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German Pages [113] Year 2016
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Ute Guzzoni
erstaunlich und fremd Erfahrungen und Reflexionen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860670
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Ute Guzzoni erstaunlich und fremd
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
Über dieses Buch: Seit jeher ist es das Ziel von Wissenschaft und Technik, die Dinge und Geschehnisse unserer Welt in den Griff zu bekommen. Die Menschen haben sich das Staunen über das ihnen gegenüber Andere abgewöhnt und, wie Adorno sagt, »mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen«. Da, wo unabweisbar Fremdes auftritt, erscheint es als bedrohlich. Vor diesem Hintergrund geht es in diesem Buch um die Besinnung auf die erstaunliche Fremdheit, die uns gleichwohl überall da begegnen kann, wo wir Alltägliches aus seiner Selbstverständlichkeit herausheben, auf eine Besitzergreifung durch unser Begreifen und Tun verzichten und uns auf eine Erfahrung des Anderen als solchen einlassen. Am Beispiel der Begegnung mit Tieren einerseits (wobei es neben der Erfahrung der Blicke von Tieren um Themen wie Sprachlosigkeit, Todlosigkeit, Zeitlosigkeit geht) und mit Kunstwerken andererseits (u. a. von Picasso und Brecht) werden zuvor herausgestellte Grundzüge der Erfahrung von Erstaunlichem und Fremdem noch einmal verdeutlicht.
Die Autorin: Ute Guzzoni, geb. 1934, lehrt als emeritierte Professorin an der Universität Freiburg i. Br. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt bei Alber »Hegels Denken als Vollendung der Metaphysik« (2005), »Unter anderem: die Dinge« (2008), »Gegensätze, Gegenspiele« (2009), »Der andere Heidegger« (2009).
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Ute Guzzoni
erstaunlich und fremd Erfahrungen und Reflexionen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48555-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86067-0
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Inhaltsberblick
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abgrenzende Hinführung zum erstaunlich Fremden . Fremdheit und Vertrautheit, Erstaunlichkeit und Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . Der gewöhnliche Sprachgebrauch von »fremd« . . Seitenblick auf die Fremde und den Fremden . . . . Zur Frage der Bedrohlichkeit des Fremden . . . . . Zum Begriff des Erstaunlichen und des Erstaunens. Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . .
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Das erstaunlich Fremde . . . . . . . . . . . . . . . Das Erstaunen vor dem unscheinbaren Fremden im nichthaften Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Befremdliche als Thema der Philosophie. Adorno und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . Noch einmal: der nichthafte Raum . . . . . . . . .
Das Fremdsein der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . a Nähe und Differenz zwischen Mensch und Tier b Die Erfahrung der Fremdheit der Tiere als Erfahrung der Grenze menschlichen Seins . . . c Sprachlosigkeit, Todlosigkeit, Zeitlosigkeit . . d Der Blick der Tiere. Ausgezeichnete (»mythologische«) Tiere . . . Fremdsein in der Kunst . . . . . . . . . a Der »andere Ort« des Kunstwerks: Geheimnis und Aura . . . . . . . b Befremden bei Picasso . . . . . . c Brechts Verfremdung . . . . . .
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Inhaltsberblick
d Die ausgestellten verlorenen Dinge (Richard Schindler) . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 e Vier Haiku . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Schlußbemerkung
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Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
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Vorwort
Erstaunlich und fremd erscheinen uns die Sitten am Hof des Sonnenkönigs in Paris oder die Vorstellung von einem Ausflug auf den Mond. Erstaunlich und fremd kommen uns die Initiationsrituale auf Papua-Neuguinea vor, der Formenreichtum der Orchideen im Gewächshaus oder das Leben in einem Wassertropfen unter dem Mikroskop. Aber nicht um solche Weisen des Erstaunlich- und Fremdseins geht es in diesem Buch. Ich will vielmehr darüber nachdenken, was es heißt, wenn uns Dinge und Geschehnisse als erstaunlich und fremd begegnen, die uns normalerweise vertraut sind, auf die wir gewöhnlich nicht mehr aufmerken, die selbstverständlich und darum uninteressant zu sein scheinen. »Ich wundere mich über gar nichts mehr«, hört man manchmal sagen. Ist das nicht in der Tat eine zutreffende Aussage über unser heutiges In-der-Welt-sein? Wir haben uns daran gewöhnt, das Alltägliche wie das auf den ersten Blick Absonderliche einordnen zu können in Systeme von überkommenem Wissen oder Vermuten. Selbst über das scheinbar Fremde und die aus der Fremde kommenden Fremden glauben wir irgendwie immer schon Bescheid zu wissen. Mit der Globalisierung der gesamten Lebensumstände geht auch eine Globalisierung des Wissens und Kennens einher. Die weltweite Verflechtung aller Bezüge bedeutet einen weltweiten Bezugsrahmen für jede Erfahrung und jede Begegnung, die innerhalb seiner einen Charakter des immer schon Bekannten und Vertrauten gewinnen. Nicht zuletzt ist es die Möglichkeit, sich über alles zunächst Unverständliche die entsprechenden Informationen in den Suchmaschinen des Internet zu beschaffen, was die eigene Auseinandersetzung mit Fremdem und Erstaunlichem unnötig zu machen scheint. Man empfindet das Sich-wundern über etwas als eine verunsichernde Störung, die man dadurch beseitigt, daß man sich möglichst schnell und umfassend informiert. Es wird nie dazu kommen, daß eine Such7 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
Vorwort
maschine selbst staunt oder daß ihr etwas fremd vorkommt. Auch wo sie an Grenzen ihres derzeitigen Wissens stößt, hat das (noch) nicht Gewußte nicht den Charakter eines erstaunlich Fremden, sondern eben nur den einer lästigen Schranke. Die potentielle Wißbarkeit nivelliert die unterschiedlichsten Ereignisse und Gegenstände im Sinne eines allgemeinen Déja-vu. Mit dieser Nivellierung geht, sie teilweise kompensierend, ein Bedürfnis nach immer Neuem und Sensationellem einher. Aber auch dieses will nicht auf wirklich Erstaunliches hinaus. Letztlich geht es ihm stets um die Aneignung und Assimilierung des sich dann als nur scheinbar fremd Erweisenden. Die Erstaunlichkeit und das Fremdsein werden von vorneherein als etwas zu Überwindendes angesetzt. Schon Platon und Aristoteles, die die Bedeutung des Erstaunens für den Anfang der Philosophie betont haben, zeigen dessen notwendige Überführung in ein Wissen aus Gründen, für das das Fremde aufhört, fremd zu sein. Vor oder hinter dem Faktum des Immer-schon-Bescheid-wissen-könnens über alles Begegnende liegt ein Weiteres: Die rationalisierende Tradition der westlichen Welt beinhaltet den Anspruch, alles und jedes begründen zu können, über alles und jedes Rechenschaft ablegen zu können. Technik und Wissenschaft beruhen auf dem Prinzip des logon didonai, des Angebens oder Angeben-könnens des jeweils zureichenden Grundes, wozu die Einordnung in ein vorgegebenes Kategorien- und Gesetzessystem der Gewißheiten oder Meinungen gehört. Können wir sagen, was etwas ist und warum es so ist, wie und warum es sich mit ihm verhält, wie es sich verhält, so haben wir es identifiziert, wir brauchen uns nicht mehr darüber zu wundern und es befremdlich zu finden. Gleichwohl gibt es doch auch das Andere: Ein bekanntes Ding liegt da plötzlich ganz unbekannt vor uns; ein vertrauter Mensch erscheint fremd, wie nie gesehen; wir schauen auf eine Kuh auf der Weide und es trifft uns, daß wir nichts von ihr wissen. Ein Anblick zeigt sich ganz anders als erwartet; wir bleiben vor etwas stehen und unversehens will es uns etwas ganz Neues sagen. Und wir kommen uns auf einmal selbst fremd vor, wir kennen uns nicht mehr und erstaunen, daß wir wir selbst sind. Vielleicht gehört sich selbst fremd und erstaunlich zu werden zu jeder Erfahrung der Erstaunlichkeit von Anderem hinzu. 8
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Vorwort
Was einem da geschieht, hat man zuweilen mit der merkwürdigen Spannung von Ferne und Nähe auszudrücken versucht. Etwas ist nah – vertraut und bekannt – und ist zugleich und eben darin ganz fern – fremd und unbekannt –; eine Distanz bricht auf zu etwas, mit dem wir doch in Verbindung stehen, eine Distanz zu einem Ding, einem Geschehen, einem anderen Menschen, zu uns selbst. Das gewohnte Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem das Subjekt sich seiner Objekte vergewissert und sie stets auf die eine oder andere Weise aneignet, zergeht zugunsten einer »Kommunikation des Unterschiedenen«, einer Kommunikation durch einen leeren oder nichthaften Raum hindurch. Die hier gemeinte Erfahrung von Fremdsein und Erstaunlichkeit ist gerade nicht darauf aus, sich selbst zu überholen und zu überwinden. Die Leere um sie herum gilt es nicht anzufüllen mit Bescheidwissen, ihre Geheimnishaftigkeit ist nicht aufzulösen. Der Zauber einer sich vor unseren Augen öffnenden Nachtkerze, die Tolpatschigkeit der ersten Schritte eines kleinen Kindes, das Sonnenglitzern in einer Pfütze sprechen uns nur so lange an, wie wir sie in ihrer Fremdheit stehen lassen; sie sind nicht zu enträtseln. Es braucht manchmal Geduld und Gelassenheit, um das zu lernen. Zumal unsere eigene Fremdheit ist schwer anzuerkennen. Meine Überlegungen zu »erstaunlich und fremd« sind reflektierte Erfahrungen, »Erfahrungen und Reflexionen«. Ich denke darüber nach, was es heißt, daß uns etwas als unvertraut, anders, fremd begegnet. Und was diese Begriffe da bedeuten, und was nicht – z. B. nicht absonderliche, exotische oder bedrohliche Fremdheit. Ich versuche, den Raum der staunenden Begegnung als nichthaften Raum aufzuzeigen. Einerseits weise ich dabei immer wieder auf literarische Textstücke und auf unseren Sprachgebrauch hin; andererseits habe ich im letzten Teil zwei Beispielbereiche gewählt: zum einen verschiedene Momente der Fremdheit, die uns in Tieren, zumal im Blick der Tiere, begegnet, und zum anderen die Erfahrung der Fremdheit in Kunstwerken.
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A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
»Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« (Trakl). Wir sind Fremde auf der Erde, vieles, was uns auf ihr begegnet, erscheint uns fremd und erstaunlich. Und: wir wohnen auf der Erde, sie ist unser vertrautes Zuhause, wir sind ein Teil von ihr. Beides – Fremdheit und Vertrautheit – erfahren wir nebeneinander, ineinander. Wir leben in einer vertrauten Welt, sind in sie hineingewachsen; wir gehören in eine menschliche Gemeinschaft, in die gesellschaftliche Umwelt unseres Wohnens, Arbeitens, Lebens, in der uns bekannte und benannte Dinge begegnen. Doch erfahren wir das Einzelne zuweilen auch als etwas, das uns in seiner Besonderheit und seinem Eigensein fremd vorkommt und uns erstaunt. Da ist die Welt mit ihren unendlichen und wechselnden Dingen und Geschehnissen, und da bin ich, sowohl fraglos und mit Selbstverständlichkeit hineingehörig in diese Vielfalt wie auch immer wieder betroffen von Erstaunlichem und mir fremd Erscheinendem. Fremdheit wie Vertrautheit zeigen beide in unterschiedlichen Zusammenhängen ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Gesichter. Zudem haben beide, Fremdheit und Vertrautheit, jeweils etwas von ihrem je Anderen an sich, in der Negation verweisen sie aufeinander, und zuweilen spielen sie geradezu ineinander. Wir können ein gewisses Vertrautsein mit dem Fremden gewinnen, ohne daß dieses aufhörte, fremd und erstaunlich zu sein. Und wir können zuweilen vor dem Vertrautesten innehalten und es wie ein nie Gesehenes wahrnehmen. Das Fremde kann als solches interessant sein und uns staunend innehalten lassen, aber es kann auch beunruhigend und gefährlich erscheinen, ihm kann mißtraut werden, so daß man es meidet oder es in das Eigene zu integrieren versucht. Das eigene Fremdsein kann Isolierung, aber auch Möglichkeit zu fruchtbarer Einsamkeit bedeuten. Das Vertraute kann das Gewohnte sein, das einem lieb geworden ist. Es kann aber auch zu Langeweile und Über11 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
druß führen, kann gewöhnlich und uninteressant sein, so daß es schließlich gar nicht mehr wahrgenommen wird. Im strengen Sinne würde man allerdings im letzteren Fall – wie auch da, wo man sich selbst als stets schon vertraut mit allem und allen empfindet – nicht mehr von Vertrautsein sprechen. Gänzliche Vertrautheit ohne jede Distanz und Befremdung ist im Grunde keine Vertrautheit mehr, sondern bloße Gewöhnung, – so wie völlige Fremdheit ohne jede Spur von Vertrautsein nur noch Ausschließung und unaufhebbare Distanz bedeutet. Über tendentiell alles Bescheid zu wissen, heißt nicht, mit all dem Gewußten auch im eigentlichen Sinne vertraut zu sein. Von wirklicher Vertrautheit sprechen wir dann, wenn es sich um eine nähere Beziehung handelt, zu der ein Sich-verlassenkönnen und eine affektive Anteilnahme gehören. Zwar wissen wir über das Vertraute irgendwie Bescheid, aber mehr in der Weise eines Vorwissens, es ist eher ein Wissen um … als ein Wissen von … Ebenso ist uns auch nicht einfach alles nicht Gewußte, alles Unbekannte darum schon fremd im eigentlichen Sinne. Wenn wir sagen, daß jemandem ein Gefühl oder ein Verhalten gänzlich fremd sei, so heißt das gerade nicht, daß es ihn in besonderer Weise angeht und erstaunt; es ist vielmehr »fremd und unverbindlich«, gleichgültig bzw. hat nichts mit ihm zu tun, 1 es läßt ihn kalt. Die Fremdheit, um die es mir hier zu tun ist, bedeutet dagegen Erstaunlichkeit, wozu die bewußte – ängstliche oder freudige oder neugierige – Erfahrung gehört, daß ich etwas vor mir sehe, das wesentlich anders ist als das mir Bekannte, das Erwartete und Vertraute. Das Staunen über das Fremde als ein solches ist eine Weise bewußtwerdenden Nichtwissens, – eines Nichtwissens, das nicht als Mangel, vielmehr als eine notwendige Voraussetzung und ein bleibender Bestandteil des Sicheinlassens auf das begegnende Fremde zu sehen ist, als eine eigene, raffinierte Weise, es zu wissen. Das Fremde und Befremdliche kann ein Sich-wundern über ein Zwei Beispiele: Adorno sagt einmal über Theodor Heuss: »alles Säbelrasseln, wörtlich und übertragen, war ihm fremd, nicht bloß aus Gesinnung zuwider.« (Worte zum Gedenken an Theodor Heuss, 709) Oder Goethe schreibt in dem Tagebuch, das er für Charlotte von Stein über seine Italienische Reise geführt hat: »Die Baukunst steht noch unendlich weit von mir ab, es ist sonderbar wie mir alles darin so fremd, so entfernt ist, ohne mir neu zu seyn. Ich hoffe aber auch dies mal wenigstens in ihre Vorhöfe gelassen zu werden.« (Tagebücher, Bd. 1, 240)
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Fremdheit und Vertrautheit, Erstaunlichkeit und Selbstverstndlichkeit
Unbekanntes, bisher noch nicht Angetroffenes auslösen. Zum einen kann es dann dazu anregen, es uns – z. B. auf dem Weg philosophischen Fragens – vertraut zu machen. Ein solches Erstaunen über das zunächst fremd Anmutende dauert möglicherweise nur kurze Zeit. Vielleicht sogar nur Augenblicke, falls wir dann unmittelbar, wie man sehr plastisch sagt, dahinter kommen, so daß es uns nicht mehr befremdlich ist. Vielleicht braucht es auch eine lange Zeit, bis wir das fragwürdig Erscheinende erforscht haben und es uns z. B. gelungen ist, seine Gründe und Ursachen einzusehen. Am Ende jedoch vermögen wir es einzuordnen und gewöhnen uns daran. Weiß ich dann positiv, was es mit etwas auf sich hat, weiß ich über etwas Bescheid, dann staune ich nicht mehr darüber, dann hat es seine Fremdheit verloren. Zum anderen gibt es jedoch auch eine andere Haltung des Staunens angesichts des Fremden, und sie ist es, um die es mir im Folgenden vor allem zu tun ist. Dieses Staunen bleibt ein Nichtwissen, – nicht darum, weil es zugleich auch immer eine Fülle von Ungewußtem, noch nicht Bekanntem gibt, was natürlich auch der Fall ist, sondern weil hier das Wissen selbst kein Haben des Gewußten ist, keine Einvernahme, Assimilation oder sonstige Identifizierung. Es bleibt ein Nichtwissen, weil auch das Gewußte noch ein Fremdes bleibt, weil das Andere als Anderes, Nichtidentisches stehen und sein gelassen, geachtet wird. Es fehlt dann zwar jeder gesicherte Bezug zwischen mir und der Sache, ich kenne mich hinsichtlich ihrer nicht aus. Gleichwohl gibt es da einen Bezug zwischen uns: etwas an der Sache spricht mich an, sie winkt gleichsam zu mir herüber, so daß mir mein Nichtwissen und Nichtkennen bewußt wird und ich zu fragen beginne. Wesentlich ist, daß dieses Fragen nicht in einem Antworten, durch das sich die Frage erübrigen würde, endet, sondern daß es ein Fragen ist, das bei seinem Gefragten und dessen Frag-würdigkeit bleibt, indem es dessen Anders- und Fremdsein anerkennt. Adorno schreibt einmal (Ästhetische Theorie, 191): »Je dichter die Menschen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründlicher haben sie das Staunen über jenes Andere sich abgewöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen.« Seit zweitausend Jahren versuchen die Menschen unseres Kulturraums in immer zunehmendem Maße, die Fremdheit des ihnen Begegnenden zu tilgen, und zwar dadurch, daß sie sich die Dinge bekannt machen, sie begründen und berech13 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
nen. Das ihnen gegenüber Andere haben sie seiner ursprünglichen Fremdheit entkleidet, sie haben sich darum bemüht, die Differenz zwischen sich und dem Anderen aufzuheben, um – der Tendenz nach – zu umfassendem und gesichertem Wissen über die Welt zu gelangen. Sie haben sich das Staunen abgewöhnt, sagt Adorno. Zum Erstaunen und Staunen gehört die Erfahrung sowohl eines eigenen Sich-fremd-wissens wie der Fremdheit des Begegnenden. Alle Menschen, so behauptet es der erste Satz der aristotelischen »Metaphysik«, streben von Natur aus nach Wissen. In der Tat wollen wir jeweils wissen, womit wir es zu tun haben, wir wollen das Begegnende einordnen und in den Griff bekommen, wollen es be-greifen. Es beunruhigt uns, wenn etwas aus der generellen Vorgekanntheit herausfällt und uns fremd ist. Wir breiten Netze des Kennens und Wiedererkennens über alles Seiende aus. Was uns auch immer begegnet, wir vernehmen es, indem wir es hineinnehmen – bzw. immer schon hineingenommen haben – in ein Koordinatensystem von Kategorien der Größe und der Qualität, der Werte und der Brauchbarkeiten. Den ursprünglichen Raum der Offenheit und Nichthaftigkeit, der das erstaunlich Fremde umgibt, nehmen wir selten als einen solchen wahr, weil wir ihn immer schon vollgestellt haben mit seienden Realitäten, mit erwarteten wie unerwarteten, aber gleichwohl berechenbaren Vorkommnissen; allein in dieser Vorbekanntheit fühlen wir uns sicher. Die Neuzeit wurde anfänglich u. a. durch die drängende Frage nach einem fundamentum inconcussum bewegt, durch das immer unabweisbarer werdende Bedürfnis also nach Sicherung und Absicherung. Je wichtiger Gewißheit und Sicherheit für das Bewußtsein werden, desto bedrohlicher erscheint auf der anderen Seite alles, was aus der sicheren Ordnung herausfällt und gleichwohl fordert, beachtet zu werden, was – als Fremdes – nicht auf das unerschütterliche Fundament der Gewißheit des »cogito ergo sum« gegründet ist. Dann durchbricht die Erfahrung von Fremdheit ein gesichertes Sichauskennen, mit dem man sich auf dieser Erde und in ihren Gewißheiten und rationalen Ordnungen eingerichtet hat, – und bis zu einem gewissen Grad wohl auch eingerichtet haben muß, um allgemein zurechtzukommen. Die Haltung der Aufklärung als sich immer mehr durchsetzende und letztlich durchhaltende Grundausrichtung von Neuzeit, Moder14
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Fremdheit und Vertrautheit, Erstaunlichkeit und Selbstverstndlichkeit
ne und Postmoderne hat insbesondere die Mündigkeit des Einzelnen stark gemacht; sie hat ihn als das denkende und handelnde Subjekt verstanden, das sich die Objektwelt aneignet und unterwirft, indem es sie begreift und behandelt, sie nach seinen eigenen Gesetzen, Modellen und Maßen allererst produziert und dann bearbeitet. Obgleich es natürlich immer noch genug Unbegriffenes, sogar Unbegreifliches gibt – und je mehr wir wissen, umso mehr erkennen wir ja auch, wie wenig wir wissen –, kennt das neuzeitliche Subjekt im Großen und Ganzen die Gesetzmäßigkeiten und Parameter, nach denen alles abläuft, es findet sich in seiner Welt zurecht, verändert sie zwar hier und dort, paßt sich ihr aber in der Regel an und ein. Mit dieser Fraglosigkeit und im wörtlichen Sinne Selbst-Verständlichkeit geht alltäglich eine Reflexionslosigkeit einher, wir bleiben, solange wir nicht in eine fremde Lebenssituation eintreten – z. B. wenn wir in ein fremdes Land kommen oder wenn wir uns verlieben 2 –, im üblichen Trott. Das Leben funktioniert gleichsam von selbst, in gewohnter Weise, – solange nichts Störendes passiert, wörtlich: vorbeikommt. Dieses Zuhausesein bei uns, unseren Nächsten und den Dingen unserer alltäglichen Umwelt ist die notwendige Grundlage unseres Lebens. Eine stets neue Umgebung würde uns zweifellos überfordern und überwältigen. Unsere heutigen Lebensverhältnisse sind weitgehend so beschaffen, daß sowohl Fremdheit und Erstaunlichkeit – wie andererseits auch wahre Vertrautheit und Zugehörigkeit – kaum mehr als solche erfahren werden. Die in großem Ausmaß medienbestimmte Öffentlichkeit ist ganz weitgehend ein Identitätszusammenhang, in dem Besonderheit und wesentliche Unterschiedenheit kaum mehr sichtbar werden und vor allem nichts mehr gelten. 3 Man geht seinen alltäglichen Geschäften nach, ohne sich eigens Gedanken zu machen, ohne innezuhalten und sich ausdrücklich auf »Sind die Liebenden beisammen, alles anders ist«, heißt es in einem Gedicht von Rumi, in dem er auch sagt, daß das Wissen, das man an Schulen erlernen kann, »anders ist als jenes Wissen, das die Liebe ist.« 3 Gerade die scheinbar besonderen, ausgewählten Marken und Designs in der Warenwelt sind Ausdruck des Dazugehörens, bedeuten Imperative, denen man sich mehr oder weniger blind unterwerfen soll. Die meisten Fernsehserien, die meisten Unterhaltungsevents, aber auch die meisten politischen Veranstaltungen laufen letztlich nach denselben bekannten Mustern ab. 2
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A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
dieses oder jenes zu besinnen. 4 Der alltägliche Identitätszusammenhang ist weitgehend ein Raum der Beziehungslosigkeit, wobei die Nivellierung der Bedeutungen mit einer gewissen Isolierung des einzelnen Subjekts einhergeht, weil es nichts gibt, was in besonderer Weise anspricht und zur Kommunikation herausfordert. Alles erscheint irgendwie als schon bekannt und darum uninteressant; Fremdes und Erstaunliches hat innerhalb dieser Welt höchstens einen vorübergehenden Platz. Es wird, wenn möglich, geleugnet, oder, wo es unabweisbar ist, erklärt und damit dann doch dem Eigenen integriert. Heideggers – allerdings existenzialontologisch und nicht empirisch-historisch verstandene – Analyse des »Man« in »Sein und Zeit« (sowie etwa auch seine spätere Analyse der Langeweile) stellt wesentliche Momente dieser alltäglichen Pseudovertrautheit heraus. »Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ›Wer‹ ist das Neutrum, das Man.« (S. u. Z., 126) Der Einzelne sieht sich einerseits in einer gewissen Opposition zu den Anderen – von Heidegger »Abständigkeit« und »die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen« genannt –, deren Macht und Bedeutung andererseits aber gerade dadurch ermöglicht und hinaufgesteigert werden zur Herrschaft des Man. Die »›Anderen‹, die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken« (ib.), sind gerade die Immergleichen, deren Identität nach Adorno eine mythische Qualität hat. Angesichts einer solchen Tendenz zur vorgängigen Selbstverständlichkeit, angesichts der nivellierten und gesichert identifizierten Welt des Man bedeutet die unerwartete Begegnung mit etwas wirklich Fremdem die ausdrückliche Erfahrung einer Nicht-Identität. Das kann die plötzliche Erfahrung des Zerbrechens des sich jetzt als bloß scheinhaft erweisenden vorgängigen Zusammenhangs der gewohnten Ordnung sein. Es kann aber auch das Resultat bzw. der Beginn eines bewußten Abstandnehmens und Zurücktretens sein, durch das Die Depressionen, in die manche Menschen an Feiertagen, in Ferien oder auch bei plötzlicher Arbeitslosigkeit geraten, hängen zu einem Teil damit zusammen, daß dann nicht mehr alles wie gewohnt abläuft, daß sich vielmehr unversehens ein Raum auftut, in dem nichts oder doch viel weniger als gewohnt vorbestimmt und vordefiniert ist, – und wo man plötzlich Zeit hat oder hätte, Besonderes und Erstaunliches in seiner Umgebung wahrzunehmen und darüber nachzudenken.
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Der gewhnliche Sprachgebrauch von »fremd«
der Blick frei wird für ein Aufmerken auf das Besondere, das in seinem Es-selbst-sein dem Aufmerkenden fremd gegenübertritt. Als Fremdes ist das Jeweilige von demjenigen, der es als fremd erfährt, durch einen Raum der Nichthaftigkeit und der Leere, durch einen Raum des leeren Zwischen getrennt. 5 Von Heidegger her könnte man ihn den Raum der Gelassenheit nennen, in dem wir uns, mit Adorno gesagt, auf Nichtidentisches einlassen.
* Sowohl auf Heideggers Konzeption der Gelassenheit wie auf Adornos Begriff der Nichtidentität werde ich später einen kurzen Blick werfen, weil ich meine, daß es bei beiden, obgleich jeweils unausdrücklich, auch um das Fremdsein des Begegnenden zu tun ist. Und ich werde verdeutlichen, was es heißt, daß das als fremd Begegnende uns in seiner Herkunft aus einem nichthaften Raum entgegenkommt. An dem Beispiel des Fremdseins der Tiere und dem ganz anderen des Kunstwerks will ich das bis dahin zum Fremdsein des uns fremd und erstaunlich Erscheinenden Ausgeführte anschaulich werden lassen. Zuvor jedoch scheint es sinnvoll, obgleich es mir allein um die spezifische Bedeutung der Fremdheit des erstaunlichen Fremden geht, zur besseren Verständigung auch einen Blick auf den Ort dieses Fremdseins innerhalb des weiteren Sprachspiels »fremd«, auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch also und das sprachliche Umfeld zu werfen. Heute gibt es im wesentlichen zwei Hauptbedeutungen von »fremd«, die sich allerdings häufig kaum klar gegeneinander abgrenzen lassen. Man kann sie sich an den Gegensätzen verdeutlichen, in denen sie uns zu begegnen pflegen: Neben der Opposition fremd – vertraut steht die Opposition fremd – eigen. Bezeichnen wir etwas als fremd, so sagen wir entweder, daß wir es nicht kennen, daß es uns nicht vertraut ist, oder daß es uns nicht zu eigen ist bzw. nicht zu uns gehört. Rilke spricht von der »leeren Ferne« des Bezugs. (Vgl. v. Verf.: Raum der Gelassenheit, 1)
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A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
Nach dem Grimmschen Wörterbuch hat »fremd« – entstanden aus der alten Partikel fram (die noch im englischen from erhalten ist) – die beiden »Hauptvorstellungen«: »fernher sein und nicht eigen sein, nicht angehören«. Das mich interessierende »fremd« im Sinne von »nicht-vertraut«, »erstaunlich« würde bei dieser Unterscheidung wohl zum »fernher« gehören. Im gegenwärtigen Gebrauch hat sich das etwas verändert, die Bedeutung des Nicht-Bekannten scheint wichtiger und insofern auch eigenständiger geworden zu sein. Heute überschneiden und verbinden sich jedenfalls die Grundvorstellungen des »fernher sein« und des »nicht eigen sein«, »nicht angehören« wie dann auch des »erstaunlich fremd sein« vielfältig. Fernher und fremd ist, wer aus der Fremde kommt oder in der Fremde ausländisch ist (lateinisch: extraneus) und eben darum nicht zu uns gehört, nichts uns Eigenes an sich hat (lateinisch: alienus). (Der Alien in der inzwischen auch im Deutschen gebräuchlichen Bedeutung des Außerirdischen gehört auch nicht zu uns, er kommt aus der fremdesten Fremde, ist, als extraterrestrisch, Ausländer par excellence.) Damit die Fremdheit getilgt wird, bedarf es eines Kennenlernens, woraus dann sogar eine Vertrautheit entstehen kann. Der fremde Besitz, die fremde Sprache, auch die fremden Ansichten, fremde Sitten und Gebräuche, fremde Menschen und fremde Länder müssen jedoch nicht bedeuten, daß ich sie ausdrücklich als unvertraut im Sinne von »erstaunlich« empfinde, so daß ich mich herausgefordert fühle, mich auf sie einzulassen; sie können mich umgekehrt auch beunruhigen, mir bedrohlich erscheinen, oder sie können mir schlicht gleichgültig sein. Daß etwas fremd in der Bedeutung von nicht-eigen ist, besagt lediglich, daß es nicht zu meinem gewohnten unmittelbaren oder mittelbaren Lebensumfeld gehört, nicht dagegen, daß etwas unversehens so aus meinem Horizont, aus den Grenzen meines Verstehens herausfällt, daß ich darüber staune, es in diesem Sinne als fremd empfinde. Der Begriff der Entfremdung 6, der eine Situation des Fremdgewordenseins nennt, meint einen Gegensatz zum Eigensein, zur Zugehörigkeit, zum Gehören. Die Arbeit ist in den gegenwärtigen VerDie Vorsilbe »ent« dient hier nicht, wie in Entschränkung oder Enthauptung, zur Bezeichnung der Aufhebung oder Negation, sondern gewissermaßen als Verstärkung (wie z. B. auch in »Entfernung«, was ja auch nicht die Aufhebung von Ferne meint).
