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German Pages 346 [345] Year 2015
Doris Weidemann Interkulturelles Lernen
Doris Weidemann (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Interkulturelle Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturpsychologie und interkulturelles Handeln mit dem Länderschwerpunkt China.
Doris Weidemann
Interkulturelles Lernen Erfahrungen mit dem chinesischen ›Gesicht‹: Deutsche in Taiwan
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Essen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2004 transcript Verlag, Bielefeld zugl. Dissertation, Chemnitz, 2004 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Arne Weidemann, Chemnitz Lektorat & Satz: Doris Weidemann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-264-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Vorbemerkung
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Einleitung
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1. Interkulturelles Lernen im Ausland Einleitung Akkulturation Akkulturation während Auslandsaufenthalten Akkulturation westlicher Ausländer in China und Taiwan Kritik Interkulturelles Lernen Interkulturelles Lernen aus psychologischer Sicht Interkulturelle Lern- und Entwicklungsmodelle Schlussfolgerung
17 17 19 21 24 30 33 35 44 55
2. Alltagstheorien Hintergrund und Forschungsfeld Alltagstheorien und interkulturelle Interaktionen Unterschiedliche Alltagstheorien der beteiligten Akteure Alltagstheorien über den Ablauf interkultureller Interaktionen Veränderung von Alltagstheorien Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien Begriffsbestimmung Kommunikative und explanative Validierung Modifikation Subjektiver Theorien Kritik Schlussfolgerung
59 59 61 62 64 65 66 67 71 75 78 80
3. ‚Gesicht‘ ‚Gesicht‘– ein universales Konzept? Lian und Mianzi – zwei Facetten von ‚Gesicht‘ Konstituenten von ‚Gesicht‘ Moralische Integrität Fähigkeit Status Kultiviertheit ‚Gesicht‘ in der sozialen Interaktion
83 83 87 89 91 92 92 92 93 5
INTERKULTURELLES LERNEN
Das eigene ‚Gesicht‘ verlieren Anderen ‚Gesicht‘ nehmen Das eigene ‚Gesicht‘ mehren Anderen ‚Gesicht‘ geben Das eigene ‚Gesicht‘ wahren Das ‚Gesicht‘ anderer wahren ‚Gesicht‘ in deutsch-chinesischen Interaktionen ‚Gesicht wahren‘ und ‚Gesicht verlieren‘ ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘
94 94 94 95 95 96 98 99 103
4. Zielsetzung der empirischen Untersuchung
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5. Durchführung der empirischen Untersuchung Der Untersuchungsort: Taiwan als Lebensumfeld Materielle Lebensbedingungen Zur Lebenssituation deutscher Studenten in Taiwan Zur Lebenssituation deutscher ‚Expatriates‘ in Taiwan Meine eigene Lebenssituation Ereignisse im Befragungszeitraum Teilnehmer der Untersuchung Untersuchungsablauf Testphase Kontaktanbahnung Erstes Interviewtreffen Erstellen des Interviewtranskripts und Strukturbildentwurfs Erstes Strukturlegetreffen Zweites Interview- und Strukturlegetreffen Drittes Interview- und Strukturlegetreffen Untersuchungsablauf im Überblick Erhebungsmethoden Offenes Interview zur allgemeinen Lebenssituation in Taiwan Teilstrukturiertes Interview zum Thema ‚Gesicht‘ Strukturlegeverfahren Auswertung Interview und Strukturbild zum Thema ‚Gesicht‘ Interview zur allgemeinen Lebenssituation
109 109 109 112 114 118 119 120 122 122 122 123 123 124 124 124 124 125 126 130 134 137 138 140
6. Der Lernprozess im Spiegel der Strukturbilder Das Datenformat am Beispiel Weber Wissen über ‚Gesicht‘: Übersicht über die Inhalte der Strukturbilder Definition ‚Gesicht‘ verlieren ‚Gesicht‘ nehmen ‚Gesicht‘ haben ‚Gesicht‘ geben
143 144 152 152 153 156 159 161
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INHALTSVERZEICHNIS
Veränderung der formalen Strukturmerkmale über die Zeit Zunahme von Inhalten und Relationen Ungleichmäßige Repräsentation der vier Themenfelder Lernverläufe Veränderung der Wissensinhalte Neue Inhalte sind erfahrungsnah Der Machtaspekt von ‚Gesicht‘ als vorrangiges Lernfeld Neue Inhalte sind häufig negativ gefärbt Zusammenfassung und offene Fragen
163 163 164 164 165 165 172 174 176
7. Einzelfallanalysen Denise Biographischer Hintergrund Übergriffe des Fremden Schlussfolgerungen für den Lernprozess Matthias Biographischer Hintergrund „Von der Fremde zur Heimat“: Fremdheit und Befremden Schlussfolgerungen für den Lernprozess Klaus Biographischer Hintergrund Taiwan als Feld von Möglichkeiten Schlussfolgerungen für den Lernprozess Stefan Biographischer Hintergrund Das Vermeiden von ‚Fehlern‘ und Identifizieren von Fremdheit Schlussfolgerungen für den Lernprozess Marion Biographischer Hintergrund ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Bezogenheit‘ Schlussfolgerungen für den Lernprozess Schneider Biographischer Hintergrund Kontrolle und Handlungsfähigkeit Schlussfolgerungen für den Lernprozess Zusammenfassung und Schlussfolgerung
181 183 183 185 197 199 199 201 208 210 210 212 222 223 223 225 237 239 239 240 255 256 256 257 267 269
8. Fallvergleichende Analysen Die Bedeutung chinesischer Sprachkenntnisse Funktionen chinesischer Sprachkenntnisse Schlussfolgerung Lernstrategien Quellen neuen Wissens über ‚Gesicht‘ ‚Aktive‘ und ‚passive‘ Nutzung von Quellen neuen Wissens Schlussfolgerung
273 273 274 283 284 284 286 291 7
INTERKULTURELLES LERNEN
Bewusstheit (‚Awareness‘) für ‚Gesicht‘ ‚Gesicht‘ im Alltag erkennen Schlussfolgerung Der Einfluss der Untersuchung Sensibilisierung für ‚Gesicht‘ Andere Einflüsse Schlussfolgerung Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
292 292 295 296 296 298 298 299
9. Diskussion Ergebnisse und Kritik der empirischen Längsschnittstudie Voraussetzungen und Verlauf ‚interkulturellen‘ Lernens Ethnozentrismus – Ethnorelativismus Lernstrategien Dissonanzerleben Interkulturalität Unterstützung informellen Lernens im Ausland Erweiterung der Lernstrategien Interkulturelles Training / Coaching Fazit
301 301 306 306 307 307 311 315 316 317 318
10. Zusammenfassung
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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
323
Literatur
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VORBEMERKUNG
Der diesem Buch zugrunde liegende Forschungsprozess, der einen zweijährigen Aufenthalt in Taiwan beinhaltete, aber nicht mit diesem endete, bedeutete nicht nur eine geographische, sondern auch eine wissenschaftliche Reise: War mein Ausgangspunkt die psychologische Beschäftigung mit interkulturellen Begegnungen, denen ich mittels eines theoretisch bereits explizierten Konzepts zu Leibe zu rücken versuchte, so wurde im Ausland rasch deutlich, dass die Realität ‚interkulturellen‘ Lebens sich nicht ohne weiteres den theoretischen Annahmen einpassen ließ. Der von mir mitgebrachte Interviewleitfaden wich daher bald einem offeneren Interviewformat, das Raum schuf für ausführliche Erfahrungsberichte meiner Gesprächspartner. Es ist der Mitteilungsbereitschaft, Offenheit und Ausdauer meiner Interviewpartner zu verdanken, dass diese Interviews schließlich nicht nur Auskunft über individuelle Lernprozesse geben, sondern darüber hinaus die Grenzen aufzeigen, an die eine Psychologie interkulturellen Handelns gerät, wenn sie individuelle Erfahrungen, Krisen und Veränderungen verstehen will. Die Teilnahme an den Interviews war nichts, was sich ‚nebenbei‘ erledigen ließ. Für einige meiner Gesprächspartner bedeutete sie, dass sie sich von Geschäftsterminen freihielten, mich zu einem Essen in ihrem Haus empfingen oder sich mit ausführlichen Notizen auf das Treffen vorbereiteten. Für alle Teilnehmer bedeutete sie ein bisweilen hartnäckiges Ringen um ein geteiltes Verständnis von Worten und Begriffen. Dass alle Interviewpartner bis zum Schluss an der Untersuchung teilnahmen, ist bemerkenswertes Zeichen ihrer Auskunftsbereitschaft und ihres Engagements. Bei ihnen allen möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Personen und ohne die gewährten Forschungsfördermittel nicht zustande gekommen. Für finanzielle Unterstützung danke ich dem DAAD, der den Forschungsaufenthalt in Taiwan ermöglichte. Mein Dank gilt ferner dem Kulturwissenschaftlichen Institut, das neben einem Stipendium eine anregende Arbeitsumgebung in der Phase der Datenauswertung gewährte und die Drucklegung des Manuskripts finanzierte. Hanns-Dietrich Dann danke ich für seine Unterstützung in der Anfangsphase. Hwang Kwang-kuo und Hsu Kung-yu gewährten in Taiwan wichtige Hilfe und ermöglichten mir die Teilnahme am sozialpsychologischen Forschungskolloquium der National Taiwan University. Chris Merkelbach, Heidi Fung, Michael Varnhorn und Heinrich Lohmann verdanke ich die Gelegenheit 9
INTERKULTURELLES LERNEN
zum Gedankenaustausch und zahlreiche fruchtbare Gespräche in Taipei. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Alex Chen, ohne dessen Freundschaft und lebenspraktische Hilfe in Taiwan vieles schwieriger und das meiste lange nicht so schön gewesen wäre. Wichtigster Begleiter während des gesamten Forschungsprozesses war Arne Weidemann. In zahlreichen Diskussionen mit ihm sind wichtige Gedanken dieser Arbeit gereift. Seine Flexibilität und sein Mut zum Abenteuer gaben für die Entscheidung, trotz aller damit verbundenen Unwägbarkeiten nach Taiwan umzuziehen, den Ausschlag. Jürgen Straub gebührt das Verdienst, manche dieser Unwägbarkeiten in konstruktiver Weise beseitigt zu haben. Ihm danke ich für seine Offenheit und wissenschaftliche Neugier sowie für die vielfältige gewährte Unterstützung und Freundschaft. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Eltern und Schwiegereltern sowie Askan und Tiemo, ohne die ich die wirklich wichtigen Dinge in Taiwan – und anderswo – nie erlebt hätte.
Anmerkung zum Sprachgebrauch Einwohner Taiwans werden laut Duden als ‚Taiwaner‘ bezeichnet. Umgangssprachlich haben sich jedoch die Bezeichnungen ‚Taiwanese‘ bzw. ‚Taiwanesin‘ eingebürgert, die auch – bis auf eine Ausnahme – von meinen Interviewpartnern benutzt werden. Um die begriffliche Einheitlichkeit des Gesamttextes zu bewahren, folge ich in dieser Arbeit dem Sprachgebrauch meiner Interviewpartner, nicht dem Duden. Chinesische Begriffe, die von meinen Gesprächspartnern in den Interviews benutzt werden, wurden in der Standardumschrift Hanyu Pinyin verschriftlicht. Zitate wissenschaftlicher Quellen werden wörtlich mit der jeweils von den Autoren verwendeten Umschrift wiedergegeben. Die Schreibweise ‚Taipei‘, (statt deutsch ‚Taipeh‘) folgt der in Taiwan gebräuchlichen Bezeichnung.
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EINLEITUNG Von Europa nach Taiwan zu ziehen, in ein Land, dessen Sprache, Bräuche, Traditionen völlig anders sind als bei uns, sprengt den Rahmen des Gewöhnlichen. Gefragt sind dabei Flexibilität und Lernbereitschaft, denn das Wissen, auf das wir uns sonst bei der Bewältigung unseres Alltags stützen können, trägt plötzlich nur noch bedingt und versagt in vielen Situationen völlig. Wo findet man die Dinge des täglichen Bedarfs, wie initiiert man Kontakte, wie äußert man Kritik – oder lässt man manches lieber bleiben? Der Wechsel in eine fremde Umgebung ist (auch wenn dieser nicht das Überbrücken einer großen räumlichen Entfernung einschließt) stets mit dem Erleben von Unsicherheit verbunden: Gewohnte Erklärungsmuster reichen in der neuen Situation nicht mehr aus, die eigene Handlungsfähigkeit ist eingeschränkt. Das Fehlen von Orientierungssicherheit und einer mit anderen selbstverständlich geteilten Weltsicht waren für Schütz (1964) Wesensmerkmale eines Lebens in der Fremde und sind auch für Deutsche in Taiwan die Ausgangsposition, aus der heraus sie verstehen lernen (müssen), wie ihre neue Umwelt funktioniert und wie sie sich in ihr zurechtfinden. Dass hierbei mit Problemen und Irritationen zu rechnen ist, legen zahlreiche Berichte und wissenschaftliche Arbeiten nahe, die sich mit deutschchinesischer Kommunikation oder den Erfahrungen von deutschen Managern und Studenten in China oder Taiwan beschäftigen. Immer wieder werden typische Interaktionsschwierigkeiten beschrieben, doch ob und wie im Verlauf eines längeren Aufenthaltes vor Ort Handlungs- und Interpretationssicherheit hergestellt wird und welche Merkmale solche Lernprozesse bei verschiedenen Personen aufweisen, ist eine noch unbeantwortete Frage. So bleibt es einstweilen bei der paradoxen Behauptung, dass interkulturelle Interaktionen (zumal von Deutschen und Chinesen) konflikthaft seien, Personen jedoch nach mehreren Jahren Kulturkontakt über (inter)kulturelle Kompetenz verfügten. Wie jedoch, stellt sich die Frage, verläuft der Lernprozess, der zwischen beiden Zeitpunkten stattfinden? Welcher Weg führt von der in interkulturellen Interaktionen erlebten Irritation hin zu Deutungs- und Verhaltenssicherheit – und sind mit diesen Begriffen die Eckpunkte des Lernprozesses zutreffend markiert? Die Relevanz dieser Frage muss heute wohl kaum begründet werden. ‚Interkulturelle Kompetenz‘ wird in zahlreichen Kontexten gefordert und wird nicht nur international tätigen Managern und Experten, sondern auch dem ‚normalen‘ Bürger abverlangt, der in seinem persönlichen Umfeld mit ‚kulturell anderen‘ konfrontiert ist. Die Forschung hat an dieser Stelle vor allem dazu beigetragen, die Herausforderungen und Probleme interkultureller Begegnungen zu verstehen, ganz so, als sei ein Verständnis möglicher Interaktions11
INTERKULTURELLES LERNEN
schwierigkeiten schon Garant für ein besseres Gelingen interkultureller Kommunikation. So beruht etwa die Psychologie interkulturellen Handelns zu einem Großteil auf der Annahme, Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg lasse sich vor allem durch eine verbesserte Kenntnis der ‚Eigen-‘ wie der ‚Fremdkultur‘ erreichen. Ihr Hauptaugenmerk ist daher darauf gerichtet, kulturelle Differenzen in Interaktionen zu ergründen, zu systematisieren und den Umgang mit diesen Differenzen zu lehren. Besonders deutlich wird dieses Anliegen bei der Suche nach ‚kritischen Interaktionssituationen‘ (critical incidents), die typische Probleme bei der Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener kultureller Gruppen beschreiben und die – in aufbereiteter Form – auch in interkulturellen Trainings eingesetzt werden. Auch die ‚Akkulturationsforschung‘, die sich mit den Anpassungsprozessen von Personen bei Auslandsaufenthalten beschäftigt, setzt einen Schwerpunkt auf die Krisenhaftigkeit der gemachten Erfahrung, die sich bis zum ‚Kulturschock‘ steigern kann. Die Konzentration auf Probleme hat vielfach den Blick dafür verstellt, dass interkulturelle Interaktionen und selbst das Übersiedeln in die ‚Fremde‘ keineswegs konfliktbehaftet sein müssen und dass Personen in aller Regel konstruktive Wege finden, mit den resultierenden Herausforderungen umzugehen. Tatsächlich hat die Forschung diesen Umstand lange ignoriert, was die Theoriebildung fraglos einseitig beeinflusst oder gar behindert hat (Church, 1982). Die Interaktion mit Fremden, selbst längere Auslandsaufenthalte, sind jedoch heute so sehr der Regelfall geworden, dass die prinzipielle Gleichsetzung dieser Kontakte mit ‚krisenhafter Erfahrung‘ durch die Forschung überwunden werden sollte. Die hier vorliegende Arbeit setzt sich vom üblichen Vorgehen in der Psychologie interkulturellen Handelns ab, denn nicht Kulturkontraste, sondern individuelle Deutungs- und Erklärungsmuster sowie deren Veränderungen stehen im Mittelpunkt. Damit werden die Individuen davon befreit, Vertreter ‚ihrer‘ Kultur zu sein, und von der Annahme entlastet, sie müssten qua Definition in der Interaktion mit Personen ‚anderer‘ Kulturen auf Probleme treffen. Damit bleibt der Rahmen offen für alternative Erklärungen womöglich auftretender Schwierigkeiten, aber auch für die Wahrnehmung der Erfolge bei der Bewältigung des Wechsels in ein fremdes Umfeld. So kann der Prozess des ‚Einlebens‘ in eine zunächst fremde Umgebung untersucht werden, insbesondere aber, wie sich Alltagswissen unter den Bedingungen der neuen Umgebung im Laufe der Zeit verändert. Merkmale typischer Lernverläufe werden ebenso diskutiert wie interindividuelle Unterschiede und die Frage, ob und wie der Lernprozess – etwa durch interkulturelles Training oder Coaching – unterstützt werden kann. Damit widmet sich die Arbeit der Frage nach den Veränderungen individueller Wissensbestände unter den Bedingungen eines längeren Auslandsaufenthaltes, nicht jedoch der weiter gefassten Frage nach Akkulturation oder kultureller Anpassung (hierzu siehe zum Beispiel Berry/ Sam, 1996; Brüch, 2001; Seemann, 2000; Stahl, 1998; Ward, 1999 u.a.). 12
EINLEITUNG
Die vorliegende Arbeit beruht auf den Ergebnissen einer Längsschnittstudie, die von 1998 bis 2000 in Taiwan durchgeführt wurde. Dabei wurden vierzehn Studenten, Ingenieure und Manager aus Deutschland sowie eine Probandin aus Österreich während ihres ersten Aufenthaltsjahres begleitet und zu drei Zeitpunkten vor Ort ausführlich interviewt. Die Dokumentation der Veränderung individueller Alltagstheorien während des Auslandsaufenthaltes erfolgte unter Einsatz eines Strukturlegeverfahrens, das deren graphische Repräsentation in ‚Strukturbildern‘ ermöglicht. Am konkreten Beispiel des in Taiwan alltagsrelevanten Wissens über ‚Gesicht‘ wird der Lernprozess im ersten Aufenthaltsjahr nachvollzogen. Zusätzlich wurden in offenen Interviews Veränderungen der allgemeinen Lebenssituation der Untersuchungsteilnehmer erfragt und aufgezeichnet. Mit dieser Arbeit wird die vielfach vorgetragene Forderung nach Längsschnittstudien zur Dokumentation interkultureller Lernprozesse umgesetzt (vgl. Brüch, 2001; Kühlmann, 1995b; Sader, 1999; Stahl, 1998; Seemann, 2000; Taylor, 1994a). Der Einsatz qualitativer Methoden macht zudem eine inhaltlich ‚dichte‘ Datenbasis verfügbar, die umfangreiches Hintergrundmaterial für die Interpretation individueller Lernverläufe bereithält. Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse schließen an eine Fülle von Arbeiten an, die sich mit Verlauf und Problemen von Auslandsaufenthalten, mit den Besonderheiten interkultureller Kommunikation, Modellen interkulturellen Lernens und spezifischen Herausforderungen deutsch-chinesischer Interaktionen beschäftigen. Die Forschungsfragestellung nimmt auf diese Arbeiten Bezug, erweitert jedoch die Ansätze der Psychologie interkulturellen Handelns, indem zur Erfassung interkultureller Lernprozesse auf das Konzept ‚Alltagstheorien‘ zurückgegriffen wird (ähnlich, wenngleich nicht zur Erfassung von Lernprozessen bei Auslandsaufenthalten, tun dies zum Beispiel Lummer, 1994, oder Bender-Szymanski/Hesse, 1993). Die thematische Eingrenzung auf das Themenfeld ‚Gesicht‘ trägt dabei den Erkenntnissen zahlreicher Arbeiten zu deutsch-chinesischer Kommunikation Rechnung, die dieses Thema immer wieder als relevantes Lernfeld für Deutsche ausweisen, die mit Chinesen interagieren und kooperieren wollen oder müssen. Durch die Forschungsfragestellung dieser Arbeit werden die drei Forschungsfelder ‚Interkulturelles Lernen‘, ‚Alltagstheorien‘ und ‚Gesicht‘ in spezifischer Weise verknüpft. Ihrer Darstellung sind deshalb die ersten drei Kapitel gewidmet, bevor die Durchführung und Ergebnisse der empirischen Studie vorgestellt werden. Der Aufbau der Arbeit ist dabei folgendermaßen gegliedert: Das erste Kapitel widmet sich Studien, die zum Verständnis interkulturellen Lernens in China oder Taiwan beitragen. Da Arbeiten, die sich mit der Lebenssituation westlicher Ausländer in Ostasien beschäftigen, zumeist auf das Konzept der ‚Akkulturation‘ zurückgreifen, wird neben der Darstellung zentraler Befunde dieser Arbeiten die theoretische Tragfähigkeit des Konstrukts ‚Akkulturation‘ erörtert. Sodann werden auf der Grundlage eines psy-
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INTERKULTURELLES LERNEN
chologischen Lernbegriffs Möglichkeiten und Voraussetzungen der Definition ‚interkulturellen Lernens‘ diskutiert und problematisiert. Im zweiten Kapitel erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Alltagstheorie‘. Nachdem zunächst spezifische Anforderungen definiert werden, die ein solcher Begriff im vorliegenden Zusammenhang erfüllen muss, werden die diesbezüglichen theoretischen und methodischen Potentiale des Forschungsprogramms Subjektive Theorien erkundet. Es folgen die Bestimmung des hier verwendeten Begriffs ‚Alltagstheorie‘ sowie die Begründung der für die empirische Untersuchung gewählten ‚Strukturlegemethode‘. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Forschungsarbeiten zum Thema ‚Gesicht‘. Unter Rückgriff auf Arbeiten chinesischer und taiwanesischer Autoren wird die chinesische bzw. taiwanesische Interpretation dieses Begriffs inhaltlich präzisiert und differenziert. Sowohl aus diesen Arbeiten als auch aus anderen Quellen geht hervor, dass ‚Gesicht‘ im taiwanesischen Alltag eine hohe Relevanz besitzt, weshalb das chinesische Konzept von ‚Gesicht‘ auch in Arbeiten zu deutsch-chinesischer Kommunikation behandelt wird. Die Präsentation und Diskussion der Ergebnisse von Arbeiten, die sich der spezifischen Problematik von ‚Gesicht‘ in deutsch-chinesischen Interaktionen widmen, bilden den Abschluss des Kapitels. Auf der Basis der in den ersten drei Kapiteln vorgenommenen Präsentation der theoretischen Grundlagen, werden im vierten Kapitel die wichtigsten Ergebnisse rekapituliert und die Forschungsfrage der empirischen Untersuchung präzisiert. Das fünfte Kapitel stellt die Durchführung der empirischen Untersuchung vor. Eine kurze Einführung in die Lebensbedingungen am Untersuchungsort Taiwan vermittelt wichtiges Hintergrundwissen, bevor der Untersuchungsablauf, die eingesetzten Methoden und Auswertungsverfahren geschildert werden. Ergebnisse der Untersuchung werden in den drei nachfolgenden Kapiteln vorgestellt: Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse der Strukturbildanalyse dargestellt. Dabei werden sowohl typische Verläufe des Lernens über ‚Gesicht‘ als auch spezifische Beschränkungen der Methode sichtbar. Diese können erst in Einzelfallanalysen überwunden werden, deren Ergebnisse Gegenstand des siebten Kapitels sind. In fallübergreifenden Analysen wird sodann der Frage nachgegangen, welche Bedeutung chinesische Sprachkenntnisse sowie verschiedene Lernstrategien für das Lernen über ‚Gesicht‘ besitzen. Ergebnisse dieser Analysen sind Gegenstand des achten Kapitels. Im neunten Kapitel erfolgt die Diskussion der empirischen Befunde. Erkenntnisse und Beschränkungen der vorliegenden Arbeit werden kritisch betrachtet und mit den Ergebnissen früherer Forschung, insbesondere mit existierenden Modellen interkulturellen Lernens, in Bezug gesetzt. Dabei zeigt sich, dass Ergebnisse der empirischen Studie mit diesen Modellen aber auch mit weitergehenden Prämissen einer Psychologie interkulturellen Handelns nicht ohne weiteres vereinbar sind. Schließlich werden aus den Ergebnissen
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EINLEITUNG
der empirischen Studie Empfehlungen für die Intensivierung informellen Lernens im Ausland und für die Ausrichtung interkultureller Trainings abgeleitet.
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1. I N T E R K U L T U R E L L E S L E R N E N
IM
AUSLAND
Einleitung Ein halbes Jahrhundert der Forschung hat nur wenig Präzises über den Ablauf interkultureller Lernprozesse beigesteuert. Dies gilt gleichermaßen für induzierte, formale Lernprozesse während interkultureller Trainings wie für spontanes Lernen bei Auslandsaufenthalten. Dass in beiden Fällen (zumindest idealerweise) gelernt wird, ist unbestritten, doch fehlt es an gesicherten Erkenntnissen über Ablauf, Steuerung und Motivation interkulturellen Lernens. Fragen danach, wie und was genau gelernt wird, welche Ereignisse Lernen initiieren, welche Lernstrategien von welchen Personen mit welchem Erfolg in welchen Umwelten eingesetzt werden, müssen als weitgehend unbeantwortet betrachtet werden. Die Durchsicht der verfügbaren Literatur legt die provokante These nahe, dass diese Erkenntnislücke nicht zufällig ist: Es scheint, als wäre die Forschung noch immer damit beschäftigt, die Unterschiedlichkeit kollektiver sozialer, ‚kultureller‘ Wirklichkeiten zu entdecken, mit denen sich Menschen im Zeitalter der Globalisierung längst arrangiert haben. Die Schilderung spektakulärer Missverständnisse, die Gegenüberstellung konträrer Kulturdimensionen und die Warnung vor ‚Kulturschock‘ haben das Augenmerk auf kulturelle Kontraste und die Krisenhaftigkeit des Kulturkontakts gelenkt. Positive Gestaltungsmöglichkeiten im Umgang mit Fremde und Fremden dagegen blieben weitgehend außer Acht, und wo sie aufgezeigt wurden, fehlten zumeist theoretische Modelle und empirische Absicherungen. Interkulturelles Lernen blieb, wenn es überhaupt thematisiert wurde, ein Desiderat (im Hinblick auf das Erlangen interkultureller Kompetenz) und wurde nur selten als beobachtbare Praxis thematisiert. 1 Im Vordergrund der Forschung stand deutlich die Beschäftigung mit der Zieldimension des – häufig nur implizit vorausgesetzten – Lernprozesses, die, je nach Forschungsansatz und Erkenntnisinteresse, als ‚interkulturelle Kompetenz‘, ‚Akkulturation‘ oder ‚interkulturelle Identität‘ definiert wurde. Die Forschung liefert so ein eigenartig unvollständiges Bild, das sich grob vereinfacht wie folgt darstellt: Die Problematik interkultureller Begegnungen ist in vielfältigen Zusammenhängen beschrieben und mithilfe kulturvergleichender Studien analysiert worden. Diese Arbeiten begründen die Notwendigkeit besonderer Kompetenzen zur Bewältigung interkultureller Kontakte
1 Ausnahmen sind die Arbeiten von Thomas (1988), Orton (1999) und BenderSzymanski et al. (1995), die weiter unten dargestellt werden. 17
INTERKULTURELLES LERNEN
und leiten diese inhaltlich aus den jeweiligen Forschungsansätzen ab. Dagegen bleibt die Beschäftigung mit den Lernprozessen, die zur Erreichung jener Kompetenzen führt, deutlich unterrepräsentiert. Die viel beachtete Kritik an dieser Forschungspraxis durch Church (1982) hat nicht zu durchgreifenden Änderungen geführt. Mit Bezug auf die – damals wie heute populäre – Forschung zu Akkulturation bei Auslandsaufenthalten urteilte Church: „the development of theories of sojourner adjustment has probably been inhibited by the frequent emphasis ... on the identification of adjustment problems and sojourn outcomes rather than on the dynamics of the process of adjustment“ (S. 562-563). Zwölf Jahre später kommt Taylor im Hinblick auf die Erforschung interkultureller Kompetenz zu einem ähnlichen Schluss, wenn er schreibt: „Little if any research has approached the concept of intercultural competency from a learning perspective, that is, how participants learn to become interculturally competent“ (Taylor, 1994a, S. 154, Hervorhebung im Original). Auch für den heutigen Stand der Forschung sind diese Beobachtungen noch weitgehend zutreffend. Die hier unternommene Untersuchung von Lernprozessen deutscher Manager und Studenten in Taiwan soll einen Beitrag zur Schließung der beschriebenen Forschungslücke leisten. Gleichwohl beschreitet sie kein völliges wissenschaftliches Neuland. Mit der Wahl des Untersuchungsortes Taiwan schließt die Arbeit an eine Fülle von Beiträgen zu deutsch-chinesischer Kommunikation an. 2 Zugleich kann sie auf Studien zurückgreifen, die sich mit Le2 Die Annahme, es hier mit einem im weiteren Sinne von Taiwan und der VR China geteilten ‚chinesischen‘ Kulturraum zu tun zu haben, bedarf in verschiedener Hinsicht der Begründung. Diese Annahme beruht hier auf einer kulturwissenschaftlichen Perspektive und beinhaltet keinerlei politische Aussagen (z.B. zum nationalen Status beider Entitäten). Mir ist bewusst, dass politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Taiwan und der VR China unterschiedliche Lebenskontexte hervorgebracht haben, die sich nicht ohne weiteres einem einheitlichen Begriff ‚chinesischer‘ Kultur unterordnen lassen. Dass ich dennoch an dem Oberbegriff ‚chinesisch‘ (wie in ‚deutsch-chinesische Kommunikation‘) festhalte und Literatur, die sich speziell mit der VR China beschäftigt, für diese Arbeit heranziehe, beruht auf folgenden Überlegungen: a) im Rahmen der Arbeit geht es um soziale Phänomene (insbesondere ‚Gesicht‘), die von taiwanesischen und chinesischen Sozialwissenschaftlern ohne weitere Differenzierung als ‚chinesisch‘ beschrieben werden (siehe z.B. die Beiträge in dem von Bond (1996) herausgegebenen „Handbook of Chinese Psychology“); b) angesichts spärlicher Literatur zu deutsch-taiwanesischen Interaktionen stellen Interaktionen zwischen Deutschen und Chinesen der VR China die beste Annäherung an diese dar; c) für die Selbstund Fremdwahrnehmung von Deutschen in Taiwan spielt die Zuordnung Taiwans zum chinesischen Kulturraum eine bedeutsame Rolle. ‚Taiwanese‘ und ‚Chinese‘ sind hier vielfach austauschbare Begriffe. Für die Durchführung der empirischen Untersuchung in Taiwan sprachen angesichts der langen erforderlichen Aufenthaltsdauer die geringeren bürokratischen Hürden bei der Durchführung eines freien Forschungsprojekts sowie eigene Ortskenntnis und Kontakte. 18
INTERKULTURELLES LERNEN
bensbedingungen und Akkulturation von Deutschen in China und Taiwan beschäftigt haben. Die nachfolgenden Abschnitte sind deshalb der Darstellung von Forschungsergebnissen gewidmet, die einen Beitrag zum Verständnis interkulturellen Lernens von Deutschen in Taiwan versprechen. Neben Arbeiten zur Akkulturation von Deutschen in China und Taiwan sind damit vor allem Beiträge zur Konzeptualisierung und Praxis interkulturellen Lernens angesprochen. Insbesondere wird zu begründen sein, warum in dieser Arbeit der Begriff des interkulturellen Lernens dem Konzept der Akkulturation vorgezogen wird. Auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit der herangezogenen Literatur wird abschließend eine Begriffsbestimmung interkulturellen Lernens vorgenommen, die als Ausgangspunkt der empirischen Studie dient.
Akkulturation Deutsche Studenten, Manager und Techniker in Taiwan gehören zu jener Gruppe von Auslandsreisenden, die im Englischen als ‚sojourners‘ bezeichnet werden.3 Ihr Aufenthalt im Ausland ist von vornherein zeitlich begrenzt, doch währt er länger als ein touristischer Besuch. ‚Sojourners‘ haben ihren Lebensmittelpunkt vorübergehend im Ausland, es handelt sich jedoch aufgrund der zeitlichen Beschränkung nicht um Immigranten. In den Worten von Ward et al. definiert sich ein solcher Auslandsaufenthalt wie folgt: „A sojourn is defined as a temporary stay in a new place. It occurs voluntarily for an unspecified, though relatively short, period of time. Although there are no fixed criteria for defining a sojourn in terms of its duration, 6 months to 5 years are commonly cited parameters“ (Ward et al., 2001, S. 142). Typische Vertreter dieser Gruppe sind zum Beispiel Diplomaten, Studenten, Missionare, im Ausland stationierte Militärverbände, Entwicklungshelfer und auslandsentsandte Mitarbeiter. Neben Immigranten, die schon zur vorletzten Jahrhundertwende das Interesse von Sozialforschern auf sich zogen, etablierte sich die Gruppe der ‚Sojourners‘ seit den 1950er Jahren als eigene Zielgruppe der Forschung. Das Forschungsinteresse richtet sich dabei insbesondere auf die Effektivität von Mitarbeitern im Auslandseinsatz (z.B. Kealey, 1989; Kühlmann, 1995a; Stahl, 1998; Wirth, 1992) sowie auf Wohlbefinden und Studienerfolg von Studierenden (z.B. Tanaka et al., 1994; Ward et al., 1998). Neben fachlicher Eignung gilt dabei das Ausmaß ‚kultureller Anpassung‘ oder ‚Akkulturation‘ im Gastland als wesentlicher Erfolgsfaktor, so dass die Forschung sich in großem Maße auf Konzipierung und Messung dieser Konstrukte ausgerichtet hat. Zu dieser Entwicklung haben die Arbeiten von Lysgaard (1955) und Oberg (1960), die auf die individuell erlebte Krisenhaftigkeit von Auslandsaufenthal3 In Ermangelung einer treffenden deutschen Übersetzung werde ich im Weiteren den englischen Begriff verwenden. Entsprechendes gilt auch für den weiter unten eingeführten Begriff ‚Expatriate‘. 19
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ten hingewiesen haben, einen maßgeblichen Einfluss gehabt. Die von diesen Autoren entwickelte Vorstellung eines U-förmigen Verlaufs der Anpassungskurve sowie des Erlebens eines „Kulturschocks“ (Oberg, 1960) sind bis heute leitende (wenngleich nicht unumstrittene) Annahmen der ‚Sojourner‘-Forschung und mit Konzepten ‚kultureller Anpassung‘ eng verwoben.4 Für die Untersuchung interkulturellen Lernens während Auslandsaufenthalten ist diese Forschung aus verschiedenen Gründen relevant. Unter dem Begriff ‚Akkulturation‘ werden (individuelle und kollektive) Anpassungsprozesse und deren Ergebnisse thematisiert, die sich in Reaktion auf kulturelle Verschiedenheit bzw. in Reaktion auf ein fremdes Umfeld einstellen. Es gilt zu überprüfen, ob das Konzept ‚Akkulturation‘ den Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ möglicherweise ersetzen kann, bzw. zu erkunden, in welcher Hinsicht sich beide Konzepte voneinander unterscheiden und in welcher Relation sie zueinander stehen. Die Auseinandersetzung mit dem Akkulturationsbegriff kann so zur Präzisierung der Begrifflichkeit und damit zur Entwicklung der theoretischen Grundlegung dieser Arbeit dienen. In forschungspraktischer Hinsicht ist zu erwarten, dass eine solche Auseinandersetzung zur Präzisierung der Forschungsfrage beiträgt, indem diese auf vorhandenen Erkenntnissen aufbauen kann. Da Auslandsaufenthalte bisher kaum je unter dem Blickwinkel interkulturellen Lernens, jedoch häufig in Bezug auf ‚Akkulturation‘ oder ‚kulturelle Anpassung‘ thematisiert wurden, sind Ergebnisse dieser Forschung hier die nächstliegende Quelle. Die Auswahl, Darstellung und Diskussion von Forschungsarbeiten aus diesem Gebiet geschieht in diesem Kapitel vor dem Hintergrund dieser beiden Leitinteressen. Hierbei wird nicht eine umfassende Darstellung von Akkulturationstheorien und -modellen5, sondern die Exploration der theoretischen wie forschungspraktischen Nutzbarmachung dieser Arbeiten für die Untersuchung interkulturellen Lernens von Deutschen in Taiwan angestrebt.
