Wie hältst du's mit dem Tod?: Erfahrungen und Reflexionen in der Psychoanalyse 9783666402432, 9783525402436, 9783647402437


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Wie hältst du's mit dem Tod?: Erfahrungen und Reflexionen in der Psychoanalyse
 9783666402432, 9783525402436, 9783647402437

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Helmwart Hierdeis (Hg.)

Wie hältst du’s mit dem Tod? Erfahrungen und Reflexionen in der Psychoanalyse

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402436 — ISBN E-Book: 9783647402437

Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40243-7 Umschlagabbildung: © Irmgard Hierdeis »Mors et vita duello« (Öl auf Holz; Ausschnitt) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Helmwart Hierdeis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Tilmann Moser Psychoanalyse und Tod. Ein teilweise autobiographischer Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Bernd Nitzschke »Wir und der Tod« – hundert Jahre später. Ein Nachtrag zu einem Vortrag Sigmund Freuds aus dem Ersten Weltkrieg . . 56 Günther Bittner » … noch heute eine Rotte von Mördern«. Ein Versuch, Freuds Vorstellung einer instinktiv verwurzelten Destruktionslust zu rehabilitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Wolfgang Wiedemann Die Psychoanalyse, der Tod und die Trennung der Liebenden. Ein Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Angelika Staehle »Sag mir, wo die Blumen sind«. Zur Erfahrung von Verlust, Vergänglichkeit und Trauer im Leben und in psychoanalytischen Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

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Inhalt

Hans-Werner Saloga »Kennst du denn den Tod?« Der Kinderanalytiker und der Tod – ein unauflösbarer (Lebens-)Konflikt? . . . . . . . 169 Arne Burchartz Das Kind, der Tod und der Analytiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Brigitte Boothe »… wenn ich auf das Ende sehe« – Wie viel Zeit bleibt bis zum Tod? Dynamik der Veränderung als lebenslanges Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Edith Seifert Vom Nichtverstehen, dem Todestrieb und anderen Todesphänomenen der Psychoanalyse. Eine persönliche Theoriegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

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Helmwart Hierdeis

Einleitung

[…] der Tod erhellt mit seinem stillschweigenden Glanz das, was vorher geschehen ist […], was für sich selbst im Dunkel lag […] Javier Marías (2000) […] wie wenig die Psychoanalyse in ihrer Theorie den Tod des Menschen einbezieht, außer dass er immer als ein »fact of life« beschrieben wird. Christa Rohde-Dachser (2013)

»Mitten in dem Leben …« Begegnungen mit dem Tod, Gedanken an ihn und die Angst vor ihm begleiten uns ein Leben lang. Das sagt sich leicht dahin, weil die Tatsache so offensichtlich ist, dass es banal erscheint, sie auszusprechen. Ohne Gewicht bleibt der Satz jedoch nur, wenn sich keine Frage anschließt, zum Beispiel die nach seiner Bedeutung für unser persönliches Leben. Dann nämlich stellt sich schnell heraus, dass wir uns vom Tod zwar bedroht fühlen, aber keine passenden Worte finden, mit denen wir den Auslöser der Bedrohung beschreiben sollen. Es gibt hinsichtlich des Todes nur Außenansichten und keine authentische Erfahrung (vgl. Macho, 2000, S. 91 f.). Seine »Unerlebbarkeit«, so Hans Blumenberg, »ist keine Spitzfindigkeit der Sprachanleitung: Man muß noch leben, um erleben zu können, und ›bewußt‹ gestorben – wie immer wieder ein Neugieriger sich

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seinen Tod wünscht – werden nur Vortode« (Blumenberg, 1998, S. 213 f.; vgl. Han, 1998, S. 9 ff.). Damit das Bedrohliche sie nicht überwältigt, ignorieren die Menschen den Tod (vgl. Freud, 1915b, S. 341), oder sie »erschaffen sich […] eine innere Welt, die es ermöglicht, sich mit dem Wissen um den Tod, der damit verbundenen Todesangst, der Sehnsucht nach Selbstauflösung und dem gleichzeitigen Wunsch nach Auferstehung oder Wiedergeburt kreativ auseinanderzusetzen« (Rohde-Dachser, 1998, S. 404; vgl. Nitzschke, 1996a, S. 88 f.). So erfinden sie Metaphern: Der Tod sei dem »Schlaf« vergleichbar, der »Nacht«, der »Stille«, dem »Traum«, einem »Übergang«, einer »Brücke« (vgl. Schmauks, 2009, S. 172 ff.). Sie sprechen vom »Jenseits«, von der »ewigen Heimat«, vom »Heimgang«, vom »Drüben«, von der »anderen Welt«, vom »Vorausgehen«. Wo solche Bilder dem Beängstigenden nicht gerecht werden, erhält der Tod menschliche Gestalt: als »Schnitter«, als »Knochen- oder Sensenmann«, als »grymmyger tilger aller landt, schedlicher ächter aller welte, freyssamer (= schrecklicher, unerbittlicher; H. H.) mörder aller lewt« (Johannes von Tepl, ca.1449/2012, S. 6). Seine Aggressivität kann aber auch verleugnet werden. Dann wird er als »süßer Tod«, »Erlöser«, »Gevatter Tod« und »Freund Hein« zum (meist männlichen) Vertrauten, zum persönlichen Gegenüber, zum imaginären Gesprächspartner (vgl. Schiek, 2000), erhält er seinen Platz in Szenerien des Lebenslaufs (vgl. Röhrich, 1973, S. 1078 ff.), oder der unbewusste Wunsch, ihm seinen Schrecken zu nehmen, verwandelt ihn in ein kleines, pflegebedürftiges Wesen, wie das ein Traum zum Ausdruck bringt, den Gudrun Schiek ihrem »Lieben Tod« in einem »Brief« mitteilt: »Weißt Du was, Tod? Heute nacht träumte mir von Dir. Diesem Traum war ich in meinen Tagträumen bereits sehr nahe gewesen. Aber erst in diesem Nachttraum wagte ich den konsequenten Schritt. Also: Du saßest vor mir wie ein kleines, mageres Tier ohne Fell, nackt also. Du erinnertest mich auch an eine Art Puppe, obwohl ich nie ein Verhältnis zu Puppen gehabt hatte. Du wolltest von mir gewiegt und gestreichelt werden, und Du schnurrtest leise. Auf eine bestimmte, mir nicht ganz klare Weise tatest Du mir auch leid, Tod.

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Plötzlich, als ich Dich in meinen Armen wiegte, redete ich Dich an mit ›Tödchen‹. Da lächeltest Du. Also kann es eigentlich nicht ungehörig oder gar obszön von mir gewesen sein, denn Du warst einverstanden mit dieser Anrede« (Schiek, 2000, S. 8). Sich den Tod klein zu halten und dadurch das Machtverhältnis umzukehren, wäre die eine, am Traum als Wunscherfüllung orientierte Deutung. Ich halte auch eine andere für denkbar: Der Tod ist für die Träumerin nicht der Fremde, der von außen kommt. Er wächst in ihr und aus ihr heraus als Ähnliches und Unähnliches zugleich, er will angenommen und angesprochen werden – wie ein eigenes Kind. Die bildhaften Verkörperungen des Todes, in welcher Form auch immer sie uns begegnen, entsprechen einerseits seiner Unanschaulichkeit, andererseits unserer sprachlichen Ohnmacht angesichts seiner nicht bewusst erfahrbaren Wirklichkeit. Wir können nur in Bildern unserer Wahrnehmungen, in diesem Fall des Lebendigen, denken – das gilt auch für die Poesie, selbst wenn sie um vieles erfindungsreicher ist –, heftig angetrieben von unseren Selbsterhaltungsimpulsen. In seinen »Diktaten über Sterben und Tod« schreibt Peter Noll wenige Monate vor seinem Tod: »Leben kann nicht nur, Leben will auch nicht den Tod kennen, kann es nicht wollen, Leben kann nur leben wollen« (Noll, 1984, S. 13). Und Bernd Nitzschke übersetzt Freuds Auffassung, der Mensch sei »von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (1915b, S. 341) so: »Das ›Unbewusste‹ glaubt nicht an den (eigenen) Tod. Vielmehr besteht es aus dem Wunsch nach dem ewigen (eigenen) Leben. […] Der Ort des ewigen Lebens ist der unbewusste Wunsch, den SCHOPENHAUER als den ›Willen zum Leben‹, als Perpetuum mobile, bestimmt hätte« (Nitzschke, 1996b, S. 143; vgl. Bittner, 2012). Mit zunehmendem Alter, mit dem Blick auf das nahende Ende oder durch bedrohliche Lebensumstände erhält das Nachdenken über sich selbst, über die Beziehungen zu den Mitmenschen, den Beruf, die Geschichte, die gesellschaftliche und kulturelle Situation, über das Leben also, eine besondere Intensität und Kontur. Vom Lebensende und den damit einhergehenden Einschränkungen her und unter dem Vibrationsdruck der mit uns und um uns herum

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Alternden, Erkrankenden und Sterbenden sehen wir uns und die Welt anders und gewichten neu. Unsere persönlichen Auffassungen von Leben und Tod werden relevanter für die Art und Weise, wie wir die verbleibende Lebenszeit einschätzen und wie wir unser Leben führen. Das gilt, unabhängig vom Alter, besonders für Menschen, die das Ende ihres Lebens aufgrund von tödlichen Erkrankungen unmittelbar vor sich haben. Das war zwangsläufig so, seitdem der Mensch ein reflexives Verhältnis zu sich entwickelt hat. Seit den Anfängen der Schriftkultur finden sich, wie die Schöpfungsmythen zeigen, auch lesbare Zeugnisse dafür. Sie belegen zugleich, wie sehr die Eigenart der Phantasmen vom Tod (als Gericht oder absolutes Ende bzw. als Durchgang zu Schmerzlosigkeit, Freiheit, Vollkommenheit und Glück) über vorausgehende Ängste, Panik und Fluchtversuche oder Ruhe, wenn nicht gar freudige Erwartung entscheidet (vgl. z. B. Ariès, 1982/2009). Auch in der Gegenwart gibt es zahlreiche, unter ihnen viele berührende Zeugnisse darüber, wie ältere Menschen ihr Leben angesichts des näherkommenden Lebensendes bedenken (z. B. Vogt, 1981; Schiek, 2000; Walser, 2010; Auster, 2013; Canetti, 2014) und wie von tödlicher Krankheit Betroffene sich gegen ihr Schicksal auflehnen oder versuchen, das Sterben zu einem sinnvollen Teil der verbleibenden Lebenszeit zu machen (z. B. Zorn, 1979; Noll, 1984; Brodkey, 1996; Wilber, 1996; Herrndorf, 2013; Hitchens, 2013).

Der blinde Fleck der Psychoanalyse Für den Psychoanalytiker gehören Begegnungen und Auseinandersetzungen mit den Todeserfahrungen, -erwartungen, -phantasien, -ängsten, -wünschen und -sehnsüchten seiner Patientinnen und Patienten zum Beruf. Sie haben oft mit dem realen Tod zu tun, oft aber auch damit, dass der analytische Prozess als »tot« erlebt wird oder dass beide Seiten das Ende der psychoanalytischen Beziehung wie einen Prozess des Sterbens wahrnehmen – vor allem wenn es

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dort »um Leben und Tod« ging (Rohde-Dachser, 1998a; vgl. Freud, 1916–17g; Caruso, 1974; Ogden, 1998, S. 1087 ff.; Herberth, 1999, S. 261 ff.; Schlösser u. Höhfeld, 1999; Schafer, 1999, S. 243 ff.; Junkers, 2013). Er bemüht sich für sich selbst und mit seinem jeweiligen Gegenüber darum, die damit verbundenen Gefühle und Vorstellungen zu erkennen, zu deuten, zu verstehen und zu symbolisieren (vgl. Ogden, 1998, S. 1069), bei Verlusten »Trauerarbeit« zu leisten mit dem Ziel, die »Besetzung« von den verlorengegangenen Objekten abzuziehen oder sie umzuwandeln, damit die Libido sich auf neue Objekte richten kann, wie Freud das in »Trauer und Melancholie« beschrieben hat (Freud, 1916–17g, S. 427 ff.). Sofern diese Arbeit das Sterben und den Tod der anderen betrifft, nehmen Analytiker sie, wie die reichhaltige Literatur gerade hierzu belegt, immer wieder auf sich (siehe dazu auch den Beitrag von Wolfgang Wiedemann in diesem Band). Es ist unbestritten, dass der Tod anderer Menschen auf der Grundlage eines offenen und offensiven Verhältnisses zum eigenen Tod eher bewältigt werden kann, als wenn die Realität der eigenen Vergänglichkeit ausgeblendet (verdrängt) wird. Durch die Auseinandersetzung damit macht »das Gefühl des passiven Ausgeliefertseins an den Tod […] einer aktiven Gestaltung Platz […]. Jedes Phantasma über den Tod ist damit gleichzeitig eine Form der Todesüberwindung« (Rohde-Dachser, 1998b). So sehr jedoch die Psychoanalyse ansonsten auf einer sorgfältigen Analyse der Gegenübertragung besteht, bildet sich diese Annahme in ihren öffentlichen Diskursen kaum ab. Es sieht im Gegenteil eher so aus, als hätte sie, von Ausnahmen abgesehen (vgl. Eissler, 1955/1978, S. 183 ff.; de M’Uzan, 1998, S. 1049 ff.; Ogden, 1998, S. 1087 ff.; Bittner, 1984/1995, 2012; Junkers, 2013; de M’Uzan, 1968/2014), für das Thema noch keine Sprache gefunden und weiche ihm aus. »In der Regel […] herrscht bei den Analytikern eine selbstverständliche Abstinenzhaltung gegenüber Sterben und Tod einzelner Menschen bei gleichzeitiger Bereitschaft, über den Todestrieb und das Unbehagen in der Kultur zu diskutieren« (Biermann, 2008, S. 193). Das gilt erst recht, was ihre eigenen Destruktionswünsche und ihre eigenen Schuldgefühle – auch gegenüber Patienten –

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angeht. Das Sprechen über Todestheorien hilft die Frage abzuwehren, auf welch vielfältige Weise der Tod unser eigenes Thema ist. Ich bezweifle, dass für das Abstandhalten oder Sich-Einmauern der Analytiker eine »strukturelle Reaktionsbildung gegenüber Tod« (Biermann, S. 193) verantwortlich ist. Es gibt schließlich ein legitimes Bedürfnis, sich vor einer Überwältigung durch die eigenen Gefühle zu schützen, weil sie letztlich dem Patienten schaden würde (siehe dazu auch den Beitrag von Nitzschke in diesem Band). Aber unzweifelhaft kann die Psychoanalyse auch hinreichend Rechtfertigungen für Rückzüge liefern. Darauf hat schon Freud hingewiesen, als er von Analytikern sprach, die mit Hilfe der Psychoanalyse gelernt hätten, »Abwehrmechanismen anzuwenden, die ihnen gestatten, Folgerungen und Forderungen der Analyse von der eigenen Person abzulenken, wahrscheinlich, indem sie sie an andere richten, so daß sie selbst bleiben, wie sie sind und sich dem kritisierenden und korrigierenden Einfluß der Analyse entziehen können« (1937c, S. 95). Gerade seine Abstinenzregel (Freud, 1915a, S. 313) lässt sich zur Rechtfertigung einer strengen Grenzziehung zwischen Analytiker und Patient heranziehen. Das möchte ich mit einer Episode aus meiner Ausbildungszeit illustrieren: In einer Kontrollgruppe während der ersten selbständigen Analysen hatte ich einen Fall vorzutragen. Ich berichtete von einer jungen Frau, die mir nach einem längeren Aufenthalt in der Psychiatrie (Medikamentenmissbrauch, mehrere Suizidversuche) zur ambulanten Weiterbehandlung zugewiesen worden war: Sie war gegen Ende einer der ersten Stunden nach einer stockenden und von Weinen unterbrochenen Erzählung plötzlich aufgestanden und zum Fenster gegangen, hatte die Rechte um den Fenstergriff gelegt und gesagt: »Es wäre sowieso besser, wenn ich einen Strick nehmen und mich aufhängen würde.« Während ich in Panik überlegte, ob ich es noch schaffen würde, sie zurückzuhalten, wenn sie das Fenster öffnen sollte, kehrte sie zurück und setzte sich wieder. Nach wenigen Minuten des Schweigens sah sie auf die Uhr und stand auf. Unter der Türe gab sie mir die Hand und sagte: »Ich frage mich, warum Sie mir nicht schon längst abgesprungen sind.« Meine Antwort: »Ich bin immer da, es sei denn, plötzliche

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Verblödung, Krankheit oder Tod hindern mich daran.« Sie blickte mich einen Augenblick verwundert an, schüttelte den Kopf und wandte sich dann zum Gehen. – Die Gruppe reagierte unruhig und schaute gebannt auf den Kontrollanalytiker. Der meinte unfreundlich: »Was für ein Teufel hat Sie denn geritten, eine solche Bemerkung zu machen! Halten Sie das für Abstinenz?« Ich muss die Form meiner Entgegnung an die Patientin nicht verteidigen. Meine Antwort auf ihre Bemerkung war, unter dem Eindruck des Vorangegangenen, ein spontanes und mit Sicherheit kein analytisches Angebot, sie zu halten. Im ersten Augenblick verstand ich die Äußerung des Supervisors als Akt öffentlicher symbolischer Eliminierung. Was ich seinerzeit noch nicht wahrnehmen konnte, mir später jedoch immer deutlicher wurde: Mit der (vielleicht auch dem Druck des Augenblicks und der Gruppe geschuldeten) heftigen Zurückweisung meiner Äußerung als Verletzung der Abstinenz schützte der Kontrollanalytiker sich selbst davor, meine (und seine) Ängste zur Sprache zu bringen. Seine Kritik an der Methode bewahrte ihn auch vor einer Analyse der therapeutischen Beziehung, bei der er sich selbst hätte öffnen müssen. Sie rettete ihn davor, dem Problem nachzugehen, wie mit der Überzeugung von der Sinnlosigkeit des Lebens bei Patientinnen und Patienten umzugehen ist, wenn der Analytiker selbst keinen übergeordneten Sinn erkennt und nicht in bloße Tautologien flüchten will (vgl. Eissler, 1955/1978, S. 184 f.). Schließlich wehrte er die ihn möglicherweise noch stärker beunruhigende Frage ab, welche Folgen der Suizid der Patientin (eines Patienten) in der Analysestunde für mich und die Institution hätte nach sich ziehen können. Alles in allem war auch seine Replik keinesfalls analytisch. Der Einzelfall verweist wie gesagt auf ein allgemeines Problem, und zwar nicht nur der psychoanalytischen Ausbildung (vgl. Cremerius, 1987, S. 1067 ff.; Weber, 2004, S. 251 ff.; Wiegand-Grefe u. Schumacher, 2006; Hierdeis, 2013b, S. 21). Es könnte nämlich sein, dass Lehr-, Kontroll- und Selbstanalysen und mit ihnen die therapeutischen Prozesse einen blinden Fleck dort aufweisen, wo es bei besonders konflikthaften Themen – und der Tod ist das Konfliktthema par excellence – um die Wirkung von »Abwehrmechanis-

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men« auf den Habitus des Analytikers geht. Freud hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur psychischen Ökonomie deren Ambivalenz hervorgehoben: »Die Abwehrmechanismen dienen der Absicht, Gefahren abzuhalten. Es ist unbestreitbar, dass ihnen solches gelingt; es ist zweifelhaft, ob das Ich während seiner Entwicklung völlig auf sie verzichten kann, aber es ist auch sicher, dass sie selbst zu Gefahren werden können […]. Jede Person verwendet natürlich nicht alle möglichen Abwehrmechanismen, sondern nur eine gewisse Anzahl von ihnen, aber diese fixieren sich im Ich, sie werden regelmäßige Reaktionsweisen des Charakters, die durchs ganze Leben wiederholt werden, so oft eine der ursprünglichen Situation ähnliche wiederkehrt. Damit werden sie zu Infantilismen« (Freud, 1937c, S. 82 f.). Mit den »Infantilismen« verhält es sich wie mit den »Neurosen«. Ganz verliert sie nicht einmal der Analytiker, der doch die professionellen Prozesse der Selbstaufklärung und Durcharbeitung durchlaufen hat und weiterhin durchläuft. Auch sein Unbewusstes ist keine »Zuydersee«, die sich »trockenlegen« lässt (vgl. Freud, 1933a, S. 86), sondern bleibt zu weiten Teilen »terra incognita« (vgl. Kristeva, 1990). Nur gehört es zu seinem Beruf, die Selbstanalyse weiter zu treiben als sein Patient, damit er ihm standhalten und ihm helfen kann (vgl. Freud, 1937c, S. 94). Auf das Todesthema und die Episode bezogen: Er muss den Ort seiner Ängste und seine Fluchtwege kennen, und er muss wissen, wie stark seine Neigung ist, sie zu begehen. Auf eine solche Wachsamkeit sich selbst gegenüber läuft die »unendliche Analyse« letzten Endes hinaus (Freud, 1937c, S. 59 ff.). Wie schwer das im Angesicht gerade des »sterbenden Patienten« werden kann, hat Kurt R. Eissler in seltener Radikalität offengelegt (Eissler, 1955/1978, S. 183 f.).

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Und Sigmund Freud? Theorie und Leben Ein hervorstechendes Merkmal der Freud’schen Theoriearbeit ist ihr Bezug zu bestimmten Phasen seines Lebens (vgl. de M’Uzan, 1968/2014, S. 147 ff.). In der »Traumdeutung« (1900a) ist er sein eigenes Forschungsobjekt, dessen Erfahrungen und Deutungen er daraufhin überprüft, ob sie sich ins Allgemeine heben lassen, und mit Beginn seiner Krebserkrankung (1923) beginnt eine erneute und intensive Form der Selbsttheoretisierung, die bis zu seinem Tod andauert. Sie tritt aber nicht deutlich zutage, weil Freud es trotz der Ich-Form seiner Abhandlungen vermeidet, seine Person in ihnen auszustellen. Wer in seinen Tagebüchern und »Chroniken« mehr entdecken will, macht die Beobachtung, dass er auch dort im Hinblick auf die eigene Person nicht gerade auskunftsfreudig war. Für Michael Molnar, der Freuds persönliche Aufzeichnungen aus den Jahren 1929–1939 ediert hat (Molnar, 1996), ist die »extreme Kürze der Einträge […] ein Indiz für Freuds Haltung, nur das absolute Minimum über seine eigenen Angelegenheiten preiszugeben« (S. 14). So ist aus den theoretischen Arbeiten im Hinblick auf sein Leben nur schwer etwas herauszuholen. Ein anderes Bild vermitteln seine Briefe. Sie machen sehr viel mehr an Zusammenhängen zwischen seinen Lebensumständen und der Theoriebildung sichtbar, als Freud selbst aufgedeckt haben wollte. Schließlich war es ihm darum zu tun, den Wissenschaftsanspruch der Psychoanalyse unter allen Umständen hochzuhalten, und er konnte durchaus gekränkt reagieren, wenn andere ihm unterstellten, seine Theorien beruhten nur auf subjektiven Erfahrungen. Dennoch ließe sich eine ganze Reihe solcher offenkundigen Verbindungen zwischen »Leben und Tod« bei ihm auflisten. Ich hebe nur einige wenige heraus: −− Freud hat schon im Alter von vierzig Jahren versucht, »sein voraussichtliches Lebensalter anhand von Biorhythmen, Vererbung und Aberglauben zu berechnen« (Molnar, 1996, S. 22). −− Im Vorwort zur 2. Auflage der »Traumdeutung« von 1908 sieht er die Arbeit an diesem Buch als »Selbstanalyse« an, mit der er

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auf den Tod seines Vaters, »den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes«, reagiert habe (Freud, 1900a, S. X). −− Die hochtechnisierte und massenhafte gegenseitige Gewalt im Ersten Weltkrieg und die Sorge um seinen an der Front stehenden Sohn Martin bringen ihn schon 1915 dazu, nicht mehr im Sexualtrieb, sondern im »Todestrieb« die eigentliche Bedrohung für Kultur und Menschheit zu sehen (Freud, 1915i/1991). −− In einem Brief an Sándor Ferenczi vom 20. 11. 1917 spricht er von einer »Vorahnung«, er werde im Februar 1918 sterben (zit. nach Molnar, 1996, S. 14). −− Seine Krebserkrankung zwingt ihn von 1923 an bis zu seinem Tod, insgesamt dreißig Operationen über sich ergehen zu lassen (Schur, 1973/1982, S. 413 ff.; Jones, 2007, S. 119 ff.). −− 1929 schreibt er in einem Brief an Ernest Jones (ganz im Sinne seiner Todestrieb-Theorie) im Hinblick auf die noch vor ihm liegende Zeit von einer »Senkung der Lebenskurve« und schließt: »Ich glaube, ich habe ein Recht auf Ruhe« (zit. nach Molnar, 1996, S. 19). −− Die militärische Hochrüstung der europäischen Mächte in den 1920er Jahren und der aufkommende antisemitische Nationalsozialismus lassen Freud im »Unbehagen in der Kultur« (1930a) daran zweifeln, ob der »Eros« noch einmal in der Lage sein wird, sich gegen »Thanatos« zu behaupten (1930a, S. 506). Seine eigene langjährige Todesgestimmtheit, das Sterben der anderen um ihn herum und die Ängste um sie, die Bedrohung des Menschen und seiner Kultur durch seine Destruktivität und die sich aufdrängenden Zeichen seines eigenen Todes beeinflussten demnach nicht nur sein Lebensgefühl, sondern sichtbar auch seine thematischen Schwerpunkte. Welchen Einfluss die persönliche Todesthematik auf seine Analysen hatte, die er erst unmittelbar vor seinem Tod beendete (Jones, 2007, S. 282), darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Seine ihm verbleibende Lebenszeit schätzte er realistisch ein, die historische Entwicklung pessimistisch: »Ich sehe eine Wolke von Unheil die Welt überziehen, selbst meine kleine eigene Welt«, schrieb er im Februar 1935 an Arnold

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Zweig (zit. nach Schur, 1973/1982, S. 538). Dennoch verfiel er nicht in eine vorzeitige psychische und geistige Totenstarre, sondern korrespondierte und arbeitete – gefasst und ohne sichtbare Zeichen von Angst – bis zuletzt.

Vergänglichkeit und Trauer Die Jahre 1915 und 1916 sind bei Freud im Hinblick auf den Themen­komplex »Tod – Todestrieb – Schuld – Vergänglichkeit – Trauer« von besonderem Gewicht. In diesen Jahren entstehen die beiden vor dem Hintergrund des Krieges entstandenen Essays »Zeitgemäßes über Leben und Tod« (Freud, 1915b) und »Wir und der Tod« (1915i), zeitgleich »Trauer und Melancholie« (1916–17g, S. 427 ff.). Sie lassen sich als Vorarbeiten zu seiner systematischen Abhandlung »Jenseits des Lustprinzips« (1920g) lesen. Da sich in diesem Buch besonders Günther Bittner und Bernd Nitzschke auf sie berufen, möchte ich den gleichfalls 1915 erschienenen Essay Freuds mit dem Titel »Vergänglichkeit« (Freud, 1916–17c, S. 357 ff.) ins Spiel bringen, weil es dem Verfasser hier in Form einer Erzählung gelingt, in wenigen Sätzen die beiden wichtigsten Funktionen der »Trauer« zu veranschaulichen: als Ausdruck der Wertschätzung dessen, was der Mensch liebt oder geliebt hat, und als Übergang zu einer neuen Objektliebe und damit zu einer neuen Lebensintensität (siehe dazu auch den Beitrag von Angelika Staehle in diesem Band). Freud erzählt also, er sei mit zwei Freunden durch eine blühende Sommerlandschaft gegangen. Einer der beiden, ein junger Dichter – nach Max Schur (1973/1982, S. 360) handelte es sich um Rainer Maria Rilke, nach Matthew von Unwerth (2006) ist die Erzählung reine Fiktion –, habe zwar die herrliche Natur bewundert, sich an ihr aber nicht freuen können. Zu sehr habe ihn die Vorstellung gestört, dass das Schöne schon bald vergangen sei, ebenso wie alles andere, was Natur und Kultur an Herrlichem und Erhabenem hervorgebracht hätten (Freud, 1916–17c, S. 358). Freud führt diese Betrachtungsweise zwar mit einem freundlich-ironischen Unterton auf den »schmerzlichen Weltüberdruß des jungen Dichters«

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(S. 358) zurück, aber er muss ihm im Nachhinein recht geben. Als er den Essay verfasst, ist das erste Jahr des Ersten Weltkriegs gerade vorüber, und der hat in noch nie dagewesener Weise gezeigt, mit welch destruktiver Lust und Energie Menschen sich gegenseitig vernichten und Natur wie Kultur zerstören können: »Er beschmutzte die erhabene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte unser Triebleben in seiner Nacktheit bloß, entfesselte die bösen Geister in uns, die wir durch die Jahrhunderte währende Erziehung von seiten unserer Edelsten dauernd gebändigt glaubten« (S. 360). Freud wäre jedoch nicht er selbst gewesen, hätte er nicht versucht, die Empfindung des jungen Mannes in die theoretischen Zusammenhänge einzufügen, die ihn im Augenblick so beschäftigen. Die Freudlosigkeit ist für ihn die eine mögliche seelische Reaktion auf die »Hinfälligkeit alles Schönen und Vollkommenen« (S. 358). Die andere Reaktion führt, wie er schreibt, »zur Auflehnung gegen die behauptete Tatsächlichkeit: Nein, es ist unmöglich, dass alle diese Herrlichkeit der Natur und der Kunst, unserer Empfindungswelt und der Welt draußen in Nichts zergehen sollte. Es wäre einfach zu unsinnig und zu frevelhaft, daran zu glauben. Sie müssen in irgendeiner Weise fortbestehen können, allen zerstörenden Einflüssen entrückt« (S. 358). Und wie entscheidet Freud sich selbst? Die Verleugnung der Vergänglichkeit beruht für ihn auf Wunschdenken, ist also unannehmbar (S. 358). Aber er bestreitet entschieden, dass aus der Anerkennung der Vergänglichkeit zwangsläufig die Abwertung des Vergänglichen folgt. Er findet im Gegenteil, dass Dinge von besonderem Wert sind, gerade weil sie vergänglich sind. »Der Vergänglichkeitswert«, schreibt er, »ist ein Seltenheitswert in der Zeit. Die Beschränkung in der Möglichkeit des Genusses erhöht dessen Kostbarkeit […]. Mag eine Zeit kommen, wenn die Bilder und Statuen, die wir heute bewundern, zerfallen sind, oder ein Menschengeschlecht nach uns, welches die Werke unserer Dichter und Denker nicht mehr versteht, oder selbst eine geologische Epoche, in der alles Lebende auf der Erde verstummt ist, der Wert all dieses Schönen und Vollkommenen wird nur durch seine Bedeutung für unsere Empfindung bestimmt, braucht diese selbst nicht zu über-

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dauern und ist darum von der absoluten Zeitdauer unabhängig« (S. 359). Aber auch dieses im Gespräch vorgetragene Argument beeindruckt seine beiden Begleiter nicht. Freud glaubt zu wissen, warum: »Ich schloß aus diesem Mißerfolg auf die Einmengung eines starken affektiven Moments, welches ihr Urteil trübte, und glaubte dies auch später gefunden zu haben. Es muss die seelische Auflehnung gegen die Trauer gewesen sein, welche ihnen den Genuß des Schönen entwertete. Die Vorstellung, dass dieses Schöne vergänglich sei, gab den beiden Empfindsamen einen Vorgeschmack der Trauer um seinen Untergang« (S. 359). Auch wenn der Text ausdrücklich nur die Vergänglichkeit von Natur und Kultur anspricht, so ist die Sterblichkeit des Menschen selbstverständlich mitgemeint. Unser Leben, so verstehe ich ihn, ist vom Tod her in ein gedämpftes Licht getaucht. Hans Czuma sagt es in einer Interpretation von Thomas Bernhard schonungslos: »Menschsein in dieser Welt ist tödlich« (1990, S. 62). Alles, was wir lieben, ist mit Sterblichkeit kontaminiert und kann uns verloren gehen. Sich dagegen zu sträuben, ist sinnlos. Menschen allerdings, die ihre eigene Endlichkeit und die der Welt nicht aushalten, spekulieren auf ein ideales Danach. Das ist für Freud Wunschdenken und ein Rückfall ins Infantile. Dem aufgeklärten Menschen entspricht es, den Verlust geliebter Objekte als realistisch anzusehen, ihn zu betrauern, danach neue, vielleicht noch wertvollere Objekte zu »besetzen« und alle Energie in die Gegenwart zu stecken. Ohne Trauer entsteht keine neue Liebe: »Man kann nicht Feste feiern, bevor man der Pflicht des Trauerns nachgekommen ist« (Freud, zit. nach Jones, 2007, S. 460). Außerdem geriete ohne Trauer das bisher so sehr Geschätzte und Geliebte in den Verdacht, es sei doch nicht das Wahre gewesen. So findet der Tod in allen seinen Spielarten von Trennung sein Widerlager in einer »fundamentalen Lebensliebe«. Sie vor allem hat Max Schur als Freuds Haltung aus dem Essay »Vergänglichkeit« herausgelesen (1973/1982, S. 360).

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Der Tod und die unbewusste »symmetrische Logik« Hinter Sigmund Freuds Versuch, dem Tod das Lebendige entgegenzuhalten, lässt sich ein Bedürfnis nach einer inneren Ausgewogenheit erkennen, wie sie sich im Entwurf von symmetrischen Gebilden ausdrückt. Symmetrische Konstruktionen sind ein konstitutives Moment der biopsychosozialen Verfasstheit des Menschen (vgl. Hierdeis, 2013a, S. 325 ff.). Als »Ordnungsprinzip evolutionärer Prozesse« (S. 328 ff.) hat die Symmetrie ihre Spuren in der Phylogenese des Menschen hinterlassen und schlägt nun in seiner Ontogenese durch. Das führt unter anderem dazu, dass er sich so schwer tut, mit Ambivalenzen zu leben, und dass er mit einem hohen psychischen Aufwand versucht, sie zu vermeiden, abzumildern, zu eliminieren – oder zu verdrängen. Freud mag zwar versucht haben, die eigenen Anteile an seiner tödlichen Krankheit aus dem Bewusstsein zu tilgen (vgl. Kollbrunner, 2001, S. 31 ff., S. 272 ff.), im Hinblick auf den Tod geht es ihm aber offensichtlich darum, trotz des Unausweichlichen ein erfülltes Leben zu leben (vgl. de M’Uzan, 1968/2014, S. 155 ff.). Christa Rohde-Dachser hat in einer Interpretation von Matte Blancos »Bi-Logik« dessen Versuch gewürdigt, zwei Formen von Logik voneinander abzugrenzen: die in bewussten Denkprozessen dominante, auf die Herausarbeitung von Unterschieden zielende »asymmetrische« Logik von einer »auf die Herstellung von Ähnlichkeit und die Einebnung von Unterschieden« bedachte »symmetrische« Logik (Rohde-Dachser, 2009, S. 977 f.; Hervorh. R.-D.). Insbesondere im Hinblick auf die Beiträge in diesem Band, die sich mit dem Verständnis von »Tod« und »Todestrieb« befassen (siehe Günther Bittner, Bernd Nitzschke, Edith Seifert), ist ihre Schlussfolgerung von Gewicht, weil sie eine Spur verfolgt, die mit dem letzten Ziel der Wunscherfüllung zu tun hat: »Das sichere Wissen um den eigenen Tod und die Undenkbarkeit des Todes gehören verschiedenen Stufen des Bewußtseins an. In der ersten steht die Asymmetrie und mit ihr das chronologische Zeitempfinden im Vordergrund, in der zweiten die Symmetrie, die außerhalb von Raum und Zeit existiert. Das Gleiche gilt

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auch für die Freud’sche Todestriebtheorie. Sofern diese von dem Gegensatz zwischen Lebens- und Todestrieb ausgeht, läßt sie sich nahtlos unter die asymmetrische Logik des Sekundärprozesses subsumieren. In der symmetrischen Logik des Unbewußten wird daraus die Sehnsucht nach der Rückkehr zum ›unteilbaren Seinsmodus‹ [Matte Blanco 1975/1998 (1988), S. 218] als Ort des Urzustands, dem mütterlichen Schoß. Phantasien über den Tod […] sind unbewußt eng mit der Vorstellung des Zurückgleitens in diese ›alte Heimat‹ [Freud 1919h] verbunden. Aber auch die Vorstellung eines durch den Tod nicht zerstörbaren, idealisierten Objekts, die den Sterbenden begleitet und ihm als schützender Container dient, trägt mütterliche Züge. Im Augenblick des Todes wird Trost unbewußt offenbar vor allem von der Gegenwart einer Mutter-Imago erwartet, die mit der Kraft ausgestattet ist, die Welt zu verwandeln« (Rohde-Dachser, 2009, S. 994). Vermutlich hätte C. G. Jung, der eine ordnende Struktur des Unbewussten angenommen und symmetrische Bilder als Ausdruck »archetypischer Vorstellungen« verstanden hat (vgl. Jung, 1976/2011, S. 15, S. 299), mit einer solchen Deutung des Lebensendes mehr anfangen können als Sigmund Freud, der, um bei der Unterscheidung der beiden Logiken zu bleiben, alles auf eine differenzierende, also »asymmetrische« Logik setzt und dort, wo sie nicht hinreicht, die Grenzen seines Denkens offenlegt: Mit »kaum fassbaren Größen« könne er »nicht arbeiten«, kapituliert er einerseits bei dem Versuch, das »ozeanische Gefühl« Romain Rollands zu verstehen (Freud, 1930a, S. 430). Andererseits ist er so nüchtern, dem von ihm postulierten »Todestrieb« lediglich hypothetischen Charakter zuzuschreiben: Er beruhe »wesentlich auf theoretischen Gründen« und sei »gegen theoretische Einwendungen nicht voll gesichert« (Freud, 1930a, S. 480 f.). Der »Tod« selbst sei »ein abstrakter Begriff von negativem Inhalt, für den eine unbewußte Entsprechung nicht zu finden« sei (Freud, 1923b, S. 288). Dennoch hilft ihm das Konzept nicht nur dabei, die destruktiven Neigungen des Menschen und die Rückkehr »des unsteten Lebens in die Stabilität des anorganischen Zustandes« (Freud, 1924c, S. 372) zu verstehen, es ist ihm auch persönlich hilfreich: Der Gedanke, man

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erliege im Tod »einem unerbittlichen Naturgesetz«, meint er, sei leichter zu ertragen als die Annahme eines »Zufall[s], der sich etwa noch hätte vermeiden lassen« (Freud, 1920g, S. 47). Hier spricht nicht mehr der Theoretiker allein, sondern ein Mensch, der sich wie andere Menschen unter der »Todesbedrohung […] eine innere Welt«, einen »Übergangsraum« erschafft, der es ihm möglich macht, »sich mit dem Wissen um den Tod, der damit verbundenen Todesangst, der Sehnsucht nach Selbstauflösung und dem parallel dazu bestehenden Wunsch nach Auferstehung oder Wiedergeburt kreativ auseinanderzusetzen« (Rohde-Dachser, 1999, S. 404, an Winnicott anschließend). Auch jemand wie Freud, der von sich sagt, er sei ein »ungläubiger Fatalist« (Brief an Jones vom 3. Mai 1928; Jones, 2007, S. 170) bzw. »an infidel jew« (Freud, 1928a, S. 394), sucht in dieser Situation Halt in einer Vorstellung, die über seine Person und deren zeitliche Begrenztheit hinausweist. Für ihn ist es das Phantasma der wissenschaftlichen Wahrheit als Wahrheit schlechthin (vgl. Schur, 1973/1982, S. 396). Die »omnipotente Identifizierung mit etwas den Tod Überdauerndem, Unzerstörbarem, das für ihn aber nicht Gott war, sondern Logos, die menschliche Vernunft« (Rohde-Dachser, 2009, S. 975), ist jedoch ein quasi­ religiöser Akt (vgl. Freud u. Pfister, 1963, Brief Pfisters an Freud vom 29. 10. 1918; Vinnai, 2006; Hierdeis, 2013c, S. 231). Folgt Freud auf der Suche nach seinem höchstpersönlichen »unteilbaren Seinsmodus« also der Spur, die ihm die »symmetrische Logik« seines Unbewussten vorgezeichnet hat? Und wie wäre dann seine Hoffnung auf den Triumph des »ewigen Eros« über den »Todestrieb«, der Liebe über die Destruktion (Freud, 1930a, S. 506; vgl. RohdeDachser, 2009, S. 996) zu verstehen: als Ende der Aufklärung oder als deren Einbettung in die Liebe?

Dein Tod – mein Tod Mir geht es hier nicht in erster Linie um ein zutreffendes FreudVerständnis. In einer Profession wie der psychoanalytischen, die

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so sehr mit einer Vielfalt von Trennungen – auch mit endgültigen – zu tun hat und die den Erfolg ihres Handelns in einem so hohen Ausmaß vom selbstreflexiven, in unserem Zusammenhang: vom todesbewussten Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung (vgl. Ogden, 1998, S. 1067) abhängig macht, lautet die allen therapeutischen Beziehungen vorausgehende Frage an mich: »Wie hältst du’s mit dem Tod?« Ich kann nicht einfach eine der Antworten übernehmen, die andere gegeben haben. Insofern ist auch das Beispiel Sigmund Freuds (soweit wir überhaupt etwas über die Dynamik der »inneren Objekte« vor seinem Tod wissen) für mich nur eine Anregung, die eigene Antwort zu suchen und zu prüfen. Sie wird aber den Gedanken aufnehmen müssen, dass Sterben und Tod nicht nur die härteste Selbstkonfrontation mit sich bringen, sondern auch eine soziale Dimension haben – als gesellschaftlich definiertes Phänomen (Fuchs, 1969), im augenfälligen Sinne der endgültigen Trennung von den Lebenden wie als letzte Antwort auf die Frage nach einer im Leben nicht mehr aufgelösten Schuld. Die in vielen Vorstellungen vom Jenseits ausgeschmückte Idee von einer – nach gnädigem Gericht – zeitlosen Anschauung des Göttlichen, ungetrübtem Glück und der Wiedervereinigung geliebter Menschen zeigt ein menschheitsweites Bedürfnis, nach dem Tod zusammen mit anderen in einem vollkommenen Zustand zu existieren. Ohne zuverlässiges Wissen darüber, ob es dieses Danach überhaupt gibt und wie es beschaffen ist, verstehen wir das Bedürfnis als das Wunschdenken zeitlebens Entfremdeter. Es ist so allgemein, weil die Sehnsucht nach Harmonie, Frieden, Versöhnung zu Lebzeiten nicht angemessen zu befriedigen ist. Hier bringe ich das ins Spiel, was die Psychoanalyse leisten kann – als Therapie, die dem Sterben der Menschen (ihrem realen Sterben und dem, was sie am Leben hindert) immer wieder etwas Leben abzutrotzen versucht und die Sterbenden wie die unter anderen Trennungen Leidenden in ihren Ängsten begleitet, und als Kritik von gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen, die Menschen von sich selbst und von ihresgleichen entfremden und damit ihre Lebensmöglichkeiten einschränken.

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Diese Entwicklungen hatte Igor A. Caruso vor Augen, als er vor nunmehr vierzig Jahren am Ende seines Buchs »Die Trennung der Liebenden« (1974) von »der Aufhebung des Todes« (S. 309) sprach und ergänzte: »[…] denn die Entfremdung des Menschen wird solange nicht zur Gänze aufhören, als die vom Menschen abgetrennte und beherrschte Natur doch stärker ist als seine Liebe und seine Schöpfungskraft« (S. 309; Hervorh. I. A. C.). Das klingt nach einer Paraphrase auf Freuds soeben angesprochene Hoffnung, der »ewige Eros« möge über den »Todestrieb« siegen (Freud, 1930a, S. 509). Nur ist sie bei Caruso, mehr noch als bei Freud, ein Aufruf, die Psychoanalyse nicht nur als therapeutische, sondern auch als politische Praxeologie zu verstehen. Ich übersetze ihn für mich so: Wenn die mir begegnende Vielgestaltigkeit des Todes die Frage nach meinem eigenen Tod aufwirft und ich den Tod der anderen in meinem immerzu bevorstehenden Tod spiegle, dann kann ich nicht bei einer distanzierten naturwissenschaftlichen oder geschichtsphilosophischen Antwort stehen bleiben. Sie wäre für mich ein Ausweis meiner Abwehr. Der Tod als gemeinsames Schicksal zwingt mich vielmehr, das Leben immer auch als gemeinsamen Prozess des Sterbens zu verstehen und zu praktizieren – mit jedermann, nicht nur mit Patienten.

Die Beiträge Ich habe für dieses Buch Autorinnen und Autoren zu gewinnen versucht, die bereit waren, das Thema »Wie hältst du’s mit dem Tod?« vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen ihres therapeutischen Handelns und ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu reflektieren. Ich ging dabei von der Beobachtung aus, dass in der Psychoanalyse wenig Neigung besteht, diesen Zusammenhang am Beispiel der eigenen Person darzustellen und zu diskutieren, sei es aus Gründen des Selbstschutzes, aus Rücksicht auf die »Reinheit« der psychoanalytischen Technik oder wegen der Verdrängung des Themas, wie auch immer. Diese Zurückhaltung

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hat sich auch bei meiner Suche nach Autorinnen und Autoren gezeigt. Umso dankbarer bin ich, dass sich unter den zahlreichen von mir Angesprochenen doch etliche bereit gefunden haben, dieses Wagnis auf sich zu nehmen. Die Abfolge der Beiträge ist so geordnet, dass sie mit einem persönlichen Essay über unterschiedliche lebensgeschichtliche und therapeutische Begegnungen mit dem Tod beginnt (Tilmann Moser). Ihm folgen zwei – bei allen persönlichen Bezügen – begrifflich-theoretische Texte, die sich vor allem mit Freuds »Todestrieb«Konzept auseinandersetzen (Bernd Nitzschke, Günther Bittner). Vier Beiträge, in deren Mittelpunkt Fallvignetten mit Patientinnen und Patienten unterschiedlichen Alters stehen (Wolfgang Wiedemann, Angelika Staehle, Hans-Werner Saloga, Arne Burchartz), schließen sich an. Die Schilderung eines selbstbestimmten Sterbeprozesses vor dem Hintergrund heutiger Lebens- und Todeserwartungen älterer Menschen (Brigitte Boothe) leitet letztendlich über zum Gegenstück des Anfangs: einer Erzählung über den persönlichen Weg durch verschiedene psychoanalytische Theorien von Sterben und Tod (Edith Seifert). Tilmann Moser schlägt in seinem Essay einen weiten Erfahrungsbogen vom Sterben seiner Eltern über Suizide und Todesängste von Patienten bis hin zu Ängsten um den Tod anderer Menschen, ja sogar – bei entsprechender Identifizierung – um den Untergang von Ideologien, Systemen und Nationen. Die klassische Psychoanalyse hält er angesichts ihrer bisherigen Geschichte und insbesondere des Vorbilds Sigmund Freud nicht für geeignet, mit dem Thema Sterben und Tod angemessen umzugehen. Er tritt dafür ein, mit Patienten offen darüber zu sprechen und sie dabei an den eigenen Überlegungen und Ängsten teilhaben zu lassen. In Körperund Gestalttherapie findet er zudem Interventionen zur Bearbeitung von Todesängsten, die in der Psychoanalyse nicht vorgesehen sind. Die Schrift »Wir und der Tod« (1915) bildet für Bernd Nitzschke den Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie sich – vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs – bei Sigmund Freud das Todesthema entfaltet und wie er im Zusammenhang damit jene Begriffe aus-

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arbeitet, die für seine künftige Auffassung von der Psychoanalyse als klinischer Theorie wie als Kulturtheorie zentrale Bedeutung erlangen: »Todestrieb«, »Eros – Thanatos«, »Trauer« und »Schuld«. Die von Freud beschriebene Verleugnung des Todes sieht Nitzschke nicht nur in subjektiven Wünschen, sondern auch in heutigen ausbeuterischen ökonomischen Vorstellungen und Strategien bestätigt. Seine eigene Sichtweise vom Zusammenhang zwischen Tod und analytischer Praxis charakterisiert er so, dass der Analytiker sich trotz seines reichen Wissens über den Tod vor allzu intensiven Gefühlen zu schützen hat, um den anderen angemessen wahrzunehmen. Das gelingt ihm umso eher, je besser er die eigene Wunschwelt einzuschätzen vermag. Ausgehend von einer Fallvignette, in der ein Patient es sich aus moralischen Gründen verbietet, seinem Vater, den er mit schuldig sieht an seinem Lebensdrama, den Tod zu wünschen, fragt Günther Bittner nach der Einstellung der Psychoanalyse zum Ursprung menschlicher Destruktions- und Mordlust, die, wie das klinische Beispiel zeigt, auch die Einstellung zum eigenen Tod mitbestimmt. Freuds Annahme einer triebhaften Basis sucht er in vier Schritten zu stützen: durch Beobachtungen spontanen destruktiven Verhaltens bei Kleinkindern, das für ihn nicht zu Wolfgang Lochs Annahme von Aggression als Reaktion passt; durch die Berufung auf Befunde von Primatenforschung, Paläoanthropologie und Prähistorischer Archäologie; durch die Einbeziehung von Erklärungsmodellen der Forensischen Psychiatrie und mit dem Hinweis auf heute verbreitete Formen eines mit ethischen Ansprüchen legitimierten metaphorischen Mordens (z. B. durch Mobbing). Für Bittner steht ausreichend Material zur Verfügung, die heute in der Psychoanalyse gängige Aufweichung der Freud’schen Annahmen zu revidieren. Wolfgang Wiedemann geht der Frage nach, wie in seiner analytischen Praxis (also auf der subjektiv-phänomenologischen Ebene) der Tod zum Thema wird. Für das manifeste Auftreten des Todes findet er in seiner eigenen seelsorgerischen und therapeutischen Tätigkeit hinreichend Belege; der Umgang der Psychoanalyse damit ist, wie Wiedemann zeigt, aber auch in der Literatur gut dokumen-

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tiert. Der Autor richtet seine Aufmerksamkeit jedoch vor allem auf jene Fälle, in denen der Tod latentes Thema ist. Am Beispiel von zehn Fallvignetten arbeitet er heraus, hinter welchen Symbolen, in welchen Ängsten oder in welchen Übertragungsinszenierungen sich das Thema Sterben und Tod verbergen kann. Die wichtigste Einsicht, die er dabei gewinnt: Je stärker sich der Analytiker mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, desto hellhöriger wird er für die Äußerungen der Patienten, die deren Todesphantasien und -ängste anzeigen. Durch lebensgeschichtliche Erfahrungen und die analytische Arbeit mit Kranken und Sterbenden sieht sich Angelika Staehle besonders sensibilisiert für die vielfältigen Todesthemen, die ihr in der Praxis begegnen. Anhand von zwei umfangreichen Vignetten zeigt sie, wie einmal ein neunjähriges Mädchen mit autistischen Symptomen, das die Last von Todeserfahrungen in der Familiengeschichte zu tragen hat, Gefühle und Sprache gewinnt, weil sich die Analytikerin als »gutes« (fühlendes, verstehendes) Objekt anbietet und das Kind damit verlebendigt, und wie – im zweiten Fall – ein krebskranker Patient sein Gefühl der Isolation und Wertlosigkeit verliert, weil es der Analytikerin gelingt, über eine lange Zeit hinweg die Ambivalenz zwischen Lebensbedrohung und Hoffnung mitzutragen. In beiden Fällen sind für sie Freuds Gedanken zur Funktion der Trauer und deren Weiterführung durch Klein, Winnicott, Bion und Green hilfreich. Dass der Tod die ganze Existenz durchdringt, ist für Hans-Werner Saloga einerseits Lebenserfahrung, andererseits therapeutische Erfahrung (vor allem mit Kindern und Jugendlichen). Das Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit ist bei den meisten Menschen jedoch im Unbewussten vergraben. Die Psychoanalytiker bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Wie jedermann verdrängen sie die Allgegenwart des Todes, nur können sie dafür eine ganze Reihe von Erklärungen und Rechtfertigungen vorbringen, in der die Aufrechterhaltung der Abstinenz an erster Stelle steht. Bis in die Lehranalysen hinein, so die Beobachtung des Autors, kommen eigene Todesängste und die Frage nach dem Sinn des Todes nicht zur Sprache. Was für Antworten aber findet der Analytiker, der von

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Kindern auf den Tod angesprochen wird oder der Sterbende und deren Angehörige begleiten muss? Saloga plädiert unter Bezug auf seine analytische Praxis dafür, der Einfühlung in die Betroffenen und der Identifikation mit ihnen den Primat einzuräumen. Dafür sei es aber notwendig, sich mit der eigenen Verdrängung des Todes auseinanderzusetzen. Der Kinder- und Jugendlichenanalytiker Arne Burchartz sieht die Besonderheit seines Berufs darin, dass die jungen Menschen, mit denen er zu tun hat, von ihrem Alter her den Widerspruch zum Tod verkörpern und in der gesamten Kultur Erneuerungsund Unsterblichkeitsphantasien anregen. Zugleich sind sie für die Älteren der ständige Hinweis auf deren begrenzte Lebenszeit. Ausgehend von persönlichen Reflexionen zum Tod geht der Autor, vor allem auf der Basis von Fallvignetten, der Frage nach, wie das Thema Tod in Übertragung und Gegenübertragung wirksam wird. Als Beispiele zieht er Behandlungen heran, bei denen die jungen Patienten entweder selbst durch eine die Lebenszeit verkürzende unheilbare Krankheit oder vom Tod eines Elternteiles oder Geschwisters betroffen sind. Dabei macht er deutlich, welche Anstrengungen es kostet, in der analytischen Arbeit mit jungen Menschen in Todesgefahr oder mit Todeserfahrungen die Balance zu halten zwischen der Anerkennung der Begrenzungen und der Befreiung zur Entwicklung »ins Leben hinein«. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, wie sich der Analytiker selbst mit den Erscheinungsformen des Todes in seinem eigenen Leben auseinandersetzt. Einem von ihr (mit-)initiierten narrativen Forschungsprojekt entnimmt Brigitte Boothe Fallgeschichten von älteren und alten Menschen, die ihre Lebenssituation darstellen und interpretieren. Den theoretischen Hintergrund bilden Annahmen über das Alter als Entwicklungsphase mit eigenen Entwicklungsdynamiken, die umso eher zur »Integrität«, das heißt zu einem inneren Einverständnis mit sich selbst führen, je sicherer die Bindung in den frühen Lebensjahren war. Die unterschiedlichen Lösungen, von denen die Befragten erzählen, regen die Autorin an, von eigenen Erfahrungen zu berichten. Sie erinnert sich zunächst an eine Lek-

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türe: das Lebensende des »Stechlin« in Theodor Fontanes gleichnamigem Roman. In der Beschreibung seines Sterbens, in dem der Protagonist sich in einen umfassenden Zusammenhang einzufügen versucht, entdeckt sie aber auch eine Parallele zum Sterben ihrer Mutter, die über ihr eigenes Lebensende bestimmt hat und in hellsichtiger Gefasstheit und Unnahbarkeit aus der Welt gegangen ist. Edith Seifert stellt in ihrem Beitrag unterschiedliche Todesthemen der Psychoanalyse vor. Sie beginnt mit der besonderen Art des Nichtverstehens, das sie anlässlich ihrer ersten Berührung mit der Psychoanalyse erlebte und das ihr eine erste Ahnung von der Unzugänglichkeit des Unbewussten vermittelte. In der Folge zeichnet sie den Bogen ihrer theoretischen Beschäftigungen mit dem Thema Tod nach. Dabei spricht sie so unterschiedliche Themen wie den Todestrieb, die weibliche Sexualität oder den wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse an, die begrifflich auf je verschiedene Weise darlegen, inwiefern das Tote, oder, in der Terminologie von J. Lacan, das »Reale«, von Bedeutung und schon in den psychoanalytischen Begriffen selbst angelegt ist. Der Beitrag schließt mit der Erzählung von persönlichen Erfahrungen, die die Verfasserin als Dozentin und Praktikerin mit der Dimension des Toten konfrontiert haben.

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Helmwart Hierdeis

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Tilmann Moser

Psychoanalyse und Tod Ein teilweise autobiographischer Essay

Erfahrungen mit dem Sterben der Eltern: Abschiede Als mein Vater mit siebzig Jahren schon sehr geschwächt war durch eine noch nicht diagnostizierte, aber wohl ernsthafte Krankheit, machte ich mit ihm eine einwöchige Ferienreise an einen See, den er liebte. Wir wussten, dass es vielleicht die letzte Begegnung war, bei der er an Stöcken noch kurze Wanderungen mit mir machen konnte. Wenige Monate später konnte ich ihn nur noch als Sterbenden im Krankenhaus besuchen. Meine Mutter fragte mich scheu, ob ich mit ihm über seinen bevorstehenden Tod sprechen könnte. Sie selbst wagte es nicht, und der Arzt, der immer für Offenheit plädiert hatte, »vergaß« es offensichtlich. Er selbst ahnte es wohl. Er war ein sehr christlicher Mensch gewesen, ohne dass ich viel über seinen Glauben wusste. Da ich bald wieder an meinen Studienort zurückkehren musste, fragte ich ihn, ob er den Klinikseelsorger zu einem Besuch bitten wolle: »Um Gottes willen, nein, ich kann jetzt keine frommen Sprüche und vorgefertigten Gebete hören!« Das war deutlich, auch gefasst. Also fragte ich ihn: »Wie ist das, dass du bald sterben musst?« Plötzlich war alle meine Scheu verflogen, er machte es mir leicht, dankte, dass ich es ansprach, »mit deiner Mutter kann ich nicht darüber sprechen.« Das klang traurig, auch dass der Arzt schwieg, vermerkte er eher mürrisch. Ich nahm seine Hand, er überließ sie mir gern: »Ich bin schwach und müde, es ist gut, dass es zu Ende geht, ich spüre nicht einmal Angst. Ich gehe einfach weg. Wohin, weiß ich

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nicht.« Er war manchmal präsent und geistesgegenwärtig, manchmal verschwand er in eine ruhige Abwesenheit, bewirkt durch starke Medikamente. Es war ein stiller Abschied, und ich dankte es ihm insgeheim, dass er mich beruhigt hatte über seinen Tod. Erst im Auto flossen die Tränen, sodass ich einige Mal an den Rand fahren musste, um sie in Ruhe abzuwischen. »So stimmig kann also der Tod sein«, dachte ich. An meine Gedanken zu seiner Lebensbilanz wagte ich mich erst viel später, mit therapeutischer Hilfe. Er hatte kein leichtes Leben mit seiner Behinderung und der ständigen, auch materiellen Sorge um die große Familie und das Gedeihen seiner Kinder. Meine Mutter starb ein Jahr später, im gleichen Alter, am gleichen Krebs. Bei ihrem Sterben war ich anwesend, konnte sie davor aber im Dorfkrankenhaus am Arm noch bei winzigen Gängen durch einen Flur begleiten. Nie hatte sie sich vorher in dieser Weise auf mich gestützt. Es war ihr Abschiedsgeschenk. Als die alte und erfahrene Nonne den Tod kommen fühlte, zündete sie in dem kleinen Zimmer eine Kerze an, zog noch einmal die Decken zurecht, legte Tücher bereit, ich wusste nicht wofür, spürte aber ihre kundige Routine. Dann begann sie Trost- und Sterbegebete zu sprechen, wischte ihr gelegentlich den Schweiß von der Stirn, begleitete das gelegentliche Hochrecken der Sterbenden mit ruhigen Gesten, erkannte den Moment des letzten Seufzers und fing den hochkommenden Mageninhalt mit geübten Händen in den vorbereiteten Tüchern auf, sprach einen Segen, drückte ihr die Augen zu und betete weiter, bis sie uns, meine Tante und mich, zu gehen bat. Es lag ein vollkommen beruhigender Frieden über der Szene. Die Mutter entfernte sich einfach. Auch über ihren Glauben und möglichen Glaubenstrost wusste ich wenig, also wusste ich auch nicht, wohin sie sich ihrem Gefühl nach entfernte, und ob sie an ein Wiedersehen glaubte, wie es ihr eine nie thematisierte Religion nahe legte.

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Der Suizid eines Patienten Ganz anders ging es mir mit der sehr indirekten Begegnung mit fremdem Tod. Der Direktor einer psychotherapeutischen Universitätsklinik, mit dem ich befreundet war, berichtete mir unregelmäßig, aber doch alle paar Monate oder halbe Jahre, es habe sich wieder ein Patient umgebracht, schrecklicherweise auf Station oder aber in einem nahen Park oder an der nächstgelegenen Bahnlinie. Abgesehen davon, dass er sich traurig, erschüttert und skrupulös fragte, warum und mit welchem Patienten es wieder einmal so weit gekommen war, erlebte ich ihn als Tröster und Stütze seines Teams. Die Stimmung dort hatte mit Verwirrung, Schuldgefühlen, Ratlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Selbst- und Fremdvorwürfen zu tun, aber es gab auch solidarische Gruppengespräche mit Fehlersuche, Rechtfertigungen und einzelne Zusammenbrüche von Kollegen in individueller Verzweiflung. Die Unruhe in der Klinik hielt einige Tage an. Der Direktor sprach in einer kleinen Rede von Ohnmacht, Schicksal, Trauer, Verantwortung, aber auch vom Umgang mit den Angehörigen, mit der Polizei, manchmal mit dem Staatsanwalt. Ihm sei immer wieder auch der böse Satz eingefallen: »The show must go on«, den er natürlich nicht aussprach, aber er wusste, dass er das Team wieder zurückführen musste zu geordneter Weiterarbeit. Das Team hatte kompetente Supervision; dort konnte in einer Sondersitzung der schwierige Umgang mit den Ängsten und Vorwürfen zurückgebliebener Patienten besprochen werden. Die selbst verunsicherten Therapeuten mussten sich, manchmal mit gespielter Gelassenheit, aber auch mit sichtbarer Trauer und Betroffenheit, mit der Unruhe im Haus, den extremen Reaktionen Einzelner, gelegentlich auch mit aufschießendem globalem Misstrauen in die Klinik und in das Personal und schwer durchschaubaren Übertragungs- wie Gegenübertragungsreaktionen auseinandersetzen. Der Suizid hatte etwas Brutales, Halböffentliches, eine Botschaft unaushaltbaren Überdrusses am Leben, mit sich ausbreitenden Gefühlen der Vergeblichkeit auch hinsichtlich des therapeutischen Programms. Es wurde naturgemäß nach Voranzeichen gesucht und gefahndet, je nach dem Kliniksetting wurden Patientenver-

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treter befragt nach letzten Kontakten, nach Beziehungskonflikten der Patienten untereinander. Die für den »Fall« verantwortlichen Therapeuten grübelten im Geheimen und in der Teamöffentlichkeit über den Stand der Therapie und der Übertragungen. Einzelne mussten seelisch gestützt werden, für manche der oft jungen Therapeuten war es die erste ernsthafte Konfrontation mit den Berufsrisiken und der lastenden Verantwortung. Und es machte sich ein verstärktes Sicherheitsdenken bemerkbar: Was riskiert man an Interventionen, wie penibel muss die Dokumentation geführt werden, sind Antisuizidverträge zu leicht genommen worden, und wie ist das prekäre Verhältnis zwischen eingestandenen Suizidgedanken als normaler Begleiterscheinung bei schweren Depressionen und der undurchschaubaren Bereitschaft, in einer Verzweiflung auch damit Ernst zu machen?

Der Suizid eines eigenen Patienten Schwerer auszuhalten war für mich der Tod eines jungen Patienten, den ich ins Herz geschlossen hatte. Der schockierende Anruf kam von einem Mitglied der studentischen WG des etwa 25-Jährigen, der seit ungefähr drei Monaten in einstündiger Therapie bei mir war. Die Stimme des Anrufers hatte einen Klang, als ob er wisse, dass ich leichtfertig oder fehlerhaft gearbeitet hätte. Ich bat um einen Termin bei seinen vier Freunden. Trotz gereizter Stimmung gegen mich berichteten sie von dem Toten, den sie erhängt im Keller gefunden hatten. Sie sprachen von seinen Schwierigkeiten mit den Eltern, mit seiner Freundin, die sich unlängst von ihm getrennt hatte, und von einer offensichtlich schwierigen und langen Therapie mit einer Kollegin, deren Namen sie mir nicht nannten. Er selbst hatte mir von einer »beendeten Therapie« berichtet, was offenbar nicht gestimmt hatte. Er sagte mir auch ihren Namen nicht und fand eine Kontaktaufnahme von mir zu ihr unsinnig. Dem Wechsel zu einem Mann maß er große Bedeutung bei. Besorgt registrierte ich, wie illusionär sich seine Hoffnungen an

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mich anfühlten. In jenen Jahren hatte ich begonnen, vorsichtig mit körperlichen Interventionen zu arbeiten, etwa der haltenden Hand, wenn die Angst vor Gefühlen sehr groß war oder diese selbst überwältigend zu werden drohten. Auch er nahm dieses Angebot dankend an, wollte bald vom Sitzen zum Liegen übergehen. Ich saß dann neben ihm bei der Couch, und er konnte nach meiner Hand greifen, wann er es brauchte. Ich erfuhr von ihm, dass sich seine Eltern in einer Art Rosenkrieg getrennt hatten und dass um das Aufenthalts- und Erziehungsrecht in mehreren Prozessen gestritten worden war. In meiner Gegenübertragung sah ich ihn verzweifelt in einem Laufrad eines unlösbaren Hin und Her zwischen den zerstrittenen Eltern, heimatlos und voller Schuldgefühle, aber auch voller Hass und ambivalenter Liebe; dazu kam sein Misstrauen in die Motive der kämpfenden Parteien. Sehr zögernd gab er kurz vor seinem grausamen Ende zu, dass seine andere Therapie noch andauere, er habe es verschwiegen in der Angst, dass ich ihn sonst gar nicht anhören würde. Auch der Therapeutin hatte er nicht mitgeteilt, dass er sich heimlich an mich gewandt hatte. Aufgrund des vorsichtigen körperlichen Halts, den ich ihm in seiner Verzweiflung geben konnte, entwickelte er, zu seiner riesigen, aber leicht erschütterbaren Hoffnung, eine sowohl idealisierende wie extrem misstrauische Übertragung, die stündlich miteinander wechseln konnten. Ein Beispiel für das ausgeprägte, mir gegenüber unverständlicherweise sexualisierte Misstrauen (vielleicht durch eine beginnende homosexuelle Übertragung?) war sein Verdacht, dass ich heimlich onanierte, während ich hinter ihm auf dem Sessel saß. Das machte mir sein gelegentliches lauerndes Schweigen fassbarer. Aber in der Übertragung muss sich etwas angebahnt haben, was ich später einen nicht zu bewältigenden »Hoffnungsschock« nannte. Für die jahrelange Verzweiflung schien sich ihm eine plötzliche väterliche Erlösung anzubahnen, bei gleichzeitigem Absturz in eine verdichtete Erinnerungsqual, der er sich nicht gewachsen fühlte. Ich fühlte mich fallengelassen, so wie es zu seinem eigenen Lebensgefühl gehörte: entwertet, angeklagt, gleichzeitig von Hass und Liebe überschwemmt, in unauflösbarem Knäuel. Er konnte

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keine realistische Hoffnung mehr in eine länger dauernde und schmerzhafte Therapie setzen. Ich grübelte lange, ob der Hoffnungsschock auch durch den haltenden Kontakt beschleunigt worden war. Es war wohl eine Retterphantasie in ihm entstanden, aber er war bereits zu erschöpft, um an einen neuen, längeren, hilfreichen Prozess zu glauben, zumal noch der für ihn schuldhafte Verrat an der anderen Therapeutin fortbestand. So beruhigt ich nach langem Gespräch die WG verließ, die sich mit mir ausgesöhnt hatte, so versöhnt verließ ich die Beerdigungsfeier, mit tief gefühltem Dank an den Pastor, der mit einfühlsamen, persönlich klingenden Worten sprach: Ein Schicksal habe sich vorzeitig und nicht voraussehbar vollendet, wir müssten das ohne Schuldzuweisungen ertragen. Der Vater, der mich anfangs in Telefonaten der rücksichtslosen Geldgier bezichtigt hatte (er war Banker), zeigte sich bei der Beerdigung plötzlich dankbar, weil er inzwischen die niedrige Privatrechnung gesehen hatte, die der Sohn ihm hinterließ: Kassenleistung war ja die Therapie bei der Kollegin gewesen. Wir schieden mit einem herzlichen Händedruck, im gemeinsamen Wissen, dass wir an dem jungen Schicksal nichts hatten ändern können.