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Der gewhnliche Sprachgebrauch von »fremd«
hältnissen entfremdete Arbeit, sagt Marx, weil ihr der Gegenstand, den sie produziert, nicht mehr als eigener, sondern »als ein fremdes Wesen« gegenübertritt; 7 aus dem, was »Aneignung« im wörtlichen Sinne sein sollte, wird »Entfremdung«, wenn der eigentliche Produzent, der Arbeiter und Bearbeiter, nicht über sein eigenes Produkt verfügen kann. Zugleich ist damit schon das Tun selbst ein entfremdetes, so daß der Produzierende sich »in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt«. (Die entfremdete Arbeit, 54 f.) Auf Grund des Gegensatzes zum Eigenen wird das Fremde oft als etwas »Negatives«, somit dann auch als Unheimliches und Beängstigendes, Bedrohliches empfunden. Der Begriff der Entfremdung impliziert dieses negative Moment. Zugleich wird an der »Entfremdung« noch einmal deutlich, daß die Opposition von »fremd« und »eigen« nicht notwendig etwas mit Befremdlichkeit oder Erstaunlichkeit zu tun hat. Das Fremde im Sinne des Erstaunlichen ist oftmals das Andere, Andersartige. Doch nicht jedes Andere ist mir fremd, auch wenn umgekehrt jedes Fremde ein mir gegenüber Anderes ist; auch wenn ich mir selbst gegenüber fremd bin, sehe ich mich mir als einer Anderen gegenüber. Was sonst sollte mir fremd sein, wenn nicht ein Anderes? Doch das Andere hat in vielen indogermanischen Sprachen zwei Bedeutungen, einerseits das numerisch zweite, noch eines, andererseits ein qualitativ Anderes. 8 Nur in dem letzteren Anderen, dem Unterschiedenen oder Differenten, gibt es das Fremdsein, – wie allerdings auch das Vertrautsein. Anders als das Fremde hat das qualitativ Andere die Möglichkeit, vertraut oder fremd zu sein. 9 »Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr.« (N.D., 174) 8 Schon im Griechischen und im Lateinischen gibt es jeweils zwei Ausdrücke für das Andere, heteron und allon bzw. alter und aliud, allerdings sind schon hier die beiden jeweiligen Bedeutungen – also einerseits das Zweite, andererseits das Differierende – nicht ganz streng voneinander zu unterscheiden. Etymologisch (und auch sachlich) ist die Opposition des Anderen als des Zweiten gegenüber einem gegebenen Ersten wohl die ursprünglichere. Im Deutschen hat sich diese Bedeutung fast verloren, außer wenn wir ausdrücklich von Zweien sprechen, der Andere also nicht einfach überhaupt ein Zweiter oder auch Dritter, Vierter, sondern der Andere von Zweien ist. 9 Waldenfels bringt in seinem Buch Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden ein deutliches Beispiel für die Differenz zwischen dem Fremden und dem Anderen als dem sich (in bezug auf ein Drittes) Unterscheidenden: »… Weinsorten wie 7
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Anders, nicht so. Lassen wir den Sonderfall der ausschließenden Gegensatzpaare außer Acht, bei denen sich jeweils das Eine durch die bestimmte Negation des Anderen definiert – wie bei Tag und Nacht, Krieg und Frieden –, so kommt diesem »nicht so« zumeist eine gewisse Unbestimmtheit zu. Das Andere ist anders als das Eine. Darin liegt zwar ein Hinweis, aber ein Hinweis, der in eine Offenheit führt, Möglichkeiten kommen ins Spiel, die nicht geklärt, nicht entschieden sind. Nicht so, z. B. nicht wie gewohnt, oder auch nicht wie gewollt, oder nicht wie vermutet. Es ist eben anders. Wenn und solange wir wissen oder merken, daß es anders ist, befindet es sich für uns in einem Raum der Offenheit und Nichthaftigkeit. »Nichthaftigkeit« heißt nicht »Nichtigkeit«. Das Andere ist durchaus real, seiend. Aber es ist eben nicht so, vielmehr anders, auf andere Weise. Es läßt Raum für den Traum und für die Einbildungskraft, für Erwartung und Hoffnung oder auch für Befürchtung und Angst. 10 Beaujolais und Rioja sind durchaus voneinander unterschieden [also Andere gegeneinander], doch daß eines dem anderen fremd wäre, wird normalerweise niemand behaupten. Fremdheit setzt den Eigenbereich und das Eigensein eines Selbst (ipse, self) voraus, und dieses Selbst darf nicht verwechselt werden mit einem Selben (idem, same), das von dritter Seite her unterschieden wird.« (21) Obwohl Waldenfels also die Bedeutungen von »anders« und »fremd« deutlich gegeneinander absetzt, versteht er die Fremdheit doch zuweilen allgemein im Sinne des Anderen, und dies darum bzw. dann, weil und wo er sie generell vom Fremdbezug als der Entgegensetzung zum Selbstbezug her sieht, d. h. von der Grenzerfahrung eines Ich her, der gemäß diesem wesentlich ein Anderer gegenüber steht. »Wer sich unterscheidet, steht auf einer Seite, das Fremde als das Wovon der Unterscheidung, auf der anderen«. (27) Er spricht hier von solchen Unterscheidungen wie der zwischen Mann und Frau oder zwischen Europäern und Asiaten; selbst wenn er recht hätte mit der Behauptung, »wer sich auf diese Weise unterscheidet, wird erst in der Unterscheidung zu dem, der er ist«, ist dieser Gebrauch von »fremd« zu unspezifisch. Die sogenannte »Fremderfahrung« muß nicht die Erfahrung eines Fremden sein. Gemeint ist in diesem Begriff vielmehr zunächst allein die Erfahrung des Anderen, genauer des anderen Menschen; seine Fremdheit kann, aber muß nicht dazugehören. Daß Mann und Frau Andere gegeneinander sind, muß nicht heißen, daß sie einander fremd sein müssen. Das kommt vielmehr auf den jeweiligen Einzelfall, auf die spezifische Erfahrung des Anderen an. 10 Man könnte sagen, daß Parmenides mit seinem radikalen Ausschluß des Nichtseins – sein Thema ist das »wie es ist und wie es nicht nicht sein kann« – zusammen mit dem Nichts selbst vor allem das Anderssein aus der philosophischen Reflexion ausschließen wollte, obwohl es erst Platon war, der diesen Begriff ausdrücklich in die philosophische Reflexion eingeholt hat.
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Der gewhnliche Sprachgebrauch von »fremd«
Zwischen dem Fremden und dem Anderen besteht, obwohl sie in manchen Zusammenhängen fast synonym gebraucht werden, ein entscheidender Unterschied. Sowohl das Fremde wie das Andere stehen im Verhältnis zu einem »Einen«; diesem Einen steht aber das Fremde sowohl unvertraut und unbekannt, ja zunächst einmal unbegreiflich, wie als ein jenem nicht Zugehöriges, von ihm selbst Unterschiedenes gegenüber. Demgegenüber unterscheidet sich das Andere vom Einen – trotz der möglichen Unbestimmtheit – in bezug auf ein objektives, für das Eine und das Andere relevantes Gemeinsames. Das Andere ist anders in bezug auf ein Drittes, das sie unterscheidet; »das Eigene und Fremde« dagegen sind, wie Waldenfels betont, »durch kein Drittes vermittelt«. (Grundmotive, 20) So wie wir Vertrautheit nicht mit bloßem Bekanntsein, mit Unauffälligkeit und Gewöhnlichkeit verwechseln sollten, so auch Fremdheit nicht mit einfachem Anderssein; sowohl Vertrautheit wie Fremdheit haben sozusagen ihre Fehl- oder Verfallsform. Ein weiterer Unterschied zwischen Fremdem und Anderem liegt darin, daß fremd immer für jemand oder etwas fremd ist, »fremd« ist in diesem Sinne ein subjektiver oder auch perspektivischer Begriff. Wir stellen fest, daß das Andere anders ist; das ist eine objektive Tatsache. Es kann uns zwar möglicherweise auch nur irrtümlich ein Anderes zu sein scheinen, während es sich in Wirklichkeit um das Selbe handelt, aber das hat mit der Behauptung der Faktizität seines Andersseins oder Nichtandersseins selbst nichts zu tun. Umgekehrt kann auch etwas objektiv fremd sein, aber im strengen Sinne fremd ist es doch erst dann, wenn es uns als unvertraut begegnet, wenn es unserer subjektiven Erfahrung als unbekannt erscheint. Man kann zwar in der dritten Person von einem Fremdsein erzählen, aber dann ist immer eine erste, das Fremdsein des Fremden empfindende Person mit impliziert, was beim Anderssein nicht der Fall ist. Das Andere – das, der oder die Andere – ist da, um uns herum, es kann etwas Gleichgültiges sein, oder es kann uns betreffen, etwas mit uns zu tun haben, es kann uns als Vertrautes oder eben auch als Fremdes begegnen. In seinem Anderssein ist dieser subjektive Bezug noch nicht impliziert. Fremdes gibt es im strengen Sinne nur für den Menschen, für sein Bewußtsein, seine Wahrnehmung, seine Empfindung. Fremderfahrung ist nicht gleich Differenzerfahrung, auch wenn der alltäg21 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
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liche Sprachgebrauch hier oft keinen Unterschied macht, so daß andere Sitten, andere Menschen, andere Länder einfachhin fremde (im weiteren Sinne) genannt werden. Allein dann, wenn ich mir selbst fremd vorkomme, vor mir selbst erstaune oder mich über mich wundere, fallen Fremdsein und Anderessein ganz zusammen, was an der besonderen Bedeutung der Ichidentität, eben des Selbst selbst liegt. Wenn Trakl sagt: »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden«, so hat diese Fremdheit darum eine besondere Qualität und Brisanz, weil es so scheint, als sei die Seele, die allein ich zu sich sagen kann, das Nicht-Andere und Selbe schlechthin und könne so auch nicht sich selbst fremd sein, vielmehr nur gegenüber Anderem und für Anderes. Aber das Fremdsein ist hier gleichwohl als Sich-selber-fremdsein gedacht, die Seele erfährt sich selbst als ein Anderes.
* »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde«, sagt Karl Valentin und spielt dabei damit, daß mit der Bezeichnung »fremd« je nach Gesichtspunkt Unterschiedliches gemeint sein kann. Von »Fremdsein« sprechen wir in bezug auf die Fremde, im Gegensatz, verkürzt gesagt, zur Heimat, in bezug auf den Fremden, als den- oder diejenigen, der oder die aus der Fremde stammen oder in der Fremde sind und angetroffen werden (was auch wir selbst sein können), und schließlich meinen wir mit »fremd« »unvertraut« und »nicht eigen«. Die Fremde zeigt sich uns vornehmlich in zwei Perspektiven: als die Fremde, die jenseits der Grenzen unseres eigenen Gebietes liegt, und als die Fremde, in der wir uns als selbst Fremde befinden, wenn wir unser eigenes Land verlassen haben. Diese letztere impliziert ihrerseits verschiedene Weisen von Fremdheit: um uns herum begegnet uns Fremdes und fremde Menschen, wir fühlen uns in der Fremde selbst fremd, und wir werden von Anderen als Fremde betrachtet und behandelt, wir kommen ihnen fremd vor. Nicht nur das uns Umgebende ist fremd, sondern wir selbst sind unverstanden, weil unverständlich, wir vermögen uns kaum mitzuteilen, weil es keinen gemeinsam ausgelegten Raum gibt. Hölderlin berührt in Mnemosyne (2. Fassung) u. a. diese Erfahrung, wenn er sagt: »Ein Zeichen 22
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sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren.« Und in Die Wanderung spricht er davon, daß »keiner vernehmen konnte / Die eigene Rede des andern«. Die Fremde, die außerhalb, jenseits des eigenen Landes liegt, ist zum einen auf Grund der hergebrachten Grenzen, durch das Heimatund Zusammengehörigkeitsgefühl derer, die hier zu Hause sind, etwas objektiv Gegebenes. Die Fremde kann jenseits des eigenen Dorfes beginnen, hinter den Bergen, jenseits des Meeres. Zumeist ist diese Fremde da, wo man die eigene Sprache nicht versteht. Aber die Fremde beginnt auch schon jenseits des jeweiligen Horizontes, wenn wir diesen in einem weiteren Sinne nehmen; sie muß gar nicht immer in der Ferne, jenseits der geographischen oder politischen Grenzen liegen. Die Grenzen und damit zugleich die Verstehenshorizonte sind oftmals menschengemacht, nicht nur naturgegeben. Die Fremde entsteht auch durch Festlegung und Vergewisserung des Eigenen und ist insofern durchaus veränderbar. Je nachdem wie sich ein jeweiliges Menschsein selbst begreift, welche Rolle dabei z. B. die Religions-, Landschafts-, Rassenzugehörigkeit usw. spielt, kann ihm die Fremde durchaus Verschiedenes bedeuten. 11 Sie definiert sich jeweils von dem her, was je der eigene, angestammte Bereich ist. Der fremde, außerhalb des Eigenen liegende Raum kann durch Gewöhnung und Anpassung seine Fremdheit verlieren, – jenachdem wie man bereit oder willens ist, sich auf ihn einzulassen. 12 Die Fremde jenseits des Eigenen, das, was außerhalb des Eigenen und Bekannten liegt, wird von diesem aus gesehen und eingeschätzt. Abgesehen von der Neugier oder vielleicht auch Begehrlichkeit, die sie zuweilen hervorruft, kann sie zweifellos auch einfach »links liegen gelassen« und damit nicht eigentlich als Fremde erfahren werWie z. B. ein gemeinsamer Feind aus ursprünglich Fremden zuweilen wenn nicht Freunde, so doch gemeinschaftlich verbundene Kampfgenossen schafft, so entsteht durch ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Interessen auch ein ihnen gemeinsames materielles oder geistiges Territorium. 12 Andererseits kann im Hinblick auf das heutige Integrationsgerede daran erinnert werden, wie in den verschiedensten Gegenden der Welt, in Siebenbürgen, an der Wolga, in abgelegenen Gegenden in Argentinien oder in den USA die dorthin emigrierten Deutschen über Jahrhunderte hin ihre Eigenart, ihre Sprache, Sitten und Gebräuche beibehalten haben, ohne auch nur daran zu denken, sich zu integrieren. 11
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den; sie bleibt dann gleichgültig. Oftmals erweckt sie aber auch eine unbestimmte Sehnsucht, aufgrund deren ihr ein Charakter des Geheimnisvollen, Unerreichbaren zugesprochen wird, – auch wenn dann umgekehrt die Heimat, wenn sie aus der fernen Fremde gesehen wird, eine neue Qualität erhält: So stark auch die Sehnsucht gewesen sein mag, die in die Ferne hinaustrieb, in der Fremde wird die Sehnsucht zum Heimweh. 13 Oft impliziert die Erfahrung des In-der-Fremde-seins dann ein Gefühl der Einsamkeit: »Ich bin hinauf, hinab gezogen / Und suchte Glück und sucht’ es weit, / Es hat mein Suchen mich betrogen, / Und was ich fand, war Einsamkeit.« (Fontane) In unzählbaren Liedern, Gedichten und Geschichten wird in der Romantik von der Sehnsucht, die in die Ferne ruft, gesprochen und gesungen. Eichendorff schreibt in einem Sehnsucht überschriebenen Gedicht, wie beim Klang eines fernen Posthorns die Träume von fremden Orten wachgerufen werden: »Das Herz mir im Leib entbrennte, / Da hab ich mir heimlich gedacht: / Ach, wer da mitreisen könnte / In der herrlichen Sommernacht!« 14 Schiller macht in einem schönen Abschnitt aus Über naive und sentimentalische Dichtung in Bezug auf das menschliche Verhältnis zu Natur und Kultur von dieser Figur Gebrauch, indem er die Kultur selbst als Fremde versteht: »Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren, und hören im fernen Auslande der Kunst der Mutter rührende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden und haben beides verloren. DarDaß man erst in der Fremde den Wert der Heimat richtig schätzen lernt, ist eine Binsenwahrheit, die wir z. B. auch in Goethes Briefen aus Italien finden: »Man muß nur in die Fremde gehen um das Gute kennen zu lernen, was man zu Hause besitzt.« (Goethes Briefe, Bd. 12, 257) 14 Eichendorff hat aber eben auch oft beschrieben, wie in der Fremde das Bild der süßen Heimat immer häufiger vor das innere Auge tritt. In seiner Erzählung »Aus dem Leben eines Taugenichts« berichtet er über die erlebnisreiche Wanderung des Helden in die verlockende Fremde, erweist jene dann aber zugleich als die Heimkehr ins heimatliche Glück. Nicht nur von Exilierten oder Vertriebenen, sondern auch von denen, die zuvor mit erwartungsvoller Freude in die Ferne gezogen waren, wird die Heimat über kurz oder lang mit Wehmut erinnert. 13
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aus entspringt eine doppelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur; eine Sehnsucht nach ihrer Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit.« (707) Umgekehrt kann einem auch die Heimat zur Fremde, das Eigene und Vertraute fremd werden, – nicht unbekannt, da es ja das Eigene ist, aber gleichwohl fremd im Sinne von unverständlich, wie in unvertraute Ferne gerückt. Als Goethes Iphigenie, die, der Artemis geopfert, von der Göttin nach Tauris gerettet und vom dortigen König geachtet und verehrt wurde, sich nicht in ihr Schicksal fügen kann und will und klagend fragt: »Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?«, hält Arkas ihr entgegen, daß ihr inzwischen auch die Heimat fremd geworden sei. So mahnt auch in Schillers Wilhelm Tell der Fürst von Attinghausen seinen Neffen: »Leider ist die Heimat / Zur Fremde dir geworden!«, während die Fremde, das ist hier das Leben in der feinen Welt, den jungen Mann anzieht, als wäre sie das, was ihm eigentlich zugehört, wo er eigentlich hingehört. Doch bleibt das ein Schein: »Die fremde falsche Welt ist nicht für dich, / Dort an dem stolzen Kaiserhof bleibst du / Dir ewig fremd mit deinem treuen Herzen!« Doch die Fremde ist nicht nur da, wohin in früheren Zeiten die Handwerksburschen oder die Bildungshungrigen auszogen, wie Goethe auf seine italienische Reise, sondern in die Fremde treiben auch Verbannung und Vertreibung, Exil und Flucht. Während der Zeit des Nationalsozialismus entstand eine ausgedehnte Exilliteratur, 15 in der das Fremdsein in der Fremde zum Ausdruck kommt. Eine Reihe der von Adorno als »Minima Moralia« veröffentlichten Überlegungen spiegeln die Situation des In-der-Fremde-seins wider. 16 Auf den Fremden gehe ich hier nur kurz ein 17; ich denke, daß in diesem Begriff das Fremdsein im eigentlichen Sinne heute kaum mehr eine Rolle spielt; die Bedeutung des Fremdseins des Fremden Unübersehbar ist inzwischen die Literatur der nach dem Zweiten Weltkrieg in die Fremde Exilierten. 16 Oder wir erinnern uns an Bertolt Brechts Aufzeichnungen aus dem Exil, – es wäre allerdings wohl zuviel gesagt, wenn man behaupten würde, daß seine Theorie des Epischen Theaters mit dem Grundbegriff der Verfremdung nicht zufällig im Exil entstand. 17 Gerade auch wegen der Aktualität seiner Problematik, die jedoch mit meinem Thema fast nichts mehr zu tun hat. 15
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scheint sich im allgemeinen Sprachgebrauch in einer bestimmten Richtung verengt zu haben. Denken wir z. B. daran, wie uns zuweilen ein uns sehr naher Mensch plötzlich ganz fremd vorkommen kann, ohne daß wir ihn deswegen als »Fremden« bezeichnen würden. 18 Heute denkt man, wenn von den Fremden die Rede ist, meistens an ausländische, manchmal sogar vor allem nichteuropäische Menschen, die in unser Land gekommen sind, um hier zu leben. 19 Die Zusammensetzungen »Fremdarbeiter« oder »Fremdenfeindlichkeit« gehen in diese Richtung. Ein Moment der aktuellen Fremdenfeindlichkeit erklärt sich daraus, daß überhaupt die Fremden im eigenen Land häufig mit einem gewissen Argwohn und Mißtrauen betrachtet werden und wurden, – zumindest wo sie nicht ausdrücklich als Gäste auftreten und aufgenommen werden. Und dies weitgehend unabhängig davon, ob sie tatsächlich als Eroberer oder als Immigranten, als Reisende, Forscher oder Missionare kamen. Viele mehr oder weniger abschätzige Ausdrücke für die Ausländer zeugen dafür, wie z. B. »Gringo« in Mexiko oder »Ferensch« (vermutlich abgeleitet von foreigner) in Äthiopien. Oder im Deutschen die Bezeichnung »Welsche« (vgl. Kauderwelsch), die sich auf die Südländer, zeitweise aber auch auf das fahrende Volk bezog. Eine genauere Übersetzung für Welscher lautet ein »Fremder bzw. ein Volk, der bzw. das eine nicht-germanische Sprache spricht«. Die fremde Sprache spielt – neben dem Aussehen – für das Mißtrauen gegen die Ausländer im eigenen Land eine entscheidende Rolle. Anderswo und für Andere sind wir selbst die Fremden. Wenn uns dann alles um uns herum fremd ist, so kommen wir uns selbst fremd vor in der fremden Umgebung, wir fühlen uns fremd. Unsere Vertrautheit mit uns selbst kann ins Schwanken geraten. Man fühlt sich als Fremder, nicht allein den Anderen gegenüber, also gleichsam aus deren Sicht, sondern man ist sich auch irgendwie selbst fremd. Das Selbstgefühl und Selbstverständnis ist mit abhängig einerseits
Die Grußformel »hallo, Fremder« oder »hello, Stranger« meint ja auch kein wirkliches Fremdsein, sondern gibt nur der Tatsache Ausdruck, daß man den so Begrüßten lange nicht gesehen hat. 19 Kommen uns nicht ausländische Touristen auf andere, gefühlsmäßig anders konnotierte Weise als Fremde vor als Immigranten? 18
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von der Umgebung überhaupt, andererseits von der Spiegelung durch die Anderen. Die gewohnte Selbst-Verständlichkeit verliert sich bis zu einem gewissen Grad mit der nicht vorhandenen FremdVerständlichkeit bzw. dem Nichtverstandenwerden durch Fremde. Zumal wenn wir uns ihnen nicht verständlich machen können. Die Reaktionsweisen auf die Erwartungen, Ansprüche, Anregungen, Fragen usw. der unbekannten Umwelt sind zunächst nicht eingespielt; wir kennen uns selbst nicht ganz, weil und solange wir noch nicht das Verhalten der Anderen kennen bzw. verstehen. Daß wir das Fremde gegenüber dem Bekannten geringer schätzen, bedeutet auch, dass wir das Fremde zugleich vertraut machen wollen, zunächst vielleicht durch Betasten, schließlich durch Benennung. Es ist wie mit dem Erstaunen, mit dem angeblich die Philosophie beginnt. Man begreift das Nichtkennen oder Nichtwissen gewöhnlich als einen Mangel, weil es bedeutet, daß man die betreffende Sache nicht versteht und darum nicht weiß, wie man mit ihr umzugehen, sie zu handhaben hat; also versucht man, diesen Mangel abzustellen, indem man sich um ein angemessenes Verständnis bemüht: Man fragt nach den Gründen und Ursachen, den genaueren Entstehungsumständen usw. So macht man sich vertraut mit der Sache, die dabei zunehmend ihre Erstaunlichkeit und Fremdheit verliert. Oben habe ich einen Satz aus Karl Valentins Dialog Die Fremden (mit Liesl Karlstadt, 1940) angeführt, in dem er das Fremdsein des Fremden im Sinne dessen, der den Anderen oder sich selbst als fremd erscheint, in den Blick gefaßt hat. Ich zitiere jetzt einen etwas längeren Ausschnitt aus diesem Dialog: »Ja, ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.« »Wieso?« »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.« … »Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.« »Sehr richtig! – Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder?« »Nein. Das ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, denn dann ist ihm nichts mehr fremd.« »Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein!« »Gewiß, manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm in der gleichen Stadt das Deutsche Museum, die Pinakothek und so weiter fremd sind.« »Damit wollen Sie also sagen, daß der Einheimische in 27 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
mancher Hinsicht in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein kann.« (158 f.) Bei einem Aufenthalt in Hawassa in Äthiopien habe ich viel über das, was mir hier als fremd erscheint, nachgedacht. Das Fremde in der Fremde – im fremden Land – ist nicht identisch mit dem erstaunlich Fremden, um das es mir in diesem Buch zu tun ist. Das Fremde ist da in ausgezeichnetem Sinne das Unbekannte, das noch nie Gesehene. An erster Stelle die fremden Menschen, ihr Aussehen, ihre Sprache, ihre Gesten und Verhaltensweisen, ihre Gebräuche, ihr Essen. Äthiopien umfaßt 58 Stämme; also sind die Menschen untereinander auch sehr verschieden, obgleich sie uns Europäern in erster Linie in ihrem Nicht-weiß-sein, eben als »Schwarze« erscheinen. In der Gegend, wo ich vor allem war, gibt es einen (für mein Empfinden) besonders schönen Menschenschlag. 20 Ich hebe das heraus, weil sich hier ein Grundzug zu zeigen scheint, auf den ich bei meinen Überlegungen, was denn hier das eigentlich Fremde sei, immer wieder gestoßen bin: Eine Fremdheit, die über das Unbekannt- und Ungewohntsein hinausgeht, empfindet man da, wo etwas in besonderer Weise interessiert, wo etwas nicht einfach nur anders ist als gewohnt, sondern wo es in »positiver« Weise anspricht. Zur Erfahrung der erstaunlichen Fremdheit gehört vermutlich ein Moment dessen, was Kant mit dem »interesselosen Wohlgefallen« gemeint hat, zu dem u. a. das anerkennende Zurücktreten vor dem Eigensein des jeweils Begegnenden gehört. Das erstaunlich Fremde ist nicht nur exotisch fremd wie im zoologischen Garten oder in einem Bilderbuch, sondern indem es in seiner eigenen Welt begegnet, zeigt es sich in seinem eigenen Recht und Anspruch. Wenn mir etwas in diesem Sinne als fremd erscheint, finde ich es irgendwie »schön«, – so angreifbar diese Bemerkung auch sein mag. Nicht alles, was uns in dem Sinne betrifft, daß es uns betroffen macht und unser tieferes Interesse 21 erregt, tut dies, weil wir es als fremd und eigen erfahren. Das Elend der in Addis neben ultramodern Aufgefallen sind mir vor allem immer wieder die hohen Wangenknochen und zuweilen ziemlich große Augen. 21 Der Begriff »Interesse« ist heute ziemlich verkommen, insofern unser Interesse allem und jedem zu gelten scheint, das sich irgendwie von anderem unterscheidet. Aber auf der anderen Seite wurde doch zuweilen auch betont, daß das Inter-esse, das Dazwischen- und Daruntersein ursprünglich nicht das bloß neugierige Betrachten 20
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Zur Frage der Bedrohlichkeit des Fremden
hochgezogenen Geschäftshäusern auf den Straßen hausenden Menschen in ihren Lumpen oder die zusammengestückelten und verfallenden Wellblechhütten erwecken weniger ein Gefühl der Fremdheit als eines des Grauens und Erbarmens. Umgekehrt erscheinen die Verhältnisse oder Dinge dann als fremd, aber eben gerade als nur noch fremd – und darum nicht als erstaunlich fremd –, wenn sich ein distanzierender, soziologisch-wissenschaftlicher Blick auf sie richtet. Natürlich gibt es auch Fremdes im Sinne des schlechthin Befremdlichen, z. B. die hohen Mauern um die Villen, die Wächter vor und in Geschäfts- und Privathäusern, vor allem das zerreißend extreme Nebeneinander von ostentativem Modernismus und erbärmlichem Elend. Erstaunlich fremd erschienen mir in Äthiopien neben manchen schönen Menschen u. a. die Farben und die Geräusche, die großen Blüten und die Bäume mit riesigen sehr glatten Stämmen und Ästen und die Vögel. Es gibt kleine Vögel mit langen Schwanzfedern, mit denen sie auf Telegraphendrähten ihr Gleichgewicht zu halten scheinen. Es gibt grotesk wirkende Marabus auf Dächern und Bäumen und wunderbar ruhig ihre hohen Kreise ziehende Geier. Eisvögel mit ihren gebogenen Schnäbeln tauchen blitzschnell ins Wasser, und Kolibris fliegen von einer zur anderen orangeroten Blüte des Johannisbrotbaumes. Die oftmals hoheitsvoll getragenen farbigen Gewänder der afrikanischen Frauen hatte ich schon vor Jahren auf einer Weltfrauenkonferenz bewundert. Doch z. B. auch jedes Budengeschäft, jede einfache Hütte hebt sich farblich gegenüber den umgebenden ab.
* Ich habe oben gesagt, daß vom Identitätszusammenhang des »Man« und der vorgängigen Angepaßtheit an die bestehenden Verhältnisse her gesehen das Zerbrechen der gewohnten und vertrauten Ordnung als Bedrohung erscheint. So wird im alltäglichen Sprachgebrauch das und Betasten meint, sondern gerade umgekehrt ein Sich-einlassen auf und Sichkümmern um etwas.
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A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
Fremde oftmals von vorneherein als gefährlich empfunden. 22 Manche Forscher sind sogar – wie ich denke, fälschlicherweise – überzeugt, daß das Fremde als solches immer ein Moment der »Grenzverletzung« und damit des irgendwie gewaltsamen Eindringens an sich habe, so daß es notwendig als bedrohlich erscheint. So schreibt z. B. Hansjörg Bay in einem Aufsatz, in dem er sich mit dem Fremden bei Kafka beschäftigt: »ein Moment jener Provokation und Infragestellung des Eigenen, die in der Figur des Eindringlings auf die Spitze getrieben wird, gehört zur Begegnung mit dem Fremden unvermeidlich hinzu.« (Das eigene Fremde …, 292) Wenn man von der Bedrohlichkeit des Fremden spricht, so denkt man charakteristischerweise zumeist an den Fremden im Sinne des aus der Fremde kommenden Menschen. Hinsichtlich seiner gilt oftmals ganz unreflektiert, was Marlen Haushofer in Die Wand einmal so ausdrückt: »Fremd und böse sind für mich noch immer ein und dasselbe.« (251) Adorno reflektiert die Gleichsetzung von fremd und böse, wenn er schreibt: »Wem das Dinghafte als radikal Böses gilt; wer alles, was ist, zur reinen Aktualität dynamisieren möchte, tendiert zur Feindschaft gegen das Andere, Fremde, dessen Name nicht umsonst in Entfremdung anklingt; jener Nichtidentität, zu der nicht allein das Bewußtsein sondern eine versöhnte Menschheit zu befreien wäre.« (Negative Dialektik, 191) Das faktisch Nichtidentische, Fremde erscheint Adorno zufolge dem zumal neuzeitlichen Bewußtsein, das alles in seinen Denkprozeß integrieren möchte, als dinghaft widerständig und damit als fremd, und das heißt hier sogleich als böse und gefährlich. Erst wenn die Menschen die »Kommunikation des Unterschiedenen« gelernt hätten, bräuchten sie das Fremde nicht mehr zu fürchten, eben weil sie gelernt hätten, es als Unterschiedenes zu achten und sich von ihm etwas sagen zu lassen, – und sei es auch etwas Fremdes oder Fremdartiges, vielleicht Befremdliches. Seiner Nichtidentität würde mit Aufmerksamkeit und zuweilen auch Anteilnahme begegnet. Sowohl aufgrund der Scheu und Angst vor dem Selbständigen und Dinghaften als auch weil sie den Charakter des Ungewohnten Diese Erfahrung von Bedrohung kann dann allerdings auch ihr Gutes haben, wenn sie, mit Hebbel gesagt, an den Schlaf der Welt rührt und damit Besinnung allererst möglich werden läßt. (Gyges und sein Ring)
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Zur Frage der Bedrohlichkeit des Fremden
haben und damit in die gewohnte Ordnung eindringen und sie in Frage stellen, erscheinen der und das Fremde als Gefahr. So behauptet auch Waldenfels, das Fremde müsse »als Beunruhigung, als Störung, als Getroffensein« gedacht werden. (Grundmotive, 54) Und Jean Luc Nancy schreibt: »Etwas vom Eindringling muß der Fremde haben, sonst büßt er seine Fremdheit ein«. (Zitiert bei Bay, Kafkas Tinnitus, 41) Schließlich erwähne ich noch einen ganz anderen Beleg für die unhinterfragte Bewertung des Fremden als eines Gefährlichen: Im philosophischen Wörterbuch wird bei der Erörterung von »Heimat« im weiteren Sinne mit Selbstverständlichkeit von der Bedrohlichkeit des Fremden ausgegangen, indem die »Polarität von Heimat und Welt« als Polarität von »vertrauter eigener Welt einerseits und fremder Welt (Bedrohung, Entwurzelung, Heimweh) andererseits« erläutert wird. Das Wort »Heimat« hat – an ihm selbst, d. h. auch vor jeder fragwürdigen Idealisierung, wie z. B. in Heimatdichtung, Heimatfilm usw. – immer einen, zumeist emotional aufgeladenen, positiven Klang; dementsprechend soll dann umgekehrt das nicht ihr Zugehörige, Fremde als negativ, als Gefährdung und Verlust erfahren werden. Die Vorstellung, daß einem etwas ganz Fremdes begegnen könnte, ist in unserer kulturellen Tradition oft angstbesetzt. Dabei sind die Strategien des Umgangs mit dem Gefühl der Bedrohung durch das Fremde sehr verschiedenartig. Wir können das Gefürchtete kleinreden, indem wir es verachten und mißachten und dementsprechend ausgrenzen. Wir können es insgeheim bewundern und vielleicht unbewußt zu kopieren suchen. Wir können uns abschotten und uns möglichst fernhalten von ihm. Oder wir können aggressiv werden und es zu unterwerfen oder auch zu assimilieren suchen, etwa indem wir von ihm fordern, sich anzupassen und sich in unsere Welt zu integrieren. Die Existenz eines Fremden kann uns grundsätzlich in Frage stellen und insofern als Gefährdung unseres eigenen Selbst- und Soseins erscheinen. Das Fremde ist, wie es nicht an sich, sondern für uns fremd ist, auch nicht an sich, sondern für uns bedrohlich. U. a. hängt die Weise, wie das Fremde uns trifft, davon ab, wie sicher wir uns unserer selbst und unserer Welt sind oder wie abhängig wir uns umgekehrt, bewußt oder unbewußt, von unserem Uns-auskennen und Bescheid-wissen fühlen, von der Ordnung des Seins und Wissens, in die wir jeweils hineingehören, und wie unsicher wir dementspre31 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
chend sind. Ob wir ein Fremdes als bedrohlich empfinden, ergibt sich letztlich aus der Weise, wie wir selbst in der Welt sind. Auch wenn es aufgrund seiner äußeren oder inneren Ungleichheit eine gewisse Störung, weil Unterbrechung der gewohnten Ordnung darstellte, müßte uns ein Fremdes dann nicht beunruhigen, wenn und solange wir uns mit dieser Ordnung nicht identifizieren würden und es also zulassen könnten, daß sich etwas sowohl innerhalb wie außerhalb ihrer befinden kann. Oftmals erscheint nicht nur das die Ordnung Störende, sondern auch das Offene, Leere, Undefinierte als bedrohlich und erschrekkend, – eben weil man es nicht kennt, was natürlich wiederum auch heißt, daß es in keine Ordnung eingepaßt ist. Diese gängige Vorstellung von der Bedrohlichkeit des noch Undefinierten zeigt sich z. B. auch in der von einigen Psychoanalytikern vertretenen Theorie des »Geburtstraumas«. Sie setzt u. a. voraus, daß das kleine Menschenwesen sich nach der Geburt in einer Welt des Unbekannten und Fremden zunächst einmal ängstigen muß. In diesem Ansatz liegt die im Grunde unhinterfragte Bewertung, daß das Fremde als das NichtEigene und Nicht-Bekannte notwendig ein Un-geheures und Unheimliches ist, etwas also, was einem eben darum als bedrohlich und beängstigend erscheint. Selbst wenn wir einmal davon ausgehen, unsere je eigene Welt sei so etwas wie ein umgrenztes Zuhause, außerhalb dessen sich bis zum Horizont, oder, besser gesagt, jenseits des Horizontes, ein unendlicher Bereich des Fremden und (noch) Unbekannten erstreckt, muß die Berührung mit diesem Offenen an sich nichts Erschreckendes haben. Könnte man das Hinausgelangen aus der dunklen Höhle des mütterlichen Leibes nicht auch als eine Befreiung zum Licht und zum Neuen begreifen, als den Beginn einer Reise in ein noch unbekanntes, erstaunliches Land, das für die Zukunft eine unendliche Zahl von spannenden Kenntnissen und Abenteuern bereithält, in einer Welt, die das kleine Wesen sich dann ganz allmählich »erobert«, indem es immer mehr Gegenstände in den Bereich des Bekannten und Vertrauten und schließlich Gewohnten hineinholt, wobei es sie zunehmend zu benennen und zu verstehen lernt? Zumindest dann, wenn es auf dieser Reise liebevoll und fürsorgend begleitet wird. Der Säugling, der mit seinen Fingern spielt und mit Lachen auf jedes ihm entgegenschauende Lächeln antwortet, macht 32
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Zur Frage der Bedrohlichkeit des Fremden
keineswegs den Eindruck eines in der Fremde verlorenen Mängelwesens. Zweifellos ist ihm die Welt noch nicht als ganze vertraut. Aber ist ihm das eine negative Erfahrung? Empfindet es Unvertrautheit, Fremdheit, sogar Angst? Fakt bleibt allerdings, daß man das Fremde, z. B. das geographisch Fremde, da, wo es sich in das Nahe einmischt, oftmals ganz unreflektiert fürchtet und ablehnt. Nicht zufällig erhielt das Wort, mit dem die Griechen diejenigen benannten, die mit »fremder Sprache« sprechen, barbaroi, später den Sinn des eindeutig negativ konnotierten Barbarischen. In der Tat hat sich ja eine Vielzahl von Völkern und Stämmen überall auf der Welt und zu allen Zeiten selbst als »die Menschen« definiert, alle Anderen, Fremden fielen als solche gewissermaßen aus dem Umkreis des als »menschlich« Anerkannten heraus. Jene, die eine andere, unverständliche Sprache sprechen, anders gekleidet sind und andere Sitten haben, erscheinen als sonderbar, ja manchmal als »komisch«; weil sie unbekannten Regeln folgen, kommt einem ihr Verhalten absurd und irrational vor. Zumindest in unserer Kultur heißt das dann oftmals unmittelbar auch: ungesittet, barbarisch. Aber das Fremde in diesem weiten Sinne ist doch auch das, was neugierig macht, was man näher kennenlernen, »hinter das« man kommen möchte. Fremdheit ist ein vieldeutiges Phänomen mit vielen Gesichtern. Das gilt für die »Fremdheit der Seele auf Erden« im allgemeinen, wie für den kleinen Fremdling, der der Säugling ist, wie für die kulturelle, kognitive, geographische Fremdheit. Zeigt sie sich als etwas Bedrohliches oder Unheimliches, so kann sie zu Ablehnung und auch zu Unterdrückung oder sogar Vernichtung reizen. Aber sie kann auch als etwas Erstaunliches, Spannendes und Aufregendes erfahren werden, auf das sich die Neugier, das Begehren und die Bewunderung richten, das Ehrfurcht, sogar Anbetung, oftmals den Wunsch nach Kennenlernen und Auseinandersetzung hervorruft. Der Fremde kann als Eindringling und als bedrohlich erfahren werden, weil er das eigene Sein und die eigene Ordnung in Frage stellt oder zu stellen scheint, – aber auch als Verheißung, sogar als von den Göttern Gesandter, als seltsam, exotisch. Oder wir sind selbst Fremde und erfahren selbst Isolierung und Ausgestoßensein, – aber auch Interesse oder Anteilnahme. Als Fremder kann man sich unsicher, allein und verloren vorkommen, ausgegrenzt und ausgeschlossen; 33 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
aber das Bewußtsein des eigenen Fremd- und Andersseins kann in anderen Situationen auch ein selbstbewußtes Sich-unterscheiden implizieren, und wir können als Gäste, die Erstaunliches zu erzählen vermögen, freundliche Aufnahme erfahren. Ein genauerer Blick auf das Fremdsein zeigt also, daß das Fremde keineswegs immer als Provokation empfunden wird, der Fremde ist keineswegs immer ein Eindringling. Wir können – in der wissenschaftlichen Arbeit wie im Alltag – das uns begegnende Fremde durchaus als glückhaft und spannend erfahren, gerade weil es ein Unerwartetes und eben darum Frag-würdiges ist. 23 Das Fremdsein und die Erstaunlichkeit können sich einem bewußten Sich-öffnen gegenüber dem Anderen als einem Anderen verdanken, einem achtsamen Zurücktreten vor dem vielleicht vormals schon Bekannten, einem gewollten Heraustreten aus den gewohnten Bezügen. Zu solchem Zurücktreten können wir z. B. dadurch herausgefordert werden, daß ein Fremdes sich unversehens vor uns auftut, indem es unseren Blick plötzlich auf sich zieht, uns in einer rätselhaften Weise anspricht, – wie die kleine Blume, von der Rilke in einem Gedicht sagt, daß sie »eines fremden Lebens ist für alle.« (Das Buch von der Pilgerschaft) Oder denken wir an das in vielen Kulturen weit verbreitete Gastrecht. Das griechische Wort xenos nennt seit der Ilias sowohl den Fremden wie den Gast, den Gastfreund wie den Gäste aufnehmenden Wirt. (Interessanterweise bedeutet das lateinische »hostis« dagegen Fremdling und Feind!) Als Odysseus’ Sohn Telemachos auf Athenas Rat hin und mit ihrem Beistand zu Nestor nach Pylos und dann zu Menelaos nach Sparta fährt, um etwas über das Schicksal seines Vaters zu erfahren, wird er von beiden mit Selbstverständlichkeit und unter Berufung auf Zeus und auf das Recht und die Sitte der Gastfreundschaft aufgenommen und später reich mit Gastgeschenken bedacht wieder nach Hause geschickt. Und der König Alkinoos sagt, als der noch nicht erkannte Odysseus an seinen Hof kommt: »Dieser Fremdling (ich kenn’ ihn nicht) ist, irrend vom Morgen- / Oder vom Abendlande, zu meinem Hause gekommen / Und verlangt nun weiter, und fleht um Bestimmung der Abfahrt. / Laßt uns denn jetzo die Reise beschleunigen, wie wir gewohnt sind, / 23
Bay dagegen spricht hier abwertend von »Alteritätsromantik«.
