), Online: https://www.cbt-gmbh.de/ueber-uns/gesundheit.html [5.09.2015].
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Zu den Kerngedanken des Konzepts gehört eine neue, von den Organisationen geförderte Kultur der Pflege: »[…] Haltung ist nicht eine Frage des Zeithabens neben dem stressigen Alltag. Sie durchdringt vielmehr den stressigen Alltag. Hier ist ein Umdenken gefordert. Wir brauchen eine Kultur der Pflege. Wir brauchen eine respektvolle Grundhaltung den zu Pflegenden gegenüber, aber ebenso eine respektvolle Haltung gegenüber sich selbst.«
Bei dem Konzept respectare® geht es vor allem um respektvolle Berührung und achtsame Kommunikation bei der täglichen Arbeit. 34 Im Programm nehmen Kommunikationsthemen entsprechend viel Raum ein. So werden Freiräume zum Überschreiten problematischer Routinen geboten. Beide Beispiele zeigen, dass Unternehmenskultur gestaltbar ist. Fürsorge für Mitarbeiterinnen und ansprechende Angebote der Gesundheitsförderung oder Fortbildung kommen immer auch den Patienten zugute. Ihre Würde und Autonomie wird gefördert; die Helfer werden in einer positiven, respektvollen Fürsorge gestärkt. 3.4 Ökonomie Die Finanzierung ist ein wichtiger Rahmen für Institutionen des Gesundheitswesens. Durch die steigenden Kosten und die knapper werdenden Ressourcen (eine Entscheidungsfrage auf der Makroebene der Gesellschaft und Politik) haben ökonomische Aspekte und Ökonomen ein größeres Gewicht im Management von Einrichtungen des Gesundheitswesens bekommen. Karl-Heinz Wehkamp weist darauf hin, dass auch ökonomische Verantwortlichkeit und bewusster Umgang mit Ressourcen einen moralischen Wert haben. Er sieht dabei unterschiedliche Wertsysteme auf den verschiedenen Ebenen des Managements: Pflegende und Ärzte haben ihre Patienten
34 »Respectare fördert die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für den Menschen, mit dem gemeinsam die Berührung durchgeführt wird. Im Mittelpunkt steht die respektvolle Haltung, dem anderen und sich selbst gegenüber. Die erfahrene Kraft der Berührung hilft, feinfühlig, respektvoll und förderlich mit den Patienten und den Angehörigen umzugehen.« Vgl. Paul Gerhardt Diakonie-Akademie: »Respectare«.
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im Blick, während sich die Leitungsebene mehr an Kollektiven orientiert und Allokationsentscheidungen treffen muss. 35 Bei einer guten Dialogkultur im Unternehmen können sich diese Perspektiven produktiv ergänzen. Allerdings wird es moralisch problematisch, wenn ökonomische Aspekte alle anderen überlagern und bestimmen. Geht es vornehmlich um Ökonomisierung, verschieben sich die Wertsetzungen: Statt am Patienten richten sich viele Organisationen an Effizienz oder an der Erreichung ökonomischer Ziele aus. Durch die DRG-Systematik der Krankenhausfinanzierung (Diagnosis Related Groups / Fallpauschalen) werden z.T. falsche, für die Patienten potenziell schädliche Anreize gesetzt (die z.B. dazu führen, dass Patienten länger beatmet werden bzw. eher operiert als konservativ behandelt werden, dass es mehr Kaiserschnitte in Deutschland als in anderen Ländern gibt oder die Rate der Frühgeborenen steigt).36 Die Ökonomisierung setzt betriebswirtschaftliche vor patientenbezogene Ziele. Damit verbunden sind oft betriebliche Umstrukturierungen im Sinne von Ausgründungen bestimmter Bereiche (klassisch sind Reinigung, Labor, Physiotherapie) mit dem Ziel, Personalkosten zu sparen. Dies führt dazu, dass die Beschäftigten schlechter bezahlt werden und nicht in erster Linie Fürsorge und Unterstützung durch den Arbeitgeber erfahren, sondern eine Arbeitsverdichtung. Während ökonomisches Arbeiten im Sinne von verantwortlichem Umgang mit Ressourcen Teil guter Unternehmensführung ist, kehrt die Ökonomisierung die Ziele um: Der Patient ist nicht mehr Bezugspunkt des Handelns, sondern wird selbst zum Mittel der Gewinnmaximierung. 37 Damit wird der Patient instrumentalisiert, seine Würde wird verletzt. Wenn es Anreize dafür gibt, Fallzahlen um des wirtschaftlichen Ergebnisses willen zu steigern, liegt es nahe, dass Patienten z.B. Operationen und Verfahren nahe gelegt werden, die ihnen nicht nutzen. In solchen Fällen werde, so Manzeschke, durch manipulative Information die Patientenautonomie untergraben und das Prinzip des Nichtschadens potenziell verletzt. Die Ethik im Gesundheitswesen hat mehr und mehr erkannt, welchen großen Einfluss die Organisationen im Gesundheitswesen auf die gelebte Moralität ihrer Beschäftigten haben. Deshalb kommen neben den individu-
35 Wehkamp (2004), 21. 36 Imdahl (2012), 99. 37 Manzeschke (2012), 118 und 122.
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alethischen zunehmend auch organisationsethische Aspekte in den Blick. Von den vier oben dargestellten Faktoren, anhand derer die Organisationsethik die Moralität einer Organisation reflektiert – vorhandene Ethikstrukturen, Qualitätsentwicklung, Kultur und Ökonomie – zeigt sich die Ökonomie als der kritischste, auch, weil sie auf die anderen Faktoren limitielimitierend zurückwirken kann.
4. W ÜRDEWAHRENDE P FLEGE –
EINE I LLUSION ?
4.1 Personorientierung wahrt Würde und Autonomie Die Orientierung an der Personalität des Kranken oder Pflegebedürftigen ist eine notwendige Bedingung für würdewahrende Pflege. Pflegende sind durch die besondere zeitliche Intensität ihrer Arbeit, deren Intimität und Körpernähe sowie durch die Begleitung von Menschen in Grenzsituationen wie Koma, Demenz und Sterben besonders mit den Eigenheiten und dem Lebenskontext der Patienten, also mit ihrem Personsein, konfrontiert. Aber auch Ärzte und Therapeuten begegnen der Person der ihnen Anvertrauten, wenn sie sie nicht ausblenden und ihr Gegenüber zum »Fall« machen – eine klassische Würdeverletzung. Worin zeigt sich die Personorientierung in der Praxis, wenn sie Raum bekommt? • •
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Kranke Menschen können Helfenden gegenüber Gefühle ausdrücken wie Angst, Verzweiflung, Mutlosigkeit. Helfende begleiten Patienten und Bewohner bei Krisen wie der Verarbeitung von Unfallgeschehen, bedrohlichen Diagnosen oder Rückschlägen. Vor allem Pflegende nehmen viele alltägliche Dinge rund um den Patienten sowie seine sozialen Bezüge wahr und können diese zu einer ganzheitlichen Sicht verdichten. Pflegende und Therapeuten ermutigen zum produktiven Umgang mit Veränderungen der Lebensgestaltung, z.B. nach Amputationen oder der Anlage eines Anus praeter,38 und leiten praktisch an.
38 Künstlicher Darmausgang, der nach manchen Operationen am Darm entweder dauerhaft oder für einige Monate angelegt werden muss. Darm-Eingriffe betref-
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Ärzt/innen nehmen die Eigenheiten und (auch scheinbar »irrationale«) Wünsche der Patienten ernst und stellen ihre Therapievorschläge in den Dienst der individuellen Lebensgestaltung. Helfende gehen dialogisch mit der Ablehnung von Pflege- und Therapiemaßnahmen um und versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden Mit bewusstlosen, komatösen, sogar mit hirntoten Menschen wird konsequent während der Pflege- oder Therapiemaßnahmen gesprochen, als ob sie das Gesagte verstehen können. Pflegekonzepte im Umgang mit dementen Menschen setzen immer auf Personorientierung (Biographiearbeit, Gestaltung der Umgebung, größtmögliche Barrierefreiheit, Anpassung der Abläufe an die Bedürfnisse der Bewohner). Konzepte wie basale Stimulation, Kinästhetik, respectare® und Validation zielen auf Anerkennung und Respekt im Umgang mit Menschen mit starken Einschränkungen.39 Die leibliche Kommunikation spielt dabei eine große Rolle.
4.2 Personorientierung braucht einen organisationalen Rahmen Die Beispiele zeigen vielfältige Ansätze zur Realisierung würdewahrender Pflege in den verschiedenen Versorgungsbereichen. Würdewahrende Pflege ist aber nicht allein durch individuelle Anstrengungen zu erreichen. Eine solche Erwartung führt im Gegenteil zu einer Überforderung der Mitarbeiter/innen. Würdewahrende Pflege muss institutionell gewollt sein, d.h. sie
fen oft ältere Menschen, die aber vorab häufig nicht ausreichend darüber informiert werden, dass sie die Versorgung des Stomas übernehmen müssen. Nach dem Eingriff leiden viele unter Ekelgefühlen und Angst vor sozialer Ausgrenzung. 39 Basale Stimulation: Es werden Wahrnehmungserfahrungen wie Musik und Singen, Wasserbett, Berührung, Licht oder Kontakt zu Tieren angeboten. Kinästhetik: Bewegungslernen; sanfte, aktivierende Mobilisation. Respectare® steht für respektvolles Begleiten, Begegnen und Berühren in Pflege und Therapie. Validation: Ein Konzept, das für den Umgang mit demenzkranken Menschen entwickelt wurde, es geht um wertschätzende, anerkennende Kommunikation bei »verwirrten« oder herausfordernden Äußerungen.
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muss ein ernstgemeintes Ziel der Organisation sein, für das diese auch Rahmenbedingungen zu schaffen bereit ist. Für Gesundheitsprogramme und Fortbildungen, aber auch für die ethische Reflexion und Partizipation der Mitarbeiter werden Ressourcen benötigt (Arbeitszeit und Geld). Diese sind gut angelegt, weil sie positive Auswirkungen auf die Mitarbeiterzufriedenheit und damit auf deren Verbleib im Betrieb haben. Auch das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Patienten und Angehörigen steigen; die Risiken für die Patienten werden minimiert. Dies hat zur Folge, dass die Einrichtung sich einen guten Ruf erarbeitet, was gerade unter den Vorzeichen von Konkurrenz und Personalmangel im Gesundheitswesen überlebenswichtig sein kann. Diese positiven Auswirkungen werden unter den Vorzeichen der Ökonomisierung oft nicht gesehen, weil dann die Leitungsebene sehr kurzfristig auf die jeweiligen Quartals- oder Jahresergebnisse ausgerichtet ist. Die Spielräume der Institutionen im Gesundheitswesen werden politisch bestimmt. Welchen Stellenwert Gesundheitspolitik im gesamtpolitischen Rahmen hat und wie in der Gesellschaft über Krankheit und Gesundheit, Hilfsbedürftigkeit und Pflege gedacht und gesprochen wird, hat letztlich Auswirkungen auf die Vorgaben, die den Institutionen Möglichkeiten und Grenzen zuweisen. In der gesellschaftspolitischen Diskussion wird Pflege immer noch abgewertet, Behinderung und Leiden werden verdrängt und wo möglich »vermieden«; es regiert ein lebensfernes Gesundheits- und Fitness-Ideal. Doch die Einwände werden immer lauter: gegen die Technisierung der Medizin, gegen Diät- und Anti-Aging-Wahn, gegen die Ausblendung des Menschen und seiner Lebensumstände. Und hier liegt neben der schwer greifbaren gesellschaftspolitischen Verantwortung wiederum eine Verantwortung jedes Einzelnen.
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Ärztlich assistierter Suizid – Reflexionen eines Palliativmediziners1 C HRISTOPH O STGATHE
1. E INLEITUNG Jeder im Gesundheitsbereich Tätige wird, wenn die Behandlung und Begleitung schwer kranker Menschen zu seinen Aufgaben gehört, mehr oder weniger häufig mit Patienten konfrontiert sein, die den Wunsch äußern, das Sterben zu beschleunigen. Daher war die im Vorfeld zur gesetzlichen Neuregelung des § 217 StGB vom Dezember 2015 geführte Debatte längst überfällig. In diesem Beitrag werden neben den Definitionen, der (standes-)rechtlichen Situation und der Wirksamkeit der Sorgfaltskriterien, der Umgang mit Todeswünschen von schwerkranken und sterbenden Menschen aus klinisch-praktischer Sicht eines Palliativmediziners reflektiert.
2. D EFINITIONEN Zunächst sollen die Definitionen der so genannten Sterbehilfe-Debatte konkretisiert werden. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Begrifflichkeiten kommt es immer wieder zu falschen Zuschreibungen und Ver-
1
Teile dieses Beitrages wurden in Höfling/Rösch (2015) als Zusammenfassung eines Vortrages schon veröffentlicht. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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wirrungen. Die bisher übliche Terminologie sollte daher verlassen werden. Selbst in Personenkreisen, die sich von Berufs wegen, mit diesen Themen befassen müssen, z.B. bei Betreuungsrichtern, werden die Begriffe häufig falschen Definitionen zugeordnet. Auf die Frage, wie Betreuungsrichter bestimmte Maßnahmen, z.B. den Verzicht auf bzw. Beendigung von künstlicher Beatmung, beurteilen würden, antwortete ein beträchtlicher Anteil, dass sie dies als »aktive Sterbehilfe« einschätzen würde.2 Entsprechende Befragungen mit ähnlichen Ergebnissen gibt es auch bei Ärzten.3 Der Verzicht respektive die Beendigung einer medizinischen Maßnahme würden wir heute nach Empfehlungen des Deutschen Ethikrates eher als »Sterben zulassen« (früher »passive Sterbehilfe«) bezeichnen. Die früher so genannte »indirekte Sterbehilfe« sollte man besser als »Therapien am Lebensende« bezeichnen; hiermit werden symptomlindernde, in aller Regel medikamentöse Maßnahmen beschrieben. Wesentlich ist hier die Intention, die auf bestmögliche Symptomlinderung abzielt; eine potenzielle Lebensverkürzung wird nicht angestrebt, aber als unbeabsichtigte Nebenwirkung in Kauf genommen. Die »Beihilfe zum Suizid« hat sich in der Nomenklatur nicht wesentlich geändert. Die »aktive Sterbehilfe« sollte durch den im Gesetzestext genutzten Begriff der »Tötung auf Verlangen« ersetzt werden. Es hilft sehr die Diskussion zu versachlichen, wenn wir uns auf diese Begriffe einigen.
2
Vgl. Simon et al. (2004).
3
Vgl. Borasio et al. (2004).
Ä RZTLICH
ASSISTIERTER
S UIZID – R EFLEXIONEN
EINES
P ALLIATIVMEDIZINERS
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Tab. 1: Terminologie und Definitionen 4 Alte Termino- Vorschlag logie Ethikrat
Definition
Passive Sterbehilfe
Sterben zulassen
Unterlassen, Begrenzen oder Abbrechen (Beenden) lebenserhaltender oder lebensverlängernder Maßnahmen.
Indirekte Sterbehilfe
Therapien am Lebensende
Mögliche Beschleunigung des Todeseintrittes als unbeabsichtigte Nebenwirkung der medikamentösen Symptomlinderung. Im Vordergrund steht die Intention respektive Indikation der genutzten Maßnahmen: Handlungsleitend ist grundsätzlich der Bedarf an Symptomlinderung und nicht eine Beschleunigung des Sterbens.
Beihilfe zum Suizid
Beihilfe zur Selbsttötung
Einem Menschen, der sich selbst tötet, Beihilfe leisten. Diese Hilfe kann vielfältige Formen haben; sie kann zum Beispiel darin bestehen, jemanden zu einer Sterbehilfeorganisation im Ausland zu fahren, Medikamente zu verordnen oder zu besorgen, einen Becher mit einer tödlichen Substanz zuzubereiten und hinzustellen.
Aktive Sterbehilfe
Tötung auf Verlangen
Tötung auf Verlangen liegt vor, wenn jemand durch das »ausdrückliche und ernstliche Verlangen« des Getöteten zur Tötung bestimmt wurde und den Tod gezielt aktiv herbeiführt.
4
Vgl. Nationaler Ethikrat (2006) und Nauck (2014).
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3. G ESETZ
UND
S TANDESRECHT
3.1 Die rechtliche Situation in Deutschland Das Sterben zuzulassen, ist in Deutschland rechtlich möglich. Viele ärztliche Kollegen tun sich dennoch schwer, auf medizinisch machbare Therapiemaßnahmen, die das Leben verlängern könnten, zu verzichten oder diese zu beenden. Oft steht hier die Angst vor rechtlichen Konsequenzen im Vordergrund. Dies führt nicht selten dazu, lebenserhaltende Maßnahmen fortzuführen, was im Einzelfall den Sterbeprozess verzögern kann. Exemplarisch sei die künstliche Flüssigkeitsgabe in der Sterbephase genannt; hier gilt es abzuwägen, ob der Sterbende von der Maßnahme profitiert oder ob sie gar eine Belastung darstellt. Es ist rechtlich möglich, in vielen Situationen sogar ethisch geboten, am Lebensende auf künstliche Flüssigkeitszufuhr zu verzichten oder diese zu beenden. Möglicherweise auftretende und als belastend empfundene Mundtrockenheit kann in aller Regel viel besser durch kreative pflegerische Maßnahmen, wie beispielsweise das Lutschen gefrorener Ananas oder das Besprühen der Mundschleimhaut mit (Lieblings-)Getränken als durch künstliche Flüssigkeit gelindert werden. Auch Therapien am Lebensende, die eine unbeabsichtigte aber potenzielle Lebensverkürzung als Nebenwirkung mit sich bringen können, sind erlaubt, wenn die Intention Symptomlinderung und nicht Lebensverkürzung ist. Aus klinischer Erfahrung ist Letzteres eher ein theoretisches Konstrukt. Es erscheint in der Praxis vielmehr so, dass eine gute Symptomkontrolle sogar lebensverlängernd wirken kann.5 Die Beihilfe zur Selbsttötung ist in Deutschland, wenn es nicht geschäftsmäßig,6 z.B. durch einen den Suizid fördernden Verein erfolgt, nicht strafbewehrt. Der bzw. die Angehörige, eine andere dem Patienten nahestehende Person oder auch der einzelne Arzt, der sich in einer individuellen, persönlichen Gewissensentscheidung für eine Beihilfe zum Suizid entscheidet, macht sich nach geltendem Recht nicht strafbar.7 Da der Suizid selbst nicht strafbar ist, so kann auch eine – nicht geschäftsmäßige – Beihilfe zu einer nicht strafbaren Handlung selbst nicht strafbar sein. In Deutschland
5
Vgl. Temel et al. (2010).