Der Einbruch einer Todesangst in einer gerade begonnenen Therapie Es erschien eine strahlend hübsche, fast sofort jungmädchenhaft flirtende Dame von 34 Jahren, die ich aber für eine Studentin von höchstens 22 Jahren hielt. Dieser Alterssprung in der Wahrnehmung sollte später eine wichtige Rolle spielen, denn die Fixierungsstelle lag in ihrem zwölften Jahr um die Trennungs- und Scheidungstermine der Eltern herum. Nach ausführlichen Informationen über ihren geliebten Beruf kam sie, immer noch liebenswürdig, auf den Anlass ihres Kommens zu sprechen, und da konnten endlich die Tränen fließen: Mitten in den Beginn einer verheißungsvollen neuen Liebesbeziehung hinein platzte die Dia-

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gnose: Brustkrebs. Ein reicher Lebensplan schien plötzlich zu zerbrechen, sie war nächtens oft in Panik, alle Familienmitglieder einschließlich der Arbeitskollegen waren verstört und entsetzt. Ihrem Temperament und ihrer Erziehung nach fühlte sie sich aber für alle verantwortlich und verbarg ihren extremen Kummer selbst unter der Maske von Fürsorge und Tapferkeit. Nur in den anlaufenden Stunden konnte sie die nackte Angst zulassen, die mich trotzdem nicht ansteckte, nur mitfühlend machte. Sie war in jungen Jahren bereits stellvertretende Chefin eines Feinmechanikbetriebs und fühlte sich, als vom väterlichen Patriarchen ausersehene Nachfolgerin in der Leitung des Betriebs, bereits zuständig für die Zukunft der Firma und der Mitarbeiter. Zur Panik gehörte die Angst um den neuen Partner und die Sehnsucht nach späterer Familie. Die Operation verlief offenbar günstig. Sie erhielt viel elterlichen und ärztlichen Zuspruch und klammerte sich an den Satz des Chirurgen, dass sie eine 90-prozentige Heilungschance habe. Aber diese unsichere Hoffnung verließ sie immer wieder, sodass ich durch sie einer Mischung aus tapferer Zuversicht und schlimmen Ängsten ausgesetzt war. Ich hoffte inständig, dass die Therapie sich nicht zu einer langwierigen Sterbebegleitung entwickeln würde. Das langsame Sterben dieser blühenden jungen Frau hätte sicher auf lange Zeit mein Leben als Therapeut verdüstert. Ein drohender früher Tod hatte uns gestreift, doch auch tiefer verbunden. Der Ausgang ist vollkommen ungewiss. Nach bangen Monaten konnten die Ärzte keine weiteren schlimmen Anzeichen entdecken.

Lebensbilanz und Unsterblichkeitsphantasien Über konkrete oder unbewusste Unsterblichkeitshoffnungen von Analytikern ist mir nichts bekannt, wohl aber kenne ich die Sorgen einiger analytischer Kollegen: »Was bleibt von mir?« Da die Lehranalyse in relativ frühen Berufsjahren stattfindet, ist der erst im Alter drohende Tod noch wenig Thema, es sei denn aus neuroti-

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schen Gründen oder bei schwerer Erkrankung oder durch den Tod naher Angehöriger und durch einen Zirkelschluss auf den eigenen möglichen Tod: Hinterlasse ich Gedanken, Aufsätze, Bücher, Texte, behandlungstechnische Variationen mit meinem Namen, die mich überdauern; wichtige Kongresse, die ich organisiert habe; Erinnerungen an Ämter in Institutionen und Ähnliches? Tauche ich mit meinem Namen in Literaturverzeichnissen auf, die ihn über eine gewisse Zeitspanne bewahren? Und dann natürlich die erworbenen und gepflegten Freundschaften und Feindschaften, Siege und Niederlagen im Gedächtnis der anderen. Und schließlich, zentral für Analytiker, die zwar weniger schriftstellerisch tätig gewesen sind, aber in geduldiger Hingabe ihren Beruf ausgeübt und seelisches Gedeihen bei vielen Patienten erreicht haben, die ihnen auch ans Herz gewachsen sind: Sie leben in deren dankbaren und oft auch kritischen Erinnerungen fort, und sie können sich sagen: Meine Arbeit war fruchtbar und erfüllend, und ich überdauere, wenn auch nicht unsterblich, in deren Gedeihen oder in deren Schülerschaft, bei der ich sie sogar prägen konnte und die mein Engagement oder gar meine Richtung weitertragen. Was meine eigene Unsterblichkeit(sphantasie) angeht, so sind hier leider Bekenntnisse gefragt zu teilweise intimem Material. Mein Lehranalytiker sprach angesichts meines extremen Schwankens zwischen Unwert und rettender, gänzlich ungeerdeter Grandiosität gelegentlich von meinem »Lindwurm der Größenphantasien«, die sich an meine bewundernde Bindung an den Reformator Luther knüpften. Er war unser früher Hausheiliger. Also wollte ich nach zutiefst gläubigen christlichen und später psychoanalytisch-orthodoxen Jahren die Psychoanalyse reformieren und in ihrer Geschichtsschreibung überleben. Das ist nicht ganz leicht zu gestehen, zumal sich ein Bekennerbuch erhalten hat, in dem ich das omnipotente Geständnis bereits abgelegt habe. Die neue Phantasie eigener Wirkung: Die Rechtfertigung und erfolgreiche Förderung der analytischen Körperpsychotherapie. Das angestrebte Ziel hilft mir auch im achten Lebensjahrzehnt, den Gedanken an den eigenen Tod noch aufzuschieben, durch eine sich festigende Anerkennung meiner Ideen und meiner Praxis der psychoanalyti-

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schen Körperarbeit, in Zusammenarbeit mit einigen ähnlich engagierten Kollegen. Solche Ziele halten mich zu meiner Erleichterung derzeit noch ab von Melancholie und Sterbensangst. Die Lebensbilanz erscheint mir noch ein wenig zu fraglich, und der Ehrgeiz hofft, den ja auch auf mich wartenden Tod noch wenig bedrängend zu machen. Eine gewisse Unreife dieser Haltung gebe ich gern zu. Noch bin ich umgeben von Menschen, die mich brauchen. Vielleicht hilft es auch, durch ein ausgedehntes Sportprogramm gegen die lebenslange Anfälligkeit für Depressionen, eine mahnende Gebrechlichkeit und Altersbeschwerden noch hintanzuhalten. Da die Freude am Beruf durch die wachsende Erfahrung und Gelassenheit noch anwächst, möchte ich noch einige Jahre nicht allzu sterblich sein, bevor die von so vielen Menschen magisch geteilte Hoffnung auf Unsterblichkeit mich trösten muss. Ich liebe neben dem privaten auch das therapeutische Leben und wundere mich über Kollegen, die viel früher aufatmend aufhören mit dem Beruf. Mag sein, dass mich auch diese Begeisterung dabei unterstützt, die Gedanken an den eigenen Tod noch etwas aufzuschieben.

Todesangst um andere Angst vor dem Tod hat man meist vor dem eigenen. Da aber haltende und bergende menschliche Beziehungen, Liebe und Freundschaft, die Zaubermittel gegen die Angst vor dem Sterben sein sollen, möchte ich auf eine wichtige Variante hinweisen: die Angst um den Tod von anderen. Geläufig sind uns von Kriegen her, die Millionen von Söhnen und Lebenspartnern verschlungen haben, die Ängste um deren Sterben, düster untermalt oft von Bildern der Entstellung und Verstümmelung, Bilder, die die Siegespropaganda um jeden Preis aus der öffentlichen Sichtbarkeit herauszuhalten suchte. Eine ganz andere Art von Fremdtodesangst erlebe ich seit einigen Jahren bei der Behandlung von Müttern, die mit einer einzigen Tochter (seltener einem Sohn) in symbiotischer, ja fast »siamesischer« Nähe verbunden sind. Sie haben ihr mit trauma-

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tischen Ängsten umgebenes eigenes inneres Kind delegiert an ihre heranwachsende Tochter, deren Ablösungsbewegungen ihr seelisches Gleichgewicht auf höchst bedrohliche Weise gefährden. Selbst kurze Trennungen oder Zeiten der telefonischen oder brieflichen Unerreichbarkeit wecken Panik über einen bevorstehenden oder bereits eingetretenen Untergang des Kindes. Die fatale Verbundenheit der seelischen Kreisläufe führt zu einem Gefühl, dass ein wichtiger Teil des eigenen Körpers durch die Trennung absterben könnte. Dies kann verbunden sein mit quälenden Schuldgefühlen: Ich habe versagt in der Erziehung, ich habe meinem Kind nur mein schlechtes seelisches Erbe angedeihen lassen. Ich spreche hier von einer »siamesischen Todesangst«, weil die notwendige Trennung als eine lebensgefährliche Operation erscheint. Es ist nicht leicht, diesen konvulsivischen Prozess gelassen zu begleiten: Er ist bei den Patientinnen begleitet von schweren Schlafstörungen, Erschöpfungszuständen, Panikattacken, Selbstwertverlust und sogar sich selbst verurteilenden suizidalen Wünschen. Da die Töchter diese Umklammerung spüren und fürchten, auch wenn sie für einige Jahre von ihr sogar narzisstisch profitiert haben, werden die Absetzbewegungen nur umso grausamer. Sie gleichen den Ausbruchsversuchen aus einer milde parasitären, im destruktiven Sinn sogar von Stacheldraht umschlungenen Verbindung, bei der jede ruckhafte Bewegung auf beiden Seiten nur neue Wunden aufreißt. Der drohende Seelentod kann für einige Jahre zum ständigen Begleiter werden, wenn nicht das eigene Leben, sondern nur das des symbiotischen Selbstobjekts gelebt wird.

Angst bei drohendem Tod von Ideologien, Systemen und Nationen Als letzte Fremdtodesangst will ich eine Form nennen, die auf einer symbiotischen seelischen Verschmelzung mit einer Ideologie, einer vergötterten Institution (Nation, Vaterland, Kirche) beruht: Das

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Ausmaß der mitunter fanatischen Identifikation lässt eine Bedrohung oder einen Untergang wie eine Urkatastrophe erscheinen, die das eigene Selbst mit in den Abgrund reißen könnte. Jüngstes dramatisches Beispiel: Der drohende und dann vollendete Untergang des Dritten Reiches hatte bei unzähligen, ehedem zutiefst gläubigen Anhängern Vernichtungsgefühle bis hin zu einer daraus erwachsenden Suizidwelle zur Folge. Im Vorstadium der Bedrohung zeigt sich bereits das Anwachsen einer ungeheuren Vernichtungsbereitschaft gegen Gegner der eigenen überhöhten Ideologie oder des politischen Systems, in einer Art apokalyptischer Todesangst um eine ursprünglich als rettend internalisierte und millionenfach verkörperte Idee. Ihr Tod wird symbolisch mit dem eigenen gleichgesetzt. Der Freitod bedeutet dann oft gleichzeitig eine Befreiung von unerträglicher Scham und von der Angst vor schmählicher Strafe, demütigender Verhaftung, Einkerkerung, Hinrichtung und der späten Rache des für ebenso unmenschlich gehaltenen Feindes.

Trennungsangst als Sterbensangst Trennungsängste von Patienten zu bearbeiten ist für Psychotherapeuten tägliches Brot. Bei vielen älteren Patienten geht es in späteren Jahren auch um den vielleicht noch fern geglaubten, aber anstehenden, vielleicht durch wohlversorgte Pflegebedürftigkeit verdeckten Zeitpunkt ihres Todes. Natürlich ängstigt kommendes Sterben durch das Gefühl des Verlusts von Vertrautheit, Sicherheit und Geborgenheit. Aber es mischen sich auch ganz andere Ängste darunter, nämlich bohrende Fragen zur Bilanz aller nahen Beziehungen wie: »Was hat die Beziehung mir und ihnen bedeutet?« »Waren wir uns wirklich nah?« »Haben wir uns überhaupt gekannt?« »Was bleibt oder blieb ungesagt?« »War die Fremdheit Schicksal?« »Was bleibt von dunklen Familiengeheimnissen?« Die Angst vor dem Ungesagten ist oft so mächtig, dass ich mit manchen Patienten übe, was noch aus- oder angesprochen werden müsste, um das lastende Schweigen zu mildern oder zu brechen.

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Ausgangspunkt ist meine eigene Erfahrung mit dem Ausmaß des Ungesagten zwischen mir und meinen Eltern, das eine schwer auszuhaltende Trauer hinterließ. Die bitterste Erkenntnis, die ich nach dem Tod beider Eltern ertragen musste, lautete: »Wir haben uns weitgehend verfehlt.« Das »Große Schweigen« nach dem Dritten Reich in den Familien war ein generationenübergreifendes Thema. Eine gegenseitige Verfehlung, die den Abschied und das Sterben schwer machen kann, enthält einige Unterthemen: unausgesprochener Dank und unausgedrückte Wut, die als Groll schon Jahrzehnte vor dem Tod und Jahrzehnte danach eine wirkliche seelische Ablösung verhindern. Die oft gehörte Frage nach von Streit und Unfrieden durchzogenen Beziehungen lautet: »Muss ich mich eigentlich mit den Eltern versöhnen?« Manche therapeutischen Denkschulen legen es fast drängend nahe, als ob die Frage allein dem Willen unterläge. Viel wichtiger erscheint mir die Frage, wie viel Klarheit erreicht worden ist. Deshalb betrachte ich aus der eigenen Erfahrung heraus meine therapeutische Aufgabe als die eines dolmetschenden Regisseurs mithilfe von Rollenspiel, bei der mir die Gestalttherapie viel vermittelt hat. Die Fragen an die Patienten lauten etwa: »Was möchten Sie der im Raum symbolisch präsent gemachten Person noch sagen, im Guten und im Bösen?« Oft treten starke Gefühle von unerfüllter Liebe, von Dankbarkeit, Fremdheit, Wut, auch Hass zutage. Der Prozess kann sogar längere Zeit in Anspruch nehmen, aber die Beziehung erscheint auf einmal »gereinigt« vom Ungesagten, wenn die Angst überwunden ist, die der uralte Spruch »De mortuis nil nisi bene!« in veränderter Form auch vielen Kindern in Bezug auf die Eltern bereitet. »Nie hätte ich mich das alles zu ihnen zu sagen getraut.« Dabei schwelte das Ungesagte durch die gemeinsamen Lebensjahre und noch die Jahre danach und ließ die Verstorbenen nicht wirklich sterben. Ich habe selbst noch oft von alt gewordenen eingeschüchterten Kindern gehört: »Wer die (kritische) Hand gegen die Eltern erhebt, dem wächst sie aus dem Grab.« Wenigstens die Schuld blieb unsterblich.

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Wiedersehen im Jenseits gegen Sterbensangst Einer der wirkmächtigsten Mythen gegen die Sterbensangst war und ist der christliche Glaube an ein Wiedersehen »der Lieben« im Jenseits. Die Verstorbenen warten dort bereits auf den noch auf Erden Lebenden. Hier überlebt ein Glaube, nach dessen vernunftgeleiteter Möglichkeit bei Sterbenden zu fragen manchmal fast unbarmherzig erscheint und der gegen eigenes Nachdenken resistent ist, weil er als letzter Trost gegen die Trennungsangst gebraucht wird. Kein Gedanke daran, wie man sich das Zusammensein der Milliarden Verstorbener vorstellen soll, auch kein Gedanke daran, wie das dortige Zusammenleben aussehen soll: Was nimmt jeder als Eigenschaften mit ins Jenseits, die trotz vieler geglückter Beziehungen vielen das irdische Leben bereits zur Hölle gemacht haben? In welcher Altersgestalt wird man sich begegnen nach der phantasierten leiblichen Auferstehung beim jüngsten Gericht? Die Hoffnung auf den Erhalt der alten Bindungen mindert die Todesangst und gibt seelische Sicherheit auch dann, wenn sie auf Erden nur höchst bruchstückhaft zu finden war. Die Worte »Erlösung« und »Heimkehr« umgibt noch immer ein rettender Zauber, den der ungläubige Therapeut vielleicht nicht um jeden Preis hinterfragen soll, nicht nur bei alternden kirchlich Gläubigen und deren Hoffnung auf ein seliges Wiedersehen. Von Hunderten von Oberschülern, die im Religionsunterricht Aufsätze über mein Buch »Gottesvergiftung« (1976) schreiben mussten, kamen bedrängte und bedrängende Anfragen, wie ich es aushielte, ohne göttlichen Trost zu leben und zu sterben, und ob ich meinen atheistischen Hochmut wohl auch durchhalten werde, wenn es ans Sterben geht. So wurde ich immer wieder brieflich an meinen Tod gemahnt und wurde mutiger, in Therapien nach Vorstellungen über Tod und Sterben zu fragen, auch wenn es mich nicht selbst aktuell bedrängte.

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Über das Sterben sprechen mit Patienten Irving D. Yalom (2010) hat über dieses Thema ein eigenes Buch geschrieben, um die Kollegen zu ermahnen, die Frage nach den Todes- und Sterbensvorstellungen ihrer Patienten nicht zu vergessen: »In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet.« Er hält es sogar für seine Pflicht, auch hinter ganz anderen Ängsten seiner Patienten in den verschiedensten Lebensphasen nach Spuren der Todesangst zu fahnden. Er selbst macht keinen Hehl daraus, dass eigene Todesängste ihm das therapeutische Thema aufgedrängt haben. Er nennt es »existentiell«, tadelt die »Todesvergessenheit« analytischer Ausbildungen und wundert sich über das Verstummen des kollegialen Gesprächs, wenn er auf die Frage nach seinem neuesten Werk die Todesangst nennt. Das Buch ist, anders als bei seinen früheren Werken, im amerikanischen Fallgeschichten-Plauderton verfasst, aber er schließt es mit beherzigenswerten Gedanken: Er verlange immer eine genaue Schilderung der Ängste, »aber schauen Sie direkt hin, erzählen Sie mir, was ängstigt Sie ganz speziell am meisten am Sterben?« (S. 200), und stößt auf eine Fülle von Bildern, abgesehen vom bildlosen und namenlosen Grauen, das es auch gibt. Er entdeckt eine larvierte Todesangst aber auch hinter vielen neurotischen Alltagsängsten, die die tiefere Furcht nur verhüllen sollen. Er plädiert für eine große Offenheit des Therapeuten, auch im Hinblick auf eigene Probleme mit der Sterblichkeit: »Wenige Vorschläge, die ich Therapeuten mache, sind so beunruhigend wie mein Drängen, mehr von sich preiszugeben. Es geht ihnen durch Mark und Bein. Es beschwört das Schreckgespenst des Patienten herauf, der in ihr persönliches Leben eindringt« (S. 230). Aber darüber stehen, fast apodiktisch formuliert, die mahnenden Sätze vor allem an junge Kollegen: »Sie sollen sich nur offenbaren, wenn die Enthüllung für den Patienten wertvoll ist« (S. 230). Und: »Offenbaren Sie sich nur, wenn es die Therapie voranbringt, und nicht aufgrund von Druck seitens des Patienten oder aufgrund der eigenen Bedürfnisse oder Regeln« (S. 232). Er musste sich intensiv auseinandersetzen mit der gläubigen Frömmigkeit vieler amerika-

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nischer Patienten, die erst einmal fassungslos sind, wenn ihr Analytiker das Leben ohne Gott auszuhalten scheint. Seine Diagnose zur Präsenz des Todesthemas in der Psychoanalyse: »Ich begann dieses Buch mit der Beobachtung, dass Todesfurcht selten in den Diskurs der Psychotherapie eingeht. Therapeuten vermeiden das Thema aus einer Reihe von Gründen: Sie leugnen die Präsenz oder die Relevanz von Todesfurcht; sie behaupten, dass Todesfurcht in Wirklichkeit Furcht vor etwas anderem sei; sie mögen fürchten, ihre eigenen Ängste zu entfachen; oder sie fühlen sich vielleicht zu ratlos oder verzweifelt angesichts unser aller Sterblichkeit«. Dagegen hält er fest: »Dem Tod ins Gesicht schauen, unter Anleitung, bändigt nicht nur die Angst, sondern macht das Leben ergreifender, kostbarer, vitaler. Eine solche Herangehensweise an den Tod führt zu einer Anleitung für das Leben« (Yalom, 2010, S. 258, S. 262). Diese Sätze haben mir Mut gemacht bei der Begleitung einer Patientin, die sich selbst lange seelisch langweilig und leer fand und mit der ich kaum eine Änderung erreichte. Sie geriet, als verwöhntes Kind und spätere geschiedene Ehefrau ohne Beruf, zum ersten Mal auf der Suche nach einem sozialen Engagement fast zufällig in eine Ausbildung zur Sterbebegleitung. Das wiederholte Erleben des endgültigen Abschieds rückte viele verdrängte und ungenutzte Gefühle neu zurecht und schenkte ihr eine unverhoffte neue Teilnahme und Anteilnahme am Leben.

Verweigerte Anteilnahme bei Krankheit und Tod des Analytikers Mir wurde durch einen befreundeten Kollegen eine von ihm mit sehr viel Leid und Verbitterung erlebte Geschichte erzählt: Sein älterer Therapeut offenbarte ihm ohne weitere Vorbereitung, dass er schwer an Krebs erkrankt sei und deshalb wegen der Verlegung in die Klinik die Behandlung sofort beenden müsse. Die Auskunft war ein Schock für den Kollegen und hielt ihm die zahlreichen Situationen vor Augen, in denen er um das Wohlbefinden und das

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Aussehen des Analytikers besorgt gewesen und diese Besorgtheit in großer Scheu auch einige Male geäußert hatte. Der hatte ihn auf die Übertragungsspur verwiesen, auf der natürlich viel zu finden war über Krankheiten der Eltern und Sorgen über deren Verlust. Tatsächlich hatte er damit aber seinen Patienten mit dessen Wahrnehmungen und beunruhigten Gefühlen abgewiesen. Er hatte eine falsche Normalität des Behandlungsprozesses durchgesetzt und am Ende wie in einem verzweifelten Ausbruch und Geständnis dessen abruptes Ende herbeigeführt. Dem Freund wurde die innere Anteilnahme an der Krankheit verweigert: berechtigte Sorge, Ängste, Trauer, Mitgefühl, ein vertieftes Durcharbeiten des Abschieds von den Eltern sowie die aktuelle Konfrontation mit der Erkrankung des Analytikers und dem leidvollen Abschied von ihm. Er konnte ihm zugute halten, dass vermutlich eine extreme Scham, mit der die Krebserkrankung immer noch umgeben sein kann, ihn an der notwendigen Offenheit gehindert hat und die Angst davor, den drohenden Tod anzusprechen; eine »Politik der Schonung« dem Patienten gegenüber, die dem Analytiker selbst eine unendliche Disziplin des Schweigens abforderte. Denn der junge Kollege musste aus seiner eigenen Geschichte heraus in einer Mischung aus Übertragung und realer Wahrnehmung das Thema unbarmherzig immer wieder ansprechen und virulent halten. Rückblickend verfiel er in Schuldgefühle, als er sich klar machte, was er und der Analytiker sich gegenseitig zugemutet hatten. Zum Schuldgefühl und zur Beschämung gesellte sich Bitterkeit über die Unaufrichtigkeit, unter der sich vielleicht für lange Monate die Behandlung hingeschleppt hatte. Und diese wiederum konfrontierte ihn heftig mit der Einsicht, in welchem Maß von Unaufrichtigkeit seine eigene Familie im Umgang mit Krankheit und Tod gelebt hatte. Um solche Katastrophen zu vermeiden, haben die therapeutischen Verbände Altershöchstgrenzen angemahnt oder vorgeschrieben, nach denen Lehranalytiker keine Lehranalyse mehr beginnen sollten. Das Thema ist mir nie in öffentlicher Diskussion begegnet. Wir waren angewiesen auf Umfragen bei betroffenen Kollegen, denen Ähnliches begegnet ist. Wir betreten damit vielleicht

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ein noch vermintes Gelände, in dem es um Erkenntnisse geht, wie Psychoanalytiker mit dem Problem der Sterblichkeit ganz allgemein, aber eben auch in besonderen Fällen lebensgeschichtlicher Dringlichkeit umgehen sollten. Dass Offenheit und Wahrhaftigkeit zusammengehen, ist klar, aber der Weg kann in vielen Fällen hart und dornig sein, und er sollte, wenn nicht formell gelehrt, so doch in Ausbildung und in kollegialem Kreis immer wieder thematisiert werden. Günther Bittner hat sich in seinem kleinen Buch »… von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (2012) mit Freuds (theoretischer) Haltung zum Tod auseinandergesetzt, aber, anders als in seinem früheren Beitrag »Hiob bleibt un-erhört« (2009), darin das Problem nicht angesprochen, warum Freud keinen Hinweis darauf hinterlassen hat, wie er in seinen Analysen mit seiner jahrelangen Krebserkrankung umgegangen ist.

Über die Ungeeignetheit der klassischen Psycho­ analyse für das Todesthema Natürlich kann man im therapeutischen Austausch von Einfühlung und Worten in Behandlungen viel über Todesängste sprechen, und Yalom hat sicher eine richtige Richtung gewiesen, als er sich die Ängste so detailgetreu wie möglich beschreiben ließ, um auf biographische Hintergründe und verschleiernde Einkleidungen zu stoßen. Aber schon bei Gottesübertragungen hat sich der Raum für Übertragung und Gegenübertragung für den gewöhnlichen Analytiker, der bei der täglichen Arbeit nicht sehr religionszugewandt dachte, als sehr begrenzt erwiesen. Schon Heinz Kohut hat auf die Schwierigkeiten, mit Gottesübertragungen umzugehen, humorvoll hingewiesen (mündliche Mitteilung). Da kann zu viel Narzissmus und Omnipotenz im Therapeuten angesprochen werden, zu viel Scheu vor der so ungewohnten Intimität einer vielen Analytikern unbekannten Beziehung zu Gott. Und zu viel Scheu und Scham beim Patienten wie beim Therapeuten hindern Letzteren, das Abenteuer dieser Übertragung überhaupt einzugehen und auf dem Thema zu bestehen.

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Aber wie nun bei Sterbens- und Todesangst? Der Tod ist nicht nur für viele Menschen eine anonyme Macht, sondern er wurde in der Geschichte auch personifiziert dargestellt und angesprochen, man denke nur an die vielen Darstellungen durch alle Kunstepochen als den Mann mit der Sense, der sich heimtückisch nähert, oder verharmlosend als »Freund Hein«. Wie soll man diese unheimlichen Mächtigen in die Übertragung bringen, die doch ein oder der Königsweg der Bearbeitung ist? Soll man im Analytiker den Sensenmann erkennen? Oder den Träger apokalyptischer Bedrohung? Den Erlöser von einem unerträglichen Leben? Man kann sich Freuds Scheu vorstellen, seinen jahrzehntelangen Krebs konkret oder symbolisch zu benennen. Oder die Qual, immer wieder angesprochen zu werden auf sein sicher oft blasses und schmerzverzerrtes Gesicht, wenn wieder eine seiner zahlreichen Operationen bevorstand. Wer als Patient nicht vollkommen umnebelt war durch eine undurchdringliche Idealisierung, musste wenigstens bei der kurzen Begrüßung etwas bemerken von seinem Zustand, in dem er sich, erst recht in späten Jahren, in den Behandlungen nie von Angesicht zu Angesicht angestarrt wissen wollte. Er war kein Vorbild in der therapeutischen Behandlung des Todesthemas. »An Sigmund Freuds Biographie lässt sich beobachten, wie mit dem massenhaften Töten und Sterben im Ersten Weltkrieg, mit der Sorge um seinen an der Front stehenden Sohn Martin, mit dem Tod seiner Schwester Sophie wie mit seiner eigenen Krebserkrankung der Tod zum zentralen Thema wird (›Todestrieb‹). Der Tod der anderen und die sich aufdrängenden Zeichen seines eigenen Todes bestimmten sichtbar nicht nur sein Lebensgefühl, sondern auch seine thematischen Schwerpunkte. […] Darauf, welchen Einfluss seine persönliche Todesthematik auf seine Analysen hatte, sind wir auf Vermutungen angewiesen« (aus dem Brief des Herausgebers an die Autorinnen und Autoren dieses Buchs). Soweit mir bekannt ist, ist in kaum einer der vielen Analyseberichte seiner Patienten und Lehrkandidaten etwas überliefert über seinen therapeutischen Umgang mit dem Todes-, Krankheits- und Sterblichkeitsthema innerhalb des analytischen Prozesses. Und weil viele

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der späten kollegialen Patienten wohl Bescheid wussten um seine Erkrankung, waren Scheu und Schonung angesagt. Könnte dies ein Grund sein für die Scheu vor dem Todesthema in der psychoanalytischen Ausbildung und der psychoanalytischen Praxis? Die Reflexionsunwilligkeit vieler Analytiker kommt sicher noch dazu. Aber müssen wir den ewigen Spielregeln seiner späteren Kodifizierung der Neutralität und der eigenen realen und symbolischen Unsichtbarkeit hinter der Couch folgen? Ist es therapeutisch sinnvoll und zulässig, den Tod herauszunehmen aus dem Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung, die für den Großteil der Neurosen, aber viel weniger für schwere Traumatisierungen wichtig sind? Es gibt hilfreiche Anleihen bei anderen Therapieformen, etwa der Gestalttherapie, die aus der Sackgasse herausführen könnten. Wie Gott ist auch der Tod, sind die Bilder von ihm, sind seine bedrohlichen Gespenster wie seine Introjekte ansprechbar im Gegenüber, in der direkten Konfrontation, im Rollenspiel, bei dem der Therapeut Hilfestellung gibt, notfalls mit körperlicher Unterstützung, wenn die Ängste überwältigend zu werden drohen. Der Gehorsam gegenüber den altvertrauten Spielregeln der klassischen Analyse ist beim Thema Sterblichkeit zum Gefängnis geworden.

Die Urkatastrophe: Geburt und Todesangst Auch für Freud formte die Geburt die Urmatrix aller Ängste. Aber das mögliche Trauma kennt tausend Formen: vom qualvollen Tod des Säuglings und manchmal auch der Mutter, über verschiedene Formen der Quetschung, Beinahe-Erstickung, Lähmung, Verstümmelung usw., bis hin zur lebensspendenden Kooperation zwischen Mutter und Kind, bis sie sich aufatmend sozusagen in den Armen liegen, mit stimulierenden Erfolgserlebnissen auf beiden Seiten. Wie kann die Psychoanalyse umgehen mit diesen Primärerfahrungen mit Sterblichkeit und Todesnähe, bis der erste Schrei vom Überleben kündigt, das in früheren Zeiten mit beherztem Klaps auf den Popo gefördert wurde? Wie soll die bedrohliche Konvul-

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sion der großen Passage, die sich zwischen Sturzgeburt und tagelangem Steckenbleiben, Kaiserschnitt und Saugglocke, Steißlage und mütterlicher Erstarrung oder Erschlaffung in Übertragung und Gegenübertragung ereignen kann, eingebracht werden? Was fängt die Psychoanalyse mit den archaischen körperlichen und protopsychischen Gefühlsqualitäten an, die in lebensermutigender oder lebensbedrohlicher Qualität alle Menschen in sich tragen? Vielleicht hängt die Hilflosigkeit der klassischen Psychoanalyse dem Todesthema gegenüber mit der gehorsamen Beschränkung auf den immer erneut idealisierten Austausch von Worten zusammen. Die fast berührungslose Parallelarbeit zwischen einer Reihe von Körpertherapieformen sowie den inszenierenden Therapien und der klassischen Psychoanalyse verfestigt die wechselseitige partielle Blindheit und die mangelnde Kooperation, bei beiderseitiger Erhaltung einseitiger Omnipotenzphantasien. Nicht zuletzt das Thema von schwerer Krankheit und Tod könnte eine wünschenswerte Kooperation der verschiedenen Therapieformen fördern. Es scheint eine fast biologisch verankerte Bereitschaft oder Neigung zu geben, Schwerkranken oder Sterbenden die Hand zu reichen oder zu halten, weil deren Körpergefühle wieder eng an die früheste Todesangst heranführen.

Übertragung, Assoziation und freie Symbole Eine ganz neue Perspektive eröffnet der mutige Versuch von HansVolker Werthmann (2013), den von Freud später als »verwahrlost« bezeichneten und von den Nachfolgern gehorsam gemiedenen Zeitgenossen Wilhelm Stekel teilweise zu rehabilitieren. Freud hatte ihn zunächst ob seines intuitiven Einfallsreichtums geschätzt, später als »unwissenschaftlich« abgetan, worauf er, ähnlich wie Ferenczi, auch von Ernest Jones verleumdet wurde. Denn Freud bestand darauf, »Deutungen nur aus den Assoziationen des Patienten zu gewinnen« (Werthmann, 2013, S. 44), nicht aber aus bereits vorhandenen Symbolen, wie Stekel vorschlug. Der hatte, wie Freud durch-

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aus anerkannte, dafür ein besonderes Gespür, insbesondere für Todessymbole. Nach Werthmann hatte Stekel folgendes Argument vorgetragen: »Die Freudsche Technik der Assoziation zu Traumdetails versagt, wenn es sich um Traumsymbole handelt, die nicht individuell zu verstehen sind, sondern einer quasi allgemeinen Traumsprache entstammen« (S. 42). Nun hat Stekel in mehreren Kapiteln eine bedeutende Zahl von Todessymbolen aneinandergereiht, die deshalb so hilfreich erscheinen, weil selbst im Traum ein besonderer Widerstand gegen das Auftauchen von Assoziationen zu Tod und Sterben besteht, ein Grund mehr, der klassischen Psychoanalyse im Hinblick auf den Umgang mit ihnen nicht allzu viel zuzutrauen. Nicht umsonst hat Yalom die insistierende Nachfrage nach der Todesangst zu seinem Programm gemacht, weil Patienten das Thema sozusagen instinktiv vermeiden, ebenso wie viele Therapeuten. Infolge seines streng wissenschaftlichen Anspruchs hat Freud die Stekel’sche »Intuition« für Symbole abgelehnt, denn: »ihre Leistungsfähigkeit ist jeder Kritik entzogen, und ihre Ergebnisse haben daher auf Glaubwürdigkeit keinen Anspruch« (Freud, 1900a, S. 355, zit. nach Werthmann, 2013, S. 43). Er zweifelt an der intuitiven Methode Stekels, weil es ihm darum geht, sein psychoanalytisches Denken aus der Subjektivität zu befreien. Werthmann zitiert die hoch ambivalente Äußerung Freuds gegenüber dem später aus dem frühen Kreis ausgeschlossenen Abtrünnigen: »Dieser Autor, der der Psychoanalyse vielleicht ebenso viel geschadet als genützt hat, brachte eine große Anzahl von unvermuteten Symbolübersetzungen vor, die anfänglich nicht geglaubt wurden, später aber größtenteils Bestätigung fanden und angenommen werden mussten« (Freud, 1900a, S. 355, zit. nach Werthmann, 2013, S. 43). So blieb es C. G. Jung und seinen Schülern vorbehalten, mit dem Reichtum der in vielen Kulturen vorhandenen Symbole ganz anders umzugehen und damit psychisch den Tod durch äußere wie innerlich vorgefundene Symbole zugänglich zu machen. In der körpertherapeutischen Fortbildung bei Albert Pesso (vgl. Pesso, 1991; Moser u. Pesso, 1998) habe ich oft erlebt, wie er bei suizidalen Neigungen, Todessehnsucht und Todesangst, den Tod durch einen Teilnehmer darstellen ließ. Der verwandelte sich, wenn

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der Protagonist sich ihm näherte, regelmäßig in eine bergende Mutter, die umfassenden Schutz bot. Auch in der Gestalttherapie lässt sich der Tod auf einem leeren Stuhl oder einem leeren Platz symbolisieren und direkt ansprechen, sodass die gefürchteten oder abgewehrten Gefühle erlebbar werden und sich ausdrücken lassen. Selbst der Analytiker hinter der Couch kann den Patienten ermutigen, zum Tod als vorgestellter Gestalt zu sprechen, um sich der Gefühle bewusst zu werden. Die Konfrontation durchbricht die Abwehr und ermöglicht die Arbeit an den Todesbildern. Dadurch erkennt der Therapeut auch leichter seine eigene Abwehr in der Gegenübertragung gegenüber latent bleibenden Todesbildern beim Patienten und kann Stagnation, Hilflosigkeit und ausweichende Deutungsarbeit auf einer falschen Ebene vermeiden.

Literatur Bittner, G. (2009). Hiob bleibt un-erhört. Leiden gehört zum Leben. In I. Biendarra, L. Horch (Hrsg.), Lebenswege. Im Labyrinth des Lebens (S. 201–226). Würzburg: Echter. Bittner, G. (2012). »… von seiner Unsterblichkeit überzeugt«. Unzeitgemäßes über Tod und ewiges Leben. Würzburg: Königshausen & Neumann. Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. G. W. Bd. II/III. Frankfurt a. M.: Fischer. Moser, T. (1976). Gottesvergiftung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Moser, T., Pesso, A. (1998). Strukturen des Unbewußten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Pesso, A. (1991). Dramaturgie des Unbewußten. Stuttgart: Klett-Cotta. Wertmann, H. V. (2013). Wilhelm Stekel – ein vergessener Pionier der Psychoanalyse und der Sexualforschung. In B. Janta, B. Unruh, S. Walz-Pawlita (Hrsg.), Der Traum (S. 37–50). Gießen: Psychosozial-Verlag. Yalom, I. D. (2010). In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. München: Goldmann.

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Bernd Nitzschke

»Wir und der Tod« – hundert Jahre später Ein Nachtrag zu einem Vortrag Sigmund Freuds aus dem Ersten Weltkrieg

Das Todesproblem steht nach Schopenhauer am Eingang jeder Philosophie. Sigmund Freud (1912–13a, S. 108) Dem Psychologen aber ist die Trauer ein großes Rätsel, eines jener Phänomene, die man selbst nicht klärt, auf die man aber anderes Dunkle zurückführt. Sigmund Freud (1916a, S. 360)

Warum Krieg Am 28. Juni 1914 werden in Sarajevo Franz Ferdinand, der Thronfolger des Habsburger Reiches, und seine Frau Sophie von einem Anhänger der großserbischen Idee ermordet. Am 28. Juli erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Deutschland kämpft an der Seite der k. u. k. Monarchie, Russland, Frankreich und Großbritannien nehmen Partei für Serbien. Sigmund Freud schreibt an Karl Abraham: »Es ist eine große und schreckliche Zeit« (Freud u. Abraham, 2009, I, S. 431). Abraham berichtet aus Berlin: »Die Stimmung ist hier ganz zuversichtlich. […] Wir harren jetzt auf große Ereignisse im Osten […]. Das Zusammenarbeiten von Deutschen und Österreichern wird gewiß auch hier zum Ziele führen. Dann bleibt England noch zu erledigen; doch wir hoffen auf Krupp und Zeppelin« (Freud u. Abraham, 2009, I, S. 436 f.). Freud teilt aus Wien mit, wenn man die Engländer in die Knie zwingen wolle, müsse

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man »[n]och ein paar Überdreadnoughts [gemeint sind englische Schlachtschiffe – B. N.] versenken oder einige Landungen durchsetzen, sonst gehen denen die Augen nicht auf« (S. 449). Als der deutsche Hauptmann Heinrich von Helldorff an die Front abkommandiert wird, schreibt er an seine Frau: »Enorme Begeisterung überall. Wenn Du noch dabei wärst [bei der Fahrt an die Front – B. N.], wäre es die schönste Reise, die ich je gemacht habe« (Deutschlandfunk, 2013). Auch in Österreich-Ungarn herrscht Hochstimmung. Am 18. August 1914 schreibt Martin Freud an seinen Vater: »Ich freue mich übrigens, seit ich Soldat bin, auf[s] erste Gefecht wie auf eine spannende Hochtour« (zit. nach Freud, 2010, S. 138). Ernst und Oliver, die beiden anderen Söhne, freuen sich ebenfalls. Sigmund Freud kommentiert ihre Zustimmung zum Kriegseinsatz mit den Worten: »Für die Jungen bedeutet das nichts als eine Wunscherfüllung« (Freud u. Abraham, 2009, I, S. 435). Mag sein, dass er sich, als er dies niederschrieb, an Niels Lyhne erinnerte, jenen Romanhelden, mit dem er sich identifizierte (Nitzschke, 1996a), als er selbst jung war. Niels Lyhne, dem nach einer unglücklichen Liebe sein Leben nichts mehr wert zu sein schien, hatte sich entschlossen, als Held in Erinnerung zu bleiben, das heißt, er starb auf dem Feld der Ehre. Am Ende des Großen Krieges sind Millionen Menschen tot, verwundet, heimatlos, traumatisiert – bei Martin Freud hält die Begeisterung für das Militärische jedoch weiter an: »Ich polierte meine Medaillen, und es gelang mir, die anderen Teile meiner Uniform zu finden, einschließlich der Handschuhe, der Mütze, des Paradeschwertes und anderem Zubehör« (M. Freud, 1999, S. 213). So ausstaffiert salutiert der vormalige k. u. k. Oberleutnant am Grab von Engelbert Dollfuß, der im Juli 1934 von einem österreichischen Nationalsozialisten ermordet wurde. Der »größere Teil« der Bevölkerung Wiens bleibt, dem austrofaschistischen »DollfußRegime feindlich gesonnen« (S. 215), dem Begräbnis des Mussolini-Anhängers allerdings fern. Zu diesem Zeitpunkt hat Sigmund Freud den deutsch-österreichen Patriotismus, der ihn zu Beginn des Ersten Weltkriegs befal-

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Bernd Nitzschke

len hatte, längst überwunden. Jetzt schreibt er in einem Brief, mit dem er sich im Mai 1926 bei den Mitgliedern des B’nai B’rith (er gehört diesem jüdischen Logenverein seit dem 29. September 1897 an – Nitzschke, 1991) für die Glückwünsche zu seinem siebzigsten Geburtstag bedankt: »Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben« (Freud, 1960, S. 381). Einige Jahre später stellt ihm Albert Einstein die Frage: »Warum Krieg?« Darauf antwortet Freud: »Sie verwundern sich darüber, daß es so leicht ist, die Menschen für den Krieg zu begeistern, und vermuten, daß etwas in ihnen wirksam ist, ein Trieb zum Hassen und Vernichten, der solcher Verhetzung entgegenkommt« (1933b, S. 20). Ja, es gebe diese »Lust an der Aggression und Destruktion« (S. 21), weil es einen »Todestrieb« gebe (S. 22), dessen Wendung nach außen als Entlastung erlebt werde, während die Wendung der Aggression nach innen (Autodestruktion) Zeichen des kulturellen Fortschritts sei, der sich als Gewissen manifestiere. Und dann stellt Freud eine rhetorische Frage an Albert Einstein: »Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden?« (S. 26).

Vom Tod des Leibes und der unsterblichen Seele Mit Einführung des Todestriebes in die psychoanalytische Theorie (Freud, 1920g) kehrt sich alles um: Galten bislang die Sexualtriebe als Bedrohung für die Grenzen und die Organisation des Ich, so wird jetzt Eros als Garant des Organismus und der Gemeinschaft wahrgenommen, während Thanatos die Menschen auf einer Fahrt begleitet, bei der sie mit dem Schiff des Lebens im Ozean der stürmischen Gefühle zwischen Szylla (Fremdaggression) und Charybdis (Autoaggression) manövrieren müssen – um schließlich doch am Ufer des Todes zu landen. Am 16. Februar 1915 (also nur wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs – und fünf Jahre vor Einführung des Kon-

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zepts des Todestriebes) hält Freud in der Loge »Wien« einen Vortrag. Er spricht über das Thema »Wir und der Tod« (1915i/1991). Freud stellt bei dieser Gelegenheit nüchtern fest: »Noch heute ist ja das, was unsere Kinder als Weltgeschichte in der Schule lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden« (1915i/1991, S. 136). Und er fügt hinzu: »Wir sind die Nachkommen einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern. Die Mordlust steckt uns im Blute« (S. 139). Der Vortrag wird im »Zweimonats-Bericht für die Mitglieder der österr. israel. Humanitätsvereine ›B’nai B’rith‹« veröffentlicht (1915i/1991). Mit geringfügigen Veränderungen erscheint er dann unter der Überschrift »Unser Verhältnis zum Tode« auch noch als zweiter Teil der Abhandlung »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (Freud, 1915b). Das sind die beiden Arbeiten, in denen Freud den Tod bereits im Titel beim Namen genannt hat. Das heißt aber nicht, dass er sich mit diesem Thema erst nach Beginn des Ersten Weltkriegs auseinandergesetzt hätte. So berechnete Freud schon zu der Zeit, als er noch mit Wilhelm Fließ befreundet war, »fast zwanghaft« die »möglichen oder voraussichtlichen Daten seines Todes« (Schur, 1973, S. 39), wobei er sich auf die Periodizitätslehre stützte, die Fließ entwickelt hatte (siehe zum Beispiel Freuds Brief an Fließ vom 29. September 1896 – Freud, 1986, S. 209). Max Schur hat die Bedeutung, die Krankheit und Tod in Freuds Leben und Werk hatten, detailliert aufgezeigt. So beschäftigte sich Freud etwa schon bei der Deutung des Non-Vixit-Traums (1900a, S. 424 ff.) mit dem »Schuldgefühl des Überlebenden« (Schur, 1973, S. 187 ff.), ein Thema, das für seine Theorie der Trauer so wichtig wurde. Der Tod – genauer: der Tod des Vaters – stand aber auch an der Wiege der Psychoanalyse. Als Freud 1909 an der Clark University (USA) Vorlesungen »Über Psychoanalyse« (1910a) hielt, referierte er kurz »die Krankengeschichte der Breuerschen Patientin«. Dabei stellte er Anna O. – also Berta Pappenheim (Nitzschke, 1990) – als Trauernde vor: »Alle ihre Traumen entstammten ja der Zeit, da sie den kranken Vater pflegte, und ihre Symptome können nur als Erinnerungszeichen für seine Krankheit und seinen Tod aufgefaßt werden. Sie entsprechen also einer Trauer, und eine

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Fixierung an das Andenken des Verstorbenen ist so kurze Zeit nach dem Ableben desselben gewiß nichts Pathologisches, entspricht vielmehr einem normalen Gefühlsvorgang« (Freud, 1910a, S. 12). Freud erklärt seinen Hörern an der Clark University die Bedeutung der Fixierung an schmerzliche Erlebnisse der Vergangenheit, die geschehen sind, aber nicht mehr erinnert werden können, weil der Trauerprozess abgebrochen wurde oder gar nicht erst in Gang gekommen ist. Da schmerzliche Erlebnisse und damit einhergehende Konflikte unvermeidbar sind, muss sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder mit derartigen Erlebnissen auseinandersetzen. Das gilt insbesondere für Trennungen von geliebten Menschen (im Extremfall durch Tod). Dann ist die »Trauerarbeit« (Freud, 1916–17g, S. 430), die der Bewältigung des Erlebten dienen soll, besonders schmerzlich – und konfliktreich. Solange sie anhält, ist das seelische Gleichgewicht latent bedroht. Wenn der Heilungsprozess – das ist die Trauerarbeit – erfolgreich verläuft, sind die Wunden vernarbt. Werden die Wunden hingegen durch Notmaßnahmen (notdürftige Abwehrmaßnahmen) verdeckt, schwären sie unter dem Notverband weiter – und machen sich bei jeder neuen Berührung schmerzhaft bemerkbar. Dieser Schmerz wird erlebt, er kann aber nicht verstanden werden, solange die Wunden nicht aufgedeckt werden und im Verlauf eines nachträglichen Trauerprozesses verheilen können. Freud führt zur Veranschaulichung des Gemeinten ein Gleichnis an: Seine Hörer sollten sich heutige Einwohner Londons vorstellen, die an Denkmälern – etwa am »Charing Cross«, das an den Tod der Königin Eleanor im 13. Jahrhundert erinnert, oder am »Monument«, das an das Feuer gemahnt, das 1666 große Teile Londons zerstörte – vorübergehen und dort, von Trauer überwältigt, in Tränen ausbrechen. Wie wäre das zu verstehen? Der Anblick dieser Denkmäler – Freud nennt sie »Erinnerungssymbole« (1910a, S. 11) – löst bei den fiktiven Londonern Schmerz aus, dessen Verursachung sie aber nicht kennen, weil sie die Verletzungen, die in ihrer eigenen Lebensgeschichte verborgen sind und in der auslösenden Situation erneut berührt werden, nicht (mehr) kennen. Sie haben sie verdrängt und damit der bewussten Erinnerung entzogen.

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So wie diese Londoner »benehmen sich aber die Hysterischen und Neurotiker alle; […] sie kommen von der Vergangenheit nicht los und vernachlässigen für sie die Wirklichkeit und die Gegenwart. Diese Fixierung des Seelenlebens an die pathogenen Traumen ist einer der wichtigsten und praktisch bedeutsamsten Charaktere der Neurosen« (Freud, 1910a, S. 12). Zusammenfassend heißt es dazu bei Freud, der die folgenden Worte während des Ersten Weltkriegs niederschrieb: »Ein Mustervorbild einer affektiven Fixierung an etwas Vergangenes ist die Trauer, die selbst die vollste Abwendung von Gegenwart und Zukunft mit sich bringt« (1916–17a, S. 285). Damit sich die Wunde, die eine ungewollte Trennung zurücklässt, schließen kann, muss der in der Außenwelt eingetretene Verlust in der Innenwelt nachvollzogen und akzeptiert werden, ein Vorgang, den Freud – mit Rückgriff auf libidotheoretische Annahmen – an anderer Stelle so dargestellt hat: »Die Trauer entsteht unter dem Einfluß der Realitätsprüfung, die kategorisch verlangt, daß man sich von dem Objekt trennen müsse, weil es nicht mehr besteht. Sie hat nun die Arbeit zu leisten, diesen Rückzug vom Objekt in all den Situationen durchzuführen, in denen das Objekt Gegenstand hoher Besetzung war« (1926d, S. 205). »Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben […]. Das Normale ist, daß der Respekt vor der Realität den Sieg behält« (Freud, 1916–17g, S. 430). Die Trauer ist dann zu Ende, wenn man nicht nur weiß, dass der geliebte Mensch in der Außenwelt nicht mehr vorhanden ist, sondern dieses Wissen auch emotional akzeptiert hat. Dann haben die Kognitionen und Emotionen, die mit dem Verlorenen verbundenen sind, Platz in einem – überwiegend guten – Erinnerungsbild gefunden. Der Verstorbene macht uns diese Arbeit aber nicht leicht. Schließlich hat sein Tod unseren Narzissmus zutiefst verletzt, gemahnt er uns doch an unsere eigene Sterblichkeit, an die wir nur ungern denken. Die letzte Kränkung, die er uns zugefügt hat, besteht schließlich darin, dass er den ewigen Frieden gefunden hat – während wir jetzt leiden müssen, weil er uns verlassen hat. Haben wir dem Verstorbenen nicht schon vor seinem Ableben den Tod gewünscht, wenn wir wieder einmal zornig auf ihn

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waren? Jetzt ist er tatsächlich tot. Jetzt ist der Gedanke Wirklichkeit geworden. Und wir versuchen jetzt alles, um seinen Tod ungeschehen zu machen: »An der Leiche der geliebten Person erfand er [der Mensch – B. N.] die Geister, ersann er die Zerlegung des Individuums in einen Leib und in eine – ursprünglich in mehrere Seelen. In der Erinnerung an den Verstorbenen schuf er sich die Vorstellung anderer Existenzformen, […] die Idee eines Fortlebens nach dem anscheinenden Tode« (Freud, 1915i/1991, S. 137).

Schuld und Sühne Sobald der Mensch die Frucht vom Baum der Selbsterkenntnis gegessen hatte, wusste er, dass er sterben muss. Also musste er über den Sinn des Lebens nachdenken. Und so hat er der Sinnlosigkeit des Todes die Phantasie vom ewigen Leben entgegengesetzt. Diese Phantasie haben die Menschen mit Gold verziert und überall auf der Welt in Stein gemeißelt – in Tempeln, Pagoden, Synagogen, Kirchen und Moscheen. Ist das realistisch? Nein, meinte Freud. Er bezeichnete ein Leben mit Gott als illusionäre Wunscherfüllung und forderte die Menschen dazu auf, ohne Gott menschlich zu leben. Sie sollten die ihnen von Natur aus gesetzten Grenzen mit Demut anerkennen und ihren Narzissmus begrenzen: »Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus, ins ›feindliche Leben‹. Man darf das ›die Erziehung zur Realität‹ heißen […]. Und was die großen Schicksalsnotwendigkeiten [zu denen der Tod gehört – B. N.] betrifft, gegen die es eine Abhilfe nicht gibt, die wird er eben mit Ergebung ertragen lernen« (Freud, 1927c, S. 373). Unser Sterben konfrontiert uns mit unseren Grenzen. Der Tod eines geliebten Menschen konfrontiert uns mit unserer Hilflosigkeit. Wie reagieren wir? Werden wir unsere Hilflosigkeit verleugnen? Flüchten wir über alle Grenzen in eine Phantasiewelt? Kompensieren wir unsere Schwäche mit himmelstürmender Macht? Für die Zeit, die vor dem Tod liegt, also für die Lebenszeit, hat Freud diese vorsichtig optimistische Haltung vorgeschlagen: »Dadurch,

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daß er [der Mensch  – B. N.] seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt. Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen [Heinrich Heine – B. N.] sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir/Den Engeln und den Spatzen« (1927c, S. 373 f.). Zu den unsterblichen Wünschen des Menschen gehört nun aber auch noch der Wunsch, die Feinde mögen sterben. Doch die Erfüllung dieses Wunsches bringt neues Unheil mit sich, das dann nur durch Sühne wieder geheilt werden kann: »[…] der wilde Sieger, der vom Kriegspfad heimkehrt, darf sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht sehen, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft langwierige und mühselige Bußen gesühnt hat. Sie werden sagen: ›Ja, der Wilde ist noch abergläubisch, er fürchtet die Geisterrache der Erschlagenen.‹ Aber die Geister der erschlagenen Feinde sind nichts anderes als der Ausdruck seines bösen Gewissens ob seiner Blutschuld« (Freud, 1915i/1991, S. 138). Anders aber verhalten sich die »zivilisierten« Krieger, die, nach »glücklicher Beendigung des jetzt tobenden Weltkrieges […] jeder in sein Heim, zu seinem Weib und seinen Kindern eilen, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die sie getötet haben im Nahkampf oder durch fernwirkende Waffen« (S. 138). Ja, die »Wilden«, sie waren weise! Sie hatten Riten, mit deren Hilfe sie sich mit den Geistern wieder versöhnen konnten, während die »Zivilisierten«, die nicht an Geister glauben, auf fremde Hilfe angewiesen sind, wenn sie aus dem Krieg zurückkehren und von allen guten Geistern verlassen feststellen, dass die »bösen« Geister doch noch immer aktiv sind. Das zeigen die Ergebnisse einer empirischen Studie über die Folgen des Kriegseinsatzes von Soldaten (in Afghanistan und anderswo) aus unserer Zeit. Demnach treten posttraumatische Belastungsstörungen zwar seltener auf, als gemeinhin erwartet, »Soldaten mit einer Vorgeschichte an affektiven Störungen« müssen aber damit rechnen, dass sie erneut an einer »depressiven Episode« erkranken. Und bei allen anderen Soldaten nimmt das Risiko für »Angststörungen« und »Alkohol-

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abhängigkeit« ebenfalls »massiv« zu (Hillenhof u. Büring, 2013, S. 554). Aber nicht nur wegen der tatsächlich erschlagenen Feinde müssen wir uns schuldig fühlen; auch wenn Menschen sterben, die wir lieben, sind wir geneigt, uns Vorwürfe zu machen. Denn selbst den »zärtlichsten und innigsten unserer Beziehungen hängt ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den unbewußten Todeswunsch anregt. […] Die Häufigkeit von überzärtlicher Sorge unter Angehörigen und von völlig grundlosen Selbstvorwürfen nach Todesfällen in der Familie hat uns über die Verbreitung und Bedeutung dieser tief versteckten Todeswünsche die Augen geöffnet« (Freud, 1915i/1991, S. 141). Das ist denn auch der Grund für »die regelmäßige neurotische Reaktion auf den Tod einer nahestehenden Person«, die bis zur »Selbstbeschuldigung« führen kann, man habe »diesen Tod verursacht« (Freud, 1933a, S. 131). Weil wir aus Gründen der Pietät nun aber keine Vorwürfe gegen den Verstorbenen erheben dürfen – de mortuis nil nisi bene –, kleiden wir sie in das Gewand der Selbstvorwürfe. Dann kann sich die normale Trauer »in eine pathologische verwandel[n]« (Freud, 1916–17g, S. 430). Das mag ja alles sein – doch was haben wir damit zu tun? Wir haben weder aus Ärger, geschweige denn aus Habgier je einem anderen Menschen den Tod gewünscht! Mit »dem Tode eines andern rechnet, an ihn denkt nur ein harter oder böser Mensch. Weichere und bessere Menschen, wie wir alle, sträuben sich gegen solche Gedanken, besonders dann, wenn uns aus dem Tode des andern ein Vorteil an Freiheit, Stellung, Vermögen erwachsen könnte« (Freud, 1915i/1991, S. 133). Ist es nötig, an dieser Stelle noch einmal auf das Anliegen des Aufklärers Sigmund Freud hinzuweisen, für den Selbsterkenntnis der Schlüssel zur Erkenntnis der Welt war? Freud hat doch schon im Vorwort zur 2. Auflage der »Traumdeutung« ein Bekenntnis abgelegt. Dort heißt es: »Für mich hat dieses Buch nämlich noch eine andere subjektive Bedeutung, die ich erst nach seiner Beendigung verstehen konnte. Es erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes« (Freud, 1900a, S. X).

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Ja, Freuds Werk ist eine großartige Komposition, in der er die Weise von Liebe und Tod in allen Tönen und Zwischentönen variiert hat, wobei der »Vatermord« das zentrale Motiv ist. Freud bezeichnete diesen Mord als »Haupt- und Urverbrechen der Menschheit wie des Einzelnen« (1928b, S. 406). In der Individualgenese steht dabei dem Wunsch des Kindes, der Vater möge sterben, der Wunsch entgegen, der Vater möge am Leben bleiben. Diesen Konflikt der Wünsche hat Freud nach dem Helden einer griechischen Tragödie benannt: Ödipus. Er ist der Held des Dramas der Selbsterkenntnis, bei dem – in »schrittweise gesteigerter […] Enthüllung« (Freud, 1900a, S. 268), die Freud mit der im Verlauf einer Psychoanalyse zu leistenden Arbeit verglichen hat – die schuldlose Schuld eines Sohnes aufgedeckt wird, dem der eigene Vater nach dem Leben trachtete. Ja, »wir sind die Nachkommen einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern. Die Mordlust steckt uns im Blute« (Freud, 1915i/1991, S. 139). Der Vatermord markiert den Übergang von der Natur- zur Kulturgeschichte. Die seelische Bewältigung dieser Mordtat ist – laut Freud – das agens movens der Moralgeschichte: »Das dumpfe Schuldgefühl, unter dem die Menschheit seit Anbeginn steht, das sich in manchen Religionen zur Annahme einer Urschuld, einer Erbsünde, verdichtet hat, ist sehr wahrscheinlich der Ausdruck einer Blutschuld, welche die Menschen der Urzeit auf sich geladen haben. Wir können noch aus der christlichen Lehre erraten, worin diese Blutschuld bestand. Wenn Gottes Sohn sein Leben opfern mußte, um die Menschheit von der Erbsünde zu erlösen, so war nach der Regel der Talion, der Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde eine Tötung, ein Mord. […] Und wenn die Erbsünde ein Verschulden gegen Gott-Vater war, so muß das älteste Verbrechen der Menschheit ein Vatermord gewesen sein, die Tötung des Urvaters der primitiven Menschenhorde, dessen Erinnerungsbild später zur Gottheit verklärt wurde« (Freud, 1915i/1991, S. 136). Schuld und Sühne – das ist nicht nur der Titel eines 1866 erschienenen Romans von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, das ist ein Titel, der auch über Freuds Lebenswerk stehen könnte. »Es ist kaum ein Zufall, daß drei Meisterwerke der Literatur aller Zeiten das glei-

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che Thema, das der Vatertötung, behandeln: Der König Ödipus des Sophokles, der Hamlet Shakespeares und Dostojewskis Brüder Karamasoff« (Freud, 1928b, S. 412). Als viertes »Meisterwerk der Literatur« wäre Freuds psychoanalytischer Roman zu nennen, der in Fortsetzungen erschienen ist. Freud bezeichnete den Ödipuskomplex als »Kernkomplex der Neurosen« (Freud, 1905d, S. 127, Anm. 1). Wer diesen »Grundpfeiler der Psychoanalyse« nicht akzeptiere, solle sich nicht »zu den Psychoanalytikern zählen« (Freud, 1923a, S. 223). Schuld und Sühne: Der Rebellion der Söhne folgte die Unterwerfung unter den verinnerlichten (kannibalisch verspeisten) Urvater. Durch den Übergang von der Natur zur Kultur wurde aus dem despotischen Urvater der liebe Gott. Wenn die Kinder Gottes dem Vater im Himmel – nachträglich – Gehorsam leisten, können sie mit seiner Milde rechnen: Über »jedem von uns wacht eine gütige, nur scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zulässt, daß wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte werden; der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum anorganisch Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz, die auf dem Wege der Höherentwicklung liegt« (Freud, 1927c, S. 340 f.). Religiöse Überzeugungen dienen aber nicht nur dem Ungeschehenmachen des Todes. Sie leisten auch Hilfe bei der Bewältigung der Schuldgefühle der Hinterbliebenen: »An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die Seelenlehre und der Unsterblichkeitsglaube, sondern auch das Schuldbewußtsein, die Todesfurcht und die ersten ethischen Gebote. Das Schuldbewußtsein ging aus dem zwiespältigen Gefühl gegen den Verstorbenen hervor, die Todesfurcht aus der Identifizierung mit ihm. Diese letztere war, logisch betrachtet, eine Inkonsequenz, da der Unglaube an den eigenen Tod doch nicht beseitigt wurde. In der Auflösung des Widerspruches sind auch wir modernen Menschen nicht weiter gekommen« (Freud, 1915i/1991, S. 138). Wir sind nicht weit gekommen, doch wir sind sehr weit gegangen, denn die Verleugnung des Todes gehört nicht mehr nur im religiösen Sinne zu unserer Kultur, sie ist längst zur Grundlage

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unserer Ökonomie geworden. Der Glaube versetzt inzwischen nicht mehr nur Berge, sondern auch noch Flüsse und Meere. Und so zerstören wir im Glauben an unsere Unsterblichkeit Berg für Berg, Fluss für Fluss, Meer für Meer und Stück für Stück unsere Lebensgrundlagen. Sollte es anstatt »Wir und der Tod« also nicht besser heißen: »Wir – und unser Unglaube an den Tod«? Wir wissen alle, dass wir sterben müssen – doch wir können es nicht glauben. Ähnlich ergeht es dem Raucher, der keine Angst verspürt, wenn er auf der Zigarettenschachtel liest, dass Rauchen tödlich sein kann. Am 6. November 1917 schrieb Freud an Ferenczi, er habe in seinem Mund »eine Steigerung der […] schmerzhaften Gaumenschwellung (Carcinom? etc.)« wahrgenommen. Dann »brachte mir ein Patient 50 Zigarren, ich zündete eine an, wurde heiter, und die Gaumenaffektion ging rapide zurück! Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es [der vermeintliche Rückgang der Geschwulst – B. N.] nicht so auffällig wäre« (Freud u. Ferenczi, 1996, S. 112). Freud hatte Leukoplakien an seiner Mundschleimhaut entdeckt, ein präkanzeriöser Zustand, den er so lange verleugnete – bis er sich nicht mehr verleugnen ließ. Im April 1923 war es dann soweit: Freud wurde am Gaumen operiert – und glaubte noch immer nicht an eine Krebserkrankung. Erst im September 1923 stand die Diagnose auch für ihn fest. Er wurde erneut operiert, erhielt eine Kieferprothese – und rauchte weiter, obgleich er jetzt »das Gebiß mit Hilfe einer Wäscheklammer aufstoßen« musste, wenn er »eine Zigarre zwischen die Zähne […] schieben« wollte (Jones, 1962, S. 126). Freud überstand mehr als dreißig Operationen (Jones, 1962, S. 114), bevor er am 23. September 1939 endlich sterben durfte – begleitet von seiner Tochter Anna und der Ärztin Josefine Stross (Nitzschke, 1996b). Max Schur, sein Leibarzt, hatte ihm die tödliche Morphiuminjektion verabreicht, als die Schmerzen unerträglich geworden waren. Freud ging an seiner Nikotinsucht zugrunde, deren Folgen er solange wie möglich ignoriert hatte. Kann man diesen Umgang mit der tödlichen Krankheit idealisieren? Ja, auch das ist möglich: »Freud hat uns mit seiner Tapferkeit im Umgang mit Krankheit, Schmerz und Tod ein Beispiel gegeben, das für jeden

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von uns schwer zu verarbeiten ist. Siebzehn Jahre lang hat er mit seinem Gaumenkrebs gelebt und fast bis zu seinem Tod gearbeitet«, heißt es in einem Beitrag mit der Überschrift »Psychoanalytiker. Ein Beruf für Unsterbliche?« (Denis, 2013, S. 88). Der Mensch lebt in zwei Welten: In der einen gleicht er seine Vorstellungen mit der faktischen Realität ab, in der anderen wird er von Wünschen beherrscht, die sich von Fall zu Fall seiner Vorstellungswelt bemächtigen, was dann als Phantasie oder als Offenbarung und manchmal auch als Wahnsinn bezeichnet wird. Doch die Wissenschaft sollte frei sein vom Wunschdenken, denn »objektive« Erkenntnisse sind unmöglich, solange man nur zur Kenntnis nimmt, was gefällt, und alles ausklammert, was Unlust bereitet. Der Wissenschaftler, der sich bei seiner Suche nach Wahrheit nicht von Lust- und Unlustgefühlen leiten lässt, hat die Position des Priesters übernommen, der, einer (höheren) Wahrheit verpflichtet, nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen zum Triebverzicht bewegen will. Er verspricht sich – und allen anderen – eine Prämie für den zu leistenden Verzicht: Die »Religionen haben den absoluten Lustverzicht im Leben gegen Versprechen einer Entschädigung in einem künftigen Dasein durchsetzen können; [doch] eine Überwindung des Lustprinzips haben sie auf diesem Wege nicht erreicht. Am ehesten gelingt diese Überwindung der Wissenschaft« (Freud, 1911b, S. 235 f.). Das ist die Zukunft einer Illusion, die Freud (1927c) vorschwebte, wobei er »Illusion« auf den Glauben an den Sieg der Vernunft über die Leidenschaften bezog. Im Vortrag von 1915 stellte Freud die Frage, inwieweit »wir« überhaupt in der Lage sind, die Tatsache des Todes objektiv zur Kenntnis zu nehmen: »Welches ist nun unsere Einstellung zum Tode? Ich meine, sie ist sehr merkwürdig. Wir benehmen uns im ganzen so, als wollten wir den Tod aus dem Leben eliminieren […]. Es wird zwar zugegeben, daß man endlich sterben muß, aber wir verstehen es, dieses Endlich in unabsehbare Ferne hinauszurücken. In der psycho-analytischen Schule, die ich, wie Sie wissen, vertrete, ist die Behauptung gewagt worden, daß wir – ein jeder von uns – an den eigenen Tod im Grunde nicht glauben. Er ist uns ja auch unvorstellbar« (Freud, 1915i/1991, S. 132 f.). Das Unbewusste schert sich also

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nicht um unser Wissen. »[…] das Unbewußte in uns glaubt nicht an den eigenen Tod. Es ist gezwungen, sich wie unsterblich zu gebärden. Vielleicht ist dies sogar das Geheimnis des Heldentums« (S. 139).