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Zum Begriff des Erstaunlichen und des Erstaunens. Platon und Aristoteles
Denn kein Fremdling, der Schutz in meinen Wohnungen suchet, / Harret lange mit Seufzen, daß man zur Heimat ihn sende.« (VIII, 28 ff.) Der Fremdling, der mit Selbstverständlichkeit als Gast aufgenommen und später weitergeleitet wird, erscheint nicht als Bedrohung, sondern viel eher als Bedrohter, der zu schützen und dem zu helfen ist.
* Verstehe ich das Fremde als Erstaunliches, so können wir uns seiner Bedeutung u. a. über eine Erläuterung dessen nähern, was mit dem Erstaunlichen selbst – d. h. auch mit dem Staunen und dem Erstaunen, die ich hier synonym gebrauche – gemeint ist. Ganz allgemein ist das Staunen ein Gefühl, mit dem man aus einer Selbstverständlichkeit und Vertrautheit heraustritt oder, je nachdem, hinausgeworfen wird. Dabei begreift man das Erstaunen gewöhnlich als die Empfindung einer Art Mangel, eines Mangels an Verständnis, den man abzustellen sucht, indem man nach den Gründen und Ursachen, den genaueren Entstehungsumständen usw. fragt. Damit verliert dann – wissentlich und willentlich – das Begegnende seine anfängliche Erstaunlichkeit und Fremdheit. Mir geht es dagegen gerade nicht um das Überwinden, sondern allererst um den Gewinn der Erstaunlichkeit. Erstaunen und Staunen in diesem Sinne sind so etwas wie eine grundsätzliche Haltung des Sich-wunderns und der Verwunderung: sie haben etwas mit dem Wunder zu tun. Ein Wunder und etwas Wundersames ist das, was sich mit »natürlichen« Mitteln nicht begreifen läßt, was aus der gewohnten und gewöhnlichen Gesetzlichkeit herausfällt, – und als solches eben staunen macht. Gewöhnlich denken wir in eingefahrenen Schemata; nehmen wir plötzlich etwas wahr, das sich den gewohnten Kategorien und Sichtweisen nicht fügt, dann wundern wir uns, dann stehen wir staunend davor. Man hat immer wieder behauptet, daß die Philosophie mit dem Staunen und Sich-wundern beginnt. Was heißt da Erstaunen? Ist der Anfang der Philosophie in so etwas wie dem sogenannten »kindlichen Staunen« zu sehen, einem verwunderten Augenaufschlagen an35 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
gesichts dessen, was ist, oder sogar hinsichtlich der metaphysischen Grundtatsache, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts? Genauer erscheinen dem philosophischen Staunen unserer abendländischen Tradition jedoch nicht so sehr das Daß und das allgemeine Wie der Welt und des Weltlaufs als befremdlich oder fremdartig, sondern einerseits – so bei Platon – zunächst unerklärliche Begriffsverhältnisse, andererseits – bei Aristoteles – merkwürdige und unerwartete Geschehnisse und Erscheinungen. Das bei beiden gemeinte Erstaunen macht sich auf den Weg zum Wissen, also auf einen Weg, der von seinem Anfang, dem Erstaunen, fortführen soll zum Wissen und Verstehen. Insofern können wir, zumindest im Blick auf ihre historische Ausprägung, sogar von einer faktischen Erstaunensferne oder Erstaunensentfernung der traditionellen Philosophie sprechen. Die erste Stelle, an der vom Staunen gehandelt wird, findet sich bei Platon im Theaitetos (154e–155). Sokrates spricht hier, kurz vor seinem Tode, mit Theodoros und dem jungen Theaitetos über »das Wesen der Erkenntnis«. Er zeigt an zwei Beispielen Widersprüche auf, die sich aus der zunächst thematisierten Auffassung des Protagoras ergeben. Dabei führt er den scheinbar alltäglichen und selbstverständlichen Sachverhalt an, daß etwas durchaus gleich bleiben kann, wenn es zugleich ein anderes wird. Dies ist etwa dann der Fall, wenn etwas selbst seine Größe behält, eine andere Sache aber ihre Größe ändert, wie z. B. – das ist Sokrates’ zweites Beispiel – wenn ein Erwachsener in seiner Größe gleich bleibt, während ihm ein Jüngerer allmählich über den Kopf wächst. Sokrates findet diesen doch ganz und gar selbstverständlichen Sachverhalt überaus befremdend. Wie kann denn, so fragt er, etwas anders werden, ohne daß es selbst sich verändert? Wenn wir daran festhalten müssen, daß einerseits etwas quantitativ und numerisch nicht mehr oder weniger werden kann, solange es sich selbst gleich bleibt, und daß andererseits, wenn zu etwas nichts hinzugefügt noch von ihm etwas weggenommen wird, es weder wachsen noch abnehmen kann, und daß drittens etwas, das vorher nicht existierte, nicht nachher da sein kann, ohne daß es geworden oder entstanden wäre, – wie können wir dann zugeben, daß etwas größer und kleiner ist oder wird, ohne sich selbst zu verändern? Will man dieser befremdlichen Sache ernsthaft auf den Grund gehen, dann muß man sich, so sagt Sokrates, »ganz gelassen in voller Muße« auf sie einlassen. 36
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Zum Begriff des Erstaunlichen und des Erstaunens. Platon und Aristoteles
Er fragt seinen jungen Gesprächspartner: »Du kommst doch wohl mit, Theaitetos? Wenigstens scheinst du mir nicht unerfahren in diesen Dingen zu sein.« Und Theaitetos antwortet: »Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich erstaune ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hinsehe, schwindelt mir ordentlich.« Hier taucht also das Erstaunen auf, und zwar interessanterweise zusammen mit dem Schwindligwerden. Es kann einem in der Tat schwindlig werden, wenn man sich dem Fremden und seiner Unbegreifbarkeit aussetzt, wenn man mit ihm umgehen will und doch sieht, daß es keinen begehbaren Weg dafür gibt. Dieses Erstaunen ist für Sokrates ein entschiedener Beweis für die philosophische Begabung des jungen Theaitetos. »Denn dies, das Erstaunen«, so sagt er, »ist die Erfahrensweise oder Grundstimmung eines Philosophen«, mala gar philosophou touto to pathos, to thaumazein – wörtlich: »denn am meisten ist dies das Pathos des Philosophen, das Erstaunen.« Und er fährt fort: »Denn es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.« Das anfängliche Pathos der Philosophie entzündet sich also an einer scheinbar ganz alltäglichen Frage. Ein unspektakulärer Sachverhalt befremdet plötzlich, so daß man darüber nachzudenken, zu philosophieren beginnt. Genauer ist es allerdings gar nicht das alltägliche Phänomen, über das Theaitetos sich wundert. Im Grunde staunt er nicht über das Faktum, daß einer dem anderen über den Kopf wachsen kann. Das wirklich erstaunliche Phänomen liegt nicht in dem empirischen Sachverhalt. Was hier erstaunlich ist, das sind genauer die Begriffsbeziehungen zwischen Gleichheit und Verschiedenheit. Sie werden von den Phänomenen abgezogen – abstrahiert – und für sich betrachtet und erscheinen dem näheren Zusehen dann zunächst als unverständlich und befremdlich. Diese Begriffe – also etwa Gleichheit und Größe, Bewegung und Ruhe, Sein und Werden – sind für Platon Seinsbestimmungen und d. h. Seinsprinzipien oder Seinsgründe, die in den vielfältigen Erscheinungen auf einheitliche Weise wirken und das Sein der Erscheinungen ausmachen. Erstaunlich und befremdlich sind dabei die Widersprüche, die für den, der genau hinzusehen und genau zu denken vermag, zwischen verschiedenen Begriffen oder Seinsbestimmungen zu bestehen scheinen. Darum ist es hier auch nicht der sogenannte gesunde Menschenverstand oder ein alltägliches kindliches Gemüt, was staunt, sondern ein Geist, der schon zu jenen Begriffs37 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
verhältnissen vorgedrungen ist. Der Anfang der Philosophie besteht darin, Fragwürdiges als ein solches zu erkennen, genauer, tatsächlich von solchen Fragen ergriffen, umgetrieben zu werden, bis einem schwindlig wird. Im philosophischen Sinne spannend und erstaunlich ist in den platonischen Dialogen somit nicht etwas, das sich empirisch als seltsam und befremdlich zeigen würde, wovor man starr vor Staunen und sprachlos stehen bliebe, etwa eine Göttererscheinung oder eine außerordentlich tapfere Kriegstat oder die Schönheit einer Statue. Es gehört gerade zur eigentlichen Leistung der sokratischen Gesprächsführung, daß er im scheinbar Selbstverständlichen etwas Fragwürdiges und Erstaunliches aufweist. Die Grundstimmung des thaumazein – des Erstaunens – ist ein Ergriffensein, ein Ausgesetztsein, ein Sich-Offenhalten für das, was im Allgemeinen und Grundsätzlichen bei genauerem Hinsehen als befremdlich und erstaunlich erscheint. Oder anders gesagt: Philosophieren heißt, das Sein als das scheinbar Vertraute und Verständliche in seiner Befremdlichkeit zu erfahren. Entscheidend ist nun aber dieses: Sokrates fragt, gleich nachdem er Theaitetos wegen seiner Fähigkeit zum Staunen gelobt hat, weiter, ob er denn schon eingesehen habe, warum es sich mit jenen erstaunlichen Sachverhalten des Zugleich von Identität und Veränderung so verhalte, wie es sich verhält. Theaitetos hatte gesagt, er staune darüber, was denn bloß diese besprochenen Verhältnisse oder Sachen seien, was es mit ihnen auf sich habe, ti pot’ esti tauta. Sokrates nimmt diese Frage auf, aber er führt sie weiter, indem er fragt, wodurch und d. h. warum das, wovon Protagoras sprach, so beschaffen sei, di’ ho tauta toiaut’ estin; das ti esti, was ist es, wird zum dia ti esti, wodurch oder warum ist es. Die Richtung des erstaunenden Denkens führt zur Frage nach dem Grund. Sokrates verspricht, die Geheimnisse, ta mysteria, darzulegen. Das heißt hier: »Der bestimmende Anfang, von dem auch all das von uns Erörterte abhängt, besteht darin, daß für sie [für Protagoras und seine Anhänger] alles Bewegung ist und nichts außerdem.« Das Geheimnis, das Wunder oder Wunderbare in den hier verhandelten Sachverhalten läßt sich von einem bestimmten philosophischen Ansatz aus begründen. Ihn darzulegen, heißt, das Geheimnis zu lüften, die Erstaunlichkeit zu tilgen. Insofern ist der Anfang mit dem Staunen in dem Sinne ein Anfang, daß er im Fortgang 38
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Zum Begriff des Erstaunlichen und des Erstaunens. Platon und Aristoteles
gerade verlassen wird, daß er sich also in die Bewegung, die er anfängt, in das Philosophieren, überführt. Der gedankliche und sprachliche Stil der Untersuchung des Aristoteles, in der sein Hinweis auf das Staunen als Anfang der Philosophie steht, unterscheidet sich beträchtlich von Platons sokratischen Dialogen. 24 In den beiden ersten Kapiteln des sogenannten ersten Buches des als »Metaphysik« überlieferten Werkes versucht Aristoteles eine Bestimmung der philosophischen Weisheit. Am Ende (982 f.) kommt er zu dem Schluß: »Aus all dem Gesagten ergibt sich nun, daß der in Frage stehende Name (sophia) einundderselben Wissenschaft zukommt. Diese ist das theoretische Wissen von den ersten Gründen und Ursachen«. Diese Bestimmung erläutert er näher, indem er den theoretischen Charakter der Philosophie betont, der schon bei den ersten Philosophen gesehen wurde. 25 Zunächst nämlich, so argumentiert Aristoteles, begannen die Menschen auf Grund eines Erstaunens zu philosophieren, »wobei sie sich anfangs über die Seltsamkeiten, die ihnen vor Augen [wörtlich: vor den Händen] lagen, wunderten. Dann aber schritten sie allmählich so fort, daß sie auch über die größeren Dinge Fragen stellten, etwa über die Mondphasen und über das die Sonne und die Sterne Betreffende und über die Entstehung von allem.« Das Staunen oder die Verwunderung der Philosophen machen also nach Aristoteles im Laufe der Zeit eine Entwicklung durch. Zunächst erstaunt man über die kleinen Dinge des Alltags, die einem merkwürdig und befremdlich vorkommen. Aber wenn man im Denken weiter fortschreitet, dann verstrickt man sich in Fragen über größere Merkwürdigkeiten, wie z. B. darüber, wie bzw. wodurch das Man könnte sich allerdings fragen, ob Aristoteles vielleicht den Dialog Theaitetos bei der Ausarbeitung seiner Untersuchung im Hinterkopf gehabt hat, weil einige Überlegungen und Seitengedanken in beiden Texten vorkommen, wie eben auch der Hinweis auf das Staunen oder die Verwunderung. Der ist hier bei Aristoteles allerdings gewichtiger und ausführlicher, vor allem wird der Bezug auf das Fragen und das Wissen, zu dem das Staunen führt und führen will, bei Aristoteles ausdrücklicher dargelegt als bei Platon. 25 Man staunt nicht etwa, weil man damit etwas erreichen, geschweige denn etwas hervorbringen will. Das Erstaunen ist ein absichtsloses Gefühl oder pathos, und damit etwas grundsätzlich anderes als ein zweckrationales Verhalten. Es ist ein theoretisches Tun, während die poiesis und die techne end- oder zielbestimmte, praktische Verhaltensweisen sind. 24
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A Abgrenzende Hinfhrung zum erstaunlich Fremden
Ganze des Seienden entstanden ist. 26 Man empfindet eine Unwissenheit und wundert sich und fragt nach. Wenn aber dieser weitere, im eigentlichen Sinne philosophierende Schritt vollzogen wird, dann hört damit das Erstaunen selbst gerade auf, das Begegnende erscheint nun nicht mehr als befremdlich. Aristoteles sagt: »Allerdings muß uns der Besitz des Wissens irgendwie in das Gegenteil dessen umschlagen, was am Anfang gefragt wurde. Man beginnt nämlich, wie gesagt, immer, indem man sich wundert, ob die Dinge wirklich so sind, wie sie sind, wie z. B. über die beweglichen Marionetten oder über die Sonnenwende oder darüber, daß die Diagonale in einem Quadrat den Seiten nicht kommensurabel ist. … Es muß sich aber in sein Gegenteil und ins Bessere verkehren …, wenn man auch hier die Sache verstehen lernt. Nichts würde nämlich einen in der Geometrie bewanderten Mann so erstaunen, wie wenn die Diagonale in dieser Weise meßbar wäre.« Aber diese letztere Möglichkeit des Erstaunens ist eben eine Unmöglichkeit. Man wundert sich, wenn man den Grund nicht kennt, – von etwas, das doch zweifelsfrei seinen Grund hat. Die Philosophie, das höchste Wissen beginnt zwar mit dem Staunen, aber in der Weise, daß sein eigener Vollzug jenes Erstaunen hinfällig, weil gegenstandslos werden läßt. Daß etwas erstaunlich ist, heißt für das traditionelle Philosophieren wie für die Wissenschaft überhaupt, daß es noch nicht erkannt, noch nicht begründet ist. Der Wissende staunt nicht mehr, sondern weiß. Er hat die Geheimnisse gelöst, die Wunder erklärt. Erklärte Wunder sind keine Wunder mehr, gelöste Geheimnisse keine Geheimnisse, zumindest für die, die sich um ihre Lösung bemüht haben. Bei Heidegger gibt es eine ähnliche Unterscheidung, wobei allerdings das, was bei Aristoteles bereits die erste Stufe des philosophischen Staunens ausmacht, noch vor dem Philosophieren steht und entsprechend abgewertet wird, während das eigentliche Erstaunen bei Heidegger da anfängt, wo es bei Aristoteles schon aufgehört hat. Heidegger schreibt: »Das Sichwundern und Verwundern [gegen das er dann das eigentliche Er-staunen absetzt] hält sich stets an ein auffallendes Ungewöhnliches und hebt dieses aus dem Gewöhnlichen heraus und dagegen ab. Das Bekannte, Verständliche, Erklärliche ist dabei der nicht weiter beachtete Umkreis, in dem das Verwunderliche aufkommt«. (Grundfragen der Philosophie, 157) Das ist ungefähr das, was auch Aristoteles mit dem Sich-wundern über die alltäglichen Seltsamkeiten meint. Für ihn aber beginnt damit bereits, anders als für Heidegger, die philosophische Haltung, um von da aus zu wichtigeren, tieferen Geheimnissen fortzuschreiten. 26
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B Das erstaunlich Fremde
Im gewöhnlichen Leben nehmen wir das Erscheinende zumeist fraglos und letztlich gleichgültig hin. Die Möglichkeit der Erfahrung von Fremdheit ist keine ungeschichtliche Gegebenheit, die dem Menschen »natürlicherweise« widerfährt, kein sogenanntes anthropologisches Faktum. Es gibt Beispiele für geschichtliche Phasen, in denen der Fremdheit eine größere Bedeutung zukam als in anderen: In Zeiten der Entdeckung ferner Länder und der Aufklärung wuchs das Interesse an fremden Menschen und fremden Lebensweisen und die wissenschaftliche Neugier gegenüber dem Fremden überhaupt, in der Romantik erschien die ferne Fremde als verlockend und verheißungsvoll, in Zeiten der Dekadenz kann das Gefühl des Sich-selbstfremd-fühlens eine besondere Bedeutung gewinnen usw. In unserer Zeit haben wir uns, wie schon gesagt, das Erstaunen vor dem Begegnenden so gut wie abgewöhnt. In der »Wissensgesellschaft« scheinen die Koordinaten des Begreifens für jedweden Gegenstand, so unverstanden er bisher auch sein mag, immer schon gegeben zu sein, wir wissen, in welchem Wissenszusammenhang wir ihn unterbringen, jedenfalls, wo wir Auskünfte über ihn einholen können, indem wir ihn z. B. googeln. Allerdings könnte vielleicht gerade in unserer geschichtlichen Situation, wenn wir sehen, daß wir im Lauf der hinter uns liegenden abendländischen Geschichte die Begegnung mit dem Anderen als Anderen weitgehend verlernt haben, ein neues Erstaunen vor dem Fremdsein des Anderen auch zu einer spezifischen Chance werden. Wenn wir Gefahr laufen, der »eigentlichen« Welt immer mehr entfremdet zu werden, könnte sich in der Betonung des Anderen und Fremden eine Kritik an der Identifizierungstendenz der Tradition Bahn brechen und so auch eine Besinnung darauf, daß die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Welt statt einer aneignenden und subsumierenden vielmehr eine freilassende und offen lassende Beziehung sein könnte. Eine solche 41 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
B Das erstaunlich Fremde
Beziehung wäre dem Begegnenden gegenüber nicht gleichgültig, sondern würde es als Fremdes, Erstaunliches, manchmal vielleicht Bewundernswertes anerkennen. Es gibt neben und trotz der herrschenden Immergleichheit doch auch vielfältige Situationen, in denen man aus dem Gewohnten der vertrauten Umgebung herausgeworfen wird oder heraustritt, sei es gezwungenermaßen – durch Krankheit, Verlust, Hunger, Vertreibung usw. – oder sei es absichtlich, getrieben durch Neugier, Forscherdrang, Abenteuerlust. Jeweils entsteht eine Notwendigkeit oder ein Interesse, sich je nachdem entweder mit Fremdem, Ungewohntem und Unbekanntem auseinanderzusetzen oder andererseits selbst ein Fremder zu werden, mit all dem, was das möglicherweise an Unsicherheit, Alleinsein, Angst, Entfremdung, Anpassungszwang mit sich bringen kann. Es begegnet uns vielfältig Unverständliches, noch Unbekanntes, das zunächst einmal nicht in den Rahmen des Gewohnten paßt. Z. B. wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, der uns sonderbar vorkommt, weil er anders aussieht oder sich anders verhält, als wir es von unseren Nächsten gewohnt sind; oder wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, z. B. wenn wir uns einem uns bisher unbekannten Naturereignis gegenüber sehen, wenn wir in eine fremde Umgebung verstoßen werden usw. Entscheidend für das Erlernen oder Einüben eines neuen, nichtidentifizierenden Weltbezugs scheint mir jedoch dasjenige Staunen zu sein, das im Raum einer vorgängigen Bekanntheit entsteht; unter Gewohntem und vielleicht Vertrautem zeigt sich dann solches, das wir plötzlich nicht mehr verstehen, das nicht mehr in den Rahmen paßt, mit den überkommenen Kategorien nicht faßbar erscheint. Wir staunen über Freunde, die sich auf verblüffende Weise verhalten, über Ereignisse, über Farben, über Geräusche, die wir nicht erwartet hatten und die uns irgendwie bedeutsam erscheinen. Sie kommen uns fremd vor. Dabei handelt es sich zuweilen um etwas normalerweise ganz Selbstverständliches, das uns plötzlich – wie Rilkes Malte die unter dem Tisch nach dem heruntergefallenen Buntstift suchende eigene Hand »ein bißchen wie ein Wassertier« erscheint (114) – ganz losgelöst aus den vertrauten Bezügen vorkommt. Das Erstaunen vor Fremdem kann uns eben auch da treffen, wo eigentlich gar nichts Neues, Unerwartetes, bisher Unbekanntes eintritt, wenn nämlich unser Wahrnehmen das, was es erfährt, plötz42
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Das Erstaunen vor dem unscheinbaren Fremden im nichthaften Raum
lich nicht mehr als einfach gegeben und selbstverständlich hinnimmt. Wir vermögen zurückzutreten, aufzumerken, staunend vor etwas stehen zu bleiben. Aus einer im übrigen gewohnten Umgebung und aus gewohnten Umständen heraus begegnet uns dann etwas als fremd, es vollzieht sich ein Bruch im fraglosen Unsauskennen in der Welt und mit der Welt. Da ist – plötzlich oder allmählich sichtbar werdend – etwas, ein Ding oder ein Verhalten oder ein Geschehnis, das jetzt, da wir mit neuem Aufmerken darauf schauen, nicht mehr ins Bild paßt und uns darum im gewohnten Umgang mit der Welt innehalten läßt. Auch in der vertrauten Welt gibt es Vertrautes und Fremdes. Manchmal sehen wir die Welt plötzlich wie mit anderen Augen, möglicherweise verlieren wir sogar die allgemeine Orientierung. Das sonst Vertraute und Bekannte spricht uns wie mit einer fremden Sprache an. Das begegnende Andere fällt – vielleicht nur für kurze Zeit – aus den gewohnten Zusammenhängen heraus, es kommt uns fremd, erstaunlich vor; zumindest momentan oder vorläufig verzichten wir auf alles Erklären und rationale Verstehen. Dieses Erfahren von Fremdheit scheint zunächst der Erfahrung von Vertrautheit strikt entgegengesetzt zu sein. Das Vertraute ist das Liebgewordene, bei dem man sich sicher fühlt; es bedeutet ein Gefühl der Geborgenheit, wie es einmal in einer Strophe aus Rilkes Das Buch vom mönchischen Leben anklingt: »So bin ich nur als Kind erwacht, / so sicher im Vertraun / nach jeder Angst und jeder Nacht / dich wieder anzuschaun.« Zu diesem im Vertrauen geborgenen Aufwachen gehören nicht nur das vertraute Antlitz, sondern als verläßliche Umgebung auch deren vertraute Dinge. Sie ergeben eine Sicherheit, die nicht die certitudo des gewissen, weil begründeten Wissens, vielmehr die Sicherheit der Geborgenheit, des Zusammen- und Hingehörens ist. Der Kleine Prinz sieht ein, daß seine Rose auf dem fernen Planeten eine besondere und einmalige ist, weil er sie gezähmt hat, weil sie ihm durch die Sorge und die Mühe, die er sich mit ihr gegeben hat, zu etwas im tiefsten Sinne Vertrauten geworden ist. Sie ist damit aber nicht zu einem Angeeigneten und Selbstverständlichen geworden. Die Vertrautheit wird durch die Fremdheit nicht so sehr ersetzt, als vielmehr ergänzt und dadurch verändert. Sie wird einerseits, einfach dadurch, daß man sie geschehen läßt, eingeübt, aber andererseits doch so, daß das Andere zugleich seine Be43 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
B Das erstaunlich Fremde
sonderheit und Fremdheit behält. Es fehlt jedes Moment der Assimilation und Identifikation, sei es durch Inbesitznahme, sei es durch Erklärung. Gewissermaßen wird die Vertrautheit in das Fremdsein selbst integriert – oder umgekehrt. Das Zähmen läßt die erstaunliche Besonderheit und damit auch die Fremdheit des Anderen bestehen und bewahrt die Begegnung auf diese Weise vor Nivellierung und bloßer Gewöhnung. Darin liegt, so scheint mir, das eigentlich Spannende am Phänomen des Fremden, das uns erstaunt. Die gewohnte Oberfläche des unhinterfragten Seinsvermeinens und Seinserwartens bricht ein, es entsteht gewissermaßen eine Lücke, ein Loch, innerhalb dessen oder vor dem etwas wie nie gesehen erscheint. Wir werden dessen gewahr, daß inmitten des scheinbar Selbstverständlichen ein uns Unbekanntes, eben Fremdes aufbricht, – oder, von uns unbemerkt, immer schon seinen Ort hatte. Angesichts dieser Erfahrung – die uns an den »Schwindel« des Theaitetos erinnern kann – kommt es darauf an, anders als jener das Fremde und Andere als solches zuzulassen und stehen zu lassen, sich also nicht sogleich auf festen Boden zu retten und das Fremde unverzüglich auf einen Grund zurückzuführen und es in einen festgefügten Rahmen des schon Bekannten, in einen immer schon geknüpften Bedeutungszusammenhang aufzunehmen. Das Staunen harrt fragend aus im Brüchigwerden und Verschwinden der scheinbaren Vertrautheit und Sicherheit dessen, was ist oder war. Es beläßt das Erstaunliche in einem Raum der Nichthaftigkeit oder Leere, in einem Feld also, das nicht von vorneherein mit Sein und Bedeutung zugestellt ist, sondern den grundsätzlichen Charakter der Offenheit hat. Der Riß, die Lücke, die Leere – das sind »Phänomene« eines Einbrechens des Seins, wir können auch sagen: eines Frag-würdig-werdens des Seins, bzw. umgekehrt eines Aufbrechens des Raumes des Nichts oder der Nichthaftigkeit, vom Denken her gesehen: des wissenden Nichtwissens. Wenn etwas ganz Neues in unser Blickfeld tritt, so muß, um das noch einmal zu betonen, dessen Anderssein gar nichts Spektakuläres an sich haben. Es ist anders und doch auch nicht anders; es kommt uns anders vor, nicht im Sinne eines Scheinhaften, sondern weil wir es in einem anderen Licht sehen, unter einem anderen Blickwinkel, vielleicht in einer anderen Stimmung oder Nachdenklichkeit als sonst. Die Verwunderung oder das Erstaunen vor dem als fremd er44
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Das Erstaunen vor dem unscheinbaren Fremden im nichthaften Raum
scheinenden Anderen ist dann so etwas wie ein Abenteuer, bei dem der gewohnte Boden schwankt und wir aus der Bahn geworfen werden, vielleicht an einen Abgrund geraten. Diese Fremdheit kann ganz unversehens aufbrechen, der gewohnte Bereich des Sichauskennens kann auf einmal einen Charakter der Nichthaftigkeit annehmen. »Und er war anders. Wie aus fernem Land«, schreibt Rilke in dem Gedicht Die Brandstätte. Ganz unerwartet kann uns eigene Fremdheit und Fremdheit von Anderem begegnen, – wenn inmitten des gleichwohl bestehenden Sich-hineingehörig-wissens in die Welt deren immanente Nichthaftigkeit und ihr Anderssein sichtbar wird, oder wenn, wie in jenem Gedicht, die gewohnte Welt plötzlich zusammenbricht und nichts mehr ist, wie es war. Dann begegnet sich die Seele wie – oder besser: als – einem Fremden auf Erden, und die Welt erscheint ihr wie noch nie gesehen, wie »aus fernem Land«. In Rilkes Gedicht war es ein besonderes, ein ent-setzendes Geschehnis, das den »Sohn von hier«, also einen, der eigentlich gerade hierhin- und dazugehörte, zu einem Fremden, sich unverständlich Gebärdenden machte: Der Ort seines Hingehörens war durch einen Brand zerstört worden. Indem aus der Wohnstätte eine Brandstätte wurde, entstand innerhalb der gewohnten Welt etwas »Neues«, eine »Stelle mehr«, nämlich eine Stätte des Nichtwohnens, ein Ort der Leere, des Nichtseins, – unbeschadet der verstreuten Asche, des verbogenen Geräts, der angesengten Balken. Das Fremde und Erstaunliche erscheint hier ausdrücklich in der Erfahrung eines nichthaften, leeren Raumes. Daß das Begegnende unerwartet und unvertraut ist, heißt ja, daß es in keinem sichtbaren, unmittelbaren Zusammenhang mit Anderem steht. Um es herum ist nichts, das es erklären und verantworten könnte. Eben dies macht seine Fremdheit mit aus, daß es in seiner Besonderheit und Jeweiligkeit sich heraushebt aus einem Feld der Unbestimmtheit und Leere. Diese Nichthaftigkeit ist nicht »einfach oder schlechthin nichts«, sondern der Raum der Nichthaftigkeit ist der Raum, in dem überhaupt erst Sichtbares möglich wird. Die Nichthaftigkeit ist wie ein vorgängiges Dunkel, in dem hier und da Lichter aufleuchten, – Glühwürmchen in einer Sommernacht, Bordlampen von Fischerbooten auf dem nächtlichen Meer, Sterne am Firmament. Die Sichtbarkeit der einzelnen Lichter er-gibt sich aus der sie umgebenden Dunkelheit oder Leere. Sie verdankt sich einer Empfänglichkeit des an sich nicht45 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
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haften, aber das in ihm Aufscheinende aufnehmenden Raumes. Jullien spricht von der Disponibilität und meint damit Entsprechendes. 27 Wir könnten diese Empfänglichkeit auch die Möglichkeit zum Sicher-geben von etwas nennen. 28 Die Leere ist ein Mangel-Raum, der als solcher ein Raum der Fremdheit sein kann, weil das, was sich in ihm vorfindet, trotz seines Dortseins keinen fraglosen Ort des Immer-schon-hingehörens hat, vielmehr zufällig und erstaunlich bleibt. Der Mangel, das Nichtdasein von etwas, ist nicht nichts, er bedeutet ein »Nichts«, das allein darin seine Bedeutung hat, daß sich aus ihm etwas ergibt, sich in ihm etwas findet, auf das er hindeutet. Was wir als die Weite einer Landschaft erfahren, etwa der Wüste oder des Meeres, kann das Manifestwerden eines derartigen Mangel-Raumes sein, gekennzeichnet durch eine seltsame, »erhabene« Fremdheit. Oder ein ganz anderes Beispiel: ein sonst belebter städtischer Platz während der Fernsehübertragung des Finales einer Weltmeisterschaft oder sonst eines Großereignisses. Die Leere und Verlassenheit ist physisch präsent, gleichsam mit den Händen faßbar. Der Passant kommt sich verloren vor, fremd in der ihrer gewöhnlichen Bezüge entkleideten Gegend, – gerade weil hier das jetzt abwesend ist, was gleichzeitig anderswo, vor den öffentlichen und privaten Bildschirmen stattfindet: menschliches, gemeinschaftliches Leben. Diese Leere des Raumes kann zunächst in zweifacher Weise gedacht werden, entweder als um Fremdes oder hinter Fremdem sich auftuender oder aber als Fremdheit allererst schaffender Raum, – in der Umkehrung verwandt jener doppelten Blickrichtung, mit der Kant sich in seinen Reflexionen zu Baumgartens Metaphysik 29 fragte, ob die unendliche Gesamtheit aller unterschiedlichen Realitäten wohl entweder wie hin und wieder in die Finsternis gesetzte Lichter, oder umgekehrt wie Einschränkungen des allgemein zugrundeliegenden Lichts zu denken wären: Ist die Leere letztlich das Ursprüngliche und sind darum die Dinge in ihr ursprünglich Fremdes, das dann Vgl. z. B. Über die Zeit, 172 ff. und das ganze Kapitel »Disponibelsein oder Vorlaufen«. 28 Oder vielleicht auch eine radikalisierte dynamis, die jedem tatsächlichen dynamei on ontologisch vorhergeht. 29 Vgl. v. Verf.: Wendungen. Versuche zu einem nicht identifizierenden Denken, Freiburg/München 1982 27
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mit der Zeit bekannt und vertraut wird, so daß auch der Raum allmählich zum heimatlichen Bereich wird? Oder leben wir alltäglich in einem Feld hinlänglicher Bekanntheit und gewohnter Selbstverständlichkeiten, innerhalb dessen zuweilen Nichtgewußtes aufbricht und seine Erstaunlichkeit aufdeckt? Für das menschliche In-der-Welt-sein ist, so denke ich, grundsätzlich beides der Fall. Fremdheit und Vertrautheit gehören in der Weise zusammen, daß je nach der Situation einmal das eine, einmal das andere einen Vorrang gewinnt, daß jeweils das Eine von dem Anderen her sichtbar und bedeutsam wird. 30 Adorno sagt einmal über Benjamin: »Er hat darauf bestanden, alle Gegenstände so nah anzusehen, bis sie fremd wurden und als fremde ihr Geheimnis hergaben.« (Zu Benjamins Gedächtnis, 169) Und andererseits schreibt Rilke von dem »Fremden« – und d. h. da von einem, der tiefer weiß, daß »man nirgends bleibt«, und der nichts begehrt, vielmehr alles es selbst sein läßt –: »Doch auf fremden Plätzen war ihm eines / täglich ausgetretnen Brunnensteines / Mulde manchmal wie ein Eigentum.« Das sind zwei gegensätzliche Erfahrungen von Fremdheit, damit implizit auch von Vertrautheit. Fremdheit an ihrer Grenze: Einmal ihr Unversehens-hervortreten in äußerster Nähe, das Umspringen von Nähe selbst in ein Fremdsein, das als solcherart Herbeigerufenes gleichsam zum Sprechen verhalten wird, so daß es sein Eigenstes, Geheimstes nach außen zeigt. Das andere Mal sind wir im Raum der Fremde, in der der Wanderer ein Fremder ist, der als solcher jedes Begegnende zugleich wieder verläßt, der nicht bleibt und nichts festhält; und wo dann doch, manchmal, ein Unscheinbares wie vertraut erscheinen kann, wie ein Eigenes. In der gewohnten Umgebung, wo eigentlich Vertrautheit und Nähe ist, kann ein Nicht-Vertrautsein, etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes auftauchen, wie umgekehrt in der Fremde ein gewöhnliches Ding, wie der ausgewaschene oder ausgetretene Brunnenstein, als nicht mehr fremd, sondern vertraut und nah erscheinen kann. So mag auch ein allgewohntes Kleines, z. B. eine kleine Blume, Nur sind unsere heutigen Lebensverhältnisse weitgehend so beschaffen, daß beide, die Fremdheit und die Erstaunlichkeit, kaum mehr an ihnen selbst erfahren werden. Die Öffentlichkeit ist weitgehend ein Identitätszusammenhang, in dem Besonderheit und Unterschiedenheit kaum mehr sichtbar werden und vor allem nichts mehr gelten.