4 Da die Kulturschockhypothese in zahlreichen einführenden Publikationen zum Thema dargestellt ist, verzichte ich hier auf eine erneute Wiedergabe. Neben den genannten Arbeiten von Oberg und Lysgaard, geben hier z.B. die Arbeiten von Brüch (2001), Furnham/Bochner (1986), Ward/Bochner/Furnham (2001), Kühlmann (1995a) Auskunft. Eine frühe Kritik und Reinterpretation des Kulturschockkonzepts findet sich bei Adler (1975), eine konzeptionelle Weiterentwicklung bei Grove/Torbiörn (1985). Zur Frage der empirischen Stichhaltigkeit des Konzepts siehe die Studie von Kealey (1989), die Meta-Analysen von Church (1982) und Black/Mendenhall (1991) sowie die Studie von Ward et al. (1998). 5 Eine solche Darstellung findet sich z.B. bei Brüch (2001), in kürzerer Form auch bei Stahl (1998). 20
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Akkulturation während Auslandsaufenthalten Ursprünglich von Redfield, Linton und Herskovits (1936) als Phänomen auf Gruppenebene eingeführt6, wird Akkulturation in der ‚Sojourner‘-Forschung heute vor allem als individuelle (psychologische) Reaktion auf Kulturkontakt gefasst. Neben dem Begriff der Akkulturation, der in diesem Zusammenhang insbesondere mit John Berrys Arbeiten (z.B. Berry/Sam, 1996) verknüpft ist, finden auch die Begriffe ‚kulturelle Anpassung‘ (Brüch, 2001), ‚adaptation‘ und ‚adjustment‘ (Anderson, 1994; Black/Gregersen, 1991; Ward/Kennedy, 1996; Ward/Chang, 1997) Verwendung. Definitionen unterscheiden sich nicht nur je nach dem gewählten Begriff, sondern auch im Hinblick auf die von verschiedenen Autoren gewählten Interpretationen und Schwerpunktsetzungen.7 Unter diesen soll hier nur auf jene Definitionen und Modelle eingegangen werden, die die ‚Sojourner‘-Forschung in besonderer Weise geleitet haben und die auch einzelnen Arbeiten über westliche Ausländer in China zugrunde liegen. Neben dem bereits erwähnten Konzept der Akkulturation nach Berry zählen hierzu insbesondere das Modell ‚kultureller Anpassung‘ von Black und Ko-Autoren (Black/Gregersen, 1991; Black/Mendenhall/Oddou, 1991) sowie die Arbeit von Colleen Ward und Mitarbeitern (Ward, 1999; Ward/Kennedy, 1996; Ward/Chang, 1997; Ward et al., 1998). Berry und Sam (1996) orientieren sich an der Definition von Redfield, Linton und Herskovits (1936) und definieren Akkulturation als Reaktion auf Kulturkontakt, wobei sie sowohl den Akkulturationsprozess als auch dessen Ergebnis in die Definition mit einbeziehen: This chapter will employ the term acculturation to refer to the general processes and outcomes (both cultural and psychological) of cultural contact. (S. 294)
Da Personen in der Kulturkontaktsituation mit (mindestens) zwei ‚Kulturen‘ konfrontiert sind, müssen sie ihr Verhalten in Bezug auf beide ausrichten. Je nachdem, ob der positive Bezug auf eine, beide oder keine dieser Kulturen durch die Person gewünscht wird, resultieren vier mögliche Akkulturationsstrategien, die die Autoren als Integration (Bezug zu beiden Kulturen 6 „Acculturation comprehends those phenomena which result when groups of individuals having different cultures come into continuous first-hand contact with subsequent changes in the original culture pattern of either or both groups“ (Redfield/Linton/Herskovits, 1936, S. 149 in Berry/Sam, 1996, S. 293). 7 Forschungsarbeiten in diesem Bereich sind verschiedentlich klassifiziert worden. So unterscheiden z.B. Berry und Sam (1996) drei Forschungsperspektiven, die unterschiedliche Reaktionen auf Kulturkontakt ins Blickfeld rücken, so a) einfache Verhaltensveränderungen, b) Akkulturationsstress und dessen Folgen sowie c) psychopathologische Phänomene. Anderson (1994) teilt die bisherigen Modelle kultureller Anpassung in vier Gruppen ein: 1. Kulturschockmodelle, 2. Lernmodelle, 3. „journey“-Modelle und 4. Gleichgewichtsmodelle. 21
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erwünscht), Assimilation (vorrangiger Bezug auf die neue Kultur), Separation (vorrangiger Bezug auf die Herkunftskultur) und Marginalisierung (Ablehnung der Bezüge zu beiden Kulturen) bezeichnet werden. Die Wahl einer bestimmten Akkulturationsstrategie drückt sich dabei sowohl in den Einstellungen bezüglich dieser vier Alternativen als auch in konkretem Verhalten aus. Wie deutlich wird, bezeichnet Akkulturation hier zunächst eine ergebnisoffene Reaktion auf die Kulturkontaktsituation und nicht – wie der Begriff allzu leicht nahe legt – die Annäherung an die neue Kultur. Die Möglichkeit zur Verwirklichung bestimmter Akkulturationsstrategien unterliegt zugleich auch bestimmten Rahmenbedingungen des Kontakts, so zum Beispiel der von der Eigengruppe gewählten Akkulturationsstrategie, den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Gastlandes oder den Reaktionen der Gastlandsangehörigen. Akkulturationsstrategien sind insbesondere im Zusammenhang mit deren praktischen Auswirkungen (z.B. auf die psychische Gesundheit oder beruflichen Erfolg) von Interesse. Die Forschungsergebnisse sind hier jedoch uneinheitlich. Während Berry und Sam (1996) in Bezug auf Immigranten ‚Integration‘ als positivste Strategie bezeichnen, kann eine Analyse von Ward (1999) dies für ‚Sojourners‘ nicht bestätigen. Black, Mendenhall und Oddou (1991) entwerfen ‚kulturelle Anpassung‘ („international adjustment“) als Konstrukt, das sich aus drei Teilbereichen zusammensetzt. Für die von ihnen angesprochene Zielgruppe von Mitarbeitern im Auslandseinsatz unterscheiden sie: a) Anpassung am Arbeitsplatz („work adjustment“), b) Anpassung an Interaktionen mit Gastlandsangehörigen („interaction adjustment“) und c) Anpassung an allgemeine Bedingungen des Gastlandes („general adjustment“). Anpassung wird dabei von Black und Gregersen (1991) als „degree of a person’s psychological comfort with various aspects of a new setting“ definiert und operationalisiert (S. 498). ‚Anpassung‘ bezeichnet damit das subjektive Empfinden ‚zurechtzukommen‘, nicht jedoch die Übernahme fremdkultureller (Handlungs- oder Denk-)Muster oder gar eine Beurteilung des Angepasstseins durch Gastlandsangehörige. Wie Black, Mendenhall und Oddou (1991) weiter präzisieren, kann Anpassung durchaus auch darin bestehen, die äußere Situation so zu verändern, dass die subjektive Zufriedenheit wieder erreicht wird. Anpassung kann, muss aber nicht auf eine Veränderung der Person zurückgehen. Die Autoren unterscheiden hier drei verschiedene Anpassungsformen, je nachdem, ob die Veränderung bei der Person, an der Situation oder sowohl bei der Person als auch der Situation vorgenommen werden. Durch jede dieser Formen kann ein bestimmter Grad der Anpassung erreicht wird. Nach Black, Mendenhall und Oddou (ebd.) hängen Anpassungsgrad und gewählte Anpassungsform sowohl von Charakteristika der Person als auch von denen der Situation (in der Firma, in der neuen Umgebung im Allgemei22
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nen) ab. Moderierend wirken hierbei Vorerfahrungen der Person, wie zum Beispiel eine frühere Auslandserfahrung oder ein absolviertes interkulturelles Training, sowie die Passung von Person und Auslandsposition. Gemäß des Modells wirkt sich die Sozialisation im Unternehmen verstärkt auf die Anpassungsform aus, Erfahrungen außerhalb des Arbeitskontextes dagegen vor allem auf den Anpassungsgrad und dort insbesondere auf den Aspekt ‚Allgemeine Anpassung‘. Das Modell ermöglicht die Ableitung klar formulierter Hypothesen über Einflussfaktoren und Wirkzusammenhänge. Da es speziell für den Anwendungsfall auslandsentsandter Mitarbeiter konzipiert ist, erlaubt es in diesem Zusammenhang eine ‚Erfolgsmessung‘ der Entsendung, die z.B. für die Entwicklung geeigneter Auswahlinstrumente von Bedeutung ist.8 Das Modell ist Grundlage verschiedener empirischer Untersuchungen gewesen, die insbesondere auf die Überprüfung der hier generierten Hypothesen abzielten. Unter Verwendung derselben Definitionen, Operationalisierungen und Messinstrumente konnten die postulierten Zusammenhänge zwischen Voraussetzungen und Ergebnissen der Anpassung im Großen und Ganzen bestätigt werden (vgl. Black/Gregersen, 1991; Parker/McEvoy, 1993; Selmer, 1999; Stroh/ Dennis/Cramer, 1994). Auch Ward und Kollegen (Ward/Rana-Deuba, 2000; Ward/Chang, 1997; Ward, 1999; Ward/Kennedy, 1993; Ward/Kennedy, 1996; Ward, 1996) interpretieren ‚kulturelle Anpassung‘ als mehrdimensionales Konstrukt. Sie unterscheiden zwei Kategorien kultureller Anpassung, die sie ‚psychologische Anpassung‘ („psychological adjustment“) und ‚soziokulturelle Anpassung‘ („sociocultural adaptation“, ebd.) nennen. Psychologische Anpassung bezieht sich auf psychisches Wohlbefinden und Zufriedenheit im Ausland und wird in den Arbeiten von Ward und Kollegen durch den Einsatz klinischer Skalen zur Messung depressiver Symptome erfasst. Soziokulturelle Anpassung bezeichnet die Möglichkeit zu effektiven Interaktionen in der (ursprünglich) neuen Umgebung. Die Unterscheidung zwischen einer affektiven (psychologische Anpassung) und einer Handlungskomponente (soziokulturelle Anpassung) rückt verschiedene Einflussfaktoren auf die kulturelle Anpassung in den Blick. Psychologische Anpassung vollzieht sich in Abhängigkeit von existierenden Stressoren, Bewältigungsmöglichkeiten und Persönlichkeitsfaktoren. Soziokulturelle Anpassung dagegen variiert mit der Aufenthaltsdauer, der kultu8 Die zentrale Annahme in diesem Modell, nach der ‚Anpassung‘ im Ausland mit der Arbeitseffektivität positiv korreliert oder diese gar bedingt, ist allerdings nicht schlüssig nachgewiesen. Parker und McEvoy (1993) finden gar eine negative Korrelation zwischen ‚allgemeiner Anpassung‘ und Leistung (S. 372) (vgl. auch Moosmüller, 1997, S. 226). Das Problem der Definition, Operationalisierung und Messung des Auslandserfolgs ist daher durch die Verwendung des Anpassungskriteriums nur zum Schein gelöst. 23
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rellen Distanz zwischen Heimat- und Gastkultur sowie den Möglichkeiten zur Interaktion mit Gastlandsangehörigen. Soziokulturelle Anpassung wird als Ergebnis eines Lernprozesses (genauer: eines Prozesses des „culture learning“, Furnham/Bochner, 1986) interpretiert. Während der Verlauf der psychologischen Anpassung schwer vorherzusagen ist, legt die von Ward und Kollegen durchgeführte empirische Forschung für die soziokulturelle Anpassung eine anfänglich steile Lernkurve nahe, die sich nach einiger Zeit auf höherem Niveau stabilisiert (ebd.).
Akkulturation westlicher Ausländer in China und Taiwan Gilt kulturelle Anpassung generell als eine wichtige Herausforderung von Mitarbeitern im Auslandseinsatz, so trifft dies für Deutsche in China in besonderer Weise zu. China gilt nach wie vor als schwieriges Entsendungsland, denn: „Expatriates who live and work in China face environmental and work relationships radically different from those of other assignments“ (Weiss/ Bloom, 1990, S. 23; siehe auch Tung, 1986). Während in den 80er Jahren der niedrige Lebensstandard sowie begrenzte Einkaufsmöglichkeiten westlicher Güter noch entscheidend zu einer geringen Attraktivität Chinas als Einsatzort beitrugen, hat sich die materielle Situation mit dem steigenden Wohlstand der Großstädte verbessert. Nach wie vor jedoch stellen mangelnde soziale Kontakte zu Einheimischen, die in kleinen Orten fehlenden Expat-Communities und eingeschränkte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Reisen häufig genannte Probleme dar (Björkman/Schaap, 1993; Price Waterhouse, 1994). Eine der deutlichsten Schwierigkeiten besteht in der Sprachbarriere, vor der Ausländer stehen, die nicht Chinesisch sprechen. Mangelnde Sprachkenntnisse werden deshalb von befragten Managern in China und Taiwan in großer Konsistenz als spürbare Einschränkung sowohl im geschäftlichen als auch im privaten Leben genannt (Chao/Sun, 1997; Fischer/Tang, 1994; Nagels, 1996; Weiss/Bloom, 1990). Hinzu kommt der Umgang mit kultureller Differenz, die sich in verschiedensten Handlungsfeldern einstellt. Kulturvergleichende Arbeiten haben auf eine Fülle von Unterschieden zwischen chinesischen und westlichen Wertorientierungen (Bond, 1996; Hofstede, 1984; Chinese Culture Connection, 1987), Kulturstandards (Thomas/Schenk, 1996; Thomas/Schenk, 2001) und Kommunikationsstilen (Gao, 1998a, 1998b; Günthner, 1991, 1993, 1994, 1999; Scollon/Scollon, 1995; Yang, 1994; Liang, 1996, 1998) hingewiesen, die auch für deutsche Manager in China potentiell relevant sind. Vor diesem Hintergrund werden Erfahrungen von deutsch-chinesischen Joint Ventures oder deutschen Firmen sowohl von der Praxis als auch in der Wissenschaft aufmerksam verfolgt (Dräger/Issa/Janischewski, 1999; Münch, 1996; Peill-Schöller, 1994; Schneidewind, 1992; Schuchardt, 1994). Zahlreiche Ratgeberbücher steuern weitere Beispiele interkultureller Missverständnisse sowie Empfehlungen für deren Vermeidung bei (so z.B. Brahm, 1995; Chu, 1994; Eichler/Größl/Neumeyer/Schneider, 1995; Helms, 1986; Slevogt, 1997; 24
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Käser-Friedrich/Garratt-Gnann, 1995; Lin-Huber, 2001; Mohl, 1999; Tang/ Reisch, 1996; Thomas/Schenk, 2001; Vermeer, 2002). Die Fülle an Ratgeberbüchern kann als Ausdruck der – von Autoren wie Lesern geteilten – Überzeugung gelten, dass es für Deutsche im Umgang mit Chinesen viel zu lernen gebe. Ein längerer (zumal berufsbedingter) Chinaaufenthalt erscheint vor diesem Hintergrund als besondere Herausforderung an die interkulturelle Handlungsfähigkeit sowie an die Fähigkeit zu kultureller Anpassung vor Ort.9 Empirische Untersuchungen von westlichen Managern in China, Taiwan, Singapur oder allgemein Ostasien haben diesen Eindruck generell bestätigt und den Untersuchungsteilnehmern „considerable adjustment problems“ bescheinigt (Björkman/Schaap, 1993, S. 4). Sie sollen hier wiederum unter dem Gesichtspunkt der in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung dargestellt und diskutiert werden. Auf Ergebnisse kulturvergleichender Analysen sowie auf die besonderen Problemfelder deutsch-chinesischer Kommunikation gehe ich deshalb an dieser Stelle nicht ein (siehe hierzu Weidemann, D., 1997). Verschiedene Untersuchungen von Mitarbeitern im Auslandseinsatz weisen auf eine recht hohe Zufriedenheit dieser Gruppe mit ihrem Leben im Ausland hin (z.B. Conway, 1996; Gross, 1994; Medrano-Kreidler, 1995). Unter den gravierendsten Problemen, die geschildert werden, stehen Sorgen, die die Firmenpolitik ihres Heimatunternehmens betreffen, an erster Stelle (MedranoKreidler, 1995; Stahl, 1998). Aspekte des Lebens im Gastland dagegen werden weit überwiegend als positiv beurteilt. In dieser Hinsicht bilden auch die in verschiedenen Studien befragten, nach China und Taiwan entsandten Manager keine Ausnahme. So fühlen sich auch die von Selmer (1999) in China per Fragebogen befragten 154 westlichen Manager im Entsendungsland wohl und berichten, mit Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort recht gut zurechtzukommen. Auf einer Skala von eins bis sieben, deren Endpunkte mit den Worten „very unadjusted“ und „completely adjusted“ markiert sind, schätzen die Befragten ihre „allgemeine Anpassung“ (sensu Black et al., 1991) im Durchschnitt als leicht positiv ein („somewhat adjusted“, M = 5.0). Die arbeitsbezogene Anpassung wird mit einem Mittelwert von 5.52 sogar noch etwas höher eingeschätzt.
9 Die Erfahrungen anderer Ausländer in China, die in Form von (teilweise autobiographischen) ‚Insider‘-Berichten veröffentlicht sind (z.B. Siao, 1990; Li, 1984; Fisher-Ruge, 1986; Terzani, 1985), finden zwar ein breites öffentliches Publikum, sind jedoch bisher noch nicht Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen gewesen. Das Gleiche gilt für die Auswertung von Reiseberichten, die zwar im Rahmen sinologischer und germanistischer Forschung, nicht jedoch im Rahmen einer Psychologie interkulturellen Handelns thematisiert werden (in Bezug auf ChinaReisen siehe z.B. Leutner/Yü-Dembski, 1990). 25
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Aufgrund der eingesetzten Items erlaubt diese Studie jedoch weder Aussagen darüber, ob die Befragten ihr Verhalten tatsächlich an chinesische Standards ‚angepasst‘ haben, noch darüber, ob die Selbsteinschätzungen der Befragten von externen Beobachtern geteilt werden würden. Erfasst wird hier lediglich der eigene Eindruck, in China ‚zurechtzukommen‘, wobei ein Wunsch nach positiver Selbstdarstellung (dem Untersuchungsleiter, aber auch sich selbst gegenüber) nicht von der Hand zu weisen ist.10 Die Studie nimmt darüber hinaus keine weiteren Differenzierungen nach Nationalität, Entsendungsdauer, Entsendungsort oder Sprachkenntnissen vor, die als wichtige Moderatorvariablen (wenn nicht der ‚Anpassung‘, so doch zumindest des Anwortverhaltens) betrachtet werden müssen. Auch geht Selmer (1999) der Frage nicht nach, warum einige Befragte extrem niedrige Einschätzungen von Wohlbefinden und ‚Anpassung‘ vornehmen und warum dies selbst bei Managern der Fall ist, die sich seit mehreren Jahren in China aufhalten. Die Beschränkung auf die Berechnung von Durchschnittswerten ist hier unbefriedigend. Die Aussagekraft der Studie bleibt schließlich auch aufgrund der ungeklärten Repräsentativität der Stichprobe begrenzt.11 Aufschlussreicher ist eine Untersuchung von Nagels (1996), die sich auf 52 Interviews mit deutschen und chinesischen Mitarbeitern von Joint Ventures, deutschen Repräsentanzen in China sowie entwicklungspolitischen und kulturellen Organisationen an verschiedenen Orten in China stützt. Auch die Mehrzahl der hier befragten Deutschen fühlt sich in China recht wohl und kann sich eine Verlängerung ihres Aufenthaltes vorstellen. Dies trifft insbesondere für jene Entsandten zu, die an Orten mit vergleichsweise höherem Lebensstandard, besserem Freizeitangebot und einer größeren ‚foreign community‘ leben. Die Lebensbedingungen in der chinesischen Provinz
10 Die Instruktion des Fragebogens lautet „Please indicate the degree to which you are adjusted or not adjusted to the following items living in the PRC“ (der von Selmer, 1999, eingesetzte Fragebogen stammt von Black, 1988). Unter den zu beurteilenden Items finden sich sodann u.a. „food“, „health care facilities“ (beide zu „general adjustment“) oder „performance standards“ (zu „work adjustment“). Eine Übersetzung von ‚adjusted‘ mit ‚angepasst‘ scheint mir hier unzutreffend. Gemeint ist z.B. nicht, ob sich der Befragte an chinesische Essgewohnheiten ‚angepasst‘ habe, sondern ob er mit dem Nahrungsangebot ‚zurechtkomme‘, sich ‚daran gewöhnt‘ habe oder ob in dieser Hinsicht ein Problem bestehe. 11 Die von Selmer (1999) aus seinen Daten abgeleitete Schlussfolgerung, bei westlichen Managern in China sei das Phänomen des ‚Kulturschocks‘ feststellbar, erscheint mir nicht überzeugend und wird hier deshalb nicht weiter berücksichtigt. Neben den oben angeführten Gründen erscheint diese Schlussfolgerung aufgrund des querschnittlichen Untersuchungsdesigns sowie aufgrund des Umstandes, dass der Tiefpunkt der Kurve um lediglich einen Skalenpunkt (von „somewhat adjusted“ auf „neutral“) abfällt, nicht gerechtfertigt. Da keine weiteren Analysen des Datenmaterials vorliegen, können hier Alternativerklärungen nicht ausgeschlossen werden. 26
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hingegen werden von den Befragten als schwieriger und weniger zufrieden stellend erlebt (vgl. Nagels, 1996, S. 67). In Einzelfällen werden extrem negative Einschätzungen der Zufriedenheit mit dem Chinaaufenthalt geäußert, die zugleich mit äußerst negativen Urteilen über die interkulturelle Zusammenarbeit und die Eigenschaften des chinesischen Partners einhergehen. Die Untersuchung von Nagels beschäftigt sich vor allem mit der von deutscher wie chinesischer Seite erlebten Qualität der Interaktionen, wobei sie auf der Grundlage der Interviewaussagen Arbeits-, Diskussions- und Konfliktverhalten als Themenbereiche identifiziert, die sich in den Interaktionen als besonders problematisch erweisen. Negative Äußerungen über den Partner sind in diesen Bereichen nicht nur besonders häufig, sondern, wie Nagels bemerkt, in besonderer Weise von der Unkenntnis kultureller Verankerungen geprägt. Das Verhalten des Partners werde so häufig einzig unter Bezug auf die eigenen Standards interpretiert, was zur Bildung und Verfestigung negativer Stereotype führe. Sind die Deutschen nach Meinung der befragten Chinesen arrogant, brüsk, rassistisch und unflexibel, so gelten die Chinesen bei den Deutschen wiederum als unehrlich, ‚hintenrum‘, unmotiviert und gleichfalls als rassistisch. Nicht-Verständnis wird dadurch perpetuiert, neuen fremdkulturellen Partnern wird mit den im Kopf verankerten Schemata gegenübergetreten und die eigene Handlungsweise schon von vornherein dementsprechend ausgerichtet. Weil weder diese Stereotypen noch Wertestandards im allgemeinen Gegenstand von Gesprächen zweier Kooperationspartner sein werden, sind später nur noch selten Korrekturen oder Überprüfungen möglich. (Nagels, 1996, S. 80)
Negative Stereotype kommen auf Seiten der Deutschen insbesondere dann zum Tragen, wenn diese über nur wenig chinaspezifisches Wissen verfügen, nicht Chinesisch sprechen und deren Persönlichkeitsstruktur dies nicht durch „Offenheit, Sensibilität und Geduld“ (ebd., S. 78) ausgleichen kann. Stereotype verhindern dann konstruktivere und zutreffendere Einschätzungen der Motive und Handlungsmuster anderer, und es kann vermutet werden, dass sie möglicherweise auch (interkulturellen) Lernprozessen im Wege stehen. 12 Letztere waren jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Björkman und Schaap (1993), die Interviews mit entsandten Managern in 36 chinesisch-westlichen Joint Ventures in der VR China durchführten, berichten sehr gemischte Befunde. Der niedrige Lebensstandard, eine teilweise unbefriedigende Unterbringung, mangelndes Freizeitangebot, Umweltbelastung, Anpassungsproblem der Familie oder gar Trennung von der – im Heimatland gebliebenen – Familie trugen erheblich zu Anpassungsproblemen bzw. zu niedriger Zufriedenheit der Befragten bei. Dies war insbesondere an Einsatz12 Von stereotypen, unangemessen negativen Einschätzungen des Arbeitsverhaltens chinesischer Mitarbeiter durch westliche Manager berichten auch z.B. Chao/Sun (1997) sowie Weiss/Bloom (1990). 27
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orten außerhalb der Metropolen der Fall. Quellen von Unzufriedenheit waren auch das mangelnde Verständnis und die mangelnde Unterstützung durch die Firmenzentrale in Europa bzw. den USA. Die Arbeitssituation vor Ort dagegen wurde in vielen Fällen als sehr positiv erlebt, wozu insbesondere der größere Verantwortungsbereich und die Vielfältigkeit der Tätigkeiten beitrugen. Viele ‚Expatriates‘ entwickelten unter diesen Bedingungen großes Engagement und hohen Arbeitseinsatz. Björkman und Schaap schließen jedoch aus ihren Untersuchungen vor Ort, dass dieser Einsatz in Unkenntnis chinesischer Kommunikationsstandards und Geschäftsgepflogenheiten häufig nicht erfolgreich sei und Widerstand oder gar offene Feindseligkeit provoziere. Während dann in Einzelfällen die Abberufung des Expatriates die einzige Möglichkeit für das Fortsetzen der Kooperation sei, setzten in weniger dramatischen Fällen auf Seiten des Managers Gefühle der Frustration und Bedeutungslosigkeit ein, die dazu führten, dass diese das Vorhaben weiterer Veränderungen aufgäben. Nach Einschätzung von Björkman und Schaap stelle sich so die paradoxe Situation ein, dass Manager das Einführen von Veränderungen gerade dann aufgäben, wenn sich aufgrund der Aufenthaltsdauer ein Vertrauensverhältnis eingestellt habe, das diese erst möglich mache (ebd., S. 14). Die Autoren betonen, dass die Arbeitseffektivität der ‚Expatriates‘ von Wissen um und Anpassung an das „chinesische System“ (ebd.) abhänge. Dabei spielten insbesondere die Einsicht in die Bedeutung von ‚Gesicht‘ und ‚guanxi‘13 sowie Kenntnis chinesischer Kommunikationsstile eine Rolle. Sie stellen fest: „To change how the organization works is a lengthy and demanding task, which requires that the foreign manager learns to work through the Chinese system“ (ebd., S. 13). Hiermit ist die Notwendigkeit von Lernprozessen zum Erwerb ‚kulturellen‘ Wissens angesprochen, doch werden diese auch in dieser Studie nicht weiter thematisiert. Ein positiveres, in Grundzügen jedoch verwandtes Bild, zeichnet die Untersuchung von Fischer und Tang (1994) in Bezug auf die Situation deutscher Führungskräfte in Taiwan. Im Auftrag einer Unternehmensberatung führten die Autoren eine Fragebogenstudie sowie zehn ausführliche Interviews mit deutschen Managern durch, die sich zwischen zwei Monaten und achtzehn Jahren in Taiwan aufhielten. Die Interviews ergeben eine recht hohe Zufriedenheit der Befragten mit ihrem beruflichen und privaten Leben in Taiwan. Die per Fragebogen erhobenen Daten weisen Infrastruktur, Bürokratie, Konkurrenz und Mentalität als Problemfelder im Geschäftskontext aus, dokumentieren jedoch auch, dass ‚private Isolation‘ kaum ein Problem darstellt. 13 In der chinabezogenen Sozialforschung und Managementliteratur hat sich eingebürgert, ‚guanxi‘ (= ‚Beziehungen‘) unübersetzt zu lassen (vgl. auch Hwang, 1987; Thomas/Schenk, 2001). Mit dem Begriff ist die besondere Bedeutung, Gestaltung und Nutzung sozialer Netzwerke im beruflichen und privaten Leben angesprochen, die für Chinesen in und außerhalb Chinas oder Taiwans immer wieder festgestellt wird. 28
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Als negativ erlebten die Interviewten die allgemein niedrige Lebensqualität, die hohe Umweltbelastung, Enge und Verkehr sowie den dadurch geringen Freizeitwert. Auch Kommunikationsprobleme wurden genannt, die durch mangelnde chinesische Sprachkenntnisse entstünden. Positiv äußerten sich die Befragten dagegen über die in Taiwan erlebte Möglichkeit zur beruflichen Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentwicklung. Sechs der zehn Befragten gingen hier auf die größere Verantwortung, größere unternehmerische Freiheit und Unabhängigkeit ein, die sie in Taiwan erlebten. Lerneffekte durch den Taiwanaufenthalt wurden in dieser Studie nicht gezielt thematisiert. Einige Hinweise lassen sich jedoch dem Umstand entnehmen, dass acht der zehn Befragten „persönliche Veränderungen durch ihren Aufenthalt in Taiwan“ bei sich feststellten (ebd., S. 45). Genannt wurden hier die persönliche Bereicherung durch die erfolgreiche berufliche Weiterentwicklung sowie Veränderungen der Persönlichkeit hin zu „mehr Gelassenheit, mehr Ruhe und Geduld“ (ebd.) oder Toleranz im Denken. Als Ergebnis dieser Studien lässt sich festhalten, dass, so lange die materiellen Lebensbedingungen nicht zu drastischen Einbußen der Lebensqualität führen, westliche Expatriates sich in China und Taiwan durchaus wohl fühlen. Aufgrund des breiteren Verantwortungsbereiches und größerer Entscheidungsfreiheit wird insbesondere die berufliche Tätigkeit als interessant und befriedigend erlebt. Diese subjektiven Gefühle der Zufriedenheit und Angepasstheit an die Lebensumstände (vgl. Selmer, 1999) schließen jedoch nicht aus, dass sich Expatriates (zumal in den Anfangsmonaten und -jahren) im chinesischen Umfeld nach Einschätzungen Dritter unangemessen und ineffizient verhalten (Björkman/Schaap, 1993) oder zu stereotypen Wahrnehmungen chinesischer Partner neigen (Nagels, 1996). Das Gefühl ‚angepasst‘ zu sein, ist damit zunächst als unabhängig von chinaspezifischem Wissen oder tatsächlicher Handlungskompetenz zu verstehen. Dass sich Expatriates vorrangig an den Normen und Werten ihrer Heimatkultur orientieren, legen auch die Arbeiten von Ward (1999) und Ralston, Terpstra, Cunniff und Gustafson (1995)14 nahe. So berichtet die Mehrzahl der von Ward und Kollegen befragten ‚Sojourners‘ in Nepal und Singapur von einer stärkeren Identifikation mit der Heimatkultur als mit der Kultur des Gastlandes (in Ward 1999). Unter Rückgriff auf die von Berry postulierten
14 Aufbauend auf einer kulturvergleichenden Analyse von Einflussnahmestrategien am Arbeitsplatz untersuchen Ralston et al., ob US-amerikanische Mitarbeiter in Hongkong die lokalen Taktiken übernehmen oder an ‚amerikanischen‘ Mustern festhalten. Die Studie zeigt, dass die ‚Expatriates‘ lokale Muster nicht übernehmen, sondern sich in ihren Einstellungen von einer Kontrollgruppe amerikanischer Berufstätiger in den USA nicht unterscheiden. 29
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Akkulturationsmuster 15 interpretiert Ward dies als Dominanz der ‚Separations‘-Strategie, während die Optionen ‚Assimilation‘ und ‚Integration‘ kaum eine Rolle spielten. (‚Marginalisierung‘ wurde als geringe Identifikation sowohl mit der Gast- als auch mit der Heimatkultur operationalisiert und – in Abweichung zu den sonstigen Befunden – als vorherrschendes Muster von britischen ‚Sojourners‘ in Singapur identifiziert.) Die Untersuchung gibt zudem einen Hinweis darauf, dass sich die Identifikation mit beiden Kulturen im Laufe des Auslandsaufenthalts möglicherweise ändert: So besteht eine Korrelation von .28 zwischen der Aufenthaltsdauer der in Singapur befragten Amerikaner mit der berichteten Identifikation mit der Gastkultur. Ob diese Korrelation auf individuelle Veränderungen (also z.B. auf die zunehmende Identifikation mit der Gastkultur im Laufe der Zeit) oder auf alternative Erklärungen zurückgeht, kann anhand dieser querschnittlich erhobenen Daten jedoch nicht festgestellt werden.
Kritik Die oben angeführten Arbeiten bestätigen den Herausforderungscharakter, den ein China-Einsatz für westliche Manager besitzt. Sie berichten zugleich von auftretenden Veränderungen auf Seiten des Auslandsentsandten, die von der Aneignung chinaspezifischen Wissens bis hin zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit reichen. Während so implizit Lernprozesse angesprochen sind, 15 Mit der Akkulturation deutscher Mitarbeiter in China beschäftigt sich auch Sader (1999). Trotz der Ähnlichkeit des gewählten Themas wird von einer Darstellung dieser Arbeit aus folgenden Gründen abgesehen: Die Autorin versucht durch Interviews mit ehemaligen China-Entsandten, die sie bis zu fünf Jahre nach deren Rückkehr durchführte, auf deren Akkulturationsmuster in China zu schließen. Hierzu fragt sie nach „schwierigen“ Interaktionssituationen sowie nach dem Verhalten des Interviewpartners in diesen Situationen, um sodann aus diesen Reaktionen auf eine der drei vorab definierten Akkulturationsmuster „Beibehaltung“ (deutscher Muster), „Anpassung“ (an chinesische Muster), „Mischform“ (Vorkommen beider zuvor genannter Strategien) zu schließen. Nicht nur erscheint unplausibel, dass ‚schwierige Interaktionen‘ eine geeignete Basis einer solchen Zuordnung darstellen können (führt ‚Anpassung‘ nicht gerade auch dazu, dass Interaktionen problemlos gemeistert werden und daher gerade nicht als ‚schwierig‘ erlebt werden? Warum werden solche ‚geglückten‘ Interaktionen nicht thematisiert?), sondern den zitierten Interviewaussagen ist zu entnehmen, dass die Autorin kaum etwas über das konkrete Verhalten der befragten Deutschen erfährt. Stattdessen belegen die Zitate stereotype Aussagen darüber, ‚wie man mit Chinesen umgehen sollte‘, die von der Autorin unreflektiert in ihre Darstellung übernommen werden. Die von Sader vorgenommene Beurteilung der jeweiligen Akkulturationsmuster erscheint aufgrund der begrenzten Datenbasis (keine Fremdbeurteilungen, Handlungsbeobachtungen, keine Kontextinformationen jenseits basaler biographischer Daten) rein spekulativ.