Der Tod im Leben eines Psychoanalytikers Trifft diese Aussage, die Freud während des Ersten Weltkriegs gemacht hat, auch heute noch – auf mich – zu? Ich denke doch nicht über meinen Tod nach, obgleich ich das Renteneintrittsalter längst überschritten habe. Ich bin gesund. Ich arbeite. Ich unternehme Reisen in ferne Länder. Angeregt durch das Thema, über das ich hier schreibe, denke ich etwas genauer nach. Dabei fällt mir auf, dass ich seit einiger Zeit Todesanzeigen in der Zeitung lese, die ich früher überblättert hätte. Ein Anflug magischen Denkens verschafft mir Erleichterung, wenn ich feststelle, dass das Geburtsjahr der Verstorbenen früher liegt als meins. Jetzt blicke ich noch einmal auf das Jahr zurück, an dessen Ende ich diesen Beitrag schreibe – und stelle verblüfft fest, wie nah mir der Tod ist. Er war mein ständiger Begleiter. Am Anfang des Jahres starb nach langer schwerer Krankheit ein befreundeter Kollege, den ich kurz zuvor noch einmal besucht hatte. Eine Patientin, die, als sie kam, die emotionalen Folgen ihrer Krebserkrankung bewältigen wollte, verlor, kaum hatte sie die Therapie begonnen, plötzlich und unerwartet ihren Mann. Nach dem Schock stellte sich bei ihr das Gefühl der Unwirklichkeit ein. Es folgten Monate, in denen sie (und ich) Hilflosigkeit, Wut und Trauer erlebte. Im Sommer nutzte ich eine Erholungspause, um einen Studienkollegen zu besuchen, der einige Jahre jünger war als ich. Wir sprachen über alte Zeiten. Drei Wochen später reiste ich noch einmal in die Universitätsstadt – diesmal zum Begräbnis dieses Freundes. Auch er starb plötzlich und unerwartet. Das Leid seiner Frau berührt mich wie das Leid meiner Patientin. Das Leben geht weiter. Ab und zu telefoniere ich mit einem Cousin, der seit Jahren an Knochenkrebs leidet. Er klagt nicht. Er

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ist dankbar, weil jedes Gespräch, das ich mit ihm führte, für ihn bedeutet, dass er nicht gemieden wird wie der Tod. Jetzt, einige Monate nachdem ich diesen Text geschrieben habe, lese ich Korrektur – und muss einfügen: Mein Cousin ist inzwischen gestorben. – Im Sommer stirbt der Vorsitzende eines Instituts, an dem ich unterrichte. Ich gehe noch einmal in die Bibliothek, in der sein Lebenswerk im Regal steht. Wer wird sich künftig dafür interessieren? Einige Wochen später stirbt die Mutter eines Patienten, der sich, wenn er sich an seine Kindheit erinnerte, immer wieder über sie beklagt hatte. Seine Anklagen werden jetzt zu Selbstanklagen. Kann ich ihm helfen? Wie könnte ich der Patientin helfen, die kam, nachdem der Psychoanalytiker, der sie zuvor behandelt hatte, plötzlich und unerwartet gestorben war? Sie muss sich jetzt auch noch mit dem Tod eines Kindes und dem Tod einer nahen Freundin auseinandersetzen. Und wie kann man Menschen trösten, die wissen, dass sie unheilbar krank sind und bald sterben müssen? Der Arzt, der auf einer Palliativstation arbeitet, berichtet in seinen Stunden von solchen Menschen. In diesem Jahr beendet er die Selbsterfahrung. Zum Abschied – ja, zum Abschied – schenkt er mir den Film »Berührungsängste. Junge Menschen begegnen sterbenden Menschen«. In diesem Film treffen Jung und Alt, Gesund und Krank, Leben und Tod einander. Die Menschen, die er zeigt, werden bald sterben. Sie wollen kein Mitleid. Sie suchen Trost – und finden ihn in den Gesprächen, die sie mit jungen Menschen über den Sinn ihres Lebens führen. Ja, das war ein Jahr, in dem mir der Tod auf Schritt und Tritt begegnete – doch jetzt, während ich das schreibe, erlebe ich keine Todesangst. Wie ist das möglich? Wenn ich dem »integrativen Lehrbuch« der »Praxis der Psychotherapie« von Senf und Broda (2012) Glauben schenke, dann ist der Tod kein Thema, das mich beunruhigen sollte. In diesem Buch für Psychotherapeuten aller Schulen kommt der »Tod« – laut Stichwortverzeichnis – auf über 800 Seiten nicht ein einziges Mal vor. Wie ist das möglich? Wie kann man den Tod so radikal vom Leben dissoziieren? Ich schlage im »Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe« nach (Mertens u. Waldvogel, 2008) – und finde dort kein Kapitel zum Begriff »Tod«. Die Begriffe

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»Idealisierung«, »Allmacht« und »Humor« werden in eigenständigen Kapiteln abgehandelt, doch der »Todestrieb« – obgleich ein Grundbegriff der Psychoanalyse – bringt es zu keinem eigenständigen Eintrag. Er wird hin und wieder bei der Erklärung anderer Grundbegriffe erwähnt, die »Todesangst« auf knapp 900 Seiten aber nur ein einziges Mal in einem Klammersatz (S. 65) genannt. In der 4. Auflage (Mertens, 2014) kann man die »Todesangst« im Klammersatz (jetzt: S. 82) noch immer finden, aus dem Stichwortverzeichnis ist sie aber verschwunden. Im »Wörterbuch der Psychoanalyse« von Roudinesco und Plon (2004) findet man dort, wo man den »Tod« sucht, auch nur eine Leerstelle. Das Stichwort »Suizid« bietet keinen Ersatz. Dasselbe gilt für Eidelbergs »Encyclopedia of Psychoanalysis« (1968) und »Das Vokabular der Psychoanalyse« von Laplanche und Pontalis (1973/1996), wobei die Letztgenannten wenigstens dem »Thanatos« bzw. den »Todestrieben« Aufmerksamkeit schenken (Eidelberg, 1968, S. 435 f.; Laplanche u. Pontalis, 1973/1996, S. 494 ff.). Mit Verweis auf die angeführten Beispiele lautet meine Antwort auf die von Freud vor hundert Jahren gestellte Frage »Welches ist nun unsere Einstellung zum Tode?« (1915i/1991, S. 132): Menschen beschäftigen sich nicht gern mit dem (eigenen) Tod. Und da Psychotherapeuten auch nur Menschen sind, denken auch sie nicht gern an den (eigenen) Tod. Sie wissen aber sehr viel über den Tod (Shah u. Weber, 2013), denn sie hören ihren Patienten ja zu, die oft über Sterben und Tod sprechen. Offenbar besitzen Psychotherapeuten die Fähigkeit, ihr Wissen von ihrem Erleben soweit fernzuhalten, dass sie geduldig zuhören können, ohne in Angst und Schrecken zu geraten. Also hören »wir« genau zu – und schützen uns vor allzu intensiven Gefühlen. »Wissen und Wissen ist nicht dasselbe; es gibt verschiedene Arten von Wissen, die psychologisch gar nicht gleichwertig sind« (Freud, 1916–17a, S. 290). Die Fähigkeit, sich von bedrängenden Gefühlen nicht überwältigen zu lassen, ermöglicht in Belastungssituationen – zu denen auch der Verlust eines geliebten Menschen gehört – das (emotionale) Überleben. Der Rückzug in die Wunschwelt (Regression) gewährt Schutz, behindert aber auch, wenn er länger andauert (Fixierung),

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Bernd Nitzschke

die weitere Entwicklung der Fähigkeiten, die für die Behauptung in der Außenwelt notwendig sind (Entwicklungshemmung). Ich führe zur Illustration das Beispiel einer Patientin an, die einen alkoholkranken Vater hatte, dessen Wutausbrüche sie als Kind mit anhaltender Todesangst erfüllten. Sie konnte nie vorhersehen, in welcher Stimmung er nach Hause kommen würde. Also erschuf sie sich eine Wunsch-Traum-Welt, in der sie keine Angst mehr vor dem Vater haben musste. Umso mehr ängstigte sie der Vater, der abends wieder nach Hause kam. Sein Verschwinden hatte sie sich gewünscht. Als er unerwartet an einem Herzschlag starb, vertiefte sich ihre seelische Spaltung: Während der ängstigende Vater in der Außenwelt nun tot war, überlebte in ihrer Phantasiewelt ein idealer Vater, den sie in der Außenwelt nirgendwo finden konnte. Also konnte sie keine engere Beziehung zu einem Mann eingehen. Freud berichtet von Patienten, die auf den Tod des Vaters in ähnlicher Weise reagierten. Es gab die »eine Strömung in ihrem Seelenleben, welche den Tod des Vaters nicht anerkannt hatte; es gab [aber] auch eine andere, die dieser Tatsache vollkommen Rechnung trug; die wunschgerechte wie die realitätsgerechte Einstellung bestanden nebeneinander« (1927e, S. 316). Das sind die zwei Welten, in denen wir – auf die eine oder andere Weise – alle leben: die Welt der psychischen Realität und die Außenwelt, in der unseren Wünschen Grenzen gesetzt sind. »Hat man die unbewußten Wünsche, auf ihren letzten und wahrsten Ausdruck gebracht, vor sich, so muß man wohl sagen, daß die psychische Realität eine besondere Existenzform ist, welche mit der materiellen Realität nicht verwechselt werden soll« (Freud, 1900a, S. 625). Und weil »in der Welt der Neurosen die psychische Realität die maßgebende ist« (Freud, 1916– 17a, S. 383), können wir unsere Patienten umso besser verstehen, je besser wir unsere Wunschwelt – das heißt: uns selbst verstehen. Ein solches Verständnis hat erhebliche Konsequenzen für die Therapie: »Man würde die vergebliche Bemühung aufgeben, den Kranken von dem Irrsinn seines Wahns, von seinem Widerspruch zur Realität, zu überzeugen, und vielmehr in der Anerkennung des Wahrheitskerns einen gemeinsamen Boden finden, auf dem sich die therapeutische Arbeit entwickeln kann« (Freud, 1937d, S. 55).

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Das ließe sich auf die Behandlung der Patienten anwenden, die nicht glauben wollen und deshalb nicht glauben können, dass der Verstorbene tatsächlich tot ist. Unser eigener Tod liegt aber nicht in der Vergangenheit, er liegt in der Zukunft. Wir »verdrängen« dieses Wissen nicht. Wir »isolieren« die Affekte, die durch dieses Wissen ausgelöst werden könnten; und wir trösten uns mit Phantasien, in denen wir die Grenze »verleugnen«, die jedem von uns gesetzt ist. Trösten wir uns dennoch, mit Seneca: Non mortem timemus, sed cogitationem mortis. Das heißt: Nicht den Tod fürchten wir, sondern die Vorstellung des Todes.

Literatur Denis, P. (2013). Psychoanalytiker. Ein Beruf für Unsterbliche? In G. Junkers (Hrsg.), Die leere Couch. Der Abschied von der Arbeit als Psychoanalytiker (S. 79–92). Gießen: Psychosozial-Verlag. Deutschlandfunk (2013). Feldpostbriefe – Lettres de poilus. »… wer fällt, der stirbt den Heldentod«. Zugriff am 02. 11. 2013 unter http://www.dradio.de/ dlf/sendungen/feldpost/981102.html Eidelberg, L. (Ed.) (1968). Encyclopedia of Psychoanalysis. New York: The Free Press. Freud, M. (1999). Mein Vater Sigmund Freud. Heidelberg: Mattes. Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. G. W. Bd. II/III. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1905d). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. G. W. Bd. V (S. 33–145). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1910a). Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester, Mass., Sept. 1909. G. W. Bd. VIII (S. 1–60). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1911b). Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. G. W. Bd. VIII (S. 230–238). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1912–13a). Totem und Tabu. G. W. Bd. IX. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1915b). Zeitgemäßes über Krieg und Tod. G. W. Bd. X (S. 324–355). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1915i/1991). Wir und der Tod. Zweimonats-Bericht für die Mitglieder der österr. israel. Humanitätsvereine »B’nai B’rith«, 18 (1), 41–51. Neudruck: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 45, 132–142. Freud, S. (1916a). Vergänglichkeit. G. W. Bd. X (S. 358–361). Frankfurt a. M.: Fischer.

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Bernd Nitzschke

Freud, S. (1916–17a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XI. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S (1916–17g). Trauer und Melancholie. G. W. Bd. X. (S. 428–446). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. G. W. Bd. XIII (S. 1–69). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1923a). Libidotheorie – Psychoanalyse. G. W. Bd. XIII (S. 211–233). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1926d). Hemmung, Symptom und Angst. G. W. Bd. XIV (S. 111–205). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1927c). Die Zukunft einer Illusion. G. W. Bd. XIV (S. 325–380). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1927e). Fetischismus. G. W. Bd. XIV (S. 311–317). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1928b). Dostojewski und die Vatertötung. G. W. Bd. XIV (S. 399– 418). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1933a). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XV. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1933b). Warum Krieg? G. W. Bd. XVI (S. 11–27). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1937d). Konstruktionen in der Analyse. G. W. Bd. XVI (S. 43–56). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1960). Briefe 1873–1939 (3. Aufl., hrsg. von E. Freud, L. Freud). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1986). Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904 (hrsg. von J. M. Masson). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (2010). Unterdess halten wir zusammen. Briefe an die Kinder (hrsg. von M. Schröter). Berlin: Aufbau Verlag. Freud, S., Abraham, K. (2009). Briefwechsel 1907–1925. Vollständige Ausgabe, 2 Bde. (hrsg. von E. Falzeder, L. M. Hermanns). Wien: Turia + Kant. Freud, S., Ferenczi, S. (1996). Briefwechsel, Bd. II/2: 1917–1919 (hrsg. von E. Falzeder, E. Brabant). Wien: Böhlau. Hillenhof, A., Büring, P. (2013). Besseres Screening. Psychische Störungen bei Bundeswehrsoldaten werden häufig nicht erkannt. Das besagt eine Studie der Technischen Universität Dresden. Deutsches Ärzteblatt PP, 12, 554. Jones, E. (1962). Sigmund Freud – Leben und Werk, Bd. 3. Bern: Huber. Laplanche, J., Pontalis, J.-B. (1973/1996). Das Vokabular der Psychoanalyse (13. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mertens, W. (Hrsg.) (2014). Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (4., überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Mertens, W., Waldvogel, B. (Hrsg.) (2008). Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (3. überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

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Nitzschke, B. (1990). Prostitutionswünsche und Rettungsphantasien – auf der Flucht vor dem Vater. Skizzen aus dem Leben einer Frau (»Anna O.«/»P. Berthold«/Bertha Pappenheim). Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 44, 788–825. Nitzschke, B. (1991). Freuds Vortrag vor dem Israelitischen Humanitätsverein »Wien« des Ordens Bnai Brith: Wir und der Tod (1915). Ein wiedergefundenes Dokument. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 45 (2), 97–131. Nitzschke, B. (1996a). Liebe, Tod und Trauer. Auszüge aus Freuds Lebens»Roman«. In B. Nitzschke, Wir und der Tod. Essays über Sigmund Freuds Leben und Werk (S. 84–116). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Nitzschke, B. (1996b). Wie starb Sigmund Freud? Freuds Haushälterin Paula Fichtl widerspricht den Biographen. In B. Nitzschke, Wir und der Tod. Essays über Sigmund Freuds Leben und Werk (S. 184–190). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Roudinesco, E., Plon, M. (2004). Wörterbuch der Psychoanalyse: Namen, Länder, Werke, Begriffe. Wien u. New York: Springer. Schur, M. (1973). Sigmund Freud – Leben und Sterben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Senf, W., Broda, M. (Hrsg.) (2012). Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch (5., vollständig überarb. Aufl.). Stuttgart: Thieme. Shah, H., Weber, T. (2013). Trauer und Trauma. Die Hilflosigkeit der Betroffenen und der Helfer und warum es so schwer ist, die jeweils andere Seite zu verstehen. Kröning: Asanger.

Film Berührungsängste. Junge Menschen begegnen sterbenden Menschen. Deutschland 2013. Regie: A. von Hören, C. Schulz.  http://www.medienprojekt-wuppertal.de/v_171

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Günther Bittner

» … noch heute eine Rotte von Mördern« Ein Versuch, Freuds Vorstellung einer instinktiv verwurzelten Destruktionslust zu rehabilitieren

Das Verhältnis des Menschen zum Tod hat Freud zeitlebens beschäftigt. Der eigene Tod sei nicht vorstellbar; im Unbewussten war schon der Urmensch »von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (Freud, 1915b, S. 341). Anders der Tod des Anderen, des Fremden, des Feindes. Dieser sei dem Urmenschen erwünscht gewesen, und er habe keine Bedenken gehabt, ihn herbeizuführen. Die Einstellung zum eigenen Tod, die Freud dem Urmenschen – und nur wenig verändert, dem Menschen überhaupt – unterstellt, hatte ich in einer früheren Arbeit (Bittner, 2012) erörtert. Hier geht es um den anderen Teil der Freud’schen Thanatologie: die Einstellung zum Tod des Anderen, des Fremden, des Feindes. In der von Nitzschke wiederentdeckten und publizierten Vortragsfassung von »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, die noch freier von der Leber weg geschrieben und weniger diplomatisch geglättet war als die spätere Abhandlung, kann Freud sich nicht genug daran tun, den Gedanken zu paraphrasieren, der das Thema dieser gegenwärtigen Erörterung bildet: »Es gibt bei uns keinen instinktiven Abscheu vor dem Blutvergießen. Wir sind die Nachkommen einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern. Die Mordlust steckt uns im Blute« (Freud, 1915i/1991, S. 139).

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Klinisches Vorspiel: der eigene und der fremde Tod Ein Patient, siebzig Jahre alt, den ich zweimal wöchentlich besuche, weil er aufgrund einer schweren körperlichen Erkrankung den Rollstuhl benutzen muss und deshalb nicht zu mir kommen kann, leidet unter (teils real begründeter) Todesangst, die sich gelegentlich zu heftigen Angstanfällen verdichtet. Auf seine dramatische Lebensgeschichte näher einzugehen, in der der Vater eine sehr negative Rolle spielt, ist hier nicht der Raum. In einem Traum sieht er sich bei der Beerdigung des vor vielen Jahren verstorbenen Vaters. Ihm fällt dazu ein, dieser sei mit siebzig Jahren gestorben – so alt also, wie er jetzt ist. Ich frage, ob er meine, deshalb jetzt auch sterben zu müssen, und denke zugleich an mein Buch, wo ich für mich eine ähnliche Parallele zwischen mir und meinem Vater gezogen habe, und natürlich an Freud, der dasselbe getan hat (Bittner, 2012, S. 124 ff.). Ob er froh gewesen sei, als sein Vater gestorben war? Ob er dessen Tod eventuell gewünscht habe? Gehasst habe er ihn schon, antwortet er nach einigem Nachdenken, aber den Tod gewünscht? Nein, das wäre Frevel gewesen. In meinem Buch habe ich die These vertreten, dass das von Freud konstatierte Unsterblichkeitsgefühl das Natürliche und Naheliegende sei (Bittner, 2012, S. 15 f.). Es wird verstört und verunsichert, ergänze ich nunmehr, wenn wir uns nicht erlauben können zu hassen und den Gehassten – als Kulturmenschen wenigstens »metaphorisch« – zu töten. Dass dies ein natürlicher Antrieb ist, dem um des eigenen seelischen Gleichgewichts willen Raum gegeben werden sollte, ist in der heutigen Psychoanalyse weithin in Vergessenheit geraten. Margarete Mitscherlich (1972) fragte im Geist dieser »neuen« Psychoanalyse: »Müssen wir hassen?« Ich meine, die Frage sollte eher lauten: »Dürfen wir hassen?« Das Beispiel mag dazu beitragen, die beiden ansonsten unverbunden bleibenden Stücke der Freud’schen Thanatologie – das Verhältnis zum eigenen Tod und zum Tod des anderen – zusammenzuführen. Der Patient darf dem Vater den Tod nicht wünschen,

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Günther Bittner

ihn sozusagen mental ermorden, weil das »Frevel« wäre. Als Folge davon bekommt sein eigenes Unsterblichkeitsgefühl einen Knacks. Den Mord am Vater darf er sich nicht vorstellen; deshalb muss er sich den eigenen Tod desto lebhafter vergegenwärtigen. Das ist genau umgekehrt wie im Krieg (das heißt in früheren Kriegen; für das heutige »abstrakte«, hochtechnisierte Töten mittels Drohnen oder Ähnlichem gilt es wohl nicht mehr). Ich habe mich immer gewundert, dass die Leute so gelassen, ja heiter in den Krieg zogen. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Tod scheint Platz zu greifen, wenn man nur selbst töten darf – und das auch noch, um dem Vaterland zu dienen. In seinem B’nai-B’rith-Vortrag hatte Freud postuliert, durch den Einsatz des eigenen Lebens im Krieg werde das Leben erst »wieder interessant, es hat seinen vollen Sinn wieder bekommen« (Freud, 1915i/1991, S. 135). Das gilt wohl nur, wenn man auch die andere Seite dieses kriegerischen Roulette-Spiels einbezieht: die Chance, den anderen zu töten und selbst am Leben zu bleiben. Insofern hat die dem Menschen von Natur aus innewohnende, von Freud konstatierte Mordlust sehr wohl mit der Einstellung zum eigenen Tod zu tun – und umgekehrt deren Leugnung ebenfalls. In diesem Sinn also wird der Versuch unternommen, Freuds Vorstellung einer archaischen, beim heutigen Menschen noch wirksamen Mordlust, die in der gegenwärtigen Psychoanalyse keine Rolle mehr spielt, erneut auf den Prüfstand zu stellen. Dies geschieht in mehreren Schritten: −− Ich stelle die Entwicklung von Freuds Vorstellungen über den Tötungstrieb vor, ebenso am Beispiel von Wolfgang Loch die psychoanalytische Gegenposition, welche Aggression rein reaktiv erklären will. −− Ich gleiche Freuds Rekurs auf den Urmenschen und seine angeblich ungehemmte Bereitschaft, den Feind zu töten, mit Befunden der Primatenforschung, der Paläoanthropologie und prähistorischen Archäologie ab. −− Ich erörtere Erklärungsmodelle aus der heutigen Forensischen Psychiatrie im Hinblick auf ihren Beitrag zum psychoanalytischen Verständnis manifester Tötungshandlungen.

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−− Abschließend geht es mir um das sozusagen alltägliche »metaphorische« Morden: Der Normalmensch, so meine These, mordet nicht nur in der Phantasie, sondern durchaus auch real, freilich »metaphorisch«: entweder »unterhalb der Schwelle« des Strafgesetzbuches oder, lieber noch: Er legitimiert seine metaphorischen Morde (z. B. Rufmord, Mobbing) durch höhere ethische Ziele.

Die Psychoanalyse: von der »wilden Bestie« Mensch zum »sanften, liebebedürftigen Wesen« Die Todeswünsche, die – in oftmals entstellter Form – im Traum zum Ausdruck kommen, waren das erste Stück dieser Freud’schen Thanatologie. Allerdings war das Thema hier nicht der Todeswunsch gegen den Fremden oder den Feind, sondern die Ambivalenz zu »teuren Verwandten« wie Geschwistern, Eltern, eigenen Kindern. »Totem und Tabu« (1912–13a) kann als eine Paraphrase auf Darwins Vorstellung von der Urhorde gelesen werden, die Freud durch Materialien und Theorien des Religionswissenschaftlers Robertson-Smith über das Opfer und die Totemmahlzeit ergänzt und mit ihr zu seiner eigenen psychoanalytischen Theorie der Vatertötung und -vergottung zusammengefügt hat. Darwin hatte postuliert, dass in der Horde notwendigerweise ein Kampf zwischen dem Vatertier und den nachwachsenden Männchen um die Alleinherrschaft und den Besitz der Frauen stattfinde. »Wächst das junge Männchen heran, so findet ein Kampf um die Herrschaft statt, und der Stärkste setzt sich dann, indem er die anderen getötet oder vertrieben hat, als Oberhaupt der Gesellschaft fest« (Darwin zit. nach Freud, 1912–13a, S. 152 f.). Das Schuldgefühl über die Ermordung des nicht nur gehassten, sondern auch geliebten Vaters setzt sich um in dessen posthume Vergottung, die symbolische Stellvertretung für ihn übernimmt das Totemtier und dessen rituelle Opferung und Verspeisung.

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Günther Bittner

Der Tötungstrieb stellt sich hier als der mit dem Sexualtrieb mitgegebene Antrieb dar, den Vater zu beseitigen, um die Frauen zu besitzen, nebst allen daraus resultierenden Gefühlskomplikationen und -ambivalenzen. Freud versucht das Konzept des Ödipuskomplexes, das er kurz zuvor an der Krankengeschichte des »Kleinen Hans« entwickelt hatte, für das Verständnis der Urgeschichte der Menschheit nutzbar zu machen, worin ihm heute kaum noch ein Psychoanalytiker folgen mag. In engem, nicht nur zeitlichem Zusammenhang mit »Totem und Tabu« steht »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915b), wobei die aktuelle Kulisse der im ersten Kapitel behandelte, soeben ausgebrochene Erste Weltkrieg bildet, während das zweite Kapitel die unterschiedliche Einstellung zum eigenen Tod, zum Tod nahestehender Menschen und zum Tod des Feindes behandelt. In der Urfassung dieses zweiten Kapitels »Wir und der Tod« hatte Freud den Todeswunsch gegen den Fremden bzw. den Feind und die Hemmungslosigkeit des Urmenschen, diesen zu töten, recht farbig ausgemalt: »Der Tod des andern war ihm recht, er erfaßte ihn als Vernichtung und brannte darauf (!), ihn herbeizuführen. Der Urmensch war […] grausamer und bösartiger als die anderen Tiere. Er wurde von keinem Instinkt davor zurück gehalten, Wesen seiner eigenen Art zu töten und zu verzehren, wie man es von den meisten reißenden Tieren behauptet. Er mordete gerne (!) und wie selbstverständlich« (Freud, 1915i/1991, S. 135). Freuds erstes Argument für das Bestehen einer instinktiv verwurzelten Mordneigung war demnach, die Urgeschichte der Menschheit sei »vom Morde erfüllt« gewesen (1915i/1991, S. 136). Ein zweites gewinnt er aus der Feststellung, das Gebot »Du sollst nicht töten« sei das älteste und bedeutsamste der gesamten Ethik (S. 138). Was so nachdrücklich verboten wird, müsse doch auf ein tief verwurzeltes Bedürfnis verweisen; was ohnehin niemanden in den Sinn kommt zu tun, bräuchte man nicht zu verbieten. Beide Argumente sind heute nicht mehr unumstritten. Zum einen wird auch von Psychoanalytikern (Hinrichs, 2002) die Auffassung vertreten, Freuds Sicht des »Urmenschen« sei durch die Forschungsergebnisse der prähistorischen Archäologie überholt.

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Der andere Schluss vom Verbot auf einen entsprechend starken triebhaften Wunsch ist mit Bezug auf das Inzestverbot bereits von C. G. Jung (Freud u. Jung, 1974, S. 557) und in späterer Zeit von Norbert Bischof (1985) in Zweifel gezogen worden: Einen natürlichen Inzestwunsch gebe es nicht; das Verbot sei rein kulturell bedingt. Der letzte Schritt in Sachen Tötungstrieb wird in »Das Unbehagen in der Kultur« (Freud, 1930a) vollzogen. Der frühere deskriptive Befund wird bekräftigt: Der Mensch sei kein »sanftes, liebebedürftiges Wesen […], das sich höchstens, wenn angegriffen, zu verteidigen vermag« (S. 470). Vielmehr sei er bereit, den Mitmenschen »zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zu martern und zu töten« (S. 471). Meistens äußert sich die Aggression reaktiv, wartet eine Provokation ab oder »stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht«; sie äußert sich aber bei Wegfall von Hemmungen »auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist« (S. 471). Es handelt sich in dieser Abhandlung, wie Freud erstmals ausdrücklich postuliert, beim Destruktionstrieb um einen selbständigen, von der Sexualität unabhängigen naturgegebenen Trieb, »die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen« als Naturtatsache. »Dieser Aggressionstrieb«, so fährt er fort, »ist der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben« (1930a, S. 481). Die Kultur, sagt Freud weiter, will die Menschen über Familien, Stämme, Völker, Nationen »zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen. […] Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen« (1930a, S. 481). Also muss die Kultur bestrebt sein, diese natürliche Aggressionslust unschädlich zu machen. Dies geschieht, indem sie im Über-Ich gegen das eigene Ich zurückgewandt wird als Schuldbewusstsein und Strafbedürfnis; um »gut« zu sein für die Zwecke der Kultur, für den von ihr angestrebten Termitenstaat, in dem wir uns freilich nicht glücklich schätzen würden (1930a, S. 482), muss der Tötungstrieb gehemmt werden. »Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie

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es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt überwachen läßt« (1930a, S. 483). So weit kommt es also mit uns: Um nicht mehr der Feind des anderen zu sein, soll ich mein eigener Feind werden (Bittner, 2009). Mit der Konzeption der Aggression als eines naturgegebenen Triebes stellt sich zugleich das Problem, wie mit einem solchen, da man ihn nicht »abschaffen« kann, verantwortlich umzugehen sei. Es scheine »die Schicksalsfrage der Menschheit […] zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden« (Freud, 1930a, S. 506). Die Menschen hätten es in der Beherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, »dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten« (S. 506). Eine Gegenbewegung müsse auf die Kraft des »ewige[n] Eros« setzen (S. 506) – ein Gedanke, der in der Korrespondenz mit Einstein über Strategien der Kriegsvermeidung mehr ins Praktische hinein konkretisiert wurde (Freud, 1933b). Der psychoanalytischen Diskussion um den Aggressionstrieb ist mit dem »Unbehagen in der Kultur« durch die Anbindung an das Konzept Todestrieb von Freud eine erhebliche Hypothek aufgeladen worden. Allzu nahe lag es für viele spätere Psychoanalytiker, die den Todestrieb verwarfen, den Aggressionstrieb gleich mit zu verwerfen. Dies ist aber logisch nicht gefordert. Wolfgang Loch (1970) war es wohl, der – zumindest für die deutschsprachige Psychoanalyse – Freuds duale Triebkonzeption mit Eros und Destruktion bzw. Todestrieb zu Grabe getragen hat. Er beginnt seine Beweisführung damit, entwicklungstypische Konstellationen zu skizzieren, in denen bei Kindern aggressives Verhalten in Erscheinung tritt. Jedes Mal scheint es, dass der Grund der Aggression irgendwie »draußen« liegt: zum Beispiel dass das Kind an der Erfüllung irgendwelcher Triebtendenzen gehindert wird (1970, S. 242) oder sich mit einem Aggressor identifiziert (S. 243). Selbst dort, wo Loch theoretisch eine biologisch natürliche Wurzel der Aggressivität in Erwägung zieht, landet er doch wieder bei

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einer interaktiven Auslösung: bei den frühen Separationsprozessen, welche die Mutter-Kind-Dyade beenden (S. 245). Seine Schlussfolgerung: Hinter der Tendenz zu aggressiv-destruktivem Verhalten ist kein Trieb wie »etwa Freuds ›Todestrieb‹« (S. 249) anzunehmen; aggressives Verhalten ist reaktiv, ausgelöst durch Unlust und Schmerz. Loch zitiert Balint: »Man wird schlecht (böse) durch Leiden« (S. 252). Aggressive Manifestationen führt er zurück auf ein Machtgefälle als deren ermöglichende Bedingung: »Destruktive Aggressivität erscheint zwangsläufig dort, wo zwischen zwei Partnern ein besonders großes Abhängigkeitsgefühl besteht, wo zwischen ihnen eine Macht- und Potenzdivergenz klafft« (S. 254). Als biologische Wurzel will er mit Winnicott lediglich eine »Tendenz zur Betätigung allgemeiner Motilität« gelten lassen (S. 250). Wenn wir Lochs Beispiele betrachten: Kinder zeigen sich aggressiv, wenn ihnen ein Wunsch abgeschlagen, eine Absicht durchkreuzt wird. Die Versagung ist zweifellos der Anlass dafür, dass das Kind schreit, sich auf den Boden wirft, Sachen kaputt macht. Aber: Woher gewinnt der Affekt, den die Versagung beim Kind auslöst, seine Dynamik, seine Potenz oder wie wir es nennen wollen? Oder das andere Kind, das sich mit einem Aggressor identifiziert: Es nimmt dessen Verhalten zum Vorbild, es ahmt es nach. Wiederum: Woher nimmt die Nachahmungshandlung ihren motivationalen Schub? Auch wieder von innen. Sodass das Reaktive und das Autogene an der aggressiven Handlung vergleichbar wäre mit einer Lunte, die an ein Pulverfass gehalten wird. In besonderen Fällen kann es auch zu einer Selbstentzündung des Pulvers und damit zu einer spontanen, unprovozierten Explosion kommen; der Regelfall scheint aber zu sein, dass beides zusammenwirkt: Provokation und Reaktion »von innen heraus«. Lochs zahlreichen Beispielen stelle ich nur ein einziges entgegen: anderthalbjährige Kinder, die mit Bauklötzen noch keinen Turm bauen können, sind sehr wohl in der Lage, den Turm, den ein anderer gebaut hat, mit großem Getöse umzuwerfen, und sie empfinden offensichtlich Vergnügen dabei. Natürlich ist dieses Verhalten reaktiv: ohne dass jemand einen Turm hingestellt hat, kann man

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ihn auch nicht umwerfen. Und es ist weiterhin »Betätigung von Motilität«, das heißt die Lust daran, eine Bewegung auszuführen, die derart ohrenbetäubende Wirkungen hervorbringt. Schließlich kann man mit Recht fragen: Haben diese Kinder überhaupt schon einen Begriff davon, was »zerstören« heißt? Und doch: Ob der kleine Racker nicht eine Ahnung davon verspürt, dass er da etwas umwirft, was jemand anderes kunstvoll gebaut hat? Dass er ein Triumphgefühl genießt, wenn der andere bedauert: Ach, der schöne Turm? Es ist nicht zu beweisen, aber auch nicht zu widerlegen. Die Beweiskraft von Verhaltensbeobachtungen kommt hier an ihre Grenze. Besonders seit 1990 hat sich auf breiter Front der Rückzug von den Positionen Freuds durchgesetzt, wie man an zwei relativ rasch aufeinanderfolgenden Tagungsbänden der DGPT über »Aggression und seelische Krankheit« (Bell u. Höhfeld, 1996) und »Gewalt und Zivilisation« (Gerlach u. Schlösser, 2002) ablesen kann. Im ersteren wurde Freuds Konzept von Eros und Thanatos immerhin noch in einem Beitrag ernsthaft gewürdigt, hingegen belegt Helga FischerMamblona (1996) in einem anderen Beitrag, dass die Triebtheoretiker Freud und Lorenz in der Sicht der neueren Verhaltensethologie passé seien. Sie beruft sich auf die Verhaltensbiologin Haug-Schnabel, die nicht weniger als dreizehn Gründe für aggressives Verhalten ausgemacht habe, zum Beispiel Hunger, Angst und sexuelle Rivalität. Sie selbst will zeigen, dass Aggression die Folge eines »uralten Konflikts« zwischen Annäherung und Vermeidung sei (Fischer-Mamblona, 1996, S. 195). Überdies beruft sie sich auf ein apodiktisches Statement von Wurmser: »Kurzum: Aggression als Konfliktlösung, als Kompromissbildung, nicht als primäre Triebbefriedigung« (S. 195). Das ist vielleicht doch allzu »kurzum« gedacht. Alle drei sind bemüht, Aggression auf »etwas anderes« zurückzuführen, auf Anlässe also. Damit gerät aber die eigentliche Frage aus dem Blick: Woher stammt das Potenzial, das zur Bewältigung dieser Anlässe aktiviert wird? Ähnlich kurzen Prozess macht Hinrichs im letztgenannten Tagungsband mit Freuds Konzeption der Urgeschichte: »Bis zur

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neolithischen Revolution vor zehntausend Jahren lebten die Menschen, soweit bekannt, friedlich nomadisierend in Klein-Gruppen. Gewalt wurde […] lediglich zur Gefahrenabwehr und zur Nahrungsbeschaffung angewendet, also in Notwehrsituationen und zur Jagd« (Hinrichs, 2002, S. 134). Mit der neolithischen Revolution habe sich das Bild verändert. Entstanden seien »die patriarchalischen Kulturen, die typischerweise zur Ausbildung sozialer Klassen, zu Machtkämpfen und Eroberungskriegen führten. Jetzt wurden vom Menschen nicht nur Tiere gehetzt, sondern auch Menschen« (S. 135). Hierdurch entstand die destruktive Quelle von Gewalt. Freuds Annahme, »dass destruktive und primitive Gewaltneigung der menschlichen Rasse primär und diffus inne wohne, greift zu kurz« (S. 135). Freud erzählte seine Version der Menschheitsgeschichte mit der Quintessenz: Homo homini lupus. Seit den 1970er Jahren hat sich in der Psychoanalyse der Trend durchgesetzt, Freuds Erzählung in eine andere, »schönere« umzuschreiben: Der Mensch ist von Natur aus ein friedliches Wesen; »böse« wird er durch Leiden, durch Unterdrückung. Die Freud’sche Mär gefällt nicht mehr: »Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne« (Freud, 1930a, S. 479).

Primatenforschung, Paläoanthropologie und prähistorische Archäologie1 Begann das Töten erst mit Sesshaftigkeit und Ackerbau, wie Hinrichs meint? Waren die Nomadenvölker vorher wirklich so friedlich? Und weiterhin: Stimmt die These, dass Tiere nur im Kontext entweder der Jagd oder der Gefahrenabwehr töten? »Im Jahr 1974 musste die berühmte Primatenforscherin Jane Goodall völlig überrascht mit ansehen, wie eine Schimpansen1 Für die freundschaftliche kollegiale Zusammenarbeit bei der nicht ganz einfachen Literaturrecherche zu diesem Beitrag bedanke ich mich herzlich bei Dr. Volker Fröhlich (Würzburg).

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gruppe, die sie wochenlang beobachtet hatte und für völlig friedlich hielt, zunächst ein einzelnes Männchen einer benachbarten Sippe und dann die gesamte Sippe brutal ermordete. Dieser vorher nie beobachtete Gewaltexzess schockte die Fachwelt und veränderte unser Bild vom ›friedlichen Menschenaffen‹ grundlegend« (Antropus. Eine kurze Geschichte über Krieg und Gewalt, o. J., Originalquelle Goodall, 1986, insbes. S. 528 ff.). Auch Dian Fossey (1989/1991) steuert aus ihren Beobachtungen an den Gorillas, die sie zwar die »sanften Riesen« nennt, zumindest zwei Beispiele bei, wo Jungtiere getötet werden. Das eine Mal handelte es sich um die Tötung eines von einem Rivalen gezeugten Kindes durch ein fremdes männliches Alphatier, das offenbar die Mutter des Kindes seiner Gruppe einverleiben wollte (S. 254). Auch die zweite berichtete Tötung eines Jungtiers geschah durch ein männliches Tier, das auf diese Weise »die Nachzucht eines Rivalen« vernichtete (S. 290). Solche Tötungen im Kontext männlicher Dominanzkämpfe gehen doch weit über »Gefahrenabwehr« hinaus. Sie belegen weit eher die Freud-Darwin’sche Konzeption der Urhorde mit dem Kampf der Männchen um die Fortpflanzungschancen – ein Kampf, der im Extremfall die Tötung des Rivalen bzw. seiner Nachkommenschaft einschließt. Übrigens kommen Tötungen von Artgenossen im Tierreich nicht nur bei Primaten vor. Die Tötung von Jungtieren, die noch vom Vorgänger stammen, durch ein neues Alphamännchen sei bei Löwen beobachtet worden. Gerade bei besonders sozialen Tierarten wie Ratten und Ameisen gebe es Gruppenkonflikte, die sich »durchaus als Kriege beschreiben lassen«. Der Evolutionsbiologe Reichholf findet daher »verklärte Blicke ›in die Tierwelt‹« wenig hilfreich, um die Probleme der Menschen zu lösen (Reichholf, 2013, S. 453). In der prähistorischen Archäologie wurde in den 1970er Jahren die Auffassung vertreten, erst in der Jungsteinzeit sei es im Zusammenhang mit der neolithischen Revolution (Sesshaftigkeit, Ackerbau) zu Menschentötungen größeren Ausmaßes gekommen. Die Nomaden zuvor seien friedliche Menschen gewesen. Auf diese Forschungen stützte sich Ken Wilber (1984/2009) in seiner hoch

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spekulativen Gesamtschau der menschlichen Bewusstseinsentwicklung, die wiederum der eben zitierte Psychoanalytiker Hinrichs zur Grundlage seiner Betrachtungen nahm. Die These von der friedlichen älteren Steinzeit wird heute von mehreren Seiten in Zweifel gezogen. Der Antropus-Artikel verweist auf Steve Churchill’s Fund eines Neandertalers, der durch einen Speer getötet worden sein muss, und auf Beobachtungen über Stammesfehden unter heute noch lebenden Sammlern und Jägern. Recht überzeugend scheint mir die Urzeit-Spekulation des Konstanzer Klinischen Psychologen und Gewaltforschers Thomas Elbert, der die Tendenz zu Gewalt und Mord in der biologischen Konstitution des Menschen verankert sieht: Als die Hominiden sich von Pflanzenfressern zu partiellen Fleischfressern gewandelt hätten, hätten sie zugleich mit der Jagdlust auch die Mordlust entwickelt (Skalli, 2011). Er stützt sich auf eine Übersicht von Keeley, nach der bei acht Stämmen in Südamerika und Neuguinea insgesamt etwa die Hälfte der Männer bei Kriegshandlungen ums Leben gekommen sei (Keeley, 1996, S. 90; zum gleichen Thema vgl. auch Helbling, 2006). Was die Nomadenstämme betrifft, könnte das Fehlen entsprechender Funde auch damit zu erklären sein, dass das Nomadenleben generell weniger Spuren hinterlässt als das Leben der sesshaften Völker. Aus dem Sonderforschungsbereich »Differenz und Integration – Wechselwirkungen zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen in Zivilisationen der alten Welt« gibt es neuerdings umfangreiches Material über prähistorische nomadische Lebensformen und über die vergleichsweise größeren Schwierigkeiten, diese archäologisch zu dokumentieren (Hauser, 2006). Jedenfalls erscheint aus heutiger Sicht die generalisierende Typisierung der Nomaden als »friedlich«, der Sesshaften als »gewaltbereit« problematisch. Die Toten einzelner Wüstennomadenstämme weisen Verletzungen auf, die auf Gewaltanwendung schließen lassen (Uerpmann, Uerpmann u. Jasim, 2006, S. 92). Vor allem aber gab es die kriegerischen Reiternomaden, in der Alten Welt die bis an die Zähne bewaffneten Skythen, Sarmaten und andere, von denen die sesshaften Parther sogar Waffentypen übernommen

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haben sollen (Winkelmann, 2003), in der Neuen Welt die Prärieindianer, zum Beispiel die Sioux, über die schon Erikson (1961, S. 88 ff.) schrieb. Bei beiden Völkergruppen soll bemerkenswerterweise (über die Kontinente hinweg) das Skalpieren des getöteten Feindes gebräuchlich gewesen sein (Wikipedia-Artikel Skalpieren; archäologischer Einzelfund aus dem europäischen Mesolithikum: Ahlström, 2008) – ein Phänomen, das gerade im gegenwärtigen Kontext psychoanalytisch interessant ist. Schon vor der Jungsteinzeit soll es Kannibalismus, Menschenopfer und rituelle Tötungen gegeben haben (Wikipedia-Artikel Menschenopfer, Kannibalismus; Rind, 1998; Haberberger, 2007, kritisch dazu vor allem Peter-Röcher, 1998). Unzweifelhaft jedoch sind die Zeugnisse von Tötungen, auch massenhaften Tötungen, in der Jungsteinzeit wesentlich häufiger. Ich nenne nur zwei Beispiele. In Talheim bei Heilbronn wurden die Überreste von 34 Menschen gefunden, die durch Gewalteinwirkung ums Leben gekommen waren. »Charakteristische Bruchstücke aus der Bandkeramischen Kultur wiesen darauf hin, dass das Geschehen sich in der frühen Jungsteinzeit zugetragen hat« (Wikipedia-Artikel Massaker von Talheim; vgl. kritisch dazu Zeeb-Lanz, 2009, S. 92 f.). Völlig ungeklärt ist die Bedeutung der massenhaften Funde beschädigter und zerstörter Leichenüberreste in Herxheim bei Landau. Sie werden überwiegend einem Totenritual zugeordnet (Zeeb-Lanz, 2009, S. 94). Der französische Anthropologe Bruno Boulestin hat zusätzlich die Kannibalismus-Hypothese ins Spiel gebracht (Boulestin et al., 2009). Nachdem ich zunächst etwas unsystematisch durch die mir zugängliche Literatur gestreift bin, stoße ich auf eine informative und besonnen abwägende, leider schon etwas ältere Übersichtsarbeit von Ferguson (1997), der das Vorkommen von Gewalt, Menschentötung und Krieg auch schon vor dem Neolithikum in Einzelfällen bestätigt findet. Im Sinn seiner soziologisch-historischen Deutungsperspektive hebt er auf die eher situative Bedingtheit solcher Gewaltmanifestationen ab. Die grundsätzliche Bereitschaft zum Töten schon beim frühesten Menschen will er indessen nicht infrage stellen; er bezieht auch die vormenschlichen Mani-

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festationen der Tötungsbereitschaft bei Goodalls Schimpansen ein: »Homicide may be as old as Cain, even antidating our species […]. The violence of these apes suggests that our most distant ancestors were capable of killing […] but not that they often did« (Ferguson, 1997, S. 333). Freuds Sicht der Urmenschen als einer »Rotte von Mördern« würde er daher vermutlich nicht beipflichten, doch die instinktive Befähigung bzw. andersherum ausgedrückt: der Mangel an einer instinktiven Hemmung, den menschlichen Artgenossen zu töten, bestand wohl aus seiner Sicht von Anfang an. Wenn wir uns dies wenige, das ich zusammentragen konnte, vor Augen halten, beeindruckt zunächst, wie weit die in der Literatur vertretenen Deutungen auseinandergehen. Jeder findet offenbar vor allem das, was er zu finden erwartet (wie vermutlich auch ich bei dieser Literaturrecherche). Immerhin scheint Freuds Eindruck, die Urgeschichte der Menschheit sei »vom Morde erfüllt« gewesen (Freud, 1915i/1991, S. 136), heute nicht mehr ganz so außerhalb des Meinungsspektrums zu liegen wie vielleicht vor dreißig Jahren. Plausibel erscheint auch das von ihm unterstellte mit diesen Morden verbundene Bewusstsein einer Urschuld (1915i/1991, S. 136), von der sich der Primitive reinigen musste: »Der wilde Sieger, der nach der Tötung vom Kriegspfad heimkehrt, darf sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht sehen, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft langwierige und mühselige Bußen gesühnt hat« (1915i/1991, S. 138). In der heutigen Diskussion der Urzeitfunde geht es immer wieder um die Alternative: Mordtaten oder Totenrituale? Immer wieder gibt es sowohl Indizien, die in die eine, wie auch solche, die in die andere Richtung weisen. Ich frage mich deshalb, ob eine dritte mögliche Variante hinreichend diskutiert worden ist: die Tötung in Verbindung mit einem religiösen Ritual oder zum Zweck eines solchen. Dieser Aspekt freilich, den die Befunde eventuell nahe legen und der ebenfalls mit Schuld zu tun hat, mag auch Freud entgangen sein: die Bedeutung der Ritualmorde, die der Gottheit oder den Totengeistern als heilige Pflicht geschuldet sind. Es ist vielleicht nicht nur das Totemtier, das in der Sühnefeier stellvertretend verspeist wird: Was da geopfert, hingeschlachtet und gegebenenfalls

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gegessen wird, könnten auch Menschen gewesen sein! Das Morden aus Mordlust oder anderen »niedrigen Beweggründen«, wie heute das Strafgesetzbuch sagt, war wohl schon früh in der Menschheitsgeschichte, jedenfalls lange vor der neolithischen Revolution, ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Doch könnte die Menschheit vollgültigen Ersatz gefunden haben: Das rituelle Morden wäre nicht nur entschuldigt, sondern sogar geboten. Es wäre der Wille der Gottheit oder der Geister, der hier erfüllt wird. Ein Beispiel einer rituellen Tötung durch einen zeitgenössischen »Wilden« hatte schon Darwin mitgeteilt: Ein Eingeborener in Westaustralien habe dem weißen Beamten nach dem Tod einer seiner Frauen eröffnet, »dass er im Begriffe sei, zu einem entfernten Stamme zu gehen, um zur Befriedigung seines Gefühls von Pflicht gegen seine Frau ein anderes Weib mit dem Speere zu tödten« (Darwin, 1871, S. 148). Der Beamte verbot es ihm. Der Mann gehorchte, »wurde aber außerordentlich mager und klagte, dass er nicht ruhen und nicht essen könne, dass der Geist seiner Frau ihn heimsuche, weil er nicht ein anderes Leben für ihres genommen habe«. Daraufhin verschwand er für ein Jahr »und kehrte dann in gehobener Stimmung zurück«. Er hatte es doch getan, aber man konnte es ihm nicht nachweisen (1871, S. 148). Die rituellen Morde, könnte man Freud weiterdenkend sagen, schlagen sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie stillen die Mordlust und adeln sie zugleich, wobei die Mordlust selbst, wie in dem von Darwin berichteten Beispiel, gänzlich unbewusst bleibt und der Handelnde allein vom Bewusstein erfüllt ist, den heiligen Gesetzen des Stammes Genüge getan zu haben.

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Vom Lustprinzip (»Belohnungssystem«) des Mörders2 Während ich diesen Text schreibe, fällt mir ein Zeitungsbericht über einen spektakulären aktuellen Mordfall in die Hände. Der 22-jährige Christoph W. »hat vor einem Jahr die Eltern seiner letzten Freundin getötet – er beschuldigte sie, ihn und ihre Tochter auseinandergebracht zu haben. Zwei Wochen, nachdem sich die 17 Jahre alte Cornelia von ihm getrennt hatte, ist der junge Mann in ihr Haus eingestiegen und hat erst den Vater und dann die Mutter massakriert. Danach zwang er die Tochter, ihm dabei zu helfen, die toten Eltern zu vergraben« (Ramelsberger, 2013). Der prominente forensische Psychiater Norbert Nedopil erklärt die Konstellation, aus der heraus die Mordhandlung sich entwickelte, folgendermaßen: »Christoph W. habe seine Freundinnen wie eine Plombe benutzt – um eine Lücke zu verschließen, die er in sich spürte. Diese Lücke zeige sich in seiner Angst vor Misserfolgen und dem Gefühl, nichts wert zu sein. Deswegen suchte er sich immer sehr junge, unerfahrene Mädchen aus, mal waren sie 14, mal 15. Und er versuchte, sie in diesem Zustand zu halten: Er verbot ihnen den Kontakt zu Freunden, kapselte sie von allem ab, machte ihnen Vorschriften. Seine Freundin Cornelia, die in einem Autohaus arbeitete, sollte noch nicht einmal mit den Kunden sprechen. […] Die Mädchen sollten zu ihm aufschauen – obwohl da wenig war, weswegen man aufschauen konnte. Zweimal hatte Christoph 2 Der Autor einer Arbeit mit dem verheißungsvollen Titel »Eine Therapiestunde mit einem Mörder. Aus der psychodynamischen Behandlung in einer Sozialtherapeutischen Anstalt« (Span, 2013) scheint diesen Titel allein der Sensation halber gewählt zu haben, da von der Mordthematik in dieser Therapiestunde überhaupt nicht die Rede ist. Der Untertitel nennt das wirkliche Thema: die Möglichkeiten und Grenzen einer Psychotherapie im Gefängnis.

Von den Tatverdächtigen bei Mord und anderen Gewaltdelikten sind ca. 87 % männlich und nur 13 % weiblich (bei den einzelnen Gewalt- und Tötungsdelikten etwas unterschiedlich, bei Mord und Totschlag sind 12,9 %, bei gefährlicher Körperverletzung 14,8 % der Tatverdächtigten weiblich; nach Hefendahl, 2011). Dies mag es rechtfertigen, dass Phänomen hier in erster Annäherung als ein spezifisch männliches zu behandeln. Natürlich sollte die weibliche Mord- bzw. Destruktionslust nicht prinzipiell ausgeklammert bleiben.

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W. versucht, auf Wunsch der Eltern auf die Realschule zu kommen. Zweimal war er gescheitert. Auch die Lehre schaffte er nur mit Mühe. Als die jüngere Schwester den Sprung aufs Gymnasium schaffte, fühlte er sich vollends als ›Loser‹. Ein paar Monate vor der Tat griff er seine Schwester an, versetzte ihr einen Fußtritt in die Rippen und einen Fausthieb gegen den Kopf« (Ramelsberger, 2013). Die Gefängnispsychiaterin berichtet, wie der junge Mann an dem Tag, als er erfuhr, dass der psychiatrische Gutachter ihn für schuldfähig erklärte, so heftig ausgerastet sei, dass sie Angst bekommen habe, »allein mit ihm in ihrem Arztzimmer, auch zwei Pfleger hätten ihn nicht beruhigen können. In einem besonders gesicherten Haftraum habe er mit Händen, Füßen und dem Kopf gegen die Tür geschlagen und mit dem Kopf gegen den Waschtisch gestoßen. Sie haben ihn dann mit fünf Gurten fixiert. Selbst da habe er noch versucht, sich herauszuwinden. Schon zuvor hatte er sich erregt – darüber, dass sein Vater das von ihm ohnehin nicht mehr genutzte Auto der Schwester überlassen wollte. Er erklärte, er wolle den Vater beim nächsten Treffen erschlagen« (Ramelsberger, 2013). Die Freundin habe die Funktion einer »Plombe« für ihn gehabt, wie der psychiatrische Gutachter, wohl in Anlehnung an ein von Morgenthaler geprägtes Bild, ausführt. Loch hatte schon vor Jahren (1972) in einem weiteren, sehr ansprechenden Text gezeigt, dass dies das zutiefst »mörderische« Problem ist, mit dem solche Plomben-Träger leben: dass der Verlust dieses »omnipotenten Objekts« sie selbst an den Rand des Todes bringt. Es bleibt ihnen nur die Wahl zwischen Mord, Selbstmord, Psychose oder, was Loch die »Bildung des Selbstbewusstseins« nennt: die innere Freiheit, ohne das Objekt zu überleben (Loch, 1972, S. 357). In dieser schönen und tiefgründigen Interpretation bleibt allerdings die Frage unbeantwortet: Was entscheidet darüber, ob es zu Mord, Selbstmord oder Psychose kommt? Ist es nicht doch eine Frage letztlich nicht mehr auf Umwelteinflüsse reduzierbarer Dispositionen, ob einer in die eine oder in die andere Richtung »getrieben« wird? Loch benennt somit zwar zutreffend das auslösende Moment, aber nicht das Ausgelöste, die Antwort »von innen heraus« in ihrer Spezifität: das Illusionsgebäude beispielsweise, das

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Christoph W. sich aufgebaut hat (»Wenn die Eltern beseitigt sind, kommt die Freundin zu mir zurück«), um die Tötung vor sich selbst als logisch, berechtigt und unabweisbar erscheinen zu lassen. Charakteristisch ist dann noch sein Verhalten bei der Ärztin, als er die Entscheidung des Gutachters erfahren hatte. Diese Information war sozusagen die Lunte, die an das innere »Pulverfass« gelegt wurde und dieses erneut zur Explosion brachte: ein heftiger aggressiver Erregungszustand, der ganz zum Schluss wieder in eine Tötungsphantasie einmündet: den Vater müsse er bei dessen nächstem Besuch umbringen. Jüngst sind zwei psychiatrische Studien zum Thema erschienen. Der Jugendpsychiater Remschmidt behandelt »Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen« (2012), der Psychiater Bandelow (2013) Grausamkeits- und Tötungsmotive allgemein sowie die Faszination, die von solchen Taten und Tätern ausgeht. In einem Interview über sein Buch hebt Remschmidt auf das breite Spektrum möglicher zu Tötungshandlungen hinführender Verläufe ab. Er referiert Studienergebnisse, die belegen, dass Gewaltneigung, etwa je zur Hälfte genetisch bzw. durch die Umwelt bedingt sei. Indikatoren für eine genetische Bedingtheit sieht er bei Straftaten vor dem zehnten Lebensjahr sowie Grausamkeiten gegen Menschen und Tiere in der Vorgeschichte. Biologisch, das heißt durch Eigentümlichkeiten der Gehirnreifung bedingt, sieht er auch die Neigung Jugendlicher und junger Erwachsener zu riskanten Verhaltensweisen. »Im Kopf werden wir erst später erwachsen als vor dem Gesetz« (Remschmidt, 2013, S. 61). Die Tat des jungen Erwachsenen Christoph W. wäre in der Systematik Remschmidts nur schwer unterzubringen. Diese Systematik ist vielleicht zu statisch-subsumtiv konstruiert, um Prozessverläufe wie diesen verständlich machen zu können. Ergiebiger für eine Differenzierung der psychoanalytischen Sicht auf Tötungsmotive ist das Buch von Bandelow, das mit der Darstellung einer Reihe spektakulärer und großteils öffentlichkeitsbekannter Mordgeschichten beginnt. Die Täter leiden nach seiner Diagnose an diversen Persönlichkeitsstörungen (antisozial, narzisstisch, Borderline-Syndrom, paranoid), aus denen heraus sie zu

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ihren Tötungshandlungen, zumeist Serienmorden, gekommen sind. Bandelow beruft sich zunächst, ähnlich wie Remschmidt, auf Zwillingsuntersuchungen zur Erblichkeit antisozialen Verhaltens, die nach dem Ausweis von Metaanalysen den Erbfaktor zu 41–56 % für ursächlich ansehen. Die andere Hälfte entstehe »durch ungünstige Umwelteinflüsse und weitere Faktoren« (Bandelow, 2013, S. 62 f.). Eine psychoanalytische Erklärung aus der Kindheitsgeschichte, zum Beispiel ein Ambivalenzkonflikt mit der Mutter bei Frauenmördern (2013, S. 63), wird von ihm zurückgewiesen. Diese »tiefenpsychologischen« Erklärungen, meint er, »bleiben ohne wirklichen Tiefgang« (2013, S. 65). Wirklich in die Tiefe führt nach seiner Auffassung der Rekurs auf biochemische Prozesse im Gehirn, näherhin auf das Dopamin- bzw. endogene Opiatsystem, das »Wohlfühlsystem«, das uns natürlicherweise »belohnt«, wenn wir etwas für unser eigenes Überleben oder für die Arterhaltung getan haben (Bandelow, 2013, S. 67). Das System spricht allerdings auch auf Ersatzbefriedigungen verschiedenster Art an; im Extremfall eben auch auf riskante Spiele, bis hin zu Selbst- und Mordgefährdung – allerdings nur, wenn das Wohlfühlsystem völlig darniederliegt, »kann eine solch verzweifelte Maßnahme wie die Autoaggression zu Wohlgefühl statt zu Schmerz führen« (S. 71). Ein Tötungstrieb lässt sich aus dieser Konzeption nicht ableiten, wohl aber ein biologisch verankertes Motiv zum Töten bei entsprechend charakterlich disponierten Personen (antisozial, Borderline usw.): die Suche nach Wohlfühlerlebnissen, die auf anderen, normaleren Wegen nicht erreichbar sind. Obwohl Bandelow die tiefenpsychologischen Interpretationen mit leichtem, zunächst einmal nicht ganz unberechtigtem Spott referiert, wo sich diese nämlich in einer pauschalen Rückführung auf die frühe Kindheit erschöpfen, ließe sich vielleicht bei genauerer Betrachtung doch eine Brücke zwischen beiden Ansätzen schlagen. Freud war ein »Biologe der Seele« (Sulloway, 1982); für rein milieureaktive Erklärungsmuster (wie leider in der heutigen Psychoanalyse verbreitet) kann er nicht in Anspruch genommen werden. Er sah die Menschen primär regiert von einem Lustprinzip,

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das durchaus biologisch verankert gedacht war und das bei ihm durch das Realitätsprinzip und das Über-Ich, was beides zusammen bei den biologischen Psychiatern als das Angstsystem figuriert, in Schranken gehalten wurde. Bandelow bringt Beispiele, die psychoanalytische Deutungen von Tötungsmotiven ad absurdum führen sollen, darunter die folgende Geschichte: »Der vierfache Frauenmörder Frank Gust, der als ›Rhein-Ruhr-Ripper‹ Schlagzeilen machte, schnitt einem seiner weiblichen Opfer das Herz heraus und legte es zwischen die Beine der Leiche. Du trägst dein Herz in der Scheide, wollte der Täter damit vielleicht seiner Mutter gegenüber symbolisieren, die sich weniger um ihren Sohn kümmerte, nachdem sie einen neuen Mann kennen gelernt hatte« (Bandelow, 2013, S. 64) – eine Symboldeutung, die Bandelow ablehnt. Man kann das, was der »Rhein-Ruhr-Ripper« hier vollbracht hat, als ein makabres Kunstwerk deuten3, nicht unähnlich dem, was modernen Aktionskünstlern manchmal eingefallen ist – mit dem entscheidenden Unterschied freilich, dass für die gegenwärtige Performance nicht ein Huhn oder eine Sau, sondern ein Mensch geschlachtet werden musste. Aber die Performance selbst kann wohl dazu angetan sein, über das gelungene expressive Werk zu triumphieren und sich ein Stückchen Dopaminbelohnung zu erhaschen. Dem Spott über tiefenpsychologische Symboldeutungen bei Bandelow fehlt es somit seinerseits an Tiefgang. Die beiden Geschichten des Christoph W. und des »Rhein-RuhrRippers« enthalten reaktive Anteile: die mit Händen zu greifende Kränkung des Ersteren durch die Abwendung der Freundin Cornelia, die mehr hypothetisch angenommene Verletzung des Letzteren durch die Mutter, von der er sich vernachlässigt fühlte. Das wäre jeweils die »Lunte«, die an das »Pulverfass« gelegt wurde. Der 3 Nachträglich finde ich im Lebensbericht von John Douglas, einem langjährigen Spezialisten für Serienmorde beim amerikanischen FBI, als methodisches Prinzip der Aufklärung solcher Taten angegeben: »Will man den Künstler verstehen, muss man sich sein Werk ansehen. […] Die erfolgreichen Serienmörder planen ihr Werk so sorgsam wie ein Maler sein Gemälde. Sie betrachten das, was sie tun, als ihre ›Kunst‹« (Douglas u. Olshaker, 1996, S. 135).

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Prozess aber, der dadurch in Gang gesetzt wird und sich zur Mordhandlung verdichtet, läuft innengeleitet autonom ab: Die Handlungsmuster bilden sich aus der Matrix einer basalen Erregung, aus welchen sich die handlungsleitenden Phantasien auskristallisieren. Unter dem, was Freud die Mordlust oder den Tötungstrieb nannte (der von ihm »dahinter gesteckte« Todestrieb bleibe hier unerörtert), müssten heute all jene bio-psychologischen (neuronalen, humoralen und sonstigen) Dispositionen und Prozesse zusammengefasst werden, die die Tötungshandlung generieren. Was Freud als »Trieb« bezeichnete, differenziert sich somit heute in ein Konglomerat bio-psychologischer Prozesse.

Destruktionslust im Alltag: die »metaphorischen« Morde Bandelows Theorie, die sich auf Mörder mit psychiatrischen Diagnosen, vorwiegend antisozialen, narzisstischen und BorderlinePersönlichkeitsstörungen bezog, ist nunmehr zu erweitern. Die genannten Persönlichkeitsstörungen sind ja nichts anderes als Extremvarianten von Charakterzügen, die mit fließenden Übergängen zur Normalität in weniger extremer Ausprägung ubiquitär in Erscheinung treten. Wie mag es bei solchen »Psychopathologien des Alltagslebens« mit der Funktion des Belohnungssystems und deren Abweichungen in dissoziale Ersatzbefriedigungen bestellt sein? Beim »idealen Normalmenschen« ist die Sache klar. Er bezieht aus Aktivitäten der Selbst- und Arterhaltung so viele Gratifikationen, dass sein Belohnungssystem auf keinerlei Abwege kommt. Wer sich gut nährt und guten Sex hat, der hat es nicht nötig, destruktiv zu sein. Das klingt in Teilen vertraut nach Wilhelm Reichs Orgasmustheorie, die Freud als das Werk eines »Steckenpferdreiters« ironisierte, der »im genitalen Orgasmus das Gegengift jeder Neurose verehrt«. Freud hingegen mahnt an dieser Stelle »etwas Respekt vor der Komplikation des Seelischen« an (Freud u. Andreas-Salomé, 1966, S. 191).

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Nun werden aber die wenigsten Kulturmenschen mit diesen Gratifikationen ihres Nervensystems auskommen – ganz abgesehen davon, dass noch nicht einmal ausgemacht ist, ob sich das Belohnungssystem mit dem modernen, nicht unbedingt fortpflanzungsorientierten Sex zufrieden gibt und seine Gratifikationen daraufhin in zufriedenstellender Menge ausschüttet. Ersatzbefriedigungen aller Art müssen also herhalten: bei mir zum Beispiel eine gelungene Analysenstunde oder ein publizierter Aufsatz; allgemein Geld, Reisen, öffentliche Ehrungen und vieles andere. Was aber, wenn unser Belohnungssystem funktionsgestört ist (was ja vielleicht auch bei mehr oder weniger normalen Menschen vorkommen kann) und auf alles das nicht genügend anspricht? Dann stellt sich auch hier wieder die Frage nach anderen, stärkeren Reizen. Mord und Totschlag etc., wie bei Bandelow beschrieben, scheinen sich für den Normalmenschen zu verbieten, das soziale Angstsystem (psychoanalytisch gesprochen: das Realitätsprinzip vereint mit dem Über-Ich) bremst etwaige Anwandlungen aus, den lieben Nächsten zu erwürgen. Was also dann? »Wir führen den Tod nicht wirklich herbei, wir denken und wünschen ihn bloß. […] Wir beseitigen in unseren stillen Gedanken alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt oder geschädigt haben, täglich und stündlich«. Das heißt: Nur in unserem Unbewussten »sind wir alle noch heute eine Rotte von Mördern« (Freud, 1915i/1991, S. 140). Nur in unserem Unbewussten? An dieser Stelle, scheint es, hat Freud das Problem allzu elegant aus der Welt geschafft, indem er die Todes- und Tötungswünsche nur durch unsere »stillen Gedanken« geistern ließ. Natürlich wusste er, dass dies nur die Version für die frommen Seelen ist (die zitierten Sätze stammen aus seinem Vortrag vor der jüdischen Loge B’nai B’rith) und dass es sich in Wahrheit anders verhält. Das belegt die bekannte Homo-homini-lupus-Stelle in »Das Unbehagen in der Kultur«: »Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen […], der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des

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letzten Weltkriegs in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen« (Freud 1930a, S. 471). Aggressionsdurchbrüche können auch spontan erfolgen, haben aber normalerweise zur Bedingung, dass »die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind« (1930a, S. 471) – zur Bedingung also, dass das Angstsystem bzw. Realitätsprinzip und Über-Ich das Töten und seine symbolischen Äquivalente nicht mehr verbieten (wie z. B. bei den entfesselten Germanenoder Mongolenhorden) oder sogar als löblich im Namen höherer Werte (Religion bei den Kreuzfahrern, Vaterland im Ersten Weltkrieg) hinstellen. Natürlich: Die Träume vom Töten und vermutlich mehr noch vom Getötetwerden sind Legion; ihre Bedeutung im psychischen Haushalt ist nicht zu unterschätzen. Bedeutsamer aber sind Mordäquivalente in der sozialen Realität sozusagen unterhalb der Schwelle des Strafgesetzbuches. Nicht umsonst kennt die Sprache Morde im metaphorischen Sinn: Rufmord, jemanden mundtot machen (ich weiß, das mit dem »Mund« ist eine Volksetymologie, aber eine treffende), jemanden fertig machen, vernichten, zu Tode hetzen usw. Diese Ausdrücke bezeichnen Mordaquivalente, die durch die sozialen Angst- und Kontrollsysteme gerade noch toleriert werden. Es ist somit plausibel, dass auch der Normalmensch, sofern er seine Wohlfühlgratifikationen nicht allein aus Aktivitäten der Selbst- und der Arterhaltung bestreiten kann (was unter den obwaltenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur ausnahmsweise der Fall sein dürfte), auf Ersatzbefriedigungen auch aus dem aggressiven Verhaltensrepertoire angewiesen sein wird. Er wird sich bei intaktem Angstsystem respektive Realitätsprinzip plus Über-Ich auf solche Aktivitäten beschränken, die entweder nicht im Strafgesetzbuch stehen (z. B. Mobbing), oder er wird, besser noch, wie schon der Urmensch solche Aktivitäten wählen, die durch einen »höheren Zweck« gerechtfertigt oder gar geboten erscheinen.