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unversehens als etwas Eigenes, kostbar Fremdes auftreten: »Nimm die winzige Blume, die draußen in meinem Garten vor sich hin blüht. Sie wuchs aus einem einzelnen Samen und wird eines Tages zur Erde zurückkehren, um, solange diese Welt existiert, niemals wieder zurückzukommen. Aber wir wissen nicht, woher ihr hübsches kleines Gesicht erschienen ist oder wohin es entschwinden wird. Hinter ihr liegt absolute Nichthaftigkeit«. (Nishitani, 101, übersetzt v. Verf.) Es bedarf eines eigenen Nehmens oder Aufnehmens, eines Aufmerkens und Hinsehens, um die an sich unscheinbare Blume aus dem gewohnten Zusammenhang des Vorgartens, durch den wir gewöhnlich einfach hindurchgehen, in die Acht zu nehmen und als etwas unversehens Fremdes, Erstaunliches wahrzunehmen. Wir müssen ihr, wie man sagt, unsere Aufmerksamkeit schenken. Aber wenn wir, plötzlich oder aufgrund einer eingeübten Haltung, auf sie achten, dann steht sie gewissermaßen für sich selbst da, es spielt keine Rolle, wie ihr Samen dorthin gekommen war oder was aus ihr werden wird, sie ist da, in einem Raum der Nichthaftigkeit. Verwandt und doch ganz anders ist die plötzliche Begegnung mit einer – an ihr selbst sicher nicht besonderen – kleinen Rose, von der Brecht spricht: Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen? Plötzlich dunkelrot und jung und nah? Ach, wir kamen nicht, sie zu besuchen. Aber als wir kamen, war sie da. Eh sie da war, ward sie nicht erwartet. Als sie da war, ward sie kaum geglaubt. Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet. Aber war es so nicht überhaupt? Auch hier sehen wir ein gewisses Innehalten vor einem eigentlich Vertrauten, mitangedeutet durch das dreimalige Ach –, ein Innehalten vor dem Vertrauten als einem plötzlich Fremden, Unerwarteten. Als ein Fremdes gehört es in kein vorgängiges Schema oder System – »zum Ziele kam, was nie gestartet« –, es steht unvermittelt da, weist nicht auf Bekanntes zurück oder vor, obgleich es als ein solches nur vor einem bzw. gegen einen Horizont des Bekannten erscheinen kann. Im erstaunlichen Fremdwerden in ihrem Vertrautsein ist die 48
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kleine Rose plötzlich etwas Unausgelegtes; unversehens wird dem, der ihr begegnet, bewußt, daß sie auch irgendwie nicht gewußt wird. Und schließlich erinnere ich an die ersten beiden Strophen eines kleinen Gedichts von Goethe, das in einer anderen Fassung fast zu einem Volkslied geworden ist: Ich ging im Felde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn. Da stand ein Blümchen Sogleich so nah, Daß ich im Leben Nichts lieber sah. Die Paradoxie, daß mein Sinn darauf stand, nichts zu suchen, betont die Situation des Gewohnten und Vertrauten. Goethe sagt, das Blümchen stehe da vor ihm »sogleich so nah«. Mir scheint bei dieser Begegnung, daß es sich um eine zeitliche und räumliche Nähe handelt, die als solche zugleich einen Charakter der Ferne und Fremdheit hat: die kleine Blume erscheint gleichsam in einer fremden Nähe. Das Gedicht ist »Im Vorübergehn« überschrieben. Die erstaunliche Fremdheit des Vertrauten ist oftmals etwas, auf das wir en passant, im Vorübergehen aufmerksam werden, das uns en passant trifft und betrifft.
* Eine wesentliche Intention des heutigen Philosophierens könnte oder sollte sich, so meine ich, auf das Fremde und in bestimmtem Sinne Befremdliche richten. 31 Damit stellt es das scheinbar Selbstverständliche, das Verständnis der Welt, an das wir uns über die Jahrhunderte »Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen,
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hin gewöhnt haben, mit einer Wendung seines Blicks und seines Interesses in Frage. 32 Statt daß es weiterhin nach den abstrakten und allgemeinen Grundbestimmungen des Seins fragen würde, nach den Kategorien und Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die nach der Maßgabe der Tradition das Seiende als solches konstituieren, geht es ihm jetzt darum, sich einem Denken des Einzelnen und Besonderen selbst anzuvertrauen, es aufmerksam in den Blick zu fassen, fast so, als hätte es dieses noch nie gesehen: »Entäußerte wirklich der Gedanke sich an die Sache, gälte er dieser, nicht ihrer Kategorie, so begänne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden.« (N.D., 38) Was es dann sagen würde, müßte zunächst als etwas Befremdliches erscheinen. Wenn man von Befremdlichem spricht, so drückt man damit aus, daß etwas anders ist, als man es erwartet hätte. Dazu, daß unter dem verweilenden Blick des Gedankens der Gegenstand anfängt, von sich selbst zu erzählen, bedarf es eines Zwiefachen: Zum einen braucht es eine Kritik an dem Gespinst, das die traditionelle Begrifflichkeit über das Einzelne geworfen hat, um es in seiner Allgemeinheit auf den Begriff zu bringen. Sowohl der Heideggersche Schritt zurück wie die Derridasche Dekonstruktion oder auch Adornos negative Dialektik haben diese kritische Komponente. Zum anderen und vor allem gilt es, den Gegenstand sich selbst im Licht seiner fremden Besonderheit artikulieren zu lassen, ihm selbst also eine gelassene und geduldige Aufmerksamkeit zu schenken. Eben das heißt, ihn als einen fremden anzuerkennen, ihn von sich aus sprechen zu lassen. Handelt es sich bei diesem Gegenstand z. B. um einen Begriff, etwa um den Begriff der Zeit, so käme seine Fremdheit da zum Vorschein, wo die mannigfaltigen Schemata von ihm abfielen, die seine Bestimmung im Laufe der Philosophiegeschichte – von Platon und Aristoteles, über Augustinus, Kant und Bergson, bis hin zu Husserl und Heidegger – unterschiedlich gekennzeichnet haben; er bliebe in seiner Rätselhaftigkeit und Unfaßbarkeit übrig, jenseits seiner Einzwängung in die drei Zeitdimensionen, in die ausschließende DichoEinzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde«. (N.D., 19) 32 Adorno nennt als das »Telos der Philosophie« das »Offene und Ungedeckte«. (N.D., 31)
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tomie von Dauer oder Ewigkeit und Augenblick oder in den Zirkel der Wiederkehr. Geht es um die Zeitlichkeit eines Geschehnisses – eines Naturereignisses etwa oder einer geschichtlichen Wende –, so gälte es, uns jenes zunächst einmal als solches, d. h. ohne vorgängige Bewertung, ohne Einbettung in seine situativen Gegebenheiten, ohne den automatisch erfolgenden Bezug auf seine Ursachen und Wirkungen und Begleitumstände, in seinem Hier und Jetzt als zugleich befremdlich und uns nah angehen zu lassen. Haben wir eine Farbe vor uns – etwa das samtige Rot auf einem Gemälde –, so käme es darauf an, sie als sie selbst wirken und uns betreffen zu lassen, das Vorwissen sowohl über optische Gesetze wie über physiologische, psychologische oder ästhetische Zusammenhänge der Farbgebung und -empfindung vorübergehend beiseitezulassen. Nicht, als gäbe es all das zuvor als zu Vergessendes Genannte überhaupt nicht. Aber es kommt jetzt nicht mehr als ein solches in Betracht, das den »Gegenstand« verantwortet und erklärbar macht und damit in unserem Bewußtsein gleichsam an seine Stelle treten könnte. Es gehört lediglich unter Anderem zusammen mit all den Erfahrungen, die wir mit dem uns Begegnenden machen, zu der Konstellation, in der es uns erscheint und in der es fremd und erstaunlich, geheimnisvoll und viel-versprechend bleibt. Der selber redende Gegenstand – der Gegenstand, dem wir ein Selber-sprechen zutrauen und zumuten – ist nicht etwas, das wir von uns aus denkend-urteilend einholen, sondern etwas, das uns entgegenkommt, eben im wörtlichen Sinne be-gegnet. Ich habe früher gesagt, daß man von dem Fremdsein von etwas da spricht, wo dieses entweder nicht dem Eigenen zugehört oder wo es nichts Vertrautes oder zumindest Bekanntes ist. Das Nichtvertrautsein und das Anderswoher- und Nichtzugehörigsein gehen in der hier intendierten Weise von Fremdsein sowohl vielfach zusammen, wie sie doch zwei verschiedene Nuancen oder auch Richtungen des Selben nennen. In beiden Fällen steht der – und sei es noch so blasse – Anspruch im Hintergrund, daß etwas »eigentlich« nicht fremd sein sollte. Was einfach unbekannt ist – Menschen in anderen Erdteilen, unbekannte Pflanzen, die irgendwo auf der Welt wachsen – und was einfach zu jemand oder zu etwas Anderem gehört – Kinder anderer Leute, Geschehnisse zu anderen Zeiten –, ist darum noch nicht fremd: das Fremde ist im Hinblick darauf gesehen, daß es in 51 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
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irgendeiner Beziehung zu uns steht oder in einer bestimmten Situation stehen könnte. Da ist immer etwas, das uns fremd ist, das wir als fremd erfahren. Das gilt zwar vor allem für das Fremde, das unvertraut ist, aber auch das Fremde als das Nicht-eigene empfinden wir als ein solches. Es ist nicht an sich fremd, sondern in bezug auf uns. Was damit ins Spiel kommt, ist nicht nur das allgemeine Faktum der Subjektivität jeden Erfahrens. Daß uns ein Anspruch begegnet oder, von der anderen Seite her gesagt, daß wir etwas erwarten, liegt hier daran, daß das Fremde zum einen nicht einfach irgendwo vorkommt, sondern daß es ein auf uns Zukommendes, Heidegger sagt: ein uns Angehendes, ein uns Anwesendes ist. Daß es aber zum anderen nur auf uns zukommen kann, wenn wir unsererseits auf das Begegnende achten und auf es hören, wenn wir das »Zuvorkommen in der Zurückhaltung« und ein »anerkennendes Entgegnen« gelernt haben. (Heidegger, Die Sprache, 32) Adorno hat in seinem Vortrag Anmerkungen zum philosophischen Denken das achtsame Kommen-lassen der jeweiligen Sache als eine passivische Aktivität erläutert. (vgl. a. a. O., 601) Er spricht zwar nicht ausdrücklich vom Fremdsein der Sache, aber ich denke, daß das von ihm betonte Zugleich von Sich-anschmiegen an den Gegenstand und konzentriertem Nachdenken über ihn 33 auch als anerkennendes Zurücktreten vor seiner Fremdheit gesehen werden kann. Denn das als fremd Erfahrene ist eben sowohl etwas, dem wir uns aufmerksam zuwenden, wie etwas, das gleichwohl gewissermaßen an sich hält und, gerade indem wir ihm nahekommen, erstaunlich bleibt. Der »gewaltlose Blick auf den Gegenstand«, in dem »die Anspannung des Ichs vermittelt [wird] durch ein ihm Entgegengesetztes« (602), der also ein Ort für die Auseinandersetzung zwischen Denken und Sache ist, hat für Adorno wesentlich diese beiden Seiten: Das (philosophische) Denken muß sich zum einen ganz auf seine eigene »Kraft des Denkens, nicht mit dem eigenen Strom zu schwimmen« (604), verlassen, sich auf nichts Vorgewußtes und scheinbar Gesichertes stützen, sondern seine Sache so unvoreingenommen wie möglich anschauen, mit fremdem Auge sozusagen. Dazu gehört viel Adorno nennt das »Nachdenken« »erweiternde Konzentration«. »Gedanken, die wahr sind, müssen unablässig sich aus der Erfahrung der Sache erneuern, die gleichwohl in ihnen sich erst bestimmt.« (a. a. O., 604)
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eigene Energie und eigene Initiative und eigene Arbeit. Zum anderen aber behauptet sich gerade in dieser Anstrengung des Begriffs sein »passivisches Element« (606). Die Arbeit an der Sache ist Arbeit an der Sache, ist geduldiges Hören auf sie, Sich-einlassen auf sie, ist der Versuch, sie selbst zum Sprechen zu bringen. Adorno geht davon aus – und versucht, mit seinem Denken die Einsicht zu vermitteln –, daß das Begriffene nicht im Begriff aufgeht 34. Auch wo der Begriff seine Sache durchaus erreicht und erkennt, erkennt er sie doch nicht zur Gänze, versagt er letztlich vor ihrer uneinholbaren Besonderheit. Sie bleibt ihm immer auch fremd. Zwar heißt Denken auch Identifizieren, also Gleichmachen, aber das Denken muß sich gleichwohl dessen bewußt bleiben, daß es als solches begrenzt ist und daß sein Gegenstand immer auch ein ihm gegenüber Nichtidentisches und Nichtidentifizierbares und insofern ein ihm Widersprechendes bleibt. Dieser immanente Widerspruch bedeutet ein Moment des Fremdseins der Sache. Darum muß und will die Philosophie »in das ihr Heterogene sich versenken, ohne es auf vorgefertigte Kategorien zu bringen.« (N.D., 24). Das Denken muß, heißt es in den Anmerkungen, »einem Objekt sich anschmiegen …, auch wenn es ein solches noch gar nicht hat« (602) 35, d. h. wenn dieses erst im Vollzug des Gedachtwerdens zum Objekt wird. Die Zwiefalt von solchem Sich-anschmiegen einerseits und achtungsvoller Distanz dem Nichtidentischen gegenüber andererseits entspricht in gewisser Weise der Zwiefalt von Aktivität und Passivität des Denkens. Jeweils geht es darum, der Fremdheit des Begegnenden gerecht zu werden und sich diesem doch zu nähern, es zu verstehen. »Gewaltlose Betrachtung, von der alles Glück der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtende nicht das Objekt sich einverleibt: Nähe an Distanz.« (Minima Moralia, Nr. 54, Die Räuber, 112) Der gewaltlose Blick begibt sich in die Nähe zu seinem »Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, daß es der Philosophie doch möglich sei; daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar.« (N.D., 21) 35 Adorno und Horkheimer zählen in der Dialektik der Aufklärung das »Anschmiegen« zu den Regungen, die heute, in einer durch die herrschaftliche und zugleich nivellierende Entfremdung vom Objekt zu kennzeichnenden Zeit, als »unzeitgemäß« und folglich »anstößig« gelten. (GS 3, 206) 34
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Gegenstand, aber er wahrt zugleich den Abstand, der jenem ein eigenes Sprechen und Sich-bewegen erlaubt. Es geht im Denken nicht darum, die fremde Nichtidentität zu tilgen, sondern darum, den Raum zwischen beiden, zwischen Denken und Sache, auszuloten und fruchtbar zu machen. »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.« (N.D., 190) Nahsein und Fremdsein, das sahen wir schon vorher, hören auf, einander ausschließende Gegensätze zu sein; sie konvergieren in der Erstaunlichkeit. Auch Heidegger spricht bei seiner Erläuterung der Gelassenheit als Wesen des Denkens das Fremdsein nicht ausdrücklich an. Aber bei seiner Vermutung, das Denken könne das »In-die-Nähe-kommen zum Fernen« sein, geht es implizit auch um das Fremdsein 36; ich denke, es wäre nicht unangemessen, wenn man diese Formulierung auch in der Form »Denken wäre das Vertraut-werden-lassen des Fremden« wiedergeben wollte. Auch hier steht das Fremde in einer engen Beziehung zu seinem Gegenteil. Das ist auch hier keine Beziehung des Nebeneinander; Fremdsein und Vertrautsein spielen in dem Sinne ineinander, daß das Vertraute sich selbst als fremd erweist – die kleine Blume, die unversehens als etwas Erstaunliches wahrgenommen wird –, wie uns dieses Fremde dann eben darin, daß es auffällt und einfällt, nahekommt. Gerade im Zeitalter der Globalisierung und Nivellierung kann es geschehen, daß Dinge und Geschehnisse und vielleicht auch Menschen uns manchmal erst dann vertraut werden, wenn wir sie zuvor in ihrer Fremdheit erfahren und anerkannt haben. Es gilt sodann, ihnen diese Fremdheit auch im Vertrautwerden nicht zu nehmen. Bei Heidegger wird im Gegensatz zu Adorno neben der sozusagen »horizontalen« Ebene der Zusammengehörigkeit von FremdVgl. hierzu v. Verf. Der andere Heidegger: »Es ist nicht zuletzt die Wahrung der Distanz, des Geheimnisses und der Fremdheit, die das, was Heidegger mit dem besinnlich-gelassenen Denken im Blick hat, ums Ganze verschieden sein läßt vom vorstellenden, rechnenden und messenden Denken. Distanz, Fremdsein, Andersheit, Ferne, Geheimnis, – das alles ist ausgeschlossen, wenn einerseits eine ständige Verfügbarkeit und Bestellbarkeit, andererseits eine universale Berechenbarkeit und damit auch Vergleichbarkeit von allem mit allem gewährleistet sein soll.« (70)
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sein und Nahsein insbesondere die ontologische, »vertikale« Beziehung wichtig: Das Begegnende kommt uns nicht allein aus einer räumlichen und zeitlichen und vor allem qualitativen Fremdheit näher; vielmehr kann sein Dasein als solches, insofern es für Heidegger ontologisch ein Herausstehen aus der Verborgenheit in die »Lichtung« der Entborgenheit und Offenheit, ein Hereinstehen in unser jeweiliges In-der-Welt-sein ist, als ein Vertrautwerden aus zuvor gegebener Fremdheit heraus verstanden werden. Oder, mit etwas geänderter Perspektive: Indem das Begegnende aus dem offenen, nichthaften Raum her unser Erfahren trifft, ist es ineins ein Fremdes und ein Vertrautes, nötigt es uns zum Innehalten vor dem und Uns-einlassen auf das, was sich uns zeigt. In seinem Feldweggespräch über das Denken, das der Erörterung der Gelassenheit gewidmet ist, kommt Heidegger zu einer Wegwendung, an der der Raum der Offenheit, innerhalb dessen sich jedes Begegnen und damit jedes gelassene Denken ereignet, als die Gegnet in den Blick kommt. Mit dieser »älteren Form« des Wortes Gegend benennt Heidegger »das uns umgebende Offene«. Die Gegend, sagt er, heißt so, »weil sie das gegnet, freigibt, was es für das Denken zu denken gibt.« (Das Wesen der Sprache, 179) Das Freigeben ist für ihn jedoch zugleich ein Bergen; das Begegnende schließt in sich die Doppeldeutigkeit ein, die wir zuvor auch in Adornos Bestimmungen sahen: das Freigegebene ist zugleich Bewahrtes und Geschontes, die Ferne und Fremde bleibt »gewährte Nähe«. 37 Gleichwohl behält die Nähe und damit die Vertrautheit bei Heidegger wohl doch die Oberhand, auch wenn er sie sehr eng mit der Ferne zusammendenkt. 38 Insofern lese ich seine diesbezüglichen Gedanken gewissermaßen gegen den Strich, wenn ich vor allem die Fremdheit betone. Mir ist hier insbesondere sein Verständnis der immanenten – ontologischen – Bewegtheit des dem Erfahren BegegDie Bezugspunkte von Nähe und Ferne sind jedoch bei Adorno und Heidegger verschiedene: bei Adorno nähert und distanziert der Mensch und nur der Mensch; bei Heidegger ist es zwar auch das Denken, das in die Nähe zum Fernen kommen läßt, aber es bedarf dafür der »freigebend-bergenden« Gegnet selbst, des nichthaften Raumes, aus dem her nicht nur jedes Begegnen geschieht (das würde ich auch sagen), sondern der selbst das Gebende des »es gibt« ist. 38 »Nähern ist das Wesen der Nähe. Nähe nähert das Ferne und zwar als das Ferne. Nähe wahrt die Ferne.« (Das Ding, 176) 37
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nenden wichtig 39, die ineins eine Bewegung des Entgegenkommens und der Rückkehr in sich ist und die ihren Sinn und ihre Relevanz aus der Herkunft aus dem nichthaften Raum gewinnt. Die nähere Beachtung dieser Herkunft zeigt, daß das Entborgene und ins Licht Gekommene, insofern Vertraute, den Schatten seiner Fremdheit als wesenhafte Prägung an sich trägt; daß das Denken ihm nur entsprechen kann, wenn es ihm als Fremdem begegnet, und das heißt auch, als einem in sich selbst Beruhenden, Eigenen. Das von Heidegger betonte Moment des Beruhens in sich selbst bestätigt das Fremdsein, wenn wir neben dem »Beruhen« ebensosehr das »in sich selbst« betonen. Das in sich beruhende Eigene ist eben darum nicht einfach uns zugehörig, uns zu eigen. Da, wo Heidegger im Gelassenheitsgespräch thematisch von der »Offenheit für das Geheimnis« spricht, geht es ihm zwar um den »in der technischen Welt verborgenen Sinn«; aber wenn er den Bereich des Geheimnisses als den Bereich dessen charakterisiert, »was sich uns verbirgt und zwar verbirgt, indem es auf uns zukommt«, also als etwas, was »sich zeigt und zugleich sich entzieht« (26), so trifft er damit das Geheimnis, das das Fremde als solches kennzeichnet: Es zeigt sich uns, aber als etwas, das sich zugleich zurückhält, das geheimnisvoll und fremd bleibt. Eben darin besteht sein Zauber. Zwei Bemerkungen in dem genannten Gespräch betreffen die Beziehung der nichthaften Gegend zu dem aus ihr her Begegnenden. Zum einen sagt Heidegger vom »Offenen selbst«: »Mir kommt es so vor wie eine Gegend, durch deren Zauber alles, was ihr gehört, zu dem zurückkehrt, worin es ruht.« Zum anderen heißt es kurz darauf: »Die Gegend versammelt, gleich als ob sich nicht ereigne, jegliches zu jeglichem und alles zueinander in das Verweilen beim Beruhen in
Ich spreche gewöhnlich vom »Begegnenden« und nicht vom »Seienden«, weil ich die letztlich künstliche Abstraktion vermeiden will, die in der Bezeichnung des zu Denkenden von seinem »bloßen« Sein her liegt. Wie immer »konkret« und verbal Heidegger das »Sein« auch faßt, es bleibt bei ihm, so scheint mir, durch die Intention bestimmt, von der Jeweiligkeit des je besonderen Begegnenden abzusehen. Erst der späteste Heidegger läßt dann die Frage nach dem Sein als solchem mehr und mehr zugunsten von Welt und Dingen fallen. Vgl. hierzu ausführlich v. Verf. Der andere Heidegger.
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sich selbst.« (40 und 41 f.) 40 Der geheimnisvolle Zauber des Fremden, das uns aus der Gegend entgegenkommt, besteht u. a. darin, daß das Entgegenkommende bei sich selbst bleibt, ja im Hervorkommen selbst in diese Herkunft zurückkehrt. 41 An dem später zu erläuternden Beispiel der Fremdheit der Tiere werden wir das genauer sehen können. Aber dieser Zauber ist zugleich Zauber der Gegend selbst. Das »aus … her« und »zu uns hin«, das Entgegenkommen wie auch das Ansichhalten geschehen in einem Raum, – in einer ontologischen Raumhaftigkeit; ohne ihn gäbe es keine Bewegtheit und keine Entfaltung der Eigenheit und ihres Uns-ansprechens. Doch ist dieser Raum nicht »etwas«; ohne daß in ihm etwas erschiene, »gleich als ob sich nichts ereigne«, wäre er gar nichts. Ich nenne ihn darum den »nichthaften Raum«.
* Damit sind wir erneut beim nichthaften Raum, innerhalb dessen die Begegnung geschieht und der bereits an verschiedenen Stellen des bisher Ausgeführten mit dem Phänomen der Fremdheit zugleich ins Spiel kam. Ich will jetzt etwas näher erläutern, was ich mit diesem nichthaften oder leeren Raum meine. Ich habe Nishitanis Bemerkung zu der kleinen Blume im Garten zitiert. Der Kontext beleuchtet den nichthaften Raum genauer: »Nimm die winzige Blume, die in meinem Garten vor sich hin blüht. … Hinter ihr liegt absolute Nichthaftigkeit [nihility]: die selbe Nichthaftigkeit, die hinter uns liegt, die selbe Nichthaftigkeit, die in dem Raum zwischen Blumen und Menschen liegt. Durch den Abgrund jener Nichthaftigkeit von mir getrennt, ist die Blume in meiVgl. hierzu v. Verf. Der andere Heidegger, 133 ff. Ich denke, wir kennen diese Zwiefalt aus unseren eigenen Empfindungen. Gerade wenn uns etwas oder jemand lockt und anzieht, fühlen wir uns selbst zuweilen gestärkt im Eigenen; in der kommunikativen Anerkennung durch den Anderen fühlen wir uns sicher, gerade weil wir uns selbst angenommen wissen. Sich dem Anderen zu öffnen, zu zeigen und zu überlassen, – das kann durchaus zusammengehen damit, uns auf uns selbst zu besinnen und auf neue Weise in uns zu beruhen.