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werden diese jedoch als solche in diesen Arbeiten nicht thematisiert. Wo auf die Begriffe ‚Anpassung‘ und ‚Akkulturation‘ zurückgegriffen wird, werden diese als Zustände interpretiert und nicht in ihrer Prozesshaftigkeit untersucht. Die Beschäftigung mit den Ergebnissen der oben dargestellten Arbeiten zeigt, dass die Variation an Definitionen und Operationalisierungen der Schlüsselbegriffe ‚Akkulturation‘ und ‚Anpassung‘ nicht allein ein theoretisches, sondern für die Interpretation der Ergebnisse vor allem ein praktisches Problem darstellt. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Operationalisierungen sind die Ergebnisse verschiedener Studien kaum vergleichbar und bieten daher keine Möglichkeit wechselseitiger Validierung oder inhaltlicher Integration. ‚Kulturelle Anpassung‘ und ‚Akkulturation‘ erweisen sich zudem als höchst unpräzise Konzepte, die zum Teil auf fragwürdige Operationalisierungen zurückgreifen. Überlässt man etwa wie Selmer (1999) den Begriff ‚adjustment‘ der freien Interpretation durch den Untersuchungsteilnehmer (die Instruktion des Fragebogens lautet, wie oben erwähnt, „Please indicate the degree to which you are adjusted or not adjusted to the following items living in the PRC“), ist letztlich nicht mehr nachzuvollziehen, was ein angekreuzter Skalenwert (z.B. „somewhat adjusted“) eigentlich bedeutet. Ob hier individuelle Toleranzgrenzen, persönliche Lernleistungen, unterschiedliche Auffassungen erwünschter und möglicher ‚Anpassung‘, Differenzen zwischen Erwartungen und Vorgefundenem, Unterschiede des Lebensstandards verschiedener Standorte oder subjektives Wohlbefinden abgefragt werden, kann nicht beurteilt werden. Der potentielle Erklärungswert des Begriffs ‚adjustment‘ verliert sich hier in der Fülle plausibler Alternativerklärungen. Über eine Passung des Verhaltens des ‚Expatriates‘ oder dessen Effektivität im chinesischen Umfeld sagen Studien zur ‚Anpassung‘ oder ‚Akkulturation‘ jedenfalls nichts aus. Gleichermaßen unbeantwortet bleibt die Frage nach den Konsequenzen verschiedener Akkulturationsmuster. So erfährt der Leser bei Ward (1999) zwar die Zahl der den jeweiligen Akkulturationsstrategien zugeordneten Personen, da sie jedoch keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Akkulturationsmuster und den abhängigen (Erfolgs-)Variablen16 feststellen kann, bleibt eine solche Zuordnung ohne großen Erklärungswert. Dies gilt umso mehr, als auch die Ursachen und Hintergründe verschiedener Akkultura16 Ward stellt einzig einen Zusammenhang zwischen hoher Identifikation mit der Gastkultur und hoher soziokultureller Anpassung fest. Dieser Zusammenhang bildet jedoch m.E. vor allem die inhaltliche Ähnlichkeit der Items beider Subskalen ab. So wird die Identifikation mit der Gastkultur zum Teil in Bezug auf Alltagsaktivitäten („language, food, recreational activities“, S. 223) mittels der Frage erhoben „are your experiences and behaviors similar to those of members of the host culture?“ (ebd.). Soziokulturelle Anpassung wird als ,Schwierigkeiten bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben‘ („making friends, going shopping, understanding jokes and humor“, ebd.) operationalisiert. Dass die Schwierigkeiten bei größerer wahrgenommener Ähnlichkeit geringer sind (und umgekehrt!), versteht sich von selbst. 31
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tionsmuster im Dunkeln bleiben und Erklärungen für die unterschiedliche Verteilung von Akkulturationsmustern in verschiedenen Stichproben aus den Daten nicht abzulesen sind. Weitere Differenzierungen zwischen verschiedenen Personengruppen, verschiedenen Lebens- und Entsendungsbedingungen, Aufenthaltsdauer usw. werden von ihr nicht vorgenommen. Dass alle diese Variablen Einfluss auf das Wohlbefinden, das Gefühl der ‚Anpassung‘ oder die ‚Identifikation‘ mit Gast- und Heimatland haben können, ist nicht nur plausibel, sondern z.B. durch die Arbeiten von Nagels (1996) und Björkman und Schaap (1993) nachgewiesen. Alle angeführten Arbeiten sind vor dem Hintergrund entstanden, Bedingungen effektiven Handelns von westlichen Managern in China, Taiwan oder Ostasien zu ergründen. Ausgehend von der Annahme, dass sich die ‚Kulturen‘ des Herkunfts- und Einsatzlandes unterscheiden und dass dieser Unterschied für die wirtschaftliche Zusammenarbeit relevant ist, gilt ‚kulturelle Anpassung‘ als ein wichtiger Erfolgsfaktor von Auslandsmanagern. Dass der Zusammenhang zwischen ‚Anpassung‘ und ‚Erfolg‘ keineswegs schlüssig nachgewiesen ist, wurde oben bereits erwähnt. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich jedoch auch weitere Annahmen dieser Argumentationskette als keineswegs selbstverständlich. So setzt die Kontrastierung der ‚deutschen‘ und der ‚chinesischen‘ Kultur einen problematischen (homogenisierenden, essentialistischen) Kulturbegriff voraus, der an anderer Stelle bereits schlüssig kritisiert wurde (Matthes, 1992; Straub, 1999). Nicht nur scheint die Konstruktion einheitlich ‚westlicher‘ (oder ‚deutscher‘) Manager fragwürdig, sondern auch die Annahme, diese wären in China mit einer einheitlichen ‚chinesischen Kultur‘ konfrontiert. Vielmehr wäre zunächst zu fragen, mit welcher Art ‚Kultur‘ westliche Manager in China überhaupt konfrontiert sind. Dass es sich hierbei um eine ungebrochen ‚chinesische‘ handeln könnte – was immer das sei –, scheint unwahrscheinlich. So beobachtet zum Beispiel Moosmüller (1997) in Japan, dass sich das Leben deutscher Mitarbeiter überwiegend in der ‚foreign community‘ abspielt und dass ausländische Niederlassungen und Joint Ventures, in denen ‚Expatriates‘ vorrangig eingesetzt werden, distinkte Umgebungen darstellen, in denen die kulturellen Regeln des Gastlandes nicht notwendigerweise das dominante Bezugssystem sind (vgl. auch Kartari (2002) und Moser-Weithmann (2002) in Bezug auf die Lebenssituation deutscher Familien in der Türkei oder Roth/Roth (2002) in Bezug auf deutsche Expatriates in Russland). Entsprechendes gilt auch für China und Taiwan (siehe den empirischen Teil dieser Arbeit). Eine Untersuchung der ‚kulturellen Anpassung‘ von Auslandsmitarbeitern muss zumindest der Frage nachgehen, wie die neue Umgebung beschaffen ist und inwiefern sich diese als andere ‚Kultur‘ ausweist (mögliche theoretische Grundlage einer solcher Bestimmung ist zum Beispiel der Kulturbegriff von Straub, 1999; Weidemann, D./Straub, 2000). Sie kann nicht von der universellen Gültigkeit der Nationalkultur in individuellen Handlungszusammenhängen einzelner Personen ausgehen. 32
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Der Umstand, dass in diesen Untersuchungen ‚kulturelle Anpassung‘ eng mit Fragen der Personalwirtschaft verquickt ist, betont darüber hinaus einseitig den instrumentellen Charakter ‚kultureller Anpassung‘ in diesem eng umrissenen Handlungsfeld. Wie problematisch dies für ein wissenschaftliches Verständnis des ‚Anpassungsgeschehens‘ ist, zeigt sich in jenem Grenzgebiet gelungener ‚kultureller Anpassung‘, dessen Erforschung aus wissenschaftlicher Sicht interessant wäre, aus Unternehmenssicht jedoch als ‚going native‘ diskreditiert wird. Forschung zum Thema ‚kulturelle Anpassung‘ zielt vor diesem Hintergrund nicht auf ein besseres Verständnis von Veränderungsprozessen unter Bedingungen des Kulturkontakts, sondern auf Sicherung und Steigerung der Effektivität des Mitarbeiters im Auslandseinsatz. Für die vorliegende Arbeit scheint das Konzept der ‚kulturellen Anpassung‘ aus den genannten Gründen als nicht geeignet. Es erweist sich als inhaltlich unpräzise, als theoretisch unzureichend fundiert, durch seinen ökonomischen Begründungszusammenhang forschungspraktisch eingeengt und durch unreflektierte Vorannahmen unangemessen normativ. Der Beitrag der oben angeführten Arbeiten besteht so, neben deren inhaltlichem Beitrag hinsichtlich der Lebenssituation von ‚Expatriates‘ in China und Ostasien, auch darin, spezifische Vorannahmen und Forschungslücken zu identifizieren. Indirekt verweisen diese Arbeiten so auf die Notwendigkeit, Veränderungsprozesse ohne normative Annahmen (bezüglich kultureller Teilhabe, kultureller Verschiedenheit, der ökonomischen Verwertbarkeit des Veränderungsprozesses) in den Blick zu nehmen, Veränderungen auf individueller Ebene nachzuzeichnen und konkrete Veränderungen zu dokumentieren. Hierfür erscheint der Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ als die besser geeignete theoretische Grundlage.
Interkulturelles Lernen Obgleich ‚Lernen‘ in der psychologischen Forschung eine zentrale Stellung einnimmt, ist der Begriff des ‚interkulturellen Lernens‘ in Deutschland heute weitaus stärker mit pädagogischer Forschung und Fremdsprachendidaktik assoziiert als mit einer Psychologie interkulturellen Handelns.17
17 Vorrangiges Forschungs- und Anwendungsfeld der interkulturellen Psychologie sind die ‚Sojourners‘ (v.a. während Auslandseinsätzen), während sich die interkulturelle Pädagogik mit der Situation von Immigranten und Kulturkontaktsituationen im Inland beschäftigt. Dabei mag die Krisenhaftigkeit von Kulturkontakt bei Auslandsaufenthalten augenfällig und für die beteiligten Personen und Institutionen bedeutsam und ökonomisch relevant sein. Die Krisenhaftigkeit interkultureller Begegnungen im Inland dagegen betrifft gesellschaftliche Entwicklungen und staatliche Institutionen in weitaus bedrohlicherem Umfang. Zielt interkulturelles Lernen während Auslandsaufenthalten aus dieser Perspektive auf das 33
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Als Thema etablierte sich ‚Interkulturelles Lernen‘ in Deutschland zunächst in Folge der Bemühungen um die schulische Integration von Migrantenkindern im Rahmen einer „Ausländerpädagogik“ (Edmonson/House, 1998; Held, 1998). Im weiteren Verlauf erweiterte sich das pädagogische Aktionsfeld um die Erziehung von inländischen Jugendlichen zu größerer Toleranz und Kompetenz im Umgang mit Fremden. ‚Interkulturelles Lernen‘ wird hier als wesentliches Mittel zum Erreichen gesellschaftlicher Ziele, wie dem Vermeiden der Ausgrenzung ausländischer Bevölkerungsgruppen und der Entschärfung interethnischer Konflikte, interpretiert und eingesetzt. Definitionen interkulturellen Lernens werden nicht nur vor dem Hintergrund dieser Zielsetzungen formuliert, sondern eignen sich das Konzept ‚Lernen‘ dabei in spezifischer Weise an. ‚Interkulturelles Lernen‘ tritt hier nicht als individuelle (gar psychische) Aktivität in Erscheinung, sondern gerinnt zu einer „pädagogischen Methode“, die nicht losgelöst von der Frage nach einer geeigneten Didaktik gedacht werden kann. In der Einleitung zu ihrem Beitrag bemerken etwa Bender-Szymanski und Hesse (1993): ‚Interkulturelles Lernen‘ wird als eine pädagogische Methode propagiert, mit Hilfe deren sowohl die Vorurteile gegenüber Menschen aus anderen Kulturen abgebaut als auch die Chancen wahrgenommen werden sollen, die sich durch das multikulturelle Zusammenleben eröffnen. (S. 147)
Als extern konzipierte Maßnahme soll ‚Interkulturelles Lernen‘ gleichwohl auf individuelle Einstellungen (z.B. Vorurteile) wirken. Das Erreichen gesellschaftlicher Ziele soll mittels pädagogischer Einwirkung auf lernende Subjekte gewährleistet werden, wobei wohl eine Lesart angemessen ist, nach der das Insgesamt von Maßnahme, individueller Veränderung und Zielerreichung dann ‚interkulturelles Lernen‘ darstellt. Die Bemühungen zielen letztlich auf sozialen Konsens und gesellschaftliche Harmonie. 18 Interkulturelles Lernen wird so unmissverständlich beschrieben als: […] ein Prozeß, der Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts befähigt, in einer Gesellschaft möglichst friedlich und ohne gegenseitige Diskriminierung zusammenzuleben. (Schneider-Wohlfahrt et al., 1990, S. 39 in Edmonson/House, 1998, S. 163)
Auf die Ebene des individuellen Akteurs gewendet werden kognitive Fähigkeiten und übergeordnete Zielsetzungen weiter präzisiert, die für interkulturelles Lernen bedeutsam sind. Frieden und Abwesenheit von Diskriminierung Sichern individueller Handlungsfähigkeit, so gerät interkulturelles Lernen im innerethnischen Kontakt zum Garant sozialen Friedens. 18 Das Herstellen von ‚Harmonie‘ ist dennoch dort schwierig, wo diese nach den Spielregeln der dominierenden Gesellschaft erreicht werden soll. Die Setzungen einer interkulturellen Pädagogik sind daher wegen ihres normativen Gehalts und einseitig assimilatorischer Zielsetzung heftig kritisiert worden (z.B. Schweitzer, 1994; vgl. auch den Überblick bei Hu, 1999). 34
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werden in Begriffe der „Akzeptanz“, „Anerkennung“ und „Achtung“ ‚übersetzt‘: Interkulturelles Lernen zielt auf das Erkennen von Ambivalenzen und auf eine konfliktlösende, das Eigene und das Fremde in eine verstehende, fruchtbare Beziehung setzende Verarbeitung interkultureller Begegnung. Es zielt auf wechselseitige Akzeptanz, Anerkennung und Achtung des Anderen und des Andersseins. (Engelhard, 1994, S. 27)
Für das hier verfolgte Untersuchungsinteresse bieten die oben zitierten Begriffsklärungen zwar neue Anhaltspunkte, doch bleiben relevante Fragen weiter offen. Dies ist zum Teil einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung geschuldet: So sind Definitionen, die interkulturelles Lernen an pädagogische Interventionen binden, für ein Verständnis spontanen Lernens – das gerade in Abwesenheit pädagogischer Maßnahmen geschieht – prinzipiell kaum geeignet. Wie schon bei Akkulturationsmodellen bleiben auch hier jenseits der Explikation des Zielzustandes der Prozess interkulturellen Lernens sowie seine moderierenden Bedingungen im Dunkeln. Zwar eröffnen die oben genannten Definitionen Perspektiven außerhalb ökonomischer Interessenszusammenhänge, doch stehen auch hier normative Setzungen bezüglich des Lernzieles im Vordergrund (wenngleich diese auch heftig diskutiert werden, siehe Fußnote oben). Für ein Verständnis konkreter (zunächst ergebnisoffener) Veränderungen auf individueller Ebene bietet der im Rahmen der interkulturellen Pädagogik entwickelte Ansatz ‚interkulturellen Lernens‘ keine geeignete Grundlage. Insofern im Rahmen dieser Arbeit an dem Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ festgehalten wird, geschieht dies auf der Grundlage eines psychologisches Lernbegriffes.
Interkulturelles Lernen aus psychologischer Sicht Lernen Anders als die Interkulturelle Pädagogik setzt die Psychologie beim Verhalten und Erleben von Individuen an. Ungeachtet der sozialen Situation, in der sich ein Lerner möglicherweise befindet, wird Lernen als subjektgebundene, intrapsychische Aktivität verstanden. Lernen bezeichnet hier: […] einen Prozeß […], der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrung aufbaut. Lernen ist nicht direkt zu beobachten. Es muß aus den Veränderungen des beobachtbaren Verhaltens erschlossen werden. (Zimbardo, 1992, S. 227)
Lernen ist damit als eine psychische Aktivität bestimmt, die sich nur erschließen, nicht jedoch direkt beobachten lässt. Zudem bezeichnet ‚Lernen‘ einen allgemeinen menschlichen Vorgang, der nicht an das Vorhandensein pädagogischer Interventionen gebunden ist. Psychologische Forschung betont die 35
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Ubiquität menschlicher Lernprozesse, die Lernen in formalen Unterrichtssituationen einschließt, jedoch über diese hinausreicht. 19 Zentraler Anstoß von Lernprozessen ist dabei die „Erfahrung“: Als Erfahrung wird bezeichnet, was uns im Laufe unseres Lebens widerfährt. Üblicherweise geht es dabei also um Interaktionen mit der Umwelt. Erfahrung umfaßt die Aufnahme von Information (und deren Auswertung und Umsetzung) und die Äußerung von Reaktionen, die die Umwelt beeinflussen, wie etwas beim Erlernen des Autofahrens. Lernen vollzieht sich nur durch Erfahrung. (Zimbardo, 1992, 228)
Lernen, so kann festgehalten werden, geschieht in Auseinandersetzung mit der Umwelt und besteht in der auf Erfahrung gründenden Veränderung von Verhaltensdispositionen. Eine solche Begriffsbestimmung bietet dabei in ihrem allgemein gehaltenen Charakter Raum für Interpretationen verschiedener Lerntheorien. 20 Während Lernen bestimmte definier- und messbare Ergebnisse hervorbringen mag, kann es jedoch – anders als etwa Akkulturation – nie als dieses Ergebnis selbst interpretiert werden. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung verweist die Wahl des begrifflichen Rahmens ‚Lernen‘ daher auch auf den prozesshaften Charakter des Untersuchungsgegenstandes. Gerade wenn Lernen in Alltagssituationen thematisiert wird, handelt es sich um einen zwar aus analytischer Perspektive fragmentierbaren, ansonsten aber fortdauernden Veränderungsprozess. Unter welchen Umständen und in welcher Hinsicht dieser Vorgang als interkulturelles Lernen näher präzisiert werden kann, bleibt zu erkunden. Eine psychologische Begriffsdefinition eröffnet in dieser Hinsicht drei theoretisch ableitbare Möglichkeiten: Interkulturelles Lernen kann durch den spezifisch ‚interkulturellen‘ Charakter des Lernprozesses gekennzeichnet sein, durch die spezifisch ‚interkulturelle‘ Erfahrungssituation oder durch die spezifisch ‚interkulturelle‘ Art der Dispositionsänderung. 21 Bevor alle drei Möglichkeiten weiter unten auf ihre Plausibi-
19 Einen guten und umfassenden Überblick über den Begriff des ‚Lernens‘ sowie Lernsysteme und Lernsettings gibt Mayer (2002). 20 Einen ähnlichen Lernbegriff legt auch Thomas (2003a) seinen Überlegungen über interkulturelles Lernen zugrunde. 21 Die Unterscheidung einer Erfahrungs- und Ergebnisdimension stellt einen nützlichen Ausgangspunkt für die Klassifikation und Analyse von Forschungsansätzen in diesem Gebiet dar: So beschäftigt sich Literatur zum Thema ‚Akkulturation‘ und interkultureller ‚Transformation‘ mit der Frage, wie sich ein Wechsel in ‚fremde Umgebungen‘ auf Personen auswirkt und nähert sich damit interkulturellem Lernen vom Standpunkt der interkulturellen Erfahrungssituation aus an („what happens to someone who relocates to an unfamiliar environment“, Grove/ Torbiörn, 1985, S. 205). Literatur zu interkulturellen Trainings dagegen zielt auf die Ergebnisdimension und beschäftigt sich mit der Frage, wie interkulturelle Kompetenz in Trainings hergestellt werden kann. Ultimatives Ziel interkultureller Trainings ist „to make the interaction a success“ (Bhawuk, 1990, S. 327). Unter dem Dach einer psychologischen Lerndefinition können diese diversen Ansätze miteinander in Bezug gesetzt werden. 36
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lität und ihren Erklärungswert hin überprüft werden sollen, muss jedoch zunächst der Begriff der ‚Interkulturalität‘ – zentraler definitorischer Bestandteil aller drei Möglichkeiten – näher erkundet werden. Interkulturalität Die Annahme, Interaktionen könnten durch unterschiedliche Nationalität (bzw. unterschiedliche Muttersprachen) der beteiligten Akteure eindeutig und unproblematisch als ‚interkulturell‘ definiert werden, ist in den letzten Jahren zunehmend kritisiert worden. Während kulturkontrastive Forschung zunächst vor allem daran interessiert war, den Einfluss unterschiedlicher Kulturteilhabe auf Verlauf und Inhalt von Interaktionen aufzuzeigen, steht heute vielfach die Frage danach im Vordergrund, aufgrund welchen Kulturbegriffes Interaktionen als ‚interkulturell‘ ausgewiesen werden können und welche Rolle Kulturteilhabe in konkreten Interaktionen spielt. Die Frage danach, was Interaktionen als ‚interkulturell‘ kennzeichnet, ist daher – auch nach mehreren Jahrzehnten der Forschung über ‚interkulturelle Kommunikation‘ – keineswegs trivial. Kritische Einwände gehen dabei von zwei Ansatzpunkten aus: Zum einen führt die theoretische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff zur Kritik an der Auffassung von ‚Kulturen‘ als statischen, a priori existierenden Entitäten. Die Wendung zu einem diskursiven Kulturbegriff rückt dabei nicht nur in den Blick, dass sich ‚Kulturen‘ als solche erst im Prozess der wechselseitigen Wahrnehmung und Abgrenzung konstituieren22 (Matthes, 1992), sondern ermöglicht die Anwendung des Kulturbegriffes auf Kollektive unterschiedlicher Reichweite (Straub, 1999). Auf der Grundlage eines erweiterten Kulturbegriffes werden so z.B. Interaktionen zwischen Gehörlosen und Hörenden (Cushner/Brislin, 1996) oder zwischen Menschen mit unterschiedlicher Geschlechtsorientierung („gay culture“; Ross/Fernández-Esquer/Seibt, 1996) als ‚interkulturell‘ interpretiert.23 Die Annahme identitätsstiftender Kulturen auf
22 Für das Forschungsfeld ‚Interkulturelle Kommunikation‘ eröffnet dieser Ansatz m.E. bisher noch ungenutzte Möglichkeiten. So wäre beispielsweise zu erkunden, inwiefern der Begriff ‚interkulturell‘ darauf angewiesen ist, ‚Kulturen‘ zumindest vorübergehend als statische Einheiten zu begreifen, um ein ‚Dazwischen‘ thematisieren zu können. Die von Matthes auf Makroebene entworfenen Überlegungen zum Kulturvergleich könnten auch zur Analyse interindividueller Interaktionen nutzbar gemacht werden. Die von Thomas und Schenk (1996) (s.a. Krewer, 1996) vorgenommene Interpretation von Kulturstandards als relationalen Konstrukten kann als Versuch interpretiert werden, ein diskursives Kulturverständnis auf psychologischer Ebene umzusetzen. In der Aufbereitung zu Trainingsmaterialien verliert sich der relationale, diskursive Charakter der beschriebenen Kulturstandards jedoch völlig. 23 Die Anwendung des Kulturbegriffes auf andere als nationale Kollektive allein bedeutet noch nicht eine Abkehr vom essentialistischen Kulturbegriff. Doch bedürfen kulturelle Grenzziehungen in diesen Fällen der expliziten Begründung, 37
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der Grundlage von Geschlecht, Beruf, Generation oder sexueller Orientierung führt dabei jedoch nicht zu einer Binnendifferenzierung (im Sinne von Subkulturen) nationaler Kulturen, sondern lässt die Möglichkeit transnationaler Kommunikation innerhalb relevanter nationenübergreifender Bezugskulturen als ‚binnenkulturell‘ ausdrücklich zu. Unterschiedliche Nationalität der Akteure ist damit ein – nach entsprechender Begründung – mögliches, jedoch weder für jeden Kontext hinreichendes noch notwendiges Kriterium ‚interkultureller‘ Kommunikation. Während das Kriterium der Nationalität vor allem in der psychologischen und Managementliteratur Verwendung findet, beruft sich sprachwissenschaftlich ausgerichtete Forschung auf das Kriterium der Mutter- bzw. Fremdsprachlichkeit der Interaktion. Da hiermit zugleich spezifische Interaktionsformen (z.B. dolmetschervermittelte Kommunikation) und -probleme (z.B. eingeschränktes Vokabular, Fehler und Missverständnisse, reduziertes Sprechtempo, reduzierte Komplexität etc.) angesprochen sind (Knapp, 1992), scheint das Kriterium der Fremdsprachlichkeit theoretisch zunächst präziser begründet als das der Nationalität. Doch Gesprächsanalysen wecken Zweifel, ob die Unterschiedlichkeit der Muttersprachen der Akteure das eigentlich ausschlaggebende Kriterium für die Interkulturalität der Begegnung darstellt. Wie etwa Hu (1999) oder Günthner (1999) anmerken, könne von der Relevanz kultureller Zugehörigkeit oder Differenz in der Interaktion keineswegs a priori, aufgrund ‚objektiver‘ Gegebenheiten wie etwa der Muttersprache oder der Nationalität, ausgegangen werden. Was, so fragt etwa Hu (1999), sei ‚interkulturell‘ an einer Begegnung zwischen einer Deutschen und einem Franzosen, in der die Deutsche auf Französisch nach der Uhrzeit fragt und der Franzose korrekt Auskunft gibt? Vielmehr sei die „Rolle sprachlicher und indexikalischer Verfahren bei der Kontextualisierung kultureller Zugehörigkeiten und Differenzen“ (Günthner, 1999, S. 253) in konkreten Interaktionen zu erkunden. Damit stehen Fragen danach im Mittelpunkt, „wie in interkulturellen Begegnungen Fremdheit konstruiert wird, wie diskursive Prozesse sich als kulturspezifisch erweisen und […] wie kulturelle Differenzen erzeugt werden können“ (ebd.). Entscheidend ist mithin nicht, welcher Nationalität die Akteure sind oder welche Sprache sie sprechen, sondern ob und in welcher Hinsicht Kulturteilhabe bzw. -differenz in der Interaktion relevant werden. Theoretische Grundlage ist dabei ein Kulturbegriff, der ‚Kultur‘ als kollektiv geteiltes Sinn- und Bedeutungssystem versteht, das Denken und Handeln ihrer Mitglieder in seinen Möglichkeiten vorstrukturiert. Als Beispiel kann etwa folgende Definition dienen:24 die zugleich darauf verweist, dass diese nicht Naturgegebenheiten abbilden, sondern dem spezifischen Blickwinkel und Forschungsinteresse bestimmter Personen geschuldet ist. 24 Siehe aber auch die weit verbreitete Begriffsbestimmung von Thomas: „Kultur ist ein universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr 38
INTERKULTURELLES LERNEN Eine Kultur ist die Gesamtheit von Diskursen, Praktiken und Handlungsobjektivationen, denen ein kollektiv verbindliches, historisch jedoch veränderliches, aus Zielen, Regeln, Geschichten und Symbolen bestehendes Sinn- und Bedeutungssystem zugrundeliegt, das sich durch eine gewisse Kohärenz (Stimmigkeit) und Kontinuität (Dauer) auszeichnet. Dieses Sinn- und Bedeutungssystem ermöglicht Menschen orientiertes Handeln und Verstehen. Es ist die Grundlage all dessen, was die Angehörigen einer Kultur erfahren und erwarten (können). Kultur ist in diesem Sinne der Rahmen allen Handelns (Denkens, Fühlens etc.). Sie ist umgekehrt aber auch das Produkt der menschlichen Praxis. (Weidemann, D./Straub, 2000, S. 835)
Vor dem Hintergrund dieser Definition verweist der Begriff ‚interkulturell‘ auf die Differenz der in einer Situation relevanten (kulturellen) „Sinn- und Bedeutungssysteme“ (ebd.). Eine Situation kann dabei dann als ‚interkulturell‘ bezeichnet werden, wenn sowohl die Zugehörigkeit der Akteure zu einer bestimmten Kultur als auch die Differenz der in einer Situation relevanten Kulturen bedeutsam wird. Dabei gilt: Nationalkultur ist ein möglicher, jedoch nicht der einzige kulturelle Rahmen individueller Akteure. Vielmehr gehören, wie Demorgon und Molz (1996) betonen, Menschen stets mehreren Kulturen gleichzeitig an, sie sind „nie monokulturell“ (ebd., S. 63). Folglich kann sich Interkulturalität in Interaktionen entlang verschiedener kultureller Grenzziehungen einstellen, wobei Nationalität, Beruf, Geschlecht oder Ethnie Beispiele möglicher Bezugsrahmen sind. Unterschiedliche Kulturteilhabe kann, muss aber nicht in Interaktionen relevant gesetzt werden. Ob und entlang welcher kultureller Grenzziehungen Differenz konstruiert wird, lässt sich nur rekonstruieren, nicht jedoch aufgrund objektiver Merkmale (Nationalität, Sprachkenntnisse, Geschlecht) zuverlässig vorhersagen. Psychologische Interpretationen interkulturellen Lernens Eine Beschäftigung mit den oben genannten Ansatzpunkten für die Definition interkulturellen Lernens (‚interkultureller‘ Charakter des Lernprozesses, ‚interkulturelle‘ Erfahrungssituation, ‚interkulturelle‘ Art der Dispositionsänderung) führt schnell vor Augen, dass das Adjektiv ‚interkulturell‘ in allen drei Fällen auf Verschiedenes verweist. Während zwar denkbar ist, dass eine Erfahrungssituation durch die Existenz verschiedener kultureller Bezüge gekennzeichnet sein kann, so fällt dies für die Charakterisierung des Lernprozesses oder die Art der Dispositionsänderung deutlich schwerer.
typisches Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft usw. tradiert. Es beeinflußt das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder und definiert somit deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein für die sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen spezifisches Handlungsfeld und schafft damit die Voraussetzungen zur Entwicklung eigenständiger Formen der Umweltbewältigung“ (Thomas, 1996b, S. 112). 39
INTERKULTURELLES LERNEN
In der Tat ist die erste der oben genannten Möglichkeiten, ‚interkulturelles Lernen‘ könne sich als psychisch-physiologischer Vorgang durch seine Interkulturalität von anderen Lernvorgängen unterscheiden, nur wenig plausibel. Edmonson und House (1998) weisen einen solchen Gedanken vehement zurück: Man stellt sofort fest, daß ‚interkulturelles Lernen‘ nicht auf einen spezifischen Lernprozeß hinweist – d.h. es gibt keine ‚interkulturellen‘ psycholinguistischen Prozesse oder Lernstrategien. Es kann nicht stimmen, daß ein interkultureller Lernprozeß ‚irgendwie anders‘ abläuft als fremdsprachliche (oder sonstige) Lernprozesse, die die Verwendung dieses Adjektivs nicht verdienen. (S. 162)
Doch muss sich das Adjektiv nicht notwendigerweise auf grundlegende Charakteristika des psychischen Prozesses beziehen. Kombinationen wie ‚implizites Lernen‘ oder ‚Beobachtungslernen‘ verweisen kraft des qualifizierenden Adjektivs (bzw. ersten Wortteils) auf Subkategorien von Lernaktivitäten, die innerhalb eines theoretischen Gesamtrahmens von anderen Subkategorien klar unterschieden werden. Sie präzisieren eine bestimmte Art von Lernen, die zum Beispiel durch das Benennen des spezifischen Erfahrungszugangs, der dem Lernprozess zugrunde liegt, genauer charakterisiert wird. Eine ähnliche Funktion des Adjektivs ‚interkulturell‘ ist in der Kombination ‚interkulturelles Lernen‘ jedoch nicht erkennbar. Dass sich ‚interkulturelles Lernen‘ durch einen spezifischen Lernzugang oder Lernprozess auszeichnen würde, ist nicht ersichtlich. Stattdessen stützen sich Auffassungen interkulturellen Lernens sowohl auf den spezifisch interkulturellen Charakter der Erfahrungssituation als auch auf die spezifische (z.B. als Toleranz oder als interkulturelle Kompetenz bezeichnete) Art der Dispositionsänderung. Diese Zusammenhänge werden nur in seltenen Fällen expliziert, doch lassen sie sich leicht aus der Anlage konkreter Untersuchungen ableiten. So scheint etwa die Annahme, dass Auslandsaufenthalte interkulturelles Lernen bewirkten, etlichen Autoren nicht weiter begründungsbedürftig (z.B. Kopper, 1997; Orton, 1999; Tiedemann, 1991; Roth, 1994). Es kann vermutet werden, dass die Verwendung des Begriffs hier der (impliziten) Überzeugung entspringt, der Auslandsaufenthalt stelle per se eine interkulturelle Erfahrungssituation dar, in der zwangsläufig interkulturelles Lernen stattfinde. Die Erfahrungssituation besteht dabei nicht in Unterricht oder Training, sondern umfasst zunächst einmal alle Aspekte des Lebens im Ausland oder in multikulturellen Lebens- und Arbeitszusammenhängen im Inland.25 Die Verwendung des Ausdrucks ‚interkulturelles Lernen‘ steht dabei kaum je in explizitem Zusammenhang mit Lerntheorien, sondern bezeichnet in der Regel einen 25 Empirische Arbeiten, die sich mit Lernprozessen während Auslandsaufenthalten beschäftigen, stammen z.B. von Berwick/Whalley (2000), Gmelch (1997), Orton (1999), Taylor (1994a, 1994b) und Thomas (1988) und werden weiter unten vorgestellt. 40
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nicht näher bestimmten Prozess der Einsicht in und Aneignung der fremden sowie der Neubestimmung des Verhältnisses zur eigenen Kultur. Zugleich ist interkulturelles Lernen an die Zieldimension gebunden. Dies ist nicht nur in interkulturellen Trainings explizit der Fall, sondern zum Beispiel auch in dem „culture learning“-Ansatz von Furnham und Bochner (1986; Ward, Bochner/Furnham, 2001). Ausgehend von dem Verständnis, dass der Erreichung des Ziels (Handlungsfähigkeit und Wohlbefinden in der neuen Kultur) vor allem der Mangel an in der Gastkultur relevanten sozialen Fertigkeiten („social skills“) entgegenstehe, entwerfen diese Autoren „culture learning“ als „the process whereby sojourners acquire culturally relevant social knowledge and skills in order to survive and thrive in their new society“ (Ward et al., 2001, S. 51). In den meisten Fällen werden – implizit oder explizit – beide Elemente vorausgesetzt: Es wird angenommen, interkulturelles Lernen gründe in einer bestimmten Erfahrungssituation, doch ist es zugleich an eine spezifische Zieldimension geknüpft. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. So definiert etwa Thomas: Interkulturelles Lernen findet statt, wenn eine Person bestrebt ist, im Umgang mit Menschen einer anderen Kultur deren spezifisches Orientierungssystem der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns zu verstehen, in das eigenkulturelle Orientierungssystem zu integrieren und auf ihr Denken und Handeln im fremdkulturellen Handlungsfeld anzuwenden. Interkulturelles Lernen bedingt neben dem Verstehen fremdkultureller Orientierungssysteme eine Reflexion des eigenkulturellen Orientierungssystems. Bezüglich der Qualität des interkulturellen Lernens lassen sich verschiedene Stufen unterscheiden. Sie reichen von einer relativ einfachen Kenntniserweiterung über die fremde Kultur, über das Erlernen der kognitiven Orientierungsstruktur der Partner im Gastland, die Entwicklung einer Kompetenz zum interkulturellen Lernen im Gastland bis hin zur Fähigkeit, sich Orientierungsstrategien anzueignen, die ein schnelles Zurechtfinden unter sehr verschiedenen kulturfremden Umweltbedingungen erlauben. Interkulturelles Lernen dieser zuletzt genannten qualitativ hoch entwickelten Form ist dann erfolgreich, wenn eine handlungswirksame Synthese zwischen kulturdivergenten Orientierungssystemen erreicht ist, die erfolgreiches Handeln in der eigenen und der fremden Kultur erlaubt. Wenn eine Lernmotivation vorliegt und Lernfelder vorhanden sind, kommt ein Lernprozess zustande, der zu Einstellungs- und Handlungsänderungen führt, die als Lernresultat wiederum auf die Lernmotivation einwirken. (Thomas, 2003a, S. 281)
Diese Definition stützt sich auf die Beschreibung des Lernziels („handlungswirksame Synthese zwischen kulturdivergenten Orientierungssystemen […], die erfolgreiches Handeln in der eigenen und der fremden Kultur erlaubt“). Sie identifiziert zugleich jedoch die Bedingungen, unter denen der zur Zielerreichung notwendige Lernprozess einsetzt: Neben der „Lernmotivation“ ist dies ein geeignetes „Lernfeld“. An anderer Stelle führt Thomas aus:
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INTERKULTURELLES LERNEN So vollzieht sich interkulturelles Lernen in kulturellen Überschneidungssituationen, es findet entweder in der direkten Erfahrung im Umgang mit Repräsentanten und Produkten der fremden Kultur statt, oder es kann sich in Form vermittelter indirekter Erfahrungen vollziehen. (Thomas, 1993b, S. 382).