6
Vgl. Deutscher Bundestag (2015b).
7
Vgl. ebd.
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haben wir somit eine Gesetzgebung, die deutlich liberaler als in vielen anderen Ländern ist. Allerdings schränkt das ärztliche Standesrecht über die – auf dem Boden der (Muster-)Berufsordnung8 länderspezifisch angepassten – Landesberufsordnungen9 in der Mehrheit der Bundesländer die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung ein. Tötung auf Verlangen ist gemäß § 216 StGB in Deutschland verboten. 3.2 Die rechtliche Situation in anderen Ländern In den Niederlanden wird Tötung auf Verlangen (dort Euthanasie genannt), die durch einen Arzt durchgeführt wird, im Falle der Einhaltung definierter Sorgfaltskriterien nicht strafrechtlich verfolgt.10 Die Möglichkeit zur Tötung auf Verlangen schließt auch Kinder und Jugendliche mit ein. Im Alter zwischen 12 und 15 Jahren muss die Einwilligung der Eltern vorliegen; Jugendliche ab 16 Jahre können selbst entscheiden.11 Die Situation in Belgien stellt sich ähnlich dar. Tötung auf Verlangen bzw. Tötung auf Verlangen der Eltern ist bei schwerer Erkrankung jedoch in jedem Lebensalter, so auch bei Säuglingen möglich.12 In der Schweiz ist der assistierte Suizid gesetzlich geregelt.13 In Luxemburg sind seit 2009 Tötung auf Verlangen und der ärztlich assistierte Suizid geregelt.14 In Oregon wie auch einigen weiteren Bundesstaaten und Regionen (Counties) der USA ist unter bestimmten Sorgfaltskriterien eine Durchführung des ärztlich assistierten Suizids möglich.15
8
Vgl. Berufsordnungen der Landesärztekammern (1).
9
Vgl. Berufsordnungen der Landesärztekammern (2–16).
10 Vgl. Dyer et al. (2015). 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. hierzu den Beitrag von Bartsch in diesem Band. 14 Vgl. Dyer et al. (2015). 15 Vgl. ebd.
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3.3 Evidenz und Effizienz von gesetzlichen Sorgfaltskriterien In den meisten Staaten, in denen es Öffnungsregelungen zu Tötung auf Verlangen respektive Beihilfe zur Selbsttötung gibt, sind sogenannte Sorgfaltskriterien eingesetzt worden. Auch in Deutschland wurden im Diskurs zum ärztlich assistierten Suizid von Befürwortern einer gesetzlichen Regelung Sorgfaltskriterien benannt.16 Sorgfaltskriterien haben zum Ziel, die Handlungspraxis zu kontrollieren und somit den Missbrauch einzudämmen und Fehlgebrauch zu vermeiden. Typische Kriterien sind das informierte Einverständnis, die Hinzuziehung einer zweiten Meinung durch z.B. Psychiater oder Palliativmediziner, ein definiertes, meist längeres Zeitfenster zwischen Bitte und Durchführung und die eigentliche Durchführung durch einen Arzt. Die Erfahrung zeigt leider, dass in den Ländern mit einer entsprechenden Gesetzgebung die gesetzten Sorgfaltskriterien nicht in der Lage sind, die in sie gesteckten Ziele zu erreichen. Dies soll an drei Beispielen verdeutlicht werden. Das stärkste Kriterium ist das informierte Einverständnis in jedwede Maßnahme. Die Praxis in den Niederlanden, aber auch in Belgien zeigt, dass dort Euthanasie auch ohne Einverständnis durchgeführt wird.17 Darüber hinaus sieht Oregon die Einschätzung eines zweiten Experten (Psychiater, Psychologe) vor. Im Jahre 2014 wurden nur drei der 105 Patienten, die in Oregon durch assistierten Suizid gestorben sind, formal psychiatrisch respektive psychologisch evaluiert.18 Es kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass Menschen mit nicht ausreichend diagnostizierter oder nicht behandelter Depression eine Verschreibung für ein todbringendes Medikament erhalten. Auch hierfür gibt es Hinweise in der Literatur: Ganzini et al. konnten zeigen, dass 1/6 der Patienten, die eine Verordnung für ein todbringendes Medikament erhielten, eine Depression hatten; von den Patienten mit einer Depression haben alle dieses dann auch eingenommen.19
16 Vgl. Deutscher Bundestag (2015a). 17 Vgl. zu den Niederlanden Onwuteaka-Philipsen et al. (2012) und zu Belgien Chambaere et al. (2015). 18 Vgl. Oregon Health Authority, Oregon Public Health Division (2015). 19 Vgl. Ganzini et al. (2008).
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In Belgien ist gesetzlich festgelegt, dass insbesondere bei Erkrankungen, die nicht unmittelbar zum Tode führen, zwischen Bitte und Durchführung mindestens ein Monat liegt. Es gibt Hinweise, dass dies beispielsweise in der Intensivmedizin nicht umgesetzt wird. Mit Verweis auf die Benefizienz wird sogar ein deutlich kürzerer Zeitraum beschrieben.20 3.4 Ärztliches Standesrecht in Deutschland und den Bundesländern In der Musterberufsordnung wurde 2011 – nach Anpassung der Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung im selben Jahr – der § 16 geändert. Dort heißt es nun: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten«.21 Dies kommt einem standesrechtlichen Verbot gleich. In den Landesärztekammern, die sich eigene Landesberufsordnungen geben und somit für die Ärzte aus diesem Bundesland gelten, wurde dieser Passus sehr unterschiedlich übernommen, umformuliert oder ganz weggelassen.22 Die Kammern in Brandenburg, Bremen, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Hessen, Saarland, Sachsen und Thüringen haben den Passus im § 16 wortwörtlich übernommen. Nordrhein-Westfalen hat zwei Kammerbezirke. Der Kammerbezirk Nordrhein hat den § 16 entsprechend der Muster-Berufsordnung übernommen. Für Westfalen-Lippe wurde »dürfen keine« durch »sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten« ersetzt.23 In Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist inhaltlich ein anderer Schwerpunkt gelegt worden. Dort heißt es in den Landesberufsordnungen: »Der Arzt darf – unter Vorrang des Willens des Patienten – auf lebensverlängernde Maßnahmen nur verzichten und sich auf die Linderung der Beschwerden beschränken, wenn ein Hinausschieben des unvermeidbaren Todes für die sterbende Person
20 Vgl. Cohen-Almagor et al. (2009). 21 Vgl. Berufungsordnungen der Landesärztekammern (1). 22 Vgl. zum Folgenden die entsprechenden Berufsordnungen der Landesärztekammern (2–16). 23 Vgl. Berufungsordnungen der Landesärztekammer (16).
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lediglich eine unzumutbare Verlängerung des Leidens bedeuten würde. Der Arzt darf das Leben des Sterbenden nicht aktiv verkürzen«.24
Hier wird »das Sterben zulassen« aufgenommen und die alte Nomenklatur genutzt, wenn davon gesprochen wird, dass der Arzt »das Leben des Sterbenden nicht aktiv verkürzen« darf.25 Die Aussagen der Landesberufsordnungen in Sachsen-Anhalt,26 Bayern und Baden-Württemberg sind sehr allgemein und offen gehalten; hier heißt es »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen«.27 In Berlin wird die Berufsordnung ergänzt durch § 1 Absatz 3, in dem es heißt »Mitwirkung bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe. Ärztinnen und Ärzte sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.«28 Diese sehr unterschiedliche Umsetzung der Musterberufsordnung zeigt auch die Heterogenität der Haltungen innerhalb der (verfassten) Ärzteschaft zu diesem komplexen Thema an. Aus meiner Sicht verstärkt das, bei allem Verständnis für den Föderalismus, die allgemeine Verwirrung, wenn nicht sogar die, in den Landesberufsordnungen zum Ausdruck gebrachten, sehr voneinander abweichenden Haltungen, die öffentliche Diskussion noch katalysiert. Nach der Einführung des neuen Gesetzes vom Dezember 2015 zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung sollte es nun Aufgabe der Landesärztekammern sein, zu einer gemeinsamen Regelung zu finden.
24 Berufungsordnungen der Landesärztekammern (14). 25 Ebd. 26 Berufungsordnungen der Landesärztekammern (12), § 16 Beistand für Sterbende. 27 Berufungsordnungen der Landesärztekammer (2), § 16 Beistand für Sterbende. 28 Berufungsordnungen der Landesärztekammer (4), § 1 Absatz 3.
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4. R EFLEXION AUS DER P RAXIS DER P ALLIATIVMEDIZIN 4.1 Todeswünsche Jeder klinisch Tätige wird mit Menschen konfrontiert, die in irgendeiner Art und Weise einen Todeswunsch äußern. Es ist gut, wenn Patienten den Mut und das Vertrauen aufbringen, dies offen auszusprechen. Viele haben Angst davor, weil sie denken, dass sie durch das Aussprechen ihren Arzt oder das Team unter Druck setzen könnten oder gar schon etwas Ungesetzliches tun, wenn sie etwas vermeintlich Verbotenes fordern. Wichtig ist es, zunächst einmal zu sehen, um welche Form des Todeswunsches es sich handelt. Todeswünsche können unterschiedlich ausgeprägt sein; das Kontinuum reicht von dem Wunsch, dass der Tod durch ein rasches Fortschreiten der Erkrankung bald eintreten möge, bis hin zur maximalen Form der Planung eines Suizids respektive Wünschen nach Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen. Der explizit geäußerte Wunsch nach assistiertem Suizid oder Tötung auf Verlangen ist im klinischen Alltag selten, stellt aber eine besondere Herausforderung für das gesamte therapeutische Team dar, mit der alle in die Behandlung und Begleitung eingebundenen Berufsgruppen in großer Verantwortung und Wertschätzung umzugehen haben.29 Das Gespräch kann eine große Entlastung für die Betroffenen (»denken dürfen«) und eine Bereicherung der Team‐Patienten‐Beziehung bedeuten. Darüber hinaus zeigt die klinische Praxis, dass Todeswunsch und Lebenswille nicht als Polaritäten einer Dimension, sondern auch als zwei unabhängige und somit grundsätzlich gleichzeitig vorkommende Kategorien konzeptionalisiert werden sollten. Hierdurch kann sich die Situation ergeben, dass parallel zwei Hoffnungen – Hoffnung auf ein baldiges Ende des Lebens und Hoffnung auf mehr Leben – nebeneinander bestehen können, die sich in ihrem Ergebnis vermeintlich ausschließen, sieht man einmal von der religiös geprägten Aussicht auf ewiges Leben ab.30 Dies wird in einem Zitat deutlich, das aus einem Forschungsinterview mit einem Patienten stammt: »Wenn mir jemand was geben und mir sagen würde, in zwei Sekunden ist es vorbei, ich würde es versuchen.« Ein eindrucksvoll geäu29 Vgl. Ostgathe et al. (2010). 30 Vgl. Voltz et al. (2011).
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ßerter Todeswunsch. Derselbe Patient sagt wenige Sätze später: »Ich möchte leben, oh Gott« – und beginnt, als er das sagt, zu weinen.31 Im Hinblick auf die Grundlagen der Palliativmedizin scheint es nicht unmöglich, hier beide Hoffnungen sinnvoll miteinander verbunden zu sehen. Ziel der Palliativversorgung ist es, durch bestmögliche Unterstützung Menschen im Sterben mehr Leben zu geben und gleichzeitig das Sterben nicht aufzuhalten, sich somit dem »Sterben wollen« nicht entgegen zu stellen.32 Ein weiterer wichtiger Aspekt in dieser Diskussion ist, dass Todeswünsche nicht immer gleich ausgeprägt, sondern über die Zeit variabel sein können. Es kann sein, dass wir einen Patienten kennen lernen, der uns sagt: »Ich möchte, dass du was tust, damit ich rasch versterbe«. Derselbe Patient betont einige Zeit später nach suffizienter Unterstützung auf einmal: »Nein, ich möchte nicht sterben, ich möchte leben: Ich will noch so viele Dinge erleben und es gibt noch einiges, was ich zu erledigen habe«. Diese klinische Erfahrung wird auch durch Forschungsansätze bestätigt. Rosenfeld und seine Arbeitsgruppe, die sich mit der psychometrischen Erfassung von Todeswünschen (»Desire for Hastened Death«) befasst, konnten sehr eindrucksvoll zeigen, dass der Todeswunsch bei terminal erkrankten Menschen selbst in den letzten Lebenswochen außerordentlich variabel ist.33 4.2 Umgang mit Unheilbarkeit Aktuelle epidemiologische Studien zeigen, dass im ersten Monat nach Diagnosestellung einer neuen Krebserkrankung die Suizidrate um ein vielfaches erhöht ist.34 Diese besondere Phase – die Zeit der Übermittlung der schlechten Nachricht, das sogenannte »Breaking bad news« – braucht daher eine besondere Arzt-Patienten-Beziehung, die die emotionale Unterstützung des Patienten und seiner Familie betont. Entscheidend hierfür ist ein Umgang mit der Diagnose der Unheilbarkeit, die Patienten auch in der letzten Lebensphase auf der Grundlage realistischer Therapieziele Raum für Hoffnungen lässt.
31 Voltz et al. (2011). 32 Vgl. Ostgathe et al. (2010). 33 Vgl. Rosenfeld et al. (2013). 34 Vgl. Vyssoki et al. (2015).
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Wenn wir im Kontext der Palliativversorgung über Unheilbarkeit sprechen, so fokussieren wir auf die Menschen mit einer Krankheit, die mit einer deutlichen Einschränkung der Lebenserwartung einhergeht. Unheilbar im weiteren Sinne sind selbstverständlich auch andere Erkrankungen, die aber dennoch gut behandelbar sein können, z.B. Rheuma, Diabetes, bestimmte Formen der Multiplen Sklerose (MS). Also Erkrankungen, die durch medizinische Maßnahmen in chronische Verlaufsformen ohne oder nur mit geringer Einschränkung der Lebenserwartung und mit oder ohne Einschränkungen der alltagspraktischen Fähigkeiten einhergehen. Palliativmedizin widmet sich Menschen mit schweren Krankheiten, die in aller Regel die Diagnose »unheilbar« gehört und damit umzugehen haben. Eine besondere Herausforderung für den Patienten und sein Umfeld aber auch für den behandelnden Arzt sind dabei die Übergänge – zunächst von gesund zu krank bzw. potenziell unheilbar, sodann in der Folge von krank oder potenziell unheilbar zu unheilbar. Hier sind die Betroffenen besonders vulnerabel und jeweils einem höheren Suizidrisiko ausgesetzt35 – der Patient auf Grund der Erschütterung durch die real gewordene existenzielle Bedrohung, der Arzt, wenn er diesen Übergang als sein Scheitern versteht. Diese Erschütterung führt bei vielen Patienten zu großen Ängsten oder auch zu Depressionen. Der Arzt muss sich seinerseits zunächst der möglichen Falle von Gefühlen des Scheiterns seiner Therapie bewusst werden, die vielleicht dazu führt, Patienten immer wieder neue Therapieansätze vorzuschlagen, die im Einzelfall einen offenen und ehrlichen Austausch über realistische Therapieziele verhindern können. Das Gefühl, »nichts mehr zu tun können«, sollte dem Gedanken Platz machen, dass es viel zu machen gibt, auch wenn gegen die Erkrankungen umgangssprachlich selbst kein »Kraut mehr gewachsen« scheint. Belastende Symptome gut zu behandeln, ist mit den heute gegebenen Möglichkeiten eine hohe medizinische Kunst. Darüber hinaus gilt es festzuhalten, dass wenn wir Behandlung auch als Beziehung verstehen, es immer etwas zu tun gibt. Nicht alle Hoffnungen nehmen, sondern über Hoffnungen offen sprechen; den Fokus der Hoffnung zum Beispiel auf gute Tage, auf Zeiten ohne Schmerzen oder auf die Möglichkeit, wieder in der gewohnten Umgebung sein zu können, entwickeln. Hoffnung wirkt immer. Sie wirkt auch da, wo sie sich nicht in Gänze erfüllen lässt. Wir wissen mittlerweile, dass eine gute um-
35 Vgl. Vyssoki et al. (2015).
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fassende Begleitung Schwerkranker und Sterbender, die frühzeitig einsetzt, sogar selbst lebenszeitverlängernd ist, bei oft sogar besserer Lebensqualität.36 Empathie im Arzt-Patienten-Kontakt, in der Übermittlung der schlechten Nachricht, kann Betroffenen tatsächlich dabei helfen, besser mit der Erkrankung und besser mit der Realität der potenziellen oder tatsächlichen Unheilbarkeit umzugehen. Hilfreiche Ansätze, wie z.B. das »SPIKES«Modell, können dem Arzt helfen, eine unterstützende Gesprächssituation und eine empathische Diagnosemitteilung zu schaffen.37 Diese oft »SoftSkills« genannten Fähigkeiten werden bisher leider nicht ausreichend im Medizinstudium gelehrt und finden sich auch in der Weiterbildung kaum wieder. Sie könnten hilfreich sein, Gefühlen von Hilflosigkeit und Suizidwünschen bei der Konfrontation mit der Unheilbarkeit angemessen zu begegnen. Besonders zu beachten sind die folgenden grundsätzlichen Herangehensweisen:38 •
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Darlegung, wie die bestmögliche palliativmedizinische Behandlung unter Einbindung multiprofessioneller und interdisziplinärer Angebote zur Verbesserung der vom Patienten als unerträglich empfundenen Situation aussehen könnte. Dem Patienten und seiner Familie sollten konkrete Entlastungsmöglichkeiten im häuslichen bzw. im stationären Umfeld durch die verschiedenen in die Palliativversorgung eingebundenen Professionen aufgezeigt werden. Offene und respektvolle Kommunikation mit dem Patienten und den Angehörigen über den Todeswunsch, die Motivationen, Bedürfnisse und Ängste des Patienten. Konkrete Auseinandersetzung mit den individuellen Problemen und Befürchtungen, die den Patienten belasten. Bei einem Suizidwunsch aufgrund existenzieller innerer Not sollte dem Patienten zusätzliche Unterstützung angeboten werden, zum Beispiel mittels (Krisen-)Intervention durch Psychologen/-therapeuten, Psychiater, Seelsorger, Sozialarbeiter oder andere Therapeuten.
36 Vgl. Cherny et al. (2009). 37 Vgl. Baile et al. (2000). 38 Vgl. hierzu Nauck et al. (2014).
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Immer sollte die Beendigung respektive der Verzicht auf lebenserhaltende Therapien als Möglichkeit, den Todeszeitpunkt nicht weiter hinauszuschieben, besprochen werden. Palliative Sedierung kann im Einzelfall indiziert sein; Ziel ist nicht die Beschleunigung des Todeseintritts. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit kann für einige Patienten eine mögliche Alternative sein. Auf diese Weise das Ende des eigenen Lebens herbeizuführen, dieses Vorhaben aber auch jederzeit unter- bzw. abbrechen zu können, ermöglicht diesen Patienten ein selbstbestimmtes Leben und Sterben. Aufklärung über die Ziele und Möglichkeiten einer palliativmedizinischen Begleitung.