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nem Garten ein unbekanntes Wesen. … Wesentlich gesehen, d. h. insofern es in Nichthaftigkeit existiert und in Nichthaftigkeit manifest ist, ist jedes Ding und jeder Mensch namenlos, unnennbar und unwißbar. Nun ist die Realität dieser Nichthaftigkeit im alltäglichen Leben, das in seinem eigenen Element ist, wenn es sich in Namen bewegt, verdeckt. … Die Welt um uns herum besteht nur noch aus dem, was bekannt und vertraut ist oder es werden kann. Sie wird eine allzu ›alltägliche‹ Welt.« (Religion and Nothingness, 101) Und kurz vorher schreibt Nishitani: Im Feld seines Eigenen »bleibt ein Freund ursprünglich und wesentlich ein Fremder, ein ›Unbekannter‹. Natürlich ist mein Freund nicht so ein Fremder wie jemand, den ich auf meinen Reisen zufällig am Straßenrand treffe. Ich kenne ihn gut und bin ihm nah. Gleichwohl ist diese unsere Vertrautheit eine Vertrautheit, die durch einen Abgrund gebrochen ist, im Vergleich zu dem selbst ein Fremder am Straßenrand der engste Freund ist. Wesentlich gesprochen sind dann alle Menschen, seien es die engsten Freunde oder die fernsten Bekannten im selben Grade ›unbekannt‹.« (100 f.) Die »Unbekanntheit« oder Fremdheit, auf die Nishitani hinweist, ist eine Unbekanntheit trotz der möglichen Bekanntheit oder auch: durch die Bekanntheit hindurch. In der gelassenen Aufmerksamkeit auf das Vertraute als ein Fremdes gewinnt es eine merkwürdige Herausgehobenheit oder sogar Einsamkeit, es kommt in einen weiten leeren Raum zu stehen, in dem und aus dem heraus es uns als dieses besondere Einzelne anspricht. Die Bedeutsamkeit des es Umgebenden verblaßt zur Unbedeutendheit, – und bleibt doch zugleich der vage Hintergrund für sein Sich-zeigen. Der nichthafte Raum ist, wie schon gesagt, nicht nichts. Er ist nichthaft wie die Dunkelheit und wie die Stille, oder auch wie der Nebel, wie die Ungewißheit, wie eine unbestimmte Traurigkeit oder eine schwebende Unaufmerksamkeit, vielleicht wie die Langeweile. Seine Nichthaftigkeit kann die einer Situation sein oder die einer zeitlichen Weile oder räumlichen Weite. Jeweils nenne ich mit diesen Beispielen das, was das erstaunliche Fremde zu einem Fremden macht; jeweils handelt es sich um den Ausdruck einer eigenartigen Zusammenhangs- und Verbindungslosigkeit, die sich, das braucht kaum gesagt zu werden, ums Ganze von der Weltlosigkeit unterscheidet, die ein hervorragendes Kennzeichen der Isoliertheit des neuzeitlichen (und weithin überhaupt 58
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Noch einmal: der nichthafte Raum
des metaphysischen) Objekts ist. Das Subjekt stellt sich seine Objekte gegenüber, indem es von deren Bezügen zu Anderem, von der Welt, in die sie gehören, wesentlich abstrahiert. Zwar geht es natürlich auch dort um Beziehungen und Verhältnisse. Daß der abstrakte Gegenstand des theoretischen Denkens als solcher weltlos ist, heißt jedoch, daß er selbst – wie die Beziehungen, in denen er stehen mag, – bewußt aus der Welt des alltäglichen wie des besonderen Erfahrens herausgenommen und gewissermaßen auf den Seziertisch der abstrakten Vernunft gelegt wird. Hier zählen nicht die Empfindungen, Assoziationen und Phantasien, die dieser Gegenstand hervorruft, weder die Erinnerungen, die er weckt, noch die Ahnungen, Hoffnungen oder Befürchtungen, die sich an sein Erscheinen knüpfen, sondern allein die berechenbaren Größen, die sich in allgemeinen Bestimmungen und Gesetzmäßigkeiten fassen lassen. Weil mit der erfahrbaren und gelebten Welt auch der erfahrene Raum fehlt, weil also im neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Ansatz von Welt und Raum gerade abstrahiert wird, kann man da auch nicht von einem nichthaften Raum sprechen. Das Ding oder Geschehnis, das im nichthaften Raum in seiner erstaunlichen Eigenheit und Fremdheit auftaucht, die kleine Blume z. B. oder das Lächeln eines Passanten oder eine Pfütze auf dem Asphalt, ist sowohl nur es selbst, hebt sich heraus aus der in die Unbedeutendheit zurücktretenden Vielfalt des Gewohnten und Bekannten, wie es zugleich gewissermaßen die ganze Welt in sich trägt und verkörpert oder versammelt. Entsprechend ist auch das durch die Begegnung hervorgerufene Gefühl zwiefältig und zwiespältig. So wie die in sich beruhenden Dinge sowohl uns angehen wie sie eben darin zugleich bei sich bleiben, empfinden wir ineins Nähe und Distanz. Die Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge im nichthaften Raum impliziert so etwas wie eine scheue Liebe zu ihnen. 42 Adorno spricht zuweilen von der »Liebe zu den Dingen« (z. B. N.D., 189) oder der »Fühlung mit der Wärme In einer Vorlesung zum Thema des Fremdseins monierte ein Hörer, daß Fremdheit bei mir immer »positiv« konnotiert sei. Mir scheint in der Tat, daß das Aufmerken auf das und das Innehalten vor dem erstaunlich Fremden ein Moment der Zugeneigtheit und insofern auch einer gewissen Zustimmung enthält. Vor dem Fremden, das ich für verabscheuenswert halte, staune ich nicht in dem hier gemeinten, sein lassenden Sinne.
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B Das erstaunlich Fremde
der Dinge«, die er der kalten »Logik der Konsequenz« entgegensetzt. (MM, 47) Diese Liebe gewahrt und wahrt die Eigenheit und Andersheit, die Fremdheit des Anderen und bedeutet gleichwohl eine gewisse Teilhabe an ihm. Ihr Verhalten zum Fremden ist nicht festgelegt, nicht sicher und bestimmt, vielmehr tastend, erspürend, fragend. Die junge Hannah Arendt schreibt in einem in der Zeit ihrer frühen Liebe zu Heidegger verfassten und »Schatten« betitelten selbstreflexiven Text (1925): »Jedesmal … hatte sie dieselbe scheue und tastende Zärtlichkeit zu den Dingen der Welt … Fremdheit und Zärtlichkeit drohten ihr schon früh eins und identisch zu werden. Zärtlichkeit bedeutete scheue, zurückgehaltene Zuneigung, kein Sich-Geben, sondern ein Abtasten, das Streicheln, Freude und Verwundern an fremden Formen war.« (Briefwechsel mit Heidegger, 21) Das zärtliche Glück der Begegnung und die einsame Melancholie der Fremdheit gehören zueinander. Zu der Nähe, die das liebende Verhältnis kennzeichnet, gehört die ausgetragene Distanz, das Wissen um die Unterschiedenheit, die Fremdheit. Das Glück ist hier das Glück der Einstimmung und Einstimmigkeit; aber es ist doch auch dem Schmerz verschwistert, der dessen eingedenk bleibt, daß zwischen dem Einen und seinem Anderen eine uneinholbare Differenz besteht. Bevor ich zu den beiden konkreteren Beispielen komme, will ich mit zwei der wohl berühmtesten Haiku des bekannten Haiku-Dichters Bashô noch einmal den nichthaften Raum evozieren, in dem und aus dem heraus die staunende Begegnung mit einem Fremden geschieht. Er kommt hier nicht eigens zu Wort, aber er durchstimmt und bestimmt das Gesagte: Der alte Teich. Ein Frosch springt hinein – das Geräusch des Wassers Abend im Herbst. Auf einem dürren Ast hockt eine Krähe. Die scheinbar alltäglichen und gewöhnlichen Geschehnisse eines in den Teich springenden Frosches und der auf einem Ast sitzenden 60
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Noch einmal: der nichthafte Raum
Krähe gewinnen ihre Erstaunlichkeit und beglückende Befremdlichkeit in einem Raum, in dem in diesem Augenblick allein das Ereignis des Wassergeräuschs oder des Hockens jener Krähe »zählt«, – wenn anders jemand da ist, der diese Wahrnehmung in sich aufnimmt. 43
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Zum Geschehen der Fremdheit in japanischen Haiku s. unten S. 105.
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Das Fremdsein der Tiere
Jedes Ding und jeder Mensch, jedes Geschehnis, jede Farbe und jeder Duft, jeder Gedanke und jede Empfindung können uns in ihrer erstaunlichen Fremdheit begegnen, wenn wir vor ihnen in gelassener Aufmerksamkeit innehalten. Wie früher angekündigt, möchte ich beispielhaft zwei voneinander ganz verschiedene Bereiche herausgreifen, an denen mir das Phänomen der Fremdheit des Begegnenden besonders augenscheinlich zu sein scheint: das Tiersein und die Kunst. Wie steht es mit der Fremdheit, die wir in Begegnungen mit Tieren erfahren? Ich las irgendwo, daß das absolute Prinzip der Herrschaft, wie es insbesondere für die Neuzeit kennzeichnend ist, u. a. zur Folge habe, daß dem herrschaftlichen Subjekt seine Objekte fremd werden, und so auch und gerade die Tiere, weswegen man versuche, sich diese durch Pseudoanalogien wieder näherzubringen. Dieses Fremdwerden, diese Entfremdung ist jedoch nicht das, was ich als Uns-fremd-sein der Tiere im Blick habe. Die in jenem Aufsatz gemeinte Fremdheit bedeutet, daß zwischen dem Menschen und seinem Objekt keine echte Beziehung besteht, daß eben das eine dem anderen »fremd«, weil einfach andersartig und unbekannt ist. Diese Beziehungslosigkeit bedeutet aber gerade, daß der Gegenstand nicht als solcher und d. h. in seiner Fremdheit gesehen wird. »Fremdheit« besagt hier vielmehr Bedeutungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Dem herrschaftlichen Subjekt sind seine Objekte, wie die Untertanen dem absoluten Herrscher, gleichgültig; es versteht die Weise ihres Seins und Verhaltens nicht, weil es gewissermaßen keine gemeinsamen Schnittmengen zwischen ihm und ihnen gibt. Streng genommen sind sie aber nicht ihm fremd, und d. h. sie sind überhaupt nicht fremd in dem hier intendierten Sinne. Barbara Seiler schreibt in einem Text über Tiersymbole 44: »Je unähnlicher ein Tier dem Menschen ist, desto unheimlicher und fremder Barbara Seiler 2008 Barbara Seiler 2008 (http://www.spiriforum.net/artikel/ a40-tiersymbole.html)
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Nhe und Differenz zwischen Mensch und Tier
wirkt es, und folglich desto gefährlicher.« Doch auch diese Fremdheit ist es nicht, um die es mir zu tun ist. Ganz abgesehen von der hier implizierten selbstverständlichen Verknüpfung von »fremd« und gefährlich, die ich bereits in Frage gestellt habe, denke ich, daß das Anderssein und die Fremdheit unabhängig sind davon, ob wir uns einem bestimmten Tier verwandter oder weniger verwandt fühlen. Das Fremde in den Tieren kommt aus ihrem uns grundsätzlich unvertrauten Bereich, der durch von den unseren unterschiedene Kategorien und Perspektiven bestimmt ist. 45 Die Fremdheit, auf die ich die Aufmerksamkeit richten möchte, bezieht sich auf das (nichtmenschliche) Tiersein als solches und beschränkt sich nicht auf besondere Tiere, auch wenn sie, wie in den später anzuführenden Beispielen, an einigen Tieren in besonderer Weise erfahrbar und deutlich wird. Fremdheit ist eben kein allgemeines Kennzeichen von Seienden welcher Art auch immer, sondern das Geschehnis einer spezifischen Begegnung. Und doch kann sich dieses Geschehnis in besonderen Bereichen unterschiedlich ergeben, auch unterschiedlich evident sein; mir scheint, daß uns in Tieren die erstaunliche Andersheit des Anderen in besonderer Weise sinnfällig und erfahrbar werden kann. Was ich früher von der Fremdheitserfahrung überhaupt gesagt habe, gilt in besonderer Weise, wenn wir das Fremdsein der Tiere in den Blick fassen: zwischen uns und etwas Fremdem, vor dem wir staunend stehen bleiben, entsteht eine Beziehung, die zugleich den Charakter einer Nichtbeziehung hat; oder anders gesagt: eine Beziehung, die als solche einen Bereich oder Raum der Offenheit und Nichthaftigkeit entfaltet. Doch kommt bei der Beziehung zu Tieren gegenüber der zu anderem Seienden ein eigenes Moment der Befremdung hinzu, weil wir es hier mit Wesen zu tun haben, die uns einerseits bekannt und vertraut sind und deren Lebensfunktionen den unseren weitgehend zu entsprechen scheinen, und die in Wirklichkeit eben doch ganz anders sind als wir, – ohne daß wir wissen könnten, wie. Das gilt grundsätzlich für alle Tiere. Man könnte sogar sagen, daß die Fremdheit – ohnehin die Gefährlichkeit – eines Orang-Utan fühlbarer ist als die eines Regenwurms, obgleich uns der Primate zweifellos näher steht als ein Wurm. Sowohl der Orang-Utan wie der Regenwurm kann uns, wenn wir uns auf eine Begegnung mit ihm einlassen, fremd vorkommen. (»Objektiv« gesehen – wenn wir hier einmal von »objektivem Fremdsein« reden wollen – ist uns der Wurm ja tatsächlich »fremder«, wenn auch nicht gefährlicher.)
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Das Fremdsein der Tiere
Ich habe früher darauf hingewiesen, daß wir Menschen in sehr unterschiedlichen Beziehungen und Situationen allzu oft geneigt sind, das Fremde und Erstaunliche, manchmal vielleicht Unheimliche und Rätselhafte möglichst schnell und gründlich materiell oder geistig anzueignen; so machen wir es uns verständlich, begreifen es, und tilgen damit gerade seine Fremdheit und Rätselhaftigkeit. In derselben Weise sind die Menschen auch seit je mit vielen Tieren verfahren, indem sie sie gezähmt, domestiziert, d. h. dem menschlichen Hausstand einverleibt und in großer Nähe mit ihnen zusammengelebt haben. Oftmals wurden die Tiere in Analogie zum Menschen und von ihm her verstanden; dabei haben sich die Menschen, je nachdem ob es um Stärke oder um Intelligenz oder auch um andere Vermögen ging, entweder ihnen unterlegen (dies vor allem in frühgeschichtlichen Zeiten) oder umgekehrt ihnen überlegen gefühlt. Heute sehen wir die Tiere gewöhnlich auf einer Stufe, über die sich die Menschen als geistige Wesen grundsätzlich erhoben haben. Genauer können wir allerdings nicht einfach von der Beziehung zu Tieren sprechen; wir sollten genauer sagen: zu anderen Tieren, zu Tieren außer uns. Wir selbst, die Menschen, sind Tiere. Aber wir sind Tiere, die sich in schwer zu durchschauender grundsätzlicher Weise von den anderen Tieren unterscheiden; eben deshalb können wir diese spezifische Fremdheit empfinden, von der ich spreche. Die mögliche Erfahrung dieses Fremdseins ist zwar keineswegs schlechthin identisch mit dem Wissen um die Differenz, die uns von den Tieren unterscheidet und der entsprechend wir uns als irgendwie besondere Tiere wissen. Gleichwohl ist die grundsätzliche Unterschiedenheit zwischen uns und ihnen so etwas wie der Boden oder das materielle Substrat jener Erfahrung. Das Empfinden von Fremdsein impliziert ja überhaupt einen gewissen Abstand, das Wissen um eine gewisse Unterschiedenheit. Aber in der Beziehung zu den Tieren macht die grundsätzliche Verschiedenheit die Fremderfahrung selbst mit aus. Konkret: daß die Tiere z. B. nicht sprechen (im menschlichen Sinne von »sprechen«) und kein Selbst-Bewußtsein im strengen Sinne haben und daß sie dennoch so ähnlich wie wir zu sein und sich zu verhalten scheinen, eben dies ist Grundlage der spezifischen Weise, wie wir sie als etwas uns gegenüber Fremdes erfahren können. Die Besonderheit des Menschen gegenüber den übrigen Tieren 64
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Nhe und Differenz zwischen Mensch und Tier
ist eine qualitativ andere, als es die Besonderheiten sind, die jeweils alle Arten der gemeinsamen Gattung voneinander unterscheiden. Logisch gehören die Menschen – zusammen mit den Primaten – als eine spezifische Art in die Gattung Tier (oder Lebewesen), innerhalb deren sich die einzelnen Arten – wozu für Aristoteles auch die Götter zu gehören scheinen, 46 – durch »spezifische Differenzen« unterscheiden. Die Menschen, zumindest die Menschen unserer abendländischen kulturellen Tradition, waren und sind seit langem gewohnt, sich als solche den Tieren entgegenzusetzen 47, unbeschadet dessen, daß sie sich zugleich in einer gewissen Verwandtschaft mit ihnen sehen. 48 Diese Dopplung, sich also sowohl als dazugehörig zu wissen 46 Vgl. Met. D 26, 1023b30 ff., wo Aristoteles bei der Behandlung der Mehrfachbedeutung von »Ganzes« sagt, Mensch, Pferd und Gott seien ein Ganzes im Sinne eines Allgemeinen, »weil sie alle Lebewesen sind«. Heidegger betont allerdings, daß für die Griechen zoon weit abliegt vom »Tierwesen«. Er sagt einerseits, daß »die Griechen sogar ihre Götter zoa nennen können«, aber andererseits auch: »Die Götter werden nicht als Tiere erfahren.« (Aletheia, 274) 47 Horkheimer und Adorno stehen noch eindeutig in dieser Tradition, wenn sie schreiben: »Die Welt des Tieres ist begriffslos. Es ist kein Wort da, um im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten Situationen dasselbe Ding.« (D.d.A., 284) Der Mensch ist das lebende Wesen, das den logos hat, – den logos, das heißt in einem und zugleich: den Begriff, in dem etwas gedacht, und das Wort, mit dem es benannt wird. Der Mensch ist das zoon logon echon, das Lebewesen, das den Begriff oder das Wort hat. Diese Bestimmungen sind zweifellos richtig. Die Frage ist aber, ob sie tatsächlich das zum Ausdruck bringen, was der Mensch ist, und was das Tier ist, anders gesagt, ob eine Bestimmung, die das eine am anderen mißt, dem Eigenen des Jeweiligen gerecht werden kann. 48 Derrida zeigt in seiner Schrift Das Tier, das ich also bin, daß das übliche gemeinsame Subsumieren aller nichtmenschlichen Tiere unter die im Singular gebrauchte Allgemeinheit »Tier« gerade wegen der darin im Grunde implizierten traditionellen Entgegensetzung zum Menschen eine unzulässige Zusammennahme von überaus Unterschiedlichem darstellt. Er bildet darum mit dem Neologismus »animot«, in dem er eine Verknüpfung von animal und mot (Wort) versucht, einen neuen Allgemeinbegriff, der – dafür steht das vor allem den Namen, also im weiteren Sinne das »Sprechen« meinende »mot« in »animot« – den Menschen mit umfassen soll. Diese »Allgemeinheit« ist zweifellos anders zu denken als die herkömmliche Gattung; sie meint, wie er betont, auch nicht »eine einzige große Ordnung, eine einzige, große, zutiefst homogene und kontinuierliche Familie, die vom animot bis zum homo (faber, sapiens oder wie auch immer) reicht«. Die Infragestellung des Gattungsbegriffs »Tier« soll in ihrer Reichweite prinzipiell über die bestimmte Gattung »Tier« oder »Lebewesen« hinausführen.
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Das Fremdsein der Tiere
wie sich dem Tiersein auch gegenüberzustellen, scheint für das menschliche Verhältnis zu den Tieren auch heute noch weitgehend charakteristisch zu sein. Strukturell entspricht sie der Dopplung, die zumindest das neuzeitlich-metaphysische Verhältnis zur Welt und ihren Dingen überhaupt kennzeichnet und die Heidegger einmal so beschreibt: »Der Mensch aber gilt nicht nur als ein Stück der Welt, innerhalb ihrer vorkommend, sie mitausmachend, sondern der Mensch steht der Welt [zu ergänzen: auch] gegenüber.« (Die Grundbegriffe der Metaphysik, 262) Die genannte Dopplung bedeutet auch, daß die Menschen sich einerseits aufgrund ihres Denkvermögens unendlich weit über die Tiere stellen, während sie andererseits durchaus um ihren eigenen natürlichen und d. h. zugleich tierhaften Anteil wissen, 49 den sie aber eben an sich selbst geringschätzen, zuweilen verachten. Die negative Bedeutung vieler Worte, die etwas Tierhaftes im Menschen nennen oder konnotieren sollen, sind ein deutlicher Beleg für die allgemeine Geringschätzung des Tierhaften überhaupt, z. B. bestialisch, tierisch, vertiert, viehisch. Das tierhaft »Triebhafte« im Menschen wurde – und wird – als der entscheidende Gegenspieler des Geistigen aufgefaßt, den es zu überwinden oder jedenfalls zu zähmen, zu disziplinieren und zu beherrschen oder zu sublimieren gelte. So sagt Kant in seiner Pädagogik: »Disciplin oder Zucht ändert die Thierheit in die Menschheit um.« (441). Man geht im alltäglichen Verständnis davon aus, daß eine mehr oder weniger gerade Linie von den einzelligen Lebewesen und genauer dann von den einfachsten, unkompliziertesten Tieren über immer komplexer werdende Formen und schließlich über die uns verwandtesten, die Primaten, bis hin zu den Menschen führt, – über die hinaus es dann in dieser Entwicklungslinie nichts Größeres, Höheres geben kann. Der Unterschied zwischen diesen und jenen wäre so lediglich ein gradweiser, es gäbe keinen qualitativen Sprung zwischen ihnen, wie er dagegen zwischen den Menschen auf der einen und den Engeln oder den Dämonen sowie den Göttern oder dem Gott auf der anderen Seite bestehen soll. Allerdings erscheint die Überzeugung von dieser geraden EntIn besonderer Verschärfung gilt dies seit Descartes’ ausschließender Entgegensetzung zwischen Geist und Materie, was für ihn mitbedeutet: von Geist und Tierheit.
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Nhe und Differenz zwischen Mensch und Tier
wicklung und Abstammung inzwischen als nicht so fraglos, wie es zunächst aussieht. Die Verhältnisse sind, was die Verwandtschaft oder Ähnlichkeit der Anlagen und Vermögen angeht, in Wirklichkeit keineswegs geradlinig. Eine der Schwierigkeiten für die Argumentation liegt etwa in der Tatsache, daß so unterschiedliche Tiere wie beispielsweise die Wale, Krähen, Schweine, Paviane oder Termiten in unterschiedlichen Feldern Eigenheiten oder Fähigkeiten ausgebildet haben, die den menschlichen teilweise verblüffend ähnlich sehen; weswegen dann eher von einem »sich verästelnden Lebensbaum« als von einer kontinuierlichen Entwicklungslinie gesprochen wird. In den letzten Jahrzehnten hat die Erforschung jener menschenähnlichen Fähigkeiten von Tieren unglaubliche Fortschritte gemacht. Besonderes Interesse gilt dabei stets den beiden »Können«, die seit jeher als die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der Menschen gegenüber den (übrigen) Tieren angesehen wurden, nämlich dem Sprechenkönnen und dem Denkenkönnen, wobei das letztere genauer in unterschiedliche Vermögen wie u. a. Rechnen, Erwägen, Urteilen, Planen und Programmieren zu differenzieren ist, die typischer-, aber bemerkenswerterweise bei der Beschäftigung mit den Tieren gewöhnlich wie selbstverständlich in den Rahmen praktischer Vernunft im weitesten – auch die techne umfassenden – Sinne gehören. 50
* Wenn ich nun die Fremdheit der Tiere – also die Fremdheit, die wir in der Begegnung mit Tieren erfahren können, – in den Blick nehme, dann wird diese Fremdheit in keiner Weise von einer sowohl bio-
Beträchtliche Bemühungen der Forschung gehen heute in die Richtung einer zunehmenden Erforschung der Möglichkeiten der menschlichen »Kommunikation« mit einzelnen Tierarten, z. B. mit Affen, Delphinen, Pferden und Hunden. Die erstaunlichen Erfahrungen, die Menschen in bezug auf ein gegenseitiges »Verständnis« mit einzelnen Haustieren – Katzen, Hunden, Vögeln – machen, sind oftmals beschrieben worden; sie zeigen sich insbesondere dann, wenn der Mensch mit den Tieren nicht bloß dressierend und disziplinierend, sondern achtsam und aufmerkend, in gewissem Sinne »partnerschaftlich« umgeht.
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Das Fremdsein der Tiere
logischen 51 wie lebensweltlichen Verwandtschaft, Nähe oder gar Vertrautheit zwischen Menschen und Tieren tangiert oder in Frage gestellt. Sie besteht jenseits aller Aneignungs-, Verständnis- oder Verständigungsbemühungen und ihres möglichen Scheiterns. Diese ändern nichts an der Möglichkeit des Phänomens grundsätzlicher Fremdheit. Ungeachtet aller Beobachtungen und erstaunlichen Fakten einer gewissen Verwandtschaft und Vertrautheit und ungeachtet der mannigfachen genetischen und empirisch beobachtbaren Ähnlichkeiten und Entsprechungen geht es mir hier um das Uns-Fremdsein der Tiere. Anders und fremd kann uns, wie mehrfach betont, in je unterschiedlicher Weise sehr Unterschiedliches sein, – ein Stein, eine Blume, ein menschliches Produkt, ein Geistesblitz, ein Mitmensch, wir selbst. Die Begegnung mit Tieren stellt nur ein besonderes Feld der Auseinandersetzung mit Fremdheit dar. Doch die Tiere haben zugleich eben das Besondere, daß wir sind wie sie, und doch anders, daß sie sind wie wir, und doch anders. Unsere »Verwandtschaft« mit ihnen ermöglicht uns – und ihnen selbst – zuweilen eine ungewöhnliche gegenseitige Empathie, das Aufnehmen einer beidseitigen Beziehung. Im Vergleich zu den Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen bleibt diese Beziehung allerdings wesenhaft beschränkt. U. a. liegt das daran, daß wir uns in den Tieren nicht zu spiegeln, nicht wiederzuerkennen vermögen und daß wir uns letztlich, wenn wir ehrlich sind, nicht wirklich in sie hineinzuversetzen vermögen, – also in der trotz aller Nähe bestehenden grundlegenden Differenz. Zwar sind wir Tiere. Ich denke, es ist für unser In-der-Welt-sein von entscheidender Bedeutung, daß wir uns unseres Tierseins, was auch heißt, unserer Natürlichkeit und Leiblichkeit, bewußt bleiben. In Tieren begegnen wir – zu einem Teil 52 – uns selbst bzw. unseresgleichen. Aber zugleich stoßen wir in ihnen auf eine Grenze unseres Die weitgehende genetische Gleichheit von anderen Tieren und Menschen ist inzwischen als wissenschaftlich gesicherter Fakt anzuerkennen. Der Fremdheit widerspricht auch nicht die Möglichkeit der z. T. unglaublichen Erfolge beim Trainieren einzelner Tierexemplare im Bereich des Rechnens, Memorierens usw. 52 Mit diesem »zum Teil« ist, das dürfte nach allem bisher Gesagten klar sein, nicht der eine, leibliche Teil gegenüber einem zweiten, geistigen Teil gemeint. Einerseits sind wir ganz Tiere. Aber andererseits sind wir ganz etwas anderes, etwas, dem das 51
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Die Erfahrung der Fremdheit der Tiere
eigenen Seins. Diese Grenzerfahrung spielt eine wichtige Rolle bei ihrem Uns-fremd- und Rätselhaft-sein. Es scheint so, als stießen wir an ihre Weltgrenzen als an etwas, das zugleich uns selbst begrenzt, weil es uns keinen Zugang erlaubt. Die Präsenz der Tiere ist zuweilen von einer Art, daß von ihr etwas zu uns herüberdringt, das sich uns als Erstaunliches aufdrängt, gerade weil es schmerzlich unerreichbar bleibt. Denken wir z. B. an das Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit, das sich uns im Flug der Vögel vermittelt. Wir meinen, irgendwie nachempfinden zu können, was es heißt, sich frei in die Luft zu schwingen und sich den Strömungen des Windes, dem Zug der Wolken zu überlassen, – und wir haben doch keine Ahnung, was Fliegen für den Vogel selbst bedeutet, ob Vögel so etwas wie Freiheit empfinden – oder etwas ganz anderes. Oder ob wir da gar nicht von »Empfinden« sprechen können. Wir meinen bei ihrem Anblick etwas zu fühlen, zu dem wir und gerade weil wir dazu nicht fähig sind, – höchstens die Dichter, wie Hölderlin sagt: »Denn sagen hört ich / Noch heut in den Lüften: / Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter«. (Die Wanderung) Wir können im Grunde nichts Sicheres darüber ausmachen, wie und was (die anderen) Tiere sind. Wir können zwar, z. B. naturwissenschaftlich, ihren An- und Vorschein, d. h. das, was wir von ihnen wahrnehmen, beschreiben und in unsere Wissenssysteme einordnen, wie das in gewisser Weise für alles Seiende gilt. Die – wissenschaftliche oder z. B. auch ästhetische – Beschreibung etwa eines Gebirges, eines Baumes oder einer Stadt (um drei unterschiedliche Seinsbereiche zu nennen) unterscheidet sich natürlich, was die Wissenschaftlichkeit angeht, nicht prinzipiell von der Erfassung eines Tieres; oder um es konkret zu sagen: die wissenschaftliche Beschreibung des Apennin, der Zwergkiefer oder Avignons unterscheidet sich nicht prinzipiell von der der Coyoten, der Krähen oder der Stiere. Wo es aber nicht um eine wissenschaftliche Erfassung oder um eine sonstige objektive Beschreibung geht, sondern um das, was wir im Unterschied zur rationalen Erkenntnis die Erfahrung nennen, um das Sicheinlassen auf eine wirkliche Begegnung, da scheint mir ein gewisser Unterschied zwischen unserer Beziehung zu den Tieren und der zu Tiersein (der anderen Tiere) grundsätzlich verschlossen ist, weil wir eine andere Weise des In-der-Welt-seins leben, insofern wir um uns und anderes wissen.