Die Spezifizierung ‚interkulturellen Lernens‘ ist hier sowohl an die interkulturelle Erfahrungssituation geknüpft als auch an die spezifische Art der Dispositionsänderung. Ähnlich wie schon für die Akkulturationsforschung und die interkulturelle Pädagogik zeigt sich, dass die Verwendung des Begriffes an spezifische Veränderungen geknüpft ist, wie etwa den Erwerb fremdkultureller Denk- und Handlungsweisen, größere Toleranz oder Metastrategien des Fremdverstehens. Die auf interkulturelle Erfahrungssituationen zurückgehende Ausbildung negativer Stereotype dagegen wird üblicherweise nicht als ‚interkulturelles Lernen‘ bezeichnet, obwohl auch hier eine Veränderung aufgrund von (interkultureller) Erfahrung stattfindet. Wie pädagogische Definitionen implizieren auch psychologische Begriffsbestimmungen einen ‚besseren‘, ‚toleranteren‘ Umgang mit Fremdheit als bestimmendes Merkmal interkulturellen Lernens. Die von Thomas aufgeführten Lerneffekte umfassen dabei sowohl kognitive als auch behaviorale Aspekte. Der Einbezug von Forschungsliteratur zu interkulturellen Trainings sowie zu den Lerneffekten während Auslandsaufenthalten (z.B. Berwick/Whalley, 2000; Gmelch, 1997; Orton, 1999; Taylor, 1994a, 1994b und Thomas, 1988) ermöglicht eine weitere Präzisierung interkultureller Lernfelder. Interkulturelles Lernen ist damit als die aus interkulturellen Erfahrungssituationen resultierende Veränderung von Verhaltensdispositionen in folgenden Bereichen beschreibbar. a) Kognitive Veränderungen: Verstehen fremdkultureller Orientierungssysteme, Reflexion des eigenkulturellen Orientierungssystems, Synthese kulturdivergenter Orientierungssysteme (Thomas, 1988), Erreichen von ‚Orientierungsklarheit‘ („clarity“) im zunächst fremden Umfeld (Grove/Torbiörn, 1985), Ablösung von Stereotypen durch differenzierteres Wissen (Berwick/Whalley, 2000), Fähigkeit zu „isomorphen Attributionen“ und damit zum Lösen von ‚critical incidents‘ (z.B. Thomas, 1995), reflektierte Selbst- und Fremdwahrnehmung, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel (Bechtel, 2003), Erwerb konzeptuellen Wissens über interkulturelle Inhalte (Kammhuber, 2000); b) Handlungsbezogene Veränderungen: Erwerb neuer ‚social skills‘ (Furnham/Bochner, 1986), erfolgreiches Handeln in der eigenen und der fremden Kultur (Martin, 2001; Thomas, 1988), Erlernen neuer (kulturadäquater) Handlungsweisen (Kammhuber, 2000). Aus
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sprachdidaktischer Sicht auch: das Erlernen einer Fremdsprache (z.B. Bechtel, 2003); c) Affektive Veränderungen: sich in die Gefühlslage des fremdkulturellen Partners hineinversetzen können (Thomas, 1995), Reduzierung von Ängsten in der Interaktion mit „Fremden“ (Gudykunst/Kim, 2003; Kammhuber, 2000), Wertschätzung des fremdkulturellen Orientierungssystems (Thomas, 2003a), Reduzierung von Stresserleben in interkulturellen Begegnungen (Kammhuber, 2000); d) ‚Awareness‘: Entwickeln von Bewusstheit für die kulturelle Dimension sozialer Interaktionen (Brislin/Yoshida, 1994); e) Entwicklung von Metastrategien: Ausbilden der generalisierten Fähigkeit, sich in fremdkulturellen Umgebungen schnell zu orientieren (Thomas, 1988), bewusste Informationsverarbeitung („mindfulness“) statt Routinen und Automatismen (Gudykunst/Kim, 2003). Interkulturelles Lernen zeigt sich in allen diesen Bereichen durch einen ‚reicheren‘ und differenzierteren Umgang mit Fremdheit oder kultureller Differenz, dem eine (aus dem gezeigten Verhalten erschlossene) Bereicherung des Handlungsrepertoires sowie die Differenzierung und Zunahme an Wissen zugrunde liegt.26 Der Beschreibung von Lerneffekten und -voraussetzungen (Motivation, Erfahrungssituation) ist nichts über den Ablauf des Lernprozesses zu entnehmen. Auch bleiben die oben angeführten Befunde in ihrer Allgemeinheit recht vage. Aussagen über die Natur konkreter Erfahrungssituationen, Lernstrategien oder Lerneffekte sind nicht enthalten. Für ein Verständnis von Lernprozessen während eines Auslandsaufenthaltes ist jedoch gerade die Veränderungsdynamik von Interesse, sowie die Frage, warum unter welchen Bedingungen bei wem Lerneffekte feststellbar sind. Der folgende Abschnitt ist daher Studien und Modellen gewidmet, die die Dynamik interkulturellen Lernens und interkultureller ‚Transformation‘ beschreiben, auch wenn diese nicht unmittelbar einem psychologischen Ansatz zuzurechnen sind oder den Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ verwenden. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen danach, wie interkulturelles Lernen initiiert wird, wie es abläuft und welche qualitativen Stufen ein solcher Lernprozess durchläuft.
26 Veränderungen im affektiven Bereich dagegen sind weniger fassbar. Hier einzig auf eine positive Qualität der Gefühle zu setzen, erscheint wiederum einseitig normativ. 43
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Interkulturelle Lern- und Entwicklungsmodelle Konkrete Schritte (interkultureller) Lernprozesse während Auslandsaufenthalten sind bisher nur ansatzweise empirisch untersucht worden. Zu den wenigen auffindbaren empirischen Studien gehören die Arbeiten von Berwick/Whalley (2000), Gmelch (1997), Orton (1999) und Thomas (1988), die sich mit den Erfahrungen von Schülern und Studenten während internationalen Austauschprogrammen beschäftigen. Hinsichtlich dieser Studien ist jedoch der einseitige Fokus auf junge Teilnehmer und zeitlich stark begrenzte Aufenthalte kritisch anzumerken. So ergeben sich kaum Anhaltspunkte für den Ablauf von Lernprozessen, die über die Beobachtung hinausreichen, dass einzelne Teilnehmer entdecken, dass bestimmte Ereignisse auch andere Interpretationen zulassen als die, von denen sie bisher ausgegangen waren. Dabei scheinen Sprachkenntnisse und die Möglichkeit zu gezielter Reflexion der Kulturkontaktsituation wichtige moderierende Faktoren von Lerneffekten zu sein (Thomas, 1988). Es scheint wahrscheinlich, dass jüngere Teilnehmer hier weniger gute Voraussetzungen mitbringen als ältere. Auch die kurze Beobachtungszeitspanne (von wenigen Wochen bis zu maximal drei Monaten bei Berwick/ Whalley, 2000) führt vermutlich dazu, dass nur wenig konkrete Lernergebnisse dokumentiert werden können. Andererseits geben die Arbeiten von Orton (1999) und Gmelch (1997) Hinweise darauf, dass selbst kurze Auslandsaufenthalte längerfristige Auswirkungen haben können, die bei einzelnen Personen für die weitere Lebensgestaltung bedeutsam sind (z.B. erneute Auslandsaufenthalte, berufliche Umorientierung, Persönlichkeitsentwicklung). Überzeugende Aussagen über den Ablauf und differenzierende Bedingungen interkultureller Lernprozesse lassen sich aus diesen Studien schon aufgrund des jeweils begrenzten Untersuchungsdesigns jedoch nicht ableiten. Umfassendere Interpretationen interkultureller Lern- und Entwicklungsverläufe finden sich dagegen im Rahmen verschiedener Transformations- und Lernmodelle. Zwar steht trotz ihres z.T. großen Bekanntheitsgrades die empirische Überprüfung dieser Modelle in weiten Teilen noch aus, doch sind diese Modelle im hiesigen Kontext aus mehreren Gründen interessant: Insofern sie auf anderweitig explizierte Theorien zurückgreifen, verfügen sie über eine externe Absicherung, die Möglichkeit zur theoriegeleiteten Erklärung von Bedingungen und Effekten sowie zur Ableitung genereller Prinzipien, die auch für Phänomene herangezogen werden, die in dem Modell selbst nicht berücksichtigt wurden. Während einzelne empirische Arbeiten an den konkreten Kontext gebunden sind, ermöglichen Modelle einen umfassenderen Entwurf aus größerem Abstand, in deren Rahmen sich empirische Arbeiten u.U. einbinden und (re-)interpretieren lassen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Entwurf übergeordneter Modelle von ihren Autoren in der Regel explizit unter Einbezug vorhandener Forschungsergebnisse sowie eigener Lebens- und Arbeitspraxis geschieht, mithin in dieser Hinsicht einer empirischen Basis nicht völlig entbehrt. 44
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Die nachfolgende Darstellung ausgewählter Lern- und Entwicklungsmodelle sowie einzelner empirischer Studien dient dabei vorrangig dem Ziel, die theoretische Fundierung der hier vorgestellten Studie zu entwickeln und den Begriff des ‚interkulturellen Lernens‘ weiter zu präzisieren und zu problematisieren. Ein Entwicklungsmodell interkultureller Sensibilität (Bennett, 1993) Bennetts Modell beschreibt ein Kontinuum zunehmender Komplexität im Umgang mit kultureller Differenz, das eine Ablösung ethnozentrischer Sichtweisen durch zunehmende Wahrnehmung und Akzeptanz von Differenz beschreibt, bis schließlich das Stadium einer „ethnorelativen“ Perspektive erreicht ist. „Ethnozentrismus“ und „Ethnorelativismus“ sind aufeinander folgende, übergeordnete Entwicklungsdimensionen, denen jeweils drei Entwicklungsstadien zugeordnet sind. Bennett wählt damit das Format eines klassischen Entwicklungs-Stufenmodells, dessen ‚höhere‘ Stufen das Durchschreiten vorhergehender Stufen voraussetzen (analog etwa Kohlbergs Modell der Moralentwicklung, 1984). Im Einzelnen unterscheidet er drei ethnozentrische Stadien sowie drei ethnorelative Stadien.27 Ethnozentrische Stadien 1. Leugnen („denial“): Nach Bennett stellt das Leugnen kultureller Differenz die reinste Form des Ethnozentrismus dar. Da unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen die Existenz kultureller Differenz nur selten rundum bestritten wird, bedeutet ‚Leugnen‘ häufig, sich durch aktive soziale und räumliche Abgrenzung von kulturell ‚Anderen‘ eine Lebenssituation einzurichten, in der ‚Andere‘ nicht vorkommen. 2. Abwehr („defense“): Wird kulturelle Differenz nicht mehr nur einfach geleugnet, so muss sie aktiv bewältigt werden. Insofern sie als bedrohlich, z.B. identitätsbedrohend, wahrgenommen wird, ruft sie Abwehrreaktionen auf den Plan, die sowohl in der Abwertung der
27 Zwei Stärken des Modells entgehen hier der Darstellung: Wie Bennett anmerkt, beruht das Entwicklungsmodell im Wesentlichen auf der Annahme der Teilhabe an einer kulturellen Majorität, so dass Bedingungen, Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten für Angehörige kultureller Minderheiten teilweise verschieden sind. Bennett differenziert deshalb sein Modell weiterhin nach den Besonderheiten, die sich für den Entwicklungsprozess von Angehörigen kultureller Minderheiten ergeben. Auch kommt in meiner Darstellung der eigentliche Bezugs- und Anwendungspunkt seines Modells zu kurz: Die Darstellung der Entwicklungsstufen ist bei Bennett eng mit der Frage verknüpft, wie Lehrsituationen und -interventionen gestaltet sein müssen, um bei Kurs- bzw. Trainingsteilnehmern in verschiedenen Entwicklungsstadien maximale Lernerfolge möglich zu machen. Diese Überlegungen werden hier nicht wiedergeben. 45
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anderen als auch in der Aufwertung der eigenen Gruppe bestehen können.28 3. Minimierung („minimization“): Werden kulturelle Unterschiede (positiv) anerkannt, geschieht diese Anerkennung doch in einem ethnozentrischen Bezugsrahmen. Dies bedeutet zum Beispiel, das Ausmaß der Differenz in seiner Bedeutung zurückzunehmen (indem z.B. die biologisch begründeten Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen betont werden) oder kulturelle Differenz einem eigenkulturellen Prinzip zu subsumieren (indem z.B. kulturelle Differenz auf einen göttlichen Schöpfungsakt zurückgeführt wird). Ethnorelative Stadien 4. Akzeptanz („acceptance“): Zwischen der letzten Stufe der ethnozentrischen Haltung und der nächstfolgenden ethnorelativen existiert eine „paradigmatische Barriere“ (ebd., S. 45). Das Aufgeben einer ethnozentrischen Weltsicht verlangt einen grundlegenden Erkenntnisschritt, der anstelle von absoluten und dualistischen Kategorien Relativität derselben zulässt. Ethnorelativismus ist durch die Annahme gekennzeichnet, dass Kulturen nur in Relation zueinander verstanden werden können und dass sich bestimmtes Verhalten nur unter Berücksichtung des kulturellen Kontextes erschließt. Die Maßstäbe der eigenen Kultur gelten nicht länger als zentrale Instanz, sondern als eine Möglichkeit unter anderen (ebd., S. 46).29 Die erste ethnorelative Entwicklungsstufe ist das Stadium der „Akzeptanz“. In diesem Stadium wird kulturelle Differenz sowohl anerkannt als auch respektiert. Bennett beobachtet zwei aufeinander folgende Stufen der Akzeptanz: Zunächst stelle sich eine Akzeptanz für Verhaltensunterschiede ein. Erst danach komme es zur Akzeptanz unterschiedlicher Werte.
28 Ein Spezialfall der Abwehr besteht nach Bennett in der Umkehr („reversal“) der Argumentation, nach der nicht die eigene, sondern die fremde Kultur als überlegen geschildert wird. Hier findet eine Abwehr (und Abwertung) der eigenen bzw. Herkunftskultur statt, während die fremde bzw. Gastkultur aufgewertet wird. Zwar stellt diese Reaktion keine zwangsläufige Stufe der Entwicklung interkultureller Sensibilität dar, doch ist nach Ansicht Bennetts diese Reaktion insbesondere unter Entwicklungshelfern verbreitet genug, um ihre Aufnahme in das Modell zu rechtfertigen. Ein ‚umgekehrter Ethnozentrismus‘ ist nach Bennett jedoch in der Grundhaltung ebenso ethnozentrisch wie andere Formen der Abwehr und lässt noch keine ethnorelative Einstellung erkennen 29 Bennett betont, ‚Ethnorelativismus‘ als Entwicklungsstufe in Abgrenzung von ‚Ethnozentrismus‘ zu konzipieren, nicht als philosophisches Prinzip (analog etwa einem Kulturrelativismus). Ethische Urteile über kulturelle Praktiken seien mit Ethnorelativismus vereinbar, solange sie nicht der Wahrung ethnozentrischer Interessen dienten oder auf absoluten Prinzipien fußten. 46
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5. Anpassung („adaptation“): Das Stadium der Anpassung bezeichnet die Ausbildung von Kommunikations- und Interaktionsfertigkeiten mit Angehörigen anderer Kulturen. Anpassung bedeutet nicht die einseitige Übernahme fremdkultureller Kommunikationsstandards (dies wäre nach Bennett Assimilation, die hier explizit nicht gemeint ist). Vielmehr erweitern die neuen Verhaltensweisen das existierende Repertoire an kulturellen Alternativen, so dass der Bezug auf multiple kulturelle Bezüge normaler Bestandteil der Identität ist. 6. Integration („integration“): Die Identitätskonstruktion geschieht im Stadium der Integration jenseits vorgegebener kultureller Bezüge im Bewusstsein vorhandener Wahlmöglichkeiten. ‚Integration‘ bedeutet, dass verschiedene kulturelle Rahmen für Handlungen in unterschiedlichen Situationen reflektiert und flexibel eingesetzt werden können. Als Leben jenseits fixer kultureller Rahmen geht ‚Integration‘ zwar mit dem Gefühl der Marginalisierung einher, die Bennett jedoch als „konstruktiv“ bezeichnet: „constructive marginality is the experience of one’s self as constant creator of one’s own reality“ (S. 64). Bennetts Modell ist idealtypisch und – mit Ausnahme seiner eigenen interkulturellen Erfahrung – empirisch nicht überprüft. Typische Probleme von Phasenmodellen treffen auch hier zu, insbesondere Fragen nach der Abfolge der Stufen (z.B.: Können Stufen übersprungen werden? Können sie in anderer Reihenfolge durchlaufen werden? Sind auch ‚Rückentwicklungen‘ möglich?), nach Anzahl der Stufen (z.B.: Sind weitere Stufungen möglich oder nötig?) oder nach differenzierenden Bedingungen (z.B.: Können unterschiedliche Handlungsbereiche unterschiedliche Entwicklungsstufen aufweisen?). Auch der Lernprozess selbst (z.B.: Wie genau vollzieht sich der Übergang von einer Stufe zur nächsten?) wird dabei nicht genauer beschrieben. Bennett stellt jedoch ein Modell bereit, das unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit Differenz qualitativ ordnet und in einen Entwicklungszusammenhang reiht. Damit sind die Voraussetzungen für Lernprozesse jeweils beschrieben. Auch wird deutlich, dass Handlungskompetenzen der jeweiligen Stufe einer jeweils bestimmten Einsicht bedürfen, um nicht zu ‚Pseudo-Kompetenzen‘ zu geraten. Damit spricht Bennett explizit an, dass informelle interkulturelle Lernprozesse zwar Handlungskompetenz (bzw. Performanz) bewirken können, dass diese jedoch nicht in jedem Fall von – noch dazu reflektierten – ethnorelativen Einstellungen begleitet sind. Für die Untersuchung informellen Lernens während Auslandsaufenthalten ist dies sicherlich zu berücksichtigen. Interkulturelles Lernen als interkulturelle Anpassung (Grove/Torbiörn, 1985) Das von Grove und Torbiörn (1985, 1993) vorgestellte Modell beschäftigt sich mit dem Anpassungsprozess von Personen nach einem Wechsel in ein zunächst unbekanntes Umfeld. Das Modell beruht auf der Annahme, dass bei 47
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diesem Wechsel das Verhalten einer Person nun in einem fremden Umfeld stattfindet, sich jedoch an dem (zunächst) unveränderten kognitiven Bezugsrahmen (Wissen, Meinungen, Einstellungen, Werthaltungen, usw.) einer Person orientiert. Je eindeutiger Erklärungen und Handlungsempfehlungen ausfallen, die das kognitive Bezugssystem bereithält, desto größer ist die empfundene „Orientierungsklarheit“ („clarity“).30 ‚Orientierungsklarheit‘ drückt ein subjektives Empfinden aus, nicht die objektiv beurteilte Angemessenheit der im Bezugssystem vorrätigen Urteile oder Wissensbestände. Deren Erklärungskraft lässt sich nur indirekt aus den Reaktionen auf das Verhalten der Person erschließen. Verhalten gilt in dem Maße als angemessen, wie es mit dem üblicherweise in der neuen Umwelt gezeigten Verhalten übereinstimmt. In einer vertrauten Umwelt sind sowohl die subjektive Orientierungsklarheit als auch die Verhaltensangemessenheit hoch und liegen weit über einer subjektiven Schwelle, die Grove und Torbiörn als „Mindestanspruchsniveau“ bezeichnen. In einer fremden Umgebung können jedoch beide Parameter unter diese Schwelle sinken. Zentrale Aussage des Modells ist, dass kognitive Orientierungsklarheit und Verhaltensangemessenheit in unterschiedlicher Weise von dem Wechsel des Umfelds betroffen sind: Während einer Person die Unangemessenheit ihres gewohnten Verhaltens schnell vor Augen geführt wird und weit unter dem Mindestanspruchsniveau angesiedelt ist, bleibt die subjektiv empfundene Orientierungsklarheit zunächst unangetastet. Erst im weiteren Verlauf des Aufenthalts sinkt auch sie unter das Mindestanspruchsniveau, bis sie sich – deutlich später als die Verhaltensangemessenheit – wieder in einen subjektiv akzeptablen Bereich hinein steigert. Für ein Verständnis interkultureller Lernprozesse ist die Frage, woraus Veränderungen der Orientierungsklarheit und der Verhaltensangemessenheit resultieren, von zentraler Bedeutung. Grove und Torbiörn entwerfen folgendes Bild: […] the environment affects the frame of reference. As the person notices what is occurring in his environment and the extent to which his behavior is in harmony with that of others, the facts and evaluations thus acquired are fed back into his frame of reference to become part of his total accumulation of values, attitudes, opinions, ideas, knowledge and so forth. To the extent that these incoming facts and evaluations are different from those already stored there, the frame of reference may be transformed slowly, in whole or in part. [...] To the extent, then, that some elements undergo transformation more than others, the recommendations regarding behavior given by the various elements gradually may become mutually contradictory, thus reducing the person’s confidence or (as we have termed it) clarity. (Grove/ Torbiörn, 1985, S. 209)
Ausschlaggebend ist mithin die langsame Transformation des kognitiven Bezugsrahmens. Das Unterschreiten des Mindestanspruchsniveaus ist dabei notwendige Voraussetzung für interkulturelles Lernen, denn nur ein partieller 30 Die Terminologie folgt hier der von Kühlmann (1995b) vorgeschlagenen Übersetzung. 48
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Zusammenbruch des mentalen Bezugssystems ermöglicht seine Erweiterung und Neustrukturierung: Culture fatigue is a necessary prerequisite to effective adjustment because intercultural learning cannot occur to any significant extent in the absence of a partial breakdown of the mental frame of reference that originally was constructed in one’s home culture. (ebd., S. 217)
Die Transformation des Bezugsrahmens vollzieht sich dabei so, dass ‚alte‘ Elemente zunehmend durch jene der Gastlandskultur ersetzt werden. Gilt anfänglich, dass sich der Bezugsrahmen ausschließlich aus Elementen der ‚Heimatkultur‘ zusammensetzt, so werden immer mehr Elemente der Gastlandskultur aufgenommen, was zunächst zur Abnahme der ‚Orientierungsklarheit‘ führt, bis schließlich Elemente des Gastlandes den kognitiven Bezugsrahmen dominieren und die ‚Orientierungsklarheit‘ wieder hergestellt ist (ebd., S. 213). Im Vergleich zu anderen Kulturschockmodellen versucht das Modell von Grove und Torbiörn eine differenziertere Beschreibung der Anpassung in einem zunächst fremden kulturellen Umfeld. Die Trennung in einen kognitiven und in einen Handlungsbereich verweist hier auf die Möglichkeit, dass jeweils spezifische Lernerfahrungen und -prozesse stattfinden. Ob diese jedoch so ablaufen, wie von den Autoren postuliert, kann – zumal angesichts ausstehender empirischer Belege – bezweifelt werden. Insbesondere ist fraglich, ob bei sicherlich vorhandener Fremdheitserwartungen die ‚Orientierungsklarheit‘ bei Eintritt in die neue Umgebung als unverändert hoch angenommen werden kann. Auch wäre zu fragen, ob nicht die unterschiedlichen Elemente des kognitiven Bezugsrahmens (z.B. Wissen, Einstellungen, Werte) unterschiedlichen Veränderungsdynamiken unterliegen. So ist zum Beispiel aus der sozialpsychologischen Forschung die erhebliche Veränderungsresistenz von Einstellungen bekannt, die für die Veränderung von Wissen nicht unbedingt gelten muss. Die Einführung des subjektiven Faktors ‚Mindestanspruchsniveau‘ verweist jedoch auf individuell variable Faktoren jenseits der konkreten Erfahrungssituation, die in empirischen Untersuchungen sicherlich zu beachten sind. Interkulturelles Lernen als transformativer Lernprozess (Taylor, 1994) Ein Modell, das explizit dem Ablauf interkulturellen Lernens gewidmet ist, stammt von Taylor (1994a, 1994b). Taylor identifiziert die Abfolge von Dissonanz und Veränderung als Grunddynamik interkulturellen Lernens31. Sein 31 Ähnlich entwickelt auch Kim ein Modell ‚interkultureller Transformation‘. Sie entwirft einen Entwicklungsprozess, der zwischen Phasen des Gleichgewichts und der (stresshaften) Erschütterung oszilliert, wobei nach ihrer Auffassung per49
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Entwurf basiert auf der Grundannahme, dass „when an individual has an experience that cannot be assimilated into his or her meaning perspective, either the experience is rejected or the perspective changes to accommodate the new experience“ (Taylor, 1994a, S. 158). Typisch für die Erfahrungssituation in der Fremde ist, dass ein gewisses Ausmaß an Perspektivwechsel stattfinden muss, damit die Person handlungsfähig bleibt. Der sich vollziehende Lernprozess ist dadurch gekennzeichnet, dass die Person schließlich eine Sicht entwickelt, die vollständiger, differenzierter und integrativer ist als zuvor (Taylor, 1994b, S. 390). Aufbauend auf eine empirische Untersuchung entwickelt Taylor ein Modell mit sechs Komponenten, die zusammen einen Zyklus interkulturellen Lernens darstellen. 1. Ausgangsbedingungen („setting the stage“): Jeder Lernvorgang vollzieht sich auf der Grundlage vorheriger Erfahrungen, Kenntnisse, Ziele und Motivationen einer Person. Personen unterscheiden sich im Hinblick auf das, was sie in interkulturelle Begegnungen ‚einbringen‘, aber gewinnen auch im Laufe der Zeit Erfahrungen hinzu, so dass jeder Lernzyklus von einer anderen Ausgangssituation aus stattfindet. 2. Dissonanzerleben („cultural disequilibrium“): Abweichungen zwischen der Praxis der Gast- und der Heimatkultur führen zu einem Dissonanzerlebnis, das mit Stress und dem Gefühl des Kontrollverlusts einhergeht. Die Interviewpartner berichten von Gefühlen der Frustration, Einsamkeit und Unsicherheit, die mehr oder weniger lange anhalten. Es ist aber gerade die Erschütterung bisheriger Gewohnheiten, die für den Lernprozess wesentlich ist, und Taylor bezeichnet die – von Gefühlen der Frustration, Einsamkeit oder Ängstlichkeit begleitete – Dissonanzerfahrung als „Katalysator“ des Wandels (p.161). Das Ausmaß der Dissonanzerfahrung ist moderiert durch vorherige Erfahrungen mit der Gastlandskultur oder Sprachkompetenz und kann verschärft werden durch persönliche Merkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht. 3. Kognitive Neuorientierungen („cognitive orientations“): Auf die Dissonanzerfahrung erfolgt eine Neuorientierung von Kognitionen, die in unterschiedlichem Ausmaß reflektiert erfolgen kann. Unter Reflexion versteht Taylor die bewusste Auseinandersetzung mit
sönlicher Wandel und Entwicklung auf die Erschütterung vorheriger Gewissheiten angewiesen ist (z.B. Kim, 2001; Gudykunst/Kim, 2003). Nach dieser Vorstellung entwickeln Personen durch die Abfolge von Stress und Anpassung die Entwicklungsstufe einer „intercultural personhood“ (Gudykunst/Kim 2003, S. 383). Die verwendeten Begriffe (stress, adaptation, growth, acculturation, deculturation etc.) bleiben jedoch ebenso unscharf wie der Nachweis, dass das entwickelte Modell im Hinblick auf empirische Phänomene konkreten Erklärungswert besäße. 50
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dem Lernprozess. Lernen kommt ohne diese Bewusstheit aus, wenn zum Beispiel neue Muster durch Nachahmung anverwandelt werden. Taylor spricht hier von nicht-reflektivem Lernen: „A nonreflective orientation involves little or no questioning of prior values and assumptions. Participants make little conscious connection between their cultural disequilibrium, their choice of behavioral learning strategies, and the actual change taking place in evolving an intercultural identity.“ (Taylor, 1994a, S. 164). 4. Handlungsbezogene Lernstrategien („behavioral learning strategies“): Wie Taylor an anderer Stelle anmerkt (1994b, S. 403) führt kritische Reflexion allein noch nicht zu jener Perspektiventransformation, die für ihn kennzeichnend für den interkulturellen Lernprozess ist. Handlung (im fremden Umfeld) und Diskurs (mit anderen, die Wissen und Verständnis für den Lernprozess beisteuern) sind unabdingbare Begleiter. Diese enge Verzahnung von Reflexion, Handlung und Diskurs gilt es bei der Diskussion handlungsbezogener Lernstrategien zu beachten, denn auch wenn Taylor diese nach unterschiedlichen Handlungsstrategien klassifiziert, so ist das Lernen doch mit der kognitiven Auswertung der Handlungsergebnisse verknüpft. Die Analyse der von ihm geführten Interviews offenbart drei grundlegende Verhaltensmuster, die zu Lerneffekten führen und die im Grad der Involviertheit in der Gastlandskultur variieren. Es sind dies a) Handeln als Beobachter, b) Handeln in alltäglichen Interaktionen und c) Handeln in Freundschaften mit Gastlandsangehörigen. 5. Entstehen interkultureller Identität („evolving intercultural identity“): In der ständigen Interaktion mit der fremden Kultur bildet sich langsam eine interkulturelle Identität heraus, die mit mehr als nur einer Kultur verbunden ist. Der Prozess der Herausbildung einer interkulturellen Identität umfasst geänderte Werthaltungen, ein größeres Selbstvertrauen und eine veränderte Sicht auf die Welt (Taylor, 1994a, S. 167). Letzteres bezeichnet Taylor als „perspective transformation“ und stellt fest, diese sei wichtigstes Element des Lernprozesses und schließlich des Erwerbs interkultureller Kompetenz sowie der Herausbildung einer interkulturellen Identität. Taylor selbst bezeichnet seinen Entwurf als „a learning model that contains a contiguous series of components that reflect the long-term process of learning to become interculturally competent“ (Taylor, 1994a, S. 160), doch ist fraglich, ob Taylors Entwurf tatsächlich als ‚Modell‘ bezeichnet werden kann. Die auf der Grundlage einer spezifischen Lerntheorie sowie empirischer Daten vorgenommene Ableitung fünf aufeinander folgender Stufen des interkulturellen Lernprozesses stellen keine logische Abfolge dar: Zunächst werden Schritte des Lernprozesses dargestellt, deren Abfolge auf einen Zyklus hindeutet. Taylor verlässt diese Darstellung nach den ersten beiden Stufen (Vor51
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aussetzungen, Verunsicherung). Die Stufen drei und vier (kognitive Neuorientierungen und behaviorale Lernstrategien) beschäftigen sich nicht länger mit den nachfolgenden Stufen eines Mikro-Lernvorgangs (dies wären etwa Kognitionen und resultierende Handlungen), sondern mit generell zu beobachtenden Lernstrategien. Mit diesem Wechsel auf eine neue Makro-Ebene verliert das Modell seine Logik als Darstellung singulärer Lernzyklen. Als theoretisches Modell interkulturellen Lernens ist diese Darstellung daher nur begrenzt geeignet. Von größerem Interesse sind dagegen die Befunde von Taylors empirischer Untersuchung und damit Teilkomponenten des entworfenen ‚Modells‘. So beobachtet Taylor eine erhebliche Varianz der individuellen Erfahrungen, die im Zusammenhang mit den jeweiligen biographischen Hintergründen stand. Von einem ‚Kulturschock‘, den jeder der Befragten in gleicher Weise erlebe, könne nicht die Rede sein (S. 164). Ein weiteres Ergebnis dieser Studie ist die Unterscheidung verschiedener Lernstrategien, die Personen im Ausland einsetzen, und die in unterschiedlicher Weise zum Erwerb interkultureller Kompetenz beitragen. Beobachtungen, handelnde Teilhabe und das Eingehen langfristiger (Freundschafts-) Beziehungen zu Gastlandsangehörigen spielen hier eine Rolle. Taylors Interviews weisen jedoch insbesondere die Bedeutung von engen Freundschaftsbeziehungen zu Gastlandsangehörigen nach, da viele Themen nur in Gesprächen mit Vertrauten erörtert werden können. Für die von Taylor Befragten waren enge Freunde eine wichtige Anlaufstelle für Fragen, Quelle von Trost oder Rat. Dieser Befund war so ausgeprägt, dass Taylor schlussfolgert: „It seems that the process of becoming interculturally competent rests strongly on the shoulders of significant others“ (S. 167). Taylors Verdienst liegt mithin nicht nur in der theoretischen Verankerung eines Modells interkulturellen Lernens in Mezirows Lerntheorie (1989), sondern vor allem auch in dem Format der Datenerhebung, das den Erfahrungen seiner Interviewpartner auch jenseits der Grenzen und Erwartungen der theoretischen Annahmen Raum lässt. Zentrales Element der Modelle von Grove und Torbiörn, Kim sowie Taylor ist die große Bedeutung, die sie Dissonanzerfahrungen beimessen, das heißt der Erfahrung, dass Realitäten der jeweiligen Gastlandkultur nicht mit bisher verfügbarem Wissen erklärt werden können. Diese Auffassung steht in der Tradition eines pragmatistischen Lernbegriffs (der z.B. in Bezug auf Taylor von Kammhuber (2000) herausgearbeitet wird). Die Beschreibung dieser Dissonanzerfahrungen lässt dabei auf die Existenz erheblicher emotionaler Verunsicherung schließen (z.B. Taylor, 1994a, S. 161) und wird von Gudykunst und Kim sogar als „temporary psychic disintegration“ beschrieben (Gudykunst/ Kim, 2003, S. 380). Doch bleiben im Hinblick auf ein Verständnis interkultureller Lernprozesse eine Reihe wichtiger Fragen offen: 1. Was genau soll als Dissonanzerfahrung bezeichnet werden? Sind die von den oben genannten Autoren beschriebenen erheblichen 52
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kognitiven und emotionalen Verunsicherungen notwendige Bestandteile relevanter Dissonanzerfahrungen? Sind Dissonanzerfahrungen tatsächlich unabdingbar für interkulturelles Lernen? Interkulturelles Lernen unterschiede sich demnach von anderen Arten des Lernens, die ohne solche Verunsicherungen auskommen. Es ist meiner Meinung nach nicht plausibel, dies anzunehmen. Sicherlich lassen sich neue Einsichten, Hypothesen oder Wissen über die neue ‚Kultur‘ auch konfliktfrei integrieren. Welche Elemente des kognitiven Referenzsystems werden wie und wodurch transformiert? Einstellungen, Wissen, Werte verweisen auf sehr unterschiedliche Kategorien, die unterschiedlich leicht veränderbar sind. Während Wertvorstellungen und Einstellungen nur schwer beeinflussbar sind, ist Wissen leichter erweiter- und korrigierbar. Unter welchen Bedingungen werden welche Dissonanzerfahrungen gemacht? Dissonanzen, die von dritter Seite aus festgestellt werden, müssen sich nicht unbedingt für die Betroffenen als solche darstellen. Zu fragen ist hier auch nach den subjektiven Voraussetzungen (z.B. im Sinne von Vorwissen, Offenheit, Anspruchsniveau etc.) von Dissonanzerleben. Was gibt Lernprozessen eine positive Wendung? Taylor identifiziert wichtige Lernstrategien. Sind diese auch für andere Personen(gruppen) zutreffend? Gibt es weitere Lernstrategien und wie sind diese zu bewerten? Alle angeführten Autoren verweisen auf die Bedeutung biographischer Hintergründe und individueller Einflussfaktoren (z.B. Ethnizität, Alter, Geschlecht, (interkulturelle) Vorerfahrung, subjektives Mindestanspruchsniveau, usw.). Dies weckt Fragen danach, welche interindividuellen Unterschiede des Lernprozesses sich beobachten lassen und wie diese erklärt werden können.