5. R ESÜMEE In Deutschland braucht es dringend einen ernstgemeinten Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung. Schwerkranke und leidende Menschen brauchen die Vergewisserung, dass ihnen eine umfassende Behandlung und Begleitung zur Verfügung steht – egal, wo sie diese brauchen. Das Hospiz- und Palliativgesetz, das im Jahr 2015 verabschiedet wurde, ist hier sicherlich ein wichtiger Meilenstein. Es kann aber – selbst bei bestmöglicher Fürsorge – sein, dass es einzelne Betroffene gibt, bei denen diese Angebote nicht greifen und für die eine (Beihilfe zur) Selbsttötung als einziger Ausweg erscheint. Dieses Dilemma müssen wir anerkennen. Es ist aber meine tiefe Überzeugung, dass aus den Einzelfällen keine Norm entwickelt werden darf. Der neue § 217 StGB hält an dem Grundsatz fest, dass die Beihilfe zum Suizid in einer individuellen Dilemma-Situation straffrei bleibt; die organisierte Form der Suizidbeihilfe wurde jedoch unter Strafe gestellt.39 Nach dieser Anpassung des Gesetzgebers sind aus meiner Sicht auch die Landesärztekammern aufgerufen, sich die Mühe zu machen, in diesem so wichtigen Punkt die Berufsordnungen zu vereinheitlichen. Grundsätzlich ist der Haltung der Bundesärztekammer, dass eine Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe ist, zuzustimmen. Auch ein im Grundsatz angelegtes Verbot für die ärztliche Suizidbeihilfe ist sinnvoll. In den
39 Vgl. Deutscher Bundestag (2015b).
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wenigen, oben schon genannten Dilemmata, also dann wenn ein einzelner Arzt seinen Patienten gut kennt, länger begleitet hat und sich in einer persönlichen Gewissensentscheidung für eine Suizidbeihilfe entscheidet, würde ich dafür plädieren – so wie es gängige Praxis ist –, dass im Einzelfall von einer berufsrechtlichen Sanktionierung abgesehen werden kann. Vielleicht würde eine Ergänzung im jeweiligen § 16 der Berufsordnungen der Landesärztekammern, die lauten könnte: »[Ärztinnen und Ärzte] dürfen grundsätzlich keine Hilfe zur Selbsttötung leisten« das Verbot anzeigen, aber die Dilemma-Situation anerkennen.
L ITERATUR Baile, Walter F./Buckman, Robert/Lenzi, Renato/Glober, Gary/Beale, Estela A./Kudelka, Andrzey P. (2000): »SPIKES-A six-step protocol for delivering bad news: application to the patient with cancer«, in: Oncologist 5, 4 (2000), 302–311. doi: 10.1634/theoncologist.5-4-302. Berufsordnungen der Landesärztekammern: vgl. Aufzählung am Ende des Literaturverzeichnisses. Borasio, Gian D./Weltermann, Brigitta/Voltz, Raymond/Reichmann, Heinz/ Zierz, Stephan (2004): »Einstellungen zur Patientenbetreuung in der letzten Lebensphase – Eine Umfrage bei neurologischen Chefärzten«, in: Der Nervenarzt 75, 2 (2004), 187–193. doi:10.1007/s00115-004-17 51-2. Chambaere, Kenneth/Stichele, Robert/Vander Mortier, Freddy/Cohen, Joachim/Deliens, Luc (2015): »Recent trends in euthanasia and other end-of-life practices in Belgium«, in: New England Journal of Medicine 372, 12 (2015), 1179–1181. doi: 10.1056/NEJMc1414527. Cherny, Nathan I./Radbruch, Lukas (2009): »European Association for Palliative Care (EAPC) recommended framework for the use of sedation in palliative care«, in: Palliative Medicine 23, 7 (2009), 581– 593. doi: 10.1177/0269216309107024. Cohen-Almagor, Raphael (2009): »Belgian euthanasia law: a critical analysis«, in: Journal of Medical Ethics 35, 7 (2009), 436–439. doi:10.1136/jme.2008.026799. Deutscher Bundestag (2015a): »Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz)«, Gesetzent-
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Berufsordnungen der Landesärztekammern 1. Bundesärztekammer (2015): (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 – in der Fassung des Beschlusses des 118. Deutschen Ärztetages 2015 in Frankfurt am Main, in: Deutsches Ärzteblatt. doi: 10.3238/arztebl.2015.mbo_ daet2015. http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/ downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO_02.07.2015.pdf [29.6.2016]. 2. Landesärztekammer Baden-Württemberg (2014): Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg (2014) geändert durch Satzung vom 17. September 2014 (ÄBW 2014, S. 501) Stand: 1.12.2014, Online: https://www.aerztekammer-bw.de/10aerzte/40merkblaetter/20 recht/05kammerrecht/bo.pdf [29.6.2016]. 3. Bayrische Landesärztekammer (2014): Berufsordnung für die Ärzte Bayerns. Bekanntmachung vom 9. Januar 2012 i. d. F. der Änderungsbeschlüsse vom 25. Oktober 2014, Online: http://www.blaek.de/pdf_ rechtliches/haupt/Berufsordnung_Final_29102014.pdf [29.06.2016]. 4. Ärztekammer Berlin (2014): Berufsordnung der Ärztekammer Berlin vom 26. November 2014, Online: https://www.aerztekammer-berlin.de /10arzt/30_Berufsrecht/06_Rechtsgrundlagen/30_Berufsrecht/Berufs ordnung_Stand_12_2014.pdf [29.06.2016]. 5. Landesärztekammer Brandenburg (2012): Bekanntmachung der Neufassung der Berufsordnung der Landesärztekammer Brandenburg, Online: https://www.laekb.de/files/144F982ED72/00Berufsordnung_kF. pdf [29.06.2016]. 6. Ärztekammer Bremen (2012): Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte im Lande Bremen, Online: https://www.aekhb.de/data/mediapool/ae_re _rg_berufsordnung.pdf [29.06.2016]. 7. Ärztekammer Hessen (2009): Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen, Online: https://www.therapie.de/fileadmin/dokumente/ berufsrecht/Berufsordnung_AErztekammer_Hessen.pdf [29.06.2016]. 8. Ärztekammer Niedersachsen (2015): Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen, Online: https://www.aekn.de/fileadmin/media/Down loadcenter/Arzt-und-Recht/Berufsrecht/BO_komplett_01022016.pdf [29.06.2016]. 9. Ärztekammer Nordrhein (2015): Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte vom 14.11.1998 in der Fassung vom 21.11.2015
202 | C HRISTOPH O STGATHE
(in Kraft getreten am 17.03.2016), Online: https://www.aekno.de/ downloads/aekno/berufsordnung.pdf [29.06.2016]. 10. Landesärztekammer Rheinlandpfalz (2015): Berufsordnung der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, (2015): i.d.F. der 8. Änderung der 9. Sitzung der 13. Vertreterversammlung vom 23.09.15 – in Kraft getreten am 2.12.2015, Online: http://www.laek-rlp.de/recht/berufsordnung/ berufsordnung.php [29.06.2016]. 11. Ärztekammer des Saarlands (2013): Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte des Saarlandes in der Fassung des Beschlusses der Vertreterversammlung vom 12. Dezember 2012, Online: http://www.aerztekam mer-saarland.de/public/filecache/Berufsordnung_2013-03-01.pdf [29.06.2016]. 12. Ärztekammer Sachsen-Anhalt (2015): Berufsordnung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt (2015), beschlossen durch die Kammerversammlung am 08.11.1997; zuletzt geändert durch Beschluss der Kammerversammlung am 7.11.2015, Online: https://www.aeksa.de/files/1465CCA7434/ /1_Berufsordnung_17052014.pdf [29.06.2016]. 13. Sächsische Landesärztekammer (2015): Berufsordnung der Sächsischen Landesärztekammer (Berufsordnung - BO) vom 24. Juni 1998. In der Fassung der Änderungssatzung vom 30. November 2015, Online: https://www.slaek.de/de/05/aufgaben/Berufsordnung.php [29.06.2016]. 14. Ärztekammer Schleswig Holstein (1999): Berufsordnung (Satzung) der Ärztekammer Schleswig-Holstein vom 3. Februar 1999, Online: https://www.therapie.de/fileadmin/dokumente/berufsrecht/Berufsordnu ng_AErztekammer_Schleswig-Holstein.pdf [29.06.2016]. 15. Landesärztekammer Thüringen (1998): Berufsordnung der Landesärztekammer Thüringen vom 21. Oktober 1998, Online: http://www. laek-thueringen.de/www/lakj/webinfo.nsf/RA/RM.20030410.104656. 969237/$FILE/Berufsordnung%20aktuell.pdf [29.06.2016] 16. Ärztekammer Westfalen-Lippe (2015): Berufsordnung der Ärztekammer Westfalen-Lippe (2015): in der Fassung vom 28. November 2015 (MBl. NRW 2016, S. 180f.), Online: http://www.aekwl.de/fileadmin/ rechtsabteilung/doc/Berufsordnung_2015-11-28-2.pdf [29.06.2016].
Praxis und Probleme des assistierten Suizids in der Schweiz aus rechtsmedizinischer Sicht CHRISTINE BARTSCH
1. E INLEITUNG Der Suizidbegriff wird häufig im Zusammenhang mit dem Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung, u.a. auch am Lebensende verwendet. Das sogenannte selbstgewählte Lebensende wird dabei als Option verstanden, über die jeder Mensch frei verfügen können sollte. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass im Jahr 2012 weltweit etwas mehr als 800.000 Menschen Suizid begingen, was einer altersbezogenen Suizidrate von 11.4 auf 100.000 Lebende, entsprechend 15.0 für Männer und 8.0 für Frauen, entspricht.1 Wie viele von ihnen eine Assistenz dabei in Anspruch nahmen, kann den Angaben nicht entnommen werden. In vielen Ländern wird das Recht auf Unterstützung beim Suizid (Suizidbeihilfe) explizit gefordert. The World Federation of Right to Die Societies, eine Vereinigung von aktuell 51 sogenannten Sterbehilfeorganisationen aus 23 Ländern, setzt sich für ein Recht auf Assistenz beim Suizid ein. 2 Neben einzelnen US-Bundesstaaten wie Oregon, Washington, Montana, Vermont, New Mexico und seit Oktober 2015 zusätzlich Kalifornien besitzen auch europäische Länder wie z.B. die Beneluxstaaten (Niederlande, Luxemburg und 1
World Health Organization (2014).
2
The World Federation of Right to Die Societies (2015).
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Belgien) rechtliche Regelungen zur sogenannten Sterbehilfe, allgemein als Euthanasie bezeichnet, 3 die den ärztlich assistierten Suizid (physician assisted suicide) mit einschließt und dieses Vorgehen legalisiert. Auch in der Schweiz ist der assistierte Suizid seit 1942 im Strafgesetzbuch verankert. Seine Durchführung ist unter bestimmten Bedingungen erlaubt.4 Hier sind es seit mehr als 30 Jahren sogenannte Sterbehilfevereine – EXIT Deutsche Schweiz und Association pour le Droit de Mourir dans la Dignité (A.D.M.D.) wurden beide 1982 gegründet –, die ihren Mitgliedern im Falle eines Sterbewunsches ein ärztliches Rezept für eine letale Medikamentendosis ausstellen lassen, das Präparat zur Verfügung stellen und auf diese Weise beim Suizid assistieren. Im Sprachgebrauch dieser Vereine wird von einer Freitodbegleitung (FTB) gesprochen.5 Trotz einiger Gerichtsurteile ist der Bereich von Autonomie und Selbstbestimmung am Lebensende menschenrechtspolitisch immer noch weitgehend Neuland. Für den Umgang mit Forderungen nach einem Recht auf einen assistierten Suizid gibt es im internationalen Recht keine etablierten Standards. Ob die Assistenz beim Suizid ein einklagbares Menschenrecht sein sollte, bleibt hoch umstritten und wird in den einzelnen europäischen Staaten unterschiedlich bewertet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) lässt den einzelnen Staaten einen weiten Spielraum (»margin of appreciation«) und vermeidet es in seinen Urteilen, durch Vorgaben unmittelbar in die Sterbehilfedebatte einzugreifen. Dennoch hat er mit seinem Urteil zum Fall Diane Pretty versus UK 2002 einen Präzedenzfall geschaffen, auf den die wenigen darauffolgenden Urteile zurückgreifen.6 Aus menschenrechtlicher Sicht wird hier zwar das Recht auf Selbstbestimmung über Todesart und Todeszeitpunkt mit Verweis auf den Artikel 8 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als Be-
3
Der griechische Begriff »Euthanasie« wird in Deutschland aufgrund der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde nicht zur Bezeichnung der gezielten »Tötung auf Verlangen« verwendet, ist aber in vielen Ländern üblich.
4
Schweizerisches Strafgesetzbuch (StGB) vom 21. Dezember 1937 (Stand am
5
Da der Begriff eine eindeutig wertende Komponente enthält, werde ich ihn im
1.01.2015), SR 311.0. Folgenden nur im Kontext der Stellungnahmen von Sterbehilfeorganisationen verwenden. 6
EGMR, Urteil v. 29. 04. 2002, Pretty vs. UK (Nr. 2346/02).
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standteil des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens anerkannt. 7 Ein Menschenrecht auf Assistenz beim Suizid, sei es durch die Bereitstellung der für die gewählte Todesart notwendigen Mittel oder gar durch die aktive Hilfe bei ihrer Einnahme, hat der EGMR in den betreffenden Klagen (Pretty vs. UK; Haas vs. Schweiz) jedoch bislang nicht akzeptiert.8 Im Folgenden wird es nicht um die Fragen gehen, ob der assistierte Suizid ein Menschenrecht sein sollte oder ob sich die Möglichkeit eines solchen Rechtsanspruchs ggf. auf die Lebensqualität am Lebensende auswirken würde. Vielmehr sollen anhand von anonymisierten Fallbeispielen spezielle Problemsituationen der aktuellen Praxis des assistierten Suizids in der Schweiz aus der Perspektive der Rechtsmedizin dargestellt werden. In der Schweiz gibt es mittlerweile sechs ansässige Vereine, die dem Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs folgend auf diese Weise »ohne selbstsüchtige Motive« legal Suizidbeihilfe leisten. Folgt man den Angaben der einzelnen Vereine, machen jährlich etwa 600 Menschen in der Schweiz davon Gebrauch, von denen etwa 2/3 ihren Wohnsitz in der Schweiz haben und etwa 1/3 zum Sterben aus dem Ausland anreist, was als »Suizidtourismus« bezeichnet wird.9 Die Vereine entscheiden selbständig, wen sie beim »Freitod« begleiten und wem sie einen solchen Wunsch verweigern. Laut Angaben auf ihren jeweiligen Websites werden diese sogenannten »Freitodgesuche« durch Mitwirkende der Vereine selbst überprüft und unter bestimmten Bedingungen (z.B. fehlende Urteilsfähigkeit) auch abgelehnt. 10 Auch unterscheiden sich die Voraussetzungen, die für eine Freitodbegleitung gegeben sein müssen, zwischen den einzelnen Organisationen. Bei zwei der sechs Organisationen werden z.B. ausschließlich in der Schweiz lebende Personen begleitet, bei den übrigen vier haben auch Personen mit Wohnsitz im Ausland die Möglichkeit, in der Schweiz Suizidbeihilfe zu bekommen. Einheitliche offizielle Regelungen existieren für dieses Vorgehen nicht. Weder dem Strafgesetzbuch, noch der Rechtsprechung des Bundesgerichts lassen sich detailliertere Vorgaben wie z.B. zum
7
Vgl. EGMR Urteile zu Pretty vs. UK (Nr. 2346/02), dort insbes. § 67; EGMR,
8
Ebd.
9
Gauthier et al. (2014).
Urteil v. 20.01.2011, Haas vs. Schweiz (Nr. 31322/07), dort insbes. § 51.
10 Beispiel EXIT Vereinigung für humanes Sterben Deutsche Schweiz: Freitodbegleitung. »Für wen kommt eine Begleitung in Frage?«
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Wohnsitz der sterbewilligen Person entnehmen. Insbesondere findet sich dort auch keine konkrete Regelung für das Vorgehen im Falle einer Suizidbegleitung bei Menschen mit psychischer Erkrankung und hierdurch unter Umständen eingeschränkter Urteilsfähigkeit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat zudem im Fall Gross vs. Schweiz (2013) in seinem Urteil vom 14. Mai 2013 »das Fehlen von klaren gesetzlichen Richtlinien« für die Suizidassistenz bei »nicht todkranken Personen« bemängelt und darin eine Verletzung von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Recht auf Privatleben festgestellt. 11 Nachdrücklich weist der EGMR hier auf die Notwendigkeit solcher Richtlinien in der Schweiz hin, überlässt die inhaltliche Ausrichtung derselben jedoch wiederum weitgehend dem Ermessen der Regierung.12 Stirbt ein Mensch in der Schweiz durch assistierten Suizid, so handelt es sich bei diesem Todesfall um einen nicht natürlichen Tod, und es wird ein sogenannter außergewöhnlicher Todesfall (agT) deklariert. 13 Gemäß Artikel 253 Absatz 1 der Schweizer Strafprozessordnung (SR 312.0, StPO) hat die Staatsanwaltschaft eine Legalinspektion durch eine sachverständige Ärztin oder einen sachverständigen Arzt anzuordnen, wenn bei einem Todesfall Anzeichen für einen unnatürlichen Tod bestehen, insbesondere für eine Straftat, oder wenn die Identität des Leichnams unbekannt ist.14 Die Legalinspektion dient neben der Klärung der Todesart auch der Klärung der Todesursache, der Todeszeit und der Identifizierung des Leichnams. Somit werden Abklärungen zum assistierten Suizid in der Schweiz staatsanwaltschaftlich angeordnet und polizeilich durchgeführt, wobei eine amtsärztliche Leichenschau (Legalinspektion) erfolgt. Diese wird in den betroffenen
11 Informationsplattform Humanrights.ch (2014), Zusammenfassung des Urteils vom Bundesamt der Justiz. Das Urteil wurde am 30.09.2014 mit der Begründung eines Missbrauchs des Individualstrafrechts aufgehoben: Die 2011 verstorbene Beschwerdeführerin hatte zuvor gezielt Maßnahmen zur Geheimhaltung ihres Todes vor dem EGMR ergriffen, um zu verhindern, dass ihre Beschwerde weiterverfolgt würde (vgl. ebd.). Vgl. auch: EGMR, Urteil v. 14.05.2013, Gross vs. Schweiz (Nr. 67810/10), § 69. 12 EGMR, Urteil v. 14.05.2013, Gross vs. Schweiz (Nr. 67810/10), § 58–69. 13 Kanton Zürich, 2. April 2007, Gesundheitsgesetz (GesG), LS 810.1. 14 Schweizerische Strafprozessordnung (StPO) vom 5. Oktober 2007 (Stand am 1.01.2015), SR 312.0.