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Das Fremdsein der Tiere
anderen Seienden zu bestehen. In analoger, aber doch auch ganz anderer Weise, als wenn wir das Sein eines anderen Menschen zu verstehen suchen, begegnen wir hier etwas Verwandtem. Tiere erfahren wir anders, sie sind uns verwandter als leblose Dinge oder auch als Pflanzen oder Landschaften; aber wir erfahren sie doch auch anders als andere Menschen, insofern sie nicht wirklich »unseresgleichen« sind. Sie sind in einem betonten Sinne die uns gegenüber Anderen, gerade weil sie uns nur irgendwie auch gleich sind; wir erfahren in ihnen bei aller gleichzeitigen Nähe etwas ganz Fremdes, im Grunde Unverständliches und Unnachvollziehbares. Der Versuch, das Sein eines Tieres zu erfassen, stößt also, um das noch einmal herauszustellen, auf diese ganz besondere Situation: Tiere werden einerseits in einer gewissen Entsprechung zu uns erfahren, wir nehmen in ihnen aber zugleich eine eigene, uns grundsätzlich verschlossene Dimension wahr. Mit dieser eigenen Dimension meine ich, daß uns in der Begegnung von Tieren evident werden kann, daß sie scheinbar auch, wie wir, in einer Welt sind, in einer Welt jedoch, die so anders ist als die unsere, daß wir von ihr nichts wissen können, – letztlich nicht einmal, ob es eine Welt in einem von uns zu verstehenden Sinne ist. 53 Wenn wir einer Kuh auf der Weide »ins Auge blicken« – im Kuhblick ist, so scheint mir, seine abgrundtiefe Unzugänglichkeit besonders deutlich 54 –, so schaut sie gewissermaßen an uns vorbei oder durch uns hindurch, es gibt keine Erkenntnis zwischen uns, die in einer gemeinsamen Welterfahrung wurzeln würde. Und doch sehen wir irgendwie, daß diese Kuh da ist, 55 d. h. daß sie – auf ihre eigene Weise – in einer Wechselwirkung mit so etwas wie einer »Umwelt«
Ludwig Wittgenstein schreibt in den Philosophischen Untersuchungen: »wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen«. (260) Wir könnten ihn nicht verstehen, weil seine »Welt«, damit seine »Erfahrungen«, sein »In-der-Weltsein« grundsätzlich andere sind als die unseren. Von daher ist natürlich schon die anfängliche Voraussetzung bewußt illusorisch. Bzw. die »Sprache«, die der Löwe sprechen würde, wäre als solche, vor jedem spezifischen Inhalt, schon unverständlich für uns. 54 Auch wenn, daß Homer von der kuhäugigen Hera sprechen kann, uns die Göttin vielleicht eher ein wenig vertrauter und nicht fremder macht. 55 Gemeint ist natürlich nicht der Heideggersche Begriff des Daseins, der nur auf den Menschen anzuwenden ist. 53
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Die Erfahrung der Fremdheit der Tiere
lebt, in der auch wir vorkommen, ohne daß wir sagen könnten, es wäre die selbe Umwelt wie unsere. Sieht die Kuh auf der Weide wirklich Wolken, wenn sie scheinbar gedankenverloren vor sich hin und in den Himmel schaut? Wie nimmt sie den Unterschied zwischen weißen Schäferwölkchen und drohenden Gewitterwolken wahr, so sie ihn denn überhaupt wahrnimmt? Ist es grünes und saftiges oder dürres und trockenes Gras, das sie frißt, oder ist es das nur in unserer Beschreibung? Jedenfalls gibt es das Gras für sie, z. B. als etwas Freßbares, soviel können wir aus ihren Lebensäußerungen schließen. Und es gibt für sie wohl auch einen Unterschied zwischen dem, was wir saftiges und was wir dürres Gras nennen. Für den Brunnen ist das Gras am Brunnenrand nicht, er kann nichts damit anfangen; das selbe Gras aber ist irgendwie für die Kuh, die sich anschickt, es zu fressen, es kommt innerhalb ihres Horizontes vor, ohne daß wir wissen, wie, und was da »Horizont« heißen könnte. Wenn das Chamäleon seine Zunge hinausschnellt, um das Insekt einzufangen, dann hat es dieses zweifellos wahrgenommen. Aber »weiß« es, daß das Erbeutete eine Fliege ist? Was genau ist die Fliege für das Chamäleon? 56 Die Differenz, die uns das Fremdsein eines Tieres erfahren läßt, ist somit keine bloß gradweise, sondern eine radikale. 57 Zwar berühDie finnische Künstlerin Tea Mäkipää hat in einem 20-minütigen Video »Petteri – My Life as a Reindeer« den Blick des Tieres als eines gegenüber unserem Vorstellen anderen Blicks festhalten wollen, indem sie für den Betrachter das Leben aus der Perspektive eines Rentieres zu zeigen versucht. Auf einem Rentier, das den Namen Petteri bekommen hat – ist es nicht schon bezeichnend genug, daß man ihm einen menschlichen Namen gegeben hat? –, wurde eine Video-Kamera befestigt, die seinen Blick auf seine täglichen Bewegungen, sein soziales Leben und (wie es in dem Bericht darüber heißt) seine »persönlichen Bedürfnisse und Interessen« sichtbar machen sollte. Doch sieht die Kamera wirklich das, was das Ren sieht? Ist hier nicht wieder die verhängnisvolle Voraussetzung einer sogenannten »Objektivität« am Werk, die, auch wenn sie nach dem anderen Blick zu fragen vorgibt, doch, ohne das selbst zu sehen, nur mit den als objektiv gesetzten Mitteln der menschlichen Subjektivität vorgehen kann? 57 Darum halte ich Heideggers Kennzeichnung des tierischen Weltverhältnisses als »Weltarmut« (gegenüber dem menschlichen In-der-Welt-sein einerseits und der Weltlosigkeit des Steines andererseits) für zumindest mißverständlich bzw. ungenügend. (Vgl. Die Grundbegriffe der Metaphysik, 263 ff.) Sie legt nahe, daß die Welt der Tiere lediglich ärmer sei als die unsere, während ich hier von einer qualitativen Andersheit sprechen möchte. »Weltarmut« erinnert im übrigen an die Formulierung 56
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Das Fremdsein der Tiere
ren uns diese »Welt« und das tierische Leben in besonderer Weise, eben weil wir selbst – nur in anderer Art – Tiere sind. Wir haben den Eindruck, daß der Kuh die Bremsen genauso lästig sind, wie sie es uns wären. Oder wir empfinden eine gewisse Analogie zwischen unseren Weisen, uns auszudrücken, und denen gewisser Tiere, was uns vorschnell auf eine grundsätzliche Ähnlichkeit eines bei uns und ihnen vorhandenen Gefühlslebens schließen läßt. Etwa wenn uns ein Tier bittend, erwartungsvoll, vorwurfsvoll usw. anschaut. Oder wenn wir beobachten, wie es sich unter seinesgleichen verhält, wie z. B. Hunde voll offensichtlichen Vergnügens miteinander im Schnee spielen. Und doch begegnet uns im Tier ein eigenes, von uns nur zu erahnendes »In-der-Welt-sein«. Das Bitten und Erwarten, das Froh- oder Traurigsein des Tieres wird trotz allem Anschein ein anderes als das unsere sein. Letztlich gibt es für uns keinen Weg der angemessenen Einfühlung zu diesem anderen Sein. Die Begegnung mit einem Tier als die zumeist unvermittelte Erfahrung der Gegenwart eines Fremdseins, vielleicht des Anderen als solchen, vielleicht zuweilen auch des Lebens selbst, die uns – nicht nur, aber eben in besonderer Weise – in einzelnen Tieren präsent zu werden vermag, ist wie ein Blick in einen Abgrund, der schwindeln machen kann, oder in ein verbotenes, unzugängliches Zimmer, wie es in manchen alten Geschichten vorkommt. Die bekannte Oberfläche des Gewohnt- und Vertrautseins unserer Welt zeigt, sofern wir uns auf jene Begegnung einlassen, einen Riß. Wir sehen uns unversehens vor einer Weise unseres eigenen Nichtseins, jedenfalls eines grundsätzlichen Uns-nicht-auskennens, damit eben auch einer Grenze unserer selbst. »dürftig wie das Dasein der Tiere« aus der Dialektik der Aufklärung (81 f.), die ausdrücklich abwertend ist und dies im übrigen nur darum sein kann, weil sie die tierische an der menschlichen Welt mißt. Eine ausführliche Diskussion der genannten Heideggerschen Gedanken findet sich in Markus Wild, Tierphilosphie; er geht auch auf Derridas Kritik ein. »Dabei ist Derridas Gedanke, daß Tiere uns fremd sind, wichtig. Auch wenn wir Tieren geistige Vermögen und Unvermögen zuschreiben können [wie Wild zu zeigen versucht], so ist uns ihre Art, da zu sein, ihre Lebensweise doch fremd. Das betrifft nicht nur die Fledermaus und ihre eigenwillige Lebensweise …, dies betrifft auch Häher, Grasmücken, Meerkatzen, Katzen oder Argos [Odysseus’ alter Hund]. Haustiere leben mit uns, wie Heidegger sagt, aber wir leben nicht mit ihnen. Dies kann man als Ausdruck der Fremdheit verstehen.« (211)
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Die Erfahrung der Fremdheit der Tiere
Die Erfahrung der Fremdheit besteht zum Teil gerade in dem Konfrontiertwerden mit diesem Mangel an Verstehen. Wir begegnen hier einer Schwelle, die wir nicht überschreiten, die wir aber als Schwelle und Grenze erfahren können. Von uns aus gesehen – und von woher sonst sollten wir blicken? – erscheint die Grenze als Negation unsres Eigenen, als Differenz also, die sich zunächst – und weitgehend ausschließlich – von daher bestimmen läßt, daß die Tiere in wesentlicher Hinsicht nicht sind, was und wie wir sind. Entscheidend ist hier zweifellos, wie wir selbst uns sehen; aber dieses Verstehen unserer selbst ergibt sich zugleich gerade im Hinblick darauf, was wir im Blick auf das erstaunlich Andere eben als Negation und Differenz unserer selbst erfahren; wir bewegen uns hier in einem unvermeidbaren Zirkel. An unsere Grenze zu kommen, heißt auch, zu uns selbst zu kommen. 58 Unser Menschsein, unser Denken- und Sprechenkönnen, unsere Sterblichkeit werden uns in einer besonderen Weise da präsent und selbst fremd und erstaunlich, wo wir sie im Mit-Tier negiert sehen. 59 Derrida spricht hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Tier von »der Nähe und der unendlichen Entfernung«. Und Waldenfels nennt in einem verwandten Zusammenhang die »Ferne in der nächsten Nähe«. (Das Fremde denken, 3) Jeweils wird das Zugleich einer Beziehung der Nähe und der Negation dieser Beziehung betont. Wahrscheinlich gibt es immer ein Moment der bestimmten Negation in der Erfahrung von Fremdheit. Das heißt, das Fremde erfahre ich als etwas, was genau das nicht ist, was ich bin oder was mir vertraut ist. Doch was ist es dann, als solcherart bestimmt Negiertes? Es bedürfte der Hegelschen Dialektik, und d. h. ihrer Voraussetzung eines vermittelnden Einen, um dem »das, was ich nicht bin« eine eigene Bestimmtheit zu geben. Dann aber hätten wir die Fremdheit gerade wieder verfehlt. Das, was ich nicht bin, ist mir fremd; es läßt sich höchstens bis zu einem gewissen Grad negativ von dem her begreifen, was ich bin. Die Definition von etwas ist gemäß ihrem griechischen Namen die Grenze, von wo etwas sich als das bestimmt, was es ist. 59 Ich bleibe mit diesen Ausführungen ausdrücklich in unserem eigenen Kulturkreis, unserer abendländischen Tradition. Die sehr enge und intensive Beziehung etwa der nordamerikanischen Indianer zu den Tieren ist von der unseren so weit unterschieden wie ihr Selbstverständnis von dem unseren. Wenn es da ein Fremdwerden in der Begegnung gibt, so wird es zweifellos von ganz anderer Art sein. 58
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Das Fremdsein der Tiere
Die Fremdheit, die wir (Abendländer) Tieren gegenüber empfinden, hat somit wohl zwar etwas mit den Differenzen zu tun, die uns letzten Endes doch von allen noch so verwandten oder vertrauten Tieren unterscheiden und die mit dem an unser spezifisches Sprechvermögen gebundenen, aber sich nicht in ihm erschöpfenden Selbstbewußtsein zusammenhängen, aber sie läßt sich nicht einfach auf diese reduzieren. Und dies eben darum nicht, weil wir mit diesen Negationen innerhalb des Bereichs unseres eigenen Seins, des uns Vertrauten und Begreifbaren verbleiben. Wir haben eben nur unsere Sprache, um das auszudrücken, was wir vielleicht in bezug auf die Tiere vermuten, oder wie wir das beschreiben, was wir in ihnen zu sehen meinen. Deswegen sollten wir auf jeden Fall bei allen Aussagen über sie immer den Vorbehalt eines gleichzeitigen Frei- und Offenlassens machen. Die Konfrontation mit der Negation und Grenze unseres eigenen Seins ist keineswegs die einzige Weise, wie wir die Fremdheit von Tieren erfahren; aber sie scheint mir so etwas wie die ontologische Voraussetzung, jedenfalls eine Implikation jener Erfahrung zu sein. Daß wir im Blick eines Tieres tatsächlich Fremdheit und Unverständlichkeit erfahren, läßt sich im jeweiligen Fall nicht näher begründen oder analysieren; das muß ja auch nicht geschehen. Wir können allerdings zu beschreiben versuchen, was uns da trifft, etwa im Anblick eines einsamen, »mythischen« Stieres in einem sardischen Wald, einer Klapperschlange, die »verbissen« ins Meer hinaus zu schwimmen versucht, oder auch »nur« einer Biene, die in einen Blütenkelch eintaucht.
* Doch bleiben wir zunächst bei der Erfahrung des Fremdseins eines Tieres als Grenze und damit als Negation unseres eigenen Seins. Ich betone noch einmal, daß diese Differenz 60 oder Grenze jeweils einIhr Aufweis bedeutet natürlich nicht, daß wir die Fremdheit etwa dadurch auflösen oder auch nur verstehen könnten, daß wir jene Differenzen erkennen. Ich meine nur, daß wir erkennen können, daß es solche Differenzen gibt, und daß wir uns die Be-
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Sprachlosigkeit, Todlosigkeit, Zeitlosigkeit
seitig aus der Perspektive des Menschen gesehen ist. Zu sagen z. B., daß die Tiere nicht sprechen, heißt im Grunde nur, darauf hinzuweisen, daß sie nicht sprechen wie wir, daß ihre untereinander wiederum sehr unterschiedlichen Weisen, sich miteinander zu verständigen, sich von der unseren grundsätzlich unterscheiden. 61 Tiere sprechen und denken jedenfalls nicht auf menschliche Weise, und sie reflektieren nicht. Indem wir so sagen, messen wir sie an unserem Sein. Der Mangel im Hinblick auf bestimmte wesentliche menschliche Vermögen wird als eine Kennzeichnung ihres tatsächlichen Seins aufgefaßt. Hat es aber wirklich eine Bedeutung für das, was Tiere an ihnen selbst sind, daß sie dies oder das nicht sind? Sind diese negativen Bestimmungen nicht vielmehr lediglich Ausdrücke für unsere Grenze, für die Schwelle, die uns von den Tieren trennt? Können wir wissen, ob sie auch für eine definierende Grenzbestimmung der Tiere selbst – wenn wir denn überhaupt von einer solchen sprechen können – relevant sind? Verbleiben wir nicht allzu leicht und immer wieder innerhalb einer vergleichenden Abschätzung, die uns selbst zum Kriterium und Maßstab nimmt? Es ist entscheidend, daß wir die genannte Einseitigkeit im Blick behalten; das bewahrt uns davor, gemäß einer langen Gewohnheit die unverstandenen und vermutlich unverstehbaren Andersheiten als bloße Defizienzen, als Privationen gegenüber dem menschlichen Sein zu sehen. Fragen wir nach der Differenz oder Grenze, die der Möglichkeit der spezifischen Erfahrung der Fremdheit der Tiere zugrunde liegt, so können wir nur von dem ausgehen, was als die Grundtatsache unseres abendländischen Selbstverständnisses angesprochen werden kann, davon also, daß die Menschen im Gegensatz zu den Tieren denken und sprechen, – im strengsten und genauesten Sinne verstanden; 62 was zugleich heißt, daß in einem strengen Sinne von Wissen – reiche klarmachen können, in denen sie besonders sichtbar sind. Aber das heißt nicht, daß wir erkennen könnten, was die Tiere und wie sie in der Welt sind. Der genauere Aufweis der Differenzen erweckt lediglich den Anschein, in der Negation des Menschlichen »hätten« wir dann schon das Tierische. 61 Die entsprechenden Forschungen haben inzwischen gezeigt, daß ihre Verständigungssysteme die menschlichen in bestimmten Hinsichten, z. B. was die Entfernungen betrifft, die sie überwinden, weit übertreffen. 62 Heute gibt es zwar von berufener Seite viel Widerspruch gegenüber dieser Voraussetzung, vgl. z. B. Marc D. Hauser, Wilde Intelligenz. Was Tiere wirklich denken.
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Das Fremdsein der Tiere
verstanden als selbstbewußtes Wissen – das Tier nicht weiß. 63 Heidegger bringt ein einfaches Beispiel: »Die Arbeitsbiene kennt die Blüten, die sie besucht, deren Farbe und Duft, aber sie kennt nicht die Staubgefäße dieser Blüten als Staubgefäße, sie kennt nicht die Wurzeln der Pflanze, sie kennt nicht so etwas wie die Zahl der Staubgefäße und Blätter.« (Die Grundbegriffe der Metaphysik, 285) Wichtig ist hier das Wörtchen »als« (die Staubgefäße als Staubgefäße). 64 Etwas zu wissen heißt, es als etwas zu kennen. Es scheint inzwischen zwar durchaus denkbar, daß eine Krähe »wissen« könnte, daß eine bestimmte Pflanze Wurzeln hat: sie versucht dadurch an die Frucht zu gelangen, daß sie die Wurzeln abhackt. Aber sie weiß deswegen doch nichts von den Wurzeln als Wurzeln, sie hat kein reflektiertes Wissen davon, daß Pflanzen als Pflanzen Wurzeln haben und was deren Funktion ist. Könnten wir überhaupt sagen, daß sie weiß, daß eine Pflanze eine Pflanze ist? Handelt es sich um eine Pflanze, wenn sie nicht den Namen »Pflanze« trägt? Und ohnehin: könnte sie wissen, daß sie weiß, und wissen, daß sie es ist, die weiß? Aber zumeist läuft es dabei letztlich darauf hinaus, wie eng oder weit man den Begriff des Denkens einerseits und des Sprechens andererseits faßt. 63 Für die philosophische Tradition heißt das, daß das Tier nicht über die sinnlichen Data hinaus zu einer unsinnlichen, d. h. geistigen Erkenntnis fortgehen kann. Als Beispiel für dieses Verständnis sei hier nur Hegel angeführt: »Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen desselben über das Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht werde, alles dieses ist das Denken selbst, dies Übergehen ist nur Denken. Wenn solcher Übergang nicht gemacht werden soll, so heißt dies, es soll nicht gedacht werden. In der Tat machen die Tiere solchen Übergang nicht; sie bleiben bei der sinnlichen Empfindung und Anschauung stehen; sie haben deswegen keine Religion.« (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 50 Zusatz, 131) Und: »Die wahrhafte Religion, die Religion des Geistes, muß … einen Inhalt haben; der Geist ist wesentlich Bewußtsein … ; als Gefühl ist er der ungegenständliche Inhalt selbst … und nur die niedrigste Stufe des Bewußtseins, ja in der mit dem Tiere gemeinschaftlichen Form der Seele. Das Denken macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste, und die Philosophie ist nur ein Bewußtsein über jenen Inhalt, den Geist und seine Wahrheit, auch in der Gestalt und Weise jener seiner, ihn vom Tier unterscheidenden und der Religion fähig machenden Wesenheit«. (ebd., Vorrede zur zweiten Ausgabe, 12 f.) 64 Ich finde es merkwürdig, daß Heidegger nicht von den Blüten als Blüten, sondern erst von den (für die Biene unsichtbaren) Staubgefäßen und Wurzeln und der ein Zählvermögen voraussetzenden Zahl der Staubgefäße und Blätter spricht. Bleibt nicht auch die Blüte mit ihrem Duft und ihrer Farbe als solche der Biene verborgen?
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Sprachlosigkeit, Todlosigkeit, Zeitlosigkeit
Üblicherweise bewundert man die Fähigkeiten der Bienen oder der Krähen, die bestimmten unserer Fähigkeiten so bemerkenswert nahezukommen scheinen. Man versucht, diese Annäherung bis zu einer prinzipiellen Gleichheit voranzutreiben. Doch wie in so vielen anderen Feldern geht dabei – trotz allen Bestaunens der jeweiligen Forschungsergebnisse – die Differenz, das Erstaunen, die Fremdheit gegenüber den Tieren an ihnen selbst verloren; der Identifizierungsdrang beraubt uns der Erfahrung ihrer Andersheit. Indem wir der Krähe im Grunde die menschliche Denkungsart unterstellen, nur daß diese eben in einem entwicklungsgeschichtlich früheren und d. h. minderen Ausmaß vorhanden sei als beim Menschen, nehmen wir dem Faktum, das wir da beobachten können, seinen rätselhaften Reiz. Nichts gegen das Forschungsinteresse an der Krähe. Aber die Erfahrung ihres Fremdseins und ihrer rätselhaften Erstaunlichkeit ist eben etwas anderes. Sie läßt uns vor dem Eigensein des Vogels aufmerken und innehalten. Sie läßt uns ihr heiseres Krah-krah über der Landschaft vernehmen, das laute Schwirren ihres Flügelschlags über uns, die abendlichen schwarzen Schwärme auf der alten Pappel. Und sie läßt zugleich die Erstaunlichkeit dessen aufleuchten, daß wir »Krähe« sagen können und »Wurzel« und daß wir damit ein Wissen davon haben, was die eine und was die andere als eine solche ist und was wir selbst sind. Das »etwas als etwas« und das Sprachvermögen gehören unauflöslich zusammen. Für Heidegger ist das, was wir die menschliche Fähigkeit zum »als« nennen könnten, die eigentliche Auszeichnung des Menschen; der Mensch hält sich, offen für das Angegangenwerden durch das Sein des Begegnenden, in einem Bereich der Unverborgenheit, der eben in jenem »als« zum Ausdruck kommt. »Weshalb haben wir als Menschen etwas zu sagen im Unterschied zum Tier, wenn Sagen heißt: sehen lassen, offenbar machen? Worauf gründet das Sagen? Wenn Sie etwas als etwas, zum Beispiel dieses Ding als Glas, als so seiend wahrnehmen, muß Ihnen offenkundig sein, daß etwas ist. Der Mensch hat also etwas zu sagen, weil das Sagen als Sehen-lassen ein Sehenlassen von Seiendem als einem so und so Seienden ist.« (Zollikoner Seminare, 117) Etwas als etwas wissen, denken, sagen, – das heißt, es in einem offenen Raum vor sich – vielleicht besser: mit sich – zu haben. Was ich den Raum der Nichthaftigkeit nenne, das ist ein Raum der Offen77 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
Das Fremdsein der Tiere
heit, des Begegnenlassens, damit auch der Möglichkeit des Ansprechens und Aussprechens. Nur in diesem Raum des Ansprechenkönnens ereignet sich auch das erstaunte Innehalten, das beglückte oder erschreckte Aufmerken auf ein an ihm selbst Eigenes, uns Fremdes. Tiere können – das ergibt sich daraus von selbst – nicht im strengen Sinne erstaunen, nicht wirklich Fremdes als Fremdes erfahren, – so sehr sie auch, mit unseren Begriffen gesagt, verängstigt oder erwartungsvoll, verdutzt oder neugierig usw. erscheinen mögen. »Weil das Tier nicht spricht, haben Sichentbergen und Sichverbergen samt ihrer Einheit bei den Tieren ein ganz anderes Lebe-Wesen« (Aletheia, 274), sagt Heidegger. Und: »Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, weil er überhaupt ›sagen‹ kann; das heißt: eine Sprache hat. … Warum spricht das Tier nicht? Weil es nichts zu sagen hat. Inwiefern hat es nichts zu sagen? Menschliches Sprechen ist ein Sagen.« (Zollikoner Seminare, 114) Daß das Tier, als ein ganz anderes Lebe-Wesen, nichts zu sagen hat, heißt, daß es mit dem Sagen einfach nichts zu tun hat, daß es an ihm selbst darum auch durch keinen – positiven oder negativen – Bezug auf die Sprache zu charakterisieren ist. 65 Wenn Tiere miteinander kommunizieren, geschieht dies nicht in dem gemeinsamen Raum der Offenheit, der Sprache ausmacht. Bei Derrida finden wir im Hinblick auf diese Sprachlosigkeit der Tiere die wichtige Überlegung, ob es nicht möglich sei, »zu einem Denken zu gelangen, wie märchenhaft und chimärisch es auch immer sein möge, daß die Abwesenheit des Namens und des Wortes anders und als etwas anderes als eine Privation denken würde«. (Das Tier, das ich also bin, 299) Das hieße auch, den Tieren ihre Fremdheit zu lassen, ohne diese auf bestimmte von unserem In-der-Welt-sein abweichende negative Merkmale zurückzuführen. Im Tier würde zwar weiterhin eine Abwesenheit des nennenden Wortes anerkannt; aber diese Abwesenheit würde dann kein Fehlen, keine Defizienz mehr bedeuten. Ihre Anerkennung würde vielmehr den Raum öffnen für eine Begegnung mit dem »ganz anderen LebeWesen« des Tieres. Ein Aspekt dessen, daß Tiere nicht denken, ist, daß sie kein WisIn dem Sinne, wie wir alltäglich die Wendung gebrauchen, daß jemand etwas zu sagen hat, hätten die Tiere uns unglaublich viel, nämlich »Einsichten« in ein ganz anderes, uns verschlossenes bzw. einfach unbekanntes »In-der-Welt-sein« zu sagen.
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Sprachlosigkeit, Todlosigkeit, Zeitlosigkeit
sen um ihren Tod haben. 66 Ich kann nicht sagen, ob wir das Nichtwissen um die Sicherheit des Endes tatsächlich im Anblick eines Tieres erfahren, ob das, was man seine Unmittelbarkeit, zuweilen seine »Unschuld« nennt, in diesem Sinne verstanden werden kann. Gleichwohl möchte ich dieses Nichtwissen und das damit zusammengehörige Nichtwissen um das zeitliche Vergehen kurz berühren. In der achten Duineser Elegie sagt Rilke vom Tier: »und wenn es geht, so gehts / in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.« Die Brunnen können nicht sagen, wann und wie und wie lange sie fließen, sie zeigen uns ein unangestoßenes Immer-weiter: so geht’s in Ewigkeit. In den Tieren scheint es so etwas wie einen eigenen Drang zum Weiterleben und zum Bleiben in Ewigkeit zu geben. Aber es ist ein zielloses Abzielen, das nicht darum weiß, daß es gleichwohl zu Ende gehen wird. Die beiden zitierten Zeilen gehören in den Zusammenhang einer Reflexion auf die Sterblichkeit bzw. deren Fehlen bei den Tieren: »Frei von Tod. / Ihn sehen wir allein; das freie Tier / hat seinen Untergang stets hinter sich / und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts / in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.« Allerdings gibt es zugleich einen von Rilke nicht genannten Unterschied zwischen den Brunnen und den Tieren: die ersteren können zwar auch versiegen, aber sie können auch weiter fließen, »in Ewigkeit«, d. h. solange es diese Erde gibt bzw. deren Bedingungen sich nicht grundsätzlich verändern; die Tiere dagegen haben ihren »Untergang« nur »hinter sich«, sie sind, wenn auch todlos, nicht endlos. Todlos aber sind sie, weil sie ihren Tod, wie Rilke sagt, nicht – wie wir – sehen, d. h. nicht vor sich haben, nicht um ihn wissen. 67 Obgleich es bekanntlich bei verschiedenen Tierarten so etwas wie ein Vorherfühlen des nahenden Todes gibt. 67 Wenn Rilke die Elegie mit den Worten beginnt: »Mit allen Augen sieht die Kreatur / das Offene«, so richtet sich dieses Sehen in ein Offenes, das ohne Tod, ohne Schranke und Beschränkung ist. Mit dem Offenen ist anderes gemeint als die hier und von Heidegger gemeinte Offenheit des Raumes, der die Voraussetzung des Wissens und Sprechens ist. Heidegger schreibt zu Rilkes Wort »das Offene«: »Versuchte man das von Rilke gemeinte Offene im Sinne der Unverborgenheit und des Unverborgenen zu deuten, dann wäre zu sagen: was Rilke als das Offene erfährt, ist gerade das Geschlossene, Ungelichtete, das im Schrankenlosen weiterzieht, so daß ihm weder etwas Ungewohntes, noch überhaupt etwas begegnen kann.« (Wozu Dichter?, 262) Andererseits versteht Rilke sein Offenes wesentlich im Gegensatz zum vergegenständlichenden Ansatz des Subjekt-Objekt-Verhältnisses und somit als Mo66
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Das Fremdsein der Tiere
Heidegger sagt zu der Todlosigkeit der Tiere: »Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich.« (Das Ding, 177) Rilkes achte Elegie steht bei diesen Worten deutlich im Hintergrund, wie wohl auch, wenn er an anderer Stelle schreibt: »Das Aufgehen des Tieres zum Freien bleibt auf eine zugleich befremdende und bestrickende Weise in sich verschlossen und gebunden. Sichentbergen und Sichverbergen sind im Tier auf eine Art einig, daß unser menschliches Auslegen kaum Wege findet«. (Aletheia, 274) Das Sein und Naturhaftsein des Tieres ist uns so fern, daß höchstens Abgrenzendes darüber zu sagen bleibt. »Frei von Tod«, sagt Rilke, »das Tier verendet«, sagt Heidegger. Gemeint ist jeweils, daß das Tier kein Wissen um den eigenen Tod hat. Das Tier hat aber insofern kein wirkliches Wissen um den Tod, weil es kein Wissen um sich und weil es überhaupt kein Wissen im strengen Sinne, kein bewußtes Wissen, kein Denken, keinen Begriff hat. Die Sterblichkeit im Sinne des Sich-als-endlich-wissens geht einher mit einem Wissen um die Zeit, 68 – die Zeit, die wir selbst haben oder nicht haben, die um uns vergeht, die etwas braucht, in der etwas währt, das Wissen um Wiederkehr und Nicht-Wiederkehr. Für Nietzsche hängt das, was Heidegger mit dem Nichts-zu-sagenhaben der Tiere meint, mit ihrem Zeitverhältnis zusammen, damit also, daß die Tiere kein Bewußtsein für Vergangenes (auch nicht für Gegenwärtiges als Gegenwärtiges und für Zukünftiges) haben, daß sie »vergessen« und uns auch darum wunderlich und fremd erscheinen. Ich zitiere eine Passage aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen 69: »Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, ment eines In-der-Welt-seins, das dann – unbeschadet aller Unterschiedenheit des Verständnisses von Mensch und Tier – auch wieder nicht so radikal unvereinbar ist mit dem Heideggerschen Ansatz der Offenheit. 68 Auch Derrida hält das Zeitbewußtsein für ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Tier und Mensch; aber – in Konsequenz seiner Bemühung, eine Parallelisierung von Mensch und Tier zu vermeiden – macht er dessen Fehlen nicht einfach, wie Nietzsche, zu einem angeblichen Charakteristikum der Tiere. Vielmehr vermutet er, daß »Zeit« für die Tiere etwas ganz anderes sein könnte als für uns: »Wir leben im selben Augenblick, und doch haben sie eine Zeiterfahrung, die absolut unübersetzbar in meine eigene ist.« 69 Ohne daß ich ihre Bedeutung, was das Verständnis des Menschen angeht, hier im
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Der Blick der Tiere. Ausgezeichnete (»mythologische«) Tiere
was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein«. Der Mensch wird die Differenz gegenüber dem Tier so lange schmerzhaft erleben, als er es nicht vermag, sein eigenes Eigensein und das des Tieres als ein solches sein und geschehen zu lassen. So lange mißt er sich am Tier und umgekehrt, und seine Verwunderung ist kein wahrhaftes Staunen vor dem unbekannten Anderen. »Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangnen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. … Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Dann sagt der Mensch »ich erinnere mich« und beneidet das Tier, welches sofort vergißt und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer verlöschen sieht. So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrig bleibt« (283 f.) 70
* Nietzsche sagt an jener Stelle aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen, das Tier sehe ihn nur an. Der Blick ist oftmals in besonderer Weise das, was uns ein Tier in seiner Fremdheit sichtbar macht. Nicht nur im Blick der »dummen« Kuh, auch im Blick einer Schildkröte oder eines Flußpferdes kann sich die unermeßliche Distanz zwischen ihnen und uns auftun. 71 Die Zwiespältigkeit von Nähe und Ferne, Einzelnen diskutieren will. Ohnehin sind gewisse seiner Überzeugungen, wie hinsichtlich des Sich-nicht-verstellen-könnens der Tiere, inzwischen überholt. 70 Streng genommen dürfte Nietzsche nicht sagen, daß das Tier den Augenblick ins Nichts versinken »sieht«, denn es sieht ja gerade nicht, es hat keinen Blick für das Auftauchen als solches und das Vergehen als solches. 71 Ein besonderer Fall sind hier offenbar der »treue« Blick des Hundes und der Blick des Pferdes, die vielleicht auf Grund einer über die Jahrtausende währenden Nähe
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Das Fremdsein der Tiere
Verwandtschaft und abgrundtiefer Differenz zeigt sich, so scheint es, gerade im Blick, – vielleicht darum, weil wir diesen sonst gerade als eine Art Spiegel kennen, durch den wir uns im Anderen, nämlich im anderen Menschen, wiedererkennen. Man bezeichnet die Augen als den Spiegel der Welt. In ihnen haben die sehenden Lebewesen die Welt vor sich, durch das Sehen vermögen sie sich auf Einzelnes in ihr und auf Situationen einzustellen, ihr also zu antworten. Das gilt wohl für Menschen und Tiere. Aber was beim Menschen z. B. durch die Erinnerung an früheres Glück oder die Hoffnung auf ein Späteres, also durch Erkennen und Wiedererkennen mit bestimmt ist, scheint für das Tier eine ungeteilte Realität zu haben; sein Leben und Erleben hat einen Charakter der Ganzheit, Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit, die uns Menschen wesensmäßig fremd bleiben. Vielleicht ist es diese Ungebrochenheit oder Ganzheit, die den Tierblick zuweilen so anrührend und zugleich unheimlich macht, weil wir uns, da die Re-Flektion fehlt, in diesem Blick zu verlieren scheinen. 72 Im Tierblick tauchen wir gewissermaßen in eine grundlose Tiefe. Der menschliche Gegenblick wird ein solches Sich-Versenken kaum zulassen, weil er antwortet, zurückgibt, sich zuweilen auch verschließt. Seine Tiefe ist dem, der sich darauf einläßt, nicht so schutzlos preisgegeben wie der Tierblick, der sich nicht bewußt vor dem Anderen verschließen kann. Das Leiden, das uns aus den Augen eines Tieres ansprechen kann, ist, so meine ich, kein Gegenargument gegen die Fremdheit, sondern verstärkt sie nur. Es ist bemerkenswert, wie oft von dem Blick des Tieres, der für uns zumeist gleichzeitig unserem Blick in die Augen des Tieres entspricht, als von einem tragischen, sogar als einem Todesblick die Rede ist. 73 Zumeist ist dieses Leiden, das im Blick des Tieres erfahrbar wird, das Leiden der »gequälten Kreatur«, zum Menschen durchaus etwas Bestimmtes und Verständliches »aussagen« können. Ich habe die sogenannten Haus-Tiere bewußt außerhalb meiner Betrachtung gelassen. 72 Umgekehrt mag wohl auch das Bannende und Drohende im Menschenauge nie so ungebrochen erscheinen, wie man es z. B. dem Blick der Schlange nachsagt oder dem zum Angriff ansetzenden Raubtier. 73 Das Leiden scheint den Blick des Tieres ohne Hoffnung, ohne Reflexion zu beherrschen. In ihm scheint sich die Qual, das Unglück selbst zu sammeln. Die Episode ist bekannt, die von Nietzsche in Turin erzählt wird, als man seine beginnende »geistige
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Der Blick der Tiere. Ausgezeichnete (»mythologische«) Tiere
es spiegelt die Schmerzen und das Unrecht wider, das die Menschen den Tieren antun. Man mag hier an den sprichwörtlichen »geprügelten Hund« denken. Doch ändert dies nichts daran, daß uns in diesem Blick etwas Fremdes begegnet. Es ist der Schmerz des Tieres selbst, der letztlich, auch wenn wir ihn in Analogie zu unserem eigenen Empfinden zu verstehen suchen, etwas durchaus Unnachvollziehbares an sich hat. Was wir da sehen und was uns möglicherweise tief ergreift, ist mit dadurch bestimmt, daß wir ihm als einer fremden naturhaften Macht oder Kraft gegenüberstehen. Aber es ist nicht nur der Blick, in dem uns die Fremdheit des Tieres trifft. Die Grenze und Negation, von denen ich gesprochen habe, zeigen sich gerade auch in dem Unbeteiligtsein des tierischen Lebens, das uns im wörtlichen Sinne passiert, das an uns vorüberUmnachtung« eben darin zu erkennen glaubte, daß er in abgrundtiefem Mitleid weinend einen Droschkengaul umarmte. Das stumme Leid des Tieres hatte ihn, der keine reflektierte Abwehr und Verarbeitung mehr dagegenzusetzen hatte, im Herzen angerührt. Hat er sich dabei aber mit dem Pferde oder dieses mit sich identifiziert? War ihm das Tier dadurch weniger fremd, daß er seine Qual zu erkennen meinte? Eine ähnliche, mit-leidende Erfahrung hat Rosa Luxemburg in ihren Briefen aus dem Gefängnis an Sonja Liebknecht erzählt: »Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt; auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken … Neulich kam so ein Wagen, bespannt statt mit Pferden mit Büffeln … ganz schwarz mit großen sanften Augen … die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, … auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen … Und eines, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. … Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen«. (56 f., Mitte Dezember 1917) Auch diese Geschichte mit den Büffeln ist, ähnlich wie die über Nietzsche erzählte, eine Grenzerfahrung. Etwas besonders Anrührendes liegt in dem Hinweis auf die Stille und Duldsamkeit, die dem von Natur aus wilden Büffel zum einen aufgezwungen wurde, zum anderen auch seine Antwort waren auf die Behandlung, die ihm angetan wurde. Das Sanfte, Kindliche, Hilflose der Büffel unterstreicht noch das Leiden und verstärkt das Mitleiden der ebenfalls Gefangenen, die sich von diesem Blick treffen läßt. Was macht den leidenden Blick des Tieres so besonders ergreifend? Man spricht von der »stummen Qual« des Tieres. Ich denke, daß es die Sprachlosigkeit ist, die zu einem guten Teil zumindest die Erfahrung dieses Leidens bestimmt. Das Nicht-sprechen-können, die Unmöglichkeit, in der Kommunikation dem Ausdruck zu geben, was doch zum Ausdruck drängt, kann selbst zur Qual werden. Darum drängt gerade das Leiden zum »Mit-Gefühl«, je nachdem auch zur Anklage.