Kognitive Veränderungen durch Kulturkontakt Eine Studie, die Antwort auf einige dieser Fragen verspricht, ist die von Bender-Szymanski et al. (1995; siehe auch Göbel/Hesse, 1998; Hesse, 1995). Die Studie zielt auf „einen differenzierten Einblick in Art, Tiefe und Ergebnisse von Lernprozessen […], die während eines Kulturkontaktes ablaufen.“ (Bender-Szymanski et al., 1995, S. 1). Zu diesem Zweck werden Alltagstheorien von Studienreferendaren vor und nach Unterrichtserfahrung in multikulturellen Schulklassen erfasst. Eine thematische Eingrenzung erfolgt dabei durch den Bezug auf die Dimension „Allozentrismus – Idiozentrismus“ (Triandis, 1994), mit der die Probanden in verschiedenen Settings konfrontiert wurden. Die Untersuchung erstreckte sich über mehr als zwei Jahre und bestand aus mehreren Schritten: Zur Erfassung der subjektiven Theorien wurde zunächst ein „critical incident“ eingesetzt. Die kurze Geschichte handelt von einem idi53
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ozentrierten, amerikanischen Protagonisten (Tom), der mit der Bitte seiner allozentrierten, philippinischen Schwiegermutter (Reya) konfrontiert wird, ihren Besuch bei Tom und ihrer Tochter zu verlängern und weitere Kinder nachzuholen. Tom, der fürchtet, durch den Besuch weiterhin von seiner Lebens- und Arbeitsroutine abgehalten zu werden, äußert Bedenken, woraufhin die Schwiegermutter gekränkt vorzeitig abreist. In der Diskussion dieses Vorfalls entfalten die Referendare Erklärungen des Verhaltens, der mutmaßlichen Motive und Vorstellungen der in der Geschichte vorgestellten Personen und entwerfen Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts. Das Interviewmaterial diente dann den Autoren zur Konstruktion einer „subjektiven Theorie“ des jeweiligen Probanden, die in Form eines Flussdiagramms festgehalten wurde. In einem nächsten Schritt führten die Studienreferendare eine Unterrichtsstunde in einer multikulturellen Schülergruppe (bestehend aus idiozentrierten deutschen und allozentrierten Schülern mit Migrationshintergrund) durch, in der derselbe „critical incident“ als Ausgangspunkt der Unterrichtsdiskussion diente. Die Unterrichtsstunde wurde auf Video aufgezeichnet. Eine Nachbesprechung des Unterrichts mit dem jeweiligen Studienreferendar diente u.a. der Dokumentation etwaiger „akkulturativer“ Lernerfahrungen. Der nächste Untersuchungsschritt erfolgte zwei Jahre später, nachdem die Referendare Erfahrungen im Unterrichten multikultureller Schulklassen gesammelt hatten. In einem Interview wurden die Referendare aufgefordert, ihre zwei Jahre zuvor aufgezeichnete Theoriestruktur zu kommentieren und veränderte Sichtweisen mitzuteilen. Als Resultat entstand ein verändertes Theoriebild, das dem neuen Stand der subjektiven Theorien der Person entspricht. Um, wie die Autoren schreiben, den „Akkulturationsdruck“ zu erhöhen (BenderSzymanski et al., 1995, S. 33), folgte als letzter Schritt eine „Konfrontationssitzung“, in der die Teilnehmer gezielt mit von ihrer Theorie abweichenden Meinungen und Lösungsvorschlägen konfrontiert wurden. Zur Unterstützung dieser konfrontativen Äußerungen setzten die Autoren Ausschnitte der Videoaufzeichnung der gefilmten Unterrichtsstunde ein. Bemerkenswerterweise kam es in den von Bender-Szymanski et al. (1995) dargestellten Einzelfällen erst unter diesen Bedingungen zu kognitiven Neustrukturierungen. Die hier gewonnenen empirischen Daten bestätigen die Notwendigkeit der Dissonanzerfahrung für das Eintreten von Lerneffekten – diese trat erst in der Interventionssitzung ein, nicht aber in den Unterrichtsstunden. Dass die Unterrichtserfahrung in multikulturellen Schulklassen keine hinreichenden Lernimpulse gab, erklären die Autoren mit mangelndem ‚Akkulturationsdruck‘ (s.o.). Das kann angesichts des hierarchischen Lernfeldes ‚Schulklasse‘ (in dem die Schüler auf den Lehrer zu hören haben und nicht umgekehrt), das zudem fest im deutschen Schulsystem verankert ist, nicht wirklich überraschen. Offenbar reichen Lernbereitschaft und Interesse an anderen Kulturen nicht aus, solange kulturelle Dissonanzerlebnisse nicht wirklich drängend werden. Die in der Konfrontationssitzung einsetzenden Lerneffekte verweisen auf das „Gesetz der Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotski, 1977, S. 259). 54
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Allerdings bleibt ungeklärt, welche Rolle die Unterrichtserfahrung für diese Lerneffekte gespielt hat (hat sie sie erleichtert oder sie erschwert?). Diese Studie weist auch darauf hin, dass es in interkulturellen Erfahrungssituationen nicht automatisch zu Lerneffekten kommt, sondern dass diese weiterer Voraussetzungen bedürfen.
Schlussfolgerung In diesem Kapitel wurden Ergebnisse von Forschungsarbeiten aus den Themenfeldern ‚interkulturelles Lernen‘ und ‚Akkulturation‘ zusammengetragen. Dabei stand der Beitrag, den diese Arbeiten für ein Verständnis interkulturellen Lernens von Deutschen in Taiwan leisten können, im Vordergrund. Der Begriff der ‚Akkulturation‘ wurde als wenig präzise und theoretisch unzureichend fundiert als Grundlage der empirischen Arbeit verworfen. ‚Interkulturelles Lernen‘ erwies sich als das aussichtsreichere Konzept, wobei einer psychologischen Definition der Vorrang gegeben wurde, da diese offen ist für informelle Lernprozesse und die individuelle Perspektive betont. Ausgehend von einer psychologischen Lerndefinition, die Lernen als Veränderung von Verhaltensdispositionen aufgrund von Erfahrung definiert, wurde erkundet, was den Spezialfall ‚interkulturelles Lernen‘ kennzeichnet. Dabei zeigte sich, dass Auffassungen von ‚interkulturellem Lernen‘ entweder implizit oder explizit an das Vorliegen einer ‚interkulturellen Erfahrungssituation‘ und eine spezifisch ‚interkulturelle‘ Art der Dispositionsänderung gebunden sind. Wie oben gezeigt wurde, reicht die Bestimmung der Erfahrungssituation für eine Definition allein nicht aus, denn nicht alle Veränderungen (in Verhaltensdispositionen), die aus solcherart bestimmten ‚interkulturellen Begegnungen‘ resultieren, werden als ‚interkulturelles Lernen‘ bezeichnet. Indem ‚interkulturell‘ in der Ergebnisdimension immer schon einen positiven (d.h. ‚besseren‘ und ‚konfliktfreien‘) Umgang mit kultureller Differenz bedeutet, erweist sich der Begriff inhaltlich bzw. normativ bestimmten, ‚humanistischen‘ Assoziationen verhaftet. Für ein psychologisches Forschungsinteresse scheint diese Einschränkung aus mehreren – theoretischen wie praktischen – Gründen wenig hilfreich. Mit einer psychologischen Begriffsbestimmung ist die Aufnahme einer bestimmten Zieldimension zur Definition des Lernprozesses nur schwer vereinbar. Solange für ‚interkulturelles Lernen‘ die ‚interkulturelle‘ Erfahrungssituation als bedeutsam angenommen wird, müssen prinzipiell alle psychischen Veränderungen, die auf diese Erfahrungssituation zurückgehen, für weitere Analysen in Betracht gezogen werden können. Zumindest müsste theoretisch (und nicht nur normativ) begründet werden, warum nur bestimmte Dispositionsänderungen als ‚interkulturelles Lernen‘ anerkannt werden, andere (z.B. die Ausbildung rassistischer Einstellungen) jedoch nicht. Humanistische Werte können 55
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Leitlinien einer interkulturellen Pädagogik oder interkultureller Trainings sein; sie können auch zur Bewertung ablaufender Lernprozesse herangezogen werden und so Kriterien dafür bereitstellen, ob diese in die ‚erwünschte‘ Richtung verlaufen. Sie können jedoch keinen überzeugenden theoretischen Beitrag für die Definition interkulturellen Lernens leisten. Aber auch praktische Gründe sprechen für eine erweiterte Definition interkulturellen Lernens. Wird berücksichtigt, dass interkulturelle Erfahrungssituationen auch Lerneffekte in unerwünschte Richtungen anstoßen, so zeigen sich Problemfelder und Störungen, die – im Sinne der Erreichung des (positiven) Lernziels – bearbeitet und gelöst werden müssen. Dies nicht zu berücksichtigen bedeutet, bestimmte Einsichten und Ansichten (bei sich selbst oder bei Seminarteilnehmern) zu ignorieren, weil sie ‚nicht opportun‘ erscheinen. Werden bestimmte Veränderungen aus dem Interpretationsrahmen ‚Lernen‘ ausgegrenzt, bedeutet das, sie der bewussten Reflexion zu entziehen (was bekanntermaßen nicht bedeutet, dass sie nicht handlungswirksam werden könnten). Dem Lerner signalisiert eine solche einseitige Definition zudem, dass seine Erfahrungen irgendwie ‚unzulänglich‘ sind, solange sie nicht von der positiven Anerkennung kulturell Anderer zeugen. Zudem kann, wie oben dargelegt wurde, keineswegs problemfrei geklärt werden, bei welchen Situationen es sich um ‚interkulturelle‘ Erfahrungssituationen handelt. Das Kriterium, kulturelle Differenz müsse in einer Situation relevant sein, ist seinerseits nicht unproblematisch. Nicht zuletzt bleibt ungeklärt, aus wessen Sicht diese Relevanz gegeben sein muss – aus Sicht der Forscherin? Der Beteiligten? Unbeteiligter anwesender Beobachter? Insgesamt erweist sich der Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ aus diesen Gründen als wenig präzise Grundlage des hier verfolgten Vorhabens. Eine Subsumtion der Frage nach der Veränderung von Alltagswissen unter das Konzept ‚interkulturelles Lernen‘ bedürfte der Setzung, dass Deutsche in Taiwan prinzipiell mit einer interkulturellen Erfahrungssituation konfrontiert seien. Eine solche Setzung erscheint zu diesem Zeitpunkt aus den oben angeführten Gründen jedoch als nicht begründbar. Auch scheint die Setzung einer bestimmten Zieldimension in diesem Fall wenig sinnvoll. Die empirische Studie ruht deshalb auf dem allgemeineren Lernbegriff und setzt sich u.a. zum Ziel zu erkunden, inwieweit und in welcher Hinsicht die Ergebnisse der Untersuchung rechtfertigen, den (mutmaßlich zu beobachtenden) Lernprozess als interkulturelles Lernen zu bezeichnen. Zu diesem Zweck wird ein Wissensausschnitt (das Thema ‚Gesicht‘) gewählt, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, von den Untersuchungspartnern als ‚interkulturelle Erfahrungssituation‘ (bzw. „interkulturelle Überschneidungssituation“ sensu Thomas, 1993b) wahrgenommen zu werden. Im Sinne größtmöglicher Offenheit für Verlauf, Inhalt und subjektive Deutungen zielt die empirische Unter56
INTERKULTURELLES LERNEN
suchung auf die Dokumentation der Veränderung von Alltagswissen nach dem Wechsel in ein fremdes Umfeld, wobei diese Veränderung als Ausdruck von ‚Lernen‘ betrachtet wird. Präzisierung und Operationalisierung setzen dabei die Klärung des Begriffes ‚Alltagswissen‘ voraus.
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2. A L L T A G S T H E O R I E N
Hintergrund und Forschungsfeld Mitte der 1950er Jahre forderte Kelly die etablierte Psychologie mit der These heraus, Menschen würden ähnlich wie Wissenschaftler ihre Umwelt erklären, Prognosen abgeben, Handlungen planen und reflektieren (Kelly, 1955). In dem Maße, wie die Kognitive Psychologie und – mit ihr – die Sozialpsychologie Perspektiven jenseits des Behaviorismus eröffneten, gewannen Modelle an Bedeutung, die Menschen eine aktive Rolle bei der Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung zuwiesen. Standen dabei einerseits Verzerrungen und Fehler der Urteilsbildung im Vordergrund, so wurde doch andererseits auch das Potential des ‚Alltagswissens‘ normaler Menschen für die Formulierung wissenschaftlicher Theorien ersichtlich (Heider, 1958). Seither gibt es eine Reihe unterschiedlicher psychologischer Ansätze, die sich unter verschiedenen Begriffen mit alltagsweltlichen Wissensbeständen auseinander setzen, so z.B. unter den Begriffen „implicit theories“ (Wegner/ Vallacher, 1977), „common-sense psychology“ (Kelley, 1992), „lay theories“ (Furnham, 1988), „social representations“ (Moscovici, 1981, 1984), „naive Verhaltenstheorien“ (Laucken, 1974), „lay epistemics“ (Kruglanski, 1990), „subjektive Theorien“ (Groeben, Wahl, Schlee/Scheele, 1988), „practical intelligence“ (Sternberg et al., 2000) usw. Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen das Interesse am Alltagswissen ‚normaler Menschen‘, die auf der Grundlage dieses Wissens mit anderen interagieren, ihrem Beruf nachgehen, Expertise ausbilden und ganz allgemein ihr Leben meistern. In Abgrenzung von wissenschaftlichem Wissen bezeichnet Alltagswissen das – häufig implizite – Wissen von ‚Laien‘, zu denen natürlich auch Wissenschaftler zählen, sobald sie in Bezügen jenseits ihres spezifischen Arbeitsgebietes handeln. Alltagswissen ist durch einen geringen Grad formaler Elaboration gekennzeichnet, wird häufig nicht durch Instruktion, sondern durch Erfahrung (induktiv) erworben und umfasst bisweilen widersprüchliche und fehlerhafte Annahmen (Flick, 1995; Furnham, 1988). Hierdurch wird Alltagswissen jedoch nicht generell als defizitäre Wissensform ausgewiesen, denn für die Bewältigung des Alltags ist dieses Wissen in der Regel höchst funktional und kann – z.B. als praktisches Können (Neuweg, 1999) – auch Bereiche umfassen, die von wissenschaftlichen Theorien nur unzureichend widergespiegelt werden. Gerade der letztge-
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nannte Aspekt findet in jüngster Zeit großes Interesse in Wissenschaft und (Unternehmens-)Praxis.1 Für die Psychologie interkulturellen Handelns2 – die eng an Themenstellungen der Sozialpsychologie anschließt – ist das Modell eines die Umwelt aktiv deutenden ‚Alltagstheoretikers‘ nicht speziell begründungsbedürftig. Wie Jones (1993) betont, ist Sozialpsychologie ohne die Frage nach sozialen Wahrnehmungs- und Urteilsprozessen nicht denkbar. Entsprechend besteht auch in der Untersuchung interkulturellen Handelns kein Zweifel, dass Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse der Akteure eine entscheidende Rolle spielen. Kennzeichnend für das Feld der ‚interkulturellen Psychologie‘ ist dabei eine Verknüpfung dieser Deutungsprozesse mit kulturellen Sinn- oder „Orientierungssystemen“ (Thomas, 1996b). Dabei steht der Nachweis, dass der kulturellen Dimension in konkreten Interaktionen Bedeutung zukommt und inwiefern dies das Gelingen interkultureller Verständigung gefährdet, in der Regel im Vordergrund. Zwar werden sozialpsychologische Konzepte (wie z.B. Attribution, Stereotyp, Schema) häufig verwendet, jedoch selten theoretisch entfaltet oder explizit begründet. Möglicherweise spiegelt dies den Um1 So verspricht etwa die Explikation des tacit knowledge der Mitarbeiter durch Methoden des Knowledge-Managements Potentiale für eine verbesserte Leistungsfähigkeit von Organisationen (Nonaka/Takeuchi, 1995), und Sternberg et al. (2000) erhoffen sich von der Dokumentation und Operationalisierung „praktischer Intelligenz“ erweiterte Perspektiven für die Intelligenzmessung. Diese neuen Forschungsfelder verweisen auch auf einen veränderten Argumentationszusammenhang: Stand Mitte des letzten Jahrhunderts zunächst die Tatsache im Mittelpunkt, dass Menschen überhaupt über implizites Wissen verfügen, so gilt das Interesse heute der Dokumentation und Nutzbarmachung dieses Wissens für spezifische Zwecke. Das Menschenbild hat sich dabei gewandelt: War in den 1950er bis 70er Jahren begründungsbedürftig, dass Menschen mehr als nur Reiz-Reaktionsautomaten waren, so spiegelt sich in den neuen Anwendungsfeldern der Blick auf den Menschen als ‚Humanressource‘, deren Marktwert sich insbesondere durch Umfang, Anwendbarkeit und Exklusivität ihres Wissens bestimmt. 2 Im deutschsprachigen Raum hat sich eine „Psychologie interkulturellen Handelns“ (Thomas, 1993b, 1996a; Thomas/Kinast/Schroll-Machl, 2003; Thomas/ Kammhuber/Schroll-Machl, 2003) etabliert, die – ohne eine fest umrissene ‚Disziplin‘ innerhalb der Psychologie zu sein – das Erforschen interkultureller Interaktionen zu ihrem Gegenstand gemacht hat: Ausgehend von Situationen, in denen Akteure verschiedener ‚Kulturen‘ aufeinander treffen, wird hier nach dem Verlauf dieser Kontakte, den Bedingungen ihres Gelingens oder Scheiterns und nach Möglichkeiten der Förderung und Erleichterung solcher Kontakte gefragt. Dabei definiert sich die Psychologie interkulturellen Handelns weder durch einen speziellen theoretischen noch durch einen bestimmten methodologischen Ansatz, sondern sie bestimmt sich allein durch ihren Gegenstand, eben jene Interaktionen, die im Verständnis des Forschers als ‚interkulturell‘ bezeichnet werden können (vgl. Weidemann/Straub, 2000). Im angloamerikanischen Sprachgebrauch formiert sich entsprechende Forschung um den Begriff der ‚intercultural interaction‘, wird jedoch nicht unbedingt im Bereich der Psychologie verortet. 60
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stand wider, dass es sich bei der Psychologie interkulturellen Handelns um ein noch junges Forschungsunterfangen handelt, dessen Notwendigkeit und Nutzen es noch zu belegen gilt. Der Anschluss an anderweitig entwickelte Begriffe und Theorien, die eine theoretische Begründung des Forschungsgegenstandes und zentraler Konzepte ermöglichen, hat dagegen erst in jüngster Zeit eingesetzt (z.B. Layes (2000, 2002) in Bezug auf das Konzept der ‚sozialen Interaktion‘, Philipp (2003) mit Bezug auf den Attributionsbegriff, Kammhuber (2000) mit Bezug auf Lerntheorien). In Bezug auf die Konzeption von ‚Alltagswissen‘ oder ‚Alltagstheorien‘ steht eine solche theoretische Verknüpfung noch aus (sie kann auch an dieser Stelle nicht geleistet werden), auch wenn Anschlussmöglichkeiten hier bereits aufgezeigt wurden (z.B. Gudykunst/Kim, 2003).3 Bestehende und mögliche Anknüpfungspunkte des Konzepts ‚Alltagstheorien‘ zu einer Psychologie interkulturellen Handelns sollen jedoch kurz gestreift werden.
Alltagstheorien und interkulturelle Interaktionen Da interkulturelle Interaktionen aus psychologischer Sicht soziale Situationen darstellen, kommen in diesem Zusammenhang vor allem solche Annahmen und Wissensbestände zum Tragen, die sich auf soziale und psychologische Sachverhalte beziehen. Es geht also im Wesentlichen um psychologische Alltagstheorien, „implicit psychology“ (Wegner/Vallacher, 1977) oder „common sense psychology“ (Kelley, 1992). Fasst man psychologische Alltagstheorien in erster Annäherung als subjektive Vorstellungen über das psychologische Funktionieren von Menschen, einschließlich Annahmen über Verhaltensgründe und Verhaltenskonsequenzen, dann ergeben sich drei Anknüpfungspunkte für eine Betrachtung interkultureller Interaktionen: Erstens: In interkulturellen Interaktionen begegnen sich Akteure, die über unterschiedliche, kulturell eingebettete psychologische Alltagstheorien verfügen. Diese sorgen sowohl für Differenzerleben als auch für Missverständnisse, wenn auf ihrer Grundlage das Verhalten des Interaktionspartners erklärt wird. Zweitens: Menschen verfügen über Alltagstheorien darüber, wie interkulturelle Kontakte ablaufen. Drittens: Psychologische Alltagstheorien verändern sich aufgrund der in interkulturellen Interaktionen gemachten Erfahrungen.
3 Eine theoretische Fundierung dient nicht nur der begrifflichen Präzisierung sondern ermöglicht neue und notwendige Reflexionsperspektiven auf das eigene wissenschaftliche Tun. So wäre es m.E. zum Beispiel nützlich, das Vorgehen bei der Erhebung und Interpretation von critical incidents unter narrationstheoretischer Perspektive zu betrachten. Die Interpretation von critical incidents unter dem Aspekt des ‚story telling‘ würde die Aufmerksamkeit für das Erfüllen von ‚Erzählzwängen‘ (Schütze, 1983), von Zuhörererwartungen und kulturellen Präformierungen (Bruner, 1993) schärfen und vermutlich zu anderen Interpretationen der auf diesem Wege gewonnenen Daten führen. 61
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Unterschiedliche Alltagstheorien der beteiligten Akteure Interkulturelle Interaktionen werden häufig gerade durch den Umstand bestimmt, dass die beteiligten Akteure über unterschiedliche Wissensbestände, Werte, Normen und Erwartungen verfügen. Entsprechendes gilt auch für ‚Alltagstheorien‘ oder „implicit theories“ (Gudykunst/Kim, 2003). Ihre Relevanz für interkulturelle Interaktionen gewinnen Alltagstheorien dadurch, dass sie – und hier überschreiten interkulturelle Arbeiten, die sich auf dieses Konzept beziehen, das universalistisch ausgerichtete sozialpsychologische Terrain – zwar subjektive Annahmen über das ‚Funktionieren der Welt‘ darstellen, jedoch gleichzeitig durch kulturelle Muster geprägt sind. Problematisch sind Alltagstheorien dabei nicht nur, weil sie z.T. grundlegende Auffassungen über Zusammenhänge der sozialen und materiellen Umwelt umfassen (was u.U. in der Interaktion zu schwer vermittelbarer Differenz führen kann), sondern vor allem auch, weil sie in der Regel implizit sind. Am Beispiel von Alltagstheorien über Kommunikation wird die Tragweite dieses Umstands deutlich: Our implicit personal theories of communication are our unconscious, taken-forgranted assumptions about communication. [...] Our implicit theories tell us with whom we should communicate, when we should communicate with others, what we should communicate, how we should communicate with others, how we should present ourselves when we communicate, what effective communication is, and how to interpret other people’s communication behavior. Because we learned our implicit personal theories of communication as we were growing up, they are based on the cultures in which we were raised, our ethnic backgrounds, our genders, our social classes, and the regions of the country in which we were raised, as well as on our unique individual experiences. (Gudykunst/Kim, 2003, S. 9)
Alltagstheorien regulieren das Handeln in der konkreten Situation, wobei es bei Differenz der Vorgehensweisen zu Interaktionsstörungen kommen kann, da häufig weder die eigenen Annahmen, Theorien und Handlungsroutinen bewusst noch diejenigen des Gesprächspartners bekannt sind. Dieser Umstand wird dadurch verschärft, dass das Geschehen auf der Grundlage der eigenen Alltagstheorien gedeutet wird. Alltagstheorien spielen daher auch eine Rolle für Attributionsprozesse in interkulturellen Interaktionen. Das Themenfeld ‚Attribution‘ hat in der Psychologie interkulturellen Handelns viel Aufmerksamkeit erfahren. Da es in interkulturellen Interaktionen vergleichsweise häufiger zu Störungen kommt, Attributionsprozesse aber gerade durch erwartungswidrige Entwicklungen ausgelöst werden, stehen Personen in interkulturellen Interaktionen häufig vor der Notwendigkeit, das Verhalten des anderen oder die Situation zu erklären. Diese Erklärungen können nur auf der Grundlage subjektiv verfügbaren Wissens, Erfahrungen und Vermutungen vorgenommen werden und sind, so eine der Grundannahmen inter-
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kultureller Forschung, häufig falsch4 (Thomas, 2003b, S. 45). Entsprechend zielen Kulturassimilatoren darauf, die Fähigkeit zu ‚isomorphen Attributionen‘ zu trainieren.5 Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn es einer Person gelingt, die Gründe für ein Verhalten anzugeben, die die andere Person auch selbst nennen würde. Alltagstheorien spielen hier eine Rolle, sowohl weil sie als Grundlage der Attribution betrachtet werden können, als auch weil das Attributionsergebnis Auswirkungen auf Alltagstheorien haben kann, indem es diese z.B. bestätigt oder widerlegt. Andererseits kann Attribution als sozialkognitiver Prozess einem weit gefassten Begriff subjektiver Theorien auch untergeordnet werden (Groeben, 1988a; Groeben/Scheele, 2002). Das Konzept der ‚Alltagstheorie‘ ist in der Psychologie interkulturellen Handelns allerdings nicht weit verbreitet. Statt auf individuelle Theorien fokussiert diese in der Regel auf überindividuell bedeutsame Sinnstrukturen. Berichte über subjektiv bedeutsame Störungen dienen dabei als wertvolle Hinweise auf Unterschiede der kulturellen Orientierungssysteme. An dieser Stelle wird – vermittels der Analyse ‚kritischer Interaktionssituationen‘ – von der individuellen Ebene auf eine kollektive, kulturelle Ebene geschlossen, wobei angenommen wird, dass Kenntnis der jeweils wirksamen Kulturstandards Rückschlüsse auf individuelles Verhalten erlaubt, denn: „Kulturstandards sind Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich und andere als normal, typisch und verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird aufgrund dieser Kulturstandards gesteuert, reguliert und beurteilt“ (Thomas, 2003c, S. 25). Zwar werden Verhaltensspielräume explizit zugestanden, doch wird deutlich, dass Kulturstandards eine verhaltensregulierende Funktion zugewiesen wird. Der Umkehrschluss, mit Beschreibung dieser Ebene könnten nun auch Rückschlüsse auf das Verhalten und Erleben individueller Akteure gezogen werden, ist höchst problematisch. Anders gesagt: Die Beschreibung kultureller Standards, die individuelle Sinnbildung anleiten, kann zwar im Hinblick auf die Konstruktion und Deskription anderer Kulturen einen Beitrag leisten. Hier nach Erklärungen für Handlungsentscheidungen von Individuen zu suchen, hieße jedoch, einem ökologischen Fehlschluss aufzusitzen (Krewer, 1996).
4 Fehler resultieren dabei nicht nur aus mangelnder Kenntnis der ‚Gegenkultur‘, sondern umfassen auch jene Verzerrungen des Urteilsprozesses, die auch in nichtinterkulturellen Situationen auftreten. Ein Beispiel hierfür ist der ‚fundamentale Attributionsfehler‘, der darin besteht, situationale Einflussfaktoren zu unterschätzen und bevorzugt auf Dispositionen des anderen zu attribuieren (s.a. Thomas, 2003b, S. 57). 5 Wie Winter (1994) anmerkt, bleibt der Begriff der Attribution in diesem Zusammenhang jedoch oft unnötig unscharf, da Attributionstheorien oder einzelne Komponenten des Attributionsprozesses außer Betracht bleiben. 63
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Die Psychologie interkulturellen Handelns befindet sich an dieser Stelle in dem Dilemma, die kulturelle Einbettung menschlichen Erlebens und Verhaltens betonen und zugleich Empfehlungen für individuelles Handeln aussprechen zu müssen. Eine Rahmentheorie, die eine Verknüpfung beider Ebenen schlüssig vornehmen könnte, steht zurzeit noch aus. Möglicherweise könnten Konzepte wie ‚Alltagstheorien‘ und ‚Soziale Repräsentationen‘ hier sinnvoll herangezogen werden (eine theoretische Verbindung dieser beiden Konzepte unternimmt im Hinblick auf Lehrerhandeln Lehmann-Grube, 2000).
Alltagstheorien über den Ablauf interkultureller Interaktionen Geht man davon aus, dass Alltagstheorien das Handeln in interkulturellen Interaktionen regulieren, dann müssten jene Alltagstheorien von besonderer Bedeutung sein, die sich explizit auf Ablauf und Steuerung von und Einstellungen zu interkulturellen Begegnungen richten. Tatsächlich sind solche Alltagstheorien über den Ablauf interkultureller Begegnungen jedoch nur selten thematisiert worden. Dabei ist die Kenntnis subjektiver Vorstellungen sowohl für ein Verständnis des konkreten Verhaltens der Beteiligten als auch für die Moderation interkultureller Begegnungen durchaus von Bedeutung. So untersucht zum Beispiel Lummer (1994) subjektive Theorien, die Vietnamflüchtlinge in Bezug auf ihre Integration in Deutschland haben. Diese bieten Anhaltspunkte für eine verbesserte Betreuung dieser Gruppe von Zuwanderern durch Pädagogen oder Sozialarbeiter. Auch von Philipp (2003) werden Erwartungen an interkulturelle Kommunikation erfragt, doch stellt dieser Teil ihrer Arbeit nur einen Nebenstrang dar, der nicht tiefer verfolgt wird. Über alle Themenfelder hinweg zeichnet sich ab, dass der in der Psychologie interkulturellen Handelns gepflegte Verweis auf die kulturelle Eingebundenheit des Erlebens und Verhaltens zu einer Vernachlässigung der Perspektive individueller Akteure führt. Dies hat den Blick vor allem auf kollektiv geteilte Muster gelenkt, deren Interpretation und Neuarrangement auf individueller Ebene jedoch zu wenig berücksichtigt. Individuelle Gestaltungsfaktoren wie subjektive Erwartungen an interkulturelle Interaktionen oder Zielsetzungen für eigenes interkulturelles Handeln sind dabei bisher kaum berücksichtigt worden. Dies gilt auch für die dritte Perspektive auf das Problemfeld. Wie schon im vorangegangenen Kapitel diskutiert, wurden individuelle (interkulturelle) Lernprozesse zugunsten schematischer Akkulturationsmodelle (die wiederum nur Typen und Phasen behandeln, nicht individuelle Erfahrungen) von der Forschung bisher vernachlässigt.
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Veränderungen von Alltagstheorien Die Frage nach Veränderungen von Alltagstheorien durch interkulturellen Kontakt wird explizit zum Beispiel in der Arbeit von Bender-Szymanski et al. (1995) verfolgt. Diese Arbeit wurde bereits im vorigen Kapitel dargestellt und soll hier nicht erneut präsentiert werden. Doch nicht nur Alltagstheorien im engeren Sinne, sondern auch Attribution ist mit der Auffassung vom Menschen als ‚Laienpsychologen‘ eng verknüpft. In diesem Zusammenhang ist damit auch die Frage von Bedeutung, inwiefern Inhalte und Prozesse der Attribution sich aufgrund interkultureller Erfahrung verändern. Einen Hinweis darauf liefert die bereits erwähnte Arbeit von Philipp (2003), die Attributionen von interkulturell unerfahrenen Personen mit jenen erfahrener Untersuchungspartner verglich. Anlass der Attributionen waren jeweils konkrete Erlebnisse einer vorausgegangenen interkulturellen Erstkontakt-Situation. In ihrer Analyse kommt Philipp (2003, S. 236) zu dem Schluss, interkulturell Erfahrene zeichneten sich insbesondere dadurch aus, dass sie: – mehr Attributionen in mehr Bereichen nennen, also über mehr Attributionsschemata verfügen; – stärker als interkulturell Unerfahrene die Spezifika der interkulturellen Kommunikationssituation mit einbeziehen; – weniger individuumszentriert attribuieren und – statt rasche Klärung herbeizuführen eher abwarten, ob sich das Problem von alleine klärt. Ob diese Unterschiede auf Lerneffekte durch interkulturelle Erfahrungen zurückgehen und wenn ja, auf welche, kann aufgrund des Untersuchungsdesigns dieser Studie (die nicht auf die Erfassung von Lerneffekten abzielte) jedoch nicht geklärt werden. Vor dem Hintergrund der noch bestehenden Forschungsdefizite zielt das hier verfolgte Vorhaben gerade auf die Ermittlung individueller Veränderungen von Alltagswissen/Alltagstheorien. Dieses Untersuchungsinteresse erfordert eine präzisere Eingrenzung des Begriffs ‚Alltagstheorien‘ oder ‚Alltagswissen‘, die dem Forschungsgegenstand gerecht wird und eine Operationalisierung dieses Konstrukts ermöglicht. Eine für die vorliegende Fragestellung taugliche Konzeptualisierung von Alltagswissen muss dabei: – theoretisch begründet sein, – die Operationalisierung (und damit Dokumentation) von Alltagswissen ermöglichen, – dem subjektiven Charakter individueller Lernprozesse Rechnung tragen und – so weit gefasst sein, dass möglichst die Gesamtheit der vor Ort gemachten Erfahrungen konzeptuell eingeschlossen sind.
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Diese Anforderungen schließen mithin Konzepte aus, die sich lediglich auf spezielle Aspekte sozialer Informationsverarbeitung beziehen (z.B. Attribution), die auf bestimmte inhaltliche Bereiche von Alltagswissen beschränkt sind (z.B. implizite Persönlichkeitstheorien) oder die auf kollektiver Ebene angesiedelt sind (z.B. soziale Repräsentationen). Das – in den letzten Jahren theoretisch elaborierte und vielfach forschungspraktisch umgesetzte – Konstrukt der Subjektiven Theorien scheint die genannten Kriterien auf den ersten Blick hingegen zu erfüllen. Im Folgenden soll daher das Konzept der Subjektiven Theorien vorgestellt und im Hinblick auf seine Anwendbarkeit im vorliegenden Kontext kritisch überprüft werden.
Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien Im deutschsprachigen Raum hat das Forschungsprogramm Subjektive Theorien6 einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Die in den Arbeiten von Dann (1983), Groeben (1986), Groeben et al. (1988), Scheele (1992), Scheele/Groeben (1988) explizierten theoretischen, methodologischen und methodischen Grundlagen dieses Forschungsprogramms sind seither in unterschiedlichsten Feldern der anwendungsorientierten psychologischen und pädagogischen Forschung aufgegriffen und umgesetzt worden.7 Dabei kommt den genannten Arbeiten neben ihrer Initiativkraft auch ein erheblicher theoretischer Integrationswert zu, der sich u.a. an der Tatsache ablesen lässt, dass fast alle Publikationen zum Thema auf die von Groeben et al. (1988) vorgenommenen Begriffsbestimmungen zurückgreifen (s.a. Schilling, 2001). Versieht Dann (1983) den Anspruch eines ‚Forschungsprogramms‘ Subjektive Theorien noch mit einem Fragezeichen, so lässt die bis heute feststellbare Forschungsaktivität unter diesem Leitkonzept diese Bezeichnung durchaus als gerechtfertigt erscheinen. Hierzu hat die früh vorgenommene Verknüpfung des theoretischen Konzepts ‚Subjektive Theorien‘ mit einer spezifischen Methodologie und einem entsprechend abgestimmten methodischen Instrumenta-
6 Der Begriff ‚Subjektive Theorie‘ hat im Rahmen dieses Forschungsprogramms eine spezifische, festgelegte Bedeutung. Im folgenden Abschnitt wird die Schreibweise ‚Subjektive Theorie‘ gebraucht, wenn diese spezifische Bedeutung gemeint ist. Ist ein – in diesem Forschungsfeld ebenfalls vorkommender – allgemeinerer Begriff subjektiver Vorstellungen gemeint, ist dies durch die Schreibweise ‚subjektive Theorie‘ markiert. 7 Zu den vorrangigen Forschungsfeldern zählen dabei Unterrichtshandeln (z.B. Bender-Szymanski et al., 1995; Dann, 1992; Lehmann-Grube, 2000; Patry/Gastager, 2002; Wahl/Schlee/Krauth/Mureck, 1983; Wahl, 2002), Gesundheit und Krankheit (z.B. Flick, 1991), Fremdsprachenlernen (z.B. De Florio-Hansen, 1998; Grotjahn, 1998; Kallenbach, 1996; Scheele/Groeben, 1998) oder Themen der Organisationspsychologie (Schilling, 2001). Andere Anwendungsbereiche sind denkbar und werden auch einbezogen. 66
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rium (das in der Folge für konkrete Forschungsfragestellungen lediglich abgewandelt werden musste) sicherlich entscheidend beigetragen.