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Kantonen meistens durch forensische Expertinnen und Experten der Institute für Rechtsmedizin durchgeführt, in manchen Kantonen aber auch durch nicht rechtsmedizinisch tätige Ärztinnen und Ärzte mit amtsärztlicher Funktion. Die Ergebnisse solcher Legalinspektionen, aber auch die Schwierigkeiten, mit denen Rechtsmediziner bei solchen Inspektionen konfrontiert werden, geben einen Einblick in die Problemfelder der aktuellen Praxis der Suizidassistenz in der Schweiz. Über die Schweizer Konstellation hinaus verweisen sie auf potenzielle Gefahren durch das Agieren organisierter Sterbehilfevereine.
2. M ETHODIK
DER A BKLÄRUNGEN NACH ASSISTIERTEM S UIZID
Nach einem assistierten Suizid wird von den Personen, die den Freitod begleitet haben, in der Regel die Polizei über den außergewöhnlichen Todesfall informiert. Die Einsatz-Zentrale der Polizei bietet anschließend die notwendigen Polizeibeamten und die Rechtsmedizin zur Abklärung am Leichenfundort auf. Vor Ort versammeln sich diese Personen und besprechen das weitere Prozedere. Neben der Todesfeststellung und einer äußeren Inspektion des vollständig entkleideten Leichnams muss auch immer eine Inspektion der beigelegten Dokumente zur Plausibilitätsüberprüfung durchgeführt werden. Hierunter befinden sich unter anderem die sogenannten vorgelegten medizinische Dokumente (vmD). Es sind medizinische Schriftstücke wie Arztberichte, die über den Gesundheitszustand der verstorbenen Person Auskunft geben, das datierte und personalisierte Rezept über das tödliche Medikament, eine von der betroffenen Person unterschriebene Einverständniserklärung zum assistierten Suizid, eine Beurteilung zum Status der Urteilsfähigkeit im Hinblick auf den Sterbewunsch und ein Lichtbildausweis zur Identifikation. Schließlich muss, wie bei jedem außergewöhnlichen Todesfall, durch die Rechtsmedizin, unabhängig von den speziellen Gegebenheiten, eine Einschätzung der Gesamtsituation mit Beantwortung strafrechtlich relevanter »W-Fragen« erfolgen. Wer (Identität) verstarb wann (Todeszeit), wo (Beurteilung des Sterbeortes), wodurch (auf welche Art und Weise, Todesart) und woran (Todesursache)? Ob wirklich jeder assistierte Suizid als außergewöhnlicher Todesfall gemeldet und somit von offizieller Seite untersucht wird, kann nicht mit hinreichender Sicher-
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heit festgestellt werden. Zumindest ein Fall von unterlassener Meldung wurde einem der rechtsmedizinischen Institute rein zufällig mit der nachträglichen Meldung durch die Gemeinde des Verstorbenen bekannt. Die folgenden Fallbeispiele stammen zum Teil aus dem rechtsmedizinischen Arbeitsalltag und zum Teil aus dem von der Verfasserin geleiteten Forschungsprojekt. Somit geben sie sowohl einen Einblick in das Tätigkeitsfeld der Rechtsmedizin, als auch in Forschungsergebnisse einer Analyse der von Rechtsmedizinern erstellten Ergebnisse der Legalinspektionen bzw. Obduktionen und zeigen Probleme auf, die Legalinspektionen nach assistiertem Suizid aus rechtsmedizinischer Sicht mit sich bringen können. Die anschließende Auswertung fragt allgemeiner nach möglichen Rückschlüssen, die sich daraus für die aktuelle Praxis der Suizidassistenz in der Schweiz und im Allgemeinen ergeben könnten. 2.1 Fallbeispiel zur Problematik der Todesfeststellung Eine korrekte Todesfeststellung geschieht über die Prüfung der sicheren Todeszeichen wie Totenflecke und Totenstarre. Fehlen diese relativ zeitnah zum Tod eintretenden Elemente, so muss ärztlicherseits von einer möglichen Reanimierbarkeit der betroffenen Person ausgegangen und mit Reanimationsmassnahmen begonnen werden. Unter anderem aus diesem Grund gehört die Todesfeststellung – auch nach erfolgter Suizidassistenz – definitionsgemäß grundsätzlich zur ärztlichen Aufgabe. Nach einem durch Sterbehilfeorganisationen durchgeführten assistierten Suizid wird der Tod zunächst von einer nicht-ärztlichen Person (sogenannte Freitodbegleitung) festgestellt und die Todeszeit in einem hierfür konzipierten Schriftstück zur Dokumentation des Ablaufs der Freitodbegleitung vermerkt. Durch diese Abweichung vom professionellen Vorgehen ist es schon vorgekommen, dass die mutmaßlich verstorbene Person bei der Legalinspektion noch Lebenszeichen bzw. keine sicheren Todeszeichen aufwies, was die Rechtsmedizinerin bzw. den Rechtsmediziner aus o.g. Gründen in eine Konfliktsituation gebracht hatte. In einem solchen Fall wurde bei einer Patientin im Gremium der anwesenden Amtsträger (Staatsanwaltschaft, Polizei, Rechtsmedizin) entschieden, die Frau in ein Krankenhaus zu bringen und sie in dortige ärztliche Obhut überführen zu lassen. Die Frau verstarb Stunden später im Krankenhaus, eine Situation, die für alle Involvierten eine zusätz-
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liche Belastung darstellte und für die bis heute keine offizielle Regelung existiert. 2.2 Fallbeispiel zur Problematik der Identitätsfeststellung Die Sicherung der Identität einer für die Amtsträger unbekannten verstorbenen Person ist eine wichtige Aufgabe, die vorzugsweise anlässlich der Legalinspektion vor Ort erfolgen sollte, damit der Totenschein ausgestellt und der Tod beurkundet werden kann. Grundsätzlich kann dies über Ausweispapiere erfolgen, allerdings können sich auch im Zusammenhang mit dem assistierten Suizid hierbei durchaus Schwierigkeiten ergeben. Dies war beispielsweise bei einer aus dem Ausland ohne Begleitung zum Sterben angereisten Person der Fall. Sie war von einer Erkrankung äußerlich derart gezeichnet, dass sich der Abgleich mit dem Lichtbildausweis aus länger zurückliegenden gesünderen Zeiten als unsicher herausstellte. Eine Konfrontations-Identifikation über Angehörige oder andere nahestehende Personen war nicht möglich, und für die Anwendung einer sicheren Identifikationsmethode wie z.B. den Abgleich des Zahnstatus oder der DNA war vor Ort kein Vergleichsmaterial vorhanden. Für die Rechtsmedizinerin bzw. den Rechtsmediziner bestand somit die Gefahr des Ausstellens einer womöglich falschen Todesbescheinigung. Ob auch die Sterbehilfeorganisation hier ein Risiko auf sich genommen hat, lässt sich anhand der Dokumente allein nicht beurteilen. Für derartige Situationen fehlt bisher ebenfalls eine offizielle einheitliche Handlungsanweisung. 2.3 Fallbeispiel zur Problematik der Todeszeitschätzung Die Todeszeitschätzung basiert bei der forensisch-medizinischen Expertise auf unterschiedlichen Kriterien. Im frühen postmortalen Intervall, also in den ersten Stunden nach dem Versterben, führt die Anwendung dieser Kriterien zu einem relativ genauen Zeitschätzungsintervall. Je länger ein Leichnam liegt, desto schwieriger und entsprechend ungenauer werden diese Angaben. In einem Fall von assistiertem Suizid war für den Zeitpunkt der Einnahme von 15 Gramm Natrium-Pentobarbital (NaP) die Uhrzeit 11.45 Uhr im Protokoll vermerkt worden. Um 11.49 Uhr sei die Person eingeschlafen, knapp 6 Stunden nach Einnahme, also um 17.43 Uhr, habe der Tod durch die Begleitperson festgestellt werden können. Bei Eintreffen
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der Rechtsmedizin und Durchführung der Legalinspektion um 21.00 Uhr konnte die Zeitspanne aufgrund forensischer Kriterien zuverlässig auf einen Zeitraum zwischen 8.00 Uhr und 15.00 Uhr geschätzt werden, was eine nicht unwesentliche Diskrepanz zur vermerkten Todeszeit ergab. Auch bei diesem beschriebenen Vorfall zur Beurkundung der Todeszeit handelt es sich um eine schwierige Situation, für die einheitliche Handlungsempfehlungen fehlen. 2.4 Fallbeispiel zur Problematik der Todesartbestimmung Bei der Todesart handelt es sich um einen juristischen Begriff. Es soll festgestellt werden, ob die Art und Weise des Todeseintritts auf eine Fremdeinwirkung zurückgeführt werden kann. Anlässlich einer Legalinspektion müssen somit zum einen Hinweise auf eine körperliche mechanische Fremdeinwirkung detektiert und zum anderen sichergestellt werden, dass die Einnahme der letalen Medikamentendosis selbständig und ohne Unterstützung durch Dritte erfolgte, da Tötung auf Verlangen (Euthanasie) in der Schweiz verboten ist. In den meisten Fällen wird das Natrium-Pentobarbital von den Betroffenen oral aufgenommen, allerdings werden auch parenterale und intravenöse Verabreichungen angewendet. Hierbei kommen immer mal wieder nicht standardisierte selbstgebastelte Applikationssysteme der Vereine, wie in einem Fall eine sachfremd verwendete Mausefalle, zum Einsatz, deren Funktionsweise sich nicht ohne Weiteres erkennen lässt und hierdurch die Beurteilung des Kriteriums der Selbsteinnahme verunmöglicht. Außerdem wurde in der Vergangenheit nicht ausschließlich NatriumPentobarbital eingesetzt, sondern einerseits unterschiedliche Medikamentenkombinationen und andererseits hatte es Fälle von Heliumgas-Anwendung gegeben, bei denen die selbständige Inhalation schwer nachvollzogen werden konnte, da hierfür festsitzende Masken verwendet wurden.15 2.5 Problematik der Todesursachenbestimmung Die Todesursache nach Intoxikation, wie sie bei erfolgter Suizidassistenz laut Angaben der Freitodbegleitung anzunehmen ist, kann bei der Legalinspektion nicht festgestellt werden. Üblicherweise wird in Fällen von ver-
15 Ogden et al. (2010).
PRAXIS UND PROBLEME DES ASSISTIERTEN SUIZIDS | 211
muteter Fremdstoffaufnahme, die letal gewesen sein kann, eine Obduktion inklusive pharmakologisch-toxikologischer Analysen zum Nachweis der Substanz in Auftrag gegeben. Würden in allen Fällen von assistiertem Suizid diese aufwändigen Untersuchungen durchgeführt werden, wären bei den stetig steigenden Zahlen die hieraus resultierenden Unkosten für die Strafverfolgungsbehörden immens. Die Staatsanwaltschaft verlässt sich somit auf die Angaben der Sterbehilfeorganisationen. 2.6 Fallbeispiele zu Problemen bei der Inspektion der vorgelegten medizinischen Dokumente In der Regel liegen Dokumente zur medizinischen Vorgeschichte wie z.B. Hausarzt- und Krankenhausentlassungsbriefe, Berichte zu Aufenthalten in anderen medizinischen Institutionen und das für die Person ärztlich ausgestellte Rezept etc. vor. Des Weiteren kann das Zeugnis über die Beurteilung der Urteilsfähigkeit der betroffenen Person im Hinblick auf ihren Sterbewunsch eingesehen werden, das von der Sterbehilfeorganisation vor ihrer Entscheidung zur Suizidbegleitung eingeholt werden sollte. Je nach Grunderkrankung lässt sich in manchen Fällen auch ein Fachgutachten zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit finden. Besonders bei Vorliegen von psychiatrischen Störungen ist es wesentlich zu erfahren, ob die betroffene Person womöglich durch ihre Erkrankung in ihrer Urteilsfähigkeit eingeschränkt war. Eine Überprüfung aus retrospektiver Sicht ist verständlicherweise nicht mehr möglich. All diese Unterlagen, die vom Umfang her von einem Bericht zu einer kurzen Krankheitsgeschichte (wenige Seiten) bis hin zu einer umfänglichen Beschreibung einer mehrjährigen Krankengeschichte (gesamter Krankheitsverlauf) reichen können, werden von der Rechtsmedizin nach inhaltlichen Gesichtspunkten und im Abgleich mit äußerlich erkennbaren Zeichen wie Operationsnarben o.ä. eingehend hinsichtlich ihrer Plausibilität geprüft. Die angegebenen Diagnosen werden hierbei den angetroffenen Gegebenheiten vor Ort gegenübergestellt. Auch dieses Vorgehen birgt unterschiedliche Schwierigkeiten. So werden anlässlich der Dokumentenprüfung vor Ort widersprüchliche Angaben in den unterschiedlichen zu beurteilenden Dokumenten aufgedeckt. Bei einer Patientin wurde die Prognose der Grunderkrankung, die als die zum Tode führende Erkrankung angesehen werden sollte, in einem Arztbrief als »gut« eingeschätzt, während in einem anderen Arztbrief von einer »extrem schlechten« Prognose berich-
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tet worden war. Auch die folgenden Fallbeispiele zeigen weitere mögliche Widersprüche innerhalb der unterschiedlichen Unterlagen auf, die sich anlässlich der Dokumentenprüfung vor Ort ergeben können. Bei ein und demselben Patienten wurde zeitnah zueinander einerseits vermerkt »beim ärztlichen Gespräch äußerte sich Herr X. klar und differenziert zu seinem Freitodwunsch«, während sich in einem anderen Arztbrief die Formulierung »eine Kommunikation ist infolge Artikulationsschwierigkeiten kaum möglich« fand. Bei einer Patientin war zum einen beschrieben worden »Schlucken problemlos möglich« und zum anderen »durch die Erkrankung (ALS) sind Essen und Trinken beinahe unmöglich geworden«. Bei wiederum einer anderen stand zu lesen »Die Therapiemöglichkeiten werden voll ausgeschöpft« neben »die Therapie wurde von der Patientin abgelehnt«. Besonders problematisch sind Widersprüche oder unvollständige Unterlagen im Zusammenhang mit der Dokumentation zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit. Es gibt immer wieder Fälle, bei denen die Dokumente unvollständig waren und auch jene, bei denen sich gar keine Angaben zur Urteilsfähigkeit fanden. Bei einer anderen Person stand in einem Arztbericht »[d]ie Patientin ist voll urteilsfähig hinsichtlich ihres Freitodwunsches«, während in einem zeitnah angefertigten anderen Arztbericht »die Urteilsfähigkeit ist nicht gegeben« geschrieben stand. In einem weiteren Fall kannte der Konsiliararzt die Patientin offenbar gar nicht, bekam ihre Unterlagen zugestellt und erstellte allein anhand der Unterlagen ein ärztliches Zeugnis zur Urteilsfähigkeit, bereits lange bevor er die Patientin schließlich zur Konsultation das erste Mal sah. Das Ausstellen von ärztlichen Zeugnissen geschieht in vielen Fällen durch immer dieselben Ärztinnen und Ärzte, die für die Sterbehilfevereine konsiliarisch tätig sind. Es ist nicht selten, dass diese die Patientinnen und Patienten nicht vorher kennen, vor allem, wenn sie aus dem Ausland angereist sind. Eine Bescheinigung der Urteilsfähigkeit nach Aktenlage und ohne persönlichen Kontakt zur betroffenen Person ist die eine Folge, eine andere ist die zeitlich eng aufeinander folgende Konsultation innerhalb von zwei Tagen von der Anreise bis zur Durchführung des assistierten Suizids. Außerdem kommt es in diesem Setting zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit manches Mal zu letztlich falsch deklarierten Diagnosen durch z.B. Verwechslung der Angaben aus den Unterlagen durch die beurkundende Ärztin bzw. den Arzt. So wurde in einem Fall anstelle der in den Unterlagen vermerkten Diagnose einer Multiplen Sklerose (MS) von dem die Urteils-
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fähigkeit zu begutachtenden Arzt eine Multi System Atrophie (MSA) angegeben. Auch fehlerhafte Datums- oder Namensangaben auf den Rezepten bzw. den Medikamentenbehältnissen sind schon vorgekommen. Für den Umgang mit diesen inhaltlichen Inkongruenzen, wie sie in den anfänglich genannten und formalen Auffälligkeiten in den drei letztgenannten Fällen beschrieben wurden, existieren bisher ebenfalls keine Vorgaben. 2.7 Fallbeispiele zur Problematik der Urteilsfähigkeitsfeststellung Ob zum Zeitpunkt der Entscheidungsfällung die Urteilsfähigkeit im Hinblick auf den Sterbewunsch gegeben war, lässt sich verständlicherweise retrospektiv nicht hinreichend überprüfen. Dennoch gehört es zu den rechtsmedizinischen Aufgaben, die vorliegenden Unterlagen in Bezug zur verstorbenen Person dahingehend zu überprüfen, ob die Urteilsfähigkeit gegeben war. Neben den bereits erwähnten Widersprüchlichkeiten innerhalb der Dokumente, verdeutlichen außerdem die folgenden Fallbeispiele die Problematik. Ein Mann mit der Diagnose eines »bösartigen Hirntumors« hatte offenbar zunehmend Wortfindungsstörungen entwickelt. Zwei Wochen nach Diagnosestellung erfolgte der assistierte Suizid. Das Rezept und das ärztliche Zeugnis über die bestandene Urteilsfähigkeit waren von ein und demselben Arzt, der eng mit dem Suizidhilfeverein zusammenarbeitet, ausgestellt worden. Unter Berücksichtigung der Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), nach denen der Sterbewunsch der betroffenen Person dauerhaft vorgelegen haben sollte, bevor eine Assistenz zum Suizid erfolgt, ist der eben geschilderte Fall als problematisch hinsichtlich der raschen Progredienz der Erkrankung und des Schweregrades der Einschränkung der Äußerungsfähigkeit des Patienten anzusehen. In einem anderen Fall war angegeben worden, der Patient habe an einer sehr seltenen Diagnose gelitten, einer sogenannten Leukariose. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine Diagnose im eigentlichen Sinne, sondern um eine radiologische Befundbeschreibung von unspezifischen Veränderungen der weißen Substanz im Gehirn, die z.B. bei demenziellen oder vaskulären Störungen auftreten und damit den Patienten in seinen kognitiven Fähigkeiten durchaus einschränken können.