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Das Fremdsein der Tiere
streift. Besonders ist mir das mehrfach in den Wüsten und Steppen des amerikanischen Südwestens mit den Coyoten begegnet. Der erste, den ich zu sehen bekam, strich am frühen Morgen über das Geröllfeld am Fuß einer Felswand im Glen Canyon vorbei. Wahrscheinlich kennt jeder diese momentanen Glücksgefühle, die eine unerwartete Begegnung oder ein erstaunlicher Anblick auslösen können. Da gewinnt ein möglicherweise ganz Unscheinbares unversehens eine im wörtlichen Sinne un-geheure Bedeutung, es spricht uns an, gerade weil es uns aus einer fremden Welt her anzusehen scheint. Coyoten erscheinen u. a. darum in besonderer Weise ihrer eigenen, uns unvertrauten Welt zugehörig, weil man sie gewöhnlich nur aus größerer oder geringerer Entfernung sieht, und dies auch nur selten. Zumeist zeigen sie sich kaum, 74 man sieht sie höchstens von ferne auf ihren meist einsamen Wegen vorüberstreifen, obgleich ihre Spuren auf den sandigen Wüstenböden fast allgegenwärtig sind. Sind sie aber einmal nah genug, so können sie sich zwar zu uns umdrehen, zurückblicken; doch da geschieht keine eigentliche Kommunikation zwischen ihnen und uns, sie bleiben unendlich entfernt, in ihrer eigenen Welt. Und etwas kommt noch hinzu: so selten man sie auch sieht, so oft hört man sie. 75 Was man da hört, ist sehr schwer zu beschreiben, auch wenn es zuweilen zweifellos dem Hundebellen sehr ähnlich sein kann. Es ist ein Heulen, Jaulen, Winseln, Wimmern, Kläffen, zuweilen sogar fast ein Krähen, kurz und abgehackt, oder auch lang hingezogen; jedenfalls hat es etwas durchaus Unheimliches, Geisterhaftes an sich. 76 Vielleicht hat die erstaunlich große Bedeutung, die den Coyoten in den indianischen Mythen und Erzählungen zukommt, 77 mit der Inzwischen hat man allerdings Coyoten auch in Downtown Manhattan gesehen, und in einem Viertel von San Diego sollen sie die Abfalltonnen entdeckt haben. Bahnt sich da eine ähnliche Verschiebung im Gesamtbild an wie bei den Möwen, die heute oftmals schon mit den Abfallhalden assoziiert werden? 75 Und dann selten allein. Coyoten antworten einander über weite Strecken, aber offenbar heulen oder singen sie auch direkt miteinander, in Gruppen. 76 Ich habe wiederholt von den »Symphonien«, die sie miteinander aufführten, gelesen. Doch sowohl »Gesang« wie umso mehr »Symphonie« sind allzu melodiöse Bezeichnungen, um das geisterhafte, weit reichende Getöne zu beschreiben. 77 Neben vielen anderen Gestalten, in denen er eine Rolle spielt – am bekanntesten ist wohl der Trickster-Charakter, der den Coyoten in einer Fülle von indianischen 74
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Der Blick der Tiere. Ausgezeichnete (»mythologische«) Tiere
Verknüpfung von vorherrschender Unsichtbarkeit und unheimlicher Hörbarkeit zu tun. 78 Andererseits aber gibt es einfach bestimmte Tiere, die immer schon in ihrer Fremdheit und als ein besonderes, ganz eigenständiges Gegenüber verstanden wurden. Von diesen oftmals als heilig verehrten Tieren wird in Geschichten, Legenden, Märchen erzählt. Bestimmte Tiere können in Göttergestalt auftreten, können Boten der Götter, Verkleidungen der Götter, Vermittler zwischen Menschen und Göttern sein. 79 Solche ausgezeichneten Tiere sind z. B. der Adler und die Stiere (zuweilen auch die Kühe), Eulen, Schlangen, in Ägypten z. B. auch Löwe, Nilpferd und Mistkäfer, bei den Indianern u. a. die Krähen oder eben die Coyoten. Sie erscheinen in Mythen und Sagen, als Totemtiere, in der Kunst und in der Heraldik. In mannigfacher Hinsicht wurden Symbole und Metaphern an Tieren festgemacht, ohne daß sie dadurch etwas von ihrer Fremdheit verloren hätten. Denken wir an den Stier, der Europa aus dem Osten nach Kreta trug, den Stier, der auf Sardinien als der Partner der Erdmutter galt, die in wundersamen Brunnen verehrt wurde, an den Stier, den PasiGeschichten, in denen er als schlau, listig und trickreich dargestellt wird, kennzeichnen soll, wobei, im Unterschied etwa zum listigen Fuchs, das Listige eigentlich immer einen Zug des Burlesken hat –, wird er zuweilen sogar als Schöpferwesen angesehen. Ich frage mich, ob sich nicht in Europa das Bild des Coyoten oftmals in unzulässiger und merkwürdiger Weise mit den Bildern von Schakal und Hyäne vermengt hat. So werden sie feige und hinterhältig genannt, ihr Nimbus ist ein gänzlich anderer als etwa der des Wolfs, der ja zumal in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Hochschätzung erfahren hat. 78 Was die Unheimlichkeit und Geisterhaftigkeit angeht, ist der Coyotenlaut dem der Krähen und Raben verwandt, die eine ähnlich große Bedeutung in den indianischen Geschichten spielen. Krähen und Coyoten teilen verschiedene mythische Merkmale, z. B. daß sie einerseits Weltenschöpfer, andererseits listenreich, ja unmoralisch sind. Bei den Tlingit in Nordwestamerika ist der Rabe Weltenschöpfer, steht aber auch für Chaos. Und auch er ist ein schlitzohriger Schwindler; er stiehlt den Mond, bringt den Menschen aber dadurch dessen Licht. 79 Einerseits haben sie ihren Ort zwischen Menschen und Göttern, andererseits wäre diese Lokalisierung doch auch irreführend, weil sie die gewohnte Hierarchisierung von Göttern, Menschen, Tieren – und dann weiter Pflanzen, Anorganischem – als Grundlage beibehielte, während die Erfahrungen, die Menschen seit je mit jenen Tieren gemacht haben, diese scheinbare Ordnung gerade in Frage stellen. Die Doppelstellung – unter und über den Menschen – erinnert im übrigen an die traditionelle Einstellung des Mannes gegenüber der Frau.
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Das Fremdsein der Tiere
phaë auf Grund des göttlichen Fluchs begehren mußte, so daß sie den Minotauros gebar, oder an Ägyptens göttlichen Apis-Stier, der nach dem Tod ähnlich dem Pharao einbalsamiert und in einer eigenen Grabstätte beigesetzt wurde, – immer wieder haben die Menschen des Mittelmeers im Stier ein besonderes, rätselhaftes, das Menschliche übersteigendes Wesen gesehen. »Selbst heute noch kann die ferne Gestalt eines Stiers nicht ohne eine gewisse Erregung bewundert werden«, schreibt Pedro Azara. (The Golden Calf. The Bull in the Collective Imagination of the Ancient Mediterranean, 24) Daß sich für diese Tiererfahrung das Wort »mythologisch« aufdrängt, weist darauf hin, daß die fremde Welt, der wir im Anblick eines Tieres begegnen können, an eine Welt gemahnt, von der wir vermuten, daß sie Menschen einer früheren Zeit oder anderer Lebenskreise zu teilen vermochten. Im Mythos ist so etwas wie eine unvermittelte – d. h. eben nicht rationale – Zugehörigkeit zur Natur zu sehen, die wir inzwischen weitgehend verloren oder bewußt und willentlich aufgegeben haben. Die Fremdheit der Tiere wird oftmals da erfahren, wo zugleich so etwas wie eine zugrundeliegende, aber nicht erreichbare gemeinsame Welt erahnt wird.
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Fremdsein in der Kunst
Als zweites Beispiel für Erfahrungen von Fremdsein möchte ich an einige Aspekte der Begegnung mit Fremdheit in Kunstwerken erinnern. Dabei geht es mir nicht um eine eigenständige Abhandlung über »das Fremde in der Kunst«; ich möchte lediglich früher Ausgeführtes etwas deutlicher werden lassen. Als Motto könnte über diesen Überlegungen – in gewissem Sinne auch als eine antizipierte Zusammenfassung – die folgende Bemerkung von Franz Marc stehen: »Erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.« 80 Der Maler Marc spricht über gemalte Bilder. 81 Aber ich denke, seine Bestimmung trifft auf alle Kunst-Dinge zu. Die Besonderheit von Kunstwerken gegenüber sonstigen Dingen liegt darin, daß die Kunstwerke als solche sich an einem anderen Ort, nämlich in einem Raum oder Bereich der Fremdheit und des Geheimnisses befinden; die alltäglichen Dinge werden dagegen erst durch ein ausdrückliches Innehalten und Aufmerken in einen solchen Raum gewissermaßen übersetzt, um aus ihm heraus aufzutauchen. Adorno bemerkt einmal (Ästhetische Theorie, 274): »Fremdheit zur Welt ist ein Moment der Kunst; wer anders denn als Fremdes sie wahrnimmt, nimmt sie überhaupt nicht wahr.« Die Formulierung »Fremdheit zur Welt« bringt die Rätselhaftigkeit, zugleich auch eine gewisse Einsamkeit zum Ausdruck, die das Kunstwerk kennzeichnen. Es steht trotz aller geschichtlichen und sonstigen Bezüge, in die es hineingesetzt oder aus denen heraus es entstanden sein mag, in einer Unbezogenheit und Ungeschütztheit vor uns, allein, als es selbst, www.aphorismen.de Auch wenn er dabei offenbar von einem anderen realen Bild, dessen Auftauchen im Blick eines Teichhuhns, ausgeht: »Ich sah das Bild, das in den Augen des Teichhuhns sich bricht, wenn es untertaucht: Die tausend Ringe, die jedes kleine Leben einfassen, das Blau der flüsternden Himmel, das der See trinkt, das verzückte Auftauchen an einem anderen Ort – erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.«
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Fremdsein in der Kunst
nicht nur uns unvertraut, sondern an ihm selbst fremd, – fremd zur Welt. Ob wir uns mit einem Impromptu von Schubert konfrontiert sehen, mit einer vergessenen byzantinischen Kapelle irgendwo auf der Peleponnes, mit einem Gedicht von Benn oder einem Gemälde von Anselm Kiefer, – immer begegnet uns da etwas Eigenes, vor aller Deutung und Bedeutung für sich Bestehendes, vor dem wir selbst zunächst einmal nichts sind. 82 Es ist da. Es spricht zu uns mit einer eigenen, nicht primär auf Verständlichkeit angelegten Sprache. Françoise Gilot schreibt über Bilder von Dora Maar: »Sie hatte die unscheinbarsten Gegenstände gemalt – eine Lampe, einen Wekker, ein Stück Brot – und erweckte im Betrachter das Gefühl, daß es ihr nicht so sehr um diese Objekte selbst als um deren Einsamkeit gehe, die furchtbare Einsamkeit und Leere, die in diesem Halbdunkel alles umgab.« (Leben mit Picasso, 70) 83 Ich denke, daß viele Gedichte von Trakl von einer erstaunlichen Fremdheit bzw. Fremdheitserfahrung geprägt sind, ohne daß diese Fremdheit Programm wäre. Als Beispiel bringe ich nur jene Strophe aus Frühling der Seele (Sebastian im Traum), in der sich der schon mehrmals zitierte Satz über das Fremdsein der Seele findet: Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische. Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne; Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden. Geistlich dämmert Bläue über dem verhauenen Wald und es läutet Lange eine dunkle Glocke im Dorf; friedlich Geleit. Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten.
Wir sind da zunächst einmal nichts, – unbeschadet jedoch der Tatsache, daß wir es sind, denen diese Werke begegnen, insofern allein unser Dasein die Offenheit stiftet, in der die Welt als der Raum des »Auftauchens« geschehen kann. 83 Vgl. hierzu etwa auch: »Kunstvolle Dinge können also oft ganz gewöhnlicher Art sein und leicht übersehen werden. Sehen Sie sich eine einfache, mit einem Bleistift gezogene Linie an, sagt Sol LeWitt. Sehen Sie, daß sie gerade, dünn, gebrochen, krumm, weich, winklig oder dick sein kann. Erfreuen Sie sich an den Unterschieden. Dieser einfache Test für die Schärfe der Sinne läßt sich leicht durchführen, wenn man Geist und Augen offen hält und konzentriert bleibt.« (Michael Kimmelmann, Alles für die Kunst, 97) 82
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Der »andere Ort« des Kunstwerks: Geheimnis und Aura
Hier finden sich Fremdheit zur Welt, Geheimnis, Rätselhaftigkeit, Ungeschütztheit, – ohne daß wir im Einzelnen sagen könnten oder wollten, worin sie bestünden oder woher sie rührten. Der Blick, den wir mit Trakl auf das gedichtete Bild werfen, ist teilweise durch eine unmittelbare Nähe bestimmt und hat doch eben darin eine große Distanz auszuhalten. Da läutet lange eine dunkle Glocke im Dorf: Das scheint vertraut und bekannt und ist doch durch das Lang- und Dunkelsein ganz weit weg. Das mannigfaltige Genannte bleibt im Einzelnen und vor allem in seinen inneren Bezügen fremd, auch wenn es uns zugleich seltsam vertraut vorkommen mag. Wir werden durch das Darauf-hören in einen anderen, fremden Raum versetzt, der uns gerade dann anzusprechen vermag, wenn wir darauf verzichten, uns die einzelnen Bildmomente verständlich zu machen, sie in unsere gewohnte Welt zu »übersetzen«, ja wenn unsere gewohnte Welt verblaßt und unwichtig wird. Ich erinnere hier an eine früher zitierte Bemerkung, die Adorno über Benjamin gemacht hat. Sie lautete: »Er hat darauf bestanden, alle Gegenstände so nah anzusehen, bis sie fremd wurden und als fremde ihr Geheimnis hergaben.« (Zu Benjamins Gedächtnis, 169) Hier ist nicht eigentlich vom Kunstwerk die Rede. Doch wir können vermuten, daß der fremd gewordene, zum Fremden gemachte Gegenstand dem Kunstwerk zumindest sehr nah ist. Ich denke, wir können Benjamins Schreiben als ein im weiteren Sinne »künstlerisches Schreiben« nehmen. Adorno sagt: »Im Gegensatz zu allen anderen Philosophen … war sein Denken nicht eines, das … im Bereich der Begriffe sich abspielte. … Er schloß das Unaufschließbare wie mit einem magischen Schlüssel auf und setzte sich dadurch zu dem klassifikatorischen, abstrakten, umfassend grandiosen Wesen aller offiziellen Philosophie unabsichtlich und ohne besonderen Nachdruck in unversöhnlichen Gegensatz.« (Erinnerungen, 177) 84 Das Aufschließen des Unaufschließbaren ist zweifellos verwandt dem ebenfalls schon angeführten In-die-Nähe-kommen-zum-Fernen, das Heidegger als Eigenart eines zukünftigen Denkens vermutet, eines Denkens, das ebenfalls nicht mehr in erster Linie den Begriffen vertraut, sonVgl. auch: »Es ging ihm eine Aura des Außerordentlichen voraus.« (a. a. O., 176) und: »Ich habe das einmal so ausgedrückt, daß, was Benjamin sagte, klang, als ob es aus dem Geheimnis käme.« (175)
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Fremdsein in der Kunst
dern der Sagekraft eines auf die Sache hörenden und ihr entsprechenden Sprechens. Wenn wir über das Fremdsein des Kunstwerks nachdenken, so haben wir zwei unterschiedliche Aspekte oder Seiten zu thematisieren: einerseits die Fremdheit, die dem Kunstwerk selbst eignet und damit zugleich dem, was in ihm gebildet oder gedichtet wird, – wozu auch die Erfahrung dessen gehört, dem dieses Fremde begegnet –, und andererseits das Gefühl der Fremdheit oder Befremdung andererseits, das der Künstler im Betrachter oder Zuhörer oder Leser hervorrufen will, dadurch, daß er eine Verfremdung vornimmt. Ich schaue zunächst auf den ersten Aspekt. Der eindringliche und geduldige Blick auf das Kunstwerk, der diesem so nah wie möglich kommt und ihm doch nicht »auf den Leib rückt«, läßt diesem den Raum und die Freiheit, sich als es selbst zu zeigen, in dem, was es in sich selbst ist. Dadurch erweist es sich als fremd und erstaunlich, es bleibt dem Hinsehen fremd, – dann, wenn es so nah angesehen wird, bis es fremd wurde und als fremdes sein Geheimnis hergab. Gerade in der Nähe zieht es sich auf sich selbst zurück und läßt die Bezüge vergessen, die es mit dem Gewohnten verknüpfen. Diese Fremdheit leuchtet in ihrem eigenen Licht. Das auf diese Weise Fremde ist nicht fremd im Sinne des Unverbindlichen und Gleichgültigen, sondern ist kostbar fremd: es hat etwas Eigenes und Neues zu sagen. 85 Insofern kann Heidegger schreiben: »Der Künstler bringt das wesenhaft Unsichtbare ins Gebild und läßt, wenn er dem Wesen der Kunst entspricht, jeweils etwas erblicken, was bis dahin noch nie gesehen wurde. –« (Bemerkungen zu Kunst Plastik Raum, 14) »Was bis dahin noch nie gesehen wurde«, – das heißt zumindest auch, daß der Blick, der sich auf das Kunst-Ding als auf ein Fremdes einläßt – wir können auch sagen: der in die Nähe zum Fernen kommt –, daß dieser Blick das Fremde aus dem nichthaften Raum seiner Unsichtbarkeit und Rätselhaftigkeit herauslöst – erlöst –, um Dieses Neusein des Erstaunlichen unterscheidet sich ums Ganze von dem Neuen der Neu-gier, die selbst ein Moment der Gleichgültigkeit ist. Die Gier nach Neuem sucht permanente neue Reizung der Sinne und des Erkennenwollens. Hierzu sagte Picasso einmal: »Nie Gesehenes ist nötig. Etwas zum Kopfzerbrechen. Doch wenn man es sucht, das nie Gesehene, dann hat man es schon überall gesehen …« (Über Kunst, 54)
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Der »andere Ort« des Kunstwerks: Geheimnis und Aura
es als es selbst aufscheinen, auftauchen zu lassen. »Erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.« Kunstwerke als solche tauchen an einem anderen Ort auf, in einer Fremde, in der nichts um sie ist, in der sie nur sich selbst zeigen. Insofern sind sie »noch nie gesehen«. Sie sind unvertraut, tragen die Unsichtbarkeit gewissermaßen an sich, sind das Sichtbarwerden des Unsichtbaren selbst. 86 Als solches sind sie noch nicht gesehen: sie waren und bleiben unsichtbar. In bezug auf das Dichtwerk sagt Heidegger an anderer Stelle, daß die Sprache »den Menschen dafür in Anspruch nimmt, aus der aufbehaltenen Sprache her die Welt neu zu sagen und damit Noch-nicht-geschautes zum Scheinen zu bringen.« (Überlieferte Sprache und technische Sprache, 27) Man mag sich hier an jene Zeile aus Mörikes Gedicht »Auf eine Lampe« erinnern, über die Heidegger und Emil Staiger einen Briefwechsel geführt haben: »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.« Heidegger weist darauf hin, daß das In-sich-selbst-scheinen des Gedichts zusammengeht mit einem In-sich-selbst-scheinen des Gedichteten, der Lampe: »Dadurch hat nicht nur das Gegenständliche dieses Kunstgebildes, die Lampe, den Charakter des brennenden Leuchtens, sondern das Wesen des Kunstwerkes, die Schönheit der schönen Lampe, leuchtet in der Weise des lichtenden Scheinens.« Heidegger nennt das »ein Geschenk des unscheinbar Einfachen an den Dichter«. (Zu einem Vers von Mörike, 13) Das Unsichtbare im Sichtbaren gegenwärtig werden zu lassen, Noch-nicht-geschautes zum Scheinen zu bringen, dem Fremden einen nahen – und doch gegenüber dem Gewohnten anderen – Ort zu geben, das gehört zu dem, was Heidegger als das Dichterische bezeichnet. In dem Aufsatz »Dichterisch wohnet der Mensch …« nimmt er die Aussage von Hölderlin »Jemehr ist eins / Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes« auf und sagt vom Bild, daß es »als Anblick das Unsichtbare sehen läßt und es so in ein ihm Fremdes einbildet.« Das sichtbare Bild ist dem Unsichtbaren einerseits fremd; gleichwohl gibt dieses sich in jenes ihm Fremde, das für uns Vertraute des Sichtbaren. Heidegger allerdings kehrt das Verhältnis um, indem er gewissermaßen von der anderen Seite her schaut, er schreibt das Fremdsein dem Unsichtbaren selbst zu: Die »dichteri86
Vgl. hierzu v. Verf., Der andere Heidegger, 153 f., 164 ff.
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Fremdsein in der Kunst
schen Bilder« sind, so sagt er, »Ein-Bildungen als erblickbare Einschlüsse des Fremden in den Anblick des Vertrauten. Das dichtende Sagen der Bilder versammelt Helle und Hall der Himmelserscheinungen in Eines mit dem Dunkel und dem Schweigen des Fremden.« (200 f.) Wenn das Kunstwerk das Unsichtbare aus seiner Dunkelheit oder Fremdheit heraus sichtbar werden läßt, wenn es das Fremde in das Vertraute »einschließt«, birgt es damit zugleich das Vertraute zurück in den Raum des Fremden oder des Geheimnisses, behält und bewahrt es die Dunkelheit, das Geheimnis, die Ferne. Insofern können wir sagen, daß das Kunstwerk dem Fremden selbst eine eigene Nähe und Vertrautheit gibt, in der es als Fremdes erscheinen kann. Peter Szondi schrieb über Benjamins Prosa: »Die Sprache der Bilder erlaubt, das Fremde zu verstehen, ohne daß es aufhörte, fremd zu sein«. (Nachwort zu Benjamin, Städtebilder, 93) 87 In einem solchen gesprochenen Bild ist das Fremde da, in der Nähe, aber so, daß es zugleich in der Ferne bleibt, unberührbar, ein Geheimnis, auch wenn dieses hergegeben wird, wie es bei Adorno hieß. Der fremde rätselhafte Raum um die Kunstwerke ist, so scheint mir, dem verwandt, was Benjamin in dem Begriff der Aura einfangen wollte. 88 Er schreibt: »Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.« (Passagenwerk, 560) Auch Waldenfels nennt die Aura einmal »eine Ferne in der nächsten Nähe«. Einerseits eine Nähe, ein Angehen und Betreffen, ein gegenseitiges Sich-Einlassen; andererseits eben darin das Bewahren einer Distanz, das AusgespanntAn diesem Satz läßt sich im übrigen ein Unterschied des Bildes gegenüber der Metapher deutlich machen: während die Metapher intendiert, eines zunächst fremden, begrifflichen Gehalts in einem sinnlichen Medium habhaft zu werden, wodurch man ihm seine Fremdheit nimmt und es so besser begreift, bekennt sich das Bild ausdrücklich zur Fremdheit; der Abstand, die Ferne, bleibt gewahrt. 88 Zu dem hier implizierten Verständnis der Aura als einem Moment des Fremdseins zitiere ich eine Bemerkung von Bartholomäus Grill in seinem Buch Ach, Afrika, die allerdings kein Kunstwerk, sondern einen Menschen, nämlich Nelson Mandela, betrifft. Er beschreibt den Eindruck, den dieser ihm bei einem Interview gemacht hat: »Eine knisternde, unwiderstehliche Aura der Nähe umströmt diesen Menschen. Es ist, als würden wir ihn schon lange kennen. Wie einen alten Freund, dessen Sorgen und Hoffnungen wir teilen. … Zugleich aber tut sich in diesem Kraftfeld eine ebenso merkwürdige Distanz auf, Mandela wirkt sternenfern und fremd. Ein Mythos, unnahbar, unfaßlich, fast unwirklich, erstarrt zu einer Ikone der Geschichte.« (340) 87
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Der »andere Ort« des Kunstwerks: Geheimnis und Aura
sein eines weiten Raumes, durch den sich die Bezüge erst ergeben können. »Die Antennen fühlen die Antennen, / und die leere Ferne trug …«, heißt es in einem der Sonette an Orpheus von Rilke. Der nichthafte Raum, die Aura, das Geheimnis – das alles könnte sich nach einem Bereich des »Mythischen«, damit nach Irrationalität, wenn nicht nach Transzendenz anhören. Aber kommt es nicht tatsächlich darauf an, den Dualismus zwischen Diesseits und Jenseits, Sinnlichem und Jenseitigem, Rationalem und Mythischem ad acta zu legen, so daß weder Irrationalität noch Transzendenz mehr als Einwände dienen könnten? Legt nicht das Kunstding in seiner konstitutiven Erstaunlichkeit Zeugnis ab dafür, daß die Bereiche, die die abendländische Tradition voneinander getrennt und einander gegenübergesetzt hat, im Grunde ein zwar in sich vielfältiger, aber darin doch einheitlicher Gesamtzusammenhang sind? Adorno und Horkheimer sagen zwar an einer Stelle in der Dialektik der Aufklärung: »Das Kunstwerk hat es noch mit der Zauberei gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang profanen Daseins entrückt ist. … Im Kunstwerk wird immer noch einmal die Verdoppelung vollzogen, durch die das Ding als Geistiges, als Äußerung des Mana erschien. Das macht seine Aura aus.« (35) Doch ist das einerseits eine kritische Bemerkung, insofern sie mit jener Verdopplung die spezifische Existenz des Kunstwerks in unserer durch die Dialektik der Aufklärung bestimmten Geschichtsepoche ansprechen will; andererseits schimmert selbst noch in dieser Verstrickung das auratische Moment durch. Adorno selbst scheint letztlich einen Bereich der Versöhnung anzudenken, in dem keine grundsätzliche Differenz mehr besteht zwischen einem transzendenten Geistigen und der bloßen Materie. Auch in dem früher zitierten Satz über das Glück des bleibend Fremden scheint mir ein die bisherige Trennung von Diesseits und Jenseits umfassender Raum impliziert zu sein: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.« (N.D., 192) Der fremde Raum des Geheimnisses und der Aura ist kein jenseitiger Raum. Er ist der nichthafte Raum, in dem wir und alle Dinge immer schon sind. Aber diese merkwürdigen Dinge, die die Kunst93 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
Fremdsein in der Kunst
werke sind, haben das »magische« Vermögen, diesen Raum als solchen erfahrbar zu machen, indem sie uns als Fremde gegenübertreten. Sie machen diesen Raum damit zu einem anderen, wir können sagen, zu einem auratischen oder »geheiligten« Ort, ohne daß sie damit die Immanenz unserer Welterfahrung in Frage stellen würden. In diesem Sinne kann Picasso anmerken: »Etwas Geheiligtes, darum geht’s. Man müßte ein Wort dieser Art gebrauchen können, aber es würde schief aufgefaßt, in einem Sinn, den es nicht hat. Man müßte sagen können, daß ein bestimmtes Bild so ist, wie es ist, mit seinem Gehalt an Kraft, weil es ›von Gott berührt‹ ist. Aber die Leute nähmen es krumm. Und doch kommt es der Wahrheit am nächsten …« (Über Kunst, 20 f.) 89 Das Mysteriöse im Numinosen ist nach Rudolf Otto das Fremde und Befremdende. (Das Heilige, 29) Malerei – und Kunst überhaupt – ist insofern eine Art Magie, die das Mysteriöse offenbart, als sie sich in dem Raum zwischen dem Fernen und dem Nahen, dem Fremden und dem Vertrauten, dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren aufhält und ihre Werke diesem Raum entreißt bzw. sie gerade in ihn einprägt. Wenn Kunstwerke als solche »an einem anderen Ort« sind, sind sie an einem Ort, der unseren gewohnten Bereich zu übersteigen, zu transzendieren scheint, – und der doch nichts anderes ist als dieser Ort selbst, an ihm selbst wahr-genommen. Indem die Kunst fremde, andere Dinge schafft, richtet sie sich ineins gegen das je nachdem furchterregend oder banal Bestehende, das dezidiert Diesseitige, wie gegen das gewohnte Selbstverständnis der Menschen, das die Dinge sich selbst anzugleichen und damit zu entzaubern trachtet. Ich zitierte früher schon einen Teil der folgenden Überlegung von Adorno: »Am Ende lebt im Rätselcharakter, durch den Kunst dem fraglosen Dasein der Aktionsobjekte am schroffesten sich entgegensetzt, deren eigenes Rätsel fort. Kunst wird Angesichts der Betrachtung von Masken aus Afrika äußerte er: »Die Menschen schufen diese Masken und die anderen Gegenstände zu geheiligten Zwecken, zu magischen Zwecken, als eine Art Vermittler zwischen ihnen selbst und den unbekannten bösen Mächten, die sie umgaben, um ihre Furcht und ihren Schrecken zu überwinden, indem sie ihnen Form und Gestalt verliehen. In diesem Augenblick erkannte ich, daß dies und nichts anderes der Sinn der Malerei ist. Malerei ist kein ästhetisches Unterfangen, sie ist eine Form der Magie, dazu bestimmt, Mittler zwischen jener fremden feindlichen Welt und uns zu sein.« (Leben mit Picasso, 221)
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Befremden bei Picasso
zum Rätsel, weil sie erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist, während am bloß Seienden das Rätsel vergessen ward durch seine eigene, überwältigende Verhärtung. Je dichter die Menschen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründlicher haben sie das Staunen über jenes Andere sich abgewöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen. Kunst sucht, schwach, wie mit rasch ermüdender Gebärde, das wiedergutzumachen. A priori bringt sie die Menschen zum Staunen«. (Ästhetische Theorie, 191)
* Die Kunstdinge erwecken die Rätselhaftigkeit und die Fremdheit, die den Dingen als solchen innewohnt, die aber im alltäglichen Umgang mit ihnen verdeckt und vergessen bleibt. Der Künstler, der diese Werke schafft, eröffnet ein ursprünglicheres Verstehen, er entreißt diejenigen, die sich auf seine Werke einlassen, dem kategorialen Netz und Identitätszusammenhang des gewöhnlichen Verhältnisses zu den Dingen und Umständen, indem er auf die erstaunliche Besonderheit jedes Einzelnen aufmerken macht. Dies gilt insbesondere für jene Kunstwerke, die – u. a. – ausdrücklich geschaffen werden, um den, der sie rezipiert, wie es eben hieß, zum Staunen zu bringen. Beispielhaft werfe ich zunächst einen Blick auf Picasso und füge einige Aussagen von Brecht hinzu. Vor allem Picassos Portraits zeigen oftmals etwas Fremdes, Befremdliches. Wenn wir hinsichtlich der Frage nach der Differenz zwischen der Seinsweise der vom Menschen hervorgebrachten Dinge überhaupt und der Seinsweise der durch Kunst hervorgebrachten Dinge generell sagen können, daß die letzteren in gewisser Weise das ausdrücklich, in Erstaunlichkeit und einsamer Fremdheit, sind oder austragen, was die Dinge in der Welt unausdrücklich sind, so gibt es darüber hinaus Kunstwerke, die diesen Charakter der Fremdheit selbst zu ihrem Thema machen. Mir scheint, daß die dissoziativen Portraits von Picasso dazugehören, insofern sie bei dem gewohnten Sehen eine eigene Befremdung auslösen und auslösen wollen, eine Fremdheit in der Fremdheit sozusagen. 95 https://doi.org/10.5771/9783495860670 .