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»Soldaten sind Mörder«, Psychoanalytiker etwa auch? Das Bundesverfassungsgericht hatte 1994 über den Fall eines Sozialpädagogen zu urteilen, der an seinem Auto einen Aufkleber mit dem Tucholsky-Zitat »Soldaten sind Mörder« angebracht hatte und deshalb wegen Volksverhetzung und Beleidigung des Nebenklägers, eines Bundeswehrsoldaten, verurteilt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil auf, weil die Grenzen der Meinungsfreiheit nicht überschritten worden seien. Kein »verständiger Leser« könne den Satz so verstehen, als ob Soldaten eines Mordes im Sinn des Strafgesetzbuchs beschuldigt werden sollten. »In der Alltagssprache ist ein unspezifischer Gebrauch der Begriffe ›Mord‹ und ›Mörder‹ […] durchaus üblich« (BVerfG Beschluss vom 25. 8. 1994). Wenn ich im Folgenden der Frage nachgehe, wie weit »metaphorische Morde« auch ein Problem der psychoanalytischen Communitys sind, nehme ich mir die Freiheit des vom Bundesverfassungsgericht legitimierten alltagssprachlich-unspezifischen Wortgebrauchs. Kämpfe in der Psychoanalytikerzunft wurden schon immer mit besonderer Gehässigkeit ausgetragen: mit der Tendenz, den Andersdenkenden zu »vernichten«. Bekannt ist Freuds »Nachruf« auf den abtrünnigen Alfred Adler, als ihn die Nachricht von dessen Tod in Aberdeen erreichte: Für einen Judenbuben aus einer Wiener Vorstadt sei ein Tod in Aberdeen an sich schon eine unerhörte Karriere (nach Gay, 1988, S. 615). Ähnlich gehässige Nachrufe hat er C. G. Jung hinterhergeschickt: Er frohlockte, dass man den heiligen brutalen Jung und seine Nachbeter nun glücklich los sei (nach Gay, 1988, S. 241). Den Abtrünnigen gegenüber, die in Freuds Augen Verrat an der geheiligten Sache der Psychoanalyse geübt haben, fühlte er sich zu jeder Häme berechtigt. In etwas urbaneren Formen, aber doch gespickt mit subtilen Bosheiten gestaltete sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden Grandes Dames der Kinderanalyse Melanie Klein und Anna Freud und ihren jeweiligen Anhängern (Peters, 1979, S. 134 ff.). Die herabsetzenden und diskriminierenden Auseinandersetzungen in und zwischen den psychoanalytischen Gruppierungen und

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Institutionen sind mittlerweile Legion. Ein unter Pseudonym veröffentlichter Erfahrungsbericht aus einem österreichischen Institut (Weber, 2004) mag hier stellvertretend für viele ähnliche Verläufe Erwähnung finden, die nur meistens nicht publiziert werden. Ich persönlich bin zur Zielscheibe der Verteidiger der psychoanalytischen »Ethik« geworden, weil ich es seinerzeit gewagt habe, im Vorfeld der Etablierung eines neuen Gesetzesparagraphen 174c StGB eine abweichende Meinung zu vertreten. Mathias Hirsch diskreditiert mich in der Fachöffentlichkeit mit der Behauptung, ich hätte geschrieben, man müsse sich die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung mit der Patientin offenhalten (Hirsch, 2012, S. 124) – in tendenziöser Fehlinterpretation eines Textes, der zudem in einem ganz bestimmten, heute überholten Diskussionskontext stand. Was ich mit alledem sagen will: »Kreuzzüge« sind seit alters her der probateste Weg, persönlichen Herabwürdigungen, Entwertungen und Verletzungen bis hin zum Rufmord ein sittliches Mäntelchen umzuhängen. Das Belohnungssystem im Gehirn schüttet gleich doppelte Wohlgefühle aus: für den gelungenen Dolchstoß und zugleich für den hochmoralischen Dienst an der guten Sache. Wieder war es Freud, der diese Erkenntnis drastisch zum Ausdruck gebracht hat, in einer brieflichen Äußerung über den zeitgenössischen Moralpädagogen Friedrich Wilhelm Foerster: »Denken Sie, ein Kerl spielt den Ethiker, den Edlen, der sich gegen den Gemeinen wendet, und erwirbt sich so das Recht (!): Unsinn zu quatschen, seine Ignoranz und Leichtfertigkeit zu paradieren, seine Galle auszuleeren, zu verdächtigen und zu verdrehen. Das alles im Namen der höheren Sittlichkeit« (Freud u. Pfister, 1963, S. 31). Zu guter Letzt frage ich mich: Warum kämpfe ich für Freuds von der Psychoanalyse weithin aufgegebene Vorstellung einer archaischen Mordlust auch noch des heutigen zivilisierten Menschen? Ich will den Menschen, das heißt ich will mich so sehen, wie Freud ihn beschrieben hat. Warum? Weil mir Freuds Mythologie besser zusagt als die heutigen Psychomythologien. Ich will nicht mit Loch, Balint, Winnicott und all den psychoanalytischen Menschenfreunden in ihrem Gefolge sagen: Wenn ich böse, das heißt destruktiv,

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oppositionell, misanthropisch geworden bin, dann geschah das, weil ich so viel gelitten habe: zu wenig Mutterliebe, zu wenig Empathie. Ach ja, mir kommen die Tränen. Diese ganze moderne Selbstmitleids- und Opferlitanei ist mir verhasst. Ich will mich lieber als Täter sehen denn als Opfer. Mit Shakespeares Richard III. will ich ehrlich sagen: So beschloss ich denn, ein Bösewicht zu werden. Ich meine, dies wäre auch Freuds Intention gewesen. Seine viel gescholtene Wende von der Verführungstheorie zur Theorie der frühkindlichen Sexualität könnte auch in diesem Sinn verstanden werden, dass er dem Kind seine Würde als Täter zurückgeben wollte: im Ödipus-Drama selbst der Akteur zu sein, der den Inzest und den Vatermord will. Aber man darf nie aus dem Blick verlieren: Das arme Opfer und der heroische Bösewicht – beides sind Mythen. Die Wirklichkeit sieht regelmäßig bescheidener aus, wie Robert Gernhardt (1996, S. 238) dichtete: Ach nein, ich kann kein Schächer sein, da müsst’ ich wilder, frecher sein, wahrscheinlich auch viel böser; und weil ich lahm und feige bin4, nicht Bratsche und nicht Geige bin, langt’s nicht mal zum Erlöser

Literatur Ahlström, T. (2008). Ein frühes Beispiel fürs Skalpieren aus dem mesolithischen Gräberfeld Skateholm, Schweden. In J. Piek, T. Terberger (Hrsg.), Traumatologische und pathologische Veränderungen an prähistorischen Skelettresten (S. 59–66). Rahden: Marie Leidorf. Bandelow, B. (2013). Wer hat Angst vorm bösen Mann? Warum uns Täter faszinieren. Reinbek: Rowohlt.

4 Bei Freud ist es das Gewissen, das »Feige aus uns allen« macht! (Freud, 1930a, S. 494, Fußn. 1 – eigene Anm.).

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Die Psychoanalyse, der Tod und die Trennung der Liebenden Ein Erfahrungsbericht

»Plötzlich und unerwartet …« »Plötzlich und unerwartet« traf mich die Anfrage, einen Beitrag zum Thema »Tod und Psychoanalyse« zu schreiben. Ich wusste nicht, was ich dazu beitragen könnte. Das erschütterte mich. Denn ich bin seit vierzig Jahren Pfarrer und seit zwanzig Jahren Psychoanalytiker. Zumindest durch meinen Beruf als Krankenhausseelsorger sollte ich mit dem Tod vertraut sein. Und: Hatte ich denn in meinen psychoanalytischen Behandlungen den Tod einfach übersehen – oder spielte er keine Rolle? Ich war nicht nur erschüttert, sondern auch beschämt. Als der Schreck nachließ, dämmerte mir, dass es da doch in Seelsorge wie Psychoanalyse Erfahrungen mit dem Tod gab, und die Erinnerungen daran stellten sich langsam wie scheues Rotwild wieder ein. Natürlich ging es im Krankenhaus immer auch um den Tod – und mehr noch um seine Verdrängung (Wiedemann, 1996). Und natürlich hatte ich Patienten in Psychoanalyse mit unheilbaren Krebserkrankungen; ich hatte Behandlungen, die durch den Tod des Patienten beendet wurden; ebenso hatte ich mit suizidgefährdeten Patienten zu tun. Und natürlich hatte ich, schon der Ausbildung wegen, von Freuds Todestrieb gelesen. Aber: Der Schock der Anfrage bewirkte, dass ich »schauen« wollte, wie der »Tod« in meinen Behandlungsstunden vorkam. Im Folgenden berichte ich von dieser Erkundung.

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Wolfgang Wiedemann

Jenseits des Todestriebes Wenn in der Psychoanalyse vom Tod die Rede ist, ist man schnell beim »Todestrieb«. Der Begriff des »Todestriebes« ist ein metapsychologisches Konstrukt, das Sigmund Freud 1920 eingeführt hat, um damit den Sinn menschlicher Destruktivität zu ergründen (Freud, 1920g). Damit es plausibel wird, wird klinisches Material herangezogen (Feldman, 2000; Segal, 1993), das Phänomene beschreibt, die sich klinisch unter Begriffen wie Wiederholungszwang, Destruktivität oder negative therapeutische Reaktion zusammenfassen lassen (Kreuzer-Haustein, 2013). Mit der Einführung des »Todestriebs« in die psychoanalytische Diskussion hat Freud – so problematisch der Begriff ist (Matte Blanco, 2005; Mills, 2006; Caropreso u. Simanke, 2008; Abel-Hirsch, 2010) – zumindest eines erreicht: Der Tod ist als Thema in die Psychoanalyse einbezogen worden, wenigstens auf metapsychologischer Ebene (Künzler, 1986). Mir geht es hier um die subjektiv-phänomenologische Ebene. Das heißt, ich gehe der Frage nach, wie der Tod in meinen psychoanalytischen Behandlungen zum Thema wird. Ich unterscheide dabei zwischen einem manifesten Vorkommen und einem latenten. Als »manifest« verstehe ich das Todesthema in den nachfolgend aufgelisteten Fällen. Bei einer kursorischen Durchsicht des »International Journal of Psychoanalysis« und der »Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen« über die letzten zwanzig Jahre zeichnen sich folgende Variationen ab: −− Ein Patient erkrankt unheilbar (Hildebrand, 1995; Minerbo, 1998; M’Uzan, 1998) oder er erreicht ein Alter, in dem der Tod nicht mehr verleugnet werden kann (Settlage, 1996; Quinodoz, 2009). Beides kann auch zusammenfallen (Dehm-Gauwerky, 2007). −− Der Analytiker erkrankt unheilbar (Feinsilver, 1998; Paniagua, 2002; Torrigiani u. Marzi, 2005; Biermann, 2008) oder er erreicht ein Alter, in dem der Tod nicht mehr verleugnet werden kann – oder er verleugnet ihn doch (Ullrich u. Thomä, 2010; Radebold, 2010).

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−− Patienten werden suizidal (Gabbard, 2003; Chassay, 2006; Tillman, 2006). −− Die Analyse »stirbt« – durch Abbruch, negative therapeutische Reaktion (Rössler-Schülein, Diercks, Löffler-Staska, Schwinghammer u. Skale, 2009), sie wird leblos (Ogden, 1995; Bron­ stein, 2002), der analytische Prozess hört auf (Eshel, 1998), er scheitert (Stark, 2010) oder die Analyse endet »natürlich«, in gegenseitigem Einvernehmen, weil das Geld ausgeht oder die Ziele erreicht sind  – wie in der »Beendigungsliteratur« diskutiert. Sie bringt aber die Trennung des analytischen Paares nicht oder nur beiläufig (Plopa, 2010) mit dem Tod in Verbindung (Ferraro, 1995; Ferraro u. Garella, 1997; Schachter, Martin, Gundle u. O’Neill, 1997; Conway, 1999; Quinodoz u. Barros, 2000; Schachter u. Brauer, 2001; Paniagua, 2002; Quinodoz, 2002; Grenell, 2004; Subrin, 2010). −− Manchmal wird das Todesthema vom Patienten so offen angesprochen, dass es nicht überhört werden kann (Jaffe, 2010), oft wird es aber vom Analytiker nicht aufgenommen oder unter anderen Aspekten verhandelt, zum Beispiel unter dem Aspekt von Bindungsverhalten (Buchheim, 2005). −− Sehr subtil kommt der Tod im Leben des Psychoanalytikers auf der Grenze zwischen Profession und Privatleben vor: Noch ist mir keine Studie darüber bekannt, wie Psychoanalytiker in den Urlaub gehen. Ich bin aber nicht der Einzige, der seine Praxis so »bestellt«, dass »im Falle eines Falles« (Todesfall) die Patienten »versorgt« sind und die ausstehenden Rechnungen von meinen Hinterbliebenen eingefordert werden können. Indirekt manifest kommt der Tod vor, wenn »über« einen Todesfall gesprochen wird: wenn zum Beispiel ein Bekannter des Analysanden erkrankt oder verstorben ist oder wenn ein Mitglied des psychoanalytischen Instituts stirbt. Die institutionelle Form des Umgangs mit dem Tod ist in aller Regel der schriftliche »Nachruf«, die psychoanalytische Beerdigung sozusagen oder die Gruppensupervision, die dazu dient, mit dem Tod eines nahestehenden Menschen fertig zu werden. Das geschieht

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meist bei problematischen Todesfällen (etwa Suizid eines Institutsmitglieds oder wenn die Frage kontrovers diskutiert wird, ob ein todkranker Kandidat noch Ausbildungsfälle übernehmen darf). Alle diese Fälle sind relativ offensichtlich, eben »manifest«. De Masi (2004) weist in seiner Untersuchung über den Tod in der Psychoanalyse darauf hin, dass zum Beispiel in der Panikattacke der Tod erfahren wird, und zwar körperlich. Das war mir neu, denn ich hatte die Panikattacke bei Patienten bislang immer unter dem Aspekt der Angst und ihrer Bewältigung gesehen. Dass sie eine Form des »Todes im Leben« sein kann, erfuhr ich erst hier. Allerdings hatte ich bei einem Patienten, einem jungen Mann, die Ahnung, dass seine Panikattacken nicht einfach wegtherapiert werden sollten, sondern ich sah sie als Ausdruck seines Lebenswillens. Aus meiner Arbeit im Krankenhaus wusste ich, dass es um Patienten, die keine Angst vor dem Tod (mehr) haben, schlecht steht. Sie haben den Willen zum Leben verloren. Ein ehemals suizidaler Patient überraschte mich am Ende einer mehrjährigen Analyse mit den Worten: »Sie haben mir die Angst wieder beigebracht.« Ich beziehe mich in meinem Erfahrungsbericht allerdings auf Fälle (mit Ausnahme von »Der Tod als Erlöser«), in denen das Thema Tod nicht manifest und nicht vorrangig auf der Körperebene auftritt, sondern psychisch und latent, auf jeden Fall nicht auf den ersten Blick erkennbar. Kann man den Tod im Leben überhaupt erleben? Ja, und zwar – allgemein – in Erlebnissen von Trennung, wobei der Tod nach dem Leben als die ultimative Trennung gesehen wird. Von Trennungen, die wir kennen, werden dann Schlüsse gezogen auf die Trennung durch den eigenen physischen Tod, die wir nicht kennen (ZwettlerOtte, 2006). Vor etlichen Jahren stieß ich auf eine Schrift, die sich der Frage stellte: Wie erscheint der Tod im Leben? Es handelt sich um Igor Carusos Buch: »Die Trennung der Liebenden. Eine Phänomenologie des Todes« (1986). Er untersucht darin, was Liebespaare erleben, wenn die Liebesbeziehung abbricht, weil sie nicht mehr weitergeführt werden kann. Seine These ist: Liebende erleben diese (unfreiwillige, gewaltsame) Trennung als einen psychischen Tod (manchmal in der Folge auch einen physischen Tod) in ihrem Leben.

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Ich konzentriere mich auf die Frage: Wie sieht die »Trennung der Liebenden« in der psychoanalytischen Behandlung aus? Für meine Untersuchung begrenze und erweitere ich sie folgendermaßen: 1. Die Begrenzung: Nicht jede Trennung wird als Tod erlebt. Es gibt Trennungen, die lediglich als Verlust erfahren werden. Diese Unterscheidung deutet sich schon in Freuds »Trauer und Melancholie« (1916–17g) an. Vereinfacht gesagt: Trauer ist die Reaktion auf einen Verlust – das Objekt geht verloren. Melancholie ist die Reaktion auf einen erlebten Tod, und zwar den eigenen, mitten im Leben – das Selbst geht zugrunde (vgl. Haas, 2006). 2. Die Erweiterung: »Liebende« sind nicht nur Menschen, die gerade »verliebt« sind. Jede Beziehung, in der Liebe eine Rolle spielt, hat auch die Dimension einer Liebesbeziehung. Ich meine damit Beziehungen wie: Mutter/Vater und ihr Kind; das Kind und sein Haustier; der Mensch und sein Gott; der Analytiker und sein Analysand etc.

Der Tod im Leben – der Psychoanalyse: Fallbeispiele Die Trennung der Liebenden – in Traumbildern Ein Patient mittleren Alters kommt in Analyse, weil eine außereheliche Liebesbeziehung soeben zerbrochen ist und er fürchtet, an diesem Zerbrechen der Liebesbeziehung selbst zu zerbrechen. Er hatte eine jüngere Frau in seinem beruflichen Umfeld kennengelernt, und die beiden hatten sich ineinander verliebt. Die Beziehung dauerte einen Sommer lang und brach dann abrupt ab. Die Geliebte beendete die Beziehung, die Gründe dafür sind nicht bekannt. Zwei Jahre und zweihundert Behandlungsstunden später hofft der Patient unverändert auf ein Wiedersehen mit seiner früheren Geliebten. Er trägt die Trennung noch immer wie eine schmerzende Wunde in sich und wünscht, die Beziehung könne wieder aufgenommen und freundschaftlich gestaltet werden. Die frühere Geliebte aber antwortet nicht auf seine Kontaktversuche.

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Ich habe von Anfang an den Eindruck, dass der Patient mit seiner Geliebten einen Sommer lang in einen paradiesischen Urzustand zurückgekehrt war und dass er diese regressive Erfahrung unbewusst gesucht und gebraucht hatte, um noch einmal »von vorn« anzufangen. Die Liebesbeziehung war für ihn wohl eine Art Rückkehr an einen Ort gewesen, von dem aus er sich noch einmal in die Welt hinaus wagen wollte. Ich nehme an, er wiederholte damit unbewusst ein frühes Erlebnis in der Absicht, dass die Trennung vom Paradies diesmal weniger traumatisch als »damals« gelingen möge. Die Trennung wurde aber wieder äußerst traumatisch, fast tödlich. Der einzige Unterschied zur Ur-Trennung (seiner Geburt, die traumatisch verlief; auch bei der Geburt wird eine Verbindung durchtrennt, die Nabelschnur) mag darin liegen, dass er nun die Katastrophe bewusst und im Rahmen einer Psychoanalyse erleidet (Halberstadt-Freud, 1993). Der Patient war zu keiner Zeit suizidal, aber er war dem Tod nahe: Einmal ging er auf einen Friedhof, auf dem er einst mit seiner Geliebten auch schon gewesen war. Er spürte einen Herzschmerz, somatisch und emotional, der so heftig war, dass er dachte, er stürbe auf der Stelle. Ich hatte nie die Befürchtung, er würde sich suizidieren, hatte aber tatsächlich Angst, er könnte am Trennungsschmerz sterben. Gleich am Anfang der Analyse brachte er zwei Traumbilder. Im ersten Traum sah er eine Seerose, die unterhalb des Wasserspiegels abgeschnitten wurde (wie eine Nabelschnur?). Im zweiten Traum sah er, wie die Wurzel der Seerose aus dem Boden gerissen wurde. Abgeschnitten und ausgerissen, getrennt und entwurzelt – so erlebte sich der Patient. Mir fiel sehr bald in der Analyse die oben genannte Untersuchung von Igor Caruso ein. Caruso kommt darin zu dem Ergebnis: Wenn Liebende getrennt werden, erleben sie den Tod im Leben. Sie sterben einen seelischen Tod, manchmal gefolgt vom physischen Tod, aber wenn sie physisch am Leben bleiben, müssen sie mit diesem Tod weiterleben – oder als lebende Tote, als »Zombies« leben (vgl. Tarantelli, 2003). Mein Patient erlebte mit der Trennung von seiner Geliebten den Tod in seinem Leben. In der Übertragungs-/

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Gegenübertragungskonstellation deutete sich eine Tendenz an, die »gutbürgerliche« Lösung zu wählen. Der Patient reagierte auf mich, als würde er von mir erwarten, dass ich zu ihm sagte: Vergiss das Ganze, geh zu deiner Familie zurück, das Leben geht weiter – die Stimme des Vaters. Ich dagegen meinte, diese Liebesbeziehung und ihr unglückliches Ende hätten einen Sinn, und es wäre schade, wenn wir uns nicht um den Sinn dieser seiner unbewussten Bemühung kümmerten, weil dann seine ganze Qual umsonst gewesen wäre. In der Analyse kam dann viel frühes Material, das um das Motiv Entwurzelung und Trennung kreiste: sein Bemühen, die zerstrittenen Eltern zusammenzuhalten, bis hin zur Geschichte seiner Geburt, die vorzeitig eingesetzt hatte und sehr dramatisch verlaufen war, in sich selbst eine erste lebensbedrohliche Trennung (vgl. Halberstadt-Freud, 1993). Die Traumbilder des Anfangs von der abgeschnittenen Seerose und der ausgerissenen Wurzel tauchten immer wieder auf, begleitet von emotionalem Schmerz. Sie gewannen eine neue Bedeutung, indem sie zum Sinnbild für wichtige Trennungen wurden. Sein idealisiertes Ich, paradiesisch verschmolzen mit dem idealisierten Selbst seiner Geliebten, starb; es starb aber auch ein väterliches Über-Ich-Introjekt, nämlich der »Vater«, der von ihm forderte, beruflich »sesshaft« zu werden (Verwurzelung) und zu beruflichem Ansehen zu kommen (die blühende Seerose?). Er musste sich auch von der Idee eines paradiesischen Paares trennen, das auf dem Hintergrund der Erfahrung von zerstrittenen Eltern reaktiv phantasiert und agiert worden war. Diese »Tode« oder Trennungen beraubten ihn zwar des paradiesischen Zustandes, eröffneten ihm aber auch ein Leben außerhalb des Paradieses. Praktisch hatten diese »Tode« zum Beispiel zur Folge, dass er nicht länger dem Lebensentwurf nachstreben musste, den sein Vater für ihn entworfen hatte, sondern dass er sich mit sich selbst als »Entwurzeltem« und als »Wanderer« anfreunden konnte. Im dritten Jahr der Analyse erzählte er mir, er habe geträumt: In einer Glasvitrine stand eine Vase, die sehr schön und zerbrechlich war. Er brachte sie in Verbindung mit seiner vergangenen Liebesbeziehung.

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Ich sagte: »Wenn Sie ›Vase‹ sagen, sehe ich eine Urne vor mir.« Er sagte: »Sie ist eigentlich keine Urne, sondern sehr fein und zerbrechlich, man muss sie vorsichtig anfassen.« Mir fiel der Satz aus dem Zweiten Korintherbrief (2 Kor 4,7) ein: »Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen«. Mein Patient hatte seinen »Schatz« nun auch in einem geträumten irdenen Gefäß. Ich sagte: »Es kommt mir vor, diese Erfahrung mit X ist nun in Ihnen, und man muss vorsichtig mit ihr umgehen, damit sie nicht zerbricht, sondern erhalten bleibt … und diese Vase ist zugleich ein Behälter, in dem Ihre Erfahrung mit X aufbewahrt wird.« Der Tod im Leben wurde nun »untergebracht« im Traumbild der wertvollen Vase/Urne in der Vitrine seines Innenlebens. Insofern war diese Analyse auch Trauerarbeit, ein individuelles »Ritual des Abschieds« (Haas, 1998).

Symbolische Bilder vom Tod im Leben Ein Patient in fortgeschrittenem Alter kommt mir an einem Samstag sehr deprimiert und suizidal vor. Er zögert, erzählt dann auf meine Nachfrage, dass er furchtbare Angst hat vor dem Arbeitsbeginn am Montag: Er hat eine Straftat begangen und fürchtet, dies komme seinem Arbeitgeber zu Ohren, dann werde er gefeuert, und »alles ist aus«. Ich sage ihm am Ende der Stunde, dass er mich übers Wochenende anrufen kann, falls es ihm sehr schlecht geht. Er war in der Vergangenheit schon suizidal gewesen. Wir vereinbaren zudem für Montag eine vorgezogene Stunde. Am Montagabend kommt er, erleichtert: Er hat erfahren, dass seine Ängste unbegründet waren. Sein Arbeitgeber wird nichts erfahren von seiner Straftat. Er erzählt mir dann in auffälliger Ausführlichkeit, wie er das Wochenende überstanden hat. Er hat mit großem Interesse ein Buch gelesen über Extrembergsteiger, die sich in Lebensgefahr begeben und überleben. Was für ein Unsinn, meint er. Ich sage: »Es ist Unsinn, und doch haben Sie das Buch mit großem Interesse gelesen und erzählen mir ausführlich davon. Ich

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glaube, Sie haben auch so etwas erlebt übers Wochenende: Sie hatten Todesängste – und lasen Geschichten vom Überleben.« Er ist wie vom Donner gerührt. »Stimmt. Ja, das passt.« Er war in Todesgefahr, in Todesängsten gewesen. Ich denke, seine Erschütterung – »wie vom Donner gerührt« – kam daher, dass seine unbenennbare Angst (»nameless dread«; Bion, 1967, S. 116) nun einen Namen bekommen hatte: »Todesangst«.

Die Trennung der Liebenden: Eltern und Kinder Eine Patientin mittleren Alters klagt übers Älterwerden, die Haut wird schlaff und faltig: »Wenn ich mich im Spiegel sehe und sehe meine Falten, dann könnte ich einen Hammer nehmen und den Spiegel zertrümmern.« Die Stimmung ist zunächst eher humorvoll. Die unbewusste Beziehungsqualität fühlt sich nach einer AlterEgo-Übertragung an. Ich denke an meine Falten und spüre Lust, Schwänke von meinem Ringen mit Alter und Falten mit der Patientin zu teilen. Ich vermute zunächst, dass es um ein narzisstisches Thema geht, um den Verlust ihrer Schönheit und ihrer weiblichen Identität, dazu um eine aggressive Abwehr, die in der Phantasie vom Zertrümmern des Spiegels, also der Realität, sichtbar wird. Die Realität wird zerspalten, aufgesplittert und entfernt (Bion, 1967). Ich gehe aber nicht auf die narzisstische Dimension des Materials ein, auch nicht auf die aggressive, sondern entschließe mich zu warten und zu sehen, was weiter geschieht. Die Patientin kommt auf ihre verstorbene »Oma« zu sprechen und erzählt, wie diese noch auf dem Totenbett gesagt habe, sie, die Enkelin, solle sich gut anziehen, schön machen, auf ihr Äußeres achten. Dann erinnert sie sich, wie ihre Großmutter starb und wie sie die Nachricht ihrem kleinen Sohn beibrachte. Sie sagte zu ihm: »Die Oma ist gestorben.« Er fragte sie: »Wann kommt die Oma wieder?« Die Patientin antwortete: »Die Oma ist gestorben, die kommt nicht wieder, nie wieder.« Der Junge war erschüttert. Er nahm das Gesicht seiner Mutter in die Hände und sagte eindringlich zu ihr:

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»Mama, du darfst nie sterben«. Nach einer kurzen Pause kehrt die Patientin zurück »zum Leben« – sie erzählt, was letzte Woche war und was nächste Woche sein wird. Unter dem Aspekt der Übertragung/Gegenübertragung und der biographischen Genese gestaltet sich hier das Todesthema folgendermaßen: Die Analyse ist noch im Anfangsstadium. Es stellt sich eine Alter-Ego-Übertragung/Gegenübertragung ein, vermutlich eine der frühesten Übertragungsformen, in der Analysandin und Analytiker noch »ein Herz und eine Seele« sind, ungetrennt. Die Analysandin mag identifiziert sein mit ihrem kleinen Sohn, aus dieser Identifikation heraus lässt sie mich, als Primärobjekt in der Übertragung, wissen, dass ich sie nie verlassen darf, dass sie sich eine »unendliche Analyse« (Freud, 1937c) ersehnt. Die Patientin wuchs mit einer kranken Mutter auf. Als Kind hatte sie ständig Angst, ihre Mutter würde sterben. Diese Angst wird in der Analyse reaktiviert und durch die Wahl der Übertragungsform sowie in der Phantasie der Zerstörung des Spiegels abgewehrt. Das Spiegel-Bild der sterbenden Mutter wird »zerschlagen«. In der folgenden Stunde erzählt die Patientin von ihrem erwachsenen Sohn (dem »Kind« der Vorstunde). Sie berichtet, dass er vor ein paar Tagen für längere Zeit ins Ausland verreist sei. In der Nacht nach seiner Abreise hatte sie einen Traum. Darin verabschiedete sie sich von ihm mit den Worten: »Bis du wiederkommst, bin ich tot.« Sie macht mich auf die Doppeldeutigkeit der Wendung aufmerksam: Der Satz kann bedeuten, dass sie stirbt, bevor er zurückkehrt; er kann auch bedeuten, dass sie während seiner Abwesenheit psychisch tot ist – als wäre ihr Kind ihre Seele, die verreist und wieder zurückkehrt. Mir fällt der Satz aus der Geschichte vom »verlorenen Sohn« (Lk 15,24) ein: »Siehe, mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden«. Auch hier wird die Trennung als »Tod« verstanden. Ich sage: »Ja, wenn man von jemandem, den man liebt, getrennt wird, ist das, als würde ein Teil von einem selber sterben, oder man selber …« Vielleicht ist die früheste Erfahrung von der »Trennung der Liebenden« die Geburt, bei der heftige Trauerreaktionen auftreten

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können – die »Postpartale Depression« –, die meist abgewehrt und entwertet werden mit dem Hinweis: »Die Hormone spielen verrückt« (dazu nochmals: Halberstadt-Freud, 1993). Und möglicherweise spiegelt sich in jeder »Trennung der Liebenden« die Ur-Trennung der Geburt.

Wie Todesangst mitgeteilt wird: Projektive Identifikation Die Patientin arbeitet im Management einer großen Firma in leitender Position. Sie kommt wegen einer eher »leichten« Symptomatik: Schlafstörungen. Während des Urlaubs kam sie gedanklich nicht von ihrer Arbeit los. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Nach Beginn der Behandlung verschwinden die Symptome. Sie wirkt effektiv und kompetent in Beruf und Familie, temperamentvoll und agil. Trotz der »Gesundung« kommt sie weiter motiviert in die Behandlung, erzählt viel und lebhaft von äußeren Geschehnissen, vorwiegend aus ihrer beruflichen Tätigkeit. Die folgende Vignette stammt aus der Anfangsphase der analytischen Therapie. Die Patientin hat heute eine raue Stimme. Sie berichtet, sie habe zeitweise ihre Stimme ganz verloren. Ich bin beunruhigt und denke, hoffentlich ist das nichts Ernstes. Ich warte ab. Sie beruhigt sich selbst: Sie habe sich eben einen Virus eingefangen; ihre Kollegin habe den auch … Dann scheint sie das Thema zu ändern. Sie sagt, sie solle am Wochenende ihr Haus putzen, habe aber keine Lust dazu. Ich bin weiter beunruhigt, besorgt, fast panisch. Ob es sich bei der rauen Stimme vielleicht um den Anfang eines Bronchialkarzinoms handelt? Ich erinnere mich lebhaft, wie mir vor vielen Jahren während einer Rede für Sekunden die Stimme wegblieb und ich in einem Augenblick von Todesangst dachte: Ist jetzt alles zu Ende?! Ich frage sie, ob sie wegen ihrer Stimme besorgt sei. Nein. Kurze Pause. Dann erzählt sie vom Tod einer jungen Frau durch Brustkrebs, die einen Säugling und einen Mann hinterlassen hat. Es folgt: Der Tod einer jungen Frau, wegen Darmkrebs, die eine Familie hinterlässt. Anschließend die Erinnerung an eine Leichenschau.

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Ich sage: »Viele Tote heute.« Sie schweigt ein paar Augenblicke, was ungewohnt ist. Dann kommt sie auf ihre berufliche Situation zu sprechen und redet sich in Rage. Nach der Stunde habe ich das Gefühl, ich hätte sie trösten sollen, aber da war nichts zum Trösten da. Rückblickend ergibt sich mir folgendes Bild: Meine Reaktionen waren einerseits übertrieben, andererseits ist es schwer zu übersehen, dass das Material tatsächlich viel mit Tod zu tun hat – und mit der Abwehr von Todesängsten. Die Abwehr zeigt sich an folgenden Punkten: −− Das Symptom (raue Stimme) wird als Virusinfektion definiert, die eben mal rumgeht, aber kein Anlass zur Sorge ist. −− Sie spricht dann von einer Aufgabe, die wahrzunehmen ist (Haus putzen = das Symptom analytisch zu klären, die unbewusste Angst zu bearbeiten), aber sie hat keine Lust dazu. Daraufhin kommt viel Material, das auf Todesängste hindeutet. Das Unbewusste kommuniziert diese Ängste einmal durch symbolische Erzählungen, so bleiben sie vorbewusst. Im Wesentlichen aber werden die Todesängste durch projektive Identifikation in mich hinein evakuiert. Sie sucht schließlich Zuflucht vor ihren Todesängsten, indem sie sich über einen Vorfall im Beruf in Rage redet. »Trost« ist in dieser Phase verbal nicht möglich, weil Todes- und Trennungsängste dem Denken und Fühlen noch nicht zugänglich sind. »Trost« geschieht allerdings durch projektive Identifikation. Ich lasse mich von dem Todesangst-»Virus« anstecken, mehr noch: Ich nehme ihn ihr ab. Die Kindheit der Patientin war beherrscht von der Angst, ihre kranke Mutter könnte sterben, und sie war tatsächlich mehrmals dem Tod nahe. Der einzig sichere Ort für sie war die Schule. Aber täglich ging sie mit der Angst nach Hause, sie würde ihre Mutter dort tot vorfinden. Diese Situation spiegelt sich nun in der Übertragung/Gegenübertragung. Sie sucht Schutz vor ihren Todesängsten (ausgelöst durch den Verlust der Stimme) in der beruflichen Situation und macht mich zur Mutter, die in der Lage sein soll, die Todesängste des Kindes aufzunehmen und auszuhalten. Zugleich

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dreht sie die Situation um: Ich werde zum Kind voller Angst, und sie beruhigt mich mütterlich, es sei »nur ein Virus«. So reinszeniert sie ihre frühe Parentifizierung, die sie von Kindheit an in die Rolle der »kleinen« Mutter zwang, weil ihre Mutter über Jahre todkrank war. Die Kommunikation von Todesangst durch projektive Identifikation außerhalb des klassischen Settings, nämlich im Krankenhaus, habe ich ausführlich an anderer Stelle beschrieben (Wiedemann, 1996). Damit »projektive Identifikation« überhaupt gelingen kann, ist es nötig, dass der Patient im Analytiker einen »Aufhänger« findet oder einen Punkt zum »Andocken«, und dieser Punkt ist die eigene Sterblichkeit und Todesangst des Analytikers. Darauf hat schon Kurt Eissler in seiner grundlegenden Studie »Der sterbende Patient« im Kapitel über die »Gegenübertragung« eindringlich hingewiesen (Eissler, 1955/1978, S. 183 ff.). Erst durch die konzeptionellen Weiterentwicklungen des Übertragungs-/GegenübertragungsKonzepts durch Klein, Bion (projektive Identifikation) und Kohut (Empathie) ist es möglich geworden, die Dynamik dieser Übertragungskonstellation näher in den Blick zu bekommen und damit zu arbeiten. Das bedeutet: Die Kommunikation von Todesangst kann nur gelingen, wenn der Analytiker seiner Todesangst bewusst und in der Lage ist, dieses »Bewusstsein« für den analytischen Prozess zur Verfügung zu stellen. Wie schwierig dies für den Analytiker sein kann, zeigt sich gleich am Anfang der folgenden Vignette.

Der Tod in der Übertragungsinszenierung Die Patientin legt sich auf die Couch und fragt: »Haben Sie Schmerzen?« Ich bin überrascht, ein wenig überrumpelt, nein, ich habe keine Schmerzen und sage ihr das. Mir fällt eine Episode ein, die dreißig Jahre zurückliegt. Meine Supervisorin fragte mich am Anfang einer Stunde: »Are you in pain?« Ich war »in pain«, wusste es aber nicht. Durch ihre Frage wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich voller Schmerzen war. Ich stand vor einer schweren Trennung, musste das Land (Australien), in dem ich

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gern noch länger geblieben wäre, verlassen. – Dann fielen mir Situationen ein, in denen mir mein Gemütszustand wie ein offenes Buch im Gesicht geschrieben stand, während ich dachte: Niemand merkt, was in mir vorgeht. Ich dachte an einen Ausspruch Kohuts: »Wenn es eine Lektion gibt, die ich während meines Lebens als Analytiker gelernt habe, dann die, dass das, was meine Patienten mir sagen, wahrscheinlich stimmt« (1984, S. 141), und ich hatte tags zuvor einen Aufsatz gelesen (Feinsilver, 1998), durch den ich mich ermutigt fühlte zu sagen: »Ich spüre zwar keinen Schmerz, aber vielleicht haben Sie Recht: Ich gehe gerade in den Ruhestand – in meiner Krankenhaustätigkeit, und das mag mich mehr mitnehmen, als mir lieb ist.« Die Patientin schweigt. Dann sagt sie: »Mir fällt dieser eigenartige Satz ein, den Sie letztes Mal sagten (als sie mir berichtete, dass sie nicht aus ihrem Bett gekommen war): Ihr Bett ist Ihre Mutter.« Darauf erinnert sie sich an die Todesnacht ihrer Mutter. Sie schlief erschöpft neben ihrer sterbenden Mutter ein, suchte ihre Nähe. Die Mutter schrie vor Schmerzen – aber sie schrie nicht nach ihr, sondern nach ihrer Schwester. »Mich hat es zerrissen vor Wut.« Sie ist mitten im Erzählen. Ich muss sagen: »Die Zeit ist um«. Sie schreckt auf, verlässt schnell die Couch und das Zimmer. Ich denke, betroffen: Ich bin die sterbende Mutter geworden, ausgelöst durch meinen Pensionierungsschmerz. Und ich muss die Stunde beenden, weil eine neue Patientin kommt – als wäre ich die Mutter, die nach der Schwester ruft. Dies war in meiner Sicht eine genaue Wiederholung der Trennung von der sterbenden Mutter in der Übertragungsinszenierung.

Die »tote Mutter« und der Vater, der nicht umzubringen ist André Green (1980/2001) hat mit seinem Begriff der »toten Mutter« eindrücklich eine Todeserfahrung beschrieben, die psychischer Natur ist: Sie tritt ein, wenn die Mutter dem Kind emotional nicht mehr zur Verfügung steht (Eshel, 1998; Kohon, 1999). Zunächst zwei Vignetten, die Variationen der »toten Mutter« darstellen:

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Die Betonbrust Die folgende Vignette bezieht sich auf eine mehrjährige Analyse mit einem Patienten, der unter schweren Depressionen litt. Schon in der ersten Stunde sagt er: »Ich kann nicht weinen, weil die Tränen nicht versickern können, der Grund ist aus Beton.« – Ich denke zuerst an eine »Betonbrust« und an Greens »tote Mutter«. Das Motiv des zubetonierten Erdbodens taucht im Verlauf der Analyse immer wieder auf. Der Patient erlebte, wie ein Geschwister durch tragische Umstände zu Tode kam. Dadurch wurde seine Mutter traumatisiert und stand ihm in ihren mütterlichen Funktionen kaum mehr zur Verfügung. Emotional wurde er also sehr früh von seiner Mutter getrennt. Deshalb konnte er seine Trauer nicht in sie »hineinsickern« lassen (vgl. auch Hanns-Josef Ortheils Roman »Die Erfindung des Lebens«, 2009) In der Übertragung/Gegenübertragung erlebte ich den Patienten als »Kind«, das sich um sich selbst sorgen musste und es nicht zulassen konnte, dass ich für ihn sorgte. Oft kam es mir vor, dass meine Interpretationen bei ihm nicht »einsickern« konnten. Auf diese Weise bewirkte er, dass die frühe Situation umgekehrt wurde: Nun war er, identifiziert mit der »toten Mutter«, der Betonboden, der nichts von mir aufnehmen konnte. Das halbtote Elternpaar Der Patient geht regelmäßig auf den Friedhof, um das Grab seiner Eltern und damit die Beziehung zu ihnen zu pflegen. Er scheute sich anfangs, mehr darüber zu erzählen, denn er hatte Angst, ich würde ihn für verrückt halten. Es stellte sich heraus: Wenn er am Grab seiner Eltern stand, sprach er mit seinem Vater. Dieser Vater war psychisch für ihn lebendig. Irgendwann fiel mir ein, dass ja seine Mutter auch im Grab lag. Ich fragte ihn, wie er das mit der Mutter im Grab halte. Er sagte, mit ihr rede er nicht. Es stellte sich heraus, dass er mit ihr nicht redete, weil sie ihn in seiner Kindheit emotional vernachlässigt hatte. Er hatte als Kind mehrmals versucht, sie zu umarmen, aber sie hatte sich ihm verweigert. Auch wenn er krank war, wurde er von der Mutter wie ein ansteckender Aussätziger behandelt.

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Natürlich waren diese beiden »Eltern«, die inneren Objekte, auch in der Übertragung/Gegenübertragung lebendig. Er brauchte mich als »Vater« zum Idealisieren, um die Erfahrung der »toten Mutter« zu kompensieren. Hin und wieder kamen im Verlauf der Analyse Einbrüche und Abbrüche, in denen ich die Rolle der »toten Mutter« zugeteilt bekam. Er brach die Behandlung ab, hoffte aber inständig, ich würde den Kontakt zu ihm (dem kranken Kind) wieder aufnehmen. Alles Kranke verbarg er vor mir. Eines Tages kam er mit einem Schnupfen und wollte sich an der Haustür gleich wieder verabschieden. Später sagte er mir, er habe sich gewundert, dass ich ihn trotz seiner Erkrankung mit Handschlag begrüßt und ins Behandlungszimmer gebeten hätte.

Der Vater, der nicht umzubringen ist – oder: Was geschieht, wenn die »Trennung der Liebenden« nicht gelingt? Die Patientin sitzt mir gegenüber und beschimpft sich. Sie hat einen Fehler gemacht, der sie teuer zu stehen kommt. Ich fühle mich während ihrer Selbstanklagen ausgeschlossen. Ein Bild entsteht in mir: Ein Erwachsener schimpft sein Kind aus und ohrfeigt es, während ich machtlos bin, einzugreifen. Ich werde weder vom Erwachsenen noch vom Kind gehört oder auch nur wahrgenommen. Als die Patientin kurz Atem schöpft in ihrer Tirade, beschreibe ich ihr das Bild, das in mir entstand, während sie mit sich selbst unerbittlich zürnte. Sie sagt dann: »Genauso war es zu Hause. Mein Vater hat geschimpft und getobt – und meine Mutter mischte sich nicht ein, sie hatte immer was anderes zu tun.« Ich sage: »Genauso erlebe ich die Situation jetzt wieder: Ich komme mir vor wie Ihre Mutter, die außen vor ist – während Sie sich runtermachen, wie Ihr Vater Sie runtergemacht hat.« Sie: »Aber das kann doch nicht sein … nach fünfzig Jahren immer noch …« Ich: »Der Vater in Ihnen … da tobt er noch immer.« Das Gespräch ergibt weiter, dass der Fehler, den sie gemacht hatte, als unbewusste väterliche Bestrafung verstanden werden kann. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die ihr Vater völlig

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missbilligt hätte. Nach dieser Entscheidung »passierte« ihr ein kostspieliger Fehler. Den erlebte sie als »Bestrafung« – und ich glaube, sie hatte recht: Der Fehler war, unbewusst, die Strafe des Vaters. Weil sie mit diesem Vater immer noch identifikatorisch verbunden ist, hatte sie sich selbst bestraft. Ich sehe hier eine ungelöste ödipale Situation: Der Vater der Patientin lebt als Introjekt in ihr. Obwohl er schon über zehn Jahre tot ist, sind die beiden, Vater und Tochter, immer noch eng »lebendig« miteinander im Streit verbunden. Die »tote« Mutter stand und steht in diesem Fall für eine gesunde Triangulierung nicht zur Verfügung.

Der Tod am Ende der Stunde Manche Patienten erleben das Stundenende wie einen Tod (wie ein »Fallbeil«, sagte eine Patientin). Eine junge Frau fand es jedes Mal sehr schwer, die Stunde zu beginnen. Sie bat mich, ob ich nicht anfangen könne, dann ginge es ihr besser. Ich fragte, was es ihr wohl so schwer mache, mit dem Reden zu beginnen. Es stellte sich heraus, dass die meisten Stunden nach einem Muster verlaufen waren. Der Anfang war schleppend und schwierig, dann wurde sie lebendiger, fand Gefallen am Erzählen und vergaß die Zeit. Ich musste jedes Mal die Stunde beenden, und dieses Beenden war für sie – und für mich – ein gewaltsames Abbrechen, ein Hinauswurf und Hinausgeworfenwerden. Weil sie davor Angst hatte, wollte sie nicht mehr zu reden beginnen, nicht mehr lebendig werden. Die Angst vor dem Lebendigwerden (weil man dann sterblich wird) ist nicht nur im Mikroprozess zwischen Stundenanfang und Stundenende zu beobachten, sondern auch im Makroprozess von analytischen Behandlungen. So habe ich mehrmals erlebt, dass die Analyse beendet oder abgebrochen wurde, sobald eine erotische Übertragung einsetzte. Die Angst vor der »Trennung der Liebenden« hindert Patienten (und sicher auch Analytiker) daran, sich auf eine (Übertragungs-)Liebesbeziehung einzulassen. Im Verlauf eines Jahres verschwand die Schwierigkeit des Anfangens, und entsprechend konnten die Stunden beendet werden, sie

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mussten nicht mehr mittendrin abgebrochen werden. Wahrscheinlich lief es zugleich auch in der Gegenrichtung: Weil die Stunden beendet werden konnten, legte sich die Angst, sie beginnen zu müssen.

»Tod, Sex und Über-Ich« (Britton, 2003) Die Patientin beginnt die Stunde mit den Schlagzeilen des Wochenendes: Ein Terroranschlag war verübt worden. Es hatte mehrere Todesopfer gegeben. Ich bin spontan gelangweilt, entwerte ihre Worte innerlich als »Allgemeinplätze«, will nicht hören, was ich schon aus Zeitung und Fernsehen weiß. Ich schweige (unwirsch). Sie macht eine Pause und sagt dann: »Das Wochenende war die Hölle. Ich war bleiern müde …« Ich werde wieder hellhörig. Was war letzte Stunde geschehen? Die letzte Stunde war ausgefallen, sie hatte sie abgesagt. Dann wurde der Grund der Absage hinfällig. Sie hätte also doch kommen können, kam aber nicht auf den Gedanken, mich zu fragen, ob das noch möglich wäre. Ich denke, »bleiern« klingt nach unterdrücktem Ärger. Oder nach Tod. Mir fallen die Bleischürzen ein, die im Krankenhaus in Stationen hängen, in denen geröntgt wird. Ich sage dann: »Zwischen letzter Stunde und heute waren Sie wie tot. Und die abgesagte Stunde war so, als wären Sie einem inneren Terroranschlag zum Opfer gefallen.« Sie stimmt zu, sagt weiter: »Nachdem ich letzte Stunde von hier weggegangen bin, hatte sich diese bleierne Müdigkeit über mich gesenkt.« Ich sage: »Ich erinnere mich, dass die letzte Stunde, die wir hatten, recht zäh anfing, aber dann sehr lebhaft wurde, so dass das Ende wie ein Abbruch war. Wie ein Tod.« Darauf sie: »Jedes Stundenende ist wie der Tod«. Ich bin erstaunt. »Wirklich?!« »Ja.«

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Sie erzählt dann, dass sie sich mit ihrem Freund getroffen habe, und dass sie beide sexuell sehr erregt waren. Sie erwähnt Einzelheiten, und ihre Erzählung wirkt auf mich sexuell stimulierend. Ich sage: »Es kommt mir vor, dass Sie sich mit Ihrem Freund versichern mussten, dass Sie doch nicht tot sind, sondern lebendig, als Sie beide sexuell erregt waren. Und hier kämpfen Sie jetzt auch darum, nach dem Tod des Wochenendes wieder zum Leben zu kommen und mich zum Leben zu erwecken.« Daraufhin erzählt sie, scheinbar zusammenhanglos, von einer früheren Analyse. Dort wollte sie von einer Missbrauchserfahrung berichten, aber ihr Analytiker habe das alles als hysterisches Getue abgetan und nicht verstanden, dass sie von einem Missbrauch sprach. Ich: »Ich kann mir vorstellen, diese verunglückte ausgefallene Stunde und das tote Wochenende waren auch so etwas wie Missbrauch, und ich habe ihn nicht verhindert, weil ich Ihrer Absage einfach zugestimmt habe. Und dann wollten Sie mir davon berichten, anfangs unserer heutigen Stunde, von dem Terror, Ihrem inneren Terror, und haben wohl gemerkt, dass ich Ihre Mitteilung nicht verstanden und schweigend abgetan habe, als wäre Ihre Aufregung über die Terroranschläge nur Ihr hysterisches Getue …« Die sexuelle Aufladung der Atmosphäre ebbt dann wieder ab, und sie kann mir erzählen (und ich kann von ihr hören), wie für sie unsere Trennung als analytisches Paar zu einer Todeserfahrung wurde, die ich mich anfänglich weigerte wahrzunehmen. Ich halte an dieser Episode im Hinblick auf das Thema »Der Tod in der Psychoanalyse« Folgendes für bemerkenswert: −− Ich bin überrascht über die lapidare Zustimmung der Patientin, dass das Stundenende oft – immer? – ist wie der Eintritt des Todes. −− Mir ist nach dieser Stunde aufgefallen, wie ich generell »Schlagzeilen« nicht mag, dass Patienten aber oft Schlagzeilen mitbringen, die mit dem Tod zu tun haben. Ich vermute, sie versuchen, das Thema Tod einzubringen, und ich wehre mich dagegen. −− Die Patientin kämpft um ihr Leben. Ihr innerer Terrorist verübt Anschläge auf die Analyse (Absage der Stunde; sie fragte auch nicht nach, ob sie die Stunde dann doch noch haben könnte).

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−− Die Sexualisierung der Atmosphäre und unserer Beziehung dient möglicherweise der Abwehr des Todes; zugleich ist sie auch eine Überlebensmaßnahme, um dem Tod etwas – nämlich das Leben in Form von sexueller Erregung – entgegenzusetzen. −− Nachdem ich angefangen habe, etwas von dem, was sie mir sagen will, zu verstehen, ebben Sexualisierung, Sprachlosigkeit und bleierne Lähmung ab, und das bis dahin von uns beiden Agierte kann erzählt und verstanden werden.

Das doppelte Gesicht der Todes: Trennungs- und Verschmelzungsangst Die Patientin, in fortgeschrittenem Alter, überlegt laut, ob sie nicht die Stunde vor ihrem Urlaub streichen soll; sie ist sich nicht sicher. Ich frage sie, was sie zu dieser Überlegung bewegt. Der Vor-Urlaubsstress … Sie möchte einfach mal sehen, wie es ist ohne Therapie. Ich sage: »Wenn Sie das Ende bestimmen und gestalten, fühlt es sich anders an, als wenn das Ende auf uns beide zukommt.« Sie fragt: »Gehen Sie denn nie in Urlaub?« Ich: »Das wäre dann nochmal anders, als wenn Sie gehen und wissen, dass ich da bin, und wenn Sie zurückkommen, bin ich immer noch da. Anders wäre es, wenn ich weggehe und Sie bleiben zurück.« Sie spontan: »Da werd’ ich doch nicht gleich sterben!« Ich: »Das ist wohl die tiefste Angst oder das Echo einer tiefen Kinderangst: Wenn die Mutter geht, stirbt das Kind, das Kind hat Todesangst.« Sie wird nachdenklich, erinnert sich, wie es mit ihren Kindern war … Nächste Stunde, die letzte reguläre vor zwei Wochen Unterbrechung – sie hatte sie nicht »gestrichen«: Das Gespräch plätschert so dahin. Sie redet, hin und wieder mache ich eine nichtssagende Bemerkung dazu. Ich denke: Ja, so unterhalten sich zwei vor dem Abschied, unverfängliche Themen. Ich glaube dann, ein Muster in ihren Äußerungen zu entdecken, und sage: »Mir fällt auf, es geht

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in dem, was Sie heute erzählen, vorwiegend um Dinge, die nicht besprochen werden können, die verschwiegen bleiben müssen.« Die Stimmung ändert sich, und sie sagt, als hätte sie die Erlaubnis dazu erhalten: »Ich war sehr beschäftigt mit Ihrer Pensionierung. Ich hatte die Vorstellung, Sie gehen dann ganz lange weg … machen eine große Reise.« Ich sage (etwas vorschnell, beruhigend, die »große Reise« hat für mich auch einen Hauch »Tod« an sich): »Was meine Praxis betrifft, ändert sich nichts. Ich bleibe und arbeite wie bisher weiter.« Ich merke, wie sie das mehr beunruhigt als beruhigt, und erinnere mich an die vorige Stunde, als sie mich fragte, ob ich nie in Urlaub gehe. Ich sage ihr das, und sie sagt darauf: »Wenn Sie immer da sind, hab ich das Gefühl, ich muss immer zu Ihnen kommen!« Ich: »Lebenslänglich«. Sie lacht. »Ja.« Ich sage: »Das ist die andere Angst. Die Angst letzte Stunde war, dass ich Sie für immer verlasse und Sie allein zurückbleiben und daran sterben. Die Angst, die wir gerade jetzt erleben, geht in die andere Richtung: dass Sie nie mehr von mir loskommen.« Sie scheint erleichtert zu sein. Die Stunde ist vorbei, sie verabschiedet sich in den Urlaub. Der Tod durch Trennung (Unterbrechung) ist hier zweideutig: Einmal bedeutet er eine tödliche Trennung, dann aber auch eine erlösende Befreiung aus einer befürchteten lebenslänglichen Verschmelzung.

Der Tod als Erlöser Im folgenden Fall wird der Tod nicht latent, sondern manifest eingeführt, er fällt sozusagen mit der Tür ins Haus: Eine ältere Patientin erkundigt sich nach einem Therapieplatz. Ich frage sie in der ersten Stunde, wozu sie eine Therapie machen will. Sie überrascht mich mit dem Satz: »Um mich auf das Sterben vorzubereiten.« Die ersten Stunden sind erfüllt von einer dumpfen Atmosphäre

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von Schuldgefühlen und Selbstbeschuldigungen und von den Sorgen um ihre erwachsene, chronisch kranke Tochter, die bei ihr lebt. Nach wenigen Wochen kommt sie mit einer Neuigkeit, die sie offenbar glücklich macht: »Ich habe Krebs.« Ich erschrecke. Sie lächelt (fast triumphierend) und sagt: »Seitdem geht’s mir gut.« Sie wirkt beschwingt, erlöst, erleichtert. Außerdem ist sie verliebt, aber das darf keiner wissen. Und es ist schön, weil sie sich erlauben kann, verliebt zu sein – in einen verheirateten Mann. Ich spüre, wie ich ärgerlich werde, und vermute: Sie bringt ihre Aggressivität durch projektive Identifikation in mir unter – und frage mich, wie sie das schafft. Bin ich ihre Tochter geworden (die zornig wird, weil die Mutter triumphierend geht)? Bin ich ihr ÜberIch geworden (das zornig wird, weil sie ihre Tochter und mich verlässt)? Ich glaube, der (mögliche) nahende Tod hat sie von ihrem rigiden Über-Ich befreit. Denn der Tod (beinhaltet im Krebs) ist zu ihrem Über-Ich geworden, aber zu einem, das befreit – nach der Logik: Wenn man die Höchststrafe (Tod) erhalten hat, kann man sich alles erlauben – ohne Schuldgefühle. Sie sagt zu Beginn dieser Stunde, sie habe Schmerzen und stehe unter Medikamenten. Ich habe die ganze Stunde über Schmerzen und Angst vor Krebs (dem gleichen Krebs, an dem sie erkrankt ist). Das passt zu einer Beobachtung, die ich über Jahre hinweg immer wieder im Krankenhaus machte und nicht verstand. Ich war oft überrascht von der Fröhlichkeit von Krebspatienten. Sie wirkten durch die Diagnose wie befreit. In Angst und Panik waren dagegen die (Ehe-)Partner, also die künftigen Hinterbliebenen. Der Tod wird auch in anderer Weise positiv besetzt. Im Krankenhaus ist er meist der Feind, oft aber auch der Erlöser. Eine andere, nämlich erotische Färbung bekommt der Tod, wenn er nicht mit der Vorstellung einer ewigen Trennung, sondern, im Gegenteil, mit der Vorstellung einer ewigen libidinösen Verbindung oder besser noch Verschmelzung einhergeht. Im Französischen zum Beispiel wird der Zustand nach dem Höhepunkt der sexuellen Vereinigung

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als »la petite mort« (der kleine Tod) beschrieben. Britton (2003) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der »Todestrieb«, den Sabina Spielrein (1912) in die psychoanalytische Diskussion eingeführt hat, mit einer Vereinigungs- und Verschmelzungsphantasie einhergeht. Freud hat ihre Idee aufgenommen, aber bei ihm ist der destruktive Aspekt des Todestriebes kombiniert mit dem libidinösen: Der Tod als Zerstörer führt in den Zustand von »Nirwana« oder Homöostase, in einen Zustand ewiger Ent-Spannung. In dieser Vignette wirken verschiedene Spielarten des Todes zusammen: −− Der Tod wird positiv besetzt. −− Die Trennung der Liebenden – Mutter und Tochter – wird unbewusst ersehnt. −− Die Todesangst, aber auch die Aggressivität (wahrscheinlich gegen die Tochter, die die Mutter durch ihre Krankheit an sich bindet, »bis dass der Tod euch scheidet«) wird durch projektive Identifikation ausgelagert – so jedenfalls würde ich meine Gegenübertragungsreaktionen verstehen. −− Der Tod ist im strafenden Über-Ich »somatisiert« (Krebs) und wirkt als vorweggenommene Todesstrafe befreiend: Die Patientin kann es sich erlauben, sich zu verlieben, und die Trennung der Liebenden ist in dieser Art der Partnerwahl schon angelegt.

Der Tod nach dem Leben: Drei Versuche, das Undenkbare zu denken Ich schließe mit drei Versuchen, den Tod nach dem Leben zu beschreiben, einem psychoanalytischen, einem theologischen und einem populären, der sowohl psychoanalytisch als auch theologisch verstanden werden kann.

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Der Tod des inneren Paares Eine psychoanalytische Möglichkeit der Beschreibung des Todes bietet Bion (1962; Wiedemann, 2007) mit seiner Theorie der Alpha-Funktion. Bion nennt Erlebnisse, die nicht gedacht oder »verdaut« werden und deshalb auch nicht repräsentiert werden können, Beta-Elemente. Durch die Alpha-Funktion (= der Prozess  Container/Contained) werden Beta-Elemente bearbeitet und damit in Alpha-Elemente verwandelt, welche die Bausteine zum Denken sind, die »Roherfahrungen« repräsentierbar machen. BetaElemente, die nicht metabolisiert werden (können), werden ausgelagert. Anders gesagt: Die Alpha-Funktion ist das Ergebnis eines kreativen Paares  (Wiedemann, 2013a). Tod bedeutet, dass dieses kreative (oder destruktive) Paar als psychische Struktur zerfällt. Der Tod im Leben ist ein Beta-Element, das metabolisiert und repräsentiert werden kann (z. B. im Fall »Die Trennung der Liebenden – in Traumbildern«). Der Tod nach dem Leben ist ein BetaElement, das nicht metabolisiert werden kann, weil die Mittel zur Metabolisierung nicht mehr vorhanden sind: Es ist schwer, sich vorzustellen, dass eine Alpha-Funktion besteht, wenn der Mensch tot ist – es sei denn, die Alpha-Funktion wäre in einem anderen »Objekt« (wie z. B. »in der Erinnerung der Hinterbliebenen«) untergebracht – oder etwa so, wie am Anfang des Lebens die AlphaFunktion in der Mutter »untergebracht« ist und im Laufe der Zeit internalisiert wird. Die Alpha-Funktion müsste also wieder in die »Mutter« zurückkehren – oder aber in den Nachkommen Raum finden. De Masi (2004) hat am Ende seines psychoanalytischen Essays »Making Death Thinkable« ein solches Strukturmodell vorgeschlagen: »When we can no longer elude the awareness of our transience, we need to be able to project the inexhaustible potential of our being into objects different from us« (S. 124). Am Ende läuft es auf die banale uralte Hoffnung hinaus, dass wir – oder etwas von uns – in anderen weiterleben. Das gilt auch für das analytische Paar: Eine Annahme in der psychoanalytischen Beendigungsliteratur besteht darin, dass der Analytiker in seiner analytischen Funktion nach

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dem Ende der formalen Analyse im Patienten »weiterlebt« (z. B. Conway, 1999; Plopa, 2010).

Die Wolke Eine theologische, bildhafte Beschreibung, die eine ähnliche Struktur aufweist, gebe ich in der Form einer Zeitungskolumne (Wiedemann, 2013b), die von einer Taufe erzählt. Der Taufe liegt die Idee zugrunde, dass ein Teil des Kindes, der »Teufel«, der »alte Adam«, vielleicht auch Kleins und Bions Ich-destruktives ÜberIch, ersäuft wird – ein Vorgang, der nach Luther täglich passieren muss –, damit der »neue Adam« leben kann. Dies ist aber nur eine temporäre Lösung, denn am Ende des Lebens muss auch der »neue Adam« sterben. Was dann? Ist der Tod dann noch denkbar? Hier ist mein Versuch: Die Wolke Als die Taufkerze angezündet wurde, sagte ich, wie immer: »Die Taufkerze des Kindes ist sein Lebenslicht, das von der Quelle des Lichtes kommt, und am Ende des Lebens wieder zur Quelle des Lichtes zurückkehrt.« Oh. Andächtige Zustimmung. Oder zumindest kein Widerspruch. Das eigentlich Spannende war, ob das Kind ruhig hält oder ob und wann es anfängt zu schreien. Die Zuhörer waren Männer und Frauen am Puls des Lebens. Da kam mir eine Idee. Ich sagte: »Sie wissen doch, was eine ›Cloud‹ ist. Das Wort ›Cloud‹ hatte eine elektrisierende Wirkung. Ich hatte auf einmal die Aufmerksamkeit aller Eltern und Paten. Die Männer nickten sachverständig, die Frauen zustimmend. Alle schauten erstaunt, was ich mit der ›Cloud‹ will. Für alle, die von dem Computerzeug so wenig Ahnung haben wie ich: ›Cloud‹ heißt Wolke. Da gibt es also irgendwo, vermutlich im Himmel, eine Wolke, und in dieser Wolke sind alle Daten gespeichert, die auf meinem und Ihrem PC drauf oder drin sind. Wenn nun mein Rechner abstürzt, ist das zwar ärgerlich, aber keine Katastrophe: Denn alle meine Daten sind in der ›Wolke‹ gespeichert.« »Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle

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Tage waren in dein Buch geschrieben« (Psalm 139,16). Dieses Buch ist das »Buch des Lebens« (Psalm 69,29; Offenbarung 20,12), in dem unsere Namen (Namen = Wesen, Seele, Persönlichkeit) geschrieben stehen. Und wenn man das Buch gut aufhebt, sind unsere Namen gut aufgehoben, und weil das Buch bei Gott aufbewahrt wird, sind wir schon immer und für immer gut aufgehoben, unabhängig davon, ob wir leben oder sterben. Das »Buch des Lebens« ist eine Vorform der »Cloud«, oder man könnte sagen: Die Computerfreaks haben diese »Cloud«-Idee aus der Bibel abgekupfert. Die Eltern und Paten fanden die Sache mit der »Cloud« so richtig gut und überzeugend und sehr tröstlich. Das Kind war inzwischen auf dem Schoß seiner Patin eingeschlafen. Nachträglich fiel mir auf, dass dies die letzte Taufe meiner Amtszeit war.

Die Dorfkirche, der Friedhof und das Selbst Ein Bild hat sich im Laufe meiner Erkundung zum »Tod in der Psychoanalyse« bei mir eingestellt: Das Bild von einer Dorfkirche in Bayern, im Allgäu oder in Tirol, um die der Dorffriedhof angelegt ist. Ich finde es immer wieder sehr bewegend, wenn sonntags und besonders an Festtagen wie Allerheiligen oder Weihnachten die Familien nach der Messe an die Gräber ihrer Verstorbenen gehen, gedenken, ein paar Tropfen Weihwasser aufs Grab sprengen oder Blumen niederlegen und Lichter entzünden. Für mich ist das ein Bild dafür, dass die Trennung der Liebenden einen Platz gefunden hat. Ich sehe die Dorfkirche auch als Symbol des Selbst, das bei sich und in sich lebende und verstorbene Objekte beherbergt und mit ihnen in schmerzhafter, dankbarer, lebendiger, hoffnungsvoller Verbindung ist. Diese Symbolik impliziert auch, dass Trauern nicht das Aufgeben eines Objektes bedeutet, sondern die Transformation einer Objektbeziehung (Hagman, 1995; Kernberg, 2010).

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Schlussbemerkung In den Monaten, als ich diesen Bericht zusammenstellte, hatte ich selbst mit einer Erfahrung vom »Tod im Leben« zu tun: Ich wurde als Seelsorger in den Ruhestand verabschiedet. Dies war auch eine Art »Trennung der Liebenden«, denn ich war vierzig Jahre mit diesem Beruf, den ich geliebt und gehasst habe, »verheiratet.« Ich dachte, ich könnte das »Thema« aus den analytischen Behandlungen ausklammern. Meine Analysanden belehrten mich eines Besseren. Meine Pensionierung beunruhigte sie teilweise sehr, und sie gingen mit dieser Beunruhigung weit offener um als ich selbst – bis mir das bewusst wurde. Auch deshalb reagierte ich auf die Anfrage, über den Tod in der Psychoanalyse zu schreiben, zunächst so, als wollte ich nichts mit dem Thema zu tun haben. Im ersten Schock hatte ich es völlig aus dem Gedächtnis »gelöscht«. Das bringt mich zu meiner anfangs erwähnten Beschämung. Als ich in einem vertrauten Kollegenkreis davon erzählte, meinten sie, wenn jemand ständig so viel mit dem Tod zu tun hat, braucht er eine besonders gute Abwehr, um sich vor Überbelastung zu schützen. Ich war froh über diese Einschätzung. Sie ist das Gegenstück zu Kleins/Bions Ich-destruktivem Über-Ich, das sie als eine Organisation verstehen, in der sich Ich-Ideal (»meine Abwehr ist mir immer bewusst und eigentlich brauche ich sie gar nicht«) und strafendes Über-Ich (»schäm dich!«) zu einem tödlichen Gespann verbünden. Ich war erleichtert, dass meine Kolleginnen mir ihr freundliches Über-Ich leihweise zur Verfügung stellten. Meine Erkundung hat eher schlichte Ergebnisse hervorgebracht. Kurz zusammengefasst: −− Der Tod im Leben kommt in meinen analytischen Behandlungen viel häufiger vor, als ich dachte. Ich glaube, ich erlebte den »Tod« in meinen Behandlungen deshalb zunehmend öfter und deutlicher, weil ich meine defensive Taubheit aufgeben und anfangen konnte, hellhörig für das latente Todesthema zu werden. −− Patienten sind bereit oder suchen danach, ihre Todeserfahrungen und Todesängste anzusprechen, wenn der Analytiker sie

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lässt und ihre vorsichtigen Anfragen, das Thema zu besprechen, hört. Eine meiner Methoden, das Todesthema zu vermeiden, war, die Signale der Patienten unwirsch zu überhören; eine andere bestand darin, den Patienten nicht einfach reden zu lassen, sondern »vorzeitig« Deutungen ödipaler oder narzisstischer Natur zu geben. In dem Maße, wie ich Patienten wohlwollend interessiert in Ruhe lassen konnte und für das Thema Tod empfangsbereit wurde, kamen sie ganz von selbst auf den Tod in ihrem Leben und in unseren Analysen zu sprechen. −− Der Tod im Leben und in der psychoanalytischen Stunde ist eng verbunden mit Trennung auf einer »frühen«, narzisstischen Ebene. Tod und Trennung können als Zerstörer, aber auch als Erlöser erlebt werden. −− Wenn der »Tod« in die Behandlung kommt, wird die Analyse lebendiger.

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Angelika Staehle

»Sag mir, wo die Blumen sind« Zur Erfahrung von Verlust, Vergänglichkeit und Trauer im Leben und in psychoanalytischen Behandlungen

Vorbemerkung Eigene Erfahrungen mit schweren Erkrankungen von nahen Familienmitgliedern und deren Sterben, sowie die psychoanalytische Arbeit mit kranken Menschen haben mich für das Thema von Verlust, Vergänglichkeit, Tod und Trauer sensibilisiert. Während einer sehr kritischen Phase in einer analytischen Behandlung – ich werde später auf diese Phase der Analyse des Herrn B. zurückkommen – ertönte in mir das Lied »Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben?«1 (»Where have all the flowers gone?«). Besonders die erste und die vorletzte Strophe fielen mir ein: Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Blumen sind, was ist geschehn? Sag mir, wo die Blumen sind, Mädchen pflückten sie geschwind. Wann wird man je verstehn, wann wird man je verstehn?

1 Bekannt wurde das Lied, »Sag mir, wo die Blumen sind?« – »Where have all the flowers gone?«, das vom amerikanischen Songwriter Pete Seeger stammt, als Antikriegslied, vor allem durch die Interpretation von Joan Baez, Peter, Paul und Mary und das Kingston Trio, in deutscher Fassung durch Marlene Dietrich, Hildegard Knef und Lale Anderson (Wikipedia, Where have all the flowers gone).