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2.8 Problematik der assistierten Doppelsuizide Immer wieder kommt es vor, dass sich zwei Menschen zusammen für den assistierten Suizid entscheiden und dementsprechend auch beide direkt zusammen bzw. kurz nacheinander in den Freitod begleitet werden. Diese sogenannten Doppelsuizide werfen für die Rechtsmedizin Fragen auf. Handelte es sich bei den beiden Menschen um Personen in einer Abhängigkeitsbeziehung? Bestand gar eine Folie-à-deux? Wie soll die unabhängige Entscheidung postmortal überprüft werden? In der Vergangenheit hat der ehemalige Leitende Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich Dr. Andreas Brunner bereits auf diesen sogenannten Graubereich hingewiesen.16
3. A USWERTUNG
UND
S CHLUSSFOLGERUNGEN
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ist eine seit 1943 existierende unabhängige Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Nachwuchses in der Medizin. Sie setzt sich in diesem Zusammenhang auch mit medizin-ethischen Fragen rund um das Lebensende und somit auch mit der Sterbehilfe und -begleitung auseinander. Die ersten Richtlinien zu diesem Themenbereich erschienen bereits 1976 und wurden im Verlauf der Jahre immer wieder überprüft, überarbeitet und den Entwicklungen angepasst. Diese Richtlinien werden in der Regel in die Standesordnung der Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH) aufgenommen und setzen damit Standards für das ärztliche Handeln. Anfänglich vertrat die Ethikkommission der SAMW die Position, dass Beihilfe zum Suizid kein Teil der ärztlichen Tätigkeit sei. Im weiteren Verlauf wurde die Rolle von Ärztinnen und Ärzten in diesem Kontext überdacht und kritisch diskutiert. Schließlich wurde im Jahre 2012 ein Positionspapier mit dem Titel »Probleme bei der Durchführung ärztlicher Suizidhilfe« in der Schweizerischen Ärztezeitung veröffentlicht.17 Die im Jahr 2013 verfassten und mittlerweile in der 6. Auflage veröffentlichten medizin-ethischen Richtlinien zur »Betreuung von Patientinnen
16 Brunner (2010), 227–235. 17 SAMW (2012).
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und Patienten am Lebensende« formulieren die ärztliche Aufgabe dahingehend, dass die Leiden, die allfälligen Suizidwünschen zugrunde liegen, nach Möglichkeit gelindert und von ärztlicher Seite keine Suizidhilfe angeboten werden sollte.18 Entschließt sich die Ärztin oder der Arzt, Beihilfe zum Suizid zu leisten, trägt sie/er die Verantwortung für die Prüfung folgender Voraussetzungen:19 • • •
Die Erkrankung der Patientin/des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist. Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. Die Patientin/der Patient ist urteilsfähig, der Sterbewunsch wohlerwogen, ohne äußeren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend eine Ärztin/ein Arzt sein muss. Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muss in jedem Fall durch die betroffene Person selbst durchgeführt werden.
Außerdem gelten die SAMW-Richtlinien auch in Bezug auf den im Zivilgesetzbuch verankerten Artikel 16 zur Urteilsfähigkeit. 20 Die betroffene Person, die sich für den assistierten Suizid entschieden hat, muss die Fähigkeiten besitzen, »Information in Bezug auf die zu fällende Entscheidung zu verstehen; […] die Situation und die Konsequenzen, die sich aus alternativen Möglichkeiten ergeben, richtig abzuwägen; […] die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten Wertsystems rational zu gewichten«
und »die eigene Wahl zu äußern. Die Urteilsfähigkeit wird im Hinblick auf eine ganz bestimmte Handlung abgeschätzt […]; sie muss im Moment der Entscheidung vorhanden sein«.21 Allerdings handelt es sich bei den SAMW
18 SAMW (2014). 19 Vgl. Ebd., 4.1., 9. 20 Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB) vom 10. September 1907 (Stand am 1. Juli 2013), SR 210. 21 SAMW (2014), ad. 2.1., 10.
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Richtlinien eben lediglich um Richtlinien. Es gibt keine rechtlich bindende Verpflichtung für die Ärzte, vor der Ausstellung eines Rezepts über ein tödliches Medikament, die Urteilsfähigkeit im Hinblick auf den Sterbewunsch zu beurteilen. Die in den oben vorgestellten Fallbeispielen angeführten Erfahrungen und Untersuchungsergebnisse der Rechtsmediziner zeigen zweierlei. Zum einen ist es schwierig, im Nachhinein festzustellen, ob die vorgegebenen gesetzlichen Reglungen und ärztlichen Richtlinien zur Suizidbeihilfe eingehalten worden sind. So deuten die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Todesart durch die Untersuchung der für die Selbsttötung verwendeten Medikamente und der Art und Weise ihrer Einnahme darauf hin, dass die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen ohne ergänzende Untersuchungen nicht immer klar erkennbar ist. Die Todesursache wird in der Regel nicht durch eine Obduktion überprüft. Damit entfällt eine Kontrolle der Sterbehilfeorganisation sowohl hinsichtlich des verabreichten Medikaments als auch seiner Dosierung. Auch die für das Wohlbefinden des Sterbenden u.U. wichtige Betreuung bis zum Zeitpunkt des Todeseintritts kann dort nicht stattfinden, wo der Todeszeitpunkt nicht fachgerecht – weil von einer medizinisch nicht ausgebildeten Person – erfasst wird. Einige für tot erklärte Patienten zeigten bei der Ankunft der Rechtsmediziner noch Lebenszeichen bzw. wiesen keine sicheren Todeszeichen auf, bei anderen wies die Diskrepanz zwischen dem von den Freitodbegleitern angegebenen Todeszeitpunkt und dem durch die Rechtsmediziner ermittelten darauf hin, dass der eigentliche Todeszeitpunkt ersteren entweder entgangen ist oder womöglich sogar absichtlich falsch angegeben wurde. Ob ein Mensch tatsächlich, wie gewünscht und von den Sterbehilfeorganisationen versprochen, im Schlaf ohne Schmerzen und Ängste aus der Welt schied, kann aufgrund problematischer Einzelfälle somit nicht mit hinreichender Sicherheit für das gesamte Vorgehen belegt werden. Zweitens scheinen die bestehenden gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einzelfallschilderungen auch über den vom EGMR beanstandeten Fall Gross versus Schweiz hinaus in verschiedenen Bereichen lückenhaft zu sein bzw. es fehlt eine einheitliche Umgangsweise mit bestimmten Problemsituationen. Als wissenschaftlich besonders ergiebig erweist sich die Sichtung der rechtsmedizinischen Analysen der für die offizielle Abklärung zur Verfügung gestellten Dokumente. Diese bilden zusammen mit den Fallakten ein reichhaltiges, bisher kaum aufgearbeitetes Quellenmaterial zur Erforschung
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der Praktiken und Probleme der Suizidassistenz in der Schweiz. Anhand der geschilderten Beispielfälle zeigt sich, dass die geltenden SAMW-Richtlinien von den beteiligten Ärzten nicht durchgehend berücksichtigt werden bzw. dass diese z.B. in Bezug auf die Prüfung der Urteilsfähigkeit keine Angaben zu einem einheitlichen Überprüfungsvorgehen beinhalten. Auch scheint nicht in allen Fällen mit der geforderten Sorgfalt hinsichtlich der notwendigen Dokumentation vorgegangen zu werden, die gerade in derartigen Fällen unerlässlich erscheint. So wird Menschen beim Suizid assistiert, deren Dokumente nicht eindeutig wiedergeben, ob sie ihren Sterbewunsch wirklich klar äußern konnten. In anderen Fällen scheinen alternative Behandlungsmöglichkeiten nicht erörtert bzw. nicht ausgeschöpft worden zu sein. Auch die enge Zusammenarbeit einiger Ärzte mit den Sterbehilfeorganisationen lässt Zweifel aufkommen, inwieweit hier wirklich unabhängige Gutachten erstellt werden. Besonders schwerwiegend sind unvollständige oder in sich widersprüchliche Dokumentationen dann, wenn sie auf mögliche Probleme mit dem Nachweis der Urteilsfähigkeit hinweisen. Nicht immer geht der Nachweis der Urteilsfähigkeit deutlich aus den Unterlagen hervor. Nicht in allen Fällen scheint zudem das Lebensende in Bezug zur geschilderten Grunderkrankung nah gewesen oder der Sterbewunsch lang anhaltend gewesen zu sein, wie es die SAMW-Richtlinien vorgeben. So wurde einer Frau, die angab, unerträgliche Schmerzen infolge einer Herpes-Zoster-Erkrankung erleiden zu müssen und jegliche Schmerz-Therapie abgelehnt hatte, vier Wochen nach Krankheitsbeginn beim Suizid assistiert; ebenso assistiert wurde einer Frau mit langjähriger Migräne, die laut Unterlagen jegliche Therapie verweigert hatte. Zum einen handelt es sich bei einer Migräne um keine tödliche Erkrankung, zum anderen erscheint das Zeitintervall von vier Wochen sehr kurz, um von einem langanhaltenden Sterbewunsch sprechen zu können, und die abgelehnte Therapie spricht gegen die Vorgabe der SAMW, die das Ausschöpfen der Therapiemöglichkeiten als wichtige Voraussetzung für eine ärztliche Unterstützung beim Suizid ansieht. Um die gesamte Entwicklung der letzten mehr als 30 Jahre des assistierten Suizids in der Schweiz verstehen und interpretieren zu können, wurde 2012 ein mehrjähriges Forschungsprojekt zu diesem Thema mit in das große Forschungsprogramm des Schweizerischen Nationalfonds NFP 67 Lebensende aufgenommen, da die Suizidhilfe in den letzten Jahren zu
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einem öffentlichen Thema geworden ist.22 Die hier im Text angesprochenen Problemkomplexe können bisher nur unbefriedigend gelöst werden. Das Forschungsprojekt hat u.a. zum Ziel, die besonders umstrittene Beihilfe zum Suizid bei z.B. psychisch Kranken, Menschen mit Behinderungen und polymorbiden älteren Menschen sowie Menschen ohne eine Diagnose einer terminalen Erkrankung im Endstadium kritisch zu beleuchten.23 Der zunehmende, sogenannte »Suizidtourismus« in die Schweiz, bei dem Menschen mit Wohnsitz im Ausland zum Sterben in die Schweiz reisen, ist laut Gauthier et al. (2014) eine Folge davon, dass Praktiken und Entscheidungen am Lebensende im mitteleuropäischen Kontext rechtspolitisch unterschiedlich beurteilt und rechtlich verschieden geregelt werden. In der Schweiz lässt sich gegenwärtig eine gesellschaftliche »Normalisierung« des Suizids beobachten, die mit Hilfe der Ergebnisse des Forschungsprojekts besser verstanden werden soll. Kennzeichen dieser Entwicklung ist einerseits die Infragestellung von staatlichem Lebensschutz und traditionellem ärztlichem Verhalten, das zum Teil als Paternalismus kritisiert wird, andererseits aber auch ein zunehmendes Interesse an der Suizidprävention. Im internationalen Vergleich ist die Suizidrate in der Schweiz relativ hoch. Und wie in anderen Ländern auch erreicht die Suizidrate in der Schweiz bei hochbetagten Menschen ein Maximum.24 »With regard to age, suicide rates are lowest in persons under 15 years of age and highest in those aged 70 years or older for both men and women in almost all regions of the world!«25
22 Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) (2012–2016): »NFP 67 Lebensende«. Zur Projektbeschreibung vgl. Bartsch (2012–2016). 23 Die Ergebnisse des AS-Projekts im NFP 67 Lebensende werden in Form des Abschlussberichts im Sommer 2016 beim SNF Schweizer National Fond (SNF) eingereicht. 24 Vgl. Steck et al. (2016): »With an age-standardised rate of 9.2 per 100 000 population, suicide is more common in Switzerland than in other European countries, for example Italy (5.0 per 100 000) or the UK (6.2 per 100 000).« 25 WHO (2014).
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L ITERATUR Bartsch, Christine (2012–2016): »Der Assistierte Suizid: Entwicklungen während der letzten 30 Jahre«. Laufendes Forschungsprojekt des SNF (2012–2016): NFP 67 Lebensende, Online: http://www.nfp67.ch/de/ projekte/modul-1-sterbeverlaeufe-und-versorgung/projekt-bartsch [16.01.2016]. Brunner, Andreas (2010): »Graubereiche in der Sterbehilfe«, in: Petermann (Hg.) (2010), 223–248. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Urteile: Urteil v. 29.04. 2002, Pretty vs. UK (Nr. 2346/02), Online: http://hudoc. echr.coe.int/eng?i=001-60448 [05.01.2016]. Urteil v. 20.01.2011, Haas vs. Schweiz (Nr. 31322/07), Online: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx#{%22dmdocnumb er%22:[%22880260%22],%22itemid%22:[%22001–102939%22]} [15.04.2015]. Urteil v. 14.05.2013, Gross vs. Schweiz (Nr. 67810/10), Online: http://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%2267810/10%22],% 22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CH AMBER%22],%22itemid%22:[%22001-146780%22]} [17.01.2016]. EXIT Vereinigung für humanes Sterben Deutsche Schweiz: Freitodbegleitung »Für wen kommt eine Begleitung in Frage?«, Online: https://www. exit.ch/freitodbegleitung/bedingungen/ [04.07.2016]. Gauthier, Saskia/Mausbach, Julian/Reisch, Thomas/Bartsch, Christine (2014): »Suicide tourism: a pilot study on a Swiss phenomenon«, in: Journal of Medical Ethics 41, 8 (2015), 611–617. doi: 10.1136/ medethics-2014-102091. Kanton Zürich (2007): Gesundheitsgesetz (GesG) vom 2. April 2007, LS 810.1, Online: http://www.zuepp.ch/fileadmin/user_upload/Psychothera pie/GesundheitsgesetzZH.pdf [15.04.2015]. Informationsplattform Humanrights.ch (2014): »Große Kammer hebt das Urteil im Fall Gross zur Suizidhilfe auf« (Stand 10.10.2014), Online: www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle-dok/ gross-schweiz [16.01.2016]. Ogden, Russel D./Hamilton, William K./Whitscher, Charles (2010): »Assisted suicide by oxygen deprivation with helium at a Swiss right-
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III. Lebensqualität am Lebensende. Lehren aus der Behindertenrechtsbewegung
Fragilität des Körpers Ein menschenwürdiges Leben durch persönliche Assistenz M ARIANNE H IRSCHBERG
1. E INLEITUNG Schwere Krankheiten, Beeinträchtigungen und Behinderungen werden im öffentlichen wie auch fachlichen Diskurs um Sterbehilfe immer wieder als Begründung benutzt, für die Ermöglichung des ärztlich assistierten Suizids zu plädieren – mit dem Argument, ein entsprechendes Leben sei letztlich »nicht menschenwürdig«. Doch Menschenwürde hat jeder Mensch, bzw. jedem Menschen wird Menschenwürde in den internationalen Menschenrechtsabkommen zugesprochen. Die Achtung der Menschenwürde hat den Stellenwert einer unhintergehbaren Prämisse aller moralischen und rechtlichen Verbindlichkeiten. Damit dies kein bloß abstraktes Postulat bleibt, muss die Achtung der Menschenwürde jedoch auf konkrete Lebenslagen bezogen und somit mit Leben gefüllt werden. Sie gilt für alle Menschen, auch für Menschen mit schweren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen. Mit Rückgriff auf die Disability Studies argumentiert dieser Beitrag, dass generell von der Fragilität des menschlichen Körpers auszugehen ist und jeder Mensch eine Beeinträchtigung im Laufe seines Lebens erwerben kann. Aus dieser Perspektive sind Beeinträchtigungen nicht die Ausnahme menschlicher Existenz, sondern die Regel und zudem Bestandteil der conditio humana. Dabei soll der Logik, dass ein Leben mit schweren Be-
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einträchtigungen und Krankheiten »menschenunwürdig« sei, der Boden entzogen werden. Damit Menschen den Respekt ihrer Würde tatsächlich erfahren können, bedarf es allerdings bestimmter Voraussetzungen. Der Begriff des »würdevollen« oder »menschenwürdigen« Lebens soll im Folgenden so verstanden werden, dass die für alle Menschen unbedingt vorauszusetzende Achtung der Menschenwürde in der Praxis auch erlebt werden kann. Es geht mir darum aufzuzeigen, dass mit einer individuellen persönlichen Assistenz ein in diesem Sinne »würdevolles Leben« mit chronischer Erkrankung oder Beeinträchtigung gelingen kann. Eine selbstverständliche Bereitstellung und Beanspruchung persönlicher Assistenz zur Gestaltung eines menschenwürdigen Lebens ist folglich – auch am Ende des Lebens – anzustreben und staatlich sowie von den verantwortlichen Instanzen zu verwirklichen.
2. M ENSCHENWÜRDE – M ENSCHENRECHTE Die Menschenwürde ist die normative Grundlage menschlichen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens.1 Ihre genaue Auslegung unterscheidet sich je nach Philosophie- und Rechtstradition, die Kerngedanken einer neuzeitlichen Idee der Menschenwürde gleichen einander jedoch: Die Achtung und Anerkennung eines jeden Lebens als gleichwertig und die Anerkennung des Existenzrechts eines jeden Menschen, wie sie beispielsweise Kant formuliert hat. Vielfach wird auch die Anerkennung von Menschen als Subjekte und nicht als Objekte betont sowie ihre Freiheit von Zwang und Willkür. In aktuellen Diskursen um Menschenwürde, vor allem im Zusammenhang mit schweren Beeinträchtigungen und dem Lebensende, wird Menschenwürde indes verengt auf körperliche und geistige Autonomie.2 Die Menschenwürde zu achten und zu schützen, ist staatliche Aufgabe, nicht nur laut Deutschem Grundgesetz, sondern auch gemäß der durch die Vertragsstaaten ratifizierten Menschenrechtsabkommen. Gemeinsam mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) bilden die ersten völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtspakte (1966) zu den wirt-
1
Vgl. Bielefeldt (2008).
2
Vgl. Gräfe (2012).