Fremdsein in der Kunst
Picasso bemerkte gegenüber seiner damaligen Lebensgefährtin Françoise Gilot: »Wenn ich male, versuche ich stets eine Form der Darstellung zu finden, die die Leute nicht erwarten, ja, die sie darüber hinaus noch ablehnen. Das ist das, was mich interessiert. In diesem Sinne versuche ich immer, revolutionär zu wirken. Das heißt, ich gebe einem Menschen ein Bild seiner selbst, dessen Elemente der üblichen Sehweise entnommen sind, so, wie die traditionelle Malerei sie kennt, aber neu zusammengesetzt auf eine Weise, die so unerwartet und beunruhigend ist, daß sie es ihm unmöglich macht, sich den Fragen, die sie aufwirft, zu entziehen.« (Leben mit Picasso, 56) Und: »Ich möchte den Geist in eine ihm ungewohnte Richtung lenken, ihn aufwecken. Ich möchte dem Betrachter etwas enthüllen, was er ohne mich nicht entdeckt hätte. Deshalb betone ich z. B. den Unterschied zwischen dem rechten und dem linken Auge.« (44) Das Fremde ist nichts anderes als das Vertraute, Bekannte, aber es ist verfremdet, d. h. in einer fremden Weise präsentiert, so daß der Betrachter stutzt und herausgefordert ist aufzumerken, ein zweites Mal hinzuschauen, sich mit etwas konfrontieren zu lassen, das er zuvor nicht gesehen und nicht vermutet hatte. Diese Konfrontation ist beunruhigend, weil sie aufweckt aus der gewohnten und bequemen Sicht- und Umgangsweise. Sie fordert heraus zur Auseinandersetzung, zum Sich-einlassen. Über seine kubistische Phase, in der sich bereits Momente dessen finden, was in den späteren Portraits zu genauerer Ausführung kommt, sagte Picasso später, daß es in ihnen darum gegangen sei, »den Geist [zu] narren«. Wurde ein Stück Zeitungspapier auf die Leinwand geklebt, so wurde es nicht als Zeitung, sondern als etwas verwendet, was dem gewohnten Hinsehen und Aufnehmen »einen Schock« versetzen sollte. Das Stück Zeitungspapier wurde aus seiner normalen Umgebung herausgenommen und in ein neues Betrachtungsfeld transponiert. »Dieser umgepflanzte Gegenstand ist in einen Bereich eingegangen, für den er nicht gemacht ist, in dem er bis zu einem gewissen Grade seine Fremdheit behält. Und diese Fremdheit war es, über die wir die Menschen nachdenken lassen wollten, weil wir recht gut wußten, daß unsere Welt immer fremder wurde und nicht gerade beruhigender.« (a. a. O., 62) Picasso will also bei den Betrachtern seiner Bilder eine Erfahrung von Fremdsein evozieren, um damit zum Nachdenken über die 96
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Befremden bei Picasso
Unvertrautheit der gegenwärtigen Welt anzuregen. 90 Er arbeitet frei mit den unterschiedlichen Form- und Farbelementen dessen, was z. B. die Ansicht eines Gesichts ausmacht; er geht zwar von dem Bild aus, das er vor sich hat, aber er komponiert die Elemente zu etwas Neuem, Erstaunlichem um. Er unterwirft die einzelnen Elemente seinem Ausdruckswillen, dem »geistigen Gehalt«, den er jeweils zum Ausdruck bringen will. Dazu gehört es häufig, daß er verschiedene Sichten auf seinen Gegenstand bzw. verschiedene Ansichten, die sein Gegenstand ihm und dem Betrachter darbietet, kombiniert und mehr oder weniger frei neu plaziert – nicht nach den Gesetzen der sogenannten Realität, sondern nach den Gesetzen des entstehenden Bildes. Die Fremdheit ist in dieser Spanne zwischen (äußerer) Realität und Bild beheimatet. 91 In diesen Bildern 92 fügen sich die figurativen Momente, die Farbflächen, der Schwung der Linien zu einem stimmigen Gesamteindruck zusammen, der z. B. in »Der Traum« eben einen Traum evoziert, in dem die banale alltägliche Realität in der vollständigen Hingabe an eine andere, wundersame Realität gleichsam versunken ist. Die Bilder scheinen sowohl etwas durchaus Vertrautes zu zeigen, wie es dieses doch auch in einen fremden, fast verwunschenen Raum versetzt, bzw. es in einem neuen, offenen Raum neu erschafft. 93 In einigen Gemälden geht die verfremdende Auflösung in Richtung auf ein pures Zusammenspiel der Formen und der zuweilen ganz Ton in Ton gesetzten Farben sehr viel weiter. 94 Die Verblüffung und Beunruhigung des Betrachters ist entsprechend stärker. Er sieht Diese kritische Absicht des Fremdwerdenlassens unterscheidet sich von meinem Versuch, die Fremdheit des Begegnenden sichtbar zu machen. Picassos Intention ist – der Brechtschen nicht unähnlich – gesellschaftskritisch, insofern es ihm und anderen Malern seiner Zeit darum ging, den beunruhigenden Weltzustand bewußt zu machen. Insofern ist dann auch die anvisierte Fremdheit selbst nicht ganz die selbe, eben weil es hier eine produzierte Fremdheit in der Fremdheit ist. 91 Picasso schreibt über den Kubismus: »die Realität war einfach nicht mehr in dem Gegenstand, den wir malten. Sie war im Bild.« (a. a. O., 61) 92 Als unterschiedliche Beispiele nenne ich hier »Der Traum« (1932), »Sitzende Frau in einem roten Sessel« (ebenfalls 1932), »Frau mit Tauben« (1930). 93 »Wir haben uns immer für Realisten gehalten, doch im Sinne des Chinesen, der sagte: ›Ich kopiere die Natur nicht; ich arbeite wie sie.‹« (a. a. O., 61) Und: »Nicht nach der Natur arbeite ich, sondern vor der Natur, mit ihr.« (Über Kunst, 7) 94 Vgl. z. B. »Sitzende Frau in einem roten Sessel«. 90
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Fremdsein in der Kunst
und entdeckt Neues, nicht Vorausgesehenes, vielleicht ein Vergessenes, vielleicht ein Geahntes. Der Maler geht frei mit den Elementen um, die er gleichwohl der Natur entnommen hat. Zuweilen ist dabei der reale umgebende Raum, innerhalb dessen sich die Figur befindet, nicht näher ausdifferenziert, was zu der Heraushebung gegenüber dem Gewohnten noch beiträgt. Seit den zwanziger Jahren verwendet Picasso oft eine Darstellungsweise, die als solche schon eine eigene Verfremdung mit sich bringt, nämlich die parallele Darbietung von Frontal- und Profilansicht. Was ich bei diesen Doppelansichten so verblüffend finde, ist das Zugleich von Fremdheit und Vertrautheit des Eindrucks. Einerseits nimmt man die Verzerrung und das Ungewöhnliche z. B. des Gesichts wahr und fühlt sich befremdet. Man sieht – oder vielleicht besser: man entziffert, denn interessanterweise braucht man dazu schon einen zweiten Blick –, daß die linke Seite im Profil, die rechte von vorne gezeigt wird und daß unterschiedliche Momente des Körpers willkürlich auf ungewohnte Weise zusammengestellt sind. Doch wenn man etwas länger hinschaut, wird man zugeben, daß sich alles zu einem überzeugenden Ganzen, einer »richtigen« Darstellung – wenn auch eben nicht der natürlichen Realität – zusammenfügt. Es ist auffällig, wie »normal« einem am Ende das doch so fremdartig ausgeführte Gesicht vorkommt, oftmals wohl auf Grund seines gesammelten und zugleich ins Offene gehenden Ausdrucks. So vermittelt etwa das Bild »Die Lektüre« von 1932 den Eindruck einer nachdenklichen Lektüre. Die Leserin schaut auf, über das Gelesene nachdenkend oder ihm nachträumend, wobei ihr ein zweiter Teil ihrer Aufmerksamkeit – vielleicht klarer sehend, vielleicht weither kommend – gleichsam zu- oder über die Schulter schaut, ohne deswegen weniger sie selbst zu sein. In einem späteren, ebenfalls »Die Lektüre« betitelten Bild (1953) begegnet ein anderer Aspekt des Lesens, auch wenn wir in beiden Fällen so etwas wie eine Zweiteilung der lesenden Figur selbst sehen. Im Vergleich mit dem in die Weite schauenden Auftauchen aus der Lektüre in dem vorigen Bild scheint mir in diesem noch deutlicher und ausdrücklicher die Lektüre selbst, d. h. die konzentrierte Versenkung ins Lesen gemalt zu sein. Allerdings mit einer wörtlich zu nehmenden Hintergründigkeit: Hinter dem in strenger Aufmerksamkeit auf die Buchseiten gerichteten Profil liest zugleich ein blau-verträumtes Gesicht mit. Bei98
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Befremden bei Picasso
de »Seiten« der Lesenden, in Form und Farbgebung äußerst unterschieden voneinander, sind doch einander zugekehrt. Die Versenkung ist so zugleich auch eine Versenkung in sich selbst, ein konzentriertes Bei-sich-selbst-sein. Es mag eine Überinterpretation sein, aber ich sehe in diesem zwiefältigen Versenktsein auch ein Moment des zugleich mitbestehenden Hinübergleitens in eine andere, vielleicht eine Phantasiewelt: es könnte durch die den Kopf stützende, an einen Flügel erinnernde Hand angedeutet sein, – während die andere Hand sich gleichsam an der Buchseite festhält. Picasso widerspricht zwar der Ansicht, daß in Bezug auf ein bestimmtes Bild je nach der Eigenart oder Stimmung des Beschauers beliebig viele Verständnisse möglich seien: er wolle jeweils etwas ganz Bestimmtes und nur dieses sagen. Gleichwohl gibt uns so ein Bild nichts wirklich Eindeutiges zu sehen, wir müssen uns in es und sein Sagen einlassen und können darum wohl nie genau wissen, was das Eindeutige ist, das es uns im Sinne seines Malers sagen könnte. Das Fremde, das es uns »neu entdecken lassen« will, impliziert keine punktuelle Exaktheit. Wenn Picasso bemerkte: »Ich möchte dem Betrachter etwas enthüllen, was er ohne mich nicht entdeckt hätte« (Leben mit Picasso, 44) oder wenn Heidegger sagte, der Künstler lasse »jeweils etwas erblicken, was bis dahin noch nie gesehen wurde«, so handelt es sich bei dem so Enthüllten, noch nie Gesehenen jeweils eher um die Begegnung in einem fremden Raum, in einer zuvor nicht beachteten Atmosphäre oder Situation, als um ein fest umrissenes Ding oder gar um eine spezifische Aussage. Das Fremde ist das Unvertraute. Vertraut ist uns der gewöhnliche, »natürliche« Anblick der Natur. Picasso durchkreuzt die Erwartung, die wir an ein Porträt als ein künstlerisches Abbild der Person hegen, und setzt das, was er tatsächlich sowohl in der Natur wie in seinem Bild von der Realität vorfindet, in neue Beziehungen zueinander; insofern schafft er die Realität neu. Das hat etwas Gewaltsames, dessen er sich durchaus bewußt ist: »Malerei ist keine Frage der Sensibilität. Bei ihr geht es darum, die Macht an sich zu reißen, die Macht zu übernehmen von der Natur und nicht von ihr zu erwarten, daß sie dir Auskunft und gute Ratschläge erteilt.« (a. a. O., 226) 95 Picasso fährt fort: »Deshalb mag ich Matisse. … Wenn Matisse der Ansicht ist, der Himmel müsse rot sein, dann nimmt er ein richtiges Kadmiumrot und nichts ande-
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Fremdsein in der Kunst
Dabei setzt sich der Maler selbst einer Fremdheit in der Beziehung zu seinem Gegenstand und seiner Weise, ihn zu malen, aus. »Mein eigenes Denken, während ich ein Bild male, ist oft ein fortgesetztes non sequitur, eine Reihe von Sprüngen von einem Berggipfel zum anderen.« (224) Wie sehr er dabei mit seinen Sujets gerungen hat, zeigen einerseits die umfangreichen Serien, zum anderen die langen Reihen von Skizzen oder Entwürfen, die er jeweils zu dem einen oder anderen angefertigt hat.
* Indem Picasso im Raum des offenen Zwischen von Maler und Gegenstand malt, verblüfft er uns und zwingt uns damit zu einem zweiten und aufmerksameren Hinsehen. Die gewohnte Weise des Umgangs mit den Dingen und Geschehnissen der Welt wird dadurch gestört und verstört, daß er ein Fremdes und Unvertrautes an und in ihnen zeigt. Wir staunen über das, was wir sehen, wir müssen neu aufmerken und uns einen neuen Reim auf das Gesehene machen. Ähnlich schreibt Brecht über seinen Begriff der Verfremdung: »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugier zu erzeugen«. (Über eine nichtaristotelische Dramatik, 301) 96 Um ein solches Staunen über das, was sich jetzt nicht auf der Ebene des Bildes, sondern auf der Bühne des Theaters abspielt, zu wecken, benutzt Brecht das Verfahren des bewußten Fremdmachens der handelnden Personen und ihres Verhaltens. Dazu bedarf es der Herstellung einer Distanz zwischen Zuschauer und Theatergeschehen; sie entfremdet den Zuschauer dem Selbstverständlichen und macht ihn nachdenklich. Auch Brecht hätte sagen können, was wir bei Picasso gesehen
res, und das ist dann ganz in Ordnung, weil er die Verfremdung der übrigen Farben des Bildes diesem Kadmiumrot anpassen wird.« 96 Ernest Borneman schrieb, daß es »Brecht unmöglich war, eine Zeile zu schreiben oder ein Bild zu ersinnen, ohne ein Gefühl des Poetischen und des Staunens mitzuteilen.« (Ein Epitaph für Bertolt Brecht, 158)
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Brechts Verfremdung
haben: »Und diese Fremdheit war es, über die wir die Menschen nachdenken lassen wollten, weil wir recht gut wußten, daß unsere Welt immer fremder wurde und nicht gerade beruhigender«. (Leben mit Picasso, 62) Eines der Mittel der Verfremdung liegt darin, daß sich der Schauspieler selbst in einer Distanz zu dem hält, was er spielt, also zu seiner Rolle. Brecht schreibt, der Schauspieler solle »memorieren, worüber er gestaunt und wobei er widersprochen hat«, als er die Rolle zuerst gelesen hat. 97 »Der Schauspieler soll seine Rolle in der Haltung des Staunenden und Widersprechenden lesen. … Geht er auf die Bühne, so wird er bei allen wesentlichen Stellen zu dem, was er macht, noch etwas ausfindig, namhaft und ahnbar machen, was er nicht macht; … Das, was er nicht macht, muß in dem enthalten und aufgehoben sein, was er macht.« (Neue Technik der Schauspielkunst, 343) So eröffnet der Schauspieler einen Raum der Offenheit und der »möglichen Varianten«. In diesem Raum tun sich also zugleich mit dem unmittelbar Gezeigten angedeutete oder auch nur nicht ausdrücklich ausgeschlossene und insofern mitgedachte Alternativen auf; unversehens öffnen sich vor dem Zuschauer neue, unerwartete Möglichkeiten, die ihn zum Tun und Verändern herausfordern können. Das artistische Zusammenspiel von bewußt Gemachtem und indirekt Mitgezeigtem, das dem in einer ersten Weise Dargestellten sogar diametral entgegengesetzt sein, es somit selbst in Frage stellen kann, erinnert an Picassos freien Umgang mit den Elementen der vorgefundenen Realität, wodurch er dem Betrachter etwas bisher nicht Gesehenes oder Vergessenes vor Augen führen will. Dieses Sichrichten an den Betrachter ist allerdings bei Brecht ungleich stärker ausgebildet. Vgl. zur Verdeutlichung z. B.: »Der Artist wünscht, dem Zuschauer fremd, ja befremdlich zu erscheinen. Er erreicht das dadurch, daß er sich selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit betrachtet. So bekommen die Dinge, die er vorführt, etwas Erstaunliches. Alltägliche Dinge werden durch diese Kunst aus dem Bereich des Selbstverständlichen gehoben.« (a. a. O., 621) Vgl. auch Bornemann: »Und daß er darauf bestand, seine Schauspieler sollten das Wundern und die Verwirrung beibehalten, die sie empfunden hatten, als sie zum erstenmal alles, was ihre Rolle in sich begriff, entdeckten, entromantisierte das Spiel keineswegs, sondern machte es wundersamer, als Ibsens Theater je gewesen war.« Er verschmolz das Publikum »zu einer neuen Einheit, indem er ihm das Staunen der Entdeckung vermittelte.« (s. Anm. 96.)
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Fremdsein in der Kunst
Die Verfremdung verhindert die Identifikation des Zuschauers mit dem Gesehenen. Er überläßt sich nicht mehr der Illusion einer nur vorgetäuschten Wirklichkeit, die ihn zugleich über die reale Wirklichkeit hinwegtäuschen will, sondern er erfährt sich jetzt in einer kritischen Distanz zu dieser, er urteilt und beurteilt, er muß, wiederum ähnlich wie der Betrachter der Bilder Picassos, mit dem, was ihm gezeigt wird, selbst etwas anfangen. Er sieht sowohl das Vorgeführte als etwas Fremdes, mit dem er sich auseinandersetzen, über das er nachdenken muß, wie er sich dadurch auch selbst als einen Fremden in der nur scheinbar vertrauten Welt empfindet, wenn er den Schauspieler fremd und befremdlich agieren sieht. »Vorgänge und Personen des Alltages, der unmittelbaren Umgebung, haben für uns etwas Natürliches, weil Gewohntes. Ihre Verfremdung dient dazu, sie uns auffällig zu machen.« (347) Daß alltägliche Dinge aus dem Bereich des Selbstverständlichen gehoben werden, kann fast als eine Art Definition des erstaunlich Fremden als solchen genommen werden. Auch hier können wir wieder sagen, daß das Kunstwerk – sei es ein Bild, eine Theaterhandlung, ein Gedicht – als eine spezifische Ausdrücklichmachung des Fremdseins des Anderen erscheint. Das Zurücktreten oder Aufmerken wird bei Brecht u. a. durch die Einführung und Betonung des Erzählers erreicht. 98 Der Erzähler schafft die Distanz, die die unmittelbare Einfühlung und Identifikation verhindert. Ein weiteres Moment der Verfremdung besteht darin, daß Brechts Erzählen oft episodisch ist, daß das Ende offen bleibt. 99 So sagt auch Picasso: »Hast du schon jemals ein fertiges Bild gesehen? … Einen Gegenstand beenden heißt ihn fertigmachen, ihn umbringen, ihm seine Seele rauben, ihm wie dem Stier die Puntilla geben!« (Über Kunst, 111) Indem der Künstler sein Werk bewußt unvollendet läßt, beläßt er dem Gegenstand seine Fremdheit und Rätselhaftigkeit, hält er den Raum offen, in dem sich noch Unentschiedenes, noch erst Mögliches an ihm und für es ergeben kann. 100
Das verfremdende Theater ist »episches Theater«, d. h. erzählendes, im Gegensatz zum dramatischen Theater. 99 Vgl.: »Das Rätselhafte der Kunstwerke ist ihr Abgebrochensein.« (Adorno, Ästhetische Theorie, 191) 100 Zur wesenhaften Unvollendetheit und Skizzenhaftigkeit von Kunstwerken vgl. 98
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Die ausgestellten verlorenen Dinge (Richard Schindler)
* Von ganz anderer Art als die verfremdeten Werke ist das sich darbietende Fremde, auf das ich jetzt hinweisen will. »Und nichts zu suchen, / Das war mein Sinn.« Zuweilen, wenn wir gedankenverloren unseres Weges gehen, fällt unser Blick unversehens auf einen Gegenstand, der dort, wo er liegt oder steht oder hängt, eigentlich nicht hingehört, und doch einfach da ist. Es handelt sich um Dinge, die jemandem abhanden gekommen sind, die verloren, vergessen wurden. Mehr oder weniger absichtslos heben wir sie auf, betrachten sie kurz und legen sie dann auf einen exponierten Platz. In manchen Fällen geschieht das, um sie für einen, der nach ihnen sucht, sichtbar zu machen. Doch: »Wem liegt schon ernsthaft daran, seinen beschädigten Regenschirm oder verlorenen Schnuller wieder zu finden?« 101 Meistens hat unser Hinstellen oder -legen gar keinen besonderen Grund, wir denken nicht näher darüber nach, es geschieht wie von selbst. Fast hat es den Anschein, als forderten die Dinge selbst uns ganz sacht dazu auf, sie zu bemerken und herauszustellen. Der Freiburger Künstler Richard Schindler hat seinen Blick auf solcherart »ausgestellte Dinge« geworfen und sie in einer Fotoserie festgehalten, der er den Titel »abhanden.gekommen« gegeben hat. Er schreibt über die Gegenstände, die, aus ihrem Zusammenhang und ihrer Nützlichkeit gefallen, unversehens nur noch als sie selbst da sind: »Sie sind von unendlicher Stille, Einsamkeit und Wehmut, von anrührender Hilflosigkeit und leiser Hoffnung. Stilleben, die kein besonderes Licht bedürfen und keinen besonderen Raum, die keine Unterschrift tragen, keinen Titel, kein Datum, nichts. Selbst fast ein Nichts sind sie doch von atemberaubendem Reichtum, freigiebig und ohne Vorbehalt. Verletzlich und zart, unaufdringlich und zurückhaltend und doch über alle Maßen genau und stark. Bilder von abgeklärter Schönheit, die ohne Worte, ohne Hinweis auskommen und direkt ins Herz gehen.« 102 ausführlich das Kapitel »Theorie der Skizze« in Das große Bild hat keine Form von François Jullien. 101 Vgl. die folgende Anmerkung. 102 Anonymous, aus: Richard Schindler, Bilder sind das Letzte.
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Fremdsein in der Kunst
Eine Sonnenbrille in ein Drahtgitter eingeklemmt, ein einzelner Stiefel auf einem Pfahl, ein gelber Babyschuh, aufgehängt am Geländer einer Bank, ein bunter Schnuller an einem Zaun, ein Kindermützchen auf einem Briefkasten. All diese Dinge bieten sich in einer merkwürdigen Fremdheit dar. Ursprünglich sind sie bekannt und gebraucht und sind doch plötzlich ganz unvertraut. Wer sie findet, greift sie auf, um sie dann doch sogleich sich selbst zu überlassen und wieder zu vergessen. Im Grunde sind sie ja gar nicht wirklich gefunden, sie sind nur aufgefallen auf Grund ihres Nichthingehörens, ihrer seltsamen Verlorenheit. Obzwar sie ursprünglich in einen gewöhnlichen Bewandtniszusammenhang, einen alltäglichen Umgang gehörten, sind sie nun, übergangslos, ganz bar jeder Dienlichkeit, sie bieten sich nur noch in isolierter Besonderheit dar, was sie beinahe unberührbar macht: Läßt man sich auf sie ein, so empfindet man eine Art Scheu vor ihnen. Ihre Fremdheit gibt ihnen einen Anschein von Schüchternheit, von Unaufdringlichkeit, von Zurückgenommensein. Und doch sprechen sie uns an, sie scheinen unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, obgleich es, wie man sagt, nichts mit ihnen ist. Solche ausgestellten Dinge sind je an einem Ort, genauer, sie schaffen je einen Ort, sie sind selbst ein Ort. Und sie sind dies gerade darum, weil sie in ausgezeichneter Weise Orte in einem nichthaften Raum der Bedeutungslosigkeit sind, der sich um diesen herum ergibt und ihn hält. Die Bank, an dessen Lehne der Babyschuh hängt, der Weg, an dem die Bank steht, der Nachmittag, an dem der Weg hier vorbeiführt, – all dies gibt den Raum ab, in dem das kleine Ding seinen Platz findet. Und doch ist es eben nicht sein Platz, nicht sein bedeutunggebender Raum. Der Raum tritt vor ihm zurück, wird nichthaft ihm gegenüber, um seiner »Stille« und »Einsamkeit« eine Stätte zu geben. Die von Schindler in den Blick gerückten Gegenstände sind eindrückliche Beispiele für das erstaunliche Fremde, auf das ich aufmerksam machen will. An ihnen selbst sind sie unscheinbar, »nichts Besonderes«, ja, weil aus ihrem Lebenszusammenhang herausgefallen und somit sinnlos geworden, sind sie geradezu Nichtiges. Aber durch jenen unerklärlichen Zufall, daß der Blick eines Vorübergehenden auf sie fällt und sie aus ihrer Unauffälligkeit herauslöst, werden sie zu einem Eigenen, Erstaunlichen, Fremden. 104
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Vier Haiku
* Zum Schluß verweise ich mit der Haiku-Dichtung noch auf ein ganz anderes Beispiel für die Fähigkeit der Kunst, Alltägliches und Gewohntes als Erstaunliches und Besonderes »auftauchen« zu lassen. Ich habe diese vier Haiku ausgewählt: 103 Es wurde Nacht. Im Gasthaus tropft Regen durchs Dach – Kirschblüten an hängenden Zweigen. (Buson, 60) Stille – sie sammelt sich im Geräusch der Tropfen. (Tôsui, 79) Eine Rohrflöte – die Wolken ziehen, wohin sie wollen. (Santôka, 25) Sommernacht – am Strand liegt noch eine vergessene Fackel. (Buson, 116) In diesen Gedichten, deren Sagekraft gerade darin zu bestehen scheint, daß es fast ein Nichts ist, was in ihnen zur Sprache kommt, geschieht jeweils ein irgendwie Erstaunliches: Etwas ganz und gar Unscheinbares, zuweilen geradezu »Armes«, gerät vor den Blick und bringt uns dazu, vor ihm innezuhalten. Die in Worte gefaßte Begebenheit ruft kein Befremden hervor, keine Bestürzung, kein Sich-provoziert-fühlen. Im Verschwinden der vorgängigen Vertrautheit und Bekanntheit ersteht vor uns etwas in sich Beruhendes, Eigenes, etwas, das in gewisser Weise beziehungslos ist und doch zugleich eine ganze Welt aufscheinen läßt. In dem nichthaften Raum, von dem Nishitani schrieb, begegnet unversehens ein Fremdes. 103 Ich zitiere sie hier aus dem Band Weiße Tautropfen, in dem Michiko Yoneda und ich Haiku zu Regen und Nebel und Meer zusammengebracht und übertragen haben.
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Fremdsein in der Kunst
Eine verregnete Nacht; alles trieft; durch das Dach des Gasthauses fallen die Tropfen hindurch, alles ist feucht, die Kleider klamm, – eine melancholische Stimmung. Und doch, – da hängen einige Kirschblütenzweige. Ihr zartes Rosa leuchtet im regenfeuchten Dunkel. Der Anblick trifft den Gast bzw. den Leser wie ein von ferne kommendes Wunder. Daß ein solches Leuchten möglich ist in einer solchen Nacht, läßt betroffen und bezaubert innehalten. Zweifellos sind das schon allzu viele Worte für dieses einfache Geschehnis oder Erlebnis. Das Gedicht spart das Gefühlte aus, wie es auch die Situation selbst nur in ganz wenigen Strichen zeichnet. Die Schilderung des Gasthauses in der Regennacht wird nur gerade eben als Hintergrund angerissen, um dann, als ginge ein Vorhang auf, den Blick auf die Erscheinung der Kirschblüten freizugeben. Buson setzt am Ende der zweiten Zeile ein Kireji, ein »Schnittwort« oder auch »Pausenwort«, das in vielen Haiku ein Atemholen, ein momentanes Innehalten anzeigt 104. Im Zusammenhang dieser Überlegungen läßt sich sagen, daß das »Pausenwort« den Augenblick des Hervortretens eines erstaunlichen Besonderen aus einem unbestimmten, nichthaften Raum markiert: die hängenden Kirschblüten tauchen auf aus der Regennacht. Das erstaunliche Besondere hebt sich von seinem dunklen Hintergrund ab, dieser verbleibt, kaum genannt, im nichthaft Unbestimmten. Aber er ist zugleich entscheidend mitkonstitutiv für die Erfahrung, weil diese allein aus dem Kontrast heraus ihre Bedeutung bekommt; das blühende Rosa gewinnt seine Strahlkraft erst vor dem Hintergrund der tristen Umgebung, die vom Kirschzweig aus gesehen nichtig und nichtssagend erscheint. Eben aufgrund dieser Nichtigkeit spricht das Blühen als etwas Fremdes, Unerwartetes; erst aus ihr heraus erhält es sein Leuchten. Das erstaunliche Ereignis steht immer im Gegensatz oder Kontrast zu dem Raum, innerhalb dessen es auftaucht. Gleichwohl kann das Gegensatzverhältnis von ganz unterschiedlicher Art sein. In dem
104 Es wäre reizvoll, hier auf die verschiedenen Formen von Zäsuren in der europäischen Dichtung einzugehen. Auch hier spricht man davon, daß eine Art Atemholen bewirkt werden soll. Zum Kireji vgl. Michiko Yonedas »Einige Notizen zur Form der Haiku« in Weiße Tautropfen, 129 ff.: 3. Das Schnittwort oder der Schnitt (Kireji oder Kire).
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Vier Haiku
zweiten angeführten Haiku, in dem es nicht um ein Gesehenes, sondern um ein Gehörtes geht, ist die Stille der weite Raum der Nichthaftigkeit, innerhalb dessen eine einzelne Abfolge von Einzelnen, von fallenden Regentropfen, vernehmbar wird. Aber nicht nur »innerhalb dessen«; die Stille selbst wird vernehmbar, läßt sich in einem durchaus aktiven Sinne in den Tropfen hören. Sie sammelt sich in sie hinein. Das Nicht-Vernehmbare, die Stille, gibt sich selbst eine Vernehmbarkeit im Fallen der Tropfen, in ihnen läßt sich das Unhörbare hören. Heidegger spricht davon, daß sich die Welt in den Dingen versammelt. Damit spricht er Analoges an zu dem, was in vielen Haiku geschieht. Meistens bleibt dabei das Sammeln und Versammeln unausdrücklich: »Stille – / der Eisvogel / fliegt zum Bergsee.« (Shiki) Die Stille, das Nichtwahrnehmbare, Unsinnliche gewinnt eine eigene und doch zugleich fremde »Verkörperung« (Jullien) im weiten Flug des Vogels. Auf vielen Bildern der alten chinesischen Malerei treten Berge und Felsen, Inseln und Röhricht wie aus einem Meer von Nebel und Dunst hervor, wobei dieses nicht-sichtbare »Nichts« zumeist einfach ausgespart, der Hintergrund als solcher weiß belassen wird. Das Sichtbare erhält dadurch eine eigene – sozusagen einsame – Präsenz, eine gewisse Fremdheit eben. 105 »Eine Rohrflöte – die Wolken ziehen, wohin sie wollen.« Wieder zwei scheinbar ganz unzusammenhängende »Fakten«. Die einfache Nennung der Rohrflöte evoziert eine ganz konkrete Erfahrung: der süße Ton, schmerzhaft sehnsüchtig vielleicht. Möglicherweise ergeben sich, trotz des Wissens um die kulturelle Distanz, Assoziationen zum ziegengestaltigen Pan, der seine Flöte im Röhricht spielt. Das andere Geschehen: ziehende Wolken. Unendlich fern, unendlich selbstvergessen, unendlich unergründlich. Sie ziehen, wohin sie wollen. Sie haben nichts zu tun mit den Gefühlen und der Atmosphäre, die der leise Gesang der Flöte hervorruft. Und doch entfaltet sich zwischen beidem – bzw. hat sich immer schon entfaltet – der weite nichthafte Raum, in dem beide auf unsagbare Weise zusammengehalten, fast möchte man sagen: zueinander getragen sind. »Sommernacht – am Strand liegt noch eine vergessene Fackel.« Möglicherweise erinnert die vergessene Fackel an einen freudigen 105
Gleichwohl kann hier wohl kaum von »Verfremdung« gesprochen werden.
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Abend mit festlichen Menschen, angeregten Gesprächen, sogar mit Liedern und Wein. 106 Aber das alles ist jetzt verklungen. Es ist dunkel und still. Kaum hört man die Wellen am Strand auflaufen. Sommernacht. Wiederum scheint das eigentlich nichts mit der Fackel zu tun zu haben, nichts mit den bunten Erinnerungen, die sich in ihrem Anblick sammeln mögen. Und doch erhält die erloschene Fackel, die dort vergessen am Strand liegt, erst durch die Evozierung der Sommernacht ihren eigenen Bedeutungsraum, ihre Tiefe sozusagen. Erst indem beides zusammen genannt wird, öffnet sich so etwas wie ein Erwartungs- oder Verweisungshorizont, aus der Aufzählung von »Fakten« wird die Andeutung einer Geschichte, deren fremde Hauptperson die Fackel ist. Ich denke, man kann nicht einfach sagen, daß in diesen Haiku jeweils die eine Seite das nennt, was ich den nichthaften Raum nenne, und die andere Seite das Ereignis oder das Ding, das in ihm situiert ist oder sich in ihm situiert. In vielen Fällen stimmt das zwar auch, so bei der Sommernacht und bei der Stille. Doch selbst hier umgreift diese eine Seite zugleich das Ganze. Die Stille, die sich im Geräusch der Tropfen hörbar macht, ist nicht nur das Andere zu diesen, sondern sie unterliegt zugleich sowohl der Stille wie dem Laut der fallenden Tropfen. 107 Man könnte jenes Unterlaufende und Zueinanderhaltende, jenes farb- und bedeutunggebende Nicht-Etwas, das in den Haiku zuweilen genannt, zuweilen nicht genannt wird, vielleicht auch als »Stimmung« bezeichnen, wenn man dabei alles Subjektive und Menschenbezogene aus dem Spiel lassen könnte. Es ist gerade dieses Nichthafte, was die Begebenheit im Haiku ein Fremdes sein läßt.
106 Für den japanischen Dichter sind die möglichen Assoziationen sicher anderer Art als für uns. 107 Ich habe dieses merkwürdige Verhältnis, auf das ich hier nicht näher eingehen will, in einem Vortrag zum »Raum der Gelassenheit« (Meßkirch 2011) angesprochen. Ich hoffe, in einer Erörterung der Gegensätze, an der ich zur Zeit arbeite, ausführlicher darauf eingehen zu können.
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Schlußbemerkung
Ob wir staunend vor einer kleinen Blume verharren – vor Nishitanis Blume im Vorgarten, Goethes Blümchen im Felde oder Brechts kleiner Rose –, ob uns der unauslotbare Blick eines wilden oder zahmen Tieres trifft, ob wir nachdenklich werden vor dem unbegreifbaren »Spiel« der Mücken an einem Sommerabend, ob wir uns durch ein Bild oder eine Melodie, oder auch durch eine am Strand liegen gebliebene Fackel von bisher Ungewußtem in der Weise ansprechen lassen, daß wir ihm sein Ungewußtsein zugleich belassen, – immer begegnen wir einem erstaunlichen Fremden, das in seinem Es-selbstsein aus einem unvordenklichen dunklen und stillen Raum heraus begegnet und unser Hören und Aufnehmen herausfordert. Im Gegensatz zu Picasso und Brecht intendiert mein Aufmerksammachen auf die Möglichkeit des Als-fremd-stehen-lassens nicht etwas »Revolutionäres« und Gesellschaftsveränderndes. Meine Reflexion auf das Befremden versucht lediglich, den Blick immer wieder neu vom Selbstverständlichen und Vertrauten abzuziehen und daneben und in diesem selbst das Fremde und Erstaunliche zu sehen. Worum es dabei letztlich geht, ist, einen neuen/alten Zugang zur Welt zu lernen, in dem wir uns von der Attitüde des Begreifens und Beherrschens, der Notwendigkeit, alles und jedes in den Griff zu bekommen, befreien und zu geduldigen, aufmerksamen Mitspielern werden.
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Zitierte Literatur
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