Begriffsbestimmung Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien basiert auf der Grundlage eines Menschenbildes, das Menschen als reflexive und zweckrationale Akteure begreift, die ihr Handeln auf Wissensbestände gründen, die in Form von ‚Subjektiven Theorien‘ organisiert sind. Als Subjektive Theorien gelten komplexe und relativ überdauernde Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, die eine zumindest implizite Argumentationsstruktur aufweisen (Groeben, 1988a, S. 19). ‚Subjektiv‘ sind sie als Theorien des Alltagsmenschen in Abgrenzung von ‚objektiven‘, wissenschaftlichen Theorien. Ihre Eigenschaft als Theorie gründet sich sowohl auf die implizite Argumentationsstruktur (die Schlussfolgerungen ermöglicht) als auch auf ihre Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie (im Sinne von Herstellbarkeit), die denen wissenschaftlicher Theorien parallel sind. Zwar erreichen sie nicht die Präzision oder das Ausmaß an Reflektiertheit wissenschaftlicher Theorien, doch gelten die rationalistischen Merkmale wissenschaftlicher Theorien als „positive Zieldimensionen konstruktiver Entwicklungsmöglichkeiten“ (Schlee, 1988, S. 16). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien operiert damit auf der Grundlage eines bestimmten Menschenbildes und Wertesystems, das den Prinzipien der „Intentionalität, Reflexivität, potentiellen Rationalität und sprachlichen Kommunikationsfähigkeit“ (Schlee, 1988, S. 16) verpflichtet ist. Subjektive Theorien sind in einer weiten und einer engen Variante definiert worden. Die so genannte weite Begriffsbestimmung versteht Subjektive Theorien als: – Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, – als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, – das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen – der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt. (Groeben, 1988a, S. 19)
In dieser Definition sind Aspekte des Inhalts, der Struktur und der Funktion Subjektiver Theorien angesprochen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Dabei soll das Konzept ‚Subjektive Theorie‘ zugleich elaboriert und Anknüpfungspunkte einer kritischen Reflexion markiert werden. Im Vordergrund der nachfolgenden Abschnitte steht daher weniger die deskriptive
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Einführung denn eine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien.8 Inhalte Subjektiver Theorien: Subjektive Theorien werden als „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht“ definiert. Damit sind sie der Kategorie ‚Kognition‘ zugeordnet, wenngleich sie innerhalb dieser Kategorie mittels Beschreibung ihrer Struktur und Funktion präziser bestimmt werden. Als „Kognitionen“ sind Subjektive Theorien der Ebene des Psychischen, Mentalen zuzuordnen, woraus resultiert, dass sie erschlossen, jedoch nicht direkt beobachtet werden können. Ihr Gegenstandsbereich („Selbst- und Weltsicht“) ist dabei umfassend, so dass sich Subjektive Theorien „im Prinzip auf alle Gegenstände erstrecken“ können (Groeben, 1988a, S. 21). Nach dem Selbstverständnis des Forschungsprogramms Subjektive Theorien schließt der Begriff ‚Subjektive Theorien‘ in seiner weiten Begriffsfassung andere Konstrukte, die in Bezug auf Alltagserklärungen und -wissen formuliert wurden (s.o.), generell ein (Scheele/Groeben, 1988, S. 1). Subjektive Theorien werden so als integratives Konzept verstanden, das zur Präzisierung und Differenzierung anderer Konstrukte (z.B. der personal construct theory von Kelly (1955) oder der Attributionstheorie von Kelley (1972)) herangezogen werden kann (Groeben/Scheele, 2002). Struktur Subjektiver Theorien: Subjektive Theorien unterscheiden sich von anderen Kognitionen vor allem durch den Grad ihrer Komplexität und die Form ihrer Organisation. Im Gegensatz zu ‚einfachen Kognitionen‘ handelt es sich um ein (komplexeres) „Aggregat“ von Konzepten, die auf eine Art und Weise miteinander verknüpft sind, dass aufgrund der Argumentationsstruktur Schlussfolgerungen möglich sind. Einzelne Konzepte (Inhalte) Subjektiver Theorien können dabei beispielsweise durch Konditional-, Kausal- oder andere Relationen miteinander verknüpft sein.9 Damit werden Subjektive Theorien in prinzipieller Analogie zu wissenschaftlichen Theorien definiert, wobei sich diese Parallelität insbesondere aus der Annahme einer funktionalen Entsprechung beider Theorieformen herleitet (Scheele/Groeben, 1998, S. 16). Die Tatsache, dass es sich bei der Feststellung der Theorieförmigkeit Subjektiver Theorien um eine definitorische Festlegung handelt und nicht um empirische Erkenntnis, ist für die Verwendung des Konstrukts von größter Bedeutung. Denn ob „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht“ überhaupt,
8 Einführende Darstellungen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien finden sich in einer großen Zahl von Arbeiten, die auf das Konzept zurückgreifen (darunter empfehlenswert zum Beispiel die Darstellung bei Schilling, 2001). 9 Schilling (2001) listet (u.a. unter Bezug auf Dann, 1983) folgende Relationen auf: Kausalaussagen, Konditionalaussagen, Finalaussagen, Gegebenheitsaussagen, Korrespondenzaussagen, Teil-Ganzes-Aussagen, Manifestationsaussagen (S. 3839). 68
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geschweige denn immer in dieser Form organisiert sind, ist an dieser Stelle völlig offen. Die empirische Klärung dieser Frage erfolgt nicht allein durch den Umstand, dass Untersuchungspartner über theorieförmige Kognitionen der Selbstund Weltsicht berichten können. (Dass sie dies können, hat das Forschungsprogramm Subjektive Theorien vielfach demonstriert.) Entschieden werden muss dabei auch, ob die theorieförmige Organisation der berichteten Inhalte im Prozess der verbalen Verständigung geschieht (konstruiert wird) oder ob sie inhärentes Element existierender Kognitionen ist, die in der Untersuchungssituation lediglich re-konstruiert werden. Hat der Theoriebegriff nach erster Lesart höchsten ‚metaphorischen‘ Charakter, so setzt die zweite Lesart die Theorieförmigkeit Subjektiver Theorien als konkret gegeben voraus (siehe hierzu ausführlich Flick, 1989). 10 Scheele und Groeben (1988) folgen der zweiten Lesart, d.h. sie setzen die Existenz Subjektiver Theorien unabhängig von Vorgang und Methodik der (Re-)Konstruktion komplexer Kognitionen voraus und stellen fest: „Es liegen Subjektive Theorien beim ErkenntnisObjekt vor“ (Scheele/Groeben, 1988, S. 33). Aus dem anfänglichen Postulat der Äquivalenz wissenschaftlicher und Subjektiver Theorien wird so die konkrete Existenz theorieförmigen subjektiven Wissens abgeleitet.11 Funktionen Subjektiver Theorien: Definitionsgemäß erfüllen Subjektive Theorien vor allem die zu wissenschaftlichen Theorien analogen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie. Damit schließt das Konzept an die Beobachtung an, dass auch ‚normale‘ Menschen im Alltag ihre Umwelt erklären, Hypothesen über die verschiedensten Zusammenhänge ausbilden und ihr Verhalten gemäß ihrem Wissen ausrichten. Da sich Subjektive Theorien jedoch anders als wissenschaftliche Theorien auch unter Handlungsdruck im Alltag bewähren müssen, resultieren daraus nicht nur andere Theorieinhalte, sondern auch zusätzliche Funktionen. Nach Dann (1983) erfüllen Subjektive Theorien zusätzlich eine Orientierungsfunktion, indem sie Prozesse der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Kategorisierung unterstützen. Als gleichsam übergeordnete Funktion nennt Dann außerdem die Funktion der Selbstwerterhaltung und -optimierung. 10 Wie Flick (1989) herausarbeitet, verwenden Groeben und Scheele (1982) den Theoriebegriff zunächst metaphorisch, bevor sie in einer späteren Publikation (Groeben et al., 1988) eine veränderte Fassung vorstellen. „Die Theoriemetapher verliert dabei ihren heuristischen Charakter zugunsten dem einer ‚Eigenschaftszuschreibung‘: Dem subjektiven Wissen wird dabei unterstellt, es existiere in einer Form, die wissenschaftlichen Theorien entspreche“ (Flick 1989, S. 117). 11 Allerdings werden Subjektive Theorien bisweilen auch ausdrücklich anders, d.h. gemäß der oben genannten ersten Lesart interpretiert (z.B. Kallenbach, 1996). Wie zu zeigen sein wird, vereint das Forschungsprogramm Subjektive Theorien nicht nur in dieser Hinsicht vielfältige, bisweilen theoretisch unvereinbare Arbeiten unter einem Dach. Zu Revisionen des Begriffs Subjektive Theorien hat dies jedoch bisher nicht geführt. 69
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Während außer Frage steht, dass das kognitive System auch die zusätzlich genannten Funktionen im Alltag ausübt und Erklärungen, Prognosen und Handlungsentscheidungen nachgewiesenermaßen auch durch das Streben nach Selbstwerterhaltung beeinflusst sein können, so ist an dieser Stelle doch nicht geklärt, ob und inwiefern diese Funktionen von Kognitionen übernommen werden, die in Form Subjektiver Theorien organisiert sind. Zumindest Orientierung, Aufmerksamkeitssteuerung und Kategorisierung, die im Wesentlichen auf dem Erkennen von Äquivalenzen und Differenzen beruhen, lassen sich auch unter Rückgriff auf andere Konstrukte (z.B. „Scripts“ und „Schemata“) beschreiben. Und auch der Erhalt des Selbstwerts scheint nicht per se an kognitive Strukturen mit argumentativer Binnenstrukturierung gebunden zu sein. Nicht näher ausgearbeitet ist auch der Umstand, dass im konkreten Einzelfall selbstwertstützende Kognitionen (z.B. selbstwertdienliche Attributionen) mit der Zieldimension wissenschaftlicher Rationalität in Konflikt geraten können (siehe hierzu Scheele/Groeben, 199812). Erweist sich so die weite Definition Subjektiver Theorien an etlichen Stellen als nicht völlig eindeutig, so verspricht die enge Begriffsbestimmung weitere Präzisierung. In Ergänzung der oben genannten Definition nennt diese zusätzlich Merkmale, die sich auf die Rekonstruier- und Überprüfbarkeit Subjektiver Theorien beziehen. Mit dieser engen Definition werden die Kernannahmen des oben geschilderten Menschenbildes sowie der Handlungstheorie Groebens (1986) definitorisch umgesetzt. Gemäß dieser engeren Definition gelten Subjektive Theorien als: – Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, – die im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sind, – als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, – das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen – der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt und – deren Akzeptierbarkeit als ‚objektive‘ Erkenntnis zu prüfen ist. (Groeben, 1988a, S. 22)
Aktualisierbarkeit und Rekonstruierbarkeit im Dialog bezieht sich auf die Voraussetzung, dass Subjektive Theorien im Gespräch mit dem interessierten Wissenschaftler verbalisiert werden können. Zwar sind Subjektive Theorien einer Person nicht notwendigerweise in allen Einzelheiten bewusst, doch wird davon ausgegangen, dass sie weitestgehend bewusstseinsfähig sind, wenn eine entsprechende Gesprächssituation ihre Explikation stimuliert. Subjektive The12 Hinsichtlich der Modifikation Subjektiver Theorien einer untersuchten Person argumentieren die Autoren dafür, dass bisweilen aus ethischen Erwägungen von einer (u.U. demotivierenden) rationalen Aufklärung abzusehen sei, wenn die zu beobachtende Fehlattribution eine „psychohygienische Funktion“ erfülle (Scheele/Groeben, 1998, S. 29). 70
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orien gelten dann als erschöpfend expliziert, wenn im Dialog zwischen Untersuchungspartner und Wissenschaftler Einverständnis darüber erreicht ist, dass die Struktur adäquat rekonstruiert wurde (Dialog-Konsens, kommunikative Validierung). Als Subjektive Theorien im engeren Sinne gelten nur solche, die im Dialog-Konsens-Verfahren expliziert und kommunikativ validiert wurden. Das zweite zusätzliche Element der engen Begriffsbestimmung bezieht sich auf die Prüfung der Akzeptierbarkeit als ‚objektive Erkenntnis‘. Dieses Kriterium bezieht sich auf die „Realitätsadäquanz der Subjektiven Theorie, d.h. die Frage, inwiefern dieses (adäquat rekonstruierte) Kognitionssystem auch in der Tat empirisch valide, das heißt als ‚objektive‘ Erkenntnis akzeptierbar ist“ (Scheele/Groeben, 1998, S. 20). ‚Objektive Erkenntnis‘ bezieht sich hier auf die empirische Validität, d.h. die Tatsache, dass sich die Subjektive Theorie in beobachtbarem Handeln niederschlägt. Beide Kriterien sind damit eng an den Ablauf des Forschungsprozesses zur Erhebung und Validierung Subjektiver Theorien geknüpft – ein Umstand, den etwa König (1995) zu Recht kritisiert, da hier der Forschungsgegenstand nicht unabhängig von der Forschungsmethode definiert wird.
Kommunikative und Explanative Validierung Die Erhebung und Validierung Subjektiver Theorien folgt einem Forschungsprozess, der durch die Abfolge von ‚verstehendem Beschreiben‘ und ‚beobachtendem Erklären‘ gekennzeichnet ist (Groeben, 1986; Wahl, 1988).13 Die erste Forschungsphase ist der Dokumentation der Subjektiven Theorie gewidmet. Mittels eines halbstrukturierten, thematisch fokussierten Interviews wird der Interviewpartner zur Darlegung seiner Subjektiven Theorie aufgefordert. Anschließend werden die Inhalte der Subjektiven Theorie nach bestimmten Regeln zu einer Strukturdarstellung verdichtet. Hierfür sind verschiedene Verfahren entwickelt worden (Dann/Barth, 1995; Scheele, 1992; König, 1995). Wesentlich ist, dass die Erhebungssituation einen möglichst offenen und gleichberechtigten Dialog zwischen Interviewpartner und Wissenschaftler sicherstellt, so dass der Interviewpartner seine Subjektive Theorie möglichst authentisch entfalten kann. Entsprechend dieser gleichberechtigten Rolle des Interviewpartners gilt die Dokumentation der Subjektiven Theorie erst als abgeschlossen, wenn ein Konsens zwischen ihm und dem Wissenschaftler darüber erreicht ist, dass die Subjektive Theorie adäquat und vollständig abgebildet wurde. Diese ‚kommunikative Validierung‘ sichert die „Rekonstruktionsadäquanz“ der Subjektiven Theorie, wobei davon ausgegangen wird, dass die Subjektive Theorie „Gründe, Intentionen und Ziele des Handelnden“ in Bezug auf ein bestimmtes Thema abbildet (Wahl, 1988; Groeben, 1986). 13 Die Begründung dieses Modells, das den Anspruch einer „verstehenderklärenden Psychologie“ umsetzen soll, findet sich ausführlich bei Groeben (1986). 71
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In einer zweiten Forschungsphase wird sodann die „Realitäts-Adäquanz“ der Subjektiven Theorie überprüft. Gelten Subjektive Theorien in der ersten Forschungsphase als deskriptives Konstrukt, dessen Validierung im Hinblick auf ein „dialog-konsenstheoretisches Wahrheitskriterium“ erfolgen kann und muss, so gelten Subjektive Theorien in der zweiten Forschungsphase als explanatives Konstrukt, dessen Handlungswirksamkeit sich unter „falsifikationstheoretischem Wahrheitskriterium“ erweisen muss. In der zweiten Forschungsphase kommen daher Verhaltensbeobachtungen zum Einsatz, die überprüfen, ob sich die Subjektive Theorie des Untersuchungspartners in seinen Handlungen widerspiegelt. Im Sinne der oben angeführten engen Definition können nur solche Kognitionen als Subjektive Theorien gelten, die im Dialog-Konsens verbal expliziert wurden und deren tatsächliche Handlungswirksamkeit sich in Verhaltensbeobachtungen bestätigt. Auffallend ist jedoch, dass die explanative Validierung Subjektiver Theorien in der Praxis höchst selten erfolgt. Unter den bis Ende der 90er Jahre veröffentlichten Arbeiten findet Steinke (1998) lediglich die Studien von Hofer (1982)14, Wahl et al. (1983) sowie Dann/Krause (1988) (zu einem ähnlichen Befund kommt auch Flick, 1989). Auch an anderen Stellen dieses idealtypischen Forschungsprozesses stellen sich Fragen nach Möglichkeiten der Umsetzung und Sinnhaftigkeit dieser ‚engen‘ Definition. Zunächst betrifft dies den Umstand, dass in dieser Definition Subjektive Theorien auf aktualisier- und rekonstruierbare Inhalte beschränkt sind. Implizite Wissensbestände, die trotz Befragung nicht expliziert werden können, sind damit ausgeschlossen. Die Beobachtung, dass Menschen Regelwissen jedoch auch dann anwenden, wenn sie die Regeln selbst nicht benennen können (z.B. grammatische Regeln), verweist jedoch überzeugend darauf, dass Handlungen zumindest nicht vollständig durch vom Untersuchungspartner explizierbare Theorien erklärt werden können (s.a. Dann, 1983 15 ). Emotionen, Einstellungen, unreflektierte kulturelle Konventionen wären weitere Aspekte, für die eine wichtige moderierende Funktion angenommen werden kann, die jedoch nicht berücksichtigt werden. Man kann dies als Dilemma eines Forschungsverfahrens bezeichnen, das auf verbale Explikation setzt. Unverständlich ist jedoch, warum gerade jene Beschränkung zum
14 Die Literaturangaben bei Steinke (1998) sind hier nicht ganz eindeutig. Gemeint ist vermutlich das Werk von Hofer et al. (1982). 15 „In jedem Fall ist davon auszugehen, daß handlungsleitende subjektive Theorien nur teilweise rekonstruiert werden können; teilweise bleiben sie für den Handelnden implizit und können auch vom Untersucher mit den verfügbaren Techniken nicht erschlossen werden“ (Dann, 1983, S. 88). 72
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definitorischen Merkmal Subjektiver Theorien erhoben wird, die die Chancen einer explanativen Validierung verringert.16 Doch auch ohne implizites, nicht aktualisierbares Wissen zu bemühen, stellt sich die Frage nach der prinzipiellen „Rekonstruktionsadäquanz“ Subjektiver Theorien. Ganz offensichtlich ist die Explikation der Subjektiven Theorie an Introspektions- und Artikulationsfähigkeit sowie Motivation des Befragten gebunden. Auch ist von Einflüssen durch den anwesenden – durch Interviewfragen das Gespräch steuernden – Wissenschaftler auszugehen.17 Die Vorstellung, dass unter diesen Umständen bereits vorliegende Wissensbestände in ihrer originären Form lediglich ‚rekonstruiert‘ würden, scheint nicht überzeugend. Eher ist hier von einer gemeinsamen Leistung von Untersuchungspartner und Wissenschaftler auszugehen (s.a. Steinke, 1998). Die oben bereits (kritisch) erwähnte Vorstellung, Subjektive Theorien lägen „im Kopf“18 der Untersuchungspartner bereits fix und fertig vor, führt an dieser Stelle zu einer Fehlannahme, die nicht durch ein „dialog-konsenstheoretisches Wahrheitskriterium“ aus der Welt zu schaffen ist. Die Zustimmung des Untersuchungspartners, in der nun vorliegenden Struktur seine originären Kognitionen abgebildet zu sehen, kann dabei angezweifelt werden, ohne ihm seine Rolle als artikulationsfähiges Subjekt absprechen zu müssen. Prinzipiell kann nicht entschieden werden, ob es sich bei den explizierten Kognitionen nicht eher um Rechtfertigungen oder um ad hoc generierte Theorien handelt. Mit Sicherheit stellt etwa das Postulat, dass es sich bei den handlungsleitenden Kognitionen um theorieförmige Aussagen handeln müsse, einen Gestaltschließungszwang her, der entsprechende Aussagen forciert. Lägen Subjektive Theorien bereits in der später dokumentierten Form bei den Untersuchungspartnern vor, so wäre es wohl auch kaum erforderlich, dass das Regelwissen, das zur Erstellung von Strukturbildern benötigt wird, von den Untersuchungs-
16 Ein Festhalten an der Definition erlaubt die Integration impliziter Wissensbestände nur unter dem Dach der ‚weiten‘ Definition (Groeben/Scheele, 2002). „Während die dialog-hermeneutische Konzeption ganz eindeutig schon im Bedeutungspostulat der ‚Subjektiven Theorien‘ von der zumindest prinzipiellen Zugänglichkeit der Kognitionsinhalte und -strukturen ausgeht und ausgehen muss (wegen der dialog-hermeneutischen Rekonstruktionsadäquanz), gilt dies für die weite Fassung als solche ganz eindeutig nicht“ (Groeben/Scheele, 2002, S. 199). 17 Dies wird im Forschungsprogramm Subjektive Theorien erkannt, jedoch nicht für problematisch gehalten. Da die Annäherung an eine vertrauensvolle „ideale Sprechsituation“ in der Regel gelänge, seien keine gravierenden Verfälschungen zu erwarten. Dennoch bemerkbare Einflüsse dagegen wirkten in Richtung der Zieldimension einer ‚verbesserten Rationalität‘ und seien deswegen als positiv zu bewerten (z.B. Groeben, 1988b, S. 232; Groeben/Scheele, 2000). 18 Eine Formulierung, die sich explizit zum Beispiel in folgender Aussage findet: „Bevor sich Veränderungen im konkreten unterrichtlichen Handeln zeigen können, müssen sie ‚im Kopf des Handelnden‘ geschehen“ (Patry/Gastager, 2002, S. 59). 73
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partnern erst erlernt werden muss (s.a. Straub/Kölbl/Weidemann, D., 200519). Die ‚Re‘-Konstruktion Subjektiver Theorien ist daher wohl angemessener als Konstruktion zu verstehen, bei der der Untersuchungspartner zudem eine erhebliche Übersetzungsleistung erbringen muss, um dem Wissenschaftler seine „Selbst- und Weltsicht“ (Groeben, 1988a, S. 21) unter Anwendung des vorgegebenen Regelwerks näher zu bringen. Die Frage, ob es sich bei Subjektiven Theorien um gemeinsame Konstruktionen oder um Abbildungen gegebener Entitäten handelt oder nicht, ist für den im Forschungsprogramm Subjektive Theorien vorgesehenen nachfolgenden Forschungsschritt von erheblicher Bedeutung. Eine explanative Validierung schließt nur dann sinnvoll an, wenn man die erhobene Theoriestruktur dem Untersuchungspartner selbst zuschreibt und sie als potentiell handlungsleitend versteht. Die Annahme, Subjektive Theorien seien handlungsleitend, stellt eine der Grundannahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien dar. Wie Steinke (1998) anmerkt, ist vor diesem Hintergrund erstaunlich, dass Subjektive Theorien – zumindest in der engen Begriffsfassung – nicht auf handlungsnahe Kognitionen beschränkt werden. Sie vermerkt: „Hier ist eine Unstimmigkeit in der Argumentation festzustellen: Die Argumentationen zum Forschungsprogramm Subjektive Theorien wurden zwar unter Bezug auf die Kategorie Handlung aufgebaut, jedoch wurde kaum der Anwendungsbereich bzw. die Definition dieses Ansatzes so klar darauf reduziert“ (Steinke, 1998, S. 130). Entsprechend werden häufig Subjektive Theorien nicht mit engem Handlungsbezug erhoben, bei denen eine explanative Validierung von vornherein gar nicht erst angestrebt wird. Doch selbst die Validierung handlungsnaher Kognitionen steht vor erheblichen Problemen. Nach Wahl (1988) stehen drei prinzipielle Wege der explanativen Validierung zur Verfügung: a) Korrelation der Subjektiven Theorie und beobachtetem Verhalten, b) Prognosen zukünftigen Verhaltens auf der Basis der rekonstruierten Subjektiven Theorie oder Retrognosen vorher beobachteten Verhaltens und c) Überprüfung, ob die Modifikation der Theoriestruktur verändertes Verhalten zur Folge hat. Insofern die Validierung auf Korrelationsmaße zurückgreift, ist die Ableitung von Kausalaussagen, die für die Bestätigung der Handlungswirksamkeit Subjektiver Theorien erforderlich wäre, nicht überzeugend möglich. Grundsätzlich sind weiterhin alle Verfahren mit der prinzipiellen Schwierigkeit behaftet, eine Äquivalenz zwischen beobachtetem Verhalten und vom Untersuchungspartner explizierten Kognitionen herzustellen. So steuert etwa Wahl (1988) folgendes Beispiel bei:
19 Wesentliche, hier bereits zitierte, Teile dieser Publikation gehen auf einen noch unveröffentlichten Teil der Habilitationsschrift von Jürgen Straub (1994/1999) zurück.
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ALLTAGSTHEORIEN Die prognosetaugliche Rekonstruktion der Subjektiven Theorie von Lehrer H13 zeigt, daß dieser auf die Situationsklasse ‚Provozierendes Verhalten eines einzelnen Schülers‘ regelhaft mit der Handlungsklasse ‚Zeigt Ironie‘ reagiert. Nun ist auf dem Videoband zu sehen, daß der Lehrer auf das provozierende Verhalten eines einzelnen Schülers lächelt, nichts weiter sagt und im Stoff fortfährt. Für den auswertenden Forscher stellt sich die Frage: Soll dieses Verhalten der Handlungsklasse ‚Zeigt Ironie‘, der Handlungsklasse ‚Zeigt Verständnis‘ oder der Handlungsklasse ‚Ignoriert‘ zugeordnet werden? Ist dem Lächeln anzusehen, ob es ein hilfloses, ironisches, verständnisvolles Lächeln ist? Das Beispiel verdeutlicht, welche Interpretationsspielräume es bei einer so objektiv erscheinenden Methode wie der systematischen Verhaltensbeobachtung gibt. (Wahl, 1988, S. 195)
Selbst wenn eine eindeutige Klassifikation gelänge, wäre nicht überprüfbar, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Lächeln und der explizierten Subjektiven Theorie gibt. Alternativerklärungen (der Lehrer lächelt, weil ihm eine lustige Erinnerung in den Sinn kam, o.Ä.) können hier nicht ausgeschlossen werden (s.a. Straub/Kölbl/Weidemann, D., 2005). Dies gilt ebenso für zeitlich nachgeordnete Befragungen des Untersuchungspartners, für die nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich um nachträgliche Rechtfertigungen des Verhaltens handelt (so dass Handlungen als sinnvoll und kohärent erscheinen).20 Die Probleme der explanativen Validierung, die bereits Wahl (1988) skizziert, können nicht als sinnvoll gelöst betrachtet werden. Es ist Steinke zuzustimmen, die hieraus schließt: „Die seltene empirische Umsetzung der Validitätsansprüche des Forschungsprogramms Subjektive Theorien läßt sich als ein möglicher Indikator für die Gegenstandsbeschränkungen und die geringe Praktikabilität der Validierungsansätze interpretieren“ (Steinke, 1998, S. 139). Im Rückgriff auf die oben angeführten Begriffsbestimmungen lässt sich festhalten, dass Subjektive Theorien – trotz der häufigen Anwendung kommunikativer Validierung – vor allem in ihrer weiten Definition aufgegriffen wurden.
Modifikation Subjektiver Theorien Im vorliegenden Kontext interessieren insbesondere alltagsweltliche Lernund Veränderungsprozesse. Für die Frage danach, ob Subjektive Theorien als geeignetes theoretisches Rahmenkonzept dienen können, ist demnach zu erkunden, inwieweit Subjektive Theorien als wandelbares oder statisches Konzept zu interpretieren sind. Subjektive Theorien werden als „relativ überdauernde mentale Strukturen“ (Dann, 1983; Groeben, 1988a, S. 18) definiert. Entsprechend gründen auch der
20 In diesem Sinne merkt auch Neuweg an: „Wer nach handlungsleitendem Wissen sucht, wird es vielleicht nur deshalb in dem Ausmaß und so und nicht anders finden, weil seine ex post an die Subjekte gerichteten Fragen zur Aktualisierung oder gar Konstruktion einer Wissensbasis veranlassen, die ex ante so gar nicht wirksam geworden ist.“ (Neuweg, 1999, S. 83) 75
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oben dargestellte zweistufige Forschungsprozess sowie die angeführten Validitätskriterien auf der Annahme einer gewissen zeitlichen Konstanz. Doch sind Subjektive Theorien andererseits auch nicht statisch. Sie werden im Verlauf des Lebens erworben und verändert, wobei auch für Subjektive Theorien gilt, was Wegner und Vallacher für Kognitionen im Allgemeinen skizzieren: The cycle goes like this: Cognitive structure guides action and attention toward certain experiences; these experiences in turn modify cognitive structure; the modified structure then guides action and attention toward further experiences. (Wegner/Vallacher, 1977, S. 290, vgl. auch Matthes/Schütze, 1981)
Die Frage nach der Veränderbarkeit Subjektiver Theorien wurde bisher insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung und Durchführung von Trainingsmaßnahmen erörtert bzw. auf psychotherapeutische Settings angewandt (Mutzeck, 2002; Schlee, 2002). Im Alltag spontan eintretende Veränderungen Subjektiver Theorien sind meines Wissens bisher noch nicht gezielt dokumentiert und analysiert worden. Die Ergebnisse von Studien, die auf gezielte Modifikationen Subjektiver Theorien setzen, bieten jedoch auch für informelles Lernen mögliche Anhaltspunkte. So zeichnet sich ab, dass sich Subjektive Theorien aufgrund ihres komplexen Charakters und ihrer erprobten Funktionalität im Alltag mutmaßlich nicht leicht ändern. Dies gilt insbesondere für solche Subjektiven Theorien, die durch häufige Anwendung einen hohen Grad an Automatisierung erreicht haben und die ohne explizite Reflexionsaufforderung subjektiv gar nicht mehr als Entscheidungsstruktur empfunden werden. Wahl spricht hier von „verdichteten“ Subjektiven Theorien und urteilt: „Subjektive Theorien, die in solch ‚verdichteten‘ Formen vorliegen, sind nach unseren Einschätzungen ganz außerordentlich schwer änderbar“ (Wahl, 2002, S. 16). Der Erfolg beruflicher Trainingsmaßnahmen hängt jedoch mitunter gerade von der Veränderung solcherart automatisierten Wissens ab. Um routinisierte Subjektive Theorien zu verändern, bedarf es dann nach Wahl (ebd.) des „Innehaltens“, Verbalisierens und Reflektierens, um die Routine zu unterbrechen und eine neue – dem Trainingsziel entsprechende – Subjektive Theorie zu erwerben. Diese müsse anschließend durch wiederholte Anwendung erneut „verdichtet“ werden, um zu gewährleisten, dass sich das Handeln nun nach der neuen Subjektiven Theorie richte. In einer Analyse des Psychotherapieverfahrens ‚Familienaufstellung‘ nach Bert Helliger beschreibt Schlee (2002), dass sich die Veränderung Subjektiver Theorien auch ohne bewusste Reflexion vollziehen könne. Als wesentliche Elemente, die diese Veränderung erleichtern, identifiziert er das Erzeugen von Intransparenz und Ablenkungen bei gleichzeitigem Deutungsangebot der Situation. Umfangen von „Gaukeleien und Täuschungsversuchen“ (S. 50) nimmt der Klient das neue Deutungsangebot an, ohne es durch eigene Reflexion oder Abwägen erlangt zu haben. Dieser kurzen Schilderung ist zu entnehmen, dass Schlee diesem Verfahren aufgrund ethischer Bedenken höchst kritisch gegenübersteht. Bezüglich der Modifikation Subjektiver Theorien je76
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doch hält Schlee das Verfahren für höchst effektiv, auch wenn, wie er zu bedenken gibt, keine Erkenntnisse darüber existieren, ob die neuen Einsichten (bzw. veränderten Subjektiven Theorien) zeitlich Bestand haben. Die bereits im vorigen Kapitel erwähnte Studie von Bender-Szymanski et al. (1995) legt nahe, dass Veränderungen Subjektiver Theorien eines erheblichen Modifikationsdrucks bedürfen. Gemäß der Interpretation von Schlee üben Familienaufstellungen nach Helliger einen entsprechend starken Effekt aus. Denkbar ist allerdings, dass Veränderungen weniger ‚Ich-naher‘ Subjektiver Theorien geringerer Stimuli bedürfen. So reichen in manchen Bereichen auch Unterrichtsprogramme zur Veränderung Subjektiver Theorien aus. In ihrer Analyse der „Veränderungen der Subjektiven Theorien zu unternehmerischen Zusammenhängen durch Einsatz eines Planspiels“ kommt Hartung (2002) zu dem Ergebnis, dass ökonomische Planspiele solche Veränderungen bewirken können. Verschiedene Bedingungen der Planspieldurchführung zeigten dabei unterschiedliche Effekte. Aufgrund der großen Zahl an Variablen (Erfahrung im Planspiel, Diskussionen in der Kleingruppe, flankierende Vorlesung zum Thema, Aufforderungen zur Selbstreflexion) lässt sich jedoch nicht ableiten, welche Interventionen die Veränderung der Subjektiven Theorien bewirkt haben. Insbesondere ist nicht ableitbar, inwieweit implizites Lernen während des Planspiels oder explizite Wissensvermittlung während der Vorlesung zu den Veränderungen beitrug.21 Diese bisherigen Befunde lassen vermuten, dass Veränderungen Subjektiver Theorien durch ganz verschiedene Ereignisse ausgelöst werden können. Bewusste Reflexion scheint dabei keine notwendige, jedoch eventuell eine hilfreiche Bedingung zu sein. Die Veränderung Subjektiver Theorien kann durch Instruktion erfolgen, ist aber nicht an sie gebunden. In Ableitung aus den Ergebnissen der genannten Studien kann für die Veränderung Subjektiver Theorien im Alltag vermutet werden, dass: – in Situationen, für die keine zufrieden stellende Subjektive Theorie bereitsteht und die deshalb als verwirrend und unklar erlebt werden, eine verfügbare neue Theorie bereitwilliger aufgenommen wird; – das gezielte und überzeugende Angebot einer neuen Theorie, z.B. in expliziter Instruktion, Veränderungen bewirken kann; – ohne gezielte Instruktion bzw. Konfrontation Alltagserfahrung unter existierende Subjektive Theorien subsumiert wird, selbst wenn eine Veränderungsbereitschaft verbal bekundet wird; – das Erlernen einer neuen Theorie mit dem Einüben korrespondierenden Handels kombiniert werden muss (insbesondere wenn alte Routinen ‚überlernt‘ werden müssen).
21 Ableitungen aus dieser Studie sind auch deshalb schwierig, weil die Fallzahlen und Signifikanzen im Einzelnen unklar bleiben. 77
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Die Beschreibung Subjektiver Theorien als „relativ überdauernd“ (s.o.) schließt das Auftreten von Veränderungen in beobachtbaren Zeiträumen nicht aus, auch wenn bisher noch keine umfassenden Beschreibungen der Bedingungen, Auslöser und Verläufe solcher Veränderungen vorliegen. Die hier skizzierten Befunde legen nahe, dass sich die Veränderung Subjektiver Theorien prinzipiell nicht von Lernprozessen anderer kognitiver Inhalte unterscheidet. Dies ist auch deswegen der Fall, weil Subjektive Theorien in ihrer weiten Fassung nach Verständnis des Forschungsprogramms Subjektive Theorien andere kognitive Konzepte einschließen. Sie lenken jedoch zugleich auch den Blick darauf, dass unter dem vermeintlich einheitlichen Konzept ‚Subjektive Theorie‘ höchst unterschiedliche Phänomene der „Selbst- und Weltsicht“ gefasst werden, die von konkreten, handlungsnahen Kognitionen über Berufswissen bis hin zu weit reichenden Auffassungen über die eigene Familiengeschichte reichen können. Dass für diese unterschiedlichen Phänomene unterschiedliche Modifikationsbedingungen gelten, kann auch als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Subsumtion unter ein einheitliches Konzept gegebenenfalls nötige oder erhellende Differenzierungen verhindert.