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schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (WSK-Pakt) sowie zu den bürgerlichen und politischen Rechten (Zivilpakt) die Internationale Charta für Menschenrechte. Darauf folgend wurden spezielle Übereinkommen verabschiedet: gegen rassistische Diskriminierung (1965), gegen Frauendiskriminierung (1979), gegen Folter (1984), zu Kinderrechten (1989), zu den Menschenrechten von Wanderarbeiter_innen und ihren Familien (1990), den Rechten behinderter Menschen (2006) und für den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (2006). In diesem Beitrag wird vorrangig auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen3 verwiesen, die seit dem 26.03.2009 deutsches Recht ist. Behinderung wird in der Behindertenrechtskonvention als Teil der menschlichen Vielfalt betrachtet. Hier sind besonders die folgenden Grundsätze zu beachten: »a) die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie 4
seiner Unabhängigkeit;« und »d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit;«
5
Als solche ist Behinderung wertzuschätzen, wie Degener als eines mehrerer Charakteristika des Menschenrechtsmodells von Behinderung expliziert: »Das menschenrechtliche Modell wertschätzt Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt.«6 Zudem garantierten der »extensive Menschenwürdebezug und der Diversitätsansatz (Artikel 3 [d]), dass alle Menschen mit Behinderungen als Rechtssubjekte anerkannt werden«.7 Mit Bezug zur Konvention führt sie aus, dass Beeinträchtigungen das menschliche Leben prägen und behinderte Menschen als gleichberechtigte Rechtssubjekte »Anspruch auf Berücksichtigung mit all ihren Lebenserfahrungen [haben], wenn es um die Entwicklung von Gerechtigkeitstheorien geht«.8 Menschen
3
Im Weiteren auch als Konvention oder BRK benannt.
4
Artikel 3 (a) BRK.
5
Artikel 3 (d) BRK.
6
Degener (2015), 64.
7
Ebd., 65.
8
Ebd.
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sind auch dann Träger_innen der Menschenrechte, wenn sie diese nicht selbständig ausüben können.9 Aus Menschenrechtsperspektive ist entscheidend, dass Menschen an der Ausübung ihrer Rechte nicht gehindert werden (weder aufgrund von Barrieren10 noch aufgrund kulturell-ethnischer Traditionen o.ä.11). Sofern Menschen aufgrund individueller Beeinträchtigungen, Gebrechlichkeit oder Pflegebedürftigkeit nicht selbständig handeln können, benötigen sie die für sie individuell angemessene persönliche (oder auch technische) Assistenz. Diese soll dann die Tätigkeiten übernehmen, die jeweils nicht eigenständig ausgeführt werden können.
3. P ERSÖNLICHE A SSISTENZ
ALS I NSTRUMENT ZU EINEM SELBSTBESTIMMTEN UND MENSCHENWÜRDIGEN L EBEN
Der Assistenzbegriff wurde von der Behindertenbewegung für die teilweise auch pflegerischen Hilfeleistungen geprägt, die beeinträchtigte Menschen zum Führen eines selbstbestimmten Lebens brauchen. »Assistenz hat nichts mit dem klassischen, bevormundenden Prinzip von ›Betreuung‹ zu tun, sondern mit Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensführung. Assistenz ersetzt unsere Arme und Beine.«12 Bei der Entwicklung des persönlichen Assistenzmodells ging es auch um eine Machtumkehr, wie Frehe anhand der Hilfestruktur des konventionellen Pflegesystems 1981 ausführt. Beeinträchtigten Menschen, die Pflege oder Unterstützung erhalten, sollten nicht mehr als Objekt, sondern als selbstbestimmende Subjekte behandelt werden.13 Im klassischen Hilfesystem können sie weder über »den Zeitpunkt, den Inhalt, die Struktur, den Ablauf und den Ort der Hilfe bestimmen und das Personal nicht selbst auswählen«.14
9
Vgl. von Bernstorff (2013); Bielefeldt (2011) und Levinas (2007), 97–99.
10 Vgl. Degener (2009). 11 Vgl. Bielefeldt (2007). 12 Ratzka (1988), 184. 13 Vgl. Frehe (1981). 14 Frehe (2008), 8.
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Hingegen stehen bei persönlicher Assistenz die selbstbestimmte bzw. autonome Entscheidung über das eigene Leben, die Alltagsgestaltung und die Ausführung der zu erhaltenden Assistenz im Vordergrund, die die Assistenznehmer_innen als beeinträchtigte Menschen im täglichen Leben benötigen. Persönliche Assistenz ist im Rahmen eines politischen Programms entwickelt worden, um ein selbstbestimmtes Leben bei Pflege- und Hilfebedürftigkeit zu verwirklichen. In den 1970er Jahren durch die Independent-Living-Bewegung in den USA erfunden und aufgegriffen durch die deutsche Behindertenbewegung, hat die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL), ein Zusammenschluss von Organisationen behinderter Menschen, 1991 in zwei Resolutionen dargelegt, dass sie den »Aufbau und Erhalt von Einrichtungen« ablehnen, die »behinderte Menschen durch Aussonderung diskriminieren oder durch ihre Angebote in besondere Abhängigkeit bringen und halten«.15 Zu den Zielen, zu deren Verwirklichung persönliche Assistenz beitragen soll, gehören gleiche Chancen und Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilnahme, wie nichtbeeinträchtigte Menschen haben, die Kontrolle über Dienstleistungen, die Emanzipation von konkreten Zwängen und die Beseitigung von diese Zwänge ausübenden Institutionen, der Zugang zu Ressourcen (wie beispielsweise Nahrung, Kleidung, Wohnraum u.a.) sowie Möglichkeiten, Selbstbestimmung und Emanzipation im Sinne eines Bewusstseinsbildungsprozesses zu erlernen.16 In Abgrenzung zu konventioneller Pflege ist persönliche Assistenz durch ein grundlegend anderes Verständnis von Professionalität charakterisiert, da die pflegebedürftige Person als Assistenznehmer_in wesentlich mehr Rechte hat als in der konventionellen Pflege.17 Die Assistenznehmer_in entscheidet eigenständig über bzw. ist verantwortlich für den Prozess der Pflege; hingegen ist es die Aufgabe der Assistenzgeber_in bzw. Assistent_in, »sich zeitweise partiell zurückzunehmen und die erbetene Hilfe so gut wie möglich zu erbringen«.18
15 Miles-Paul (1992), 153. 16 Vgl. Zander (2015), 57–58; Miles-Paul (1992), 152. 17 Vgl. Zander (2015), 57–59. 18 Ebd., 58.
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Alle Menschen mit Beeinträchtigungen können persönliche Assistenz beantragen unabhängig von Alter, Migrationshintergrund, Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion oder Weltanschauung19 und auch sozialer Herkunft bzw. Klasse, die allerdings im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nicht aufgeführt wird.20 Zander legt in seiner qualitativen Studie fundiert dar, dass der Ansatz der persönlichen Assistenz auch auf pflegebedürftige und ältere Menschen übertragbar ist.21 Er expliziert, dass persönliche Assistenz nicht ausschließlich für die Personengruppe behinderter Menschen mit körperlichen, Sinnes- oder geistigen Beeinträchtigungen nützlich ist, sondern gleichfalls für pflegebedürftige Menschen jeglichen Alters, und konkretisiert dies für ältere gebrechliche bzw. pflegebedürftige und altersdemente Menschen. Auch wenn Menschen nicht alle Tätigkeiten in ihrem Alltag unabhängig ausführen, können sie bestimmen, wobei und wie sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Wie von Mitgliedern der Behindertenbewegung immer wieder bekräftigt wurde, ist es auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen möglich, mit persönlicher Assistenz im eigenen Wohnraum zu leben.22 Diese benötigen ggf. mehr Unterstützung,
19 Vgl. die Differenzkategorien des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) (2006). 20 Beantragt werden können Leistungen zur persönlichen Assistenz über das Sozialgesetzbuch IX zu Rehabilitation und Teilhabe, sowie über das SGB XII zu Sozialhilfe (vgl. § 17 SGB IX, § 61 SGB XII). Gesetzlich geregelt ist jedoch bisher nur die Arbeitsassistenz über § 33 SGB IX, alle Regelungen zur persönlichen Assistenz jenseits der Arbeitstätigkeit sind bisher in untergesetzlichen Vereinbarungen auf Landesebene verankert. Zwar hebt die Bundesregierung im an der BRK orientierten Teilhabebericht zu den Lebenslagen behinderter Menschen die positive Funktion der persönlichen Assistenz hervor (BMAS [2013], 169– 170), jedoch sind Leistungen der persönlichen Assistenz »weder flächendeckend noch bedarfsgerecht ausgebaut«, wie der wissenschaftliche Beirat des Berichts kritisiert (Ebd., 79). Es gibt bisher noch keine statistischen Erhebungen, in welchem Umfang persönliche Assistenz bundesweit in Anspruch genommen wird (vgl. Ebd., 324 und die Stellungnahme von ISL zum Entwurf eines 2. Gesetzes zur pflegerischen Versorgung vom 9.07.2015). 21 Vgl. Zander (2015). 22 Vgl. ausführlich Vernaldi (2015); Zander (2007).
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ihre Bedürfnisse zu artikulieren oder auch Möglichkeiten zu entwickeln, den eigenen Alltag zu strukturieren. Um diesen Unterschied zu bezeichnen, wird die von den Assistent_innen geleistete Arbeit nicht als »Assistenz«, sondern als »Unterstützung« bezeichnet.23 Die Unterstützungstätigkeit ist weniger darauf fokussiert, Tätigkeiten auszuführen, sondern auch mitzudenken – jedoch immer in der unterstützenden und nicht bevormundenden Funktion. Die Assistenztätigkeit, umfasst folglich eine Bandbreite an Einsatzvarianten: Die Selbstbestimmung der Assistenz erhaltenen Person ist zu beachten, selbst wenn das Unterstützungsausmaß wächst. Die hieraus resultierenden Herausforderungen sind in der jeweiligen Situation auszuloten in Relation zu den Bedürfnissen der Assistenznehmer_innen, ihren jeweiligen chronischen Erkrankungen, Beeinträchtigungen oder Behinderungen und ihrer Lebenssituation. Hinsichtlich des Alterns und der Lebenssituation älterer Menschen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2002 Rahmenbedingungen und Vorschläge für politisches Handeln entwickelt, die Autonomie ähnlich fassen wie in den Resolutionen der ISL. So definiert sie Autonomie als »die Fähigkeit, die für das Alltagsleben notwendigen persönlichen Entscheidungen zu treffen, sie zu kontrollieren und mit ihnen umzugehen, und zwar im Rahmen der persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen«.24 Dementsprechend können beeinträchtigte oder auch altersgebrechliche Menschen autonom oder selbstbestimmt entscheiden, was ihnen wichtig ist, auch wenn sie für Tätigkeiten im Alltag Unterstützung durch Assistenzkräfte benötigen. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet Autonomie von Unabhängigkeit, indem sie letztere wie folgt definiert: »Unabhängigkeit ist die Fähigkeit, die für das tägliche Leben notwendigen Funktionen auszuführen, also etwa alleine innerhalb der Gemeinschaft zu wohnen, und dabei die Hilfe anderer nicht oder nur in geringem Umfang in Anspruch zu nehmen.«25
23 Vgl. Zander (2007). 24 WHO (2002), 13. 25 Ebd., 13.
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4. F RAGILITÄT DES K ÖRPERS – G ESUNDHEIT , K RANKHEIT UND B EEINTRÄCHTIGUNG ALS S PEKTRUM Behinderung, wie auch chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit, wurden traditionell als besondere Kategorie, als Abweichung vom Normalzustand eines funktionierenden Körpers, konstruiert. So hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Behinderungsklassifikation Funktionsfähigkeit als normales Pendant zu Behinderung gesetzt.26 Diese Dichotomie wird der komplexen Wirklichkeit der Menschen nicht gerecht. Zudem ist es wichtig, Beeinträchtigung und Behinderung präzise zu unterscheiden. So wird in der UN-Behindertenrechtskonvention von einer Beeinträchtigung gesprochen, die erst in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Barrieren zu einer Behinderung führen kann: »Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.«27
Gemäß des World Report on Disability der WHO haben so gut wie alle Menschen zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens eine Beeinträchtigung, chronische Erkrankung oder Störung: »Disability is part of the human condition. Almost everyone will be temporarily or permanently impaired at some point in life, and those who survive to old age will experience increasing difficulties in functioning.«28 Ähnlich wie das Menschenrechtsprinzip verdeutlicht, Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt anzusehen,29 betonen WHO und Weltbank, dass Behinderung ein menschliches Charakteristikum ist, das nahezu jeder Mensch im Laufe seines Lebens erwerben kann. Daher sind Menschen nur als zeitweilig oder momentan nicht-behindert temporarily or momentarily able-bodied (TAB/MAB) – zu betrachten. Das betonte Irving Kenneth 26 Vgl. WHO (2001). 27 Artikel 1 Uabs. 2 BRK. 28 WHO/Weltbank (2011), 261. 29 Vgl. Artikel 3 (d) BRK.
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Zola, einer der Begründer der Disability Studies, bereits 1993 in seinem Artikel im Journal Social Science and Medicine mit Bezug zur internationalen sozialwissenschaftlichen und medizinsoziologischen Diskussion.30 Menschen fühlen Schmerzen, sind verletzbar und auf andere angewiesen – ob sie sich z.B. das Bein gebrochen, Brustkrebs oder eine Depression haben oder blind sind.31 Schmerz ist eine charakteristische menschliche Erfahrung, unabhängig davon, ob die Betroffenen zeitweilig (oder chronisch) erkrankt, beeinträchtigt, behindert oder nicht-behindert sind.32 Dies zeigt, dass konzeptionell von einer großen Bandbreite von Beeinträchtigungen auszugehen ist und einem Spektrum zwischen Gesundheit und Gesundheitsstörungen bzw. Krankheiten oder zwischen unterschiedlichen Funktionsfähigkeiten und Behinderungen. Diese Perspektive ersetzt die frühere Perspektive einer Dichotomie zwischen Normalität und Abweichung (Gesundheit – Krankheit, Behinderung – Nichtbehinderung).33 Die Konzeptionalisierung des fragilen Körpers ermöglicht es, sich von der Konzeption von Normalität als Funktionsfähigkeit zu lösen. Statt eines funktionsfähigen Körpers als Normalität sind Verletzlichkeit und Abhängigkeit Charakteristika jedes Menschen.34 Das Konzept des fragilen Körpers verweist auf die immer bestehende Potenzialität, eine Beeinträchtigung zu erwerben oder chronisch zu erkranken. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass Beeinträchtigungen oder chronische Erkrankungen nicht nur nicht vermeidbar sind, sondern eher als selbstverständlich zu fassen sind, geht dies mit einer neuen Perspektive einher. Die Konsequenz daraus ist, von der Interdependenz aller auszugehen, dass Menschen grundsätzlich von der Unterstützung anderer abhängig sind.
30 Vgl. zur Diskussion in Disability Studies und Medical Sociology Thomas (2007); Davis (2002) und Tervooren (2003); zum Risiko, krank oder behindert zu werden vgl. auch Badura et al. (2010). 31 Vgl. die aktuellen Studien der DAK und der Techniker Krankenkasse (2014). Zu den häufigsten Krankheiten von Arbeitnehmer_innen gehören demnach Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, Atemwegs- und psychische Erkrankungen – letztere seit Jahren steigend (vgl. DAK [2014], 25). 32 Vgl. Good et al. (1992); Nussbaum (2010). 33 Vgl. auch Hirschberg (2009) mit Verweis auf die Normalismustheorie Jürgen Links (1999). 34 Vgl. Davis (2002).
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Die Anerkennung der Tatsache, nur zeitweilig im Leben nicht-behindert zu sein,35 bedeutet, die Notwendigkeit, Assistenz zu erhalten, als gewöhnlich aufzufassen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene folgt daraus, dass bei der Betrachtung von Behinderung nicht mehr die individuelle Beeinträchtigung, sondern der Abbau der gesellschaftlichen Barrieren und die Bereitstellung von ambulanter Assistenz und Unterstützung im Fokus stehen sollte. Beeinträchtigungen oder chronische Erkrankungen wären somit nicht mehr als ungewöhnliches Phänomen, als Abweichung einer als normal konstruierten Funktionsfähigkeit, zu erachten, sondern als üblich – als Regel. Diese neue Perspektive auf den Körper als fragil, auf die damit verbundene Verletzlichkeit des Menschen, verändert auch die Perspektive auf den Menschen an sich in seiner Grundkonstitution.
5. S CHLUSSFOLGERUNGEN
UND
E MPFEHLUNGEN
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein menschenwürdiges Leben unabhängig von chronischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen durch den Staat zu garantieren ist. Diese Verpflichtung besteht nicht nur über das Grundgesetz, sondern ist durch die Behindertenrechtskonvention für die Lebenslagen behinderter Menschen konkretisiert. Damit behinderte und pflegebedürftige Menschen menschenwürdig leben können, müssen angemessene Vorkehrungen bereitgestellt werden, beispielsweise technische oder persönliche Assistenz.36 Mit persönlicher Assistenz kann ein behinderter, chronisch kranker oder auch im höheren Lebensalter gebrechlicher Mensch autonom entscheiden, von wem, wo, zu welchem Zeitpunkt und wie er unterstützt werden möchte – dies muss im konkreten Arbeitsverhältnis zwischen Assistenznehmer_in und Assistent_in ausgelotet werden. Eine Beeinträchtigung oder chronische Erkrankung schließt insofern keineswegs aus, dass die Betroffenen ihr Leben als menschenwürdig erfahren. Ähnliches gilt für hohes Lebensalter oder die letzte Lebensphase – auch wenn dies in der Debatte um ärztlich assistierten Suizid oft anders dargestellt wird. Wenn Menschen Suizidassistenz wünschen, kann dies auch daran
35 S.o., temporarily able-bodied, vgl. Zola (1993). 36 Vgl. Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 19 BRK.
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liegen, dass sie unter Stigmatisierungen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen leiden. Daher wäre es sinnvoll, bewusstseinsbildende Maßnahmen (gemäß Artikel 8 BRK) in Verbindung mit dem Recht auf Leben (Artikel 10 BRK) zu entwickeln und durchzuführen. Hierdurch könnten die Anerkennung beeinträchtigter und pflegebedürftiger Menschen erhöht und Stigmatisierungen oder Diskriminierungen reduziert werden. Dies könnte entscheidend zur Lebensqualität und Teilhabe beeinträchtigter Menschen beitragen. Da jeder Mensch in seinem Leben eine Beeinträchtigung erwerben kann, ist dafür zu plädieren, von der Fragilität und Vulnerabilität jedes Körpers auszugehen. Diese Perspektive vermittelt, alle die Gesundheit betreffenden Charakteristika eines Menschen im Verhältnis zu seiner psycho-sozialen Umwelt heranzuziehen, um die jeweilige Lebenssituation mit einer chronischen Krankheit oder Beeinträchtigung zu beurteilen, die notwendige Unterstützung individuell zu ermitteln und bereitzustellen. Auch für die Partizipation im Gesundheitssystem ist es erforderlich, die Lebenslagen eines Menschen umfassend zu beachten. Mit der Konzeption des fragilen Körpers könnten eine differenzierte Entwicklung von Gesundheitsförderungsprogrammen und eine detaillierte, verbesserte Verteilung von Gesundheitsleistungen und Leistungen zur Förderung einer selbstbestimmten Lebensführung einhergehen.37 Diese Leistungserbringung ist vorrangig vor finanzpolitischen Einschränkungen, die beeinträchtigte, chronisch kranke und Menschen in der letzten Lebensphase häufig als erste betreffen.38 Grundsätzlich ist zu bedenken, dass jedem Menschen Beeinträchtigungen widerfahren können. Statistisch betrachtet ist dies mit hohem Lebensalter sogar wahrscheinlich. Demgemäß sollte persönliche Assistenz nicht als Ausnahme, sondern flächendeckend und standardisiert angeboten werden, um allen Menschen ein menschenwürdiges Leben im gesamten Lebenszyklus zu gewährleisten.