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Angelika Staehle

Sag mir, wo die Gräber sind, wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Gräber sind, was ist geschehn? Sag mir, wo die Gräber sind, Blumen wehn im Sommerwind. Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Dazu tauchte in mir eine Erinnerung an meine traurige Mutter der Nachkriegszeit auf. Damals – als sehr kleines Kind – verstand ich den Zusammenhang nicht. Doch das Lied prägte sich mir zusammen mit der traurigen Stimmung meiner Mutter tief ein. Erst viel später verband ich es mit der Trauer meiner Mutter um ihren einzigen, im Krieg als vermisst und später für tot erklärten Bruder. Es war wohl diese Mischung aus Traurigkeit und der Hoffnung, er könne jederzeit zur Tür hereinkommen, die sich mir so eingeprägt hat, weil ich sie nicht einordnen konnte. Viel später erst, als Psychoanalytikerin, habe ich gelernt, diesen schwer aushaltbaren, ungewissen Zustand zu spüren und zu verstehen. Die wiederkehrende Frage in dem Lied »Wo sind sie geblieben?« und »Wann wird man je verstehn?« fasste diesen für mich damals rätselhaften Gefühlszustand meiner Mutter in Worte. Die Frage »Wo sind sie geblieben?« hat als Stilmittel der Verdeutlichung von Vergänglichkeit eine lange literarische Tradition. Der Text hat die Form eines Kettenlieds, bei dem jede Strophe mit dem Schlussgedanken der vorhergehenden Strophe eingeleitet wird. Diese Form vermittelt etwas von den spiralförmigen Prozessen der Trauer um den Verlust geliebter Menschen. Jede Strophe endet mit dem Satz: »Wann wird man je verstehn?«

Theoretische Akzentsetzungen »Vergänglichkeit«, eine nur vierseitige Arbeit von Freud, die er im November 1915 geschrieben hat, hat mich beim ersten Lesen und bis heute immer wieder sehr berührt. Dieser Text wurde dann 1916

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während des Ersten Weltkriegs veröffentlicht (Freud, 1916a). In der Form einer Erzählung über ein Gespräch mit einem Dichter auf einem Spaziergang durch eine blühende Sommerlandschaft, an der sich der Dichter nicht erfreuen kann, da alles dem Vergehen geweiht ist, bringt uns Freud seine Gedanken über Vergänglichkeit und das große Rätsel der Trauer nahe. Dieser Text ist außergewöhnlich wegen seiner besonderen literarischen Form. Ich verstehe ihn wie Küchenhoff (1996) als eine allegorische Darstellung mit drei Figuren, dem jungen Dichter, Freud selbst und einem schweigsamen Freund. Der junge Dichter stellt an die Natur und die Ästhetik eine »Ewigkeitsforderung« – »alle Lust will Ewigkeit«. Da diese nicht erfüllt werden kann, entwickelt er einen »Weltüberdruss«. Er verkörpert somit die Melancholie, die nicht mit der Erfahrung des Verlustes fertig wird. Die Ewigkeitsforderungen an Menschen, kulturelle Werte oder die Natur zeigen, dass es idealisierende, narzisstische Objektbesetzungen sind. Für was oder wen steht der schweigsame Freund? Zurückgreifend auf Freuds Arbeit zum »Motiv der Kästchenwahl« (Freud, 1913f, S. 29 ff.) kann man die unbewusste Bedeutung von stummen Personen als die Darstellungsform des Todes verstehen. Zwischen dem Dichter und dem stummen Freund gibt es keinen Kontakt, es entsteht kein Gespräch. Man könnte dies so interpretieren, dass es für den Dichter keine Verbindung zwischen dem lustvollen Lebendigen und der Vergänglichkeit, dem Tod, gibt. Freud selbst – als literarische Gestalt – verkörpert in diesem Text die Trauerarbeit, die mit dem schweigsamen Freund verbunden ist und mit dem Dichter als Darstellung des Lustprinzips spricht. Die Melancholie ist demnach eine Krankheit der Idealität und damit auch des Narzissmus. Aus der Melancholie soll Trauer werden und dazu bedarf es der Einbeziehung des Todes. In dem Text ist der Tod auf zweifache Weise präsent: einmal als Kategorie der menschlichen Existenz, die in dem linearen Verlauf der Zeit und der Unaufhebbarkeit des Todes begründet ist, und zum anderen in der menschlichen Destruktivität, die zu Kriegen und Zerstörung führt. Unter direkter Bezugnahme auf die Kriege lässt Freud seinen Doppelgänger sagen: »Erst wenn die Trauer

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überwunden ist, wird sich zeigen, dass unsere Hochschätzung der Kulturgüter unter der Erfahrung von ihrer Zerbrechlichkeit nicht gelitten hat. Wir werden alles wieder aufbauen, was der Krieg zerstört hat, vielleicht auf festerem Grund und dauerhafter als vorher« (Freud, 1916a, S. 359). Zur existenziellen Dimension lässt er ihn sagen: »Der Vergänglichkeitswert ist ein Seltenheitswert in der Zeit. Die Beschränkung in der Möglichkeit des Genusses erhöht dessen Kostbarkeit« (S. 359). Freud entwickelt hier den Gedanken, dass die Wertigkeit von etwas nicht von der absoluten Zeitdauer abhängig ist. Er fährt fort: »Wenn es eine Blume gibt, welche nur eine einzige Nacht blüht, so erscheint uns ihre Blüte darum nicht minder prächtig […] der Wert alles dieses Schönen und Vollkommenen wird nur durch seine Bedeutung für unser Empfindungsleben bestimmt, braucht dieses selbst nicht zu überdauern und ist darum von der absoluten Zeitdauer unabhängig« (S. 359). Die Frage ist: Wie erwirbt ein Mensch die Fähigkeit, sich mit den schmerzlichen Erfahrungen von Verlust und Trennung trauernd auseinanderzusetzen, und wie entsteht der Gemütszustand der Melancholie? In der im Jahre 1917 erschienenen Arbeit »Trauer und Melancholie« (Freud, 1916–17g) erklärt Freud die Melancholie auf der Grundlage der Schicksale und der Verinnerlichung von Objektbeziehungen. Die Trauerarbeit darin besteht, die emotionale Besetzung eines durch den Tod verlorenen Objekts Stück für Stück von ihm abzuziehen, damit die Realität des Verlustes anzuerkennen und das Ich aus einer realitätswidrigen Bindung zu lösen. Im Prozess der Trauer bildet sich so in einschneidender Weise das Bewusstsein der Vergänglichkeit heraus. Vergänglichkeit wahrzunehmen bedeutet, nicht nur den realen Verlust der dahingegangenen Lieben anzuerkennen, sondern auch das Verblassen ihrer Bilder zu akzeptieren. Freud erklärt hier die Trauer wieder libido-ökonomisch (vgl. Küchenhoff, 1996): »Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen […]. Tatsächlich wird aber das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt« (Freud, 1916–17g, S. 430). Das Schicksal des verlorenen Objekts in

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der Erinnerung des Trauernden wird nicht hinterfragt. Freud verbindet das Modell der Trauer mit seiner Libidotheorie, während sein Modell der Melancholie den Boden für zukünftige Entwicklungen der Bedeutung der Objektbeziehungen legte. Jahre später (1929), in einem Brief an Ludwig Binswanger, dessen Sohn gestorben war, nimmt Freud eine andere Perspektive ein als in seinem theoretischen Text »Trauer und Melancholie«. Er schreibt: »Man weiß, dass die akute Trauer nach einem solchen Verlust ablaufen wird, aber man wird ungetröstet bleiben, nie einen Ersatz finden. Alles, was an die Stelle rückt, und wenn es sie auch ganz ausfüllen sollte, bleibt doch etwas anderes. Und eigentlich ist es recht so. Es ist die einzige Art, die Liebe fortzusetzen, die man ja nicht aufgeben will« (Freud, 1992, S. 222 ff.). Hier wird von Freud die Einzigartigkeit und die Unersetzbarkeit von Liebesobjekten anerkannt. In dieser Sichtweise steht der Gefühlswert der Trauer im Vordergrund. Trauer als Gefühl wird ernst genommen, vor jeglicher Anforderung sie zu verarbeiten. Der Grundmodus des Trauerns ist die Teilhaftigkeit. Wir brauchen den Anderen, der unsere schmerzlichen Gefühle aufnimmt und sie mit uns teilt. Dies ist keine einfache Aufgabe, da die Intensität der Gefühle in uns massive Ängste hervorrufen kann: Ängste davor, in die Verzweiflung, in den Kampf mit dem Tod hineingezogen zu werden und sich vollkommen hilflos und ausgeliefert zu fühlen. Dies führt dann oft zum mehr oder weniger merklichen Rückzug von den Trauernden und Leidenden – sei es konkret, indem man das Krankenzimmer meidet, oder sei es symbolisch, indem man sich durch psychoanalytische Konzepte abschirmt. Christa Wolf fand in ihrem Buch »Leibhaftig« (2002) Worte für diesen Bereich zwischen Leben und Tod: »Finden Sie es nicht weise, dass der Lebende nicht in die Augen der Toten blicken soll? Und warum soll er das nicht tun? Weil dieser Blick zum Leben unfähig machen könnte. Sie meinen, das Totenreich könnte ihm verlockend erscheinen? Oder das Reich von uns Lebenden könnte ihn abstoßen« (S. 179). Oder Goethe nach dem Tod seines Sohnes Karl August: »In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muß

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sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen« (Goethe, 1907). Wie kann dies zusammengehen? Die Anerkennung der nicht aufhebbaren Differenz zwischen den Lebenden und den Toten und den Verlust des Anderen anzuerkennen, ohne die Liebe und Wertschätzung für sich selbst und zu den verloren gegangenen Menschen auszulöschen? Die Grenzsetzung zwischen den Lebenden und den Toten aufrechtzuerhalten wird ermöglicht durch die Verinnerlichung von Bildern des Selbst und der Objekte. In »Trauer und Melancholie« wurden von Freud erstmals Introjektionsprozesse in ihrer Bedeutung gewürdigt. Sie wurden dort als Pathologie der Trennungsverarbeitung, der Melancholie, behandelt. »Der Schatten des Objektes fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ich-Verlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ich-Kritik und dem durch die Identifizierung geänderten Ich« (Freud, 1916–17g, S. 435). Durch Melanie Klein und ihre Schule wurde die Internalisierung »ent-pathologisiert« (Küchenhoff, 1996) und einem neuen Verständnis zugeführt. Der Prozess der Internalisierung ist für Klein (1940/1996, S. 165–189) Teil eines emotionalen Austauschprozesses, der vom Beginn des Lebens an stattfindet. Auf diese Weise entsteht eine innere Welt, bevölkert von inneren Objekten, die in vielfältiger Weise miteinander in Beziehung stehen. Klein hebt hervor, dass der Verlust des äußeren guten Objektes mit dem unbewussten Gefühl einhergeht, auch das innere gute Objekt verloren zu haben. Das Charakteristische der Trauerarbeit ist für sie der Wiederaufbau der inneren Welt mit der Rückgewinnung des guten inneren Objektes (vgl. Klein, 1940/1996, S. 190). Winnicott (1965/198; 1971/1979) und Bion (1962/1990) haben dann die wesentlichen Brücken zwischen der Triebpsychologie und einer Beziehungspsychologie geschaffen. Winnicott spricht von Holding und primärer Mütterlichkeit, und Bion hat von der Containing-Funktion und Reverie der Mutter gesprochen. Auch

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Green (1980/2004) und Bollas (1987/1997) beschreiben, wie aus den Erfahrungen mit dem Primärobjekt ein Rahmen für weitere Erfahrungen und ihre Verarbeitung geschaffen wird. Die Denk­ figuren sind ähnlich: In den frühesten Lebensphasen werden Beziehungsaspekte verinnerlicht, die Strukturen bilden, die ihrerseits eine Voraussetzung für die Entwicklung der Repräsentationsfunktionen sind. Durch den Prozess der Repräsentation geht das Objekt in seiner Unmittelbarkeit verloren, wird jedoch als ein inneres Bild bewahrt. Es entstehen innere Objekte, Phantasien und weitere sprachliche Repräsentationssysteme. Die uns hier für die psychoanalytische Praxis interessierende Frage lautet: Wie gelingt es, die unvermeidbar zum menschlichen Leben gehörenden Trennungen und Verluste so zu verarbeiten, dass sie die weitere Entwicklung fördern und nicht blockieren? Dazu braucht es Bindung und Beziehung, damit der Wechsel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ertragen und darüber nachgedacht werden kann. In der menschlichen Entwicklung sind es die primären Bezugspersonen, Mutter und Vater, die diese Aufgabe haben. Entscheidend ist, dass haltgebende Personen zur Verfügung stehen, die den schmerzlichen Gefühlen und den Ängsten eine Bedeutung zugestehen. Scheitern kann die Verarbeitung von Trennungs- und Verlusterfahrungen, wenn zum Beispiel die Mutter zu sehr von eigenen unverarbeiteten Gefühlen – oft unbewusster Natur – überwältigt ist und so die entstehende Subjektivität des Kindes keine Aufnahme findet. Fraiberg, Adelson und Shapiro (2003) nennen diese unbewussten Übertragungen der Eltern auf ihre Kinder »Gespenster im Kinderzimmer«. Sie sprechen von Besuchern aus der nicht erinnerten und verarbeiteten Vergangenheit der Eltern. Das Konzept der »toten Mutter« von Green (1980/2004) beschreibt eine Mutter, die nicht real tot ist, aber depressiv und zu keiner Resonanz fähig. Es entsteht eine innere Leerstelle, ein Fremdkörper, abgekapselt vom Rest des Selbst. Die Mutter, als bedeutsame Andere, muss auch die Trennungsschritte und die damit verbundene Aggression aushalten. Winnicott hat diesen Vorgang in seinem Konzept der »Objektverwendung« eindrücklich beschrieben (1971/1979, S. 101 ff.).

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Trennungs- und Verlusterfahrungen in psycho­ analytischen Behandlungen In der analytischen Therapie ist es der sichere Rahmen – das Setting – mit den fest vereinbarten Zeiten, der eine Rhythmisierung der Zeit, einen Rhythmus der Sicherheit, mit sich bringt und so die Voraussetzung schafft, dass Trennungs- und Verlusterfahrungen in der Beziehung zum Analytiker lebendig werden und dann bearbeitet werden können. Es braucht diese Beständigkeit im Setting und in der Beziehung zum Analytiker, um einen Prozess in Gang zu bringen, in dem frühe, oft traumatische Erfahrungen, auch aus der vorsprachlichen Entwicklung, neu erlebt und in Worte gefasst werden können. In der Psychoanalyse gehen wir heute von einem Zusammenspiel der Übertragung und Gegenübertragung des Patienten und des Analytikers aus. Der Einfluss der realen Persönlichkeit des Analytikers wird dabei mitgedacht und in verschiedenen Konzepten gefasst. So kann der Analytiker als neues Objekt gesehen werden oder es wird von einem bipersonalen Feld (Ferro, 2003) ausgegangen. Die Patienten haben ein feines Gespür, wie wir mit unseren Gefühlen und Ängsten umgehen und reagieren darauf je nach ihrer psychischen Verfasstheit. Wenn man den psychoanalytischen Dialog als eine gemeinsame Schöpfung betrachtet, dann hat das natürlich weitreichende Konsequenzen für die Behandlungspraxis. Das bedeutet, dass der Analytiker die Position des Wissenden aufgibt und zum Mitgestalter wird, zwar stets um Verstehen bemüht, aber doch immer aus der Teilhabe am Gesamten heraus. Die methodologische Orientierung am Verzicht auf leitendes Vorwissen, also ein Verzicht auf den Halt durch gesichertes Wissen, ist auch in Freuds Grundregel enthalten: Für den Patienten gilt die Aufforderung zur freien Assoziation, für den Analytiker die Forderung zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit (1912e). Bion hat dies noch radikaler formuliert in seiner Aufforderung, »Erinnerung und Wunsch auszuschalten« (»no memory, no desire«) (1967/1991, S. 23). Der Kernsatz von Freud, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (1917b, S. 11), gilt auch für den Analytiker. Was er dem Patienten voraus hat, ist

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seine spezifische Ausbildung, sein theoretisches Wissen und seine klinische Erfahrung mit Patienten und mit sich selbst. »Die Differenz in der Identität mit dem Patienten liegt darin, dass der Analytiker über diese Gefährdungen weiß und sich entsprechend einstellen kann, und zwar in einem anti-narzisstischen Sinn: Er weiß, dass er im analytischen Prozess die notwendige reflexive, dritte Position nicht stets allein in sich wird realisieren können« (Schneider, 2012, S. 689). Die analytische Beziehung ist daher zugleich symmetrisch und asymmetrisch. Das ist das Paradox, das in der Behandlung ertragen werden muss. Psychoanalytisches Arbeiten in diesem Sinne verstanden ist das Zur-Verfügung-Stellen eines Denk-Fühl-Raumes im Hier und Jetzt zwischen dem Analytiker und dem Patienten, damit für diesen die Entwicklung neuen emotionalen Wissens über sich selbst möglich wird. Erst auf diesem Boden kann die Aneignung des lebensgeschichtlichen So-geworden-Seins des Patienten gelingen und wird psychische Veränderung möglich (vgl. Staehle, 2011). In einer Zeit, deren Merkmal die Flüchtigkeit ist, wie dies von bedeutenden Soziologen und Sozialpsychologen beschrieben wird, bleibt es entscheidend, dass sich die Psychoanalyse gegen diesen Zeitgeist ein Subjektverständnis bewahrt und daran festhält, bei dem der einzelne Mensch die Bedeutsamkeit seiner Geschichte, seiner frühkindlichen Beziehungen und Identifizierungen als Möglichkeit begreift, sich in seinem Geworden-Sein zu verstehen und aus konflikthaften und krankmachenden Einengungen zu befreien.

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Fallbeispiele Fallbeispiel 1: Mira2 Die erste Vignette betrifft ein neunjähriges Mädchen, Mira, mit schweren Entwicklungsstörungen und autistischen Symptomen. Sie konnte ihre Gefühle nicht als zu sich gehörig erleben, und sie hatten keine emotionale Bedeutung für sie. Sie war verloren, aber empfand dieses Verlorensein nicht. Sie konnte dies nur durch körperliche Erregung und klebrige Anhänglichkeit zum Ausdruck bringen. Massive Verluste waren in der Generation ihrer Eltern aufgetreten. Die Mutter ihrer Mutter war schwer depressiv, der Vater der Mutter verunglückte tödlich in ihrer frühen Kindheit, und die Schwester ihrer Mutter beging Suizid in der Adoleszenz. Doch diese Verluste konnten nicht betrauert werden, sondern wurden unbewusst an Mira »weitergegeben«. Ich möchte an ein paar Fragmenten aus der Behandlung zeigen, wie sich bei diesem Mädchen allmählich eine Fähigkeit entwickelte, zwischen ihren Gefühlen und denen der anderen zu unterscheiden. Erst dann konnten Verluste und Trennungen für sie eine emotionale Bedeutung gewinnen. Im Verlauf der Behandlung wurde deutlich, wie sehr Mira die unbewussten Transmissionen der Elterngeneration aufgenommen hatte, jedoch ohne sie mentalisierend verarbeiten zu können. Es gab bei ihr keine Vorstellung, dass der Andere einen inneren Raum hat, um ihre Gefühle überhaupt aufzunehmen. Es lag ein ganz grundlegender Mangel in der Fähigkeit vor, innere Bilder und Repräsentanzen zu bilden. Bei ihr ging es um eine Kommunikation in den elementarsten Formen – ein Streben mittels einer Bewegung zum Objekt hin, einer Bewegung, deren Ziel noch ganz undefiniert war. Die neunjährige Mira wurde mir auf Veranlassung ihrer Lehrerin vorgestellt. Die Eltern berichten, ihre Tochter sei wegen Entwicklungsverzögerungen im Wahrnehmungsbereich, im sprachli2 Einiges von dem Fallmaterial zu Mira habe ich unter einem anderen Gesichtspunkt in 2009 und 2012 veröffentlicht.

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chen Bereich, in der Grob- und Feinmotorik, verbunden mit einer extrem starken Kurzsichtigkeit in die Vorklasse einer Förderschule eingeschult worden. Es sei nun fraglich, ob sie in dieser Schule bleiben könne, da Mira nach Einschätzung der Lehrerinnen in der Klasse nicht tragbar sei. Sie weine unvermittelt, antworte stereotyp auf Fragen und nehme, wenn überhaupt, in kleinkindhafter Weise Kontakt zu Erwachsenen und Kindern auf. Die Lehrer vermuten eine autistische Störung. Mira hat viele verschiedene Therapien und Unterstützungen erhalten, wie zum Beispiel Frühförderung, Logotherapie, Ergotherapie, Mototherapie, und war mehrmals zur Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im Erstgespräch mit den Eltern wird deutlich, dass sie einerseits ihre Tochter akribisch beobachten und andererseits emotional Miras Zustand und ihre Ängste und Gefühle kaum wahrnehmen. Im Elterngespräch protokolliert der Vater jedes Wort von mir. Die Mutter berichtet dann, dass Mira sie ganz in Besitz nehme und immer mit ihr Rollenspiele machen wolle und dass es kaum möglich sei, ein Ende zu finden. Als ich nach der Art der Rollenspiele frage, erfahre ich, dass Rollenspiel für Mira heißt, dass die Mutter auf ihre stereotypen Sätze mit dem gleichen Satz antwortet, wobei die Puppe Lilly manchmal die Rolle von Mira übernimmt. Das »Spiel« könne nur abrupt durch das Weggehen der Mutter zu Ende gebracht werden. Doch Mira könne die Trennung gut aushalten, sie habe durch die verschiedenen Therapien viel Erfahrung damit. Zur Entwicklung von Mira erfahre ich, dass die Mutter in der Schwangerschaft mit Mira durch den Tod ihrer Mutter, die immer schwer depressiv gewesen sei, sehr belastet gewesen war. Mira sei ein ruhiger Säugling gewesen, den sie jedoch ständig am Körper haben musste. Im Alter von zehn Monaten habe man festgestellt, dass Mira extrem stark kurzsichtig war, und sie habe eine Brille bekommen. Ich sage: »Dann hat sie wahrscheinlich Ihr Gesicht beim Stillen gar nicht erkennen können«, was die Mutter erstaunt aufnimmt. Später während der Behandlung erfahre ich, dass Mira die dritte Schwangerschaft war, dass es vor ihr einen Abgang und eine Eileiterschwangerschaft gab. Als Mira drei Jahre alt war, gab es noch

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eine Eileiterschwangerschaft. Mira war daher für ihre Eltern das einzige überlebende Kind, das alle ihre Erwartungen und Hoffnungen erfüllen sollte, und nun hatten sie ein »behindertes« Kind, das diese Erwartungen nicht erfüllen konnte. Ich habe nach den Gesprächen mit den Eltern den Eindruck, dass sie aus der Entwicklungsförderung von Mira »ein narzisstisches, pädagogisches Projekt« gemacht hatten und schmerzliche Gefühle nicht aufkommen durften. Die Schuld lag immer bei den anderen, aktuell bei den Lehrerinnen von Mira. Ich frage mich, ob ich für diese Mutter würde genügend Empathie aufbringen können. Zum Vater spüre ich trotz seines zwanghaften Protokollierens eher einen Zugang und eine gewisse Stabilität. Die Mutter erlebe ich sehr fragil. Zum Erstgespräch kommt Mira, ein für ihr Alter normalgroßes Mädchen. Sie trägt eine Brille mit sehr dicken Gläsern. Sie trennt sich erstaunlich schnell von der Mutter und kommt in einer merkwürdigen Weise vertraulich auf mich zu. Doch diese Vertraulichkeit hat etwas Klebriges und Unvermitteltes und scheint auch für einen ersten Kontakt unangemessen. Sie fragt mich: »Wie geht es dir?« Dabei schaut sie mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Ich schaue sie an und sage: »Magst du zu mir ins Behandlungszimmer kommen?« Mira kommt mit und bleibt wortlos mit gesenktem Kopf an der Wand stehen. Der Speichel fließt aus ihrem Mund, was sie nicht zu bemerken scheint. Ich bekomme ein Gefühl, sie körperlich zusammenhalten zu müssen. Ich deute auf das Puppenhaus. Schließlich nimmt sie die kleinen Puppen, nur Kinder- und Babypuppen, und stopft sie alle in einen Raum im Puppenhaus. Sie nimmt eine Mamapuppe, die immer wieder weggeht und die Kinder in die Betten drückt. Sie macht das in sehr grober und aggressiver Weise. Diese Szene mit den vielen Kindern, die sozusagen das leere Zimmer füllen, und mit der immer wieder weggehenden Mutter berührt mich. Ich denke an die Worte der Eltern im Erstgespräch. In mir taucht das Bild einer Gespenstermutter auf, die viele Kinder haben will, die ihre innere Leere füllen, die »realen« Kinder dann nicht ertragen kann. Ich sage dann schließlich, wie zur mir selbst: »Oh, diese Mama will ganz viele Kinder, die Betten werden ganz vollgestopft, alle sind ganz dicht beieinander. Dann

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wird es zu eng, und sie geht weg und die Kinder sind alleine.« Mira reagiert zunächst nicht. In der folgenden Stunde nimmt sie ein bereitliegendes Blatt Papier und malt ein Bild. Mira hängt in diesem Bild – wenn ich es als Selbstbildnis verstehe – wie ein gefangener Vogel in einem Käfig in der Luft, aber ohne Flügel und ohne Bodenhaftung, ohne Wurzeln. Sie hängt zwischen Auf-der-Welt-Sein und Noch-nichtgeboren-Sein. Ich habe mich nach einer weiteren Stunde mit Mira und Gesprächen mit den Eltern entschieden, sie in Analyse zu nehmen. Sie hatte mich angerührt und erreicht. Wegen der Eltern hatte ich Bedenken, da ich annahm, dass sie für Mira zwar Hilfe wollten, dass sie jedoch wenig Einfühlungsvermögen hatten und ihre eigene Entlastung im Vordergrund stand. In der sich über zweieinhalb Jahre erstreckenden analytischen Therapie mit drei Wochenstunden bewegen wir uns in einer sehr engen adhäsiven Form der Beziehung. Mira folgt mir wie ein Schatten. Das »An-mir-Kleben« wechselt ab mit abrupten aggressiven Ausbrüchen, in denen sie mich angreift oder ihre Puppe Lilly malträtiert, die sie zu allen Stunden mitbrachte. Dies geschah oft am Ende der Stunde oder wenn die Mutter sie zu spät brachte oder eine Stunde ausfiel, das heißt, wenn ihre Möglichkeiten, die Trennung zu bannen, nicht griffen und sie sozusagen von der Erfahrung der Trennung überfallen wurde. Ich verstehe das als »Fortschritt«, da Mira nun auf Trennungen und Veränderungen reagiert. Die adhäsive Form der Beziehung führt zu einem fusionären Zustand der Einheit zwischen uns, wie zwischen ihr und ihrer Mutter, weil die Gefahr besteht, dass die Erfahrung von Getrenntheit bei Mira zu unerträglichen, katastrophischen Gefühlen des Terrors führen würde. Meine Aufgabe sehe ich darin, meine Aufmerksamkeit auf die affektiven-körperlichen Zustände von Mira zu richten und sie vorsichtig zu benennen. Am Ende des ersten Jahres der Behandlung gibt es eine wichtige Veränderung in der Beziehung zu mir. Mira beginnt mich nun explizit als ihr Double, ihren Doppelgänger zu behandeln. Ich muss ihre Zwillingsschwester Lisa sein und darf nicht sie auf der Als-ob-

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Ebene spielen. Das stellt sich so dar, dass sie in das Behandlungszimmer hereinkommt und mich mit »Lisa, wie geht es dir?« anspricht, was sie dann viele Male wiederholt. Ich muss erraten, dass ich ihr Double bin, was sich dann bestätigt, als ich sie frage: »Und wer bist du«? Sie murmelt »Lisa«. Ich hatte zunächst kein Wissen davon, dass Lisa der Name ihrer verstorbenen Tante war. Eine Verbindung für Mira zu ihrer Tante Lisa herzustellen hätte sie sehr überfordert. Um einen Eindruck zu vermitteln, was sich zwischen uns abgespielt hat und wie ich es aufnahm, möchte ich nun einen Ausschnitt aus einer Stunde im zweiten Jahr der Behandlung schildern. Mira kommt pünktlich, in der Hand hält sie ihre Puppe Lilly. Sie fragt mich: »Wie geht es dir?« Dann fängt sie ziemlich irre an zu lachen und hält mir die Puppe entgegen. Sie sagt: »Ich werfe die Puppe in den Mülleimer.« Sie wirft dann die Puppe tatsächlich in den Mülleimer. Es ist die Montagsstunde, Mira war seit Donnerstag nicht da gewesen. Ich sage: »Hm, die Mira fühlt sich vielleicht auch so, als sei sie weggeworfen, in der Zeit, als sie nicht hier bei mir war.« Mira sagt etwas, was ich nicht verstehen kann, dann redet sie von »Scheißen« und »Pissen«, sie wolle auf die Lilly pissen und auch auf mich. Dann sagt sie: »Die Lilly denkt, sie ist ein Arschloch. Die Frau Staehle ist auch ein Arschloch.« »Mira ist dumm, hat nur Blödsinn in Kopf, die Mira ist eine dumme, dumme Scheiße. Die Mira besteht nur aus Scheiße und die Frau Staehle auch.« Sie sagt das mehrere Male, und ich habe das Gefühl, dass sie immer erregter wird. Ich sage dann: »Die Mira ist jetzt ganz aufgeregt, was ist denn nur los?« Ich sage das so mehr in die Luft und wie zu mir selbst. Da nimmt Mira ihre Puppe und sagt: »Ich will, dass die Mira weint.« Dann geht sie drohend auf mich zu, packt mich am Arm und sagt: »Frau Staehle soll weinen.« Dann schreit sie mit lauter Stimme: »Ich will, dass du weinst, ich will, dass du weinst.« Sie geht in bedrängender Weise auf mich zu und schreit: »Ich will, dass du weinst.« Ich fühle mich unter Druck und muss sehr an mir arbeiten, nicht abweisend zu reagieren, was man ja oft unwillkürlich macht. Mira hatte mich wohl ganz konkretistisch verstanden, nicht meine Deutung ihrer Gefühle, sondern so, als ob ich sie jetzt in den Mülleimer werfen wollte. Ich sage dann nach einer Weile: »Ich glaube,

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du möchtest unbedingt herausfinden, ob du etwas bei mir bewirken kannst und wie das ist, wenn ich weine, wie das ist, wenn jemand weint. Ich glaube, du denkst auch, ich meine, du bist dumm und ich will dich nicht mehr haben.« Das war eine sehr eindrückliche Szene, und ich hatte nun das Gefühl, Mira erreicht zu haben. Mira hatte sehr wahrscheinlich inhaltlich nicht alles aufnehmen können, jedoch meine Intention gespürt. Ich hatte Mira mit meiner ersten Intervention überfordert, da für sie eine Deutung ihrer Angst auf der »Als-ob-Ebene« noch nicht zugänglich war. Doch es ist nicht zu vermeiden, dass solche Missverständnisse entstehen. Entscheidend ist, zu beobachten, wie das Kind darauf reagiert. Es ist notwendig, immer wieder etwas in Worte zu fassen. In den Sitzungen mit einem solchen Kind geht es nicht darum, Unbewusstes bewusst und der Einsicht zugänglich zu machen, sondern das Erleben des Patienten aufzunehmen und zu versuchen, ihm einen zunächst rudimentären Sinn zu geben. Es geht hier um Halten im Winnicott’schen Sinne und um Bion’sches Containment, das heißt, die bislang nicht mit Sinn versehenen Beta-Elemente oder rudimentären Erfahrungsbrocken sukzessive in einen Gefühls- und Sinnzusammenhang zu bringen (vgl. Staehle, 1999, 2004, 2009, 2011). Mira fängt nun an, allmählich ihre Gefühle, sei es im Spiel oder auch in den Interaktionen mit mir, bei sich wahrzunehmen. Doch damit kommen sehr schmerzliche Affekte in unsere Beziehung, die für uns beide schwer auszuhalten sind. Außerdem eröffnet sie jetzt ihre Stunden damit: »Hast du auf mich gewartet? Wusstest du, dass ich komme?« Diese Fragen sind nicht mehr nur ein stereotypes Ritual, sondern füllen sich langsam mit emotionalem Gehalt. In einer der folgenden Stunden malt sie zum ersten Mal von sich ein farbiges Bild. Mira ist nun wuchtig-lebendig. In dem Bild ist sie, wie in ihrem ersten Bild, in einer Hülle. Doch sehe ich diese eher als schützend an vor der schwarzen drohenden Wolke über ihr und weniger als eine Zwangsjacke. Die Figur ist jetzt mit dem Boden verbunden im Gegensatz zu Miras erster Zeichnung. Meine Vermutung ist, dass die verinnerlichten Gespenster ihrer Eltern nun nicht mehr so erdrückend sind.

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Sowohl in der Arbeit mit Mira als auch mit den Eltern geht es um einen Verlust, eine Zäsur, die beide zu realisieren und anzuerkennen haben. Die Eltern müssen akzeptieren, dass sie ein in spezifischer Weise behindertes Kind haben, das nicht mit ihrem phantasierten Kind, das ihre eigenen erlittenen Verluste auffüllen sollte, gleichzusetzen ist. In den Stunden mit den Eltern ist es außeror-

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dentlich schwierig, besonders der Mutter zugänglich zu machen, dass sie dabei war, die aus ihrer eigenen verinnerlichten Beziehungsgeschichte stammenden hochambivalenten Gefühle, die ihrer Mutter und Schwester galten, bei Mira unterzubringen, anstatt das Kind in seiner Eigenart und auch mit seinen Schwächen zu sehen und anzunehmen. Mira hat sich mit ihren begrenzten Fähigkeiten, die sie doch sehr von anderen Kindern unterscheiden, auseinanderzusetzen. Es ist für mich eine sehr anstrengende, anrührende und auch schmerzhafte Zeit in der Therapie, als Mira ein Spiel selbst erfindet. Das Spiel heißt: Wer darf zu einer Party? Dürfen auch behinderte Kinder teilnehmen? Sie ist inzwischen vom Sprechen zum Schreiben übergegangen. Sie erfindet Schreibspiele, indem sie die Namen der zur Party eingeladenen Kinder in verschiedenen Farben schreibt. In vielen Stunden spielen wir das, und ich möchte sagen, wir arbeiten intensiv miteinander. Die Abschiedsszene mit Mira zeigt die Veränderungen in ihrem Erleben ganz deutlich. Sie hatte ein großes Interesse für Schnecken entwickelt, und wir hatten uns in vielen Stunden mit Schnecken befasst. Sie bringt mir zum Abschied zwei Schnecken mit. Sie überreicht sie mir und sagt, sie wolle, dass die Schnecken nun bei mir bleiben, wenn sie nicht mehr kommen könne. Sie will dann, dass ich die Schnecken genauer ansehe, und wir lassen sie im Behandlungszimmer herumkriechen. Die beiden Schnecken sind ganz zutraulich zueinander. Wir beobachten sie, und ich sage zur ihr: »Ja, die können ganz dicht zueinander kommen, und doch gehen sie wieder auseinander, und jede kann sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen und ist dann wieder ganz geschützt. Aber sie kann auch wieder herauskommen und Kontakt aufnehmen. Ich denke, das ist etwas ganz Wichtiges.« Mira strahlt mich an und sagt: »Ja, eigentlich würde ich gerne weiter kommen.« Und dann sagt sie nach einer Pause in einem sehr nachdrücklichen Ton: »Ich möchte, dass du zu meinem Geburtstag kommst.« Ich sage, dass ich nicht zu ihrem Geburtstag käme. Ich würde sie aber nicht vergessen. Und es sei wichtig, dass sie glauben kann, dass ich sie nicht vergessen würde, auch wenn sie nicht mehr zu mir käme. Ihre Schnecken

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würden ja doch noch eine Weile bei mir im Garten bleiben. Wir hätten schon so viel miteinander erlebt. Wir schauen dann zusammen den Inhalt ihrer Schublade mit ihren Bildern und den von ihr gebastelten Spielen an. Sie packt ihre Sachen in die Tasche, in der sie die Schnecken mitgebracht hatte. Mira setzt mit mir zusammen die Schnecken in meinen Garten. Dann verabschieden wir uns. Ich freue mich über ihre Art des Abschiednehmens, doch muss ich auch sagen, dass ich mit schmerzlichen und bangen Gefühlen zurückbleibe, wie ihre weitere Entwicklung sein wird.

Nachgedanken zu Mira Ann Alvarez (1992) hat besonders hervorgehoben, wie wichtig die Lebendigkeit der Mutter ist. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Miras Mutter durch den Verlust ihrer Mutter in der Schwangerschaft sehr belastet und wahrscheinlich depressiv war, können wir uns vorstellen, dass die Integration von körperlicher Berührung (Sensation) und Bedeutung erschwert war. Ich glaube, dass Miras Sehbehinderung auch mit dazu beigetragen hat, dass die projektiven und introjektiven Prozesse behindert wurden. Ich denke dabei daran, dass dem Säugling die Brust, später die Flasche, dann die Hand der Mutter in der richtigen Distanz angeboten werden muss. Ich stelle mir vor, dass es für das Baby Mira, das kaum etwas sehen konnte, und dessen Mutter die erforderliche emotionale Einstimmung aus den verschiedensten Gründen nicht geben konnte, die Erfahrung einer Kontinuität des Seins (Winnicott, 1971/1979, S. 113) beschädigt wurde. Die nicht mentalisierten, eingekapselten Erfahrungen von früher Einsamkeit und Hilflosigkeit, gepaart mit mörderischer Eifersucht, die »Gespenster« (Fraiberg et al., 1980) aus der Vergangenheit von Miras Mutter, drangen in die Beziehung zu ihrem Baby ein. Sie wollte alles besser und perfekt machen und gab doch unbewusst ihre eigenen Gespenster (ihre verinnerlichte hochambivalente Beziehung zu ihrer Schwester Lisa und zu ihrer inneren Mutter) an Mira weiter. Das Kind lebte nicht nur »unter

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den Schatten« der Vergangenheit seiner Mutter, sondern es war in vielerlei Hinsicht der Schatten. Miras Vater, das einzige Kind sehr alter Eltern, konnte seine eigenen Ängste mit vielen Zwängen, die auch adhäsiven Charakter hatten, bannen. Er versuchte, so gut es ihm möglich war, seine Frau zu unterstützen. Doch auch er blieb in einer ungetrennten Beziehung zu Mira verhaftet. Beide Eltern ersetzen ihre emotionale Einschränkung durch eine adhäsive Besorgtheit und Umklammerung. In ihr waren sie geschützt vor ihren eigenen abgespaltenen Gefühlen und konnten die emotionale Not von Mira nicht wirklich aufnehmen. In der Abschiedsszene versuchte ich Mira mit meinen Worten zu vermitteln: Ich denke an dich, auch wenn du nicht da bist. Meine Erinnerung an dich bleibt, und ich traue dir zu, dass du auf meine Anwesenheit an deinem Geburtstag verzichten kannst.

Fallbeispiel 2: Herr B. Meine zweite klinische Vignette befasst sich mit dem Ausbruch einer lebensbedrohlichen Erkrankung während der Behandlung von Herrn B. Der 40-jährige Herr B. war zu mir gekommen, weil er immer wieder in depressive Rückzugszustände geriet, sich zu nichts mehr aufraffen oder entscheiden konnte. Er hatte Angst, seine Frau und seine Arbeitsfähigkeit zu verlieren. Er litt unter Asthma allergischen Ursprungs und starken Rückenschmerzen. Ein paar Bemerkungen zur Lebensgeschichte. Herr B. kommt aus einem bäuerlichen Hintergrund und hat eine ältere Schwester. Für ihn war wohl als Baby und Kleinkind sehr wenig Zeit, da die Eltern durch die Aufgaben, die auf einem Bauernhof als Familienbetrieb anstehen, und auch durch die Schwester, die körperlich behindert war, sehr in Anspruch genommen waren. Der Patient hatte sich mit großen Schuldgefühlen, die ihn immer wieder einholten, entschlossen, den Bauernhof nicht zu übernehmen, sondern weit weg zu gehen und zu studieren. Der Patient ist verheiratet, hat einen Sohn und arbeitet im wissenschaftlichen Bereich.

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Im bisherigen Verlauf der Behandlung gelang es, eine lebendigere Beziehung herzustellen, und Herr B. war mit seinen Gefühlen viel besser in Kontakt gekommen. Dies wirkte sich auch in seiner Beziehung zu seiner Frau und zu seinem zehnjährigen Sohn aus. Insbesondere hatten sein Rückzugsverhalten in seinen Beziehungen und seine Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen und sich festzulegen, sowohl privat als beruflich, abgenommen. Ich berichte aus einer Phase der Analyse, als Herr B. von einer lebensbedrohlichen Erkrankung betroffen und operiert worden war. Danach wurde die Analyse fortgeführt. An einem Mittwoch – im dritten Jahr der Behandlung – kommt er und erzählt, gestern Abend habe er in die Notaufnahme gehen müssen. Am folgenden Tag erhalte ich von dem Patienten einen Anruf. Er habe viele medizinische Untersuchungen zur Abklärung vor sich, aber er werde sich dann melden und mir mitteilen, wie es weitergeht. Ich bin sehr erschrocken und besorgt. Ich hatte das letzte Analysejahr als sehr fruchtbar erlebt. Ende der Woche erhalte ich von seiner Frau einen Anruf und erfahre die Diagnose und den Operationstermin. Wie vereinbart, meldet sich Herr B. dann nach seinem Aufenthalt in einer Reha-Klinik. Er möchte so schnell wie möglich wiederkommen. Wir vereinbaren, die Behandlung zweimal wöchentlich im Sitzen weiterzuführen. Die Stunden sind angefüllt mit Berichten über seine Körperbefindlichkeit und kleine Fortschritte. Insgesamt habe ich das Gefühl, der Patient gibt sich große Mühe, wieder der »Alte« zu werden. Alles hat eine sehr manische Qualität, die ich jedoch verständlich finde; gleichzeitig gerate ich dabei unter Druck. Ich gehe sehr auf seine körperliche Befindlichkeit und Körperängste ein. Es ist, wie ich es empfinde, eine Situation zwischen Leben und Tod. Die tödliche Bedrohung ist für mich sehr präsent. Ich finde es wichtig, sie einerseits nicht auszusperren und andererseits die Hoffnung aufrechtzuerhalten und den Patienten dabei zu begleiten, dass er die Krankheit überstehen möge. Ich entdecke, dass sich zeitweise in mir eine ethisch-moralische Anforderung an den Patienten breitmacht, sich doch der Vergänglichkeit zu stellen. In der Situation ist es für uns beide eine Herausforderung, die – bis zum Äußersten strapazierte – Ambivalenz zu

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halten zwischen der Lebensbedrohung, der Gegenwart des Todes und dem Bedürfnis, dass das Leben weitergehen soll. Nach den zwei Monaten einer zweistündigen Behandlung im Sitzen kommt Herr B. auf eigenen, und zwar dringenden Wunsch wieder vier Mal in der Woche im Liegen. Ich habe das Gefühl, dass er froh ist, wiederkommen zu können, und dass er das Liegen als angenehm empfindet. Ich spüre aber bei ihm eine große Vorsicht und Zurückhaltung. Ich bemerke, wie er mich beim Kommen und Gehen sehr eindringlich ansieht, und habe das Gefühl, da ist etwas zwischen uns. Irgendwie scheint er mich als eine Andere als zuvor zu erleben. Ich frage ihn daher, ob er vielleicht das Gefühl habe, ich hätte mich schützen wollen, und daher ganz froh gewesen sei, dass er nur zwei Mal kommen konnte. Vielleicht sei er nun sehr darauf bedacht, mich nicht zu sehr zu belasten. Diese Intervention eröffnet wieder einen Denk- und Fühlraum zwischen uns beiden. »Ja«, sagt Herr B., er habe das Gefühl, alle zögen sich zurück. Er wisse, dass das auch an ihm liege – wenn es ihm schlecht ginge, wolle er, dass das niemand mitbekomme. Er verfällt in Schweigen. Dann sagt er, er habe auch bemerkt, dass seine Frau vermeide, ihn anzufassen. In den folgenden Wochen steht das Fortschreiten der Genesung im Vordergrund. Herr B. recherchiert im Internet und findet einen Fall, der mit seinem Fall vergleichbar ist, und sagt, er habe doch keine so schlechte Prognose, wie er zunächst geglaubt habe. Es gebe doch auch Hoffnung, und daran wolle er sich festhalten. Dann verändert sich die Atmosphäre. Der Patient sagt in einem wütenden Ton: »Diese Krankheit macht mich wütend und unsicher. Sie ist hinterlistig, jede andere Krankheit hat Symptome. Man kann sich dann damit auseinandersetzen. Dieser Tumor ist im Heimlichen entstanden und hat mich hinterrücks überfallen. Er hätte mich umbringen können. Was hat da versagt in mir, dass ich es nicht gemerkt habe? Meine Selbsterhaltung hat versagt.« Dann nachdenklich: »Aber die Krankheit, das bin auch ich.« Ich denke, Herr B. klagt auch mich an, dass die Analyse ihm nicht gut getan haben könnte, und versucht das in Worte zu fassen. Nach einem kurzen Schweigen sagt der Patient weiter: »Ich denke, Sie erwarten, dass ich mich zusammennehme und zur Universität gehe und

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mich mit den anderen treffe. Dann ist da noch meine Schwester, die hat Geburtstag, aber ich will mit ihr nichts zu tun haben. Ich will jetzt mit der Familie nichts zu tun haben.« Ich: »Wofür steht denn die Schwester und die Familie, mit der Sie jetzt gar nichts zu tun haben wollen? Ist vielleicht darin das Zerstörerische und das Kranke deponiert, und Sie versuchen, es weit weg von sich und von mir zu halten?« Der Patient hört zu, sagt aber nichts. Es folgen dann einige Stunden, in denen er sich über viele Dinge des Alltags massiv ärgert. Er frage sich dann: »Womit hadere ich eigentlich? Die ersten zwei Monate nach der Operation war ich damit beschäftigt, wieder auf die Reihe zu kommen. Die Wut, so abgeknickt zu sein, geht mit mir durch. Ich bin rausgefallen, rausgeworfen. Ich fühle mich zwischen Vorwärts und Rückwärts.« Nach einem längeren Schweigen: »Es wird mir auch deutlich, dass alles auch ohne mich weitergehen kann.« Der Patient beginnt still zu weinen. Ich nehme dies auf und sage: »Es ist sehr schmerzlich.« Der Patient: »Es ist so, als wäre die Türe zu.« Ich werde hoffnungslos traurig und denke, ja vielleicht geht die Tür wirklich für immer zu. Der Patient: »Ich muss auf der Arbeit meine mir schwer erkämpften Privilegien aufgeben. Man kann sich auf nichts verlassen. Ich habe doch so sehr gehofft und gedacht, jetzt ist alles gut, jetzt habe ich es geschafft. Ich fühle mich nicht mehr vollwertig.« Ich sage: »Ist krank sein für Sie so beschämend, ist es für Sie ein Makel?« Der Patient: »Ich werde bewertet und für krank befunden. Der andere sagt, du bist krank und schwach, kannst nicht mitmachen, jemand nimmt mir etwas.« Für mich wird nun immer deutlicher, wie der Patient die Erkrankung in einer Beziehung zu einem bedrohlichen, verfolgenden Objekt erlebt. Es ist, als kämpfe er mit jemandem, der ihn bewertet und verurteilt – vielleicht auch mit mir. Einige Stunden später. Zu Beginn der Stunde blickt der Patient auf einen Pfingstrosenstrauß, der bei mir auf dem Tisch am Fenster steht. »Die Pfingstrosen, die sind schön. Doch es geht nicht an mich ran. Mir fehlt etwas. Wenn ich nur den Makel eingrenzen könnte. Wenn ich durch einen Unfall ein Bein verloren hätte, dann wäre das fassbar. Ich glaube jedoch nicht, dass es nun um das konkret Organische wirklich geht. Es sind so einzelne Reak-

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tionen von den anderen, die mich damit konfrontieren, zum Beispiel: ›Man sieht es dir gar nicht an.‹« Ich: »Ihre ganz basale Sicherheit ist angegriffen, hat einen Riss. Wenn Sie sich gut fühlen, können Sie sich freuen. Wenn Sie merken, dass es Ihnen körperlich nicht so gut geht, Sie sich schwach und müde fühlen, dann kommt die ängstliche Frage: Ist das ein Anzeichen, dass die Krankheit fortschreitet, oder ist es nur meine Angst?« Schweigen. Der Patient: »Am Anfang war es heute angenehm, da waren die Pfingstrosen.« Analytikerin: »Sie haben versucht, sich an den Blumen zu freuen, aber da ist der Riss, der durch die Krankheit entstanden ist. Der Riss ist da, und die Schönheit der Blumen auch. Doch die Schönheit der Blumen kann den Riss nicht heilen. Was wir tun können, ist verstehen, und das Verstanden- und Gesehenwerden ist das, was wir tun können – aber wie lange, das wissen wir beide nicht.« Nach der Stunde geht es mir ganz schlecht. Ich habe das Gefühl, ich könnte jederzeit umkippen. Dann fällt mir ein, dass Pfingstrosen für mich mit dem Tod verbunden sind. Pfingstrosen waren auf dem Sarg meiner Mutter, die an einem Pfingstsonntag starb. Beim weiteren Nachsinnen höre ich das Lied »Sag mir, wo die Blumen sind«, so wie ich es als kleines Kind mit meiner Mutter von der Schallplatte gehört hatte. In der Stunde am nächsten Tag sagt der Patient: »Ich hatte den Eindruck, dass Sie mich heute besonders prüfend ansehen.« Dabei hatte ich umgekehrt das Gefühl, dass ich heute von ihm besonders prüfend angesehen werde. Ich denke, irgendwie hat der Patient etwas gespürt und muss sehen, wie es mir geht. Und ich muss sehen, wie es ihm geht. Es geht uns beiden wohl so. Nach längerem Schweigen sagt der Patient: »Ich habe einen eindrucksvollen Traum gehabt.« Dann erzählt er: »Ich war als Patient wieder im Krankenhaus, in dem Krankenhaus, in dem ich operiert wurde. Aber ich sollte meine Brille da lassen. Und dann sagten die, die Fassung würde dem Krankenhaus gehören. Aber ich sagte, ich will die Gläser behalten. Dann sagten sie, das geht nicht. Dann wurden die Gläser aus der Fassung genommen. Ich war ärgerlich, ich hatte mir doch die Brillenfassung ausgesucht und mich daran gewöhnt. Dann hatte ich nur noch die Gläser in der Hand.«

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In der Stunde spricht Herr B. dann weiter über seine Prognose und seine Ängste wegen Metastasen und einem Rezidiv. Er erzählt, dass er stolz auf seinen Sohn sei, der komme gut klar. Dann sagt er in einer anderen Stimmlage: »Ich freue mich darüber. Aber es macht mir auch etwas aus, dass die anderen ohne mich so gut klarkommen. Durch die Krankheit bin ich ständig in einem Gefühl der Unsicherheit: Bin ich draußen oder drin? Bin ich gesund oder krank?« Ich sage: »Ja, beides ist da. Es fühlt sich so an, dass Sie ihre gewohnte Fassung verloren haben.« Der Patient kommt dann auf Bäume zu sprechen und sagt: »Mir ist da etwas eingefallen. Es ist eine Geschichte, die ich einmal gelesen habe. Da wurde ein älterer Baum gefällt, und es war ein Loch. Dann kam jemand und hat einen neuen Baum genau in das Loch gepflanzt, damit das Loch wieder aufgefüllt ist. Dann hat jemand gesagt, das Loch soll bleiben. So geht es bei mir auch. Ich spüre so eine Verweigerung. Warum soll ich noch einmal Energie aufwenden und noch einmal anfangen? Manchmal habe ich keine Lust. Ich muss atmen, aber ich will nicht. Ich will nicht aufstehen, lieber liegen bleiben.« Ich denke an Melvilles Bartleby und sage zu ihm: »Sie wollen lieber nicht.« Patient: »Warum muss ich wollen?« Ich: »Schlafen und Aufwachen, es geschieht einfach. Ein Stück muss man sich überlassen.« Mich überkommt eine große Traurigkeit, als ich das sage. Die nächste Stunde beginnt der Patient: »Mir geht es schlecht. Am Morgen ist es am schlimmsten.« Er weint. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich aufstehen kann. Ich habe Angst, meine Frau wird zwei Tage weg sein, und Sie sind nächste Woche nicht da. Ich habe so eine Angst, dass es so einen Sog gibt, dass ich nichts dagegen tun kann, dass ich nicht dagegen ankomme. Ich kann nicht denken, nicht fühlen, ich bin so kraftlos. Ich fühle mich dumpf, unlebendig.« Ich: »Sie fühlen sich allein gelassen. Ich werde nicht da sein. Ihre Frau geht weg.« Der Patient: »Jeder hat seine Lebenszeit. Geht es jetzt bei mir um weitere Lebenszeit oder muss ich sterben? Ich kann Ihre Zuwendung nicht aufnehmen. Draußen fängt Ihre Kletterrose an zu blühen. Ich kann sagen, das ist schön, aber es wirkt nicht in mir. Es ist, weil ich hier liege, ich muss in Bewegung bleiben, aufrecht sein. Und außerdem sehe ich Sie nicht. Im

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Frühjahr war ich schon viel weiter. Es ging mir immer etwas besser. Und jetzt dieser Einbruch. Es ist nicht, dass ich jetzt so viel Angst habe, Angst vor dem Sterben. Es ist das Einordnen meines Zustandes. Ich weiß nicht, ob ich noch Zeit habe. Lohnt es sich dann überhaupt noch aufzustehen?« Ich sage: »Es ist so schwer auszuhalten, sich erschöpft und alleingelassen zu fühlen.« Ganz allmählich verändert sich die Stimmung. Die Natur bekommt eine Brückenfunktion zwischen der vertrauten menschlichen Sphäre und dem unbekannten Reich des Todes. Nach M. Klein »repräsentiert die Natur in diesem Zusammenhang die innere gute Mutter. Aber auch diese Erfahrung, Kummer und Mitleid mit den inneren Objekten teilen zu können, ist von den Beziehungen zu äußeren Objekten abhängig« (Klein, 1940/1996, S. 184). In einer der folgenden Stunden sagt der Patient: »Es geht etwas besser. Es war schön heute Morgen mit meiner Frau. Es ist frisch, nicht kalt, eine schöne Stimmung. In unserem Garten ist eine einzige Rose, man sieht sie, wenn sie blüht, vom Wohnzimmerfenster aus. Es gibt viele alte Bäume, wie lange die wohl noch leben?« Er erzählt dann von Bäumen – Erinnerungen an seine Kindheit auf dem Land. »Manche Bäume werden doch sehr alt«, sagt er. »Ich liebe besonders Apfelbäume. Ich erinnere mich, wie ich einmal als Kind ganz früh morgens unter einem Apfelbaum saß. Das Bild habe ich noch so richtig vor mir. Die Bäume haben so etwas Bleibendes, Festes, und gleichzeitig zeigen sie die jahreszeitlichen Veränderungen.« Durch die Erfahrung, Kummer, Leid und Verzweiflung, Wut, aber auch Hoffnung in der analytischen Beziehung teilen zu können, wird, wie Melanie Klein sagt, die Beziehung zu den inneren guten Objekten wiederhergestellt (vgl. Klein, 1940/1996, S. 184). Dadurch verliert die manische Kontrolle der inneren Welt an Rigidität. »Wenn die Sicherheit der inneren Welt nach und nach zurückkehrt, so dass die Gefühle und die inneren Objekte wieder zum Leben erwachen, dann schöpft der Trauernde neue Hoffnung. Der Hass ist in den Hintergrund getreten, und die Liebe wurde freigesetzt« (Klein, 1940/1996, S. 185).

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Damit schließe ich meine Schilderung aus dieser Phase der Analyse von Herrn B. Die Analyse wurde fortgesetzt, und die Gesundheit von Herrn B. stabilisierte sich. Das Ende der Behandlung liegt nun schon einige Zeit zurück.

Abschließende Bemerkungen Nachdem ich die Aufzeichnungen über den Zeitraum der Analyse von Herrn B. gemacht hatte, erschien mir Freuds Text »Vergänglichkeit« wie eine Melodie im Hintergrund. Die drei allegorischen Figuren – Freud, der Dichter und der stumme Freund – traten abwechselnd einmal mehr in den Vordergrund, einmal mehr in den Hintergrund, aber sie waren immer präsent. Als Analytikerin bin ich gefordert, mit meinem Geist und Körper präsent, lebendig und denkend zu bleiben, um die hoffnungsvollen wie die verzweifelten Gefühle des Patienten aufnehmen zu können. Hierbei ist eine sorgfältige und oft schmerzliche Wahrnehmung und Verarbeitung der eigenen Gegenübertragungsgefühle unerlässlich. Die Gefühle von Wut, Hass und Verzweiflung müssen aufgenommen, gehalten und in Worte übersetzt werden. Es geht um die Auseinandersetzung mit einem bösen, verfolgenden Gegenspieler, der zum Bereich des Todes bzw. einem Todesabkömmling gehört. Herr B. klagt darüber, dass man ihm etwas genommen hat, dass der Tumor ihn heimtückisch überfallen hat, ihn ausgeschlossen, rausgeworfen hat. Er versucht, den Tod mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. »Ich stehe nicht mehr auf.« Man kann dies so verstehen, dass durch eine aktive Spaltung ein Teil des Selbst, das vom Verlust betroffen ist, einem anderen Teil des Selbst, das für den Verlust verantwortlich gemacht wird, gegenübertritt. Der Teil, der für den Verlust verantwortlich gemacht wird, wird in die Analytikerin projiziert. Diese Spaltung und anschließende projektive Identifizierung stellt einen ersten Ordnungsversuch gegenüber dem inneren Chaos dar. Der Tod bzw. die Todesabkömmlinge oder die Todesäquivalente können nun aktiv bekämpft werden. In der analytischen Bezie-

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hung wird die Analytikerin zeitweise zur Gegenspielerin und muss diese Rolle annehmen. Der »namenlose Schrecken« (Bion) kann so in einem Beziehungsgeschehen gebunden und durch die transformierende Kraft des einfühlenden Mitgehens und Verstehens aushaltbar werden. Ich spreche von Todesabkömmlingen, weil ich die Differenz zwischen dem Tod als einem natürlichen Geschehen und den unbewussten Phantasien, die mit dem Tod verbunden sind, deutlich machen möchte. Wie De Masi (2004) glaube ich, dass der Tod in unserer inneren Welt als Zusammenbruch der persönlichen Identität, als psychotische Desintegration eingeschrieben ist. Im Rahmen von Freuds Libidotheorie gibt es keinen Platz für den Tod im Unbewussten. Im Gegensatz dazu hat in Melanie Kleins Theorie der Angst der Tod einen Platz im Unbewussten. Ich gehe davon aus, dass im Laufe der individuellen Entwicklung viele Erfahrungen aus äußeren und inneren Quellen als Todesabkömmlinge oder Todesäquivalente in die unbewussten Phantasien eingeschrieben sind. Um einige zu nennen: unerträglicher psychischer Schmerz durch frühe Trennungserfahrungen (Tustin, 1990/2008), Fehlen von Liebe, Liebesverlust (Freud, 1916–17g), Erfahrungen mit dem Tod anderer Menschen und lebensgefährlichen Situationen, lebensbedrohliche Erkrankungen. Diese Ängste, die mit dem Tod verbunden sind, tauchen in zyklischer Weise im Verlaufe unseres Lebens auf. Sie können eher paranoider oder eher depressiver Art sein – im Klein’schen Sinne der beiden Positionen – und müssen immer wieder durchgearbeitet werden. Die reale Todesnähe und Bedrohung durch eine Erkrankung ist jedoch nicht durch Verstehen zu »bewältigen«. Dies gehört zur menschlichen Existenz, der beide unterworfen sind, Analytikerin und Patient. Der Patient braucht die Empathie und Teilhabe der Analytikerin. Sie muss ihre eigene Hilflosigkeit angesichts der tödlichen Bedrohung aushalten und einen schwierigen Spagat zwischen Todesangst und Lebenshoffnung in sich aufrechterhalten. Als Herr B. mich sinngemäß fragte: »Muss ich aufstehen und weiterleben wollen?«, fand ich das eine nicht zu beantwortende Frage, wenn ich sie wörtlich genommen und auf konkreter Ebene geant-

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wortet hätte. Ich übersetzte sie für mich einerseits in die Frage, ob er noch Hoffnung haben kann, andererseits spürte ich die darin enthaltene Weigerung, seinen körperlichen Zustand anzunehmen. Mit meiner Antwort: »Man muss auch geschehen lassen«, ging es mir darum, ihm anzubieten, dass es einen Unterschied macht, ob man ertragen kann, sich einem Geschehen zu überlassen und nicht gegen die Hilflosigkeit zu kämpfen, oder ob man es als eine Unterwerfung erlebt. Es war intuitiv von mir eine Handreichung in Richtung der depressiven Position, das heißt unsere beider Begrenztheit und Vergänglichkeit anzunehmen. Es war für mich einer der schwer auszuhaltenden Momente, und ich glaube es war wichtig, emotional dazubleiben und mich nicht durch eine kluge Deutung zu entziehen. Denn die Gefahr ist groß, dass wir uns selbst vor schwer erträglichen Gefühlen und vor dem Nichtwissen oder dem Noch-nichtoder Gar-nicht-Fassbaren schützen, indem wir das Geschehen in den Stunden in etwas schon durch die Theorie Bekanntes verwandeln. Hier hilft keine Theorie oder Technik. Ich bin überhaupt der Ansicht, dass die Theorie für die klinische Arbeit eine dienende und keine herrschende Rolle hat. Wir brauchen die Theorie natürlich zu unserer Orientierung, für die Kommunikation mit Kollegen und der scientific community. Es braucht das Vertrauen, dass Metaphern aus der Erfahrung in der Beziehung im Hier und Jetzt entstehen. Bei Herrn B. halfen seine Bilder der Natur zu trauern und die Beziehung zu inneren guten Objekten wiederherzustellen. Ich halte es jedoch für ganz entscheidend, dass diese Bilder vom Patienten selbst mit Hilfe unserer emotionalen Präsenz gefunden werden. Übernommene Metaphern können beruhigen, bergen jedoch die Gefahr in sich, etwas Aufgesetztes, Geliehenes zu bleiben. Hier möchte ich auf die Verbindung zwischen dem Lied »Sag mir, wo die Blumen sind …« und der Passage »wenn die Blume nur einen einzigen Tag blüht« aus dem Freud-Text »Vergänglichkeit« hinweisen. Es ist die Erfahrung der Natur, am Beispiel der Blumen und der Bäume, als Metaphern für die emotional-ästhetische Erfahrung der Schönheit, der Schönheit der inneren Objekte, die die Vergänglichkeit erträglicher

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machen kann, wofür die Beziehung der drei allegorischen Figuren zueinander steht. »Die Natur trauert mit den Trauernden« sagt uns der Dichter, wie Melanie Klein es hervorhob. Die guten inneren Objekte, repräsentiert durch die Natur, teilen den »Schmerz, wie es auch liebevolle Eltern tun würden« (Klein, 1940/1996, S. 184). Als Analytiker gehen wir davon aus, dass »echte Symbolbildung« aus einem Prozess der Trauer um das verlorene Objekt entsteht und einhergeht mit der Anerkennung von Verlust und Getrenntheit. So hat es Hanna Segal (1991/1996) formuliert. Mir ist jedoch wichtig zu betonen, dass der Weg zur Symbolbildung zunächst über Hoffnung, Glaube und eine Vorbereitung auf Getrenntheit und Verlust führt. Melanie Klein – und das wird oft nicht genügend betont – hat darauf hingewiesen, dass die Stärke des guten inneren Objekts entscheidend ist. Meltzer, der die proto-ästhetische Erfahrung der Anwesenheit des Objekts untersucht, schreibt: »Der Konflikt mit dem anwesenden Objekt hat die vorrangige Bedeutung gegenüber dem abwesenden Objekt, um die Ängste aufzunehmen« (Meltzer, 1988, S. 29; Übers. A. Staehle). Für das innere Erleben des Patienten, das sich in der analytischen Situation im Raum zwischen Patient und der Analytikerin entfaltet, bedarf es des Gefäßes der Sprache. Jedoch nicht nur der Sprache mit ihren Symbolen und Inhalten, sondern auch der durch die Gefühle evozierten Musik der Sprache – der Tonalität. Ich konnte es in diesem Text nicht ausführen, dass für Herrn B. neben den Naturbildern die Musik ein wichtiges »Zwischenreich« – ein »Übergangsbereich« (Winnicott) – war und dass der Körper der Sprache, der Ton und Rhythmus unseres Sprechens, eine große emotionale Bedeutung hatte.

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Internetquelle Wikipedia. Where have all the flowers gone. Zugriff am 26. 03. 2014 unter  http://de.wikipedia.org/wiki/Where_Have_All_the_Flowers_Gone

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Hans-Werner Saloga

»Kennst du denn den Tod?« Der Kinderanalytiker und der Tod – ein unauflösbarer (Lebens-)Konflikt?

Vorbemerkungen Als der Herausgeber mich fragte, ob ich an diesem Buchprojekt mitarbeiten möchte, sagte ich begeistert zu. Das Thema beschäftigte mich schon längere Zeit, ich bereitete außerdem gerade ein Seminar zu diesem Thema vor, und die Auseinandersetzung mit dem Tod innerhalb der Analytikerzunft ist auch mir ein Anliegen. Steve Toltz (2012) lässt in »Vatermord und andere Familienvergnügen« den Romanprotagonisten, der auf sein Krebs-Ende wartet, sagen: »Tod und Mensch, die Koautoren Gottes, sind die produktivsten Schriftsteller des Planeten. […] Das menschliche Unbewusste und die Unausweichlichkeit des Todes – sie sind die wahren Verfasser der Figuren Jesus, Mohammed und Buddha, um nur einige zu nennen. […] Menschen sind auf der Welt einzigartig, weil sie im Gegensatz zu allen anderen Tieren ein so hoch entwickeltes Bewusstsein haben, dass dabei ein scheußliches Nebenprodukt abfällt: sie sind unter allen Geschöpfen das einzige, das um die eigene Sterblichkeit weiß. Diese Wahrheit ist so entsetzlich, dass die Menschen sie schon ganz früh tief in ihrem Unbewussten vergraben [haben], und das hat aus den Menschen Maschinen, Fabriken aus Fleisch und Blut gemacht, in denen Sinn erzeugt wird. Dieser Sinn, an den sie glauben, veranlasst sie dann zu ihren Unsterblichkeitsprojekten – ihre Kinder oder ihre Götter oder ihre Kunstwerke oder ihre Geschäfte oder ihre Nationen – von denen sie glauben, dass sie sie überleben werden. […] Die Ironie besteht darin, dass sie von den Sorgen, die sie sich um ihre Unsterblichkeitsprojekte

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machen, ins Grab gebracht werden, obwohl diese Unsterblichkeitsprojekte von ihrem Unbewussten doch gerade dazu erschaffen wurden, ihnen das Gefühl ihrer Einzigartigkeit vorzugaukeln und die Vorstellung vom ewigen Leben zu verkaufen. […] Die Verdrängung des Todes treibt die Leute in ihr frühes Grab und wenn du nicht aufpasst, reißen sie dich mit in den Tod« (Toltz, 2012, S. 414 f.). Das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit schon ganz früh tief im Unbewussten vergraben – ein »Vorgang«, den sich jeder gut vorstellen kann und den der größte Teil der Menschen wohl auch begrüßt, um nicht darüber nachdenken zu müssen. Dieses Bewusstsein macht auch keinen Unterschied. Gedanken über Sterben und Tod treffen schließlich jeden Menschen gleichermaßen stark. Das Nachdenken darüber heißt auch Einsicht in das Bestehen eines gewissen Mangels, einer Schwäche oder eines Unvermögens. Ein Therapeut wird darüber hinaus »zur Überprüfung seines eigenen Wertesystems, seiner beruflichen Ziele und seiner persönlichen Sinngebung genötigt. […] Der Patient geht im Sterben dem Therapeuten voran in einem Lebensbereich, den er selbst, in ähnlicher oder anderer Form, später auch durchlaufen wird« (Bürgin u. Hubrich, 1988, S. 6). Wird der Therapeut, der nicht mehr imstande ist, den Gang der Dinge zu verändern, also zum Weggefährten bei einer spezifischen existenziellen Verlustarbeit, die sogar total sein kann? Doch ist der Kinderanalytiker, der ich ja bin, überhaupt einer, der über den Tod redet, reden kann? Ist er nicht der, der sich – angesichts seiner jungen Patienten – mit dem Leben beschäftigt, ja gleichsam mit dem Beginn des Lebens, dem Werden? Ist dieses Dilemma vielleicht tatsächlich ein (unauflösbarer?) Konflikt mit dem Leben? Freud schreibt im zweiten Teil seiner Arbeit »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915b) unter der Überschrift »Unser Verhältnis zum Tode«: »[…], kurz, dass der Tod natürlich sei, unleugbar und unvermeidlich. In Wirklichkeit pflegten wir uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre. Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen; wir besitzen

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ja auch das Sprichwort: man denke an etwas wie an den Tod. Wie an den eigenen natürlich. Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und so oft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben. So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt. […] Wie verhält sich unser Unbewußtes zum Problem des Todes? Die Antwort muß lauten: fast genauso wie der Urmensch. In dieser wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem Unbewußten fort. Also unser Unbewußtes glaubt nicht an den eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich. Was wir unser ›Unbewußtes‹ heißen, die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten unserer Seele, kennt überhaupt nichts Negatives, keine Verneinung – Gegensätze fallen in ihm zusammen – und kennt darum auch nicht den eigenen Tod, dem wir nur einen negativen Inhalt geben können. Dem Todesglauben kommt also nichts Triebhaftes in uns entgegen« (Freud, 1915b, S. 20, S. 29). Unser Unbewusstes also hat nichts übrig für Negation, es kennt sie schlichtweg nicht. Damit ließe sich trefflich leben. Wir wären das üble Problem los und würden erklären, dass es sich anfühlt, als wäre der Tod lediglich ein ungelöstes medizinisches Problem.

Die Frage nach Tod und Leben Die Frage, die diesem Beitrag vorangestellt ist, hat mir vor einigen Jahren der elfjährige Raphael gestellt, mit dem ich über das Sterben seines schwerkranken Vaters sprach. Da von diesem Jungen noch öfter die Rede sein wird, sei seine Geschichte exemplarisch für viele erwähnt: Raphael kommt im Alter von elfeinhalb Jahren zu mir. Er ist auffällig im Sozialverhalten, zeigt Verhaltens- und Disziplinarprobleme im Schulalltag, im weiteren Verlauf auch Lern- und Leistungsprobleme.