Kritik Die definitorische Einheitlichkeit, die in Arbeiten zum Thema ‚Subjektive Theorien‘ zu beobachten ist, wird von einer erheblichen Bandbreite an de facto vorgenommenen Interpretationen dieses Konzepts begleitet. So werden Subjektive Theorien auf höchst unterschiedliche Phänomene mit höchst unterschiedlichem Handlungsbezug angewandt, was insbesondere mit der engen Begriffsfassung nicht vereinbar ist. Dabei werden grundlegende Annahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien zwar selten theoretisch moniert, praktisch jedoch häufig über Bord geworfen. Dies gilt etwa für die – in der Regel nicht vorgenommene – explanative Validierung sowie für die Annahme, Subjektive Theorien wären weitgehend fixe Kognitionen, die in der Untersuchungssituation lediglich rekonstruiert würden. Das Konzept hat sich in der Anwendung als äußerst dehnbar, jedoch in theoretischer Hinsicht in gleichem Ausmaß als veränderungsresistent erwiesen. Inhärente Widersprüche und Probleme des Forschungsprogramms Subjektive Theorien sind so bisher nur vereinzelt herausgearbeitet worden (Flick, 1989; Steinke, 1998; Straub/Kölbl/Weidemann, D., 2005). Wie oben bereits ausgeführt, erscheinen insbesondere folgende Annahmen kritikwürdig: – Es kann nicht schlüssig nachgewiesen werden, dass es sich bei den in der Untersuchungssituation erhobenen Subjektiven Theorien tatsächlich um originäre, bereits vor der Untersuchung vorhandene Kognitionen handelt. Auch entsprechende Selbstaussagen der untersuchten Personen können die Vermutung nicht glaubwürdig entkräften, dass es sich bei den explizierten Subjektiven Theorien in Wirklichkeit um eine gemeinschaftliche Konstruktion von Untersu78
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chungspartner und Wissenschaftler handelt, in die Rationalisierungen, Rechtfertigungen und ad hoc generierte Annahmen einfließen. – Entsprechend muss die Frage als ungeklärt betrachtet werden, ob Menschen überhaupt über Subjektive Theorien in der postulierten Form verfügen oder ob diese ein Artefakt darstellen, das in Untersuchungssituationen einzig daraus resultiert, dass ausschließlich nach theorieförmigen Kognitionen gefragt wird und diese mithilfe des Wissenschaftlers in genau diese Form gebracht werden. Aus der beobachteten funktionalen Entsprechung alltagstheoretischen und wissenschaftlichen Wissens allein kann jedenfalls nicht auf eine strukturelle Entsprechung geschlossen werden. Dieses Postulat vernachlässigt zudem jene Funktionen, die Alltagswissen auch erfüllen muss – wie z.B. Erhalt und Steigerung des Selbstwertgefühls. – Nicht überzeugend erscheint auch die Annahme, Subjektive Theorien seien handlungsleitend, d.h. sie gingen dem Handeln voraus und steuerten dieses. Diese Annahme kann insbesondere nicht erklären, warum dann die Veränderung Subjektiver Theorien allein noch nicht für verändertes Handeln ausreicht (hierfür scheint offenbar noch ‚Übung‘ erforderlich). Auch fragt sich, ob dies bedeutet, dass Subjektive Theorien nur explizit erlernt werden können. Dass einstmals explizites Wissen zu nun impliziten Routinen ‚verdichtet‘ werden kann, wird zugestanden, doch was ist mit implizitem Lernen und Können? Gerade im Alltag kann davon ausgegangen werden, dass konkretes Handeln der Ausbildung von Subjektiven Theorien zeitlich und logisch vorausgeht und von der Ausbildung expliziten Regelwissens völlig unabhängig sein kann (z.B. im Falle des schon erwähnten grammatischen Regelwissens; siehe dazu die umfangreichen Erwägungen von Neuweg, 1999). Eine umfassende Erklärung des Erwerbs Subjektiver Theorien, die hier Aufschluss geben könnte, steht im Forschungsprogramm Subjektive Theorien derzeit noch aus. – Schließlich ist auch das mit dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien verknüpfte rationalistische Weltbild zu hinterfragen. Rationalität gilt nicht nur als (potentielle) Eigenschaft menschlicher Akteure, sondern ist zugleich positive Zieldimension des gesamten Forschungsprogramms. So sprechen etwa Scheele und Groeben von dem „prinzipiellen Ziel des FST [Forschungsprogramm Subjektive Theorien, D.W.], die Alltags-Rationalität so weit wie möglich zu verbessern (und sie der wissenschaftlichen anzunähern, dort wo dies effektiv und sinnvoll ist)“ (Scheele/Groeben, 1998, S. 28). Von Ausnahmen abgesehen, bedeutet dies „die Verbesserung der menschlichen Rationalität“ als oberste Zielperspektive von Forschungs- und Trainingsaktivitäten anzuerkennen (Groeben/Scheele, 2002, S. 200). Der Einwand, diese Wertschätzung der Rationalität sei an bestimmte kulturelle Entwicklungslinien gebunden, die die 79
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Anwendbarkeit von Konzept und Methode in anderen kulturellen Kontexten möglicherweise ausschließe, ist an sich noch nicht gravierend. Schließlich haben Groeben et al. nicht behauptet, eine universell gültige Theorie aufgestellt zu haben. Fraglich ist jedoch, wie sich die hohe Wertschätzung der wissenschaftlichen Rationalität mit dem Anspruch verträgt, der Untersuchungspartner sei dem Wissenschaftler gleichberechtigt. Fraglich ist auch, inwieweit Rationalität für den Untersuchungspartner selbst eine positive Zieldimension darstellt (und ob er diesbezüglich befragt wird). Dass sich der Wunsch nach Selbstwerterhalt nicht immer mit ungeschminkter Rationalität verträgt, dürfte ohne weiteres einsichtig sein. Die „Verbesserung der menschlichen Rationalität“ ist also gerade im Alltag ein begründungsbedürftiges Vorhaben.
Schlussfolgerung Die eingangs aufgelisteten Anforderungen an ein Rahmenkonzept (theoretische Begründetheit, Anleitung zur Operationalisierung und Erfassung von ‚Alltagswissen‘, Zugang zu individuellen Lernprozessen, Einschluss eines breiten Spektrums an Alltagserfahrungen) erfüllt das Konstrukt ‚Subjektiven Theorie‘ nur teilweise. Insbesondere die theoretische Begründung und Ausarbeitung dieses Konzepts kann nicht überzeugen, so etwa die mit diesem Konstrukt verknüpfte Annahme, mit der Erfassung Subjektiver Theorien würden ‚vorab existierende‘, theorieförmige, handlungsleitende Kognitionen umfassend abgebildet. Die Berücksichtigung einer großen Bandbreite an Phänomenen sowie die Betonung einer individuellen Perspektive – zwei weitere der genannten Anforderungen an ein geeignetes Rahmenkonzept – sind in der grundlegenden Begriffsbestimmung Subjektiver Theorien jedoch enthalten. Auch die Eingrenzung von Alltagswissen auf komplexe „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht mit zumindest (impliziter) Argumentationsstruktur“ (Groeben, 1988a, S. 19), scheint für das hier verfolgte Vorhaben geeignet (s.u.). Die Tatsache, dass zur Erfassung von argumentativ strukturierten Wissensbeständen im Forschungsprogramm Subjektive Theorien bereits eine Reihe von Methoden entwickelt wurden, erscheint dabei im Hinblick auf das vierte genannte Kriterium (Anleitung zur Erfassung von Alltagswissen) viel versprechend. Ziel ist daher, auf eine Weise an die hier vorgenommene Begriffsbestimmung anzuschließen, die deren Schwächen vermeidet, die Übernahme der im Forschungsprogramm Subjektive Theorien entwickelten Methoden jedoch ermöglicht. Wie oben erwähnt, werden ja Strukturlegeverfahren häufig unter Distanzierung von den theoretischen Annahmen des Konstrukts Subjektive Theorien eingesetzt. Ein Festhalten an der Terminologie scheint mir jedoch aufgrund der Ablehnung zentraler, mit diesem Begriff verbundener Annahmen als wenig günstig.
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ALLTAGSTHEORIEN
Im Kontext der vorliegenden Arbeit interessieren informelle (interkulturelle) Lernprozesse von Deutschen in Taiwan, das heißt Lernprozesse, die sich jenseits formaler Instruktion ‚im Alltag‘ vollziehen. Als potentiell interessantes Lernfeld wurde dabei das Thema ‚Gesicht‘ ausgewählt. Gefragt wird dabei nach alltagspsychologischen Annahmen über verwandte Begriffe, Verhaltenserklärungen oder Regeln, die mit ‚Gesicht‘ zusammenhängen. Für diese Annahmen soll der Begriff ‚Alltagstheorie‘ gebraucht werden, wobei ‚Theorie‘ im umfassenden, alltagssprachlichen Sinn verwendet wird und keinerlei Parallelitätsannahmen zu wissenschaftlichen Theorien beinhaltet. Als Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ gelten dabei alle Begriffe, Anwendungsfelder, Zusammenhänge, Regeln und Erklärungen, die von den Untersuchungspartnern mit dem Konzept ‚Gesicht‘ in Zusammenhang gebracht werden. Der Begriff ‚Theorie‘ soll in diesem Zusammenhang – gemäß des alltagssprachlichen Wortgebrauchs – subjektive Vermutungen über Zusammenhänge bezeichnen, die gesichertes Wissen ebenso einschließen wie Extrapolationen aus eigener und fremder Erfahrung sowie spekulative Elemente.22 Dabei sollen ‚Alltagstheorien‘ hier wie Subjektive Theorien „komplexe Kognitionen der Selbst- und Weltsicht mit (zumindest) impliziter Argumentationsstruktur“ (ebd.) bezeichnen, jedoch ohne weitere definitorische Merkmale des Konzepts Subjektive Theorien zu übernehmen. Mit dieser Definition scheint eine große Offenheit bezüglich thematisierbarer Aspekte sowie die Übernahme von Strukturlegeverfahren zur Abbildung der argumentativen Struktur des mit ‚Gesicht‘ assoziierten Wissens möglich zu sein. Um Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ zu erfassen, sollen daher ein teilstrukturiertes Interview sowie ein Strukturlegeverfahren zum Einsatz kommen, die möglichst sparsame Vorgaben bezüglich Themen und Strukturlegeregeln machen (siehe dazu ausführlich Kapitel 5 „Durchführung der empirischen Untersuchung“). Diese Methoden dienen dazu, den Interviewpartner zur Darlegung seiner Selbst- und Weltsicht einzuladen, jedoch wird nicht davon ausgegangen, auf diesem Wege vorhandene Theorien lediglich abzubilden. Für einen Einsatz dieser Methode spricht dabei, dass es sich um ein erprobtes Verfahren handelt, das in verschiedenen thematischen Kontexten eingesetzt werden kann und wurde. Bei kombiniertem Einsatz von Interview und Strukturlegeverfahren sind Untersuchungsteilnehmer in der Lage, ihr Wissen in eine abstrakte graphische Struktur zu überführen, so dass sie subjektiv das Gefühl haben, ein aufgezeichnetes Strukturbild entspreche ihrem Wissen. Damit scheinen Strukturbilder ein Format zu sein, das a) für Untersuchungs22 Diese Interpretation steht der Verwendung der Begriffe ‚lay theory‘ (z.B. Furnham, 1988) oder ‚implicit theory‘ (z.B. Wegner/Vallacher, 1977) nahe. Während die Analogie zu wissenschaftlichen Theorien hier ebenfalls anklingt, erfolgt eine Eingrenzung und Einengung des Begriffs als ‚Subjektive Theorie‘ im o.g. Sinne ausschließlich im Forschungsprogramm Subjektive Theorien. 81
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teilnehmer eine hohe subjektive Validität hat, b) eine Datenreduktion bei gleichzeitiger graphischer Veranschaulichung ermöglicht und c) dessen Aufzeichnung und Interpretation im Dialog zwischen Wissenschaftler und Teilnehmer validiert werden kann.23 Der Einsatz der Methode scheint dabei möglich, ohne dass auf die mit dem Konzept ‚Subjektive Theorien‘ verknüpften Annahmen oder das Konzept selbst zurückgegriffen werden müsste. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die Methode daher eingesetzt, um Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ und deren Veränderung über die Zeit zu erfassen. Zur Dokumentation von Veränderungsprozessen scheint das Verfahren, Befragungsergebnisse in übersichtlichen und zugleich kommunikativ validierten Abbildungen festzuhalten, besonders geeignet, da diese Abbildungen zu späteren Zeitpunkten erneut betrachtet und ggf. ergänzt werden können. Meines Wissens sind Strukturlegeverfahren bisher noch nicht längsschnittlich zur Dokumentation informeller Lernprozesse eingesetzt worden. In diesem Sinne werden in der durchgeführten Untersuchung auch bislang nicht ausgeschöpfte Potentiale der eingesetzten Methoden ausgelotet.
23 Aufbauend auf den hier zurückgewiesenen Vorannahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien listet Dann (1992) folgende Funktionen von Strukturlegetechniken auf: Veranschaulichung und Präzisierung der Struktur, Direktheit der Wissensrepräsentation, Korrigierbarkeit des Strukturbilds, Auswertungsfähigkeit der Struktur-Darstellung (als Grundlage der explanativen Validierung), Ansatzpunkt zur Modifikation von Handlungen (Selbsterkenntnis als Ansatzpunkt für Modifikation). 82
3. ‚G E S I C H T ‘ Face cannot be translated or defined. It is like honor and it is not honor. It cannot be purchased with money, and gives a man or a woman material pride. It is hollow and is what men fight for and what many women die for. It is invisible and yet by definition exists by being shown to the public. It exists in the ether and yet cannot be heard, and sounds eminently respectable and solid. It is amenable, not to reason but to social convention. (Lin, 1939, S. 200)
‚Gesicht‘ – ein universales Konzept? Das chinesische ‚Gesicht‘ ist Europäern etwas Erklärungsbedürftiges und in seiner (antizipierten) Unzugänglichkeit Fremdes. Der Umstand, dass dies sowohl für die Physiognomie als auch für das soziale Phänomen ‚Gesicht‘ gilt, macht das ‚asiatische Gesicht‘ doppelt geheimnisvoll, da es – so zumindest will es das Stereotyp – für Westler unentzifferbar ist. Die doppelte Sinnhaftigkeit des Begriffs ‚Gesicht‘, einerseits als Bezeichnung eines bestimmten Körperteils, andererseits als Bezeichnung für ein soziales Phänomen, ist nicht zufällig: Gesichter spielen eine zentrale Rolle in Interaktionen, sind sie doch unser Anhaltspunkt dafür, mit wem wir es zu tun haben und somit auch dafür, wie wir uns auf eine Person beziehen können. Gesichter stehen für das ‚Wer‘ einer Person, und sie repräsentieren damit – pars pro toto – die Gesamtheit einer Person. Sie geben jedoch zugleich auch Einblicke in flüchtigere Seelenzustände des Gegenübers, die uns als wichtige Ergänzung auf die Frage nach dem ‚Wer‘ dienen. Trauer, Aufrichtigkeit, Verachtung, Zweifel stehen einer Person ‚ins Gesicht geschrieben‘ und offenbaren damit ihre Befindlichkeit oder Absichten. Diese Selbstoffenbarung ist nicht immer erwünscht, und so unterliegt der tatsächliche Gesichtsausdruck in vielen Situationen der bewussten Gestaltung. Das ‚öffentliche Selbst‘ einer Person ist das Ergebnis dieses doppelten Prozesses der Selbstoffenbarung und Selbstgestaltung. Das Gesicht erfüllt so eine ‚Doppelfunktion‘, denn es ist „im Gegensatz zu den bekleideten Körperteilen […] Haut und Kleid zugleich, es muß das Innere gleichzeitig offenbaren und verhüllen“ (Bauer, 1990, S. 238). Gesichter sind ‚Kommunikationsschnittstellen‘. Sie sind gleichzeitig Ausdruck einer Person und Gegenstand der Interpretation durch andere, und es ist gerade in Kenntnis dieses Umstandes, dass die Gestaltung des öffentlichen Selbst seine Bedeutung erhält. An dieser Stelle stellt das ‚soziale Gesicht‘ gleichsam eine Verlängerung des physischen Gesichts dar: Es ist das Bemühen um eine positive Selbstdarstellung unter Einbeziehung von Aspekten, die nicht allein dem physischen Gesicht(sausdruck) entnommen werden können. Auch hier jedoch ist der Ausdruck mit der Interpretation durch Dritte ver83
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quickt: Das ‚Gesicht‘ einer Person bestimmt sich nicht allein durch das aktive Gestalten durch eine Person selbst, sondern vor allem durch die Anerkennung und Bestätigung des ‚Gesichts‘ durch andere. ‚Gesicht‘ im abstrakten Sinn umfasst sowohl den Wunsch nach positiver Bewertung durch andere (einschließlich entsprechender Handlungen der ‚Imagepflege‘) als auch das tatsächliche Ergebnis sozialer Bewertungsprozesse. ‚Gesicht‘ betrifft daher gleichermaßen die gezielte öffentliche Selbstrepräsentation einer Person als auch das von außen wahrgenommene soziale Image (Ho, 1994), wobei ganz offensichtlich beides nicht kongruent sein muss. In diesem Sinne ist ‚Gesicht‘ sowohl das Streben nach als auch die Bestätigung eines „positive social image“ (Hsu, 1996) und berührt damit Aspekte sozialen Ansehens, des Prestiges, der Ehre oder Würde einer Person. Insofern ‚Gesicht‘ an Begriffe wie ‚Ansehen‘ oder ‚Prestige‘ anschließt, erscheint es als universal gültiges Prinzip. In der Tat sind menschliche Interaktionen schwer ohne das Element sozialer Urteilsbildung vorstellbar. Die Sorge um eine möglichst positive Bewertung durch andere, um das eigene Ansehen oder ‚Gesicht‘ kann daher wohl als universelles Element sozialer Interaktionen betrachtet werden (Goffman, 1955). Oder wie Chang und Holt (1994) es ausdrücken: „if social interaction is unavoidable, then so is mutual concern for face“ (S. 95). Unter Bezug auf die Universalität von ‚Gesicht‘ hat das Konzept mit den Arbeiten von Goffman (1955) und Brown und Levinson (1978) Einzug in westliche soziologische und sozio-linguistische Debatten gehalten. Während ‚Gesicht‘ hier als universales Phänomen in menschlichen Interaktionen thematisiert wird, findet doch die kulturelle Variation von Bedeutung, Inhalt oder Ausprägung von ‚Gesicht‘ Berücksichtigung: Ist soziale Urteilsbildung als solche nicht vermeidbar, so variieren doch in unterschiedlichen Bezugsgruppen oder ‚Kulturen‘ sowohl die Kriterien, nach denen soziale Urteile gefällt werden, als auch das Ausmaß, in dem die Sorge um ‚Gesicht‘ zum bestimmenden Merkmal sozialer Interaktionen wird. Beides, so lässt sich argumentieren, sind Bestandteile kollektiv geteilter Praxis und repräsentieren kulturelle Werte bestimmter Gruppen (vgl. Ho, 1994, S. 275). In wissenschaftlichen englisch- und deutschsprachigen Arbeiten wird ‚Gesicht‘ im Wesentlichen aus drei Blickwinkeln thematisiert: in seiner Universalität (als etisches Konstrukt), in seinen lokalen Ausprägungen (als emische Ausformungen), sowie in sozio-linguistischen Analysen (im Hinblick auf universelle und lokale Charakteristika). Trotz der Unterschiedlichkeit der Ansätze handelt es sich nicht um getrennte Forschungsfelder, und der Forschungsgegenstand beweist erhebliche Integrationskraft über diese Analyseansätze hinweg (siehe beispielsweise der 1994 von Ting-Toomey herausgegebene Band, der Arbeiten aus allen diesen Gebieten vereint): 84
‚GESICHT‘
1. Sprechaktanalysen: In ihrer (universalistisch ausgerichteten) „politeness theory“ unterscheiden Brown und Levinson (1978) zwei Aspekte von ‚Gesicht‘, die sie als „positive face“ und „negative face“ bezeichnen. Diese entsprechen den – ebenfalls als universal postulierten – menschlichen Bedürfnissen nach sozialer Zuwendung und Anerkennung („positive face“) und denen nach Rückzug und Abgrenzung („negative face“). Die Arbeit von Brown und Levinson hat eine Vielzahl nachfolgender Untersuchungen stimuliert, die zum Teil die universalistischen Annahmen in Frage stellen. In einer Übersicht über Beiträge asiatischer Autoren urteilt Liang (1998) „daß die von Brown/Levinson dargestellten Höflichkeitsstrategien kaum universal sein können, sondern in höchstem Maße englischspezifisch sind“ (S. 28). Insbesondere das Konzept der „negative politeness“ wird in seiner Gültigkeit für China oder den weiteren asiatischen Kulturraum bestritten (Liang, 1998; Jia, 1997; Mao, 1994). 1 2. Soziologie und Sozialpsychologie: Von Goffman wurde ‚Gesicht‘ erstmals als universales Konstrukt in die soziologische und sozialpsychologische Forschung eingeführt. Seine mittlerweile klassische Definition findet sich auch heute noch als Grundlage zahlreicher Artikel zum Thema: „The term face may be defined as the positive social value a person effectively claims for himself by the line others assume he has taken during a particular contact. Face is an image of self delineated in terms of approved social attributes“ (Goffman, 1955, S. 213). Jedoch ist das Konzept in der soziologischen Literatur nicht in großem Umfang aufgegriffen worden. Zu den wenigen Arbeiten, die ‚Gesicht‘ als sozialpsychologisches Thema und ohne Rückgriff auf die asiatische Begriffsgeschichte abhandeln, gehört Brown (1977). An anderer Stelle haben sich kommunikationstheoretische Modelle für sozialpsychologische Arbeiten als bedeutsamer erwiesen (so etwa der Ansatz von Ting-Toomey (1988) für die Psychologie interkulturellen Handelns, z.B. bei Oetzel, 2000). 3. ‚Gesicht‘ in seiner spezifischen asiatischen Ausprägung: Die weitaus umfangreichste Literatur zum Thema stammt von Autoren des asiatischen Raums, die sich mit Rolle und Funktion von ‚Gesicht‘ 1 Ting-Toomey (1988) bringt „negative“ und „positive face“ mit den Konstrukten Individualismus und Kollektivismus in Zusammenhang und stellt fest: „individualistic cultures value autonomy, choices, and negative-face need, while collectivist cultures value interdependence, reciprocal obligations, and positive-face need“ (S. 224). Scollon und Scollon (1995) hingegen sehen chinesische Diskursmuster, wie z.B. ein induktiver Diskursstil oder das häufigere Vorkommen von Schweigen, als Praktiken der „negative politeness“, da sie den Hörer weniger stark vereinnahmen als westliche Diskursmuster. 85
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im Alltag ihrer Heimatkulturen auseinander setzen (für China bzw. Taiwan z.B. Hu, 1944; Hsu, 1996; Hwang, 1987, 1997; Ho, 1976; Jia, 1997; Mao, 1994). Als emisches Konzept ist ‚Gesicht‘ in China aber auch in Korea oder Japan sprachlich und sozial in vielfältiger Weise repräsentiert. Zielsetzung von Arbeiten aus diesem Gebiet ist dabei sowohl die Darstellung der spezifisch lokalen Ausprägung von ‚Gesicht‘ für ein breiteres (englischsprachiges) Publikum als auch Gesellschaftsanalyse und Theoriebildung im eigenen Kulturraum. Arbeiten, die vorrangig das letztgenannte Ziel verfolgen, erscheinen häufig ausschließlich in der Landessprache und werden hier nicht berücksichtigt. Für die vorliegende Arbeit sind Beiträge des letztgenannten Themenfeldes von der größten Bedeutung. Interessanterweise zeigt die Beschäftigung mit verschiedenen Artikeln aus diesem Bereich ein Spannungsfeld zwischen ‚etischen‘ und ‚emischen‘ Betrachtungsweisen, die durchaus auch innerhalb derselben Beiträge nicht immer argumentativ aufgelöst werden. Es scheint mir die grundlegende Problematik des gesamten Forschungsgebietes zu sein, dass ein Begriff, der zunächst der chinesischen sozialen Wirklichkeit entstammt und als solcher (z.B. von Hu, 1944, deren Artikel entscheidend war für Goffmans spätere Ausführungen) in die wissenschaftliche Debatte eingeführt wurde, als universales Konstrukt breiteren Diskursen und Theoriegebäuden anverwandelt wurde, ohne in dieser neuen Funktion hinreichend definiert und empirisch bestätigt worden zu sein. In der Diskussion der spezifisch asiatischen Ausprägung dieses nun als universell betrachteten Phänomens entsteht damit ein doppelter Bezug, der zum einen in seiner Ableitung aus dem chinesischen Konzept besteht und zum anderen in dessen Anwendung auf den chinesischen Kontext. Während ersteres zu der Frage führt, ob das in China beobachtbare Phänomen ‚Gesicht‘ sinnvoll auf andere Kontexte verallgemeinerbar (also der Weg von ‚emic‘ nach ‚etic‘ gangbar) ist, führt letzteres zu der Frage, unter welchen kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich ‚Gesicht‘ in China in seiner spezifischen Form manifestiert (welchen ‚emischen‘ Ausdruck also ein ansonsten ‚etisches‘ Phänomen findet). Während beiden Positionen die Annahme innewohnt, bei ‚Gesicht‘ handle es sich in der Tat um ein universell gültiges Phänomen – eine Annahme, die im Großen und Ganzen von allen hier referierten Autoren geteilt wird –, so ist doch die Argumentationsrichtung in beiden Fällen notwendigerweise verschieden: Soll im ersten Fall die Leserschaft von der universellen Gültigkeit von ‚Gesicht‘ überzeugt werden, so steht im zweiten Fall die spezifisch chinesische (koreanische, usw.) Ausprägung desselben im Vordergrund. Eine deutliche Trennung beider Argumentationslinien ist mitunter nicht erkennbar, so dass sich manche Artikel der emischen Ausprägung widmen, ohne jedoch den Bezug zu einem allgemein gültigen Konstrukt ‚Gesicht‘ herzustellen. Als Ergebnis bleibt die Argumentation kulturimmanent, was zwar in sich schlüssig ist,
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‚GESICHT‘
aber nicht darlegen kann, weshalb der Universalitätsanspruch von ‚Gesicht‘ (von denselben Autoren) aufrechterhalten wird. So ist zwar die Universalität von ‚Gesicht‘ in Verbindung mit der Unausweichlichkeit sozialer Urteilsbildung prinzipiell überzeugend, sie wird allerdings in der Literatur jenseits dieser Überlegung nicht weiterentwickelt oder empirisch überprüft. Bei der Lektüre der hier einbezogenen Arbeiten entsteht so der Eindruck, als wäre entgegen aller Beteuerungen ‚Gesicht‘ eben doch kein Konstrukt, das jenseits des asiatischen Kulturraums bedeutsamen Erklärungswert zur Analyse sozialer Interaktionen besäße. Dass in der Literatur hier Gräben zwischen ‚Westlern‘ und ‚Chinesen‘ oder ‚Asiaten‘ aufgemacht werden (z.B. bei Ho, 1976), ist der theoretischen Weiterentwicklung des Konzepts sicherlich nicht dienlich gewesen. Der permanente Verweis auf die spezifisch chinesische Ausprägung (statt auf die universelle Gültigkeit) ist nach dieser Lesart möglicherweise auch ein Hinweis auf den Eindruck, ‚im Westen‘ nicht nur kein Gehör zu finden, sondern auch gar nicht richtig verstanden werden zu können. Lian und Mianzi – zwei Facetten von ‚Gesicht‘ Die mittlerweile recht umfangreiche englisch- und deutschsprachige Literatur zum Thema spiegelt die zentrale und differenzierte Rolle wider, die ‚Gesicht‘ in China und Taiwan spielt. Auch in der Fremdwahrnehmung erscheint die Sorge um das ‚Gesicht‘, die Notwendigkeit ‚Gesicht zu wahren‘, als geradezu ‚typisch chinesisch‘. Hsu (1996) gibt an, der englische Begriff ‚face‘ im Sinne von ‚to lose face‘ oder ‚to save face‘ stelle eine direkte Übersetzung der chinesischen Begriffe lian und mianzi dar (beide chinesisch für ‚Gesicht‘). Auch Ho (1976) stellt unter Berufung auf englische Wörterbücher fest, das Konzept ‚Gesicht‘ sei „of course, Chinese in origin…“, (S. 867), was Mao (1994, S. 454) aufgreift und bestätigt. Zahlreiche Arbeiten asiatischer und speziell chinesischer Autoren widmen sich ‚Gesicht‘ in seiner spezifisch chinesischen Ausprägung und Bedeutung. Theoretisch wie (forschungs-)praktisch wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass ‚Gesicht‘ in China oder Taiwan allgegenwärtiges und bedeutungsvolles Element sozialer Interaktionen ist. Chinesische Autoren weisen auf diesen Umstand immer wieder hin, wenn sie etwa feststellen: „The concept [of ‚face‘, D.W.] is relevant to virtually all encounters among Chinese people and powerfully shapes their conduct vis-a-vis one another“ (Hsu, 1996, abstract).2 Oder: „The concept of face [...] is central to Chinese construal of their social life“ (Chang/Holt, 1994, S. 97).
2 Häufig mischt sich in die Analyse eine kritische Note, wie in Feststellungen, Chinesen seien ein „face-treasuring people“ (Lew, 1998, S. 123), oder die Sorge um ‚Gesicht‘ sei „a Chinese preoccupation“ (Hsu, 1996, S. 3). So bemerkt etwa Gao (1998, S. 181) nicht nur, das Wahren von ‚Gesicht‘ sei das ultimative Ziel zwischenmenschlicher Kommunikation, sondern listet im selben Satz die negativen 87
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Grundsätzlich bezieht sich ‚Gesicht‘ auf die Wahrnehmung und Bewertung einer Person durch Dritte, insbesondere nach Maßgabe ihres sozialen Status und moralischer Integrität. Hu (1944) machte erstmals auf die Unterscheidung der beiden chinesischen Begriffe lian und mianzi aufmerksam, die beide mit ‚Gesicht‘ übersetzt werden, die aber – so ihre Argumentation – unterschiedliche Aspekte von ‚Gesicht‘ betreffen. ‚Gesicht‘ im Sinne von lian ist demnach die Würde eines Menschen, die ihm ohne weiteres Zutun und ohne besondere Verdienste zukommt. Erst durch Verstöße gegen geltende moralische Regeln kann dieses ‚Gesicht‘ verloren gehen, was erhebliche Auswirkungen auf die soziale Achtung einer Person hat. Lian […] is the respect of the group for a man with a good moral reputation: the man who will fulfill his obligations regardless of the hardships involved, who under all circumstances shows himself a decent human being. It represents the confidence of society in the integrity of ego’s moral character, the loss of which makes it impossible for him to function properly within the community. Lien is both a social sanction for enforcing moral standards and an internalized sanction. (Hu, 1944, S. 45)
‚Gesicht‘ im Sinne von lian ist der Respekt, der einer Person als Mitglied der menschlichen Gesellschaft entgegengebracht wird, weshalb das Verwirken von ‚Gesicht‘ oder schlimmer noch das Verzichten auf ‚Gesicht‘ (bu yao lian) bedeutet „that the actor has laid aside all claims to being a person“ (Bond/Hwang, 1986, S. 247; s.a. Günthner, 1993, S. 70). ‚Gesicht‘ im Sinne von mianzi dagegen ist, so Hu, frei von moralischen Aspekten und bezieht sich einzig auf jenen Teil des ‚Gesichts‘, der durch Anstrengung und Leistung erworben werden kann. Damit steht mianzi Begriffen wie ‚Prestige‘ und ‚Status‘ nahe, wobei gilt: Je mehr man im Leben erreicht hat, je höher der soziale Status, je mehr Ressourcen der eigenen Kontrolle unterstehen, desto mehr mianzi besitzt man (Hwang, 1987, S. 22). Mianzi bedeutet nach Hu „a reputation achieved through getting on in life, through success and ostentation. This is prestige that is accumulated by means of personal effort or clever maneuvering“ (Hu, 1944, S. 45). Im Gegensatz zu lian ist ein Mangel an mianzi kein Makel. Lian und mianzi stellen nach Hu unabhängige Komponenten von ‚Gesicht‘ dar, insofern als die moralische Integrität (lian) vom sozialen Status einer Person unabhängig ist und Status (mianzi) nicht automatisch an moralische Integrität gekoppelt ist. Allerdings ist fraglich, inwieweit in der Praxis mianzi trotz Verlust an lian aufrechterhalten werden
Auswirkungen dieser Orientierung auf: „Face-saving, sometimes even at the cost of precision, accuracy, and clarity, is the ultimate goal of interpersonal communication“ (Gao, 1998, S. 181). Noch deutlicher wird Lew in folgender Feststellung: „As one’s face symbolizes one’s self, love of face (ai mien dzi) in Chinese culture is in essence love of self, which is characterized by self-absorption, selfadmiration, and self-aggrandizement“ (Lew, 1998, S. 125). 88
‚GESICHT‘
kann – es ist dies eines der Probleme, die spätere Autoren bei Hus Argumentation ausmachen (vgl. Hsu, 1996). Hus Unterscheidung von lian und mianzi ist in der Literatur zum Thema ‚Gesicht‘ immer wieder aufgegriffen worden, in jüngster Zeit jedoch in zunehmend kritischer Auseinandersetzung. Ho merkt an, dass die Begriffe lian und mianzi nicht völlig trennscharf und in vielen Situationen sogar völlig austauschbar seien. So enthalte mianzi durchaus auch Komponenten moralischen Urteils. Während er der Unterscheidung der beiden Bewertungskriterien ‚moralische Integrität‘ und ‚sozialer Status‘ zustimmt, lehnt er ihre jeweilige Verknüpfung mit den Begriffen lian oder mianzi ab, da diese aus empirischer linguistischer Sicht keinen Bestand habe (Ho, 1976, 1994). Auch Hsu (1996) kann in seiner empirischen Untersuchung eine Trennung der Begriffe im Sinne Hus nicht bestätigen. Seine chinesischen Interviewpartner benutzten beide Begriffe als Synonyme, wobei mianzi ebenso Aspekte moralischen Urteils beinhalten konnte, wie lian sich auf Leistung und Status beziehen mochte. Allerdings beobachtete Hsu die Tendenz, in Fällen schwerwiegenderen Gesichtsverlusts von lian zu sprechen. „Instead of having different categories of referents, mianzi and lian appear to differ chiefly in the importance of the social image to which they normally refer“ (Hsu, 1996, S. 59). Insofern moralische Verfehlungen schwerwiegendere Vorfälle darstellen als andere, gibt es eine gewisse Neigung, diese unter Verwendung von lian statt von mianzi zu schildern, was den Erklärungsansatz von Hu nachvollziehbar macht, in seiner konkreten Aussage jedoch widerlegt.
Konstituenten von ‚Gesicht‘ Wenn gilt, dass ‚Gesicht‘ von Dritten zuerkannt wird, wenn „a person’s face is assessed in terms of what others think of the person“ (Ho, 1994, S. 274), dann ist zu fragen, welche Kriterien bei der Einschätzung von Personen eine Rolle spielen und zu einem Urteil über das ‚Gesicht‘ einer Person führen. In einem Versuch, ‚Gesicht‘ objektiv messbar zu machen, listet Ho (1994) neun Bereiche auf, in denen generell – nicht nur in China – über ‚Gesicht‘ geurteilt wird. Es sind dies: 1. Biographische Variablen wie Alter, Geschlecht, Position in der Geschwisterreihe, Generationenzugehörigkeit 2. Relationale Attribute: Verbindungen durch Geburt, Verwandtschaft oder Heirat 3. Soziale Statusindikatoren, die auf persönlicher Leistung beruhen, wie (a) Ausbildungsgrad, Beruf und Einkommen, (b) das Verfügen über Beziehungen und Einfluss 4. Soziale Statusindikatoren, die sich nicht auf persönliche Leistung beziehen, wie z.B. Vermögen und ‚Beziehungen‘ durch Heirat 5. Titel, Position, Rang und Amt, soweit durch eigene Leistung erreicht 89
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6. 7. 8. 9.