37 Vgl. Artikel 19 und 25 BRK. 38 Vgl. EFC (2012).
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Überraschende Erfahrung von Lebensqualität E IN I NTERVIEW
MIT
D INAH R ADTKE
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INTERVIEWER: Frau Radtke, Sie haben auf unserer Tagung zu »Autonomie und Menschenrechten am Lebensende« sich engagiert zur Lebensqualität von schwerbehinderten, auf medizinisch-technische Apparate dauerhaft angewiesene Menschen positioniert. Sie richten sich gegen die gegenwärtige Tendenz, das Lebensende mit schweren Beeinträchtigungen, im Rollstuhl, mit Beatmungsgerät, künstlicher Ernährung, Tracheostoma als nicht des Lebens »wert« zu anzusehen. Als Frau, die selbst seit ihrer frühen Jugend mit zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen aufgrund einer spinalen Muskelatrophie zurechtkommen muss, können Sie da aus eigener Erfahrung sprechen. Ihr jahrzehntelanges Engagement für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen hat Sie aber auch mit den Erfahrungen vieler anderer Menschen vertraut gemacht. Angeregt durch die »Independent Living«-Bewegung der 1980er Jahre haben Sie zusammen mit anderen das »Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. (ZSL)« in Erlangen und dann den bundesweiten Dachverband solcher Zentren, die »Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL)« mitgegründet. Sie waren Vizepräsidentin von »Disabled Peoples International« und als solche am Vorbereitungsprozess der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) beteiligt.
1
Das Interview führten Caroline Welsh und Heiner Bielefeldt am 30. Mai 2016.
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Nun gibt es sicherlich große Unterschiede zwischen Menschen in der letzten Lebensphase und (anderen) Menschen mit körperlichen, Sinnesoder geistigen Behinderungen. Erstere mögen wissen, dass ihr Leben sich dem Ende neigt, Sterben und Tod nicht mehr allzu weit entfernt sind; sie können auf ihr Leben zurückblicken, es in der Erinnerung wieder aufleben lassen. Menschen mit Behinderungen hingegen befinden sich mitten im Leben. Sie stehen vor der Herausforderung, mit ihrer Behinderung ein Leben zu leben, als Kind und Erwachsener, mit oder ohne Erwerbstätigkeit ebenso wie alleinstehend, in der Partnerschaft oder mit Familie. Dennoch haben Sie mit Ihrer Stellungnahme deutlich gemacht, dass die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen Wichtiges zur Frage nach einem selbstbestimmten Leben am Lebensende beitragen können. Sie setzen der verbreiteten Angst vor einem Leben mit technischen Hilfsmitteln die für viele überraschende Erfahrung von Lebensqualität trotz schwerer Beeinträchtigung entgegen. Könnten Sie dies bitte noch einmal ausführen? DINAH RADTKE: Ja, es ist oft überraschend für andere, wenn schwerbehinderte Menschen oder chronisch Kranke sagen, dass sie Lebensqualität haben und dass sie gerne leben. Für nichtbehinderte Menschen ist das schwer oder gar nicht vorstellbar. Unsere Gesellschaft ist auf Normen, wie Leistungsfähigkeit, Jugend, Schönheit, Sportlichkeit ausgerichtet. Menschen mit Behinderung, gar mit einer schweren Behinderung, passen nicht in diese schöne Leistungs-, Fitness-, Freizeit-, Urlaubswelt. Ein Leben mit Tracheostoma, künstlicher Ernährung oder technischen Hilfsmitteln ist für die meisten Menschen erst recht nicht vorstellbar – ganz zu schweigen von Lebensqualität, die wird oft abgestritten. Zwar wird ein Rollstuhl oder Elektrorollstuhl als Hilfsmittel anerkannt, dasselbe gilt auch für Hörgeräte. Brillen werden nicht einmal mehr als Hilfsmittel wahrgenommen. Ganz anders ist es mit Beatmungsgerät und Sprachcomputer. Aber auch unter solchen Bedingungen können Menschen gern leben. Es geht nicht nur um das schiere Überleben, sondern darum, das eigene Leben bewusst zu gestalten, es bewusst zu leben, es selbstbestimmt zu leben, auch wenn man gleichzeitig von fremder Hilfe abhängig ist, vierundzwanzig Stunden am Tag. Von Außenstehenden wird immer nur Leiden vorausgesetzt und Leiden gesehen, selbst wenn gerade nicht »gelitten« wird. Dabei gehören Leiden und Trauer natürlich zum Leben dazu, und dasselbe gilt auch für das Trauern über den Verlust von Fähigkeiten. Eigentlich muss man sich als schwerbehinderter
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Mensch rechtfertigen, wenn man sagt: »ich lebe gerne«. Dann heißt es, trotz der schweren Behinderung ist sie oder er ein fröhlicher Mensch. Aber warum auch nicht? Glauben Sie, dass eine stärkere Präsenz von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft dazu beitragen könnte, die Ängste vor einem Leben mit mechanischen Hilfsmitteln auch am Lebensende abzubauen? Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen mitten in der Gesellschaft leben. Sie verändern den Blick auch der anderen. Menschen, die mit großen Beeinträchtigungen ihr Leben gestalten, machen Mut, um das eigene Leben zu kämpfen. Sie zeigen, dass es durchaus möglich ist, Lebensqualität auch in Situationen von schwerer Beeinträchtigung aufrecht zu erhalten. Niemand weiß, wie lange ein Leben dauert, selbst ein sogenanntes »finales Stadium« kann Jahre dauern. Deshalb ist es wichtig, sich Perspektiven zu schaffen, sich das Leben in seiner Eingeschränktheit so angenehm wie möglich zu machen. Auch eingeschränkt durch medizinische Hilfsmittel und in völliger Abhängigkeit von Hilfe, ist es möglich am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, wenn man es möchte. Dafür gibt es beeindruckende Vorbilder. Frauen und Männer, die mit großen Einschränkungen leben und beweisen, wie lebenswert das Leben für sie ist. Oliver Jühnke, beispielsweise, dem zwar aufgrund seiner ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) als verbale Kommunikationsmöglichkeit nur die Verständigung über den Sprachcomputer bleibt, der aber dennoch (ebenso wie übrigens Steven Hawkins) Vorträge hält, auf Kongresse geht, viel herumreist – mit einem Team von mindestens zwei Assistenten. Oder mein Freund Kalle, ein ehemaliger Stadtrat in Helsinki, Begründer der »Selbstbestimmt LebenBewegung« in Finnland und langjähriger Weltvorsitzender von Disabled Peoples‘ International. Auf einer gemeinsamen Reise nach Prag konnte ich die Reaktionen der anderen beobachten, als dieser elegant gekleidete Herr im Rollstuhl während eines offiziellen Gesprächs ganz selbstverständlich sein Beatmungsgerät an sein Tracheostoma anschloss – mit einem alten Schlauch und einem etwas mitgenommenem Gummihandschuh [sie lacht]. Die Reaktionen des Ministers zeugten nicht nur von Überraschung und Befremden, sondern auch von Respekt. Glücklicherweise gibt es auch der größeren Öffentlichkeit bekanntere Politiker mit sichtbarer Behinderung
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wie z.B. Wolfgang Schäuble und Malu Dreyer. Vorbilder sind wichtig, um die Scheu vor großen Beeinträchtigungen zu nehmen und um eigene Lebensperspektiven entwickeln zu können. Nach wie vor ist eine schwere Behinderung immer noch sehr negativ behaftet – und das, obwohl die Behindertenbewegung in den letzten Jahrzehnten vehement ihre Rechte, die Umsetzung ihrer Menschenrechte und die rechtliche Gleichstellung eingefordert hat. Es gibt einen Film mit dem Titel »Hin und Weg« (Regie: Christian Zübert, D 2014); er handelt von einem Mann, der die Diagnose ALS erhalten hat. Auf einer von ihm organisierten Fahrradtour von Frankfurt am Main nach Ostende erfahren seine Freunde, dass er Belgien als Ziel gewählt hat, weil er vorhat, sich dort von einem Arzt töten zu lassen, bevor die Erkrankung richtig ausbricht. Die Aussage des Films ist, dass ein Leben mit dieser Krankheit nicht lebenswert ist, ja dass ein solches Leben so unerträglich wäre, dass es besser ist, sich zuvor umzubringen. Für mich war das sehr schrecklich zu sehen. Bei der Produktion von populären, auf Mitleid ausgerichteten Filmen zur Sterbehilfe-Debatte wird wahrscheinlich gar nicht bedacht, dass nicht wenige Menschen mit schwierigen Situationen, die ausgewählt werden, um Sterbehilfe als humane Notwendigkeit darzustellen, durchaus versuchen, mit solchen Situationen zurecht zu kommen – und zwar oft, wie Sie bereits sagten, mit einer auch für sie selbst vielleicht überraschenden Erfahrung von Lebensqualität. Solche Filme spiegeln gesellschaftliche Vorurteile zur Lebensqualität eines Lebens mit Behinderungen nicht allein wider, sondern verfestigen sie auch, bewerten ein solches Leben. Wer darf das von außen bewerten? Ich finde es gefährlich, wenn solche Filme ins Mainstream-Kino kommen. Welche Folgen hat das für die Akzeptanz von sehr schwer behinderten oder kranken Menschen? Dabei gibt es – gerade auch bei Menschen mit ALS – beeindruckende Vorbilder, sogar einen Verein, dessen Ziel die Beratung und Unterstützung von Betroffenen, u.a. bei Ansprüchen gegenüber den Sozialversicherungsträgern, in Fragen der Mobilität und bei der Neugestaltung persönlicher Lebenskonzepte ist. Auf ihrer Homepage2 gibt es auch viele Erfahrungsberichte, die zeigen, wie lebenswert und autonom das Leben mit ALS sein kann.
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Vgl. http://www.als-mobil.de.
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Es wäre sicher gut, wenn behinderte Frauen und Männer auch in Filmen stärker präsent wären. Filme wie »Hin und Weg« scheinen hingegen mit ihrem Plädoyer für einen frühzeitigen Lebensabbruch eher unterschwellig etwas über die Einstellung der Gesellschaft zu Behinderten sichtbar zu machen. An solchen Beispielen der Zuschreibung einer nicht lebenswerten Lebensphase von außen wird deutlich, wie doppeldeutig die Einstellung der Gesellschaft zu behinderten Menschen ist. Wir behinderten Menschen werden immer als mit einem Defizit behaftet angesehen, der wichtige Beitrag, den wir für die Allgemeinheit leisten, wird nicht gesehen. Die allgemeinen Grundsätze der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterstreichen die Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde, vor seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, aber auch die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit. Einerseits will man also, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am Leben in der Gesellschaft teilnehmen, andererseits ist dieselbe Gesellschaft behindertenfeindlich, beispielsweise dort, wo sie die Diagnose einer Behinderung als plausiblen Grund für den Wunsch nach ärztlich assistiertem Suizid oder, wie in dem genannten Fall, nach Tötung auf Verlangen anführt, ja als Argument für deren gesetzgeberische Ermöglichung verwendet. Diese Doppeldeutigkeit zeigt sich aber auch in anderen Bereichen, etwa dort, wo schwangeren Frauen nach Vorsorgeuntersuchungen nahegelegt wird, ihr mit großer Wahrscheinlichkeit behindertes Kind abzutreiben. Es ist ein Dilemma, das moderne medizinische Diagnosemöglichkeiten insbesondere den betroffenen Frauen auferlegt. Die Verantwortung bleibt bei den Frauen; unabhängig davon, wie sie sich entscheiden, bleibt eine Schuld: wenn sie das Kind austragen, gerät es ihnen womöglich zum lebenslangen Vorwurf seitens ihres Umfeldes; wenn sie abtreiben, müssen sie sich mit inneren Schuldgefühlen auseinandersetzen. Behinderung ist für mich ein ganz normaler Faktor im Leben, auch Behinderung gehört zum Leben dazu. Es ist nichts Außergewöhnliches, behindert zu sein. Erst die Bedingungen machen uns zu etwas Ungewöhnlichem, zu einem »Störfaktor«, wenn wir z.B. ausgeschlossen vom Leben der Gemeinschaft sind, nicht teilhaben können, aber dabei sein wollen. Die
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Inklusion in die Gesellschaft sollte besser klappen. Davon würde auch die Gesellschaft als Ganzes profitieren. Durch das Prinzip der Inklusion könnte die Gesellschaft ein kritischeres Verhältnis zu dem entwickeln, was »normal« bzw. »unnormal« ist, was zugleich ein Beitrag zur Humanisierung der gesamten Gesellschaft wäre. Es fällt auf, dass in der UN-Behindertenrechtskonvention der Anspruch der Inklusion systematisch mit dem Respekt vor der Autonomie der Menschen verschränkt ist. Der Begriff der Autonomie kommt erstaunlicherweise in keinem internationalen Menschenrechtsdokument auch nur annähernd so häufig und gewichtig vor wie in der Behindertenrechtskonvention. Warum ist er für Sie wichtig? Ich möchte hier einen der Begründer der »Independent Living«-Bewegung, Dr. Adolf Ratzka, zitieren, der seit über 50 Jahren mit maschineller Beatmung lebt: »Independent Living bedeutet nicht, dass wir alles selbst machen wollen, niemanden brauchen oder es uns gefällt, in Isolation zu leben. Independent Living bedeutet, dass wir die gleichen Chancen fordern und die gleiche Kontrolle über unseren Alltag, die unsere nichtbehinderten Brüder und Schwestern, Nachbarn und Freunde für selbstverständlich halten. Wir wollen aufwachsen in unseren Familien, auf die Schule in der Nachbarschaft gehen, den gleichen Bus nutzen wie unsere Nachbarn und in Jobs arbeiten, die im Einklang mit unserer Bildung und unseren Interessen sind. Wir sind zutiefst gewöhnliche Menschen mit dem gleichen Bedürfnis, uns einbezogen, anerkannt und geliebt zu fühlen«.3 Und er sagt auch: »Ich habe mich nun einmal dazu entschlossen, mein Leben so lange und so gut es geht auszunützen. Es ist eine einmalige Chance, aus der ich das Beste machen möchte. Da wäre es töricht von mir, mich von ein paar neugierigen Blicken Fremder stören zu lassen.«4 Das war auch unser Ziel bei der Gründung des »Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V.« in Erlangen. Wir wollten Menschen dabei behilflich sein, diese Form der Selbstbestimmung mit Hilfe von persönlichen Assistenzkräften umzusetzen. Wir wollten keine Fachkräfte, weil wir die Art der Versorgung selbstständig gestalten wollten, die nötig
3
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Independent_living [13.06.2016].
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Zitat aus einer E-Mail vom 20.04.2015 an Dinah Radtke.