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Der Vater, 45, ist Ingenieur und betreibt mit der 40-jährigen Mutter, einer Architektin, ein eigenes Unternehmen. Als Raphael 16 Monate alt ist, erkrankt der Vater an Lymphdrüsenkrebs. Er wird mit Bestrahlung und Chemotherapie behandelt und ist zum Zeitpunkt dieses Erstkontaktes seit sechs Jahren rezidivfrei. Die Mutter ist bei Ausbruch seiner Krebserkrankung im sechsten Monat schwanger mit Raphaels Bruder. Die Erkrankung des Vaters, der zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens als geheilt angesehen wird, ist immer offen in der Familie besprochen worden, Raphael weiß davon und kennt wohl auch die Gefahren, die bei dieser Art der Erkrankung immer lauern. Raphael ist ein besonders interessiertes Kind, sensibel, künstlerisch und musikalisch begabt. Schon bald in der Schule zeigt sich, wie gut er Menschen beurteilen und dann an ihren verletzlichen Stellen treffen kann. Aufgrund dessen sind seine sozialen Kontakte oftmals schwierig, teilweise verstörend; seine Persönlichkeit kann insbesondere von Erwachsenen au­ßerhalb seiner Familie nicht als eine besondere, sondern nur als störend wahrgenommen werden. Raphael erscheint als ein Junge mit zwei Gesichtern: einerseits humorvoll, direkt, durchschauend, spirituell, höflich, freundlich – andererseits eckt er an, ist wild, seine Versuche, bei Gleichaltrigen anzukommen, erreichen nur das Gegenteil, er wirkt unberechen­ bar, wird teilweise als tickende Zeitbombe bezeichnet. Sein inneres Gleichgewicht gerät immer mehr aus den Fugen, er verliert zunehmend seine unbekümmerte Fröhlichkeit, wird mehr und mehr zum Einzelgänger. In dieser Situation wird er mir zur Einleitung einer Therapie vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt erschien mir die Situation relativ klar: Raphael befindet sich in der Pubertät, einer an sich schon sehr schwierigen Ent­wicklungsphase eines jungen Menschen. Das ambivalente Gefühl zwischen Kindheit und Jugend führt zu Spannungen, Unsicherheiten und quälenden Ängsten, die durch bewusste und unbewusste Phantasien noch verstärkt werden. In dieser Phase ist die Orientierung für den Jungen sehr wichtig, er wendet sich mehr dem Vater zu, sucht in ihm ein Vorbild, einen Menschen nach dem er sich ausrichten kann  – er

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wird ja auch mal ein Mann werden. Das Bild des Vaters, an dem er sich orientiert, wird eine Zeit lang zu seinem eigenen Bild. Die lebensbedrohende Krankheit des Vaters, die zwar zu diesem Zeitpunkt als geheilt betrachtet wird, aber als Angst vor dem Tod wohl in allen Familienmitgliedern phantasmatisch weiter besteht, wird besonders für den heranwachsenden Jungen zu einer existenziellen Bedrohung. Die zum Teil unbewusste Phantasie des Jungen wird dabei in der Identifizierung mit dem Vater – übertragen: mit dem Mann, der er selbst einmal sein wird – zu seiner eigenen Todesangst. Die Rationalisierungsfähigkeit der Erwachsenen steht dabei einem Jungen dieses Alters nur sehr begrenzt – wenn überhaupt – zur Verfügung. Gegen existenzielle Bedrohung bleibt ihm so nur ein aggressiver Kampf gegen die eigenen Vernichtungsängste. An dieser Stelle treffen sich Realität und Phantasie und gehen eine fatale Koalition ein. Drei Monate nach Therapiebeginn zeigt sich beim Vater ein Rezidiv, Ausbildung und Fortschreiten lassen wenig therapeutische Hoffnung, die Prognose wird bald als infaust bezeichnet. Trotz Chemotherapie stirbt der Vater ein Jahr später. Wie aber kann und soll Raphaels Frage im Kontext psychoanalytischer Therapie beantwortet werden? Sokrates hätte dem Frager wohl so entgegnet: »Denn niemand kennt den Tod und niemand weiß, ob er für den Menschen nicht das allergrößte Glück ist!« (Platon, 2011, S. 41). Er bietet so eine für uns Sterbliche tröstliche Antwort. Aber hätte sie Raphael auch gefallen? Und gefällt sie mir? Hilft sie mir bei meiner Suche nach einer Antwort? Wenn ich darüber nachdenke, dann kommen mir als Erstes Gedanken aus meiner Kindheit und Jugend, an Sterben und Tod meiner Großeltern, auch meines Vaters. Die letzten Jahre, Sterben und Tod meiner Großmutter väterlicherseits, bewirkten erstmals den Wunsch, mich beruflich mit psychisch Kranken zu beschäftigen. Die von uns Kindern (fünf Nichten und Neffen und ich in einem großen Haus) geliebte mütterliche Großmutter starb, während ich (Blinddarm-OP) mit ihr im gleichen Krankenhaus lag. Mein Vater starb, wie er lebte, ein Offizier, scheinbar gefühllos und nur mit sich und seiner Unantastbarkeit beschäftigt. Alles das sind

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Ereignisse, die bei aller Trauer über den Verlust erklärbar sind für einen jungen Menschen, erklärbar durch das Alter. Mein erstes Erleben mit Sterben stammt aus der Zeit nach dem Abitur (1970). Ich war damals fest entschlossen, Medizin zu studieren. Die Zeit bis zum Semesterbeginn verbrachte ich mit einem Krankenpflegepraktikum an der Medizinischen Universitätsklinik. Der erste Tag, mehr hilflos als hilfreich, mir und allen im Weg stehend, konfrontierte mich auf drastische Weise mit Sterben und Tod, auch mit dem scheinbar seelenlosen Unbeteiligtsein des Fachpersonals. Der Patient, ein etwa 50-jähriger Mann mit schwerer HerzKreislauf-Erkrankung starb nach versuchter Wiederbelebung, die sich mir wie endlos dehnte, vor meinen Augen. Dann vom Arzt das Wort »Exitus«, vom Pfleger die Sorge, ob der Patient mit den Sterbesakramenten »versehen« sei, ein Zettel an den Zeh und ab in den Keller in einen Raum, der, wie ich später erfuhr, die Todeszelle hieß. Vielleicht ein krasses Beispiel, vielleicht eines, das aufgrund der Anfängersituation für mich so drastisch in Erinnerung geblieben ist – auf jeden Fall eines, das die »unrealistische« Realität des Fachpersonals mir so deutlich machte, zuständig zu sein für das Leben, das offensichtlich mit Eintritt der Sterbephase endet. Der Rest war Schweigen und blieb es auch für lange Zeit. Das Todesbewusstsein haben wir löschen, doch uns gleichzeitig nicht von der Todesangst befreien können. Träume und Phantasien signalisieren häufig die Bedeutsamkeit der Begegnung und Auseinandersetzung mit Sterben und Tod als Möglichkeit der Lebensbewältigung. Verweigern wir uns der Herausforderung, so bleiben wir ohne persönlichen Erfahrungszuwachs, meist voll Angst, denn unseren eigenen Tod können wir nicht antizipieren, nicht gedanklich vorwegnehmen. Wir können uns nur durch den Tod Nahestehender auf ihn einlassen, im Erleben von Kampf, Schmerz und Trauer spüren, was aus dem Leben scheiden, aus meinem Leben schwinden, mir entrissen werden, nicht mehr existieren bedeutet. Wenn dann wie bei mir der Tod an die eigene Tür klopft und kurz hintereinander Kind und Frau mitnimmt, dann stellen sich die Fragen ein, die mir später in der Arbeit mit Patienten immer wieder gestellt wurden und werden – die Fragen nach dem Warum. Ich

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habe damals mit dem Leben gehadert, wohl auch Tod und Leben beschimpft, weil ich keine Antwort bekommen habe. Diese Situation ist auch für uns Psychoanalytiker in der Arbeit mit Patienten eine der schwierigsten, weil von uns Hilfe, Heilung, aber auf jeden Fall eine Antwort erwartet wird – eine Antwort, die wir nicht geben können, weil es sie so wohl gar nicht gibt, vom menschlichen, vernunftbegabten Standpunkt nicht geben kann. Das Alter, ja, das hilft bei der Antwort, es bietet sich gleichsam als Antwort an, auch bei unseren jungen Patienten. Die Jugend aber, die Konfrontation mit Sterben und Tod im frühen Leben, lässt uns hilflos zurück. Begreifen müssen, ohne verstehen zu können: Ist es das, was Freud gemeint hat, wenn er schrieb, dass wir uns unbewusst für unsterblich halten? Weil wir keine Antwort auf die drängendste Frage bekommen: Warum? Oder ist die Frage längst beantwortet, wenn sie sich stellt, und wir können sie nur nicht erfassen, weil uns das Gespür dafür verloren gegangen ist? Jetzt beim Nachdenken und Schreiben fällt mir auf, dass während der inzwischen jahrelangen Beschäftigung mit diesem Thema noch nie ein Kind oder Jugendlicher diese Frage gestellt hat. Sie stellen andere Fragen: Die Frage nach dem Warum, die sich uns Erwachsenen stellt, mit deren fehlender Antwort wir hadern, wird meist in vermeintlich therapeutischer Notwendigkeit von uns gestellt! Stattdessen gibt es in meiner Arbeit mehrere Beispiele von Kindern oder jungen Jugendlichen, die meist wegen sozialer Probleme zur Therapie vorgestellt wurden und bei denen kurz darauf einer ihrer Elternteile an Krebs erkrankte. Als hätten sie es gewusst … (Auch in Raphaels Geschichte finden sich diese Zeichen.) Als hätten sie eine Antenne und würden schon »vorher« nach Hilfe schreien. Wie wirklich oder unwirklich dieser Gedanke ist, wie konstruiert er auch aussehen mag – er macht ein wesentliches Dilemma in den Überlegungen deutlich: die Todesfurcht, sowohl im direkten Umgang mit Sterben und Tod als auch im Diskurs der Psychotherapie. Die Angst und die Sinnlosigkeit, die dieses Thema begleiten, beschäftigen natürlich Betroffene, Angehörige und selbst Analytiker. Nur kommen diese »Kategorien« in deren professionellem Weltbild nicht vor. In einer Art »Todesvergessenheit« (Yalom, 2010,

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zit. nach dem Beitrag von T. Moser in diesem Band) fehlt dieses Thema auch in analytischen Ausbildungen. Selbst in Lehranalysen taucht es eher nicht auf, vielleicht weil für die noch relativ jungen Analysanden Sterben und Tod (noch) nicht aktuell sind. Von Beginn an haben Psychoanalytiker es verstanden, ihr Denken theoretisch zu untermauern. Insbesondere die »Verschiebung« von der Realitätsebene auf eine des Unbewussten und der aus ihr hervorgegangenen Strebungen und Handlungen gelang und gelingt immer wieder gut. Auch Freud bezeichnet die Todesangst als »meist etwas Sekundäres und aus Schuldbewusstsein hervorgegangen« (Freud, 1915b). Präsenz und Relevanz von Todesfurcht werden verleugnet, hauptsächlich, so lässt sich vermuten, aus einem Gefühl der Ratlosigkeit und Verzweiflung angesichts eigener Ängste und eigener Sterblichkeit. Als meine Tochter an Leukämie erkrankte, war nur noch Angst mein ständiger Begleiter. Die Ausbildung wurde immer unwichtiger; schließlich brach ich sie ab. Eine verständliche Reaktion, zweifelsohne. Als ich meine ersten Patienten behandelte, deren einer Elternteil verstorben war, erlebte ich sie diesmal mit meinen Patienten wieder, diese Angst, diese Warum-Frage, diese Sinnlosigkeit eines Geschehens, weil sie mich an mein eigenes Erleben erinnerte. Ich war gewappnet, gewiss. Ich war als Psychoanalytiker ausgebildet, ich hatte in einer Lehranalyse gelernt, wie ich »ticke« und wie ich damit umzugehen habe. Aber konnte ich die Gefühle des Verlassen-worden-Seins, der Wut bei meinen jungen Patienten nur auf psychoanalytisch-distanzierter Ebene abhandeln? Oder kam ich in die Gefahr, aus psychoanalytischer Psychotherapie so etwas wie psychoanalytische Sozialarbeit oder psychoanalytische Pädagogik zu machen? Mir stellte sich die Frage: Darf oder gar soll ich eigenes Erleben in die Therapie mit Patienten einbringen, nicht nur im Rahmen der Arbeit mit Gegenübertragung, sondern in Form eines verstehenden, die therapeutische Arbeit beeinflussenden Kontextes? Muss Raphaels Frage in analytisch-therapeutischer Art unbeantwortet bleiben, oder kann kinder- bzw. jugendtherapeutische Arbeit beim Thema Sterben und Tod gar nicht abstinent sein?

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Irving D. Yalom plädiert für eine große Offenheit des Therapeuten, selbst bei heilsamen Selbstoffenbarungen über eigene Probleme mit der Sterblichkeit: »Wenige Vorschläge, die ich Therapeuten mache, sind so beunruhigend wie mein Drängen, mehr von sich preiszugeben. Es geht ihnen durch Mark und Bein. Es beschwört das Schreckgespenst des Patienten herauf, der in ihr persönliches Leben eindringt.« Aber darüber steht, fast apodiktisch formuliert, der Satz: »Sie sollen sich nur offenbaren, wenn die Enthüllung für den Patienten wertvoll ist.« Und: »Offenbaren Sie sich nur, wenn es die Therapie voranbringt, und nicht aufgrund von Druck seitens des Patienten oder aufgrund der eigenen Bedürfnisse oder Regeln« (Yalom, 2010, zit. nach dem Beitrag von T. Moser in diesem Band). Naturgemäß habe ich im Kopf mein persönliches Erleben und meinen persönlichen Umgang mit dem Tod, und natürlich beeinflusst er meine Arbeit. Aber bin ich auch bereit, das mir einzugestehen und eventuell aktiv meine Arbeit zu verändern? Freud selbst, der 1922 an Krebs erkrankte, ein Drittel seines therapeutischen Lebens krank war und 1939 daran starb, hat weder in seinen Werken noch in Analyseberichten von Patienten und Lehrkandidaten etwas über den therapeutischen Umgang mit Todes-, Krankheits- oder Sterblichkeitsthemen überliefert. Führte möglicherweise Freuds Krankheit diesbezüglich zu Scheu und Schonung des Patienten Freud und in der Folge, wie Moser schreibt, zu Scheu vor dem Todesthema in der psychoanalytischen Ausbildung und Praxis, verstärkt durch Kodifizierung von Neutralität und realer und symbolischer Unsichtbarkeit (s. Beitrag von T. Moser in diesem Band)? Freud wandelt ein lateinisches Sprichwort so ab: »Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein« (Freud, 1915b). Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht an Krebs erkrankt. Allerdings waren der Erste Weltkrieg und die Sorge um den an der Front stehenden Sohn Martin wohl mitbestimmend für diese A ­ ussage. Auch dieser Mann, der sich den größten Teil seines Lebens mit Psychischem, mit Bewusstem und ­Unbewusstem, mit Verdrängung und Erkenntnis beschäftigt hat, erliegt der Todesfurcht. Das hat das theoretische Gedankengebäude der Psycho­

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analyse nachhaltig beeinflusst, aber nie im Zusammenhang mit dem Erleben des Psychoanalytikers. Mein eigenes Erleben und mein daraus entwickelter Umgang mit dem Todesthema spiegelt in gewisser Weise eine Entwicklung wider, die vielleicht zu unserem problematischen – privaten wie beruflichen – Verhältnis zu ihm beigetragen hat. Mark Twain hat das Problem in seiner Autobiographie nach dem Tod seiner 22-jährigen Tochter sehr plastisch beschrieben: »Es ist eins der Geheimnisse unserer Natur, dass ein Mensch völlig unvorbereitet von einem solchen Blitzschlag getroffen werden kann und überlebt. Dafür gibt es nur eine vernünftige Erklärung. Der Intellekt ist von dem Schock wie betäubt und begreift den Sinn der Worte nur tastend. Zum Glück fehlt ihm die Kraft, ihre volle Bedeutung zu erfassen. Der Verstand hat das dumpfe Gefühl eines gewaltigen Verlustes – das ist alles. Verstand und Gedächtnis werden Monate, möglicherweise Jahre brauchen, um die Einzelheiten zusammenzufügen und so das ganze Ausmaß des Verlustes zu erfahren. Das Haus eines Menschen brennt ab. Die rauchende Ruine repräsentiert nur ein zerstörtes Heim, das einem nach Jahren der Nutzung und angenehmer Assoziationen teuer war. Da die Tage und Wochen verstreichen, vermisst man irgendwann erst dieses, dann jenes, dann ein Drittes. Und wenn man danach sucht, stellt man fest, dass es sich in dem Haus befunden hatte. Immer ist es etwas Unverzichtbares – es gab nur eins seiner Art. Es kann nicht ersetzt werden. Es befand sich in jenem Haus. Es ist unwiederbringlich verloren. Als man es noch hatte, wusste man nicht, dass es unverzichtbar war; das entdeckt man erst jetzt, wenn man sich von seiner Abwesenheit behindert und beeinträchtigt fühlt. Es dauert Jahre, bis die Geschichte verlorener, unverzichtbarer Dinge abgeschlossen ist, und erst dann erkennt man das ganze Ausmaß der Katastrophe« (Twain, 2012, S. 218). Mark Twain beschreibt die Reaktion des Vaters, eines Angehörigen, aber vor allem beschreibt er eine menschliche Reaktion. Die Psychoanalyse hingegen scheint, oberflächlich betrachtet, ein Gedankengebäude, das wohl um den Menschen besorgt, aber bar aller menschlichen Reaktionen und Gefühle ist – zumindest soweit das die Arbeit mit Patienten und Patientinnen betrifft. Bearbeitung

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von Gegenübertragung und Abstinenz erlauben uns kaum, eigenes Erleben hilfreich und verbindend in eine Therapie einzubringen. Aber wäre eben das nicht in diesem speziellen Themenbereich sinnvoll? Und ganz besonders in der Arbeit mit jungen Menschen? Das abgebrannte Haus, die rauchende Ruine (Twain) machen uns hilflos, und wir fliehen vor diesem schrecklichen Ort, ziehen um, suchen einen Neuanfang. Aber ist ein Neuanfang möglich, ohne mit der Vergangenheit abzuschließen? Ich erinnere mich an einen Patienten, Maximilian, dessen Vater nach langjähriger Krebserkrankung starb. Der Vater war Deutscher, die Mutter ist Vietnamesin, und mit dem Tod des Vaters ging ein Teil von Maximilians Identität verloren. Die Familie versuchte einen Neuanfang, aber festgemauert lebte die Mutter in scheinbarer Normalität. Sie versuchte in der »abgebrannten Ruine« weiterzuleben, während Maximilian erst einen Kontakt zum verstorbenen Vater zu halten bemüht war, dann aber die Flucht als einzig mögliche Lösung sah. Er »floh« aus dieser »unrealistischen Realität«, ging nicht mehr zur Schule, verkroch sich immer mehr in seinem Zimmer. Wie konnte ich ihm helfen? Hatte ich selbst nicht ähnlich gehandelt, war weggelaufen, hatte versucht, alles zurückzulassen und zu vergessen? Sterben im direkten, persönlichen Umfeld bringt den Gedanken der eigenen Sterblichkeit ans Tageslicht, einen kaum denkbaren Gedanken, verbunden mit Schrecken und Unvorstellbarkeit. So wenig reizvoll der Gedanke an ewiges Leben ist, so wenig mag sich irgendwer das eigene Sterben und den Tod vorstellen. Kunst und Literatur sind voll von Bewältigungsversuchen, die zeigen, wie unmöglich es scheint, ein ewiges Ende für sich selbst zu denken. Aber da war auch die eigene Auseinandersetzung, der eigene Kampf. Mein Erleben mit dem Tod fiel in die Zeit der ersten Kontakte mit psychoanalytischen Theorien. Sie waren in der Situation ein willkommener Ausweg, ein rationales Denkgebäude, das in diesem Fall zwar sprachlos, aber gerade in seiner Sprachlosigkeit für mich hilfreich war. So hatte ich unerwartet ein Denken zur Hand, das – wie wir schon gesehen haben – das Todesthema für den einzelnen Analytiker für nicht existent erklärte. Ich muss gestehen,

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dass ich die Gelegenheit damals nutzte. Innerpsychische Unzulänglichkeiten verschwanden hinter einem Schutzwall aus Ignoranz und Zynismus. So ließ es sich gut leben, vergessen und ignorieren. Nicht einmal die Lehranalyse hat es geschafft, dieses Thema aus der Tiefe hervorzuholen. In der Rückschau denke ich heute, dass mein Lehranalytiker dieses Geschehen in meinem Leben ausklammerte, weil es an seiner eigenen Unzulänglichkeit gerüttelt, seine Menschlichkeit in der Lehranalyse gefordert hätte. Es wäre darum gegangen, die Sprachlosigkeit angesichts eines existenziellen Themas einzugestehen – oder sie zu überwinden, indem er Worte dafür fand. Aber das war ja angesichts dieses nicht existenten Themas gar nicht erforderlich!? In dieser Kollusion durfte es den Tod nicht geben, und so war es unmöglich, offen und authentisch die Realität zu besprechen. Es ging ja nicht mehr um die Frage »Was ist notwendig zu bearbeiten in dieser Lehranalyse?«, sondern, unabhängig davon, ob es dem Ziel der Arbeit entsprach, um den Sieg über den Tod. Der war ja unbewusst schon beschlossene Sache. Unter diesen Voraussetzungen wäre das Sprechen über den Tod gleichbedeutend mit dessen Realisierung gewesen. In einer meiner ersten Anstellungen als Psychotherapeut sagte mir ein Kollege (Analytiker, Chefarzt) zu meiner Vergangenheit: »Das muss wohl auch was mit Ihnen zu tun haben, dass Sie sich mit Sterbenden umgeben.« Hier begann ich wohl »aufzuwachen« und mir selbst die Frage nach der Realität zu stellen bzw. danach, was Realität, was Fiktion, was Übertragungsgeschehen war. Diese Frage stellte sich mir in vergleichbarer Weise bei dem innerfamiliären Geschehen von Maximilian, wie ich es oben skizziert habe. Es hatte sich eine Dynamik entwickelt, die vielleicht nicht den Tod des Vaters leugnete, wohl aber alle Folgen und Veränderungen, die dieser Tod auf das Familienleben hatte. Wie in meiner persönlichen Situation, so ist es auch hier für alle Beteiligten, einschließlich des Therapeuten, nicht immer leicht, sich der psychischen Belastung der Gespräche über dieses Thema mit Eltern und Kindern zu stellen. Die eigene Konfrontation mit dem Thema, die Erfahrung, dass eine Auseinandersetzung mit dem Tod, ein »Ja«-Sagen zur Tatsache des Todes, ein Aussprechen des Wortes

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»Tod« irgendwann notwendig ist, um wieder Licht zu sehen, um die Angst zu besiegen, hat wesentliche Auswirkungen auf meine Arbeit gehabt und diese letztendlich erst ermöglicht. Wie in der in der Selbstreflexion gestellten Frage »Wie hältst du es denn mit dem Tod?«, so ist es nämlich auch in der Arbeit mit Patienten notwendig, auf einer unmittelbar menschlichen Ebene mit dem Kind bzw. den Eltern zu kommunizieren und sich mit ihnen teilweise zu identifizieren, damit ein Gespräch einfühlsam erfolgen kann. Bin ich in dieser speziellen Situation als Therapeut in einer – als Abstinenz verkleideten – Abwehr gefangen, wird der Kontakt nicht gelingen. Als Analytiker haben wir grandiose theoretische Erklärungen, warum etwas wie ist (oder zu sein hat). Aber gilt nicht auch für uns, was Alain Di Gallo in einem Artikel zur Arbeit mit Kindern, die dem Tod nahe sind, schreibt: »Im psychoanalytischen Verständnis beeinflussen im Verlaufe der Entwicklung spezifische Phantasien und Ängste die Todesvorstellung. Furcht vor Vernichtung oder vor Überflutung des Guten durch das Böse, Trennungsängste, sadistische Phantasien, ödipale Konflikte mit Todeswünschen und Schuldgefühle begleiten das kognitive Erkennen der Realität eines unausweichlichen und alle Menschen betreffenden unwiderruflichen Endes. Die individuelle Lebenssituation und die soziale und kulturelle Einbettung bestimmen mit, in welchem Ausmaß die bewußte Auseinandersetzung mit der Vorstellung des eigenen Todes stattfinden kann oder wie stark sie durch regressive Allmachtsphantasien abgewehrt werden muß. Eine wirklich tiefe Begegnung zum Thema Sterben und Tod ist deshalb nur mit Respekt für die Individualität des Kindes und in einer vertrauensvollen Beziehung möglich« (Di Gallo, 2002, S. 95). Die Allmachtsphantasien des Analytikers können oft erst in jahrelanger harter Arbeit überwunden werden. Unser Unbewusstes lässt uns keine Möglichkeit offen, es kennt den Tod nicht. Zudem haben Religionen mit unterschiedlichen Bildern vom »Leben nach dem Tod« den Tod als Ende, als Vernichtung, als Nicht-Sein quasi abgeschafft. Das »kognitive Erkennen der Realität eines unausweichlichen und alle Menschen betreffenden unwiderruflichen Endes« (Di Gallo, 2002, S. 95) fällt somit immer schwerer. Von der

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Gesellschaft propagierte Vorstellungen, die Jugend, Arbeitsleistung und Produktivität in den Vordergrund rücken, tun ein Übriges. Damit stellt sich die Frage, ob es, quasi als Konsequenz daraus, zu seelischen Gegenbesetzungsprozessen kommt, die unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf die Situation haben. Um sich selbst zu schützen, weicht der Psychoanalytiker vor emotionalen Reaktionen zurück. Wenn sie sich verfestigen, ergeben sich Schwierigkeiten in der Beziehung zu Patienten und Angehörigen, die fehlende Authentizität führt zu Vertrauenskrisen. Mein Patient Maximilian wäre bei einem solcherart »abstinenten« Analytiker mit seinem seelischen Chaos allein und weiterhin auf der Flucht. Die Begleitung Sterbender und auch deren Angehöriger erfordert ein verändertes therapeutisches Setting, eine Erweiterung des Therapierahmens. Therapeutische Arbeit an der Grenze geschieht in der Unmittelbarkeit der Begegnung zwischen Sterbendem/Angehörigen und Therapeut. Diese Unmittelbarkeit ermöglicht kein abgehobenes Reflektieren. Theoretische und psychodynamische Überlegungen treten weitgehend in den Hintergrund. Als Basis unseres therapeutischen Selbstverständnisses wird unser Handeln dennoch davon bestimmt sein. Vordringlich benötigt wird unsere therapeutische Fähigkeit, die schmerzende Fähigkeit des Mitleidens (Eissler, 1978), eines Mitleidens, das dem Sterbenden und/oder seinen Angehörigen Vertrauen, Mut und Trost gibt. Bei der Begleitung sind wir gefordert, uns mit den Menschen an die Grenze heranzutasten, uns mit ihnen auf einen Weg zu begeben, dessen Reichweite und Tiefe und damit auch unsere eigene Belastungsfähigkeit wir nie sicher einzuschätzen vermögen. Die Herausforderung besteht in der Konfrontation mit unseren eigenen Verdrängungsmechanismen, die wir dem Tod gegenüber errichtet haben. Sie erfahren in unserer alltäglichen therapeutischen Arbeit eine Festigung. Sie leisten einer Eingrenzung und damit Ausgrenzung von Fragen Vorschub, die uns in der Arbeit mit Sterbenden und deren Angehörigen hautnah, grenznah berühren. Sie ängstigen uns damit auch, aber gleichzeitig führen sie zu neuen erweiternden Erfahrungen. An der Grenze wachsen Erfahrung und Bewusstheit.

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Die eigene Erfahrung des Verlassen-worden-Seins, eines, das unaufhebbar war und sein wird, die Verbindung zu mir und meinen Emotionen haben mich die Wichtigkeit der Authentizität gelehrt. Erst diese Auseinandersetzung, diese Erfahrung ermöglichte es mir später, zum Beispiel Maximilian in seinem Chaos zu helfen und authentisch und offen über den Tod des Vaters zu sprechen. Hier, wie in vielen anderen Therapien, in denen Sterben und/ oder Tod eine Rolle spielen, stehen unausgesprochen die Fragen: −− Halte ich das durch, und darf ich leben? −− Wie kann ich mit meinen Gefühlen, insbesondere den »negativen«, gegenüber dem Vater fertig werden? −− Ist der Therapeut stark genug, das mitzutragen, oder bringt es ihn um? −− »Stirbt« auch die therapeutische Beziehung nach dem Tod des Vaters? Gerade diese letzte Frage steht oft im Raum am Beginn solcher Therapien. Raphael hat die Frage mittels eines von ihm gezeichneten Bildes gestellt (s. Abb. nächste Seite): Mit einer durch extreme Lebensbedingungen gequälten Witzfigur, die das alles aber auch gern macht (»Ha, ha, das macht Spaß!«), stellt der Patient die Frage nach dem Durchhaltevermögen des Therapeuten angesichts all der Schwierigkeiten, die am gemeinsamen Weg auf sie warten. Andererseits wird in der Übertragung die Vaterfigur mit all den Aggressionen konfrontiert, die sich in dem Jungen ansammeln. Vor kurzem sagte mir ein Kollege nach einer Fortbildung, an der auch Hinterbliebene teilgenommen hatten, die eigene Erfahrung könne durch nichts ersetzt werden. Das ist zweifellos richtig. Aber nun kann man nicht erwarten, dass nur solche Kolleginnen und Kollegen, die selbst einen Verlust durch Tod oder eine schwere lebensbedrohende Erkrankung erfahren haben, solche Patienten behandeln. Die eigene Erfahrung ist nicht immer die beste Grundlage. Sollte sie als Voraussetzung gelten, wäre vieles in unserer Arbeit unmöglich. Nicht das reale Erleben ist ausschlaggebend, sondern die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema.

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Ich möchte das noch aus einem anderen Blickwinkel erörtern: Helmut, ein Patient von mir, 19 Jahre alt, in Ausbildung, erkrankte an Hodenkrebs. Das Karzinom wurde rechtzeitig erkannt und operiert und anschließend mit Chemotherapie nachbehandelt. Seit einem Jahr ist er rezidivfrei und ohne medikamentöse Therapie. Nach Ende der Chemotherapie wollte er so schnell wie möglich wieder ein normales Leben führen und stürzte sich in die Fortset-

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zung seiner begonnenen Ausbildung. Etwa ein halbes Jahr danach kam er zu mir, teils auf Anraten von Freunden, teils aus eigenem Antrieb, weil sein Leben »danach« doch nicht so rund (weiter-) lief, wie er erwartet hatte. Er wurde von Ängsten geplagt und von einem immer stärker werdenden Motivationsdefizit (in beruflicher wie auch lebenspraktischer Hinsicht), von Beziehungsproblemen sowohl mit seiner Mutter als auch mit seiner Freundin. Die einjährige Wiederkehr des Endes der Chemotherapie ließ die Symptomatik dann sehr deutlich werden. Aussagen wie »So etwas wie die Chemo würde ich nicht noch einmal machen!« oder »Für mich würde sich eine Wiederholung nicht lohnen, aber ich kann meine Mutter und meinen Bruder nicht allein lassen!« stellten die ganz existenziellen Fragen nach Sterben, Tod und Leben. Und sie stellten sich nicht nur meinem Patienten, sondern uns beiden in unserer gemeinsamen Arbeit. Indem ich mich selbst mit dieser Frage schon konfrontiert hatte und nachdem für mich Sterben und Tod ihren Schrecken verloren hatten, war die jetzt notwendige Frage nach dem Tod, danach, welche Bedeutung und welche Verbindung Helmut dazu hatte, eben kein Todesthema, sondern ein ganz bedeutendes Lebensthema. So wie mir die Auseinandersetzung mit dem Tod den Weg (zurück) ins Leben gezeigt hatte, so verlief auch in dieser Therapie die Suche nach dem weiteren Lebensweg über die Auseinandersetzung mit dem Tod. Wenn wir den christlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod im übertragenen Sinn betrachten, dann zeigt er zwar einen Gedanken, der Angst vermeiden und damit hilfreich sein kann, letztendlich umgeht er aber auch nur die eigene Auseinandersetzung. Damit ist ein Bogen geschlagen zu Raphaels Anfangsfrage und zur Überlegung, ob die Auseinandersetzung mit dem Tod in der Kinder- und Jugendlichenanalyse ein – möglicherweise unauflösbarer – (Lebens-)Konflikt ist. Durch eigenes Erleben und von allen meinen Patienten und Patientinnen habe ich gelernt, dass gerade die Auseinandersetzung mit dem Tod zum Leben führt, zum Wieder-Leben oder auch zum Weiter-leben-Können. Bei der Behandlung gewisser Störungen, zum Beispiel bei Delinquenz, ist die starke und hochgradig narzisstische Identifizierung

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des Patienten mit dem Therapeuten eine unabdingbare Voraussetzung, wenn therapeutische Maßnahmen überhaupt eine Wirkung zeigen sollen. Ein Delinquenter pflegt Ratschläge nicht zu beherzigen, solange er das Gefühl hat, der Ratgeber gehöre nicht der Welt an, in der er selbst lebt. Zwischen jenen, die selbst (oder deren Angehörige) eine Todesnähe spüren, und jenen, die noch mitten im Leben stehen, ist die Hürde jedoch wahrscheinlich wesentlich höher als die Barriere zwischen dem Delinquenten und dem angeblich gesetzestreuen und ehrbaren Teil der Gesellschaft. Eissler schreibt dazu: »Wenn der Psychoanalytiker einen Teil seiner Persönlichkeit mit dem sterbenden Patienten [oder einem leidenden Angehörigen] identifizieren kann, das heißt, wenn er das Näherrücken des Todes bei seinem Patienten so erleben kann, als wäre es sein eigener, dann könnte er den Patienten dazu bewegen, ihn als Weggefährten auf dem letzten Stück der Lebensreise [bei Angehörigen auch darüber hinaus] zu akzeptieren« (Eissler, 1978, S. 187). Ich frage mich, welche Rolle die Identifizierung des Therapeuten mit dem Patienten im therapeutischen Prozess überhaupt spielt. Und: Ist Einfühlung ohne Identifizierung möglich, und kann sie Bestandteil analytischer Arbeit sein? Hängt die Antwort darauf möglicherweise von persönlichen Eigenarten ab? An dieser Stelle überlege ich, ob nicht gerade diese Gedanken bei vielen Psychoanalytikern die Rolle des eigenen Todesthemas für das jeweilige analytische Denken und die analytische Praxis stark beeinflussen. Nach meiner eigenen Erfahrung, meinem Erleben sowohl im persönlichen Bereich als auch mit Patienten, stellt gerade die teilweise Identifikation des Analytikers mit dem Patienten einen charakteristischen, unentbehrlichen Faktor der Behandlungstechnik dar. Raphael hat die Beziehung zu seinem Therapeuten in der Therapie in einer Zeichnung (s. Abb.) dargestellt: Er sagt dazu: »Zwei Bäume, die wie gute Freunde miteinander verwachsen sind, ein Ast wächst ins Zimmer hinein, damit der, der drinnen ist, das Fenster nicht mehr zumachen kann.« Raphael weist auf die Beziehung hin, fordert den Therapeuten auf, hinzuschauen, das Fenster (die Augen/den Kontakt) vor den Dingen nicht zu verschließen. Die unlösbare Verbindung der bei-

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den Bäume und die fallenden Blätter deuten auf die Ängste hin, die den Jungen beschäftigen. Als Patient stellt er ganz eindeutig die Besonderheit der Beziehung im Verhältnis zum Therapeuten dar, das Miteinander-verwoben-Sein in der gemeinsamen Arbeit. Wenn ein Therapeut zu dieser freien Identifizierung mit dem Patienten persönlich nicht fähig ist, fällt es ihm möglicherweise auch in derartigen Fällen schwer, die Hilfe zu leisten, die der Patient nötig hat. Zudem darf, was ein wesentlicher Unterschied zu anderen Therapien darstellt, die Identifizierung nicht oberflächlich sein, sondern muss dem Patienten spürbar vermittelt werden. Bei der Behandlung von Delinquenten ist es im Grunde belanglos, welchen Realitätsgrad die Identifizierung mit dem Patienten erreicht, solange der Patient sich zur Identifizierung mit dem Therapeuten veranlasst sieht. Die Behandlung muss für den Patienten ein Erscheinungsbild schaffen, mit dem er sich identifizieren kann, ohne einen Zustand realer Identität zu erleben – was im Fall von Kriminalität auch zum Scheitern der Therapie führen würde. Bei der Therapie mit Sterbenden oder deren Angehörigen ist die

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extreme Identifizierung nicht nur kein Hindernis, sondern ein Vorteil. Allerdings darf Identifizierung mit dem Patienten nicht vollständig sein und den Therapeuten dadurch in Angst versetzen. Ein Teil des Ich des Therapeuten muss ausgespart bleiben und gegebenenfalls sogar den Glauben an die Unsterblichkeit aktivieren können. Überschreitet die Todesangst beim Therapeuten ein gewisses Maß, wird er eine auch nur teilweise Identifizierung mit dem Patienten vermeiden, um ihm nicht zu schaden. Von der Gelassenheit, mit der der Psychoanalytiker einen partiellen Tod erträgt, wird auch der Patient profitieren. Hauptaufgabe der Identifizierung sollte aber die Ermöglichung einer therapeutischen Beziehung von funktionellem Wert für den Patienten sein. Von ihrer Tiefe und Aufrichtigkeit wird es abhängen, ob der Analytiker mit dem Patienten sprechen kann, ohne dessen Todesnähe als quälend zu empfinden.

Die Antwort In seinem Roman »Das Schicksal ist ein mieser Verräter« lässt John Green (2012) das Mädchen Hazel nach dem Krebstod ihres Freundes sagen: »Wir leben in einem Universum, das der Schöpfung, der Ausrottung und dem Bewusstsein gewidmet ist. Augustus Waters [Hazels Freund] starb nicht nach einem langen Kampf gegen den Krebs. Er starb nach einem langen Kampf gegen das menschliche Bewusstsein, ein Opfer – wie auch du irgendwann – des Bewusstseins des Universums, alles, was möglich ist, zu schaffen und wieder abzuschaffen« (Green, 2012, S. 244). Der Lebenskonflikt oder auch die Frage nach dem Tod ist doch die Auseinandersetzung damit, dass alles irgendwann beginnt, aber auch wieder endet. Bedeutet also Freuds »richte dich auf den Tod ein« (Freud, 1915b) das Gleiche, was hundert Jahre später ein Mädchen über ihren verstorbenen Freund sagt? Können wir einfach den Tod abtrennen und als nicht existent »vergessen«? In dem eben erwähnten Roman schreibt jemand nach dem Tod ins Gästebuch:

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»In unseren Herzen wirst du ewig leben, großer Mann.« Das bringt Hazel auf den Gedanken: »Was mich besonders ärgerte, weil es die Unsterblichkeit der Hinterbliebenen implizierte: In meiner Erinnerung lebst du ewig, weil ich ewig lebe! ICH BIN JETZT DEIN GOTT, TOTER JUNGE! ICH BESITZE DICH! Zu denken, dass man selbst nie stirbt, ist eine weitere Nebenwirkung des Sterbens« (Green, 2012, S. 242). Zum Überleben, zum Leben schlechthin, brauchen wir wohl den Gedanken der Unsterblichkeit, weil wir unfähig sind, Sterben und Tod zu denken. Das Arbeiten mit Menschen aber, die entweder selbst oder als Angehörige dem Tod nahe kommen, muss uns selbst ihm nahe bringen! Die Antwort auf Raphaels Frage kann also sein: Nein, den Tod kenne ich nicht, er offenbart sich jedem auf andere Art und Weise. Aber wir können miteinander die Strecke des Weges gehen, auf der du das Gefühl hast, dass der Tod dich begleitet. Ich kenne die Todesangst, ich habe sie gespürt und erlebt, und ich habe sie überlebt. Das wird uns helfen, gemeinsam den Tod zu begleiten und weiterzuleben. Yalom formuliert diesen Gedanken in seinem Buch über die Angst vor dem Tod so: »Dem Tod ins Gesicht schauen, unter Anleitung, bändigt nicht nur die Angst, sondern macht das Leben ergreifender, kostbarer, vitaler. Eine solche Herangehensweise an den Tod führt zu einer Anleitung für das Leben« (Yalom, 2010, zit. nach dem Beitrag von T. Moser in diesem Band). Auch Helmut, dessen Todesangst ganz reale Gründe in seiner Krebserkrankung hat, findet therapeutische Hilfe nicht (nur) in Deutung und Durcharbeiten, sondern darin, dass ich mich in seine Situation einfühle. Ob es die eigene tödliche Krankheit oder die eines Elternteils/Geschwisters ist: Der Psychoanalytiker stellt die Brücke her zwischen Tod und Leben. Und so löst sich auch für den Kinderanalytiker, der sich Raphaels Frage stellt, der scheinbar unauflösbare Konflikt, und die Arbeit in Gegenwart des Todes wird zu einer Arbeit für das Leben.

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Literatur Bürgin, D., Hubrich, R. (1988). Begleitung todkranker Kinder in der Klinik. Kind und Umwelt, 59, 1–24. Di Gallo, A. (2002). Glaubst du, dass du eines Tages sterben wirst? Kinderanalyse, 10 (01), 93–102. Eissler, K. R. (1978). Der sterbende Patient. Zur Psychologie des Todes. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog. Freud, S. (1915b). Zeitgemäßes über Krieg und Tod. II. Unser Verhältnis zum Tod. G. W. Bd. X. (S. 224–255). Frankfurt a. M.: Fischer. Green, J. (2012). Das Schicksal ist ein mieser Verräter. München: Hanser. Platon (2011). Apologie des Sokrates. München: Beck. Saloga, H.-W. (2010). Bildliche Sprache – Sprechende Bilder. Kinder krebskranker Eltern und ein Weg der Kommunikation. Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, 41 (148), 513–531. Toltz, S. (2012). Vatermord und andere Familienvergnügen. Roman. München: btb. Twain, M. (2012). Meine geheime Autobiographie. Berlin: Aufbau. Yalom, I. D. (2010). In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. München: btb.

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Das Kind, der Tod und der Analytiker

Der Tod äfft die Geburt, beym Sterben sind wir so hülflos und nackt, wie neugeborne Kinder. Georg Büchner, Dantons Tod O Gott! wie häßlich bitter ist das Sterben! O Gott! wie süß und traulich läßt sich leben In diesem traulich süßen Erdenneste! Heinrich Heine, Lamentationen Komm, süßer Tod … Verfasser unbekannt Vertont von J. S. Bach, BWV 478

Die Bedeutung des Kindes Die Geburt eines Kindes ist mit vielfältigen Phantasien und Hoffnungen der Eltern verbunden. Eine zentrale Phantasie rankt sich um das Thema Erneuerung, Neu-Werden, Neubeginn. Mit einem neugeborenen Kind fängt das Leben gleichsam wieder neu an – es ist in die Zukunft offen, mit all seinen Wünschen, Träumen und Entwicklungschancen. Ein Erwachsener hat sich bereits von vielen seiner Möglichkeiten verabschiedet. Der Zwang zur Entscheidung – worin das Wort »Scheidung« steckt – führt zum Absterben von Möglichkeiten, Hoffnungen und Wegen, man stand schon an vielen solchen »Scheidewegen«. All diese Abschiede

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scheinen für ein Kind noch nicht zu gelten, seine Welt ist wie neu geschaffen. In Mythologie und Religion steht das »göttliche Kind« für die Neuschöpfung, die Erscheinung des erneuernden, kreativen Gottes. Die Ausgestaltung solcher Mythen betont die Besonderheit bereits der Schwangerschaft, der Geburt und des Werdegangs des göttlichen Kindes.1 Vertraut ist uns in der christlichen Religion die Geburt des göttlichen Kindes, die an Weihnachten gefeiert wird, und zwar dann, wenn die Sonne in der Wintersonnenwende aus der Finsternis wieder auftaucht und der Erde allmählich Licht, Wärme und Leben wiederbringt. Es ist zwar umstritten, ob hier ein älteres religiöses Fest mit der Christianisierung Europas christlich interpretiert wurde, gleichwohl sind die Befreiung des Sonnengottes aus Kälte und Dunkelheit und die Befreiung des Menschen aus der Entfremdung schicksalhafter Schuld durch Christus verwandte religiöse Figurationen. Insofern ist der Termin des Weihnachtsfestes kein Zufall. Die Metaphorik in diesem Zusammentreffen hat Paul Gerhardt (1653) im Lied eingefangen: Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne, Die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne …

Die Geburt eines Kindes ist Symbol des Fortbestandes des Lebens und damit der entscheidende, der stärkste Widerspruch gegen den Tod. Und doch erleben Eltern das »Auf-die-Welt-Kommen« ihres Kindes ambivalent. Zum einen ist das Kind Teil des eigenen – nun zur Elterlichkeit erweiterten – Selbst, und zwar der Teil, der überlebt. Damit bedient das Kind die Unsterblichkeitsphantasie, die ihre Wurzel letztlich in dem »zeitlosen« (Freud, 1920g, S. 27) Unbewussten hat. Zudem verbindet sich mit dem Kind der Widerspruch gegen Begrenzungen: Ein Kind hat (anscheinend) einen unbe1 Vgl. in der griechischen Mythologie etwa Apollon, im Judentum Moses, im Hinduismus Krishna, im Buddhismus Siddhartha Gautama.

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grenzten Raum vor sich, in dem alle Möglichkeiten phantasiert werden können. Was es vor diesem Hintergrund bedeutet, wenn ein Kind mit Behinderung und Krankheit auf die Welt kommt, möchte ich weiter unten diskutieren. Zum anderen aber reihen sich die Eltern mit der Geburt eines Kindes in die Generationenfolge ein. Das narzisstische Ausleben eigener Bedürfnisse, die Phantasie fortdauernder Jugend erhält nicht allein durch die Verpflichtung, für ein Kind zu sorgen, eine einschneidende Kränkung; indem man eine Generation weiterrückt, wird auch die Begrenztheit des eigenen Lebens bewusst: hinsichtlich der Zeit, aber auch der Expansivität des Selbst und seiner Einbettung in soziale Bezüge. Man gehört nun nicht mehr zu »den Jungen«, sondern zu den »Älteren« – eben den Eltern, und das bedeutet einen Wandel im Selbsterleben und in der Identität. Nicht wenigen Eltern fällt es sehr schwer, diesen Wandel zu bejahen und zu durchlaufen; scheitert er, scheitert meist auch die Familie. So müssen Eltern bei der Geburt eines Kindes die paradoxe Situation meistern, dass sie für das Selbst zugleich Leben und Tod bedeutet: die Erweiterung des Selbst über die eigene Vergänglichkeit hinaus und die Konfrontation mit Begrenztheit und Vergänglichkeit kraft der Generationenfolge.

Zeiterleben und Tod In einer Kinder- oder Jugendlichenpsychotherapie begegnen sich zwei Menschen aus verschiedenen Generationen. Das bedeutet, dass beide aufgrund ihrer unterschiedlichen Stellung in der Generationenabfolge und der Entwicklung von Lebensperspektiven ein grundlegend anderes Zeiterleben haben und deshalb auch ein unterschiedliches Verständnis vom Tod. Das subjektive Zeitempfinden eines Kindes ist noch sehr nahe am zyklischen Zeiterleben (vgl. hierzu Burchartz, 2014). Zeit ist ein Zyklus aus Ereignis- und Handlungsabläufen, in dem der Anfang im Ende wiederkehrt: Aus der Anwesenheit der Mutter wird deren Abwesenheit, aus der sie

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wiederkehrt in die Anwesenheit, aus Hunger wird Sättigung und wird wieder Hunger, aus Tag wird Nacht und wieder Tag usw. Auch die ersten sensomotorischen Schemata (Piaget, 1959/1975), aus denen ein erstes Zeitbewusstsein erwächst, sind Zyklen. Im Alltag eines Kindes werden solche Zyklen von Ritualen begleitet, welche jene rhythmisieren und organisieren. Phylogenetisch dürfte das zyklische Zeitempfinden unseren nomadisch und agrarisch lebenden Vorfahren – die keine Jahre gezählt, wohl aber »begangen« haben – viel näher gewesen sein als den meisten heutigen Menschen der Moderne bzw. Postmoderne mit ihren Zeitplänen und Terminkalendern. Charakteristisch für das zyklische Zeiterleben ist, dass sich Ende und Anfang ineinander verschränken. Es gibt also noch wenig Bewusstsein für voneinander unterscheidbare Zeiteinteilungen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eine Geschichtsperspektive kann nicht eingenommen werden. Ein kulturübergreifendes Symbol für die Zyklen des Lebens ist der Ouroboros, die Schlange (oder der Drache), die ihren eigenen Schwanz verschlingt. Unter der Bedingung des zyklischen Zeiterlebens kann der Tod nicht als das Ende des Lebens gedacht werden, weil Lebenszeit als lineare Abfolge aufeinanderfolgender Zeit- und Entwicklungsabschnitte nicht vorstellbar ist. Tod ist gleichbedeutend mit Abwesenheit, und es ist schwer zu begreifen, dass ein Objekt von dort nicht wiederkehrt, wie es doch immer der Fall gewesen ist. Wenn also Kinder die Möglichkeit des Todes anderer Personen oder gar der eigenen Person nicht antizipieren, so ist dies nicht in erster Linie ein Verdrängungsvorgang, sondern dem Entwicklungsstand ihrer Zeitwahrnehmung geschuldet. Später kommt das lineare Zeitbewusstsein hinzu, welches das zyklische Zeiterleben teils überlagert, teils verdrängt. Anfang und Ende entschränken sich, sie bezeichnen nun zwei Pole eines Zeitabschnittes, innerhalb dessen eine Veränderung von Objekten, Zuständen und des Selbsterlebens stattfindet und deren Verknüpfung dem Prinzip der Kausalität folgt. Im linearen Zeiterleben ist Zeit geschichtlich und deshalb per definitionem begrenzt: Es gibt ein Vorher und ein Nachher, es gibt ein Nicht-Mehr und ein Noch-

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Nicht. Jugendliche, die dabei sind, endgültig das lineare Zeiterleben zu verinnerlichen, erleben zugleich die Angst, die mit dem Bewusstsein der Begrenztheit aller Zeit auftaucht: die Angst, es bleibt nicht genug Zeit, oder die entgegengesetzte Angst: Die Zeit dehnt sich gleichsam ewig, das Ende eines Zustands will nicht kommen, die Begrenzungen könnten verloren gehen. Im Grunde ist die »Ewigkeit« ja keine unbegrenzte Zeit, sie ist vielmehr Nicht-Zeit, sie ist ein Herausfallen aus den Grundbedingungen des Daseins, sie ist Nichts – so wie im Zustand leerer Langeweile ein bedrohliches »Nichts« erlebt werden kann. Es ist eine Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz, sich mit der linearen Zeit auszusöhnen und sich mit den Begrenzungen des Lebens, der Objekte und des Selbst auseinanderzusetzen. Mit dieser Auseinandersetzung rückt auch der Tod als die letzte, große Grenze ins Bewusstsein. Damit aber wird der Tod ins Leben hereingeholt. Als Prinzip der Vergänglichkeit, des Zu-Ende-Gehens ragt der Tod ins Leben hinein, ist Teil des Lebens.

Das Kind und der Tod Kehren wir zurück zur Geburt eines Kindes. Sie ist, wie erwähnt, Symbol für die Erneuerung des Lebens. Nicht selten zeugen Eltern in konkretistischer Verwechslung ein Kind, damit es eine krisenhafte Beziehung mit neuen Impulsen belebe. Die triadische Erweiterung bringt eine neue Qualität in die Paarbeziehung, freilich eine, die – besonders beim ersten Kind – zunächst das Paar destabilisiert und zu einer Wandlung herausfordert, welche nicht ohne Krisen und Gefährdungen zu meistern ist. Otto Rank hat in seinem berühmten Werk »Das Trauma der Geburt« (Rank, 1924/1998) anknüpfend an Freud die Geburtsangst des Kindes als Grundlage aller Angst postuliert. Wir müssen davon ausgehen, dass freilich nicht allein das Kind Angst erlebt, sondern auch die Mutter. Vieles spricht dafür, dass bei der Mutter bereits während der Schwangerschaft die eigene Geburtsangst (und das

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Schicksal ihrer Verarbeitung) reaktiviert und mehr oder minder heftig auf den Embryo bzw. den Fötus projiziert wird. Die Phantasien über das ungeborene Kind und über die pränatale MutterKind-Beziehung sind also in aller Regel nicht frei von Angst, wobei sich die natürlich erwartbare Sorge über das Gedeihen eines Kindes, die als lebenserhaltende Für-Sorge für alles Leben unabdingbar ist, mit Ängsten aus anderen Quellen mischt. Diese Angst kann sich je nach dem eigenen Schicksal der Mutter oder des Vaters oder je nach dem Schicksal bisheriger Schwangerschaften auf verschiedene Inhalte beziehen: sei es, dass das Kind behindert oder krank zur Welt kommt, sei es, dass es zu früh oder zu spät kommt, gar bereits im Mutterleib abstirbt oder die Geburt nicht überlebt. Eine Mutter mit einer körperlichen Behinderung hat ihre Ängste während der Schwangerschaft mit ihrem ersten Kind immer wieder beiseite geschoben. »Aber richtig aufgehört haben sie nie. Erst als ich das Kind auf meinem Arm hielt und alle Füßchen und Zehen und Hände und Fingerchen waren vollständig, da fiel die Angst von mir ab und ich weinte vor Glück.« Eine Mutter, die eine Totgeburt in der 19. Schwangerschaftswoche erleben musste, sagt über die folgende Schwangerschaft: »Ich habe jeden Tag bis zu diesem Zeitpunkt gezählt und dann jeden Tag danach, immer in Sorge, ob es noch lebt. Wenn es sich nicht bewegt hat oder ich es nicht gespürt habe, war ich manchmal richtig in Panik. Das hat eigentlich nie ganz aufgehört bis zur Geburt. Aber einen Kaiserschnitt wollte ich nicht, obwohl der Arzt es angeboten hatte. Ich wollte erleben, wie mein Kind lebend zur Welt kommt.« Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass Schwangerschaft und Geburt real ein gewisses Sterblichkeitsrisiko für beide – Mutter und Kind – enthalten, trotz aller bewundernswerter Fortschritte der modernen Medizin. Die Zeiten hoher Sterblichkeitsraten vor, während und besonders kurz nach der Geburt liegen noch nicht allzu lange zurück. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wies Ignaz Semmelweis die Ursachen des Kindbettfiebers nach (eben auch die iatrogenen!). Es dauerte jedoch noch weitere fünfzig Jahre, bis seine Erkenntnisse in der Medizin allgemein anerkannt waren. 1872 betrug die Säuglingssterblichkeit in Deutschland circa 25 %; 1901

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waren es noch circa 20 % und 1947 knapp 10 % (Razum u. Breckenkamp, 2007, S. A-2952). Noch den Großmüttern der heute Gebärenden dürften entsprechende Ängste nicht fremd gewesen sein. Die heftigen Ängste, die eine Mutter erleben kann, werden nun unter Umständen keineswegs von den Möglichkeiten der medizinischen pränatalen Diagnostik beruhigt – eher im Gegenteil. Wenn auch Schwangerschaft und Geburt also vor allem Hoffnungsaffekte und Phantasien von Wandel, Erneuerung und Neuschöpfung des Selbst auf den Plan rufen, so sind doch Eltern auch empfänglicher für Todesängste. Es ist diese Konstellation erhöhter emotionaler Empfindsamkeit2, die besonders anfällig macht für Erschütterungen, die sich aus gesundheits- oder lebensbedrohlichen Konstellationen in der Schwangerschaft, während und nach der Geburt ergeben. Stefan lernte ich kennen, als er 14 Jahre alt war. Er kam mit einer lebensbedrohlichen angeborenen Fehlfunktion eines inneren Organs zur Welt. Von Beginn an musste er um sein Leben gegen den Tod kämpfen. Seine Eltern lebten in ständiger Angst um ihn. Die ersten drei Monate seines Lebens musste er in der Klinik unter ständiger ärztlicher Überwachung verbringen, bis er kräftig genug für eine erste Operation war. Die Eltern wechselten sich ab, um bei dem Jungen sein zu können. Im Grunde überlebten sie die Situation psychisch nur, indem sie die schmerzliche Trennung unter dem Diktat rationaler Einsicht verleugneten und versuchten, ihre Angst je für sich zu behalten, um den jeweils anderen nicht noch mehr zu belasten. Nach dieser ersten OP folgten noch vier weitere in gewissen Abständen bis ins Kleinkindalter, dazu zahllose Untersuchungen und Überwachungen. Unfähig, dieses schmerzhafte Eindringen in seinen Körper einzuordnen, erlebte Stefan eine unaufhörliche sadistische Intrusion und entwickelte eine regelrechte Arztphobie: Vor jeder Untersuchung wehrte sich der Junge 2 Auch Väter unterliegen während der Schwangerschaft ihrer Partnerin und nach der Geburt des Kindes einer hormonellen Veränderung, die fürsorgliches Bindungsverhalten fördert. Mann wird empathischer, »weicher« (Hüther u. Krens, 2011, S. 36 f.; zit. nach Hopf, 2014, S. 38).

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und tobte, als kämpfe er um sein Leben – erst die Verabreichung von Beruhigungsmitteln machte Untersuchungen möglich. Die körperliche, kognitive und psychische Entwicklung des Jungen war generell verzögert, insbesondere die Autonomieentwicklung. Die Eltern mussten ein Verfahren erlernen, wie sie wöchentlich Blutwerte bestimmen konnten, um danach die Dosis eines blutverdünnenden Medikaments zu bemessen. Woche für Woche muss ihn die Mutter also »stechen«, wie Stefan das heute nennt. Er selbst hat das Verfahren bislang nicht gelernt – das traue ihm die Mutter nicht zu. Die Angst um ihren Sohn ist ein ständiger Begleiter der Mutter: Stefan könne zusammenbrechen, und niemand könne ihm helfen. Er könne sich verletzen, und die Blutung könne nicht gestillt werden. Er könne sich überanstrengen und krank werden und die Krankheit nicht überstehen. Er könne zu wenig trinken und dehydrieren. Diese Ängste sind durchaus auch Realängste – Stefan muss in einigen Lebensvollzügen auf sich aufpassen, um sich nicht zu gefährden. Es sind freilich auch enorme Trennungsängste: Jeder Schritt der Ablösung, der Autonomie bedeutet, dass der Junge und damit sein Überleben ihrer Kontrolle entgleitet. Der jahrelange Angstdruck hat sich bei der Mutter zu einer behandlungsbedürftigen Panikstörung entwickelt, der sie nur durch eine gewisse Erstarrung gegensteuern kann. Stefan ist heute ein schmächtiger, zarter, hübscher Jugendlicher. Er versucht sorgfältig und mit großer Anstrengung, wie ein »normaler Jugendlicher« zu erscheinen. Seine körperlichen Beeinträchtigungen verbirgt er, zum Teil verleugnet er sie regelrecht, oder er macht Witze darüber und macht sich über die Angst seiner Mutter lustig. Wenn er sich verletzt – was wegen der herabgesetzten Gerinnungsfähigkeit des Blutes gefährlich für ihn ist –, versteckt er es: Niemand darf das merken. Seine Gefährdung ist ihm durchaus bewusst, wenn er mir erklärt: »Nur das Medikament hält mich am Leben. Nehme ich es nicht, kann ich an einer Thrombose sterben. Nehme ich es, kann ich verbluten.« Das sagt er emotional unbeteiligt – man fragt sich, wen er vor seiner Trauer und Wut mehr schützen muss: sich oder seine Eltern. An seinem Körper sind zahlreiche entstellende Operationsnarben geblieben, vor denen er sich selbst ekelt – und die einmal

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eine entsetzte Reaktion einiger Mädchen im Schwimmunterricht ausgelöst haben. Seitdem geht er nicht mehr Schwimmen. Überhaupt erlebt Stefan Gleichaltrige eher als feindselig: Er fühle sich gemobbt, kann aber nicht genau sagen, wodurch die anderen ihn ärgern. Er hat häufig Kopfweh und Beschwerden im Magen-DarmTrakt, ohne dass es eine organische Ursache gibt. Auch der Vater von Stefan reagierte auf die Dauerbelastung mit Panik und psychosomatischen Symptomen, die er jedoch mit professioneller Hilfe überwinden konnte. Stefan findet in ihm einen ruhenden Pol. Dazu gibt es einen Onkel und einen Großvater, die Stefan gern besucht. Zweimal im Jahr muss Stefan in eine weiter entfernte Spezialklinik, um sich untersuchen zu lassen. Der Vater fährt mit ihm dorthin. Obwohl er diese Untersuchungen mit Angst und Qual erlebt, sind es doch Tage, in denen er mit seinem Vater zusammen ist und ihn ganz für sich hat, mit ihm die Untersuchungen übersteht, mit ihm Essen geht und Großvater und Onkel besucht. Im Alltag tritt der Vater eher mit einer Haltung in Erscheinung, den Jungen »in Ruhe lassen« zu wollen, was wohl eher dem Wunsch entspricht, sich selbst die Konfrontation mit Angst und Gefahr vom Leibe zu halten. Die Entwicklung von Stefan war von Beginn an von Tod und Todesangst überschattet. Anstatt einer Entwicklung ins Leben hinein, wie es Eltern normalerweise erwarten und erleben, musste jeder Entwicklungsschritt dem Tode gleichsam abgerungen werden. Statt Zuversicht und Freude an der Entwicklung ihres Kindes genießen zu können, ist die Todesangst ihr ständiger Begleiter. Manifestiert sie sich bei der Mutter in ängstlicher Kontrolle (die rationalisierend an Stefans »Unvernunft« festgemacht wird) und schließlich in einer ausgearbeiteten Panikstörung, so zeigt sie sich beim Vater einerseits ebenfalls in Panik bzw. in psychosomatischen Reaktionen, andererseits aber auch in Versuchen, sich emotional abzuschotten. Beiden gemeinsam ist die Bemühung, die schwere Affektbelastung gleichsam rationalisierend in Schach zu halten: Man muss sich eben »vernünftig« den medizinischen Notwendigkeiten fügen. Stefan hingegen versucht, die tödliche Bedrohung zu verleugnen oder gleichsam kontraphobisch »wegzulachen«, und verhält

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sich »unvernünftig«. Allenfalls lässt sich ein Abkömmling seiner inneren Todesbedrohung in einem projektiven Prozess erkennen: Er bringt den aggressiven Angriff durch die Organinsuffizienz, die ihn bedroht, projektiv im Außen unter. Dort sind dann die »eigentlichen« Bedroher: Die Gleichaltrigen, die ihn hänseln und necken, die Mädchen, die entsetzt kreischen, die Erwachsenen, die ihm etwas nehmen oder vorenthalten, die Lehrer, die ihn zwingen usw. Ansonsten demonstriert er Normalität und will von irgendwelchen Vorsichtsmaßnahmen nichts wissen. Dieses Abwehrarrangement ist für einen Jugendlichen zunächst typisch. Sein schwacher Körper, sein Leiden ist für Stefan eine kolossale narzisstische Kränkung, der er nur durch Überkompensation entkommen kann. Irgendwie beeinträchtigt zu sein, das ist angesichts der narzisstischen Instabilität und Vulnerabilität im Jugendalter, da sich der Körper dramatisch verändert und sich autonom gebärdet und man nicht weiß, wohin die Reise geht, unerträglich. Sein Unwille, ein angemessenes Maß an Selbstfürsorge zu entwickeln, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Fatalerweise unterläuft Stefan auf diese Weise unbewusst aber genau das, was adoleszente Entwicklungsaufgabe ist und was er sich zumindest bewusst wünscht: mehr Unabhängigkeit von den Eltern. Aber vielleicht macht gerade die Ablösung große Angst: Denn bisher waren es die Eltern, die sein Überleben garantierten, indem sie die richtige Dosis des Medikaments wöchentlich ausbalancierten. Stefan kann immer nur ein paar Tage von zu Hause weg. Freizeiten, Schullandheim, ein längerer Ferienaufenthalt beim Onkel oder Großvater sind wegen des Zwangs des wöchentlichen »Stechens« unmöglich, solange er nicht selbst das Verfahren erlernt und zuverlässig anwendet. So bleibt er, solange er die verleugnende Abwehr aufrechterhält, an die Eltern, speziell an die Mutter, gebunden – daran ändern auch seine »kleinen Fluchten« zusammen mit dem Vater wenig. Der Tod ragt ins Leben hinein – für Stefan droht nicht allein der reale Tod, sondern der Tod vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten, wenn er keine Hilfe erfährt in einem ganz spezifischen Ablösungsprozess, der für ihn weitaus schwerer zu bewältigen ist als für viele

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andere Jugendliche. Weiter oben habe ich ausgeführt, dass sich für Jugendliche aus der veränderten Zeitwahrnehmung die Notwendigkeit ergibt, das Gewahrwerden von Begrenzungen in das Ich zu integrieren. Die ganz besondere Begrenztheit seines Lebens zu realisieren und zu akzeptieren ist für Stefan eine große Herausforderung, nicht zuletzt deshalb, weil das Bewusstsein für den eigenen Tod noch gar nicht in seine Lebens-Zeit passt.

Der Tod und der Analytiker Nicht nur Stefan, auch der Analytiker fühlt sich besonders herausgefordert. Ein Kinderanalytiker arbeitet in aller Regel an einer Entwicklung »ins Leben hinein«. Psychische Konflikte und Entwicklungsblockaden, funktionelle Störungen tauchen als etwas auf, das es zu lösen gilt, was einer »Nachreifung« zuzuführen ist. Insbesondere bei suizidalen Jugendlichen etwa erleben sich Analytiker, als kämpften sie darum, dass Leben (wieder) möglich wird. Sie stehen auf der Seite des Lebens »gegen den Tod«. Dabei hört man von Jugendlichen in suizidalen Krisen oft, dass sie sich eine Erlösung aus einem ausweglos erscheinenden Zustand wünschen. Der Tod steht dann für das Ende einer Unerträglichkeit, dafür, so nicht mehr weiterleben zu wollen – nicht jedoch für den Wunsch, sterben zu wollen. Generell scheint es in Kinderanalytikern und -therapeuten ein professionelles (und persönliches?) Leitbild zu geben, jungen Menschen zu ihrem eigenen Leben zu verhelfen und eben nicht zu ihrem eigenen Tod. Nun aber taucht das Thema Tod mitten im Leben zu einer Zeit auf, die wir als »Unzeit« empfinden. Das passt nicht in unser Bild, und die Gefahr ist groß, angesichts dieser Inkongruenz des eigenen inneren Bildes und der »unmöglichen« inneren und äußeren Realität des Patienten sich von dessen Ausweichmanövern verführen zu lassen. Damit aber ist der Analytiker in der Versuchung, dem Patienten ein Bild aufzudrängen, das diesem nicht entspricht. Es wiederholt sich dann in Übertragung und Gegenübertragung das, was in der Beziehungsrealität eines

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chronisch kranken Kindes allenthalben geschieht: die Ausblendung des Todes als ein innerer Anteil, ein innerer Begleiter des Patienten. Nun gehört es zweifellos zur Reifung jeden Individuums, nicht nur zu einem eigenen Leben zu finden, sondern auch zu einem eigenen Tod im weitesten Sinne.3 Diese Entwicklungsaufgabe tritt aber eher in der zweiten Lebenshälfte in den Vordergrund – in die Kindheit und Jugend scheint sie nicht zu passen, im Gegenteil: Den eigenen Tod denken zu sollen ist eine unerhörte Provokation, gegen die sich all unsere tief verwurzelten Vorstellungen von Kind und Kindsein, von Jugend und Jugendlichsein sträuben. Den inneren Begleiter Tod zuzulassen, ihm einen Raum zu geben, auch in der analytischen Beziehung, fördert möglicherweise eine Ambivalenz zutage. Matthias Claudius hat diese Doppelgesichtigkeit des Todes in seinem Gedicht »Der Tod und das Mädchen«, das Franz Schubert so meisterhaft musikalisch interpretiert hat, prägnant eingefangen: Das Mädchen Vorüber! Ach, vorüber! Geh wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an. Der Tod Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund, und komme nicht, zu strafen. Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen! (Matthias Claudius, 1775/1996, S. 86 f.)

Thomas Seedorf merkt dazu an: »In Claudius’ Gedicht herrscht beim Mädchen eine Abwehrhaltung vor, doch lässt die Formulierung ›geh, Lieber!‹ im dritten Vers die Überlegung zu, dass diese Haltung eigentlich eine ambivalente, zwischen Angst und geheimer Hingabe schwebende sei« (Seedorf, 2011, S. 36). 3 Die Psychoanalytikerin Verena Kast hat die Aufgabe, »abschiedlich« zu leben, als Kunst bezeichnet (Kast, 1977/1982).