Titel, Position, Rang und Amt kraft Geburt oder Eheschließung Reputation, die auf persönlicher Leistung und Erfolgen gründet Reputation, die auf moralisch hoch bewertetem Verhalten gründet Freiheit von sozialen Stigmata
Die Liste von Ho greift die bereits von Hu (1944) erwähnten Kriterien von Status und (moralischer) Integrität des Verhaltens und Charakters auf. Bemerkenswert ist, dass die Liste von Ho auch Kriterien umfasst, die unabhängig vom Verhalten der Person selbst sind und sich stattdessen auf ihr Geschlecht, Alter und Zugehörigkeit zu (angesehenen oder stigmatisierten) Gruppen richten. ‚Gesicht‘ ist auf diese Weise mit zeitlich überdauernden Merkmalen assoziiert, die auch eine gewisse Dauerhaftigkeit der sozialen Einschätzung nach sich ziehen. Dennoch bezeichnet ‚Gesicht‘ kein Persönlichkeitsmerkmal, da es seinem Wesen nach an den sozialen Urteilsprozess geknüpft ist (Ho, 1994.).3 Die Liste von Ho dient der Analyse, vor allem aber der Messbarmachung von ‚Gesicht‘, das heißt der Operationalisierung der Frage, ‚wie viel Gesicht hat eine Person‘.4 Eine ähnliche Fragestellung verfolgt Hsu (1996) in seiner empi-
3 ‚Gesicht‘ ist damit eben nicht kraft der Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft vorhanden (im Sinne von lian bei Hu), sondern bedarf in jedem Fall einer Zuerkennung durch Dritte. In Auseinandersetzung mit seinem eigenen früheren Standpunkt kommt Ho zu dem Schluss: „I was wrong when I stated: ‚Lien is something to which everyone is entitled by virtue of his membership in society and can be lost only through unacceptable conduct‘ (Ho, 1976, S. 870). History is replete with instances where some members of a society are by definition excluded from the entitlement of lien: invalids, slaves, and members of an ‚inferior race‘ or a lowly caste (e.g. the untouchables in traditional India)“ (Ho, 1994, S. 279). 4 Die Berechtigung und Bedeutung dieser Fragestellung scheint Ho so selbstevident, dass er dem kritischen Einwand eines Kollegen folgendermaßen begegnet: „How much face does a person have? On one occasion, I raised this question in a graduate seminar where face was discussed. A knowledgeable Westerner familiar with the scholarly literature on face, also a contributor to this book, said: ‚The question doesn’t make sense.‘ I responded: ‚You must have been misled by Goffman.‘ If the question were put to a Chinese audience, no one would have difficulty understanding it“ (Ho, 1994, S. 275). Anders als Goffman sieht Ho in ‚Gesicht‘ kein situationales Konzept (das in der Tat nicht messbar wäre). Der Umstand, dass nach Hos Auffassung ‚Gesicht‘ ein überdauerndes Attribut sei, ist ihm Begründung genug für die Berechtigung und Notwendigkeit, dieses Attribut zu messen. Die Polemik des obigen Zitates erschließt sich vollends, wenn man die Begriffe ‚Chinese‘ und ‚Westerner‘ austauscht – niemand würde wohl eine wissenschaftliche Fragestellung gegen einen Einwand mit dem Hinweis verteidigen, einem bestimmten Publikum sei sie einsichtig (und damit implizieren, der fragende Kollege sei wohl ein wenig desorientiert). Dass die Argumentation im Hinblick auf das chinesische Konzept mianzi geführt wird, ist m.E. Ausdruck des Glaubens an die Besonderheit chinesischer (oder generell asiatischer) Formen der Psyche 90
‚GESICHT‘
rischen Arbeit, die er – mittels Interviews, Fragebögen und Feldbeobachtungen – in der Volksrepublik China durchgeführt hat. Hsu ermittelt vier Arten von Situationen, die in besonderer Weise das ‚Gesicht‘ tangieren. Es sind dies Situationen, in denen (1) die moralische Integrität, (2) Fähigkeit, (3) Status und (4) Kultiviertheit einer Person auf dem Prüfstand stehen. Die Kernaspekte dieser Situationen bezeichnet Hsu auch als ‚Konstituenten‘ von ‚Gesicht‘ („constituents of face“, S. 122), da sie nicht nur in besonderer Weise eine Bewusstheit für ‚Gesicht‘ weckten, sondern auch die Kriterien darstellten, nach denen in China ‚Gesicht‘ bewertet werde: „Morality, ability, social standing, and culturedness, it appears, are the four major types of evaluations that constitute a person’s ‚face‘ or public image. Together these categories characterize the integral set of opinions that people normally develop of an individual’s social persona“ (Hsu, 1996, S. 122). Wie viel ‚Gesicht‘ eine Person hat, richtet sich nach Urteilen über ihre moralische Integrität, ihre Fähigkeiten, Status und Kultiviertheit. Auf diese vier Aspekte sei nachfolgend kurz eingegangen:
Moralische Integrität Ein Verhalten, das moralische Grundsätze verletzt, wird von anderen negativ bewertet und führt damit zum Verlust des ‚Gesichts‘. Beim Stehlen ertappt zu werden, Ältere oder Kinder unwirsch zu behandeln, eine voreheliche Schwangerschaft, als korrupt oder als Ehebrecher entlarvt zu werden, sind Vorfälle, in denen das ‚Gesicht‘ einer Person erheblichen Schaden nimmt (alle Beispiele nach Hsu, 1996). Während einige dieser Vorfälle Gesetzesverstöße darstellen, ist letztlich der moralische Aspekt entscheidend: „it seems that crimes are considered ‚face‘-losing only in so far as they run against the moral order of Chinese culture […] But as a whole, Chinese legal codes seem to have and continue to closely represent Chinese moral ideals, and thus to be found out about almost any crime is seriously detrimental to one’s public image“ (S. 112). Das ‚Gesicht‘ aufgrund moralischer Verfehlungen zu verlieren, wiegt besonders schwer, und ein Gesichtsverlust erstreckt sich fast unweigerlich auch auf die gesamte Familie oder andere mit der Person assoziierte Personen und Gruppen. Auch wenn die sprachliche Differenzierung, die Hu (1944, s.o.) ausmacht, empirisch nicht bestätigt werden konnte, so besteht inhaltliche Einigkeit darüber, dass ein Gesichtsverlust aufgrund moralischer Verfehlungen gleichbedeutend ist mit dem Verlust gesellschaftlicher Achtung und negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Position wie Handlungsfähigkeit einer Person hat.
und Gesellschaft, die sich ‚dem Westler‘ nie erschließen werde. Die Polarisierung von ‚Westerners‘ und ‚Chinese‘, die sich durch Hos Artikel zieht (vgl. S. 272 und S. 276) wäre ihrerseits lohnender Gegenstand weiterer Erkundungen. 91
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Fähigkeit Nicht so fundamental wie die moralische Integrität einer Person, aber dennoch wichtig für die Zu- oder Aberkennung von ‚Gesicht‘, ist die unter Beweis gestellte Fähigkeit. Fähigkeit (oder Unfähigkeit) kann in verschiedenen Bereichen demonstriert werden, und als kompetent eingeschätzt zu werden ist gleichbedeutend mit der Bestätigung von ‚Gesicht‘. Umgekehrt ist das Offenbarwerden von Unvermögen und Scheitern gesichtsbedrohend. Als Fähigkeiten können zum Beispiel gelten: Sprachkenntnisse, allgemeine Intelligenz, ein bestimmtes körperliches Vermögen (z.B. auch die Fähigkeit, Kinder zu gebären), Improvisationsfähigkeit, Geschick oder prinzipiell jede Fertigkeit, die in einer bestimmten Situation gefragt ist (alle Beispiele nach Hsu, 1996). Auch der soziale Erfolg der Kinder gilt als Ausdruck der eigenen Qualitäten (als Eltern), ihr Misserfolg als Ausdruck persönlichen Versagens.
Status Status oder „social standing“ bezieht sich hier auf die Rangordnung der Interaktionspartner in einer bestimmten Situation. Wird die eigene soziale Position von den Interaktionspartnern als überlegen eingeschätzt und durch entsprechendes Verhalten begleitet (z.B. durch den Gebrauch von höflichen Anredeformen, Titeln, das Überreichen von Geschenken), stellt dies eine deutliche Bestätigung des eigenen ‚Gesichts‘ dar (Hsu, 1996, S. 117). Entsprechend kann das Ausbleiben von erwarteten Statusbezeugungen zu dem Gefühl führen, ‚Gesicht‘ verloren zu haben. Auch wenn der eigene Status häufig auf eigener Leistung oder persönlichen Attributen beruht, so sind diese doch keine zwingende Voraussetzung für das Zuerkennen von Gesicht. Wie auch Ho bemerkt Hsu, Status könne ebenso sehr auf glücklichen Umständen, wie zum Beispiel der Zugehörigkeit zu einer wohlhabenden Familie, beruhen. In diesem Falle gilt: „[…] a high social standing may be obtained by simply being born into a prominent, high-status family and thus has nothing to do with either one’s moral character or ability“ (Hsu, 1996, S. 118).
Kultiviertheit Gutes Benehmen, zivilisierte Umgangsformen und Bildung tragen zu einem Eindruck von ‚Kultiviertheit‘ („culturedness“) bei, der für die Bewertung von ‚Gesicht‘ von entscheidender Bedeutung ist. Als Zeichen von Kultiviertheit gelten zum Beispiel taktvolles Verhalten, Höflichkeit, Bescheidenheit, Zuvorkommenheit, das Tragen angemessener Kleidung oder Respekt für andere. Auch Kennerschaft von Kunst, Musik, Poesie, das Praktizieren von Kalligraphie, das Spielen eines Instruments oder das Ausstellen exquisiter Kunstwerke in der eigenen Wohnung lassen Kultiviertheit und Bildung auf einem höheren 92
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Niveau erkennen. Rohes, ungehobeltes Betragen dagegen, wie zum Beispiel Angeberei, das Erzählen anstößiger Witze oder Betrunkensein zu unpassenden Gelegenheiten, ist ein Zeichen mangelnder Kultiviertheit und führt daher zum Gesichtsverlust. Ein Vergleich der von Ho und Hsu ermittelten Komponenten von ‚Gesicht‘ zeigt große Übereinstimmungen. So lassen sich Hos Kriterien den ersten drei von Hsu identifizierten Aspekten zuordnen, wenngleich die größere Differenziertheit des Aspekts ‚Status‘, die Ho entwickelt, dabei verloren geht. Neu jedoch ist bei Hsu der vierte Aspekt, ‚culturedness‘. Größere Glaubwürdigkeit erhält Hsu dabei durch die empirische Grundlage seiner Ergebnisse, die bei Ho nicht gegeben ist.
‚Gesicht‘ in der sozialen Interaktion Das Zuerkennen von ‚Gesicht‘ folgt keinen einfachen Regeln. Als Ergebnis eines sozialen Urteilsprozesses mag ‚Gesicht‘ zwar mit den Handlungen, Leistungen oder Charakteristika einer Person in Beziehung stehen, doch resultiert es nicht automatisch aus jenen. ‚Gesicht‘ wird vielmehr in sozialen Interaktionen bestätigt, negiert, eingefordert oder gewährt. Als soziales Phänomen setzt ‚Gesicht‘ mindestens zwei Akteure5 voraus, deren ‚Gesicht‘ in der Interaktion auf dem Spiel steht. In der Interaktion kann das ‚Gesicht‘ auf beiden Seiten gewahrt, beschädigt oder bestärkt werden, so dass sich grob sechs Kategorien gesichtsrelevanter Verhaltensweisen unterscheiden lassen (Bond/Hwang, 1986): 1. das eigene ‚Gesicht‘ verlieren („losing one’s own face“); 2. jemand anders ‚Gesicht‘ nehmen („hurting other’s face“); 3. das eigene ‚Gesicht‘ mehren („enhancing one’s own face“); 4. jemand anders ‚Gesicht‘ geben („enhancing other’s face“); 5. das eigene ‚Gesicht‘ wahren („saving one’s own face“); 6. das ‚Gesicht‘ des anderen wahren („saving other’s face“). Mit dieser Einteilung ist ein grobes Raster verfügbar, auch wenn es im Chinesischen eine große Fülle von Begriffen gibt, die gesichtsrelevantes Verhalten bezeichnen.6 Die von Bond und Hwang vorgenommene Unterteilung ist dabei keineswegs allgemeingültig, auch wenn sich die von ihnen genannten Begriffe
5 Akteure können dabei auch Kollektive sein, z.B. Familien, Unternehmen oder Staaten (vgl. Hsu, 1996) 6 In englischer Übersetzung listet Hu (1944) auf: „to lose lien for so-and-so“, „not to want lien“, „to struggle for mien-tzu“, „to leave mien-tzu for someone“. Eine weitaus umfangreichere Auflistung an Ausdrucksweisen findet sich bei Hsu (1996). 93
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auch bei anderen Autoren wieder finden. Da sie jedoch eine logisch begründete Orientierungshilfe bietet, soll sie hier aufgegriffen werden.
Das eigene ‚Gesicht‘ verlieren Gerät Verhalten in einen Widerspruch zum eigenen Anspruch auf Kultiviertheit, Leistung, Status und Fähigkeit bzw. in einen Widerspruch zu den diesbezüglichen Erwartungen Dritter, bedeutet dies einen ‚Gesichtsverlust‘. ‚Gesicht‘ geht dann verloren, wenn „the individual, either through his action or that of people closely related to him, fails to meet essential requirements placed upon him by virtue of the social position he occupies“ (Ho, 1976, S. 867). Je nach Position bedeuten unterschiedliche Verhaltensweisen einen Gesichtsverlust, wobei gilt, dass höhere Positionen mit entsprechend höheren Erwartungen an das Handeln einer Person einhergehen.
Anderen ‚Gesicht‘ nehmen Handlungen oder Kommentare, die offenbaren bzw. nahe legen, dass die andere Person ihren Anspruch auf Kultiviertheit, Leistung, Status und Fähigkeit nicht aufrechterhalten kann, bedeuten, dieser Person das ‚Gesicht‘ zu nehmen. Je nach Situation können auch Handlungen, die lediglich den besonderen Status der anderen Person nicht herausstellen, als ‚Gesichtsverletzung‘ interpretiert werden. Gemäß den Regeln chinesischer Höflichkeit gilt das Verletzen des ‚Gesichts‘ als unhöflich, was sich wiederum negativ auf das ‚Gesicht‘ desjenigen auswirkt, der anderen ‚Gesicht‘ nimmt.
Das eigene ‚Gesicht‘ mehren Ein Zuwachs an (von anderen anerkannten) Leistungen, Fähigkeiten, Status oder Kultiviertheit führt zu einem Gewinn an ‚Gesicht‘. Während dem ‚Gesicht‘ entsprechende Handlungen und Ergebnisse zugrunde liegen, kann das eigene ‚Gesicht‘ auch durch das Erwähnen eigener Leistungen (Fähigkeiten etc.) gesteigert werden, vor allem, wenn dem Publikum diese unbekannt sind. Sind die eigenen Verdienste dagegen bekannt, demonstriert Bescheidenheit die eigene Kultiviertheit und vergrößert so das eigene ‚Gesicht‘. Der Wunsch, möglichst viel ‚Gesicht‘ zu demonstrieren, verleitet mitunter jedoch auch zu Übertreibungen. Von chinesischen Autoren wird dieses Streben nach Gesicht bisweilen heftig kritisiert. In einem vernichtenden Urteil kommt beispielsweise Lew zu dem Schluss, der chinesische Nationalcharakter sei von Narzissmus geprägt, der sich ausdrücke in „self-centeredness, a sense of self-importance, a tendency toward interpersonal exploitation, and exhibitionistic need for attention and admiration, an inability to tolerate criticism, and a dependency on 94
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external sources of gratification“ (Lew, 1998, S. 135). Auch die chinesische Alltagssprache hält einen Begriff bereit (ai mianzi), der die übermäßige Betonung und Sorge um das eigene ‚Gesicht‘ zum Ausdruck bringt. Diese hat nicht nur Auswirkungen auf die Selbstdarstellung, sondern insbesondere auch auf das Wahren des eigenen ‚Gesichts‘ (s.u.).
Anderen ‚Gesicht‘ geben Erwähnungen (bis hin zu Übertreibungen) der besonderen Leistung, des hohen Status, Kultiviertheit und großer Fähigkeit der anderen Person geben dieser ‚Gesicht‘, insbesondere wenn Dritte anwesend sind. Diese Erwähnungen geben der anderen Person wiederum Gelegenheit zum höflichen Abwehren der Komplimente, was ihre Kultiviertheit zum Ausdruck bringt und so das ‚Gesicht‘ weiter steigert. Bescheidene Repliken bieten zudem die Möglichkeit, dem Interaktionspartner ‚Gesicht‘ zu geben und so die Situation insgesamt zu einem Ereignis zu machen, in dem alle Anwesenden ‚Gesicht‘ gewinnen. Chinesische Höflichkeitsfloskeln bringen dieses Wechselspiel von großer Wertschätzung des anderen und eigener Abwertung beredt zum Ausdruck (vgl. z.B. Liang, 1996, 1998).
Das eigene ‚Gesicht‘ wahren Droht die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der eigenen Leistung, Status, Fähigkeiten oder Kultiviertheit offenbar zu werden, so wird eine Person versuchen, diese möglichst im Dunkeln zu halten bzw. Erklärungen und Entschuldigungen anführen, warum es zu dieser Diskrepanz kommt. Gelingt es dieser Person, trotz Versäumnissen oder anderen Fehlern den Anspruch auf ihr ‚Gesicht‘ aufrechtzuerhalten, hat sie ihr eigenes ‚Gesicht‘ gewahrt. Gelegentlich lässt sich das ‚Gesicht‘ nur durch Ausflüchte, Unwahrheiten oder Notlügen wahren. Der Wunsch, möglichst viel ‚Gesicht‘ zu besitzen, geht hier eine Verbindung ein mit dem Bestreben, das eigene ‚Gesicht‘ auf keinen Fall der Lächerlichkeit preiszugeben. Wie Chang und Holt (1994) bemerken, kann sich die Sorge um das ‚Gesicht‘ hier destruktiv auf soziale Interaktionen auswirken. Ist keiner der Beteiligten einer Auseinandersetzung zum Einlenken bereit, kann daraus ein Abbruch der Beziehung resultieren, der zwar das ‚Gesicht‘ der Beteiligten gewahrt lässt, jedoch von den Beteiligten unter Umständen einen hohen emotionalen Preis fordert.
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Das ‚Gesicht‘ anderer wahren Droht der Anspruch auf ‚Gesicht‘ einer anderen Person an der Wirklichkeit zu scheitern, so kann das Gesicht dieser Person dadurch gewahrt werden, dass deren Mangel an Fähigkeit, Kultiviertheit, Status oder Leistung nicht öffentlich gemacht wird bzw. durch Übernehmen von Aufgaben durch andere verdeckt wird. Ist ein Fehler der anderen Person nicht mehr zu vermeiden, so trägt taktvolles Ignorieren dazu bei, das ‚Gesicht‘ des anderen zu wahren. Insbesondere wenn die andere Person ranghöher oder älter ist, würden Korrekturen oder Kritik der anderen Person ‚Gesicht‘ nehmen. Sind Kritik und Konflikt nicht zu vermeiden, besteht das Wahren von ‚Gesicht‘ darin, der anderen Person einen Ausweg zu ermöglichen, die keine grundlegenden Zweifel an deren Fähigkeit, Leistung, Status oder Kultiviertheit aufkommen bzw. öffentlich werden lassen. Besteht für die andere Person diese Möglichkeit des gesichtswahrenden Auswegs nicht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie die weitere Kooperation gänzlich verweigert oder nach Möglichkeiten sucht, dem anderen aktiv zu schaden und Rache zu üben (Chang/Holt, 1994, S. 115). Das Verletzen des ‚Gesichts‘ zieht dann ernsthafte negative Konsequenzen nach sich. Die hier vorgenommene Unterteilung löst sich in realen Interaktionen allerdings auf. ‚Gesicht‘ steht dort beständig zur Verhandlung, wird beschädigt, repariert, gegeben oder genommen. Der reibungslose Ablauf von Interaktionen sowie der Erhalt und Ausbau von Beziehungen ist dabei in entscheidendem Maße von dem Erhalt des ‚Gesichts‘ aller Beteiligten abhängig. Das allseitige Wahren von ‚Gesicht‘ erfordert dabei bisweilen erhebliches Kommunikationsgeschick. Die Dimension dieser Aufgabe sowie die Last, die sie den Akteuren aufbürdet, lässt der nachfolgende Kommentar von Chang und Holt erahnen: The need for smooth interaction underscores the importance of knowing how to communicate in order to save each other’s mien-tzu. For Chinese this understanding is not simply an issue of social technique; it is also a measure of one’s wisdom in dealing with the world. (Chang/Holt, 1994, S. 112)
Wie sich die Beteiligten aufeinander beziehen, in welcher Weise ‚Gesicht‘ dabei eine Rolle spielt und wie die Urteile über das ‚Gesicht‘ der Beteiligten ausfallen, hängt schließlich in entscheidendem Maße von der Beziehung der Beteiligten zueinander, aber auch von Zweck und Konflikthaftigkeit der Interaktion ab. Chinesische Autoren betonen immer wieder, dass das Konzept ‚Gesicht‘ nur unter Bezug auf die Komplexität des Beziehungsgefüges (guanxi), in die chinesische Akteure stets eingebettet sind, verstehbar sei (Chang/Holt, 1994, S. 102; Hwang, 1997). Wie Hwang ausarbeitet, unterscheiden sich die Regeln des sozialen Umgangs je nach Einschätzung der existierenden Beziehung zum 96
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Teil erheblich. Beziehungen werden dabei danach unterschieden, wie stark jeweils ihre affektive und ihre instrumentelle Komponente ausgeprägt sind. Sehr enge Beziehungen gründen auf ihrer affektiven Qualität, während der instrumentelle Anteil sehr gering ausgeprägt ist. Auf der anderen Seite gibt es Beziehungen, in denen der instrumentelle Anteil überwiegt, wie zum Beispiel bei Kontakten zwischen Verkäufer und Kunde. Alle anderen Beziehungen, zum Beispiel unter Kollegen, Mitschülern, Bekannten oder Nachbarn, enthalten beide Anteile, weshalb sie von Hwang (1987) als „gemischt“ bezeichnet werden. Es sind eben diese „gemischten“ Beziehungen, in denen ‚Gesicht‘ seine größte Relevanz entfaltet und insbesondere beim Sichern sozialer und materieller Unterstützung eine vielfältige Rolle spielt. Nur hier hat ein ‚Impression-Management‘ Auswirkungen auf die Anstrengungen, die andere bereit sind, in die Beziehung zu investieren. Affektive (Familien-)Beziehungen hingegen gewährleisten in jedem Fall und völlig unabhängig von ‚Gesicht‘ Unterstützung. Instrumentelle Beziehungen sind weitgehend auf den Austausch von Geld, Ware oder Dienstleistung beschränkt, der klaren Regeln unterliegt und deshalb aus anderen Gründen wenig Rücksicht auf das ‚Gesicht‘ erfordert (Günthner, 1993; Liang, 1998). In „gemischten“ Beziehungen jedoch ist ‚Gesicht‘ einer der Faktoren, die auf Entscheidungen und Handeln Einfluss nehmen: It appears that a medium or low level of familiarity (such as those between a lecturer and students in his/her class) are the most likely to induce the greatest concern with one’s ‚face‘ and the most keenly-felt ‚face‘-loss or gain. Total strangers [...] and ones’ intimates [...] are unlikely to produce as intense a concern with one’s face because they do not know one or they know one all too well. (Hsu, 1996, S. 126)
So zeigt zum Beispiel Hwang (1987) die Bedeutung auf, die ‚Gesicht‘ für den Austausch materieller, sozialer oder emotionaler Ressourcen innerhalb der chinesischen Gesellschaft hat. Ob einer Person diese Ressourcen gewährt werden oder nicht, hängt hier von verschiedenen Abschätzungen des ‚Gesichts‘ auf beiden Seiten ab. Die Kosten, die das Überlassen von Ressourcen bedeutet, werden sorgfältig gegen den potentiellen Nutzen abgewogen, der aus einer später zu erwartenden Gegenleistung resultiert. Bei grundsätzlicher Gültigkeit des Reziprozitätsprinzips ist von einer solchen Gegenleistung auszugehen, auch wenn deren Art und Zeitpunkt unbestimmt bleiben.7 Die erwartete Gegenleistung wiederum ist umso attraktiver, über je mehr Ressourcen und Kontakte die andere Person verfügt, das heißt, je größer deren ‚Gesicht‘ ist. Selbst wenn die Kosten-Nutzen-Erwägung zuungunsten der anderen Person ausfällt, mag ein Gefallen gewährt werden, da das Abschlagen einer Bitte
7 Dies gilt für jegliche Art von Beziehung. Während in instrumentellen Beziehungen die Gegenleistung klar definiert ist (z.B. eine bestimmte Summe Geld), kann in affektiven Beziehungen diese Gegenleistung um Jahrzehnte verschoben sein, wenn zum Beispiel die erwachsenen Kinder die nun alten Eltern unterstützen (Hwang, 1987). 97
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grundsätzlich einen ‚Gesichtsverlust‘ auf beiden Seiten bedeutet. Das Gewähren eines Gefallens hingegen demonstriert nicht nur die eigene Großzügigkeit, sondern auch, tatsächlich über die erbetenen Ressourcen zu verfügen. Beides wird zu einer positiven Bewertung des ‚Gesichts‘ durch andere führen. Das Erreichen persönlicher Ziele ist daher im chinesischen System eng mit der Qualität sozialer Beziehungen sowie dem eigenen ‚Gesicht‘ verknüpft. Das Vorhandensein einer Beziehung, die mehr als nur instrumentell ist, das heißt die Zugehörigkeit zum sozialen Netzwerk einer anderen Person, ist die Grundvoraussetzung für das Einholen von Unterstützung. Die Wahrscheinlichkeit, diese Unterstützung tatsächlich zu erfahren, steigt mit dem Gewicht des eigenen ‚Gesichts‘ bzw. mit dem Gewicht des ‚Gesichts‘ der Person, die als Mittelsmann eingeschaltet wird. 8 Unter diesen Bedingungen ist ‚Impression-Management‘ (‚facework‘) für das Erreichen eigener Ziele unerlässlich. Soziale Herkunft, Vermögen, Titel und einflussreiche Bekannte zu erwähnen und ins Spiel zu bringen gehört zum ‚facework‘ und ist ein Signal an Dritte, selbst über attraktive Ressourcen zu verfügen und deshalb ein viel versprechender Interaktions-, Tausch- oder Geschäftspartner zu sein.9
‚Gesicht‘ in deutsch-chinesischen Interaktionen Die Hauptspielregel in China könnte man auf folgende Formel bringen: „Gib jedem sein Gesicht, lass‘ niemanden Gesicht verlieren, und wahr’ dein eigenes Gesicht!“ (Weggel, 2002, S. 38)
Das Thema ‚Gesicht‘ wird immer wieder als Problem deutsch-chinesischer Interaktionen identifiziert (Günthner, 1993; Nagels, 1996; Sader, 1999; Thomas, 1996; Thomas/Schenk, 2001). Dies reflektiert nicht nur die große Relevanz von ‚Gesicht‘ im chinesischen Alltag, sondern vor allem auch die mangelnde Erfahrung von westlichen Ausländern im Umgang mit einem sozialen Prinzip, das in ihren Heimatländern weit weniger ausgeprägt ist. Chinesische Mitarbeiter beobachten daher: „Western managers are insufficiently sensitive to ‚face‘“ (Björkman/Schaap, 1993, S. 5). Der Umgang mit ‚Gesicht‘ stellt so eine praktische Herausforderung an die soziale Handlungskompetenz dar. ‚Gesicht‘ besitzt in der deutschchinesischen Kommunikation jedoch zugleich eine metaphorische Komponen-
8 Das Modell von Hwang (1987) kann hier nur sehr verkürzt wiedergegeben werden. Tatsächlich spielen noch weitere Faktoren und Möglichkeiten der Einflussnahme eine Rolle. 9 Da durch ‚facework‘ eine Einflussnahme auf die Entscheidungen anderer angestrebt wird, bezeichnet Hwang (1987) dieses auch als „power game“. Er urteilt: „[W]e may assert that doing face work is an important way of showing off one’s power. Face work is also a method of manipulating the allocator’s choices of allocating ressources to one’s benefit. Thus, doing face work is a power game frequently played by the Chinese people“ (Hwang, 1987, S. 962). 98
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te, die als weiterer Rahmen der Diskussion aufgefasst werden kann. In dieser Lesart repräsentiert ‚Gesicht‘ in hohem Maße das, was uns an China fremd ist. Es steht für die Undurchdringlichkeit der asiatischen Maske, hinter die zu schauen uns Nichteingeweihten nicht vergönnt ist. Das Bedürfnis, das ‚Gesicht‘ zu wahren, erscheint uns typisch chinesisch, doch argwöhnen wir, es werde uns nur eine uninterpretierbare Fassade zugewandt, hinter der sich der ‚echte‘ Mensch verbirgt. ‚Gesicht‘ symbolisiert so die Grenzen unseres Verstehens, aber auch das absichtsvoll Verborgene. Hinter beidem wähnen wir Geheimnisvolles, etwas, über das wir Aufklärung bedürfen. Ein Verständnis des Fremden ist nur durch den Blick ‚hinter das Gesicht‘ zu erhoffen, ein Versprechen, das einzulösen zahllose Bücher angetreten sind.10 Auf der Ebene konkreter Interaktionen manifestiert sich ‚Gesicht‘ in seiner erstgenannten Bedeutung, d.h. als grundlegendes Prinzip sozialer Interaktionen, das in China weithin beachtet wird und auch von Ausländern berücksichtigt werden muss. Empirische Untersuchungen weisen ‚Gesicht‘ hier sowohl aus Sicht deutscher als auch aus Sicht chinesischer Beteiligter als Problem aus. Während von chinesischer Seite Klagen zu hören sind, dass westliche Manager zu wenig Rücksicht auf ‚Gesicht‘ nähmen, stellen deutsche Manager in China eine unangemessen große Bedeutung von ‚Gesicht‘ fest, die – aus ihrer Sicht effizientem – Handeln häufig im Wege stehe. Es entsteht so ein kongruentes Bild, das die ungebrochen hohe Bedeutung von ‚Gesicht‘ in China, zugleich aber Unverständnis und mangelnde Erfahrung im Umgang mit der chinesischen Ausprägung von ‚Gesicht‘ auf Seiten westlicher Manager beinhaltet.
‚Gesicht wahren‘ und ‚Gesicht verlieren‘ Typische Kritik von chinesischen Mitarbeitern an ihren deutschen Kollegen und Vorgesetzten in China lautet, diese seien „brüsk“, „arrogant“, „unbeherrscht“ und „rassistisch“ (Interviewaussagen bei Nagels, 1996). Auch Deutsche urteilen über ihre Landsleute in China, diese träten „zu forsch“, überheblich und ungeduldig auf (ebd., S. 43). Der ‚arrogante Ausländer‘ ist eine stereotype Formel, die sich auch in der in China viel beachteten Einführung in internationale Verhandlungen von Zhang (1997) wieder findet. Ist die Fragestellung dieses Buches, „wie chinesische Geschäftsleute Verhandlungen mit Ausländern führen sollten“ (S. 17), so wird an anderer Stelle der Prototyp ei10 So erschien Michael Bonds Einführung in eine chinesische Psychologie unter dem Titel „Beyond the Chinese Face“ (1991), und auch andere Buchtitel versprechen Einsichten in psychologische Tiefen oder doch zumindest verborgene „Wirklichkeiten“ wie z.B. „Understanding the Chinese personality“ (Lew, 1998), „Chinas Wirklichkeiten“ (Bork, 1996) oder „Chinesen verstehen lernen“ (LinHuber, 2001). 99
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nes solchen Ausländers vorgestellt: „Der ausländische Experte war überheblich, schroff und arrogant; er blickte auf uns herab“ (S. 88).11 Diese Aussage spiegelt sowohl Erfahrungen im konkreten Umgang mit Ausländern als auch das nationale Trauma der Kolonialisierung sowie des wirtschaftlichen und technischen Entwicklungsvorsprungs ‚des Westens‘ wider (Böckelmann, 1999). Sowohl auf individueller als auch auf nationaler Ebene impliziert überlegenes Auftreten ausländischer Partner einen deutlichen ‚Gesichtsverlust‘ für die chinesische Seite.12 Schroffes und arrogantes Verhalten stehen in direktem Widerspruch zu Regeln der Höflichkeit und des ‚Gesichts‘. Äußerungen über deutsche und andere ausländische Geschäftsleute in China weisen mehr oder weniger direkt darauf hin, dass diese ohne die in China gebotene Rücksicht auf ‚Gesicht‘ agieren. Sie belegen zugleich deutlich die negative Resonanz, die ein solches Verhalten findet. ‚Gesicht‘ zu haben ist auch für ausländische Manager in China wichtig. ‚Gesicht‘ ist hier gleichbedeutend mit Respekt und Unterstützung seitens der chinesischen Mitarbeiter und damit ein wichtiger Faktor in Bezug auf die Arbeitseffektivität des ‚Expatriates‘. One cultural factor was the Chinese concern over ‚saving face‘ and Westerners’ inability to ‚win face‘ with Chinese counterparts and employees. One respondent said, ‚Respect is everything; not the task, not the position, not the delegation of it.‘ The ability of respondents to negotiate ‚face‘ and engage in interpersonal posturing determined according to their responses, their effectiveness in sharing authority, delegating tasks, and solving conflicts. (Weiss/Bloom, 1990, S. 26)
Entsprechend groß ist die Bedeutung, die dem Wahren von ‚Gesicht‘ von Auslandsmanagern in China beigemessen wird. The respondents from the European companies considered face-saving extremely important in the Chinese business context (mean score of 4.4; 5 = extremely important). Face-saving is seen as even more important than „being reliable in doing business“. The latter received a mean score of 4.2. (Tung/Worm, 1997, S. 12)
Umgekehrt sind Situationen gefürchtet, in denen der ausländische Manager sein ‚Gesicht‘ verliert. So kann zum Beispiel die mangelnde Wertschätzung, die chinesische Partner aus dem Verhalten ihrer deutschen Kollegen ablesen,
11 Auch an anderen Stellen im Buch finden sich entsprechende Charakterisierungen: „Einige ausländische Geschäftsleute verhielten sich äußerst arrogant, egoistisch und zeigten keinerlei Kompromißbereitschaft“ (S. 186); „Einzelne Mitarbeiter dieser Firma K waren ungeduldig und machten ihrem Ärger auch Luft“ (S. 191). 12 Hsu (1996) berichtet, die VR China habe von Japan nach dem II. Weltkrieg angebotene Wiedergutmachungsleistungen abgelehnt, um nicht den Eindruck zu erwecken, auf ausländische Gelder angewiesen zu sein und dadurch das ‚Gesicht‘ zu verlieren. 100
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zu einer Verschlechterung der Zusammenarbeit führen, die sich auch in Arbeitsergebnissen niederschlagen kann. In drastischen Fällen nimmt der deutsche Manager nicht nur den chinesischen Partnern ‚Gesicht‘, sondern verliert durch unangemessenes Verhalten auch sein eigenes. Als Vorgesetzter oder maßgeblicher Verhandlungspartner ist diese Person im Weiteren nicht mehr haltbar, da sie Respekt und Loyalität der Mitarbeiter verspielt hat. Verbleibt sie dennoch auf ihrem Platz, bringt dies alle Beteiligten (und auch das gemeinsame Projekt) in eine äußerst schwierige Situation. Beispiele entsprechender Situationen durchziehen die wissenschaftliche Literatur sowie die meisten Ratgeber zum Thema deutsch-chinesische Kommunikation. So schildert ein Informant bei Sader (1999) seine Erlebnisse: […] ich habe dazu beigetragen, daß einige, auch mein Stellvertreter, ihr Gesicht verloren haben. Und Loosing [sic!] face ist das Schlimmste, was passieren kann. Und das hab ich halt gemacht, einfach dadurch, daß ich jemanden zur Rede gestellt hab, ihn auf Fehler aufmerksam gemacht hab, das haben andere Leute mitgehört, das war in einem offiziellen Meeting, und schon haben die Leute anfangs mit mir nicht mehr gesprochen, eine Woche. (Sader, 1999, S. 107-108).
Auch Thomas (1996b) beschreibt eine Variation desselben Vorfalls, die sich als „kritische Interaktionssituation“ aus empirischen Untersuchungen herleitet: Der Manager eines deutschen Unternehmens reist innerhalb kurzer Zeit zum vierten Mal zu Vertragsverhandlungen nach China. Die bisherigen Gespräche fanden in einer außerordentlich angenehmen Atmosphäre statt. Die Chinesen waren sehr an dem interessiert, was der deutsche Manager vorschlug. Aber so richtig vorwärts ging bei den Verhandlungen nichts. Aus dem Verlauf der Verhandlungen gewann der deutsche Manager den Eindruck, daß die Chinesen ihn nur hinhalten wollten, um möglichst viele Informationen aus ihm herauszupressen, mit denen sie dann sein Unternehmen gegen die Konkurrenz ausspielen wollten. Er wurde wütend und war verärgert über seine Verhandlungspartner. Bei einer erneuten Sitzung zeigte er eine Reaktion, die man hierzulande mit dem Ausdruck „denen mal ordentlich Bescheid sagen“ und „kräftig auf den Tisch hauen“ umschreiben würde. Völlig unvermittelt schrie der deutsche Manager seine Verhandlungspartner an, er sei nicht mehr bereit, sich weiter hinhalten zu lassen. Das „Um den heißen Brei herumreden“ müsse endlich aufhören. Er wolle Klarheit und Verbindlichkeit, und überhaupt, seine Geduld sei nun am Ende. Die chinesischen Verhandlungspartner wurden blaß und schwiegen. Die Verhandlungen kamen zu keinem Abschluß. Nach der Rückkehr in seine Heimat erfuhr der Manager von seinen Vorgesetzten im Stammhaus, daß dies seine letzte Chinareise gewesen sei. Die Chinesen hätten zwar weiter