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ist, um selbstbestimmt innerhalb der Gesellschaft und nicht an ihren Rändern Leben zu können. Wir wollten ganz schlicht jemanden, der uns die Arme und Beine ersetzt. Das kann nicht der Partner oder die Partnerin sein, auch Eltern und Kinder können diese Aufgabe nicht auf Dauer allein tragen. Allerdings gibt es Fälle wo auch Fachkräfte eingesetzt werden müssen, wenn Behandlungspflege, wie z.B. bei maschineller Beatmung, durchgeführt wird. Doch auch Fachkräfte können sich dem Prinzip der »persönlichen Assistenz« unterordnen. Es gibt aber immer noch ungelöste Konflikte mit dem MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen), dessen Vorstellungen von Kontrolle und Verantwortung nicht den unsrigen entsprechen. Die verpflichtende regelmäßige Kontrolle und Dokumentation von Körperfunktionen und Flüssigkeitszufuhr beispielsweise passt nicht zum Konzept eines selbstbestimmten Lebens mit persönlicher Assistenz. Es geht niemanden etwas an, wieviel ich wann trinke und wie oft und in welchem Abstand ich auf die Toilette gehe. Wenn das Leben plötzlich durch schwere Krankheit oder Behinderung umorganisiert werden muss und man Pflege bzw. Assistenz nicht selbst finanzieren kann, müssen Anträge bei den zuständigen Sozialversicherungsträgern und Sozialleistungsträgern gestellt werden. Die Durchsetzung der Finanzierung von persönlicher Assistenz, sei es durch einen Pflegedienst oder in Eigenregie, als behinderter Arbeitgeber/behinderte Arbeitgeberin oder durch persönliches Budget, erweist sich oft als sehr schwierig. Auch barrierefreier Wohnraum ist nicht leicht zu bekommen. Die Bearbeitungszeiträume von Behörden sind sehr lang und erfordern viel Durchhaltevermögen der Betroffenen, auch wenn die Anträge gut begründet sind und ein Rechtsanspruch besteht. Es bedeutet viel Aufwand, wenn man ein neues Leben organisieren muss. Ich würde mir wünschen, dass in solchen Situationen die jeweilige Anlaufstelle nicht außerdem noch abwehrend reagiert und damit zusätzlich alles noch schwieriger macht. Ein klares: »Ja, sie haben Anspruch und sie bekommen das jetzt« wäre schön – aber so geschieht es leider in den meisten Fällen meiner Erfahrung nach nicht. In der Praxis läuft es eher so, dass man zunächst eine Ablehnung erhält, gegen die man dann Widerspruch mit guten Begründungen einlegen muss, um die notwendige Finanzierung irgendwann hoffentlich zu bekommen. Organisationen wie die Zentren für Selbstbestimmtes Leben können in solchen Situationen als Anlaufstelle dienen. Sie schreiben Anträge und leisten Beratung und Unterstützung. Was aber fehlt, ist eine umfassende Organisation, ein
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Case-Manager, der sich um die Wohnungssuche, die Finanzierung und Organisation der Pflege bzw. Assistenz, je nach dem spezifischen Bedarf des einzelnen kümmert. Amtliche Betreuer, Angehörige, Partner, Eltern, Kinder sind da oft überfordert. Beziehungen scheitern nicht an der Behinderung selbst, sondern daran, dass die Partner Aufgaben übernehmen müssen, die mit der Beziehung in Konflikt geraten – wenn man sich als Paar gerade gestritten hat und etwas Distanz braucht, kann man dem Anderen nicht den Popo abwischen. Begriffe wie Autonomie und informed consent haben sich weitgehend durchgesetzt. Können diese Begriffe nicht aber auch eine problematische Signalwirkung entfalten? Klingt »Autonomie« nicht oft eher wie »Du musst allein klar kommen«? Selbstbestimmung im Krankenhaus – ich glaube nicht daran. »Informed consent« funktioniert meiner Erfahrung nach in der Praxis nicht. Man ist darauf angewiesen, auf einen Arzt, eine Ärztin zu treffen, die sich einfühlen kann, die Regel ist es nicht. In der Klinik ergibt sich doch immer wieder die Situation, dass man zu dem ›überredet‹ wird, was ärztlicherseits indiziert erscheint. Obwohl ich das eigentlich nicht wollte, habe ich vor einiger Zeit einer umfassenderen OP zugestimmt als eigentlich nötig war. Dabei war es aber nicht so, dass mich die Ärzte mit ihren Argumenten schließlich überzeugt hätten. Ich habe nicht aus Überzeugung zugestimmt, sondern weil ich dem ärztlichen Druck in dieser Situation, in der ich doch sehr von den Ärzten abhängig war, nicht mehr standhalten konnte. Da scheint es in der Tat an der nötigen Kommunikationskultur gefehlt zu haben. Brauchen wir nicht mehr ärztliche Förderung der Selbstbestimmungsfähigkeit, die über die Aufklärung über die medizinische Notwendigkeit des Eingriffs mit dem Ziel eines »informed consent« hinausgeht? Gespräche etwa, welche die subjektiven Befindlichkeiten und Wertepräferenzen des Betroffenen mitberücksichtigen? Ich denke, wir brauchen Ärzte und Ärztinnen, die einem beratend zur Seite stehen, auch durchaus mit einem fürsorglichen Aspekt, und die die Entscheidungsfindung der Patienten/Patientinnen unterstützen. Solche Ärzte/ Ärztinnen gibt es durchaus, doch die Kliniksituation mit Stress, Abrech-
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nungsmodalitäten und Zeitmangel erschwert diese notwendige Art der Kommunikation und Unterstützung. Frau Radtke, als Vizepräsidentin der Menschenrechtsorganisation »Disabled Peoples International« haben Sie auch an den Verhandlungen zur Konvention der Vereinten Nationen (UN) über die Rechte behinderter Menschen teilgenommen. Welche Erfahrungen haben Sie mit der Konvention gemacht? Was ist gut gelungen, woran hapert es noch? Die Behindertenbewegung hat durch die Arbeit an der Behindertenrechtskonvention (BRK) der UN weltweit einen riesigen Schritt vorwärts gemacht; die Zusammenarbeit und die Netzwerkarbeit der Organisationen behinderter Menschen haben zugenommen und auch das Selbstbewusstsein. Die Verhandlungen zur BRK, was sehr wichtig war, fanden ja unter unserem Motto statt: »Nichts über uns ohne uns«! Dadurch, dass inzwischen schon über 160 Länder die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben, hat auch die Kenntnis über unsere Menschenrechte in Politik und Gesellschaft zugenommen. Unsere Lebensbedingungen haben sich schon etwas positiv verändert, natürlich ist noch viel zu tun, was die Umsetzung der BRK betrifft. Ein Effekt ist, dass behinderte Frauen und Männer jetzt in der Gesellschaft besser wahrgenommen werden. Früher waren wir so gut wie unsichtbar. Dabei leben ca. fünfzehn Prozent aller Menschen mit einer Behinderung. Eines der Ziele der BRK ist die Inklusion Behinderter in die Gesellschaft, es geht um gleichberechtigte Teilhabe. Hier hapert es noch gewaltig. Inklusion ist ja nicht dasselbe wie Integration. Während der Integrationsbegriff davon ausgeht, dass sich Menschen mit Behinderung an bestehende Bedingungen, z.B. in der Schule, anpassen, damit sie teilnehmen können, geht der Begriff der Inklusion weiter. Er verlangt, die Gesellschaft und die sie tragenden Institutionen von vornherein so zu denken und zu gestalten, dass alle gleichberechtigt mitmachen können. Das ist weit mehr als Integration, weil es gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten im Ganzen in Frage stellt. Darin steckt echtes Provokationspotenzial. Zum Beispiel stellt sich die Frage: Darf man ins Konzert gehen, wenn das Beatmungsgerät leise schnauft? Meine Antwort wäre: Ja, man sollte das dürfen. Wenn die Inklusion von Behinderten in die Gesellschaft besser gelänge, würde sich die Einstellung der Gesellschaft zu körperlichen, sinnes- und geistigen Beein-
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trächtigungen im Ganzen ändern – das hätte dann auch Auswirkungen auf den Umgang mit Krankheit und Behinderungen im Alter. Die Diagnose von ALS oder Demenz wäre vielleicht weniger angstauslösend, wenn man bereits Menschen erlebt hätte, die auch mit dieser Krankheit am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Viele der Aspekte, die Sie bisher genannt haben, spielen ja auch am Lebensende eine Rolle. Auch dabei ist es schwierig – und vom Betroffenen allein nicht zu leisten – ein neues Leben zu organisieren, und zwar ein Leben, in dem Selbstbestimmung auch im Alltag trotz zunehmender Angewiesenheit auf fremde Hilfe möglich ist. Denken Sie, dass eine UN-Konvention für die Rechte älterer Menschen sinnvoll wäre? Könnten und sollten die Erfahrungen mit der Behindertenrechtskonvention aber auch von Organisationen wie Selbstbestimmtes Leben hier eingehen? Es ist ja nicht überraschend, dass entsprechende Untersuchungen zur menschenrechtlichen Gestaltung des Lebensendes auf konzeptioneller Ebene bereits starke Anleihen bei der Behindertenrechtskonvention machen. Auch in der Beratungspraxis könnten die Erfahrungen von Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen für Menschen am Lebensende und ihre Angehörigen hilfreich sein. Sehen Sie eine Möglichkeit, vielleicht in einer Kooperation mit anderen Beratungsorganisationen dieses Erfahrungswissen weiterzugeben – oder gar in den Zentren für Selbstbestimmtes Leben selbst ein Beratungsangebot für Menschen mit erheblichen altersbedingten Beeinträchtigungen anzubieten? Eine UN-Konvention für die Rechte älterer Menschen, das ist schwierig; eigentlich deckt die UN-Behindertenrechtskonvention schon Vieles ab. Artikel 19 besagt z.B. »freie Wahl von Wohnart und -ort, Unterstützungsangebote und Assistenzen für ein selbstbestimmtes Leben« – das ist für alle Menschen, behindert und/oder alt wichtig. Aber auch die anderen Artikel, wie Barrieren abschaffen in Städten, Gebäuden und bei Transportmitteln, im Internet und in der Sprache oder keine Eingriffe in persönliche Rechte und Menschenrechte und keine Entmündigungen oder Ausgrenzung von der Gemeinschaft besagt doch schon alles. Es geht immer um Inklusion, also Teilhabe, und die ist für alle wichtig. Was die Beratung betrifft, so wird Erfahrungswissen aus der Beratung in den Zentren für Selbstbestimmtes Leben schon an Menschen mit altersbedingten Beeinträchtigungen wei-
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tergegeben, auch Kooperationen mit anderen Beratungsstellen bestehen bereits. Doch das Beratungsangebot und die daraus resultierenden Dienstleistungen sind bei weitem noch nicht ausreichend. Momentan finanzieren sich die Zentren für Selbstbestimmtes Leben in Deutschland hauptsächlich über Projekte. Die Beratung für behinderte Menschen von übrigens selbst behinderten Fachkräften, leisten sie hingegen ohne eine spezifische finanzielle Unterstützung, außer in Bayern. Durch ein neues Bundesteilhabegesetz könnte sich das vielleicht ändern. Der politische Wille ist im Moment nicht da, die Selbstvertretung behinderter Menschen finanziell zu unterstützen, weder in Deutschland noch im europäischen Kontext. Frau Radtke, kommen wir zurück zum Thema Lebensende: Haben Menschen, die ihr Leben lang mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen umgehen mussten, und es gewohnt sind, auf die Hilfe anderer, auf technische Geräte angewiesen zu sein, ein anderes Verhältnis zum Lebensende, zum Sterben? Ein anderes Verhältnis zum Sterben? Das ist eine schwere Frage. Eine Freundin von mir hat in dieser Situation einen unglaublichen Lebenshunger entwickelt: sie wollte unbedingt noch ganz viel unternehmen, egal wie groß der Aufwand und die Anstrengung waren – eine Ausstellung besuchen beispielsweise, die aufgrund der steilen Treppenstufen für schwere Elektrorollstühle kaum zugänglich ist – auch mit einer Rampe nicht. Ich würde mir das nicht zumuten, aber sie wollte unbedingt in diese Ausstellung. Wir hatten ja zu Beginn des Interviews über den Einsatz medizinischtechnischer Geräte am Lebensende gesprochen… Ja, da gibt es sicher einen Unterschied zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. Menschen mit Behinderungen haben auch am Lebensende ein anderes Verhältnis zu medizinischen Geräten – das fällt in den Patientenverfügungen auf. Hier gibt es eine auffällige Differenz. Gerade aus den Patientenverfügungen, die von nichtbehinderten Menschen verfasst werden, wird ja oft ersichtlich, dass ein Leben mit medizinischen Geräten nicht mehr als lebenswert gesehen, die sogenannte Apparatemedizin für ein Weiterleben abgelehnt wird. Darüber haben wir schon gesprochen. Menschen hingegen, die zum Zeitpunkt der Abfassung der Patientenverfügung bereits
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behindert sind, wünschen in ihrer Patientenverfügung ausdrücklich, dass alle Maßnahmen ergriffen werden, die ein Weiterleben ermöglichen. Sie erleben ihr Leben als lebenswert und haben ja bereits die Erfahrung gemacht, dass der medizinische Fortschritt es vielen Menschen mit schweren Behinderungen ermöglicht weiterzuleben, oft sogar das Leben aktiv zu gestalten. Gibt es für Menschen mit (nicht altersbedingten) Behinderungen in der letzten Lebensphase zusätzliche spezifische Herausforderungen und Probleme, beispielsweise in Seniorenheimen, Pflegeheimen, Palliativstationen oder Hospizen? Die Aufenthalte auf Palliativstationen oder in Hospizen werden generell nicht für längere Zeiträume finanziert. Es bleiben also nur Pflegeeinrichtungen, deren Personalschlüssel für sehr schwere Behinderungen nicht ausreichen, sie sind dort unterversorgt. Menschen, die eine 24-Stunden-Assistenz benötigen, haben Probleme, wenn sie ins Krankenhaus müssen und ihr eingespieltes, vertrautes Pflegeassistenz-Team dorthin nicht mitnehmen dürfen. Selbst wenn die behandelnden Ärzte schriftlich bescheinigen, dass es wichtig wäre, das eigene Pflegeassistenzteam beizubehalten, bleibt die Umsetzung in die Praxis aufgrund der komplizierten Finanzierung schwierig. Die Pflegeassistenz ist der eigentliche kritische Punkt. Eine Pflegeassistenz bei schweren Behinderungen braucht bis zu vier Wochen Einarbeitung – das Lagern im Bett, das Essen, der Umgang mit dem Tracheostoma, die oft erschwerte Kommunikation: hier müssen eingespielte Abläufe und individuelle Besonderheiten weitergegeben und eingeübt werden. Auch wenn die Pflegekräfte vor Ort grundsätzlich mit den medizintechnischen Hilfsmitteln für verschiedene Formen von Behinderung vertraut sind (was noch immer oft nicht der Fall ist), scheitert es zumeist an dem dafür nicht geeigneten Personalschlüssel und der fehlenden individuellen Einarbeitungszeit. Eine Freundin von mir hatte ihre Leute daher bei Krankenhausbesuchen immer dabei – die Kosten wurden aber von der Krankenversicherung nicht übernommen. Die Kosten werden nur ersetzt, wenn man selbst behinderter Arbeitgeber/behinderte Arbeitgeberin ist, nicht wenn die Assistenzkräfte über einen Pflegedienst eingesetzt werden. Schwerbehinderte Menschen sind auf persönliche Hilfen also Assistenz angewiesen, damit sie überhaupt noch am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen können und Lebensqualität haben. Deswegen ist für sie das Leben
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in der eigenen Wohnung wichtig. Nur unter bestimmten Voraussetzungen sind Wohngemeinschaften, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie nicht unter das Heimgesetz fallen, eine Option. Wenn man für jeden Handgriff auf Hilfe angewiesen ist, aber nicht genug Personal vorhanden ist, bleibt auch von der Lebensqualität nicht viel übrig. Eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist in normalen Pflegeeinrichtungen kaum möglich. Der Pflegeschlüssel ist sicherlich auch für viele Menschen, die an Alterskrankheiten und altersbedingten Behinderungen leiden oder eine leichte bis mittelschwere Demenz haben, ein großes und bisher ungelöstes Problem. Vielleicht können wir zum Schluss des Gesprächs noch kurz auf die Hospizbewegung eingehen. Über die konkrete Begleitung schwer kranker, sterbender Menschen und ihrer Angehörigen hinaus leistet die Hospizbewegung einen Beitrag dazu, das Sterben als Bestandteil des Lebens in die Gesellschaft zurückzuholen. Dazu gehören auch Schulbesuche, um Kinder und Jugendliche mit dem Thema vertraut zu machen. Wie finden Sie das? Schulbesuche finde ich richtig gut! Das machen die Zentren für selbstbestimmtes Leben zum Thema Behinderung ebenfalls. Kinder werden ja oft zu sehr behütet und von allem ferngehalten. Sie sollen und wollen aber etwas mitbekommen. Wenn Krankheit, Behinderungen und Sterben Teil des Lebens sind, dann gehört es auch in die Schulen. Behinderten gegenüber sind Kinder übrigens oft unvoreingenommener als Erwachsene. Sie haben weniger Scheu, achten auf andere Dinge als auf die Behinderung, begeistern sich beispielsweise für den elektrischen Rollstuhl und wollen später auch so einen haben. Von solcher Unbefangenheit können dann die Erwachsenen profitieren.
Autorinnen und Autoren
PD Dr. med. Christine Bartsch Fachärztin für Rechtsmedizin, Privatdozentin der Universität Zürich, bis November 2015 Leiterin der Abteilung für Forensische Medizin und Bildgebung am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich und Projektleiterin im NFP 67 Lebensende. Aktuell am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Email: [email protected] Prof. (em.) Dr. phil. Dr. med. h.c. Jan P. Beckmann bis 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen und Leiter des Weiterbildenden Studienangebots Medizinische Ethik. Mitglied (u.a.) der Zentralen Ethikkommission für Stammzellenforschung (Berlin). Email: [email protected] Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der FAU Erlangen-Nürnberg, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Religions- und Weltanschauungsfreiheit (2010–2016). Zusammen mit Andreas Frewer Leiter des Projekts »Human Rights in Healthcare« im Rahmen der »Emerging Fields Initiative« (2014–2017) der FAU ErlangenNürnberg. Email: [email protected]
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Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A. Professur für Ethik in der Medizin an der FAU Erlangen-Nürnberg. Ärztliche Tätigkeit u.a. an der Charité in Berlin. Zusammen mit Heiner Bielefeldt Leitung des EFI-Projekts »Human Rights in Healthcare« (2014–2017) der FAU Erlangen-Nürnberg. Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin. Leiter der Geschäftsstelle des Klinischen Ethikkomitees am UK Erlangen und Mitglied der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät. Email: [email protected] Prof. Dr. med. Klaus Gahl Internist/Kardiologe, ehemaliger Chefarzt am Klinikum Braunschweig, Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin und der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft. Email: [email protected] Prof. Dr. phil. Marianne Hirschberg Professur an der Hochschule Bremen mit den Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten Menschenrechte, Disability Studies, Gesundheit und Inklusiver Bildung; von August 2009 bis November 2012 Sozialwissenschaftliche Referentin an der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin. Email: [email protected] Dr. phil. Constanze Hübner, Dipl.-Psych. Psychologische Psychotherapeutin der Verhaltenstherapie; tätig als Kooperationspartnerin des MVZ Odendahl & Kollegen in Köln und der Praxis Beckmann-Saubert in Bonn. Medizinethische Dissertation zum Thema »Sterbehilfe – ein unbekanntes Terrain« (2016). Email: [email protected] Prof. Dr. med. Christoph Ostgathe Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der FAU Erlangen-Nürnberg und Leiter der Palliativmedizinischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen, Vizepräsident der Europäischen Palliativgesellschaft (European Association for Palliative Care – EAPC), Sprecher der AG Palliativmedizin im Netzwerk der Deutschen Comprehensive Cancer Center (CCC). Email: [email protected]
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Dr. phil. Marianne Rabe Pädagogische Geschäftsführung an der Charité, Universitätsmedizin Berlin. Krankenschwester, Lehrkraft für Pflege, Trainerin für Ethikberatung im Gesundheitswesen (Akademie für Ethik in der Medizin/AEM). Email: [email protected] Dinah Radtke Mitbegründerin des »Zentrum für selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V.« in Erlangen, dort Bereichsleiterin (1979–2013). Behindertenaktivistin, Rollstuhlfahrerin, langjährige Patientenvertreterin beim G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss), Vorstandsmitglied der DIGAB (Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für Außerklinische Beatmung). Email: [email protected] Dr. jur. Oliver Tolmein Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht in der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg, Lehrbeauftragter für Medizinrecht an der Universität Göttingen, Sprecher der Sektion Rechtsberufe in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin und Mitbegründer der Christian Geissler Gesellschaft, langjähriger nichtbehinderter Sympathisant der autonomen Behindertenbewegung und freier Journalist. Email: [email protected] PD Dr. phil. Caroline Welsh Dozentin am Department Germanistik und Komparatistik der FAU Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkt Literatur, Medizin- und Wissensgeschichte mit einer Forschungsstudie im EFI-Projekt Human Rights in Healthcare zur Sterbehilfe und -begleitung in gegenwärtiger Literatur und Medizin. Email: [email protected]
Menschenrechte in der Medizin / Human Rights in Healthcare Maren Mylius Die medizinische Versorgung von Menschen ohne Papiere in Deutschland Studien zur Praxis in Gesundheitsämtern und Krankenhäusern Juli 2016, 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3472-3
Andreas Frewer, Heiner Bielefeldt (Hg.) Das Menschenrecht auf Gesundheit Normative Grundlagen und aktuelle Diskurse Mai 2016, 280 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3471-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de