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Wir finden die verschiedenen Aspekte des Todes übrigens auch in den mittelalterlichen Darstellungen des Totentanzes wieder. Auch hier begegnet uns die Ambivalenz aus trotzigem Lebenswillen und Hingabe, bis hin zu erlösenden Aspekten des Todes. Das umstrittene Konzept des Todestriebes, das Sigmund Freud in »Jenseits des Lustprinzips« (Freud, 1920g) entwickelte, nimmt meines Erachtens letztlich dieses Motiv auf und führt es fort: der Tod als ein allem Lebenden innewohnendes Streben nach einem früheren, anorganischen Zustand. Es geht also in einer Analyse darum, die unterschiedlichen Gesichter des Todes als Teil des psychischen Geschehens anzuerkennen, den damit verbundenen Affekten Raum zu geben und sie durchzuarbeiten. Das ist rascher gesagt als getan, denn im Analytiker sind es spezifische Gefühle, die in der Gegenübertragung auftauchen. Die alles beherrschende Angst kann so überflutend sein, dass der Analytiker dagegen gewissermaßen ein Bollwerk aufrichtet: Er hält sich die Infizierung mit dieser Angst vom Leibe, indem er sie als eine Störung begreift, die er kraft seiner Professionalität zu bewältigen trachtet. Wenn nur die Mutter aus ihrer angstmotivierten Kontrollhaltung herausfände, wenn nur der Patient zu einer aktiveren Krankheitsbewältigung fände, wenn nur der Vater sich dem ödipalen Konflikt nicht zu entziehen trachtete – dann, ja dann wäre die Angst abgemildert und der Weg zu vitalen psychischen Entwicklungskräften wieder frei. Das alles ist in einer gewissen Blickrichtung nicht verkehrt, allerdings wird eine solche Sichtweise der Angst als Störung nicht gerecht. Es sind zunächst Realängste, die angesichts chronischer Krankheiten oder lebensbedrohlicher organischer Einschränkungen wirksam sind (die freilich neurotisch überformt sein können). Es ist nicht leicht, sich diesen Todesängsten als Analytiker zu stellen, berühren sie doch eigene, vielleicht verleugnete Todesängste. Die Aggression, die sowohl im Krankheitsgeschehen selbst enthalten ist als auch sich als Reaktion auf die Lebensbedrohung einstellt, manifestiert sich im Analytiker als ein wütender Protest auf »das Schicksal« und seine Ungerechtigkeit. Er ist möglicherweise

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projektiv identifiziert mit der Aggression, die im empfindlichen Beziehungsgeflecht hoch belasteter Eltern mit ihrem Kind keinen Platz hat. Es ist vielleicht auch die Wut des Kindes/Jugendlichen auf seine Eltern, die ihn so auf die Welt gebracht haben, die der Analytiker spürt; eine Aggression, die jedoch kein Objekt findet und solange ertragen werden muss, bis sie in einer aktiven Lebensgestaltung und einer Integration der Todesvorstellung sublimiert werden kann. Eine komplementäre Reaktion zur Aggression besteht in der Traurigkeit (zu unterscheiden von der Trauer). Daniel, ein zehnjähriger Junge, leidet unter einer progressiven Muskelerkrankung. Eine deutlich herabgesetzte Lebenserwartung wird prognostiziert. Die Erkrankung führt schrittweise zu immer mehr Einschränkungen in der Motilität. Der Patient erfährt viel Unterstützung im familiären und sozialen Umfeld, er ist ein kommunikatives, kompetentes und intelligentes Kind, das viel lacht und gute Laune ausstrahlt, obwohl ihm seine fortschreitende Behinderung sehr bewusst ist. Im Kontrast dazu wird der Analytiker von einer mächtigen Traurigkeit überschwemmt, manchmal kommen ihm mitten in der Stunde Tränen, die er zwar kontrolliert, aber denen er nach der Sitzung beim Nachdenken über das Geschehen freien Lauf lässt. Wenn er beobachtet, wie mühsam der Patient die Treppen zum Behandlungsraum hochsteigt, phantasiert er, wie der Junge das eines Tages nicht mehr können wird und einen Rollstuhl benötigt. Auch in dieser Reaktion zeigt sich eine komplementäre Gegenübertragung: Im Analytiker tauchen die Affekte auf, die der Patient abspaltet und von sich weghält, Affekte, die wohl auch die Eltern vor dem Kind eher verbergen oder sich erst gar nicht erlauben, in der Sorge, den Jungen damit zu destabilisieren und ihm die Hoffnung zu rauben. Eine solche Gegenübertragungsreaktion scheint auch etwas mit der ganz elementaren elterlichen Sorge zu tun zu haben, ein Kind nicht vor den Gefahren und Bedrohungen einer tödlichen Erkrankung schützen zu können – worüber man eigentlich wirklich nur noch weinen kann. Der Analytiker oder die Analytikerin ist an dieser Stelle auch im elterlichen Selbst erschüttert, besonders dann, wenn er oder sie eigene Kinder hat.

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Beides, aggressive und depressive Gefühle, deuten darauf hin, dass der Analytiker einen Teil der Trauerarbeit übernimmt, auf welche der Patient und seine Eltern sich nur schwer einlassen können. Das eigene Elternsein taucht auch in folgender Gegenübertragungsreaktion auf: der peinliche Gedanke, wie froh und erleichtert man ist, dass ein solches schweres Schicksal den eigenen Kindern oder einem selbst erspart bleibt. Der Analytiker entlastet sich von seinen Ängsten dann dadurch, dass er das Leiden und die Angst davor im Patienten unterbringt: Dieser ist es ja, der von vorzeitigem Tod bedroht ist, nicht die eigene Person und auch nicht jene, die mit ihm verbunden sind. Der Patient wird gewissermaßen für eine projektive Entlastung benutzt, die dadurch noch verstärkt wird, dass man sich ihm ja helfend zuwendet und an ihm das abarbeitet, was an eigenen latenten Ängsten kaum zu ertragen ist. Kompliziert wird der Umgang mit dem Tod in der Analyse durch einen psychischen Vorgang, den ich die heilsame Verleugnung des Todes nennen möchte. Die Unsterblichkeitsvorstellung des Unbewussten findet ihren Niederschlag im Ich, das den Gedanken an die eigene Sterblichkeit zumindest partiell beiseite schieben muss, um das Leben zu bewältigen und zu gestalten. Wenn das memento mori alles durchdringen würde, wären wir nicht mehr in der Lage, zu planen, Vorsorge zu treffen, Termine zu vereinbaren, Ziele anzustreben, das Leben weiterzugeben usw. Wir würden nicht das sprichwörtliche Apfelbäumchen pflanzen, sondern uns der alles überschwemmenden Vergeblichkeit hingeben. So tun, als ob wir auch morgen, nächste Woche, nächstes Jahr noch leben und etwas bewirken, ist elementare Voraussetzung für das Leben überhaupt. Leben ist nur möglich mit einem gewissen Maß an Todesverleugnung. Freilich kann diese Verleugnung umschlagen in eine lebensverachtende Grandiosität, wenn sie nicht gepaart ist mit einem Bewusstsein über die Begrenztheit des Ich. Gerät diese Balance aus dem Gleichgewicht, droht entweder ein omnipotent aufgeblähter Narzissmus oder eine depressive Lähmung. Sich dem Tod in einer Analyse auszusetzen bedarf also bei Analytiker und Analysand der Bereitschaft zu einer fortschreitenden Fähigkeit, ein Changieren zwischen Endlichkeitsbewusstsein und

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Todesverleugnung zuzulassen. Das Ringen um diese Bereitschaft sehe ich als zentrale Aufgabe einer analytischen Therapie an. An dieser Stelle komme ich zurück auf die oben getroffene Feststellung, dass sich in einer Kinder- oder Jugendlichenpsychotherapie zwei Generationen begegnen, die ein unterschiedliches Empfinden von Zeit und Endlichkeit haben. Je weiter ein Mensch in seiner Lebenszeit vorrückt, desto mehr begegnen ihm Verluste durch den Tod von Angehörigen, Freunden, Bekannten. Das lineare, geschichtliche Zeiterleben ermöglicht und erzwingt die Antizipation des Todes und damit die fortdauernde Aufgabe, Verlust- und Trennungsangst zu bewältigen und Grandiositätsphantasien zu überarbeiten. Dazu kommt, dass sich das subjektive Zeitempfinden fortlaufend verdichtet: »tempus fugit«, die Zeit entflieht, zerrinnt zwischen den Fingern, und unversehens ist schon wieder ein Jahr vorbei – wie kurz es doch war! Wie unendlich, fast unüberschaubar dehnt sich dagegen für ein Kind ein Jahr! Vom Ende der Sommerferien bis zum Beginn der nächsten – wie lange das ist, kann man sich kaum vorstellen. Für einen Achtjährigen ist ein Jahr ein Achtel seiner Lebenszeit, für einen 80-Jährigen wären das zehn Jahre! Aber auch zehn Jahre sind für einen Menschen ab der Lebensmitte ein überschaubarer Zeitabschnitt, man weiß ungefähr, wie sich das anfühlt. Wenn es gut geht, entsteht mit dem Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Lebens auch eine dankbare Anerkennung, wie wertvoll die Jahre sind, die man sich noch erhofft, und es rückt der Wunsch in den Vordergrund, sie bewusst zu gestalten, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Der Zwang zur Ent-Scheidung sorgt für die Reduktion der Lebensziele auf wenige, wesentliche – und da gibt es nichts mehr aufzuschieben. Diese Phänomene sind der selbstreflexiven Möglichkeit des Menschen geschuldet: Indem der Mensch sich selbst zum Objekt der Anschauung und des Nachdenkens nehmen kann, kann er auch seinen eigenen Tod antizipieren, meines Erachtens eine wesentliche Quelle der Angst. Zum Urtyp der Geburtsangst (Rank, 1924/1998) kommt dann für den Menschen noch ein zweiter Angsttyp hinzu: die Todesangst, und zwar dann, wenn das lineare Zeitbewusstsein sicher verankert ist. Hier sollte eine Unterscheidung eingefügt werden: Strenggenom-

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men ist der eigene Tod weder im Unbewussten noch im Bewussten repräsentiert. Der Tod bleibt ein Symbol für die Begrenztheit des Lebens, und wir können diese Grenze nicht von der anderen Seite aus betrachten. Denken kann das Individuum seinen eigenen Tod nicht, allenfalls sein Sterben, und das ist noch Teil des Lebens. Konfrontiert mit dem Tod oder der Todesgefahr eines anderen bleibt für den eigenen Tod eine Ungewissheit, eine Rätselhaftigkeit übrig, die allenfalls mythische oder religiöse Vorstellungen dessen nährt, was jenseits des Todes sein könnte – aber auch diese Vorstellungen verraten ihre Herkunft aus der unbewussten Wunschwelt der Lebenden. Was sich also zwischen Analytiker und kindlichem bzw. jugendlichem Analysanden ereignet, ist das Aufeinandertreffen zweier voneinander verschiedener Zeitkulturen und Todeswahrnehmungen. Je nach Alter des Analytikers regt die Gegenwart des Todes in Form chronischer lebenszeitverkürzender Krankheiten oder in Form manifester Verluste von Bezugspersonen aus dem Umfeld des Patienten spezifische Formen der Antizipation des eigenen Todes an, die aber zu ihm gehören, nicht eigentlich eine Reaktion auf die Übertragung des Patienten darstellen, weil diese Form der Antizipation je nach Entwicklungsstand dem kindlichen oder jugendlichen Patienten so nicht möglich ist. Andererseits beobachtet man bei Kindern mit schweren Erkrankungen häufig eine Frühreife: Es ist, als müsste sich die Seele mit ihrer Entwicklung gewissermaßen beeilen. Wenn es ein Beziehungsmilieu gibt, das den Phantasien und Gedanken des Patienten gegenüber offen ist, können Kinder mit Hilfe der Erwachsenen ihren Trauerprozess mit erstaunlicher Klarheit durchlaufen – das gilt auch für die analytische Beziehung. Dann profitiert das Kind von dem anderen Zeit- und Todesbewusstsein des Analytikers, indem es einen Container vorfindet, in dem es Raum gibt für die Endlichkeit. Daniel, in einem fortgeschrittenen Stadium seiner Analyse: »Ich weiß schon, dass ich eines Tages einen Rollstuhl brauchen werde. Ich weiß auch, dass ich einmal nicht mehr richtig atmen kann. Das macht mir die meiste Angst. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.« Ich: »Ja, da musst du eine große Angst aushalten. Aber die ist nicht

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immer da, und das ist gut so. Denn du möchtest deine Zeit nutzen, um gut zu leben. Und vielleicht spürst du auch, wie wertvoll Zeit ist, gerade weil sie begrenzt ist.«

Tod und Depression Als Jan mit sieben Jahren in seine Pflegefamilie kam, konnte er so gut wie nichts, was man von einem Kind dieses Alters erwarten würde. Er wusste nicht, dass man die Zähne putzt und wie er sich waschen soll, er kannte keine Tischmanieren, er verschlang gierig alles, was ihm an Nahrung in den Weg kam, er hatte noch nie in einem Bett geschlafen, Zeitstrukturen waren ihm völlig fremd, er kannte keinen Tagesrhythmus, er vertrödelte Stunden, bis er nach der Schule endlich zu Hause war, klingelte wahllos an Häusern und bettelte um Nahrung. Das einzige, was er konnte, war Kaffeekochen, das Telefon bedienen und Staubsaugen. Jan war verwahrlost: Es hatten nie Gesundheitsuntersuchungen stattgefunden, keine Impfungen, keine Zahnprophylaxe oder dergleichen. Mit Gleichaltrigen konnte er überhaupt nichts anfangen. Zugleich fiel allen auf, wie sich der Junge altklug und angepasst an die Erwachsenenwelt und die Erwachsenensprache verhielt. Wahllos warf er sich Erwachsenen an den Hals, stand etwa bei Gemeindefesten am Getränkestand und half mit, dabei imitierte er das Verhalten der Großen in Gestus und Sprache. Auch in der Analyse passte sich Jan vorwegnehmend dem an, wovon er annahm, dass der Therapeut es von ihm erwartete. Er benutzte sprachliche Versatzstücke des Therapeuten und Sätze, die er irgendwo gehört hatte, und baute sie geschickt zusammen. Wie unverstanden und hohl diese Sprachhülsen waren, merkte man nur daran, dass sie immer irgendwie nicht ganz passten – oder wenn man nachfragte. Dann konnte es geschehen, dass Jan in eine wütende und ratlose Verzweiflung geriet. Der Junge »spielte« erwachsen, aber nicht als ein vergnügliches Rollenspiel, sondern als Versuch, einen Mangel zu kompensieren  – den Mangel an

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einem wirklichen lebendigen Erwachsenen, der ihm ein emotional responsives Gegenüber hätte sein können. Dadurch aber verkümmerte er als Kind, ja in seiner starren und roboterhaften Imitation wirkte er selbst wie ein totes Kind, das nurmehr wie ein Erwachsener zu funktionieren trachtete. Wie hatte es dazu kommen können? Jans Eltern trennten sich, als er ein Jahr alt war. Seine drei älteren Geschwister zogen mit dem Vater weg. Seine Mutter machte seither immer wieder depressive Phasen durch. Wenig später schickte der Vater die Kinder fort, sie wurden in der Verwandtschaft herumgereicht, schließlich in Heime verteilt. Die Mutter führte ein unstetes Leben, mehrere Umzüge und Kindergartenwechsel fanden statt. Als Jan vier war, heiratete die Mutter erneut und gebar Zwillinge. Einer starb kurz nach der Geburt, der andere vier Monate später nach einer Reihe von Operationen. Die Mutter verfiel in eine schwere, lähmende Depression: »Mir war alles egal. Ich war nicht mehr ich.« Sie habe zwar gemerkt, dass auch Jan oft sehr traurig war, aber sie habe keine Kraft gehabt, sich um ihn zu kümmern. Die Mutter konnte sich zu nichts mehr aufraffen, Jan wurde praktisch nicht mehr versorgt, zu Essen gab es nur unregelmäßig, er war in der Wohnung manchmal tagelang allein, wenn es die Mutter hinaustrieb in die Kneipen. Es folgte Umzug auf Umzug, die Schulden türmten sich, Strom und Heizung wurden immer wieder abgestellt, schließlich wurde Jan durch das Jugendamt anlässlich einer Zwangsräumung aus einer völlig verwahrlosten Wohnung geholt, von seinem wenigen Spielzeug konnte die Oma ein paar Reste retten – so bewahrt Jan bis heute eine kleine Holzlok als eines der wenigen Erinnerungsstücke auf. Es war nicht allein der Tod der Geschwister, die Jan zu verkraften und um die zu trauern er kaum Gelegenheit hatte. Es sind nicht nur seine Schuldgefühle, mit denen er fertig werden musste – man kann sich ja vorstellen, wie eifersüchtig er auf den kranken kleinen Bruder war, der sämtliche Energie der Mutter auf sich gezogen hatte. Vor allem begegnete er in seiner Mutter dem Tod: zwei toten Kindern, welche die Mutter identifizierend in sich behielt und nicht loslassen konnte und die ihr Inneres fast vollständig aus-

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füllten. Sigmund Freud hat in »Trauer und Melancholie« (1917e) den Unterschied zwischen Trauer und Depression herausgearbeitet: Ist Trauer ein Prozess, den Verlust seelisch zu verarbeiten und sich vom verlorenen Objekt zu trennen, so wird in der Melancholie (der Depression) der Verlust verleugnet und man bleibt per Identifikation, besser: Introjektion mit dem toten Objekt verbunden – wird also mithin von einem toten inneren Objekt bewohnt. »Die narzißtische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, daß die Liebesbeziehung trotz des Konflikts mit der geliebten Person [oder deren Tod, d. Verf.] nicht aufgegeben werden muß« (Freud, 1917e, S. 436). Schon um des eigenen psychischen und physischen Überlebens willen musste Jan also beständig in die Mutter gleichsam hineinschlüpfen, einerseits um ihr rätselhaftes Verschwinden in der Depression zu ergründen und sie zu finden, andererseits sie aber auch zu verlebendigen. Dazu musste er nicht allein für sich selbst Mutter sein, sich also selbst wie ein »Erwachsener« findig und mit einem hohen Sensorium, wie die Erwachsenenwelt »tickt«, ein leidlich lebenserhaltendes Milieu in aller Verwahrlosung verschaffen, sondern auch für die Mutter musste er Mutter sein, wenn sie gelähmt auf dem Sofa lag und zu den einfachsten alltäglichen Verrichtungen nicht in der Lage war. Endlich wurde er als Kind ebenso starr und tot wie die toten Kinder in der Mutter – vielleicht als ein verzweifelter Versuch, ihr wenigstens dadurch nahe zu sein. Was bei Jan zu beobachten ist, findet eine Übereinstimmung mit der Beschreibung von André Green in seiner Arbeit über »Die tote Mutter«, die nicht von der real gestorbenen Mutter, sondern »vielmehr von einer Imago handelt, die sich in der Psyche des Kindes infolge einer mütterlichen Depression gebildet hat; einer Depression, die abrupt das lebendige Objekt […] in eine ferne, starre, gleichsam unbeseelte Figur verwandelt« (Green, 1980/2004, S. 233). Green schreibt: »Die Veränderung, die im Seelenleben eines Kindes in dem Moment eintritt, in dem die Mutter, von plötzlicher Trauer überwältigt, alle Besetzung von ihrem Kind abrupt abzieht, wird als Katastrophe erlebt […] Daß dies ein narzißtisches Trauma bedeu-

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tet, muß nicht erst lange ausgeführt werden« (S. 241). Es wäre nun von entscheidender Wichtigkeit, dass ein Vater für beide, Mutter und Kind, präsent wäre, indem er die Trauer der Mutter teilt und dem Kind eine andere Responsivität zur Verfügung stellt. »In der Realität antwortet der Vater jedoch meistens nicht auf die Nöte des Kindes« (S. 242). Im Fall von Jan war der Vater schon längst nicht mehr präsent. »So ist das Subjekt gefangen zwischen einer toten Mutter und einem unerreichbaren Vater« (S. 242). Green ergänzt: »Hat erst das Kind – dabei das Ausmaß seiner Ohnmacht fühlend – vergeblich versucht, die in ihrer Trauer versunkene Mutter für sich wiederherzustellen, und nicht nur den Verlust der mütterlichen Liebe, sondern auch die Drohung, die ganze Mutter zu verlieren, erlebt […] dann setzt das Ich eine Reihe andersgearteter Mechanismen in Gang […] Die erste und wichtigste ist eine einzige Bewegung nach zwei Seiten: Der Besetzungsabzug vom mütterlichen Objekt und die unbewußte Identifikation mit der toten Mutter« (S. 242). Diese Identifikation ist gemäß Green symmetrisch und ist »das einzige Mittel, die Wiedervereinigung mit der Mutter zu erreichen […]. Tatsächlich kommt es jedoch nicht zu einer echten Reparation, sondern nur zu einer Art Mimikry, mit dem Ziel, das Objekt, das man nicht mehr haben kann, weiterhin zu besitzen, indem man nicht wie es, sondern zu ihm selbst wird« (S. 242). »Das zweite Faktum ist […] ein Verlust an Sinn«(S. 243). Beides – der Abzug der Besetzung vom mütterlichen Objekt und der Verlust an Sinn – führte bei Jan zu einer schweren und hartnäckigen Lernstörung. Es war ihm unmöglich, die Realitäten der Welt mit einem dauerhaften Interesse zu besetzen. Es war im Grunde nicht ein Verlust an realitätsbezogener Orientierung, der ihn plagte, sondern vielmehr eine Unfähigkeit, eine solche überhaupt erst herzustellen. Der Abzug der libidinösen Objektbesetzung führte zur Orientierungslosigkeit in Zeit und Raum, in sozialer Realität und Selbstbezug. Dazu kam, dass der »Verlust an Sinn« die Phänomene in der sozialen und dinglichen Umwelt zu formalen Hülsen verkommen ließ – ähnlich wie seine Worthülsen nicht mit Sinn und Bedeutung gefüllt waren.

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Jans Geschichte zeigt, wie der Tod sich – wenn der Prozess der Trauer und damit die Trennung vom verlorenen Objekt nicht angenommen werden kann – in einer depressiven Lähmung im Leben einnistet und das Absterben vitaler Kräfte in der folgenden Generation nach sich zieht. Zwar kann Jan, inzwischen elf Jahre alt, mit Hilfe seiner Pflegeeltern und einer Analyse sich in der Welt lebendiger Menschen zurechtfinden, er hat seine Pflegeeltern libidinös besetzt und eine Bindung zu ihnen entwickelt, er ist zu Trauer und Sehnsucht fähig, etwa wenn er sie bei deren Abwesenheit oder den Analytiker bei Therapiepausen vermisst – was ihm aber immer noch zu schaffen macht, ist ein hartnäckiges Vergessen. Bewusst sagt er, er möchte diese schreckliche Zeit, als er sich um seine Mutter kümmern musste, vergessen. Der »Besetzungsabzug vom mütterlichen Objekt«, den Green beschreibt, findet seine Fortsetzung im Vergessen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass mit diesem Vergessen auch vieles andere untergeht: Es entspricht einem Besetzungsabzug von der Realität, die nicht belebt werden kann, die nicht von Interesse im wörtlichen Sinne ist (»interesse«, lat.: dabei sein, dazwischen sein), weil man in ihr gar nicht vorkommt, wie man im Inneren der Mutter nicht mehr vorgekommen ist. Jans Vergessen geht jedoch über einen Verdrängungs- oder Abwehrprozess hinaus. Es hat sich zu einer Funktionsstörung ausgewachsen, einer Einschränkung der kommunikativen Fähigkeit der Psyche, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Diese Störung behindert Jan beim Lernen – es ist frappierend, mitzuerleben, wie ihm das, was er sich soeben mit Hilfe eines anderen erarbeitet hat, alsbald wieder verloren geht und ihm nicht zur Verfügung steht. Er verliert und verlegt ständig seine Sachen, erinnert sich nicht an einfache alltägliche Vorgänge und hält sich nicht an Vereinbarungen, einfach weil er sie sich nicht behalten kann. Jan erweckt den Eindruck, zwar anwesend zu sein, aber irgendwie doch nicht ganz zur Welt zu gehören.

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Tod und Trauer Bianca, eine 18-jährige junge Erwachsene, steckt in einer sehr schwierigen Situation. Sie steht mitten in den Abiturvorbereitungen, muss aber zugleich einen schlimmen Verlust verkraften. Ihre Mutter hat sich vor wenigen Wochen suizidiert: Sie hatte sich von einer Brücke gestürzt. Die Mutter war seit Jahren immer tiefer in eine Drogenabhängigkeit geraten, zum Schluss war sie obdachlos und für Bianca nicht mehr zu erreichen. Eine kurze Begegnung sechs Monate vor ihrem Tod – die letzte – hinterließ in Bianca eine tiefe Hoffnungslosigkeit, aber auch Scham und Wut. Ihr schien, die Mutter habe sich aufgegeben. Sie traf sie völlig verwahrlost in einer Obdachlosenunterkunft, und sie schämte sich zutiefst für ihre Mutter. Das Leben der jungen Frau ist eine Geschichte schmerzlicher Verluste. Als sie sieben Jahre alt war, starb ihr Vater. Sie erinnert sich an sein Sterben, das sie ganz unmittelbar miterlebt hatte, an ihre Trauer, denn der Vater bedeutete ihr viel, aber auch daran, wie die Mutter sich um den Vater gekümmert hatte, wie ihre Schwester und sie zusammengehalten hatten. Es war eine Zeit, in der die Familie zusammen war, in der sie trotz der Erkrankung des Vaters viel miteinander unternommen hätten. Danach schildert Bianca eine konfliktreiche Kindheit und Jugend: wie sie sich bemüht habe, der Mutter zu helfen, indem sie die Sucht kaschierte und verheimlichte, aber doch ihrer Hilflosigkeit ausgeliefert war und die Mutter nicht davon abbringen konnte. Die Mutter hatte nach dem Tod des Vaters wechselnde Männerbeziehungen, in denen auch Gewalt eine Rolle gespielt habe; die Patientin erzählt, wie ohnmächtig und zornig sie war. Andererseits habe die Mutter auch gute Seiten gehabt: Sie sei eine kreative und künstlerisch begabte Frau gewesen, die gern gemalt hätte. Auf Bildung habe sie großen Wert gelegt und es habe ein paar feste Regeln gegeben, ansonsten habe sie ihr viel Freiheit gewährt. Mit Beginn der Pubertät, so schildert Bianca, habe sie die Mutter zunehmend gemieden und sich lieber mit ihrer Clique herumgetrieben. Die Mutter fand sich im Alltag immer weniger zurecht,

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die Konflikte, aber auch die Ohnmacht von Bianca eskalierten; mit 15 Jahren zog sie aus und zur Familie einer Freundin, später dann in eine Jugendhilfeeinrichtung. Die Beziehung zur Mutter sei starken Schwankungen unterworfen gewesen, längere Phasen hatte sie keinen Kontakt zu ihr; die Mutter unternahm noch einen Versuch einer Entziehungskur, wurde aber rückfällig und dekompensierte zunehmend. Als Bianca mir ihre Geschichte erzählt, wirkt sie emotional wie erstarrt, sie sagt, sie könne nicht weinen: ein merkwürdiger Kontrast zur Dramatik des Geschehens. Erst allmählich im Laufe der Therapie brechen ihre Gefühle auf. Wieder durchlebt sie die Hilflosigkeit und Ohnmacht, ihrer Mutter nicht helfen zu können, die Schuldgefühle, dass sie sich in den letzten Monaten nicht aktiver darum bemüht hat, Kontakt zu halten. Sie hatte die Mutter auch nach ihrem Tod nicht mehr gesehen – man hatte ihr davon abgeraten, da der Körper allzu entstellt war. »Den toten Vater konnte ich sehen, die tote Mutter musste ich mir vorstellen – keine guten Bilder.« Sie fühlte sich schuldig ob ihrer Scham für die Mutter, für ihren Ekel, ihr Bedürfnis, das Elend der Mutter sich vom Leib halten zu wollen. Mehr und mehr jedoch fühlt Bianca aggressive Gefühle in sich aufsteigen. Sie ist zornig darüber, dass sich die Mutter aus dem Leben gestohlen hat, und besonders darüber, wie sie es getan hat: »Das war feige.« Sie ist zornig darüber, dass die Mutter schon die Jahre davor sich selbst ruiniert und die Beziehung zu ihr zerstört hat; dass sie auch nicht wenigstens ihren beiden Töchtern zuliebe ihrem Leben eine Wendung zu geben vermochte. Insbesondere die aggressive Konnotation ihres Suizids empört die Patientin: »Sie hat mir damit auch etwas angetan.« Sie fühlt sich nicht in der Lage, das Grab der Mutter aufzusuchen, sie empfindet nichts als Verletzung, Schmerz und Wut. Die Wut, die im Schuldgefühl gegen die eigene Person gerichtet war, gilt jetzt dem sie verlassenden, sich entziehenden Objekt, und diese Wut hat eine lange Geschichte, auch wenn sie unter den fürsorglichen Impulsen eines parentifizierten Kindes lange verborgen geblieben war. Allmählich geht die Wut in traurige Gefühle über. Es beginnt damit, dass Bianca, die inzwischen das Abitur gemeistert hat, sich

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mit unangenehmen realen Gegebenheiten auseinandersetzen muss. Sie ist, da sie 18 Jahre alt ist, nach ihrem Abitur bis zur Aufnahme des Studiums ohne jede Unterstützung. Die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu finanzieren, besteht darin, sich arbeitslos zu melden, mitsamt allen komplizierten behördlichen Vorgängen. Schmerzlich wird ihr bewusst, wie schutzlos und ohne Hilfe sie dasteht. Wie man die Monate zwischen Schulabschluss und Studium überbrückt, ist für Adoleszente mit einem intakten Elternhaus kein Problem. Man hat sein Zimmer, sein Essen, sein Taschengeld – was aber, wenn man all dies nicht hat? Bianca beginnt, sich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, ohne Eltern zu sein. Sie schwankt zwischen depressiven Gefühlen, Trauer, was sie alles vermissen musste, und Empörung, so wenig Verständnis und Hilfe bei Behörden zu finden. Der Analytiker verspürt ein drängendes Bedürfnis, für die Jugendliche, die in der Welt verloren wirkt, väterlich zu sorgen, sie gleichsam zu adoptieren. Die Dramatik des Verlustes, der drohende Tod in der Entwicklung der Patientin bildet sich so im Analytiker ab; es entsteht eine intensive Auseinandersetzung mit den Gefühlen der Verlassenheit, der Schutzlosigkeit der jungen Frau. Hinzu kommt noch eine andere Ebene des Verlustes: Zwar ist sie stolz auf ihr Abitur, das ja eine enorme Leistung darstellt angesichts des Schicksalsschlages, den sie zu verkraften hatte. Das Ergebnis entsprach aber nicht den Studienwünschen von Bianca. Es galt nun, von den Zielen, die unter anderen Umständen durchaus erreichbar gewesen wären, Abschied zu nehmen und eine realistische Studienperspektive zu ergreifen. Ein neuer Bezug zur Realität, eine Versöhnung mit den Einschnitten in ihrem Leben kündigt sich in der Therapie an. Dazu gehört auch eine neue Sichtweise auf ihren Vater. Im Nachlass der Mutter hatte sie Aufzeichnungen und Briefe von ihm gefunden, die dokumentieren, wie sehr er darum gekämpft hatte, gesund zu werden, welch intensive Sorge er während der Schwangerschaft der Mutter mit ihr hatte. Sie weint um ihren Vater, darum, dass sie keine Chance hatte, ihn länger zu haben. Es ist, als müssten alle bisherigen Verluste noch einmal durchlebt werden. Nun tauchen bisher verborgene Aspekte der Mutter auf: Die Patientin erzählt von den kreativen Seiten der Mutter, die Bilder

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gemalt und verkauft hat, die überhaupt künstlerisch sehr begabt und kreativ war. Sie denkt darüber nach, dass ihre Mutter konsequent und doch zugewandt war und dass sie das alles, was gegenwärtig auf sie einstürmt, nur deshalb schaffen kann, weil sie durch die Mutter auch eine Zuversicht mitbekommen hat. Sie fragt sich, ob die Mutter wirklich so habe leben wollen oder ob sie einfach nicht anders konnte. Andererseits, sagt sie, sei es auch nicht mehr so wichtig. Sie wolle sich nicht dauernd damit beschäftigen, warum die Mutter so gelebt habe und so gestorben sei. Es sei ihre Entscheidung gewesen. Es sind also sehr ambivalente Gefühle gegenüber dem verlorenen Objekt, die jetzt ausgehalten und durchgearbeitet werden müssen. In der letzten Phase der Therapie werden noch einmal Endlichkeit, Abschied und Verlust zum Thema. Bianca ist nun anderthalb Jahre in Therapie, es steht die Entscheidung an, ihre bisherige Umgebung zu verlassen, die Therapie bei mir zu beenden und ein Studium in einer entfernt liegenden Stadt zu beginnen. Sie tut sich schwer, zögert ihre Bewerbung hinaus, kämpft mit Versagensängsten. Sie träumt: »Meine Mutter bedrängt mich, ich soll mich darum kümmern, was ich studieren will, und mich dann endlich bewerben.« Sie versteht den Traum wie eine Botschaft, dass sie nicht an die Mutter gebunden bleiben, sondern ihr Leben ergreifen solle – und auch als Erlaubnis, sich zu trennen, auch von ihrem Analytiker. Noch einmal flackert die Angst auf, dass plötzlich alles verloren geht: »Es geht so schnell mit dem Abschied.« Schließlich aber, in einer der letzten Stunden, versöhnlich: »Es wird Zeit, dass ich weggehe.« Die Therapie mit Bianca ist die Geschichte einer intensiven Trauerarbeit. Im Unterschied zur Depression entfaltet sich nach einer Phase der Erstarrung ein reichhaltiges, teils verwirrendes und rasch wechselndes emotionales Erleben, ein »Wechselbad der Gefühle«. Die einzelnen Aspekte des verlorenen Objekts und der Beziehung zu demselben werden noch einmal durchlebt, betrachtet und bedacht – ein differenzierender Prozess zwischen Entäußerung und Verinnerlichung. Bestimmte Aspekte werden endgül-

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tig als nicht zur eigenen Person gehörend abgelegt, (»es war ihre Entscheidung – ich möchte mich nicht mehr damit beschäftigen«), andere werden als Eigenes erkannt und integriert (»ich habe ihr zu verdanken, dass ich so zuversichtlich sein kann«). Der äußere Verlust mutiert zur Erinnerung. Ein neuer Bezug zur Realität stellt sich her, nun ohne das verlorene Objekt, »… das Ich [wird] nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt« (Freud, 1917e, S. 430). Im günstigen Fall kann, wie bei Bianca, die Freiheit gewonnen werden, in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten. An dieser Stelle sei vermerkt, dass generell der Verlust eines Elternteils oder beider Eltern bei Kindern und Jugendlichen meines Erachtens hauptsächlich drei Bereiche des psychischen Erlebens betrifft: Es sind dies die Angst mit ihren vielen Facetten, der Schmerz, und die Schutzlosigkeit. Der Verlust des Schutzes ist der Verlust der Bindungssicherheit, also einer elementaren psychischen Überlebensbedingung. Das Bindungssystem ist aufs höchste alarmiert und findet keine Beruhigung, eben weil die Bindungsperson(en) fehlen. Auch »sicher gebundene« Menschen durchlaufen in der Trauer deshalb Phasen von Bindungsunsicherheit mit den entsprechenden Bewältigungsmanövern des Suchverhaltens, des Protestes, der Vermeidung usw. Phasenweise gehören zur Trauer regressive Bewegungen mit Besetzungsabzug von der Realität bis hin zur Orientierungslosigkeit im sozialen Leben.

Gevatter Tod Im Märchen »Gevatter Tod« der Brüder Grimm (1857/1997) hören wir von einem Arzt, der für eine Fähigkeit berühmt und bewundert wird, die er einer Verbindung mit dem Tod verdankt. Wie war es dazu gekommen? Der Vater des Arztes hatte 13 Kinder (von der Mutter hört man nichts) und war sehr arm. Als das 13. Kind geboren wurde, machte er sich auf die Suche nach einem Gevatter (einem Paten). Er begegnete dabei Gott, der sich dafür anbot, den aber lehnte er ab mit

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den Worten: »Du gibst dem Reichen und lässest den Armen hungern« (S. 217). Danach trat der Teufel an ihn heran, Gevatter zu werden, aber auch diesen wies er zurück: »Du betrügst und verführst die Menschen« (S. 217). Schließlich traf er den Tod: »›Ich bin der Tod, der alle gleich macht‹. Da sprach der Mann: ›Du bist der Rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein.‹ Der Tod antwortete: ›Ich will dein Kind reich und berühmt machen, denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen‹« (S. 217). Als der Junge erwachsen wurde, übergab der Tod ihm sein Patengeschenk. Er versprach, ihn zu einem berühmten Arzt zu machen, und zeigte ihm ein Kraut. Erblicke er ihn, den Tod, zu Häupten des Kranken, so solle er dem Kranken das Kraut verabreichen und könne dem Patienten versprechen, er werde ihn gesund machen; stehe er aber zu Füßen des Kranken, so solle er sagen, dass alle Hilfe umsonst sei und der Patient sterben müsse. Der Tod warnte noch den Jüngling, das Kraut gegen seinen Willen zu gebrauchen, andernfalls es ihm übel ergehen werde. So mit dem Tod verbündet wurde der Arzt berühmt und reich. Eines Tages wurde er an das Krankenbett des Königs gerufen mit der Bitte, er »sollte sagen, ob Genesung möglich wäre« (S. 218). Der Arzt erblickte den Tod zu Füßen des Kranken. Nun dachte er sich, da er nun doch Pate des Todes sei, dürfte er es sich doch einmal erlauben, ihn zu überlisten. Er drehte den Kranken so, dass nun der Tod zu seinen Häupten stand, verabreichte ihm das Kraut und der König genas. Der Tod jedoch nahm es ihm übel und warnte ihn eindringlich, solcherlei nicht noch einmal zu versuchen: »… ich nehme dich selbst mit fort« (S. 219). Wenig später erkrankte die Tochter des Königs, sein einziges Kind, schwer; des Königs Kummer war groß, und er versprach demjenigen, der sie gesund mache, ihre Hand und das Erbe der Krone. Der Tod jedoch stand zu ihren Füßen. Der Arzt – betört durch ihre Schönheit und durch die Aussicht auf das Glück, ihr Gemahl zu werden – schlug die Warnung des

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Todes in den Wind, auch missachtete er dessen drohende Gesten. Er griff zu dem gleichen Trick wie zuvor beim König, und die Königstochter wurde gesund. Der Tod packte ihn mit den Worten: »Es ist aus mit dir und die Reihe kommt nun an dich« (S. 219) und führte ihn in eine Höhle, wo tausende Lichter brannten: die Lebenslichter der Menschen, große für die, die noch lange zu leben haben, kleine, heruntergebrannte für die, die nur noch wenig zu leben haben. Der Arzt fragte nach seinem Lebenslicht: Es war nur noch ein verlöschender Stummel. In einem letzten Versuch, den Tod gnädig zu stimmen, bat er ihn, seinen kleinen Rest auf eine andere, frische Kerze zu setzen, und der Tod tat so, als wolle er ihm seine Bitte erfüllen, aber er rächte sich und ließ das Lichtlein fallen, sodass es vollends erlosch. »Alsbald sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten« (S. 220). Der Erfolg des Arztes gründet sich nicht darauf, dass er selbst über Leben und Tod zu entscheiden hat – das Bündnis mit dem Tod besteht vielmehr in der Fähigkeit zu Wissen und Einsicht. Der Arzt hat damit Teil an der Weisheit des Todes – und an dem, wofür der Tod zum Gevatter gewählt wurde: an der Tatsache, dass vor dem Tod alle gleich sind. Das Märchen weist darauf hin, dass ein guter Arzt sich dessen bewusst ist, dass er sich oft an der Grenze zwischen Leben und Tod bewegt, sich aber bei all seiner Kunst dem Gesetz der Endlichkeit beugen muss. Was hat den Arzt verführt, seine Verbundenheit mit dem Tod einzutauschen in die Hybris, selbst über Leben und Tod entscheiden zu dürfen? Niemand hat es von ihm verlangt, im Gegenteil: Sein Auftrag lautete lediglich, darüber Auskunft zu geben, »ob Genesung möglich wäre«. Er handelte also ganz nach eigenen Motiven. Im Fall des Königs ist die Antwort nicht schwer: Es sind narzisstische Gründe, die den Arzt bewogen haben, beim König eine Ausnahme zu machen. Sich die Gunst eines Königs – selbst ein Herr über Leben und Tod – zu sichern, damit Anteil zu haben an seiner Macht, bedeutet eine verführerische Aufblähung des Narzissmus zur Grandiosität. Es ist eben diese Kränkung des Narzissmus, der

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auch ein Analytiker begegnet, namentlich ein Kinderanalytiker, wenn er zur Genesung eines schwer kranken Kindes nicht mehr beitragen kann als eine Prognose. Wir können niemanden »heilen«, wir können die Wunden, welche tödliche Krankheiten oder Verluste in die Kinderseelen schlagen, nicht wiedergutmachen, auch wenn unseren Analysen eine gewisse Idealisierung und Selbstidealisierung gefährlich nahekommt. Unsere Aufgabe ist es, Bedingungen zur Verfügung zu stellen, in denen die Selbstheilungskräfte des Patienten sich optimal entfalten können und in denen ein Schicksal so angenommen werden kann, dass es die Lebenskräfte des betroffenen Menschen nicht abschnürt. »Heilen« im transitiven Sinne, im Sinne der Reparation von Fehlfunktionen scheint mir eine zwar verführerische, aber nicht sachgerechte Vorstellung zu sein. Aber wie war es im Fall der Königstochter? Ist es hier nicht die Liebe, die den Tod zu überwinden trachtet, etwa wie bei Orpheus und Eurydike? Ist der Tod hier nicht unerbittlicher als selbst Hades und Persephone im Mythos? Die Motive des Arztes waren im Fall der Königstocher keine anderen als beim König: Betört haben ihn Schönheit und die Aussicht auf das Königtum selbst. Es ging ihm also darum, sich als künftiger König mit einer schönen Frau schmücken zu können: der klassische Fall einer narzisstischen Partnerwahl. Die Königstochter war ihm das Objekt einer narzisstischen Begierde – kein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Strebungen. Im Kern ging es dem Arzt bei der Heilung des Königs und seiner Tochter nicht um deren Genesung, sondern um seine eigenen narzisstischen Größenvorstellungen. Damit aber hat er seine Rolle als Arzt verlassen, er hat auch den Tod als seinen Verbündeten verraten, er hat sich selbst darüber hinweggesetzt, dass ja auch er dem Gesetz des Todes unterworfen ist. Schließlich hat er auch die Grundlage der Patenschaft angegriffen. Der Tod wurde ja als Gevatter erwählt, weil er alle gleich macht: den Reichen und den Armen. Er holt den König genauso wie den Bettler, die Königstochter genauso wie das Kind aus dem Armenhaus. Und genau beim Vollzug dieser Eigenschaft, alle gleichzumachen, fällt ihm der Arzt in den Arm: Hätte er den Tod auch ausgetrickst, wenn es um einen Strauchdieb gegangen wäre?

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Schließlich bleibt der Arzt selbst im Angesicht seines eigenen Todes unbelehrbar und versucht noch, ihn durch einen Deal zu umgehen. Dabei jedoch nimmt er einem anderen Menschen die Lebensmöglichkeit: Wenn er seinen Kerzenstummel auf eine andere, neue Kerze aufpfropft, dann kann der zu dieser Kerze gehörende Mensch nicht leben. Hier schließt sich der Kreis: Sein vermeintlicher Triumph über den Tod verhindert die Geburt eines Kindes! Es gehört, wie ich schon erwähnt habe, allem Anschein nach zum Selbstbild eines Kinder- und Jugendlichenanalytikers, dass man dem Tod das Leben abtrotzen will. Es ist naheliegend zu vermuten, dass in dieser Haltung auch eigene Unsterblichkeitsvorstellungen untergebracht werden – wie beim Arzt im Märchen. Den Beruf des Kinder- und Jugendlichenanalytikers im Einklang und Einverständnis mit dem Tod auszuüben – dieser Gedanke scheint eine Provokation zu sein. Er berührt auch die Haltung zum eigenen Tod, zur eigenen Begrenztheit und Endlichkeit. Im Märchen büßt der Arzt seine Freiheit und letztlich sein Leben in dem Moment ein, in dem er sich über seine Begrenztheit erhebt. Der Tod kann Gegner, er kann auch Verbündeter sein, er kann der wilde Knochenmann und er kann Freund sein, Freund Hein, wie es bei Claudius auch heißt, er kann der grausame Schnitter sein und die Erlösung, er kann in Depression stürzen und zu Humor und Heiterkeit anleiten. In welcher Gestalt auch immer er in der Analyse auftaucht: Er erheischt seinen Platz.

Literatur Brüder Grimm (1997). Kinder- und Hausmärchen. Erster Band. Nach der Großen Ausgabe von 1857 herausgegeben von Hans-Jörg Uther. München: Weltbild. Büchner, G. (2012). Dantons Tod. In Sämtliche Werke und Briefe, Hrsg. von Ariane Martin (S. 61–152). Stuttgart: Reclam. Burchartz, A. (2014). »Fünfzig Minuten sind doch keine Stunde«. Zeiterleben in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Analytische Kinderund Jugendlichen-Psychotherapie, 45 (162), 235–256.

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Brigitte Boothe

»… wenn ich auf das Ende sehe« – Wie viel Zeit bleibt bis zum Tod? Dynamik der Veränderung als lebenslanges Geschehen

Sie laufen, aber sie legen keinen Weg zurück. Samuel Beckett (2011): Warten auf Godot

Wie viel Zeit bleibt bis zum Tod? Herr und Frau A sind Mitte Fünfzig und damit nach einer derzeit üblichen Einschätzung junge Alte. Bei einer Lebenserwartung von inzwischen über achtzig Jahren – Island und Japan sind tendenziell führend – kommt der Tod womöglich noch lange nicht (Höpflinger, 2012). Die heute gängige Einschätzung, das Alter als eigene Entwicklungsphase zu begreifen (Backes u. Clemens, 2004), hat wichtige Impulse durch Eriksons Stufenmodell der lebenslangen Entwicklung (1950, 1957; 1973, S. 55–123) erhalten. In diesem Modell übt das Frühere stets Einfluss auf das Spätere aus, ohne die Chancen und Risiken dessen, was sich im späteren Leben oder spät im Leben vollzieht, zu determinieren. Inzwischen geht man allgemein davon aus, dass die biopsychosoziale Entwicklung nicht in der Jugend endet, sondern sich lebenslang fortsetzt (Höpflinger, 2009). Auch im Alter, auch in Konfrontation mit Sterben und Tod ist eine Dynamik der Veränderung möglich. Dass körperliche Betätigung und motorisches Training auch im hohen Alter die Fitness erhöhen, ist bekannt (auch dazu beispielsweise Höpflinger, 2009). Wichtiger noch ist, dass die Reduktion geistiger Fähigkeiten, beispielsweise im Kontext demenziellen Abbaus, nicht mehr allein Defizienz und Verlust bedeutet, vielmehr kommen auch hier produktive und kreative Prozesse in Gang, wenn man diesen in der Beziehung zu den Betroffenen Aufmerksamkeit schenkt, sie fördert und ermutigt (Killick u. Craig, 2013).

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Brigitte Boothe

Gerade die Kommunikation mit gebrechlichen, pflegebedürftigen und sterbenden Personen verdeutlicht, wie wichtig auf Seiten der Pflegenden, Betreuenden und Angehörigen die Etablierung einer elementaren Vertrauensbasis ist oder, anders gewendet, wie sehr die Pflegebedürftigen, Gebrechlichen und Sterbenden vom Beziehungsangebot profitieren können, wenn sie sicher gebunden sind (Hloucal, Petersen, Frick, Buchheim u. Bettenbrock, 2012; Wyler, 2009). Sie können sich auf die existenzielle Abhängigkeit von Helfern, die ja zum Teil an die frühe Kindheit gemahnt und regressiv-rezeptives Geschehen einleitet, mit geringerer Angst, größerer Adaptivität und flexibler Zuwendung einlassen, als dies unsicher gebundenen Personen möglich ist. Das sorglose Wohlbefinden und die freie Bewegung im Heimatmilieu begünstigen in Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung die weiteren Herausforderungen, was Selbst- und Weltbezug, Lernen und Arbeit, Intimität, Generativität, Krankheit, Krisen, Abbauprozesse und Todesnähe angeht. Die entscheidende Phase für die Entstehung von Urvertrauen sieht Erikson in seinem Acht-Phasen-Modell des »Lebenszyklus« in der ersten verletzlichen Zeit des Säuglings. Falls elterliche Bezugspersonen ein anregungsreiches Milieu des Nährens, Bergens, Pflegens schaffen, entsteht die Haltung des Urvertrauens, die man heute bindungstheoretisch reformulieren würde (Posth, 2007). Anders ausgedrückt: Die Kinder nähern sich dann Personen und Dingen in der Haltung naiver Zutraulichkeit, erreichen eine sichere Bindung (Boothe, 2013; Petersen u. Hloucal, 2012). Heranwachsende profitieren in der Sicht Eriksons vom guten ersten Lebensjahr; es kommt zum unbeschwerten, kindlichen Spiel, zur Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten in Pubertät und Adoleszenz, zur erfüllenden Intimität, zur generativen Verantwortlichkeit des Erwachsenen, womöglich zur heiteren, vergänglichkeitssensiblen Empfänglichkeit für Lebenswertes im Alter und die Chance, in Todesnähe nicht zu verzweifeln. Erikson bezeichnet diese Gemütsverfassung als »Integrität« in der letzten Lebensphase. Ist die erste Lebenszeit jedoch durch Milieus der Misere und Gefahr, prekäre Elterlichkeit, Vernachlässigung oder Misshandlung geprägt, so entstehen Urmisstrauen und ein Lebensgefühl der Unheilserwartung. Die

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»… wenn ich auf das Ende sehe« – Wie viel Zeit bleibt bis zum Tod? 225

Person ist mit sich und der Welt zerfallen, mag zynische Tendenzen entwickeln, neigt zu Dysphorie, Depression, hoher Anfälligkeit für psychische Störungen, zu Antriebsarmut, fehlender Zuversicht, Kontaktarmut. Die letzte Lebensphase ist unter solchen Voraussetzungen gekennzeichnet durch »Verzweiflung«. Insbesondere Marcia (2002) hat Eriksons Phasenmodell, das in Soziologie, Pädagogik und Seelsorge bis heute große Prominenz genießt, für die Identitätsforschung fruchtbar gemacht; Bohleber (1992) reflektiert es im Kontext einer entwicklungstheoretischen Bestandsaufnahme für die Psychoanalyse. Viele Menschen in Wohlstandsgesellschaften haben die Aussicht, ein hohes Alter in relativer Gesundheit zu erreichen, bei Erkrankung und Gebrechlichkeit differenzierte medizinische und psychologische Betreuung und am Lebensende im Rahmen der palliativen Pflege Unterstützung zu erhalten. Das Lebensende ist ein Thema, das zunehmend im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit steht. Beispielsweise beteiligt sich die Universität Zürich am Nationalen Forschungsprogramm (NFP 67) »Lebensende« des Schweizerischen Nationalfonds. Todesnähe und Lebensende gehören zur Gerontologie, die sich gemäß Höpflinger (2009) durch spezifische »Grundsätze und essentielle Elemente einer modernen Alternsforschung« porträtieren lässt. Es geht um »das paradigmatische Gerüst für eine gesamtheitliche und interdisziplinäre Analyse von Alternsprozessen in modernen Gesellschaften«. Von den zwölf Grundsätzen seien an dieser Stelle zwei erwähnt: »Beim Altern handelt es sich um einen dynamischen Prozess (und nicht um einen Zustand). Im Rahmen dieses dynamischen Prozesses des Alterns entstehen immer wieder neue Herausforderungen sowie ein fortwährend verändertes Wechselspiel zwischen Verlusten und Gewinnen wie auch ein dynamisches Verhältnis der Einflüsse sozialer, psychischer, körperlich-biologischer Faktoren auf Alternsverläufe. Zentral für die moderne Gerontologie ist die grundlegende Annahme (aber auch empirisch bestätigte Beobachtung), dass diese Dynamik nicht einseitig nur in Richtung von Verlusten weist, sondern dass es auch im höheren und hohen Lebensalter zu Gewinnen kommen kann« (Höpflinger, 2009).

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»Altern ist ein lebenslanger und biographisch-lebensgeschichtlich verankerter Prozess. Damit angesprochen werden einerseits biographisch-lebensgeschichtliche Prägungen, welche das höhere Lebensalter mitbeeinflussen (wobei die biographischen Einflüsse generationenbezogen bzw. kohortenspezifisch variieren). Andererseits geht es um die Perspektive einer lebenslangen Entwicklung (was auch lebenslanges Lernen und lebenslanges Gestalten einschließt). Menschen im hohen Alter haben damit nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine (zu gestaltende) Zukunft, auch wenn sich im hohen Alter klare Grenzen ergeben« (Höpflinger, 2009). Die letzte Lebensphase kann also, nach wissenschaftlicher Auskunft, bereichernd sein, und selbst wenn das Ende des Lebens naht, ist Zukunftsoffenheit möglich, jedenfalls, wenn die Aussicht, lange zu leben und sich auf das Ende vorbereiten zu können, eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat. Dass gleichwohl jeder jederzeit, jung oder alt, zu Tode kommen kann, gewaltsam, unvorhergesehen, versteht sich. Doch das ist nicht das Thema der folgenden Ausführungen. Vielmehr geht es um ausgewählte Situationen, in denen Personen im höheren Lebensalter Aussicht haben, das Lebensende zu bedenken und Lebenszeit zu gestalten. Diese Situationen sind durch Beratungs-, Therapie- oder Interviewbegegnungen angeregt, werden aber in der narrativen Modellierung auf Prototypisches ausgerichtet, insbesondere auf das Verhältnis von persönlicher Zeitperspektive in Orientierung auf die letzte Lebensphase oder das Lebensende.

Zu viel Zeit bis zum Tod? Während heute in den Staaten Subsahara-Afrikas Menschen selten ihr vierzigstes Lebensjahr erreichen, sind viele Mittfünfziger in Wohlstandsregionen erfahrene Berufsmenschen, bereit und willens, ihr Arbeitsleben fortzusetzen. Viele befinden sich mitten in einer lebendigen Generationenreihe: Sie haben Enkel und stehen auch

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»… wenn ich auf das Ende sehe« – Wie viel Zeit bleibt bis zum Tod? 227

noch mit den eigenen alten Eltern in Verbindung. Sie betätigen sich in Haushalt, Familie, im sozialen, kulturellen oder politischen Umfeld. Viele nutzen Fort- und Weiterbildungsangebote, suchen in Ausbildung und Beruf eine Neuorientierung oder auch neues Glück in der Liebe. Man sieht Chancen für eine zweite Jugend. Bei Herrn und Frau A ist das anders. Sie sind seit Kurzem arbeitslos. Frau A war Verkäuferin in einem Drogeriemarkt bis zur Insolvenz der Ladenkette. Herr A hat nach langjähriger Tätigkeit als Tischler in einem großen Schreinereibetrieb die Kündigung erhalten, wegen mangelnder Kooperation und unzureichender Arbeitsleistung. Sobald das Arbeitslosengeld wegfällt, stehen finanzielle Engpässe in Aussicht. Wie vom Arbeitsamt verlangt, bewerben sich beide kontinuierlich, aber erfolglos. Herr A ist verbittert, die Kündigung war aus seiner Sicht nicht gerechtfertigt. Gewiss, es habe zahlreiche Konflikte und massiven Ärger gegeben, er habe Termine versäumt, zwei Lehrlinge schlecht angeleitet und unkollegiales Verhalten gezeigt, doch sei dies nur geschehen, weil man ihm, gegen seine Erwartung, einen Aufstieg innerhalb der Firma verweigerte. Im Rahmen einer kurzfristigen supportiven Beratung fällt es Herrn A unendlich schwer, die Anlässe und Hintergründe seiner Entlassung zu explorieren. Skandalöses Unrecht sei ihm widerfahren, seine Auflehnung und sein unkooperatives Verhalten waren ja aus seiner Sicht nur Ausdruck der massiven Enttäuschung über den vorenthaltenen Aufstieg. Auch die Beratung enttäuscht ihn. Nun sitzt er grollend und grübelnd zu Hause, sieht sich benachteiligt und gedemütigt, weiß nichts anzufangen mit der freien Zeit und kritisiert an der Frau herum. Einst hatte er mit Freude Reparatur- und handwerkliche Gestaltungsarbeiten in der Wohnung vorgenommen, nun ist er freudlos untätig und sieht sich als ausgemustertes Menschenexemplar. Wie soll man die Zeit bis zum Tod hinbringen? Eine Anstellung wird er nicht mehr finden. Kann er etwas Eigenes aufbauen? Nein, ihm fehlen Initiative, Ideen, Courage. Das Risiko besteht, dass Herr A im Groll verharrt und sich Züge einer »Verbitterungsstörung« verfestigen, wenn auch nicht das Vollbild einer »posttraumatischen Verbitterungsstörung« (Linden, Schippan, Baumann u. Spielberg,

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2004). Seine Haltung begünstigt sozialen Rückzug, belastet die Ehe und reduziert Zukunftsoffenheit. Der Eindruck, Unrecht erlitten zu haben, die Erfahrung, geschädigt und verletzt worden, Attacken auf die körperliche, psychische oder soziale Integrität ausgesetzt gewesen zu sein, ist verstörend. Ein destruktiver Einbruch in die Ordnung des persönlichen Lebens findet statt, der möglicherweise gravierend ist und weitreichende, wenn nicht irreparable Folgen hat. Der Einzelne leidet umso mehr, je weniger er auf Entschuldigung, Wiedergutmachung, Entschädigung oder Rehabilitation hoffen kann (Linden u. Maercker, 2011). Herr A geht davon aus, Unrecht erlitten zu haben. Entschädigung ist nicht in Sicht. Er ist konfrontiert mit massiven psychischen Herausforderungen: Er hat eine Zurückweisung hinzunehmen, verliert Status und professionelle Anerkennung, riskiert den Verlust von Attraktivität im Sozialkontakt, die Strukturierung des Alltags geht verloren, neue Aufgaben fehlen, er ist nicht gefragt, man kommt ohne ihn – aus Arbeitgebersicht sogar besser – aus. Diese Herausforderungen provozieren emotionale Antworten, die notorisch konflikthafter Natur sind: Herr A sieht sich als Opfer. Er ist empört, aber machtlos, so entsteht nagender Groll, auch Vergeltungsphantasien kommen ins Spiel. Er ist gekränkt und wünscht erfolglos Restitution seines Status, seiner Ehre. Er sieht sich verkannt; es geht um die imaginierte Überlegenheit des Schwans über die hässlichen Enten. Die Angst vor sozialer Isolation wehrt er ab durch die Verwandlung von Passivität in Aktivität: Er wendet sich ab, bevor andere es tun. Allgemein formuliert mag man das Ende des Lebens erwarten in masochistischer Wut, man wird, so die grollende Vorstellung, entsorgt als leere Hülle, wobei – dies bleibt ein zentrales psychisches Regulativ – andere daran die Schuld tragen. Man imaginiert ein unversöhntes Sterben, vielleicht auch einen suizidalen großen Abgang. Man kann vor dem Angriff auf das Selbstgefühl und das Selbstwertgefühl, auf Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit kapitulieren und den sozialen Tod herbeiführen: Zerfall der Bindungen, Zukunftsverlust, Obdachlosigkeit. So weit ist es bei Herrn A nicht gekommen.

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Auch seine Frau ist arbeitslos. Auch sie sieht kaum Chancen, ins Arbeitsleben zurückzukehren. Auch sie sieht sich früher als geplant genötigt, die nichtberufliche Zukunft und das Lebensende ins Auge zu fassen. Für Frau A sind die durch die Kündigung erfolgten finanziellen Einbußen das eigentliche Sorgenthema. Kränkung und Konflikt spielen keine Rolle. Frau A hat gern gearbeitet und verdankt viele soziale Kontakte dem Beruf. Doch pflegt sie seit langem auch rege Nachbarschaftskontakte und langjährige Freundschaften. Im Unterschied zum verbitterten Ehemann vertraut sie sich persönlich mit ihren Sorgen an. So erhält sie nicht nur Trost, sondern auch Anregungen, Ideen und sogar Hinweise auf Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie hat kein Problem damit, eine Woche lang als Aushilfskellnerin einzuspringen, am Kirchfest einen Flohmarkstand mit entbehrlichen Dingen aus dem eigenen Haushalt aufzustellen, im Seniorenheim Ferienvertretung im Reinigungsdienst zu machen und – das ergibt sich zufällig – an einigen Nachmittagen vorzulesen. Letzteres macht ihr überraschend viel Freude. Es entwickelt sich sogar eine reguläre Beschäftigung daraus. Frau A schätzt die Tätigkeit im Seniorenheim umso höher, als der Kontakt mit betagten Personen die Realität von Gebrechlichkeit, Sterben und Tod für sie Ermutigung ist, Bilder der eigenen Alterszukunft zu imaginieren und den Tod zu bedenken. Herr A ist von all dem beeindruckt, beunruhigt und missgünstig. Er liegt auf der Couch als schweigender Vorwurf: Du hast mich auch abgeschrieben. Ich bin ja nur noch lästig. Oder entwertend: lauter Aushilfskram. Mach dir nichts vor. Für den Arbeitsmarkt sind wir tot. Wenn Frau A sich entschuldigt, rechtfertigt oder aus der Haut fährt, gibt es Zank und Zetern, und manchmal bricht sie am Ende in Tränen aus. Einmal sagt er gereizt: Siehst du, du bist ein Nervenbündel, lässt dich ausbeuten und kaputt machen. Dann sie: Und du machst dich mit deinem Nörgeln und Grübeln und Nichtstun kaputt. Und ich kann es nicht mehr hören, dass alle anderen schuld an deinem Elend sind. Hast du nicht auch Fehler gemacht? – Ach ja, kontert er, dann kann ich mich ja gleich aufhängen. Und da geschieht etwas Eigenartiges. Sie nimmt seine Hand. Sie lächelt, fast belustigt. Es kann bald mit uns zu Ende gehen, vielleicht auch

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nicht so bald. Mit dir will ich zusammen sein, bis es vorbei ist, und ich hab noch viel vor mit dir, und es gibt Sachen, die kannst nur du. Und ich würde so gern wieder einmal deinen Kaiserschmarren essen. Ja, Herr A hat gern gekocht und das im Verdruss aufgegeben. Der Kaiserschmarren wird dann ihr Festessen. Herr A interessiert sich nach einiger Zeit sogar für den selbstgezimmerten Balkontisch, der halbfertig im Keller staubt. Als ein Freund, einer der wenigen, die er nicht durch schlechte Laune vergrault hat, ihn fragt, ob er einen alten Holzschrank restaurieren kann, sagt er zu und merkt, dass die Arbeit ihm Freude macht. Schließlich bittet er, nach langem Zögern, seine Frau, im Seniorenheim nachzufragen, ob man dort für die laufenden Renovierungsarbeiten einen Schreiner brauchen kann. Das kostet ihn viel Überwindung, aber noch schwerer fällt es ihm, seine Frau zu fragen, ob sie findet, dass er manchmal schwierig ist und aneckt; er will das nicht nochmals riskieren. Herr und Frau A haben ihre Arbeit verfrüht verloren; sie liefen Gefahr, Vitalität und Zuversicht zu verlieren. Die eigenen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten schienen gering, jedenfalls von außen betrachtet. Der Verlust von Status, von Anerkennung als respektable Person, die ins Arbeitsleben eingebunden ist, kann die Betroffenen resignieren lassen. Bei Herrn A kommt die Kränkung hinzu, aufgrund von Ungenügen und Unverträglichkeit verstoßen zu werden. Beide konnten fürchten, für das tätige Leben gestorben zu sein und im Abseits, in Enge und Dürftigkeit, auf den biologischen Tod zu warten. Frau A indessen hat ihre Stellung im Leben nie überschätzt, aber ein reiches Leben in Beziehungen geführt, so fiel es ihr leichter als dem Mann, sich auf die neue Situation einzustellen.

Bis zum Tod das pralle Leben Herr N, auch er ein Mann Mitte Fünfzig, ist in anderer Lage. Er ist verliebt in seine zweite 25-jährige Ehefrau. Sie ist schwanger mit dem ersten gemeinsamen Kind. Aus erster Ehe hat Herr N zwei

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»… wenn ich auf das Ende sehe« – Wie viel Zeit bleibt bis zum Tod? 231

erwachsene Töchter. Als erfolgreicher Rechtsanwalt kann Herr N seiner jungen Frau finanziell einiges bieten. Sein erotischer Enthusiasmus macht ihr Vergnügen. Empfänge, kulturelle Anlässe und kollegiale gepflegte Gastlichkeit findet sie unbehaglich, zumal sie dort nicht nur Freundlichkeit erwartet, sondern auch dezentes Befremden. Denn Herrn Ns neue Ehe ist nicht nach jedermanns Geschmack. Ein alter Narr, meinen manche achselzuckend. Der »verliebte Alte« ist in der Tat ein traditionelles literarisches Thema, auch in Malerei und Bildhauerei überliefert, meist komödiantisch inszeniert, tragikomisch bei Heinrich Mann in »Professor Unrat« (1918/2012) und tragisch bei Thomas Mann in »Der Tod in Venedig« (1912/2007) gestaltet. Dass für ältere Männer junge Frauen oder, bei homosexueller Orientierung, junge Männer ein Jungbrunnen sind, ist ein Gemeinplatz. Vaterschaft im Alter ist lediglich bevölkerungsstatistisch  – nicht aber für Fürsten und andere Berühmtheiten – eine neue Erscheinung. Das junge Alter scheint Chance zur Neuauflage des jungen Erwachsenenalters zu sein oder gar, wenn man sich der Familienbande gänzlich entledigen will, Chance zur Libertinage und zur Eroberung der weiten Welt. Die gestiegene Lebenserwartung verführt den gesunden und wohletablierten Mann zur freudigen Erwartung, die Genüsse der Jugend neu zu erleben, jetzt unter finanziell günstigen Bedingungen und in größerer Freiheit. Doch gibt es Schattenseiten. Wie lange noch bin ich für meine junge Frau attraktiv?, mag Herr N allmählich bang sich fragen. Kann ich meinem kleinen Kind so viel Vergnügen bieten wie ein junger Vater? Ach je, schon wieder Fett angesetzt. Und die schlaffe Haut. Wie soll ich mich mit ihr blicken lassen am Strand? Und manchmal zerbricht er sich den Kopf darüber, wie er ihre Freunde einbeziehen soll. Laute junge Lehrerkollegen aus der Schule, in der sie noch bis zur Geburt des Kindes arbeiten wird. Die Eltern der Frau sind so alt wie er und stets in Verlegenheit und Spannung, wenn man sich bei seltenen Gelegenheiten trifft. Alles ist nochmals möglich, hatte der junge Alte euphorisch gedacht. Ich bin weit weg von Verfall und Tod. Und dann kommt eine ständige Sorge: Wie lange noch? Kann ich noch mithalten?

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Ich wollte jung bei den Jungen sein? Es geht nicht. Dem Altern ist nicht zu entkommen. Im Gegenteil: Je stärker die Anstrengung, jung zu bleiben, umso deutlicher wird für andere und dann eben auch mich, dass ich nicht jung bin.

Die Zeit bestimme ich Frau K, 75 Jahre, erlebt sich in gar keiner Weise als jugendlich. Während der junge alte Herr N Kräfte bündelt, hat Frau K gleichsam aufgegeben. Sie ist ein Pflegefall. Sie hat Befindlichkeitsstörungen, wie Taubheitsgefühle in den Beinen, Schwindel, starke Sehstörungen, einen nervösen Magen, Schlafstörungen und ein ausgeprägtes Schwächegefühl. Sie verlässt Bett und Zimmer selten. Viele ihrer Beschwerden sind organisch nicht aufgeklärt, allerdings ist Frau K psychotherapeutischer Unterstützung nur bedingt zugänglich. Doch ist sie bereit, mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin ein Interview im Rahmen eines Forschungsprojekts über die psychische Verfassung und die Bedeutung religiöser Einstellungen von Menschen in Alters- und Pflegeheimen zu führen (Baumann-Neuhaus, Boothe u. Kunz, 2012). Wie ist Frau Ks Befinden in der Pflegeinstitution? Schlecht. Überaus schlecht. Soziale Kontakte mit anderen Heimbewohnern machen ihr keine Freude, gesellige Anlässe öden sie an. Die Mahlzeiten bereiten ihr keinen Genuss. Das bevorstehende Weihnachtsfest stimmt sie trübe. All dies hängt damit zusammen, dass Frau K, so wird im Gespräch deutlich, sich vom Ehemann ins Heim abgeschoben sieht. Zwar betont sie, dass sie selbst den Wechsel ins Heim vorgeschlagen habe, um den gesundheitlich angeschlagenen Mann zu entlasten, aber sie scheint nicht damit gerechnet zu haben, dass er gleich einverstanden sein und sie außerdem eher selten im Heim besuchen würde. Frau K geht es darum, die erduldete Deplatzierung in den selbstbestimmten Abgang zu verwandeln. Sie schildert das zurückliegende Leben in Familie und Beruf wie aus weiter Ferne, gleichsam ohne Freude des Erinnerns, auch

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ohne Wehmut, fast in einer Haltung indifferenter Versteinerung. Schließlich spricht sie aus, was sich im Gespräch längst angedeutet hat: Sie plant, Kontakt mit einer Sterbehilfeorganisation herzustellen und innerhalb der nächsten Wochen aus dem Leben zu gehen. Die beiden Töchter sind eingeweiht und anscheinend bereit, die Entscheidung der Mutter hinzunehmen; ob auch der Ehemann informiert ist, bleibt im Interview ungewiss. Frau K thematisiert ihre Vorstellungen vom letzten Geleit: keine Todesanzeige, keine Abdankungsfeier, kein Erd- und kein Urnengrab. Nichts soll an sie erinnern, die Asche soll in Wasser oder Wald verstreut werden. Es ist Frau K mit der selbstbestimmten Selbstauslöschung ernst. Ihr Leben ist schal geworden. Sie glaubt für andere nur noch Bürde oder fast schon in Vergessenheit geraten zu sein. Kaum etwas macht ihr noch Freude. Ihr Körper ist Last und Plage. So nimmt sie das aus ihrer Sicht überfällige Ende selbst in die Hand. Zusammengefasst: Angesichts der Zumutung existenzieller Fragilisierung im Wechsel vom privaten Zuhause in das Altenpflegeheim-Milieu betreibt Frau K aktive Negativierung. Sie sieht sich gezeichnet von Verlust und Gebrechen; und sie entwertet Selbst und Welt. Sie deklariert den Heimeintritt als Zumutung. Das Heim ist ein Ort der Einschränkungen. Religiosität ist keine Ressource. Sie sieht ihren Lebens- und Entfaltungsradius als reduziert. Sie betreibt Selbstmarginalisierung. Der Übergang ins Heim steht im Zeichen des Verlustes und der Defizite. Die im Heim gebotenen Möglichkeiten wie beispielsweise neue Gesellung unter den Peers, Unterhaltungsangebote, festliche Anlässe sind für Frau K aversiv. Die verbliebenen Kontakte mit der Familie hingegen haben noch eine gewisse Bedeutung wie auch die Erinnerung an den Kontakt mit einem Pfleger, von dem viel Liebe ausging; dieser Pfleger aber ist schwer krank, und es ist ungewiss, ob er noch einmal arbeiten kann.

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Eine andere Zeitlichkeit Auch Frau R ist Interviewpartnerin im Rahmen des erwähnten Forschungsprojekts. Sie ist das Kind eines aufgeklärten, akademisch gebildeten, jüdischen Ehepaares mit zwanglos lockerem Religionsbezug. In Polen geboren und aufgewachsen, hatte sie sowohl Kontakt zu strenggläubigen jüdischen Verwandten als auch zu den katholischen Gebräuchen ihrer Umgebung. Sie selbst überlebte das Warschauer Ghetto in Verstecken, in ständiger Fluchtbereitschaft und mit falschem Pass, zusammen mit der Mutter, die in hilfloser Panik ohne den Einsatz, den Schutz und die Fürsorge der Tochter nicht überlebt hätte, während die Großeltern, die Tante und ihr Vater von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Schul- und Berufsausbildung blieben Frau R versagt. Die Mitteilung der katastrophalen Ereignisse bleibt kurz, lakonisch oder summarisch. Eine Vertiefung dieser Erinnerungen, so sagt sie, sei nicht gut, nicht sinnvoll und nicht weiterführend. Sie wurde in ein Gefangenenlager auf Zypern verschleppt und gelangte wenige Jahre nach Kriegsende in die Schweiz, wo sie ihren Ehemann, ebenfalls jüdischer Überlebender der nationalsozialistischen Verfolgung, heiratete; doch gelang den beiden keine stabile tragfähige Bindung, zu sehr litt vor allem der Partner an den psychischen Folgen der Kriegsund Lagergewalt. Nach der Scheidung blieb Frau R in der Schweiz. Ihre beiden Söhne blieben zunächst bei ihr. Inzwischen wohnt der eine in der Schweiz, der andere Sohn in den Niederlanden. Seit der Scheidung ihres Sohnes ist der zwanglose Kontakt zu den Enkeln unterbrochen, da die ehemalige Schwiegertochter feindselig und abweisend eingestellt ist. Der Tod durch imperiale Gewalt gehört zu Frau Rs Kindheitsbiographie. Grausamkeit, Vertreibung, Verfolgung, Verschleppung, Inhaftierung prägten die Jugend und zeichnen die Persönlichkeit. Die betagte Frau R lebt allein und zurückgezogen, doch ist sie mit der Welt rege und intensiv verbunden, und zwar über das Internet. Ihre Kontakte sind in erster Linie und hauptsächlich elektronischer Art. Es geht nicht um persönliche Angelegenheiten, sondern um große religiöse, moralische, gesellschaftliche und politische Fragen,

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auch im Zusammenhang mit der Lage Israels. Sie versteht sich als Vermittlerin, Botschafterin und Beschwörerin einer Haltung praktizierten Friedens, der möglich wird durch die Bereitschaft, Böses mit Gutem zu vergelten, sich vom Bösen nicht beeinträchtigen zu lassen und dem Gegenüber mit positiven Erwartungen zu begegnen. Es geht um positive Erwartungen, die wirksam werden und das Gegenüber verwandeln. Religiöse und esoterische Lektüre sind Frau Rs Alltag. Sie tauscht sich im Internet darüber aus und führt ein Leben in der Pflege jüdischer Gebräuche und offenem Transzendenzbezug. Religion ist Herausforderung des Gemüts, ist einzige Aussicht für die Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens und für eine Lebensgestaltung, die sich dem Wesentlichen verpflichtet sieht. Und sie ist Heimat für eine Person wie sie, die Integration und Karriere, bürgerliche Familie und geselliges Behagen im Leben nach der Kriegserfahrung nicht realisiert hat. Die Fragilität und Todesverfallenheit der individuellen Existenz wird hintangestellt zugunsten überpersönlicher Anliegen. Die Begrenztheit der eigenen Lebenszeit spielt eine geringe Rolle angesichts der Orientierung im Religiösen. Es ist eine Zeitlichkeit des Überpersönlichen, die Frau Rs Einstellung zum Tod bestimmt.

Vergänglichkeitssensibel und lebenssatt Venedig sehen und sterben, sagt die 70-jährige Frau O kopfschüttelnd. Venedig muss ich nicht sehen. Aber manchmal geht ihr durch den Kopf: Jetzt könnte ich sterben. Jetzt ist es gut. Jetzt ist es genug. Gerade in Situationen, die sie mit Freude oder Dankbarkeit erfüllen, ist das so. Und wenn heute mein letzter Tag ist?, denkt sie manchmal am Morgen, wenn sie aufsteht und aus dem Fenster schaut. Ein flüchtiger Gedanke, der ihr geradezu stilles Vergnügen bereitet. Frau O ist gesund, lebt allein, hat für ihre Firma, die sie gegründet und mit Erfolg geführt hat, einen Nachfolger gefunden und sich zufrieden zur Ruhe gesetzt. Ganz andere Dinge als in Zeiten der Berufstätigkeit beschäftigen sie jetzt. Sie pflegt Freundschaf-

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ten, engagiert sich in jungen Familien als Nachmittagsgroßmutter, bietet einen Computerkurs im Altenheim an und kommt dann oft in intensive persönliche Gespräche mit Bewohnern. Sie genießt ein entspanntes und produktives Alleinsein. Lebendigsein als rätselhafte Gabe auf Zeit, und das Ende bestimmt man nicht selbst. Nicht nur für die Erfolgreichen und Privilegierten ist heitere Vergänglichkeitssensibilität eine Option. Auch eine der Gesprächspartnerinnen im bereits erwähnten Forschungsinterviewprogramm vermittelte diese Einstellung (auch in Baumann-Neuhaus et al., 2012). Frau H wuchs mit sieben Geschwistern, in engen und dürften Verhältnissen, auf dem Bauernhof ihrer Eltern in ländlicher Umgebung auf. Sie ist katholisch getauft und sozialisiert. Bereits als Zwölfjährige arbeitete sie als Verdingkind auf einem fremden, weit entfernten Hof. Zwei Jahre später kehrte sie zwar zurück und brachte ihre volle Arbeitskraft in den wirtschaftlichen Erhalt der Familie ein, lebte aber nicht mehr zu Hause, weil der Platz zu knapp war. Aufgrund nur rudimentärer Schulausbildung, mangelnder Förderung durch ihre Herkunftsfamilie und milieubedingter Einengung hat Frau H keine Berufsausbildung genossen. Ihre Erwerbstätigkeit war daher bestimmt durch Hilfs- und Aushilfsarbeiten in unterschiedlichen Bereichen. Sie arbeitete gern, noch heute erzählt sie mit Vergnügen von dem, welche Anregungen sie erhielt, was sie lernen konnte, wie man sie schätzte und wie interessant sie es fand, sich immer wieder umzustellen und auf Neues einzulassen. Anlässlich ihrer Heirat mit 21 Jahren konvertierte sie zur reformierten Konfession ihres Mannes. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Ihr Ehemann starb vor wenigen Jahren. Aus Trauer um ihren Lebensgefährten vernachlässigte Frau H sich selbst und entschloss sich nach einem Zusammenbruch aufgrund körperlicher Schwäche zum Eintreten in ein städtisches Alters- und Pflegeheim, da sie ihren Alltag nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen konnte. Sie erholte sich rasch und gestaltet nun ein aktives Leben, das ihr tagsüber mit Teilhabe an abwechslungsreichen Angeboten viele Freuden beschert und nachts lange erholsame Ruhe. Frau H genießt die Freiheit von Pflichten und Lasten, sie genießt es aber auch, für Fertigkeiten, Fähigkeiten und ihre charmante Weiblichkeit Lob und

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Anerkennung zu erhalten, die sie als Kind, Jugendliche und Frau in diversen Lebenszusammenhängen erworben hat. Angesichts der Zumutung existenzieller Fragilisierung im Wechsel vom privaten Zuhause in das Altenpflegeheim-Milieu ist Frau H bemerkenswert kreativ, wenn es darum geht, ihr Lebensmilieu mit persönlicher Lebensqualität zu erfüllen. Ganz anders als Frau K deklariert sie den Heimeintritt als Chance. Das Heim ist ein Ort der Neuorganisation mit attraktiven Angeboten und Herausforderungen. Religiosität ist eine Ressource: Sie hat privilegierten Zugang zu transzendenten Mächten. Sie sieht ihren Lebens- und Entfaltungsradius als bereichert und hat guten Kontakt zu den Mitbewohnern. Der Übergang ins Heim stand im Zeichen des Defizits. Der Eintritt ins Heim war die Chance, sich zu erholen, zu Kräften zu kommen, sich sozial neu zu integrieren und in neuer Umgebung Anerkennung und Auszeichnung für ihre Persönlichkeit, ihre Tüchtigkeit, ihre weiblichen Vorzüge zu erlangen. Im Übergang in die Heimsituation ist dies eine Daseinsverfassung der Intensivierung von Lebensfülle nach schwerem Verlust. Religion war für Frau H in der Kindheit verkörpert durch die Autorität des Dorfpfarrers, einen Mann, der den Kindern regelmäßig weite Wege zum Besuch der Gottesdienste zumutete und kleinste Verstöße gegen Aufmerksamkeit, Ehrerbietung und Gehorsam streng ahndete, der aber auch für Schuhwerk sorgte und Mangel linderte. Frau H war froh, dem drückenden Regime zu entkommen und der eigenen Fähigkeit zur Lebensfreude Ausdruck geben zu können. Sie vertraut dem Interviewer ein Geheimnis an: Sie hat die Gabe der Ahnung, des Zweiten Gesichts, der Offenheit für Erscheinungen aus einer jenseitigen Welt, besonders Erscheinungen, die mit Frau Hs ganz persönlichem Leben in Zusammenhang stehen. So hat sich auf diese Weise ihr lieber verstorbener Mann bemerkbar gemacht. Frau H ist durch diese besondere Gabe eine Persönlichkeit mit geheimnisvoller Aura. Für Frau R, Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung, steht der Transzendenzbezug im Dienst der Überschreitung des Persönlich-Individuellen. Für Frau H ist die Offenheit für Erscheinungen aus einer jenseitigen Welt gerade beglückend, weil sie selbst sich ganz persönlich aus-

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zeichnet und privilegiert durch die Beziehung, die sie zu einer jenseitigen Welt unterhält. Frau H findet wie Frau O Lebensfülle gerade angesichts des Vergänglichen und der möglichen Nähe zum eigenen Ende. Anders als Frau O hat sie mit Erscheinungen zu tun, die nicht von dieser Welt sind. Sie könnte sagen: Gewiss geht es bald zu Ende. Bis dahin lasse ich mich noch überraschen, auch von Zeichen und Wundern.

»müüüüüde jetzt« »müüüüüde jetzt« ist eine Zeile aus dem Gedicht »Ichtor« von Samuel Beckett (1976, S. 25). Müde ist Frau K, die ihre Situierung im Heim als vorzeitige Todesbotschaft erlebt. Da ist nichts, was sie aufleben lässt, keine Perspektive, die eine Dynamik der Veränderung ermöglicht. Es ist zu viel leere Zeit bis zum Tod, denkt sie, und nimmt die Sterbehilfe in Anspruch. Doch sind ihre zahlreichen Beschwerden nicht eigentlich Zeichen des Aufbegehrens? Der Magen rebelliert, wie es so treffend heißt. Ihr Blick ist nicht klar, sie schaut niemanden an, verweigert die Orientierung am neuen Ort, der ihr Zuhause werden könnte. Schwindel erfasst sie, sie hat keinen festen Standort. Sie gibt jedoch dem Lebendigen, das sich als Schmerz, Missempfindung und Störung äußert, keine Chance, lässt eine Dynamik der Veränderung nicht zu, sondern wählt den selbstbestimmten Abgang. Müde ist auch Herr H, der Arbeitslose, müde in Verdruss und Hader. Auch er sieht sich konfrontiert mit zu viel leerer Zeit bis zum Tod. Auch er, betroffen von einer Krise, in der er sich verstoßen und marginalisiert erlebt, widersetzt sich, gleichsam im gekränkten Stolz, einer Dynamik der Veränderung. Müde ist nicht seine Frau. Sie hadert nicht, sondern lässt Neues entstehen. Sie wendet sich nicht ab von ihrem Mann, vielmehr wirbt sie um ihn, zeichnet ihn aus als den Menschen, mit dem sie ihr Leben bis zum Ende teilen will. Dem will er gerecht werden. Ein Liebender kann man sein bis zum Ende. Zwei Liebende können einander beglü-

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cken bis zum Ende. Hier geht es ja nicht um Leistung, Erfolg und äußere Maßstäbe. Liebe ist erfinderisch. Müde mag auch Herr N, der Rechtsanwalt, manchmal sein, wenn er erschöpft ist von übermäßig angestrengter Vitalitätsmobilisierung. Zu schnell verstreicht für ihn die Zeit. Zu schnell packen ihn die grausamen Attraktivitätszerstörer des Alterungsprozesses. Enttäuscht mag er sein von sich selbst und dem vergeblichen Versuch, für die geliebte junge Frau ein junger Mann zu sein. Ob er den Mut findet, sich auf eine Dynamik der Veränderung einzulassen, die wichtige Unterschiede in Alter und Lebensverfassung nicht verleugnet und sogar für die Beziehung fruchtbar macht? Ob er die junge Frau dafür gewinnen kann? Frau R, einst in Warschau zu Hause, lange extremer tödlicher Bedrohung ausgesetzt, überwindet die eigene Lebensnot durch Nivellierung des Persönlichen zugunsten eines Dienstes am Leben. Sie kultiviert eine Art immerwährendes geistiges Gespräch. Ihre körperliche Schwäche nimmt zu, angesichts rascher Erschöpfbarkeit und Müdigkeit geht sie kaum aus dem Haus, oft denkt sie an das Ende ihres Lebens, gelegentlich verwundert darüber, dass sie trotz aller Not, Gewalt und Entbehrung ein hohes Alter erreicht hat. Vom Geschenk des Lebens spricht sie und davon, dass es ein Glück für sie sei, über das Internet im Austausch über religiöse, ethische und politische Themen stehen zu können, Themen der Friedenssicherung, Klugheit respektvoller Beziehungen und des erfüllten Lebens. Auch der berühmte Autor und Essayist Jean Améry setzte nach der Befreiung aus langjähriger nationalsozialistischer Lagerhaft auf die geistige Existenz, anders als Frau R im Geist der Rebellion, Versöhnungsresistenz und der kritischen Schärfe, und seine Stimme hatte im Deutschland der 1970er Jahre Kraft. Doch nahm der Ermüdete sich am 17. Oktober 1978 das Leben, drei Abschiedsbriefe hinterlassend; im Brief an seine zweite Frau heißt es: »Ich kann meinem Niedergang, intellektuellen, physischen, psychischen, nicht zusehen« (Améry, 1978, zit. nach Wunderlich). Vergehende Zeit ist nicht Grund für Trübsinn, wenn man Frau O, die ehemalige Firmenchefin, und Frau H, die Witwe, danach fragt. Gerade die Vergänglichkeit lässt Lebensfülle entstehen. Auch

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Müdigkeit kann köstlich sein. Dann ist »müüüüüde jetzt« Ausdruck wohliger Entspannung. Für Frau O hat Becketts Sentenz humoristischen Sinn: »Sie laufen, aber sie legen keinen Weg zurück«. Die biologisch-leibliche Existenz und die mangelnde Transparenz des Selbstbezugs lassen uns laufen und laufen ohne verlässliche Regieführung, auch wenn man stets im Wahn lebt, es gebe Plan, Führung und Ziel. Dass man dennoch einen Plan macht und dann einen zweiten und dann feststellt, dass beide nicht gehen, folgt man Brecht, empfiehlt sich trotzdem1. Schließlich lebt man im sozialen Raum, hat für sich selbst und andere zu sorgen, mit all der begrenzten Tüchtigkeit und Klugheit, über die man verfügt. Man hat Kopf und Herz und Verstand, sogar so viel, dass man über sich lachen kann. Es mag das Lachen enden, wenn medizinische und pflegerische Hilfe ausbleiben oder an ihre Grenzen kommen, wenn Schmerz und Qual den hilflosen Sterbenden überwältigen. Berühmte Personen schreiben heutzutage häufig über ihr Sterben, wenn sie, oft früh im Leben, im Würgegriff tödlicher Krankheiten stehen. Das Schreiben erlaubt eine letzte Souveränität, sogar Ironie lässt sich, wenigstens in der Formulierung, ertrotzen, wie bei Hitchens (2013): »Endlich. Mein Sterben«. Ja, es geht um die Verzweiflung, die nur noch das Ende der Torturen ersehnen kann, aber es ist auch ein letztes Wortspiel, das so tut, als habe man nichts Schöneres willkommen zu heißen als das Sterben. Und da der Journalist Hitchens als feuriger Atheist bekannt ist, macht sich in »Endlich. Mein Sterben« auch die sarkastische Anspielung auf christliche Vorstellungen vom freudigen Sterben als Tor zum Paradies geltend, die hier der gequälte, aber stolze Autor verlacht. Er hatte nichts zu lachen am Ende, aber sein Geist war nicht müde, und sein Witz gab nicht auf.

1 Ja, mach nur einen Plan sei nur ein großes Licht und mach dann noch ’nen zweiten Plan gehn tun sie beide nicht. (Bertolt Brecht, Dreigroschenoper, 1928/2004)

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Im Angesicht des Sterbens ohne Selbstmitleid Auch Dubslav von Stechlin gab nicht auf. Und auch meine Mutter nicht, am Ende ihres Lebens. Reden wir im Folgenden von diesen beiden. Theodor Fontane, geboren im Jahr 1819, schrieb seinen Roman »Der Stechlin« zwischen 1895 und 1897, also in der zweiten Hälfte seiner siebziger Jahre. Erst als Sechzigjähriger begann er, Romane zu verfassen. »Der Stechlin« war sein letztes Romanwerk, sein Vermächtnis, bevor er 1899 starb. Für Fontane war das Alter ganz im modernen Verständnis eine Entwicklungsphase, eine Phase aktiven und initiativen Gestaltens und ausdrucksvoller Vitalität. Dubslav von Stechlin ist als Sechzigjähriger für uns Heutige zwar noch nicht alt, und auch sein Autor hatte ihm, während er den Roman schrieb, viele Jahre voraus. Aber Fontanes Held wird ernsthaft krank und muss sich mit existenziellen Anfechtungen auseinandersetzen. Dubslav ist ein aufgeklärter Skeptiker, aber Mythos, Zauber und Hexenwesen gehören zum Spiel der Vorstellungswelten, die der Roman entfaltet. Die Dynamik von lebensfreundlicher Skepsis und christlicher Lebensperspektive hat breiten Raum, denn da sind zwei Autoritäten des Glaubens mit Dubslav in stetem kontroversen Gespräch: seine strenge und imposante ältere Schwester Adelheid, Domina eines Damenstifts, und der protestantische, sehr geschätzte Pastor Lorenzen mit seiner ausgeprägten Fähigkeit, andere und Andersdenkende zu achten. Persönlichkeit und Charme, Wirksamkeit in der Welt und stiller Rückzug, Lust am Denken und Sprechen, kritisches Stellungnehmen und Ahnen, dass mehr zwischen Himmel und Erde ist, als die Schulweisheit sagt, all dies schafft eine für uns Heutige ideale Alterssituation, die intensive Lebenserfahrung voraussetzt und die Raum für Besinnung, Selbstbesinnung, Selbstzurücknahme und Aktionsentlastung bietet. Das Modell Fontanes zeigt, wie das Altsein heute das Selbst- und Weltverhältnis ungemein bereichern kann. Dass es dazu günstiger sozialer, medizinischer und finanzieller Voraussetzungen bedarf, versteht sich. Dass die Fähigkeit, Beziehungen herzustellen, sie zu kultivieren und aufrechtzuerhalten, entscheidend ist, versteht sich ebenfalls (Boothe, 2007). Sterben muss Dubslav

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am Ende dann doch. Freuds Texte zum Tod und zur angeblichen unbewussten Überzeugung von der eigenen Unsterblichkeit stehen in diesem Buch vielfältig zur Diskussion. Sie zeugen nicht zuletzt von Freuds ironischem Blick auf das, was er als psychische Realität verstand. Doch folgte ich seinen Ausführungen mit wenig persönlichem Gewinn und eher als lustlose Schülerin. Ganz anders ergeht es mir bei der Ironie, mit der Fontane seinen Protagonisten Dubslav von Stechlin in der berühmten Sterbeszene ausstattet: »Engelke ging, und Dubslav war wieder allein. Er fühlte, dass es zu Ende gehe. ›Das »Ich« ist nichts – damit muss man sich durchdringen. Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er »Tod« heißt, darf uns nicht schrecken. In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sittlichen Menschen und hebt ihn.‹ Er hing dem noch so nach und freute sich, alle Furcht überwunden zu haben. Aber dann kamen doch wieder Anfälle von Angst, und er seufzte: ›Das Leben ist kurz, aber die Stunde ist lang‹« (Fontane, 1899, S. 286). Der Seufzer wurde zum geflügelten Wort. Und als elegante Sentenz verdeutlicht sie die Zweiweltentheorie der Psychoanalyse im Angesicht des Todes. Bernd Nitzschke hat hier eine prägnante Formulierung: »Der Mensch lebt in zwei Welten: In der einen gleicht er seine Vorstellungen mit der faktischen Realität ab, in der anderen wird er von Wünschen beherrscht ….« (S. 68 in diesem Band). Dubslav verschließt sich den biologischen Tatsachen nicht, der Blick auf das »Gesetzliche« erlaubt ihm willkommene Selbstdezentrierung und heitere Selbstrelativierung. Doch geht das nur, solange seine mentale Verfassung angesichts des ungewissen, aber bevorstehenden Endes ihm solche Souveränität gestattet. Bald aber ist er wieder zurückgeworfen auf intensiven Selbstbezug im Elend seines Leibes, und es ist vorbei mit der Diszipliniertheit eines Geistes, der sich dem nüchternen Faktenbezug ohne Selbstmitleid stellt. Und der Jammer fasst ihn an. Wunschseufzer mögen einem Menschen in vergleichbarer Verfassung über die Lippen kommen: »Ich mag noch nicht sterben!«, bevor es dann heißt: »Das Leben ist kurz, aber die Stunde ist lang.« Gemäß der »psychischen Realität«, gemäß dem Imperativ der Wünsche ist das Leben nicht lang genug; wün-

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schenswert wäre es, lang und ausgedehnt zu leben, wenn es eine Zeit ohne Qual und Schmerz sein darf. Doch attackiert vom großen Unbehagen beim Letzten Abschied steht für Dubslav und steht für alle, denen es geht und gehen wird wie ihm, die Angst, stehen »Anfälle von Angst« im Zentrum. Das Gehobensein als sittlicher Mensch ist an dieser Stelle nicht möglich. Ein gelungenes Wortspiel über das scheinbar widersprüchliche Erleben von Zeitlichkeit, die Intoleranz von Unlust, die Verflüchtigung von Gelassenheit in der »Lebensnot« kann der Autor Fontane seinem Dubslav aber noch in den Mund legen. »Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er ›Tod‹ heißt, darf uns nicht schrecken«. Mir bedeutet die hier erwähnte Passage persönlich viel, ebenso Becketts Müüüüüdesein und das Laufen ohne Ziel; warum das so ist, will ich im Folgenden schildern. Auch meine betagte Mutter dachte ein wenig wie Dubslav, als sie sah, dass es bald zu Ende gehen würde. Eine Altersleukämie machte sie zunehmend müde, ein Darmkrebs kam später hinzu und verstärkte die langen und immer längeren Phasen extremer Müdigkeit und Ermüdbarkeit. Sie litt keine Schmerzen, sie genoss gelegentlich Phasen des Vor-sich-Hindämmerns im entspannten Liegen, besonders da sie als gesunder und rüstiger Mensch im höheren Lebensalter wenig und schlecht geschlafen hatte. Ihr Denken und ihr Gedächtnis waren intakt, sie war gern allein und dachte über ihr Leben nach. Nur andeutungsweise ließ sie uns, ihre beiden Töchter, wissen, was sie beschäftigte, nur, dass sie eine Zwiesprache mit sich selbst hielt, in der es bezüglich der eigenen Person keine freundlichen Illusionen oder rückblickenden Verklärungen gab. Verfehlte Hoffnungen, vermiedene Anstrengungen, Irrtümer und Fehlschläge – damit konfrontierte sie sich, ohne Selbstmitleid oder die Haltung einer Unglücklichen; es war eher Wahrheitsstolz, der sie leitete, der keine Besänftigung duldete, der uns Eindruck machte, der uns schweigend zurückließ. Tröstungen jeglicher Art lehnte sie ab. Mit einer gewissen Spottlust hätte sie äußern können: Gelaufen bin ich, aber ohne Ziel. Lange habe ich mich darüber getäuscht. Sie wollte nicht, dass man ihrer gedachte. Anonyme Stätten gibt es bekanntlich heute auf den Friedhöfen. Die Asche aus dem Kre-

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matorium kann man dort verstreuen. Ein letzter Weg führte Verwandte und Freunde nach ihrem Tod dann eben doch zur anonymen Stätte, auch Blumen brachten wir mit; es freute uns zu sehen, dass auch andere Hinterbliebene an der kahlen grauen leeren Stätte kleine Zeichen des Gedenkens an die Ihrigen hinterlegt hatten. Dass unsere Mutter so viel Entfernung zu ihren Töchtern am Ende des Lebens aufgebaut hatte, das entrückte sie uns zur Unzeit. Dass unsere Mutter sich im Rückzug der tödlichen Krankheit einer Inspektion ihres Lebensweges aussetzte, in dem sie viele »Irrungen und Wirrungen« erkannte, um noch einmal einen Roman von Theodor Fontane zu erwähnen, das bewundere ich als geistige Vitalität und als kühle Klugheit im Illusionsverzicht, an der Grenze des Lebens. So erschien sie uns bei aller Mattigkeit des Leibes überhaupt nicht matt, nicht glanzlos, nicht entfärbt; es war geradezu juvenile Kühnheit und respektabler Eigensinn, der ihren unnachsichtigen Geist belebte. Und das war nicht nur Lebendigkeit an der Schwelle zum Tod, sondern auch Eigenregie im Lebensrückblick: Sie selbst ist Autorität in Bezug auf die Bewertung und Würdigung des eigenen Lebens, ist Richterin und Gerichtete zugleich beim selbstbestimmten Jüngsten Gericht. Dass unsere Mutter wünschte, ihren Tod als endgültige Auslöschung zu verstehen, ein Nicht gedacht soll ihrer werden zu verlangen, ist für uns, die wir ja gar nicht gehorchen können, nicht anders können als ihrer zu gedenken, ein harter Stoß. Doch auch hier beeindruckt sie uns durch die Übernahme der Sache in Eigenregie: das Vergessen fordern, statt vergessen zu werden. Dass unsere Mutter sterben durfte, ohne Schmerzen zu leiden, ist ein kostbares Geschenk. Der Komfort der körperlichen Entspannung ging einher mit der Arbeit eines scharf sezierenden Urteilens. Das führte zwar nicht zu Milde und Gelassenheit und zu freundlicher Souveränität, doch gelegentlich zu leiser Ironie und Spottlust. Ach, wäre nur dies nicht geschehen: Die Wohnung unserer Mutter stand zur Weitervermietung aus. Und wie es heute so ist, einige Fotos der Wohnung waren im Internet zu sehen. Doch handelte es sich nicht um Bilder der leeren Räume, sondern man sah das private Zuhause unserer Mutter mit einigen Möbeln, Gegenständen,

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Kleidungsstücken, aber bereits gestapelt oder entfernungsbereit verschoben. Restmüll. Kann weg. Wird gleich weg sein. Der Ort, an dem sie gelebt hat, das Zuhause, das sie gestaltet hat, das von ihrem Leben zeugt, diesen Ort hat es kurz nach ihrem Tod nicht mehr gegeben. Das war ihr recht. Die achtlosen Fotos hätte sie nicht geduldet. Auch wir, zutiefst betrübt und empört, duldeten sie nicht. Sie wollte nicht jemand sein, dem man achtlos begegnet, ihr Ringen um ein Ende in Hellsichtigkeit für sich selbst sollte letztlich durchaus gesehen werden. Während ich dies schreibe, steht diese schöne und kluge und eben auch eigensinnige und ungemein zarte Frau mir vor Augen. Ich beweine sie, die stolze Agnostikerin, und will ihr doch eine Zeile sagen, die ich zufällig gefunden habe: »Der Himmel übt an Dir Zerbrechen«; dies ist der Anfang eines Gedichts von Nelly Sachs und zugleich das Motto eines Kunstkatalogs, in dem der Maler und Bildhauer Romain Finke (2007) fotografische Abbildungen einer sakralen Rauminstallation präsentiert. Diese Installation zeigt ein Fadenkreuz, in dessen Zentrum ein lichtvoll filigranes Gebilde sich anmutig öffnet und gleichsam schutzlos preisgibt, zum Abschuss frei, wenn man so will, zur Andacht einladend, in seinem Licht. Ist es nicht herrlich, dass in himmlischen Sphären geübt wird? Dem Ironievergnügen unserer Mutter hätte das gefallen. Wer übt? Die trotzige Sterbende? Der Himmel? Wer oder was zerbricht? Das Himmelsgewölbe? Der fragile Leib? Die trotzige Seele? Nelly Sachs lässt das zu unser aller Erheiterung offen.

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Vom Nichtverstehen, dem Todestrieb und anderen Todesphänomenen der Psychoanalyse Eine persönliche Theoriegeschichte

In den folgenden Abschnitten soll zunächst vom Nichtverstehen die Rede sein sowie vom Todestrieb und anderen metapsychologischen Todeskonzepten. Anschließend berichte ich von einer Begebenheit, die mich als Dozentin mit dem Todesthema konfrontiert hat, sowie von Erfahrungen, die ich in der psychoanalytischen Praxis sammeln konnte. Zum Schluss will ich begründen, weshalb ich mich in der Kur dem Irreduziblen nicht mehr entgegenstemmen möchte.

Das Nichtverstehen als Todesmoment und Einstieg in die Psychoanalyse Mein Interesse an der Psychoanalyse hängt eng mit einigen Erfahrungen zusammen, die ich an der legendären »Sigmund Freud Schule Berlin« gemacht habe. Ich erinnere mich, wie ich dort neben Vorträgen erstmalig zu Lacan, etwa der Lacan’schen Signifikantentheorie (Lacan, 1986a, S. 19 ff.), dem »Ich in der Technik der Psychoanalyse« oder zu Gödels Unvollständigkeitstheorem auch eine Reihe literaturwissenschaftlicher Vorträge zu hören bekam, mit denen ich trotz eines romanistischen Literaturstudiums so gut wie nichts anfangen konnte. Meiner Erinnerung nach lag das nicht allein an dem Neuheitswert der behandelten Gegenstände und Themen, sondern hatte vor allem mit der Art und Weise zu tun, wie ich aufnahm, was da zu hören war. Ich verstand es nämlich zum größten Teil gar nicht. Ich möchte fast sagen, dass mein

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Vom Nichtverstehen, dem Todestrieb und anderen Todesphänomenen249

damaliges Hören so eingeschränkt war, dass an diesen Reden nur noch Grammatik und Semantik einen Wiederkennungswert für mich hatten. Vielleicht erkannte ich noch einige literarische Zusammenhänge, das Allermeiste war mir aber ein Buch mit sieben Siegeln. Obwohl solche Eindrücke unbehagliche Gefühle hinterließen, zähle ich sie heute zu den faszinierendsten, die ich im Laufe der Zeit gemacht habe. Von der Gegenwart aus betrachtet, ließe sich dazu Einiges an Erklärungen anführen. Mir ging es auf einer lebenszeitlich fortgeschrittenen Stufe beinahe wie einem Kind beim Sprechenlernen, und wie dieses war ich nicht in der Lage, die Bedeutung der vernommenen Sätze zu erfassen. Wie ein Kind war ich allein vom Sinn der Worte getroffen, verstand nur, dass das Gesagte einen Sinn hatte, und musste erst lernen, aus dem Fluss des Gehörten Signifikanten herauszuhören und dazwischen Beziehungen zu erkennen. Was den Hintergrund dieses entscheidenden Nichtverstehens angeht, über das für mich paradoxerweise die Tür zur Psychoanalyse aufging, dazu habe ich heute noch andere Erklärungen bereit. So gehört in diesen Zusammenhang auch die berühmt-berüchtigte »Unleserlichkeit/illisibilité« des Lacan’schen Sprechens, mit der an die eigentümliche Qualität des Unbewussten, nämlich seine Unzugänglichkeit, erinnert sein soll. Mit einiger Berechtigung möchte ich vermuten, dass den Vortragenden der »Sigmund Freud Schule« damals daran gelegen war, ihre Zuhörer genau darauf einzustimmen, auf das Unbewusste nämlich, das schon bei Freud als topische Größe immer diese unzugängliche Todesdimension darstellt und, mit Lacan gelesen, sich vollends als die andere, fremde Dimension erweist, die sich dem Zugriff des verstehenden Hörens entzieht. Schließlich verhält es sich mit dem Unbewussten partiell nicht anders als energetisch mit den Trieben, die als Todestriebe ja ihrerseits stumm und an sich nicht zugänglich sind. Das ungefähr hätte ich als Erklärung meiner verstörenden Hörerfahrungen von damals anzuführen. Und genau das sollte, nebenbei gesagt, manchmal wieder in Erinnerung gerufen werden, wenn einem nach Jahrzehnten des Arbeitens mit der Psychoanalyse

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immer noch dieses Nichtverstehen widerfährt. Zu wissen, dass dieses Nichtverstehen mit dem Umstand zu tun hat, dass im Seelenleben eben der Tod, bzw. das Tote, alias das Unbewusste die Regie führt, macht die Sache nicht annehmbarer. Gleichwohl war einiges an Theoriearbeit und an konkreten Erfahrungen nötig, bis ich verstand, dass das Nichtverstehen in der Natur des Psychischen liegt. An erster Stelle gehörte dazu die Beschäftigung mit dem Freud’schen Todestrieb, für den ich naiverweise die Studenten in meinen frühen soziologischen Seminaren zu gewinnen versuchte, nicht ahnend, wie umstritten und affektiv aufgeladen, zumal in den Ausläuferzeiten der soziologisch und politisch dominierten Rezeption der Psychoanalyse, gerade dieser Begriff war. Dass ich mit meiner lacanianischen Definition »Das Leben denkt nur ans Sterben« (Lacan, 1980, Kap. 18) damals in den Geruch heideggerianischer Ontologisierungstendenzen geriet, hätte ich so nicht für möglich gehalten – auch nicht, dass man deshalb sozial isoliert werden konnte. Da halfen weder elaborierte Theorien noch die Haus- und Volksmärchen der Brüder Grimm, bei denen ja auf ähnliche Weise von Leben und Tod erzählt wird, etwa im Märchen von Schneewittchen, in dem es nach N. Haas (1982) um nichts anderes als um die Tatsache des symbolischen Todes geht, um den man im Leben selbst nicht herumkommt. Jeder Versuch dazu ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt. In dem Märchen wird erzählt, was geschieht, wenn man das nicht wahrhaben will, und dass es nichts nützt, dabei von anderen unterstützt zu werden, etwa von einem mitleidigen Jäger, der zum Beweis für Schneewittchens Tod die Stiefmutter mit Simulacren (den Organen eines Frischlings) zu täuschen versucht. Das Märchen lässt keinen Zweifel daran, dass das nicht gelingt, sondern die Heldin, Schneewittchen, an einem Ort tot ist – obwohl das im Märchen immer noch gut ausgeht und die Liebe über den Tod siegt. Naive Begeisterung meinerseits dennoch für die neue Idee von der unentrinnbaren Verschränkung von Tod und Leben. Möglich, dass dabei manchmal auch ein allzu genießerischer Umgang mit dem Thema einfloss, vielleicht auch ein wenig theoretisches Kokettieren damit. Und an Stoff zum Genießen war in der psychoanaly-

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tischen Theorie wahrlich kein Mangel. Im Gegenteil: Ein Theorem wie das von der »Kastration« zum Beispiel, dieser Bedingung der Sexualität, bot ausgiebig Gelegenheit, sich über lange Zeit daran zu erfreuen. Ich habe dem Thema mit der Ausarbeitung der Frage nach der weiblichen Sexualität denn auch einige Jahre gewidmet. Auch hier stellte sich dasselbe Faszinosum von Unzugänglichkeit und Unverständlichkeit wieder ein, und ich erlebte erneut diese Ambivalenz aus Anziehung und Abstoßung zugleich, wenngleich nach meinem Dafürhalten die Frage der Sexualität nun nicht mehr auf der Ebene abstrakter Begrifflichkeiten zu halten war, sondern zu praktischen Stellungnahmen herausforderte, nämlich bekämpft oder angenommen werden musste. In meiner theoretischen Biographie unterlag das einigen Schwankungen: von der Verteidigung der These von der dem Weiblichen (wenn auch nicht den biologischen Frauen) zugeschriebenen Todesdimension gegen die rein lebensbejahenden feministischen Kritikerinnen über Versuche, diese Zuschreibung innerlacanianisch als einseitig zu entlarven, bis zu dem Nachweis, dass weibliche Sexualität beim späten Lacan wider Erwarten als diskursbegründend verstanden wird. Gleichwohl war ein Restunbehagen an der Konstruktion nie ganz aufzulösen, vielmehr blieb der Eindruck zurück, dass das Weibliche wegen der kulturellen Phantasmen aus seinem Todesschatten wohl nicht herauszulösen war (Seifert, 2013). Dennoch blieb der Tod für mich theoretisch anziehend. Als ich vor kurzem alte Texte, die sich in Jahrzehnten bei mir angesammelt hatten, auf ihre weitere Verwertbarkeit hin durchsah, wurde mir das noch einmal deutlich. Unter all diesen Seminarnotizen, Vorträgen und Aufsätzen tauchte immer wieder in unterschiedlicher Ausgestaltung das Todesthema auf. Auch die darauf folgende Untersuchung über den wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse lief erneut darauf zu (Seifert, 2008). Es stellte sich nämlich heraus, dass die Psychoanalyse, sofern sie nicht derselben Logik wie die Naturwissenschaften gehorcht – weshalb sie nebenbei gesagt auch nicht mit den Neurowissenschaften vereinbar ist –, schon in ihren Begriffen durch die Alterität des Unbewussten eingeschränkt wird, genauer gesagt, durch das Nicht-

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Passende, Nicht-Einzupassende, Unassimilierbare der Psyche, das Tote. Das Tote stellte sich jetzt als Grenzpunkt psychoanalytischer Wissenschaftlichkeit heraus. An der Insistenz des Freud’schen Todesgedankens bestand mithin kein Zweifel. Texte wie »Totem und Tabu« (Freud, 1912–13a), der »Untergang des Ödipuskomplexes« (Freud, 1924d), aber auch der »Entwurf einer Psychologie« von 1895 (Freud, 1950c) machten das deutlich. Sie gaben außerdem zu erkennen, warum der Tod für die Psychoanalyse so bedeutungsvoll ist und seine Theoretisierung der Sondersituation der menschlichen Individuen Rechnung trägt, also der der menschlichen Hilflosigkeit geschuldeten »Not des Lebens«. Andererseits wurde deutlich, wie auf eben der Grundlage des Toten überhaupt die Freiheit des Begehrens und Wünschens garantiert werden kann, die ja das Ziel aller praktischen Psychoanalyse darstellt. Auf allen Ebenen wiederholte sich also der eine Gedanke, wonach das Leben, das psychische Leben, aus den Ablagerungen des Todes entspringt, dass es ein Überlebsel des Todes ist. Man konnte fast den Eindruck bekommen, bei der Philosophie Schopenhauers gelandet zu sein. Mit der Idee des Todes als absolutes Nichts, dem Nirwanaprinzip, lehnt Freud sich ja ausdrücklich an den Philosophen an (Freud, 1916–17a, S. 540), wenngleich er den Tod jetzt für seine energetischen Konzepte geltend macht, und zwar wieder auf dialektische Weise: Klassisch-philosophisch erhebt Freud nämlich zunächst die Lust zum Prinzip (Lustprinzip), will in der Lust aber eine Gegenläufigkeit ihrer selbst erkennen, eine Verneinung, Tendenz zur Abfuhr, eben das Nirwanaprinzip (Seifert, 2008, S. 183 ff.). Lust wird bei Freud deshalb nicht mehr zur Erfüllung führen, sondern, lacanianisch umformuliert, wegen der toten Restspuren partiell immer unbefriedigt ausfallen. Von Heiterkeit und unerschütterlicher Zuversicht, wie Schopenhauer sie als Folgen des Todes einrechnet (Wucherer-Huldenfeld, 1990), kann mithin kaum die Rede sein. Im Gegenteil, auch auf der energetischen Ebene erteilt Freud mit der Todesidee eine Absage an alle Glückseligkeitsund Erlösungswünsche und gibt stattdessen der stummen Not des

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Lebens und dem Widerstreit der im Seelenleben regierenden Kräfte »Eros« und »Thanatos«, Lebens-und Todestrieben Raum. Wenn vor dem Hintergrund solcher Setzungen noch immer die Frage besteht, ob Freuds Todesdenken nicht doch zu Recht als nekrophiler Pessimismus bezeichnet werden müsste, der mehr für den Einfluss sozialer Repressionen spricht, als im Wesen der Triebe begründet sein kann, mag trotzdem ins Gewicht fallen, dass Lacan in der Verneinung der Lust bei Freud – von der er nebenbei sehr berührt war – gerade die moralische Erfahrung der Psychoanalyse angelegt fand (Lacan, 1986b, S. 7 ff.). Wie dem auch sei, für mich hatte sich jedenfalls gezeigt, dass das (partielle) Misslingen der Lust mit der Begründung des Psychischen im Tod zu tun hatte und durch den Umstand verursacht war, dass Wünsche und Lust nicht nur zum Wohl der Wünschenden gemacht sind, sondern die Individuen manchmal wahrhaft untergraben.

Das Unsagbare Anfang 1995, kurz nach der Wende, war ich zu einem Vortrag vor dem Wittenberger Kreis für christliche und jüdische Gespräche eingeladen. Bezugnehmend auf die damals beunruhigende Gewaltwelle im Osten des Landes stand die Tagung unter dem Thema: »Umgang mit Haß und Gewalt in Judentum und Christentum«. Da ich zu jener Zeit sowohl mit Aggressivität und Gewalt wie mit Freuds »Moses« beschäftigt war, kam mir das Thema nicht ungelegen, und ich kam gut vorbereitet mit einem ausführlichen Beitrag angereist. Dennoch wurde die Tagung für mich zu einem Erlebnis der besonderen Art. Es fing an mit der Verwunderung über eine so noch nie gesehene heruntergekommene Stadt, immerhin schon sechs Jahre nach der Wende, machte sich fest bei den Umständen der Unterbringung, setzte sich fort im Erstaunen über die Zusammensetzung der Teilnehmer  – unter denen neben zahlreichen Christen auch vier zu DDR-Zeiten im Amt gewesene Rabbiner

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waren – und kulminierte im regelrechten Erschrecken über den Verlauf der Diskussion. Was mich so verstörte: In meinem Beitrag hatte ich, ausgehend von dem Verhältnis von Psychoanalyse und Religion, versucht, eine Skizze der psychoanalytischen Schuldethik vorzustellen, also Freuds Einspruch gegen die Überforderung durch das Gebot der Nächstenliebe, um diesem Züge einer jüdischen Ethik entgegenzuhalten und zum Schluss mit einigen Erklärungen zu Angst und Aggressivität zu enden. Alles in allem ein ambitioniertes Programm, mit dessen Ausführung ich nicht unzufrieden war. Es wurde denn auch sehr höflich, sehr freundlich aufgenommen und mit einigen wenigen Fragen honoriert, wonach man zum nächsten Beitrag überging. Befremdet und regelrecht vor den Kopf gestoßen fühlte ich mich jedoch, als, nachdem mein anfängliches Befremden über den mir ungewohnten DDR-Diskurs gewichen war, alle Erklärungsangebote nicht ankommen wollten und die Diskussion sich zunehmend auf die Frage zuspitzte: Wie konnte das geschehen, der Mord an fünf Millionen Juden? Wobei die Frage immer und immer wieder gestellt wurde, so als sei nie eine Antwort dazu versucht, nie eine gegeben worden, als wären dazu hier und jetzt überhaupt keine Sätze gefallen. Nach der Tagung, als einige der Teilnehmer noch zusammensaßen, getraute ich mich, meiner Verwunderung Ausdruck zu geben, woraufhin ich mich seitens eines jüdischen Referenten umgehend mit der Frage konfrontiert sah, ob ich wohl auch Juden zu Freunden hätte. Ich verstand immer weniger. In der Nacht darauf dachte ich ernsthaft an vorzeitige Abreise. Davon hielt mich nur die Höflichkeit gegenüber meinen Gastgebern ab. Doch die Wirkung der rätselhaften Botschaft dieser Tage setzte noch ein. Mit Verspätung meinte ich, etwas von ihrem Sinn verstanden zu haben: Hier hatte zum einen die Tatsache des Sprechens an sich im Raum gestanden, der zufolge Sprechen immer auf einer Todeserfahrung beruht und alles Sprechen im Grunde auf Verbindungsabbruch und Wiederholungen hinausläuft. Das gilt besonders, wenn ein erlebtes

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Grauen zugrunde liegt. Zum anderen glaubte ich erneut, und zwar auf extreme Weise, auf das schon erwähnte Nichtverstehen, Nichtzuverstehende gestoßen zu sein, auf das Undenkbare, Unfassbare, Reale, das auf so extreme Weise durch den Holocaust verkörpert wird, auf den es deshalb keine Antwort geben kann und keine gibt. Wenn eine Theoretisierung an dieser Stelle nicht unpassend wäre – obwohl das fragliche Theorem gerade aus Analyseerzählungen über den Holocaust stammen soll –, so müsste hier der Lacan’sche Begriff des Realen zur Sprache gebracht werden, der für das nicht enden wollende Unfassbare steht, für das, was »nicht aufhört, sich nicht zu schreiben« (Lacan, 1986a, S. 101 ff.). Auf Fragen, die das Reale berühren, wird man keine Antwort finden, kann man im besten Fall nur Gegenfragen erwarten. Das zu meiner Lektion in Sachen Sprechen und Tod, von der aus ich dann auch besser verstanden habe, was Freud den »Wiederholungszwang« nennt. – Das führt mich nun in die psychoanalytische Praxis.

Wiederholungszwang Aus der Praxis der Psychoanalyse war mir das Wiederholungsphänomen nur allzu gut bekannt. Es hatte mir in der Arbeit mit Analysanden des Öfteren zu schaffen gemacht. Zahllose Beispiele ließen sich dazu anführen. Trotz allseitigen Bemühens, meines eigenen wie das der Analysanden, die bei mir zusätzlich noch zahlen müssen, war manchmal nämlich nicht zu übersehen, dass einige Dinge nicht vorangingen. Im Gegenteil schien die Kur bei manchen Patienten auf der Stelle zu treten. Das mochte sich wie bei der Frau, die Frauen liebt, so auswirken, dass sie sich zum wiederholten Male in eine Frau verliebte, die lieber mit Männern zusammen war. Ein anderer fühlte sich auf jeder Arbeitsstelle aufs Neue von seinen Kollegen gemobbt und auf die Probe gestellt. Wieder ein anderer glaubte sich immer wieder von seinen Freunden ausgenutzt. Eine Analysandin schließlich kam jede zweite Stunde mit

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derselben Klage über den ungeliebten Beruf daher, ohne über die Jahre hinweg auch nur daran zu denken, etwas zu verändern. Wie bei oben genannter Erfahrung fühlte sich die Psychoanalytikerin auch hier zuweilen vor den Kopf gestoßen, machte es sie oft ratlos, zuweilen, offen gesagt, aber auch ärgerlich. Das geschah vor allem, wenn deutlich wurde, dass diesen Wiederholungen weder mit guten Ratschlägen noch klugen Erklärungen beizukommen war. Im Gegenteil, nach wohlmeinenden Hilfestellungen nahmen die Klagen beinahe zu, abgesehen davon, dass die Verantwortung für die ausweglosen Situationen jetzt unweigerlich beim anderen, nämlich bei der Psychoanalytikerin lag, was das Symptom zusätzlich verfestigte. Es lag also kein Trost in der Erkenntnis, dass Wiederholungen dieser Art als Abkömmlinge des Todestriebs bezeichnet werden können (Freud, 1920g). Einen freundlicheren Umgang mit dem Wiederholungszwang versprachen deshalb die Inszenierungen der masochistischen Symptome. Ein Alltagsbeispiel von der Couch mag das illustrieren. Frau A. ist seit einiger Zeit in Psychoanalyse. Schon im Vorgespräch stellte sie sich als jemand vor, der Lust an perversen Inszenierungen hat. Sie lebte in einer stabilen Liebesbeziehung, pflegte aber von Zeit zu Zeit in speziellen Clubs ihren erotischen Neigungen nachzugehen. Aber nicht deswegen war sie zu mir gekommen, sondern weil sie sich oft auf eine sie belastende Weise verantwortlich fühlte. Mit ihrem Freund hatte sie denn auch einigen Grund zur Sorge, da er gesundheitlich permanent in Gefahr war. Trotzdem war es nicht in erster Linie die Krankheit des Freundes, die ihr zu schaffen machte, als vielmehr ihre Annahme, für alles und jedes zuständig zu sein und alles regeln zu müssen. Zentraler Aspekt war dabei die Angst. Aus ihren Erzählungen: Ohne es zu wollen, hört Frau A. ein Telefongespräch ihres Freundes mit an. Zunächst will sie aus dem Zimmer gehen, weniger aus Rücksichtnahme oder Diskretionsgründen, sondern weil sie befürchtet, dass dabei unangenehme Dinge für sie zur Sprache kommen könnten. »Der Lauscher an der Wand hört seine eigne

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Schand’.« Möglicherweise entdeckt sie ein heimliches Liebesverhältnis ihres Freundes. Sie kennt ja seine Schwäche für heimliche Liebschaften und hat schon das ein oder andere Mal, als sie ihre Kontrolllust nicht im Zaum halten konnte, seine Korrespondenz geöffnet und wirklich derartige Liaisons entdeckt. Dabei hatte sie, wie sie eingesteht, ihr eigener Fehler nicht davon abgehalten, ihrem Freund seine Treulosigkeit vorzuwerfen. Auch dieses Mal ist sie auf etwas Ähnliches gefasst. Trotzdem verlässt sie nicht ihren Horchposten. Was das Merkwürdige ist: Sie empfindet dabei eine Art von genussvoller Angst. Das ist ihr zwar nicht ganz neu, sie kennt das in Abwandlung aus anderen Situationen, beispielsweise von Streitigkeiten, in denen es um die Frage geht, wer die größten Opfer für die Haushaltsführung bringt. Jedes Mal genießt sie dann ihren Triumph, weil der Streit immer zu ihren Gunsten ausgeht. Am Ende muss ihr Freund ihr nämlich immer recht geben, weil klar steht, dass sie mehr Opfer gebracht hat als er. Leider sind, wie sie mit Bedauern hinzufügt, solche Situationen aber entsexualisiert. Die Episode ist, wie gesagt, nicht besonders spektakulär. Gleichwohl lässt sie erkennen, in welchem Maße hier die Angst vor dem unbeherrschbaren Zufall beteiligt ist. Das verdeutlicht besonders eine Erinnerung, die diese Analysandin am Anfang ihrer Psychoanalyse erzählte: Im Anschluss an einen Traum kam sie auf eine Episode aus ihrer Jugendzeit zu sprechen. Nach dem Abitur hatte sie ein freiwilliges soziales Jahr bei einem Auschwitzkomittee gemacht, wo sie mit einigen KZ-Überlebenden in Kontakt kam. Die Begegnung hatte fürchterliche Auswirkungen auf sie. Sie bekam das schreckliche Gefühl, als dürfe sie als Person gar nicht mehr da sein, habe keinerlei Recht dazu. Besonders bedrückend wurde das, als sie bei einem alten Paar zum Abendessen eingeladen wurde. Es gab Fleisch mit Fett, was sie einfach nicht essen kann. Während des Essens erzählte die Frau des Hauses, dass sie im KZ alle nur an Essen gedacht hätten. Sie saß da und würgte und wusste nicht, was sie mit dem Essen machen sollte. Herunterschlucken konnte sie es nicht, liegen lassen auch nicht, aber sagen, dass sie das nicht essen

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konnte, war ebenso wenig möglich. Ich weiß nicht mehr, wie sie das Problem löste, aber eines ist mir in Erinnerung: Ihr wurde in dieser Situation klar, dass sie, angesichts dessen, was »diese Leute erlebt haben«, keine Befindlichkeit und keine Gefühle haben durfte. Gemessen an denen, die dem Tod ins Gesicht gesehen hatten, hatte sie kein Existenzrecht. Insofern dieses Erlebnis an eine familiäre, speziell mit der Mutter zusammenhängende Beziehungsstruktur anschloss – die Mutter als täuschende Andere –, war ich geneigt, das hier zur Sprache gekommene Unwertgefühl, das Gefühl von Nichtexistenz – zumal sie das immer wieder einmal beschlich – zu ihren psychischen Bedingungen hinzuzurechnen. Bemerkenswert ist nun die oben genannte Lösung, die sie im Umgang mit solchen verstörend-zerstörenden Begegnungen erfunden hatte. (Ich muss hinzufügen, dass ihre Lösung mich zunächst einigermaßen befremdete, bis ich ihr schließlich meine Anerkennung nicht versagen konnte.) Sie verfiel nämlich darauf, Konfrontationen mit dem Schrecken erst gar nicht zu vermeiden. Wie das kleine Alltagsbeispiel mit dem Telefon vorführt, nahm sie Angst und Bedrohung und, sagen wir getrost, den Schrecken der Kastration jetzt nämlich selbst in die Hand. Sie nahm das unliebsame, erschreckende Reale vorweg, antizipierte es. Damit war sie den Schrecken, wie sie nach einem späteren Traum ausführte, zwar nicht los, aber sie wusste, woran sie ist, und konnte nicht mehr vom Bösen überrascht werden. Das ist auch ein Umgang mit der Kastration, und möglicherweise nicht der schlechteste. Vielleicht könnte man ihn, wie eine andere Analysandin meinte, die eine ähnliche Lösung gefunden hatte, sogar einen romantischen Umgang mit dem irreduzibel Realen nennen. Ich schließe diesen Teil mit der Versicherung, dass bei allem Einfallsreichtum der Part des Realen, des Toten nicht zu vermeiden ist. Wovon schon die Märchen erzählen.

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Wie der Psychoanalytiker mit dem Realen, dem Tod konfrontiert Es stellt sich nun die Frage, wie eine psychoanalytische Kur, von einem Psychoanalytiker zumal, der selbst davon (vom Realen) getroffen ist, auf das Reale ausgerichtet werden kann. Ein kurzer theoretischer Ausblick auf das Lacan’sche Konzept der Übertragung, mit dem ich als Psychoanalytikerin arbeite, mag das zu guter Letzt andeuten. In Lacans Verständnis der Übertragung ist nicht vorgesehen, dass der Psychoanalytiker einem Analysanden seine Gefühle mitteilt. Selbst noch so reflektierte und kontrollierte Gegenübertragungsgefühle sind nicht davon ausgenommen (Seifert, 2010). Nicht dass die Realität von Gegenübertragungsgefühlen bestritten würde; denn selbstredend geht man auch in Lacan’schen Kreisen davon aus, dass der Psychoanalytiker emotional reagiert. Man ist aber der Ansicht, dass die Mitteilung von Pychoanalytikergefühlen dem Analysanden kaum zugutekommt, weil die Übertragungsbeziehung als ein Geschehen betrachtet wird, das grundlegend nur im Sprechen existiert. In diesem Sinne nehmen nicht nur Affekte wie Ärger, Freude oder Angst – auf welcher Seite auch immer – ausschließlich vermittelt durch ihre sprachliche Einbindung Gestalt an, sondern ist auch das Tote, Reale allein aufgrund seiner Einbindung in das Sprechen und die Sprache potenziell von Belang. Weil nun aber das Reale nicht vollständig symbolisierbar ist, sondern – wie Freud schon vermerkte – weitgehend unzugänglich bleibt (Freud, 1940a, S. 52), muss es für den Psychoanalytiker selbst als ein unanalysierbares Element verstanden werden, das die Grenze seiner eigenen Analysierbarkeit und Selbstreflexion darstellt und laut Lacan’scher Sicht erst durch seine Transformation zum Objekt des Begehrens einen Platz in der Kur beanspruchen kann. Todesgeprägt wie das Begehren ist, kann es der Kur dann die Richtung geben. Wie wichtig es ist, die Kur auf das Namenlose auszurichten, wird vor allem deutlich, wenn das Sprechen in seiner Zeichenfunktion verengt wird. So erinnere ich mich an den Fall einer anfallsweise paranoischen Analysandin, die ihre unbeherrschbare Angst

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vor dem Zufall dazu brachte, sich in belastenden Situationen immer wieder von Zeichen umgeben zu sehen, mit denen sie, zur allseitigen Verzweiflung, versuchte, das Auftreten von einem Ereignis A kausal auf die Intervention von Person X oder Y zurückzuführen. In solchen Situationen ist es zum einen mein vorderstes Bestreben, den Analysanden darauf aufmerksam zu machen, dass sein Sprechen eine von ihm unabhängige, losgelöste Dimension darstellt. Niemand hat sie ganz in der Hand; sie führt neben dem Gemeinten vielmehr ein wahrhaftiges Eigenleben. Zum anderen versuche ich zu vermitteln, dass das Reden aus eben diesen Gründen immer etwas Unabschließbares mit sich führt, sodass Ungenauigkeiten, Widersinn und Täuschung normale Begleiterscheinungen des Sprechens sind. Gelassenheit und Mut auf der Seite des Analytikers vorausgesetzt, Vertrauen auf der anderen, kommt es vielleicht dazu, dass der Analysand dem Toten, Realen am Symbolischen die Anerkennung nicht weiter verweigert. Wenn das gelingt, werden wahre Wunder wahr. Der Sprache wäre ein Stück ihrer alten Zauberkraft wiedergegeben, die seit jeher seelische Veränderung hervorrufen hat, und dem Patienten nicht zuletzt einen Spielraum für sein Begehren. So hatte ich anfangs gedacht, und annähernd so denke ich noch immer, streng nach der Devise, dass im Schweigen der Rede des Analytikers das Unnennbare, Zufällige des Toten berührt werde. Ich habe im Laufe der Zeit indessen die Erfahrung gemacht, dass die Erinnerung daran manchmal zu viel sein kann. Mein Eifer in Sachen Schweigen ist mit den Jahren deshalb abgekühlt. Der Not der Analysanden vielleicht auch mehr zugeneigt, gehe ich in der Kur heute weniger dogmatisch vor und stelle dem Realen nun ausdrücklicher als zuvor die Sprachgrenze entgegen. Gleichwohl meine ich verstanden zu haben, dass die sprachliche Grenzziehung nicht notwendigerweise ernst und gewichtig ausfallen muss. Im Gegenteil. Je mehr sie sich sinnfreier Elemente bedient, desto eher wird sie gelingen. (Ein »Aha«, »Ach so«, »Hm, hm«, ein Seufzer oder ein Lacher verleihen auf ausreichende Weise symbolische Anerkennung.) Unterstützt wird mein persönlicher Kurswechsel von einer Wendung in der deutschen Lacan-Rezeption, die seit Kurzem dabei

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ist, die Grenzen der Signifikantentherapie auszumessen. (Die französischen Schulen waren schon längst auf einem anderen Stand.) Unabgeschlossenheit also noch einmal auf dem Forschungsfeld der Sprache, aber auch der Appell, weiterzumachen und dabei mit den Sinnanstrengungen nachzulassen. Und auf diese Weise, sinnfrei, dem sinnlosen Ende zu trotzen.

Literatur Freud, S. (1912–13a). Totem und Tabu. G. W. Bd. IX. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1916–17a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XI. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. G. W. Bd. XIII (S. 1–69). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1924d). Der Untergang des Ödipuskomplexes. G. W. Bd. XIII (S. 395–402). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1940a). Abriß der Psychoanalyse. G. W. Bd. XVII (S. 63–138). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1950a). Entwurf einer Psychologie. G. W. Nachtragsband. Frankfurt a. M.: Fischer. Haas, N. (1982). Fort/da als Modell. In D. Hombach (Hrsg.), Zeta 02: Mit Lacan (S. 29–46). Berlin: Rotation. Lacan, J. (1980). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. In Das Seminar, Buch II (S. 281–298). Olten: Walter. Lacan, J. (1986a). Encore. Das Seminar Buch XX. Weinheim: Quadriga. Lacan, J. (1986b). Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII. Weinheim u. Berlin: Quadriga. Seifert, E. (2008). Seele – Subjekt – Körper. Gießen: Psychosozial-Verlag. Seifert, E. (2010). Was hat Josef Breuer falsch gemacht? Zu Gegenübertragung oder Begehren des Psychoanalytikers. In H. Hierdeis (Hrsg.), Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis (S. 96–121). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Seifert, E. (2013). Lieben bis zur Dornenkrone. Das Liebesopfer in der Psychoanalyse. Lacan liest die Coûfontaine-Trilogie von Paul Claudel. RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 79 (I), S. 81–108. Wucherer-Huldenfeld, A. K. (1990). Zur Eigenständigkeit des Grundgedankens Freuds in der Rezeption der Philosophie Schopenhauers. In L. Nagl, H. Vetter, H. Leupold-Löwenthal (Hrsg.), Philosophie und Psychoanalyse. Festschrift zum Wiener Festwochensymposium anlässlich des 50. Todestags von Sigmund Freud (S. 91–120). Frankfurt a. M.: Nexus.

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Die Autorinnen und Autoren

Günther Bittner, Prof. em. Dr. phil., Dipl.-Psych., P ­ sychologischer Psychotherapeut; war Professor für Pädagogik an der PH Reutlingen sowie an den Universitäten Bielefeld und Würzburg; Psychoanalytiker in eigener Praxis; zahlreiche Publikationen zur Psychoanalytischen Pädagogik und zur Psychoanalyse; Hauptarbeitsgebiete: Pädagogik der Lebensalter, pädagogische Biographieforschung und Grundfragen der Psychoanalyse. Aktuelle Publikationen: Das Leben bildet (2011). »… von seiner Unsterblichkeit überzeugt«. Unzeitgemäßes über Tod und ewiges Leben (2012). Brigitte Boothe, Prof. em. Dr. phil.; Lehramtsstudium (Philosophie, Germanistik, Romanistik) in Mannheim; Studium der Psychologie in Bonn; war Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Arbeitsgebiete: Psychoanalyse von Erzählung, Wunsch und Traum. Letzte Veröffentlichungen u. a.: Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess (2011). Frauen in Psychotherapie. Grundlagen – Störungsbilder – Behandlungskonzepte; zusammen mit A. Riecher-Rössler (Hrsg.) (2013).Wenn doch nur – ach hätt ich bloss. Die Anatomie des Wunsches (Hrsg.) (2013). Arne Burchartz, Studium der Theologie und Erziehungswissenschaften; Ausbildung zum Psychodramaleiter (Moreno-Institut Stuttgart) und zum analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (Psychoanalytisches Institut Stuttgart); Arbeit u. a. in der Erziehungs-, Familien- und Lebensberatung, als Leiter einer Beratungsstelle und als Landesstellenleiter in der Fachaufsicht. Seit 2002 eigene Praxis in Öhringen; Dozent und Supervisor am Psychoanalytischen Institut Stuttgart; Arbeit in Supervision, Organisationsberatung und Coaching; letzte Veröffentlichung: Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen (2012). Helmwart Hierdeis, Prof. i. R., Dr. phil., war Erziehungswissenschaftler an den Universitäten Bamberg, Erlangen-Nürnberg, Innsbruck und Bozen-Brixen;

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Die Autorinnen und Autoren263

Psychoanalytiker; zahlreiche Publikationen zur Bildungsgeschichte und -theorie, zur Psychoanalyse und zur Psychoanalytischen Pädagogik, zuletzt: Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis (Hrsg.) (2010). Psychoanalytische Skepsis – Skeptische Psychoanalyse (Hrsg.) (2013). Väter in der Psychotherapie: Der Dritte im Bunde?; zusammen mit Heinz Walter (Hrsg.) (2012). Tilmann Moser, Dr. phil., humanistisches Gymnasium, Studium der Literaturwissenschaft in Tübingen, Berlin und Paris, journalistische Ausbildung in Stuttgart, danach Studium der Soziologie, Promotion über Jugendkriminalität. Ausbildung zum Psychoanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. 1969–1978 Dozent dort am Fachbereich Jura; seit 1978 private Praxis in Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse und Spätfolgen des Dritten Reiches, Psychoanalyse und Körperpsychotherapie; Psychoanalyse und religiöse Störungen. Zahlreiche Publikationen, in den letzten Jahren vermehrt zu Fragen der Kunst und der Literatur (siehe dazu auch die Homepage http:// www.tilmannmoser.de/). Bernd Nitzschke, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DGPT). Während und nach dem Studium der Psychologie, Philosophie und Politik als Lektor (Rowohlt und Kindler) sowie als Wissenschaftsjournalist (u. a. »Die Zeit«) tätig. Von 1979 bis 1987 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Klinischen Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Düsseldorf. Seit 1988 in Düsseldorf in eigener Praxis niedergelassen. Lehranalytiker, Supervisor und Dozent am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Psychoanalyse. Letzte Veröffentlichung: Die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Konzepte und Begriffe (Hrsg.) (2010). Hans-Werner Saloga, analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, seit 1985 in eigener Praxis in München; Dozent an der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP) und akkreditierter Dozent der Psychotherapeutenkammer (PTK) Bayern. Arbeitsschwerpunkte: Auseinandersetzung mit der »Sprache«, also den speziellen Ausdrucksmitteln junger Menschen in konflikthaften Lebenssituationen, insbesondere im Bereich dissozialer Störungen und Delinquenz, lebensverkürzender Krankheiten einschließlich Sterben und Tod und Asperger-Autismus; Fortbildungstätigkeit und Veröffentlichungen zu psychoanalytischen und behandlungstechnischen Fragen. Edith Seifert, Dr. phil., Priv.-Doz., Psychoanalytikerin in Berlin, Supervisorin. Lehrtätigkeit an der Universität Innsbruck. Veröffentlichungen u. a.: Was will das Weib? Begehren und Lust bei Freud und Lacan (1987). Die Wette auf das Unbewusste oder Was Sie schon immer über Psychoanalyse wissen wollten;

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Die Autorinnen und Autoren

zusammen mit Iris Hanika (2006). Seele – Subjekt – Körper. Freud mit Lacan in Zeiten der Neurowissenschaft (2008). Angelika Staehle, Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (DPV/IPV), Lehranalytikerin und Supervisorin, Gruppenlehranalytikerin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur psychoanalytischen Behandlungstechnik von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, zu Träumen, Trauer, autistischen Phänomenen, Symbolisierungsstörungen und Gruppenanalyse. Letzte Veröffentlichung: The Threatening Character of Change. An Approach With Patients Who Experience Progress As Trauma. In H. B. Lewine, L. J. Brown (Eds.) (2013), Growth and Turbulence in the Container/Contained: Bion’s Continuing Legacy (pp. 265–282). Wolfgang Wiedemann, B. A., B. A. (Beh. Sc.), Dr. theol.; Psychoanalytiker in eigener Praxis und evangelischer Seelsorger am Städtischen Klinikum Fürth/ Bayern. Veranstaltungen an der Universität Innsbruck zur Praxis der Psychoanalyse außerhalb des klinischen Settings; Publikationen zur Beziehung zwischen Psychoanalyse und Religion, z. B.: Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen. Das Heilsame an psychotischer Konfliktbewältigung (1996); Arbeiten zu W. Bion, z. B.: Wilfred Bion. Biografie, Theorie und klinische Praxis des »Mystikers der Psychoanalyse« (2007).

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402436 — ISBN E-Book: 9783647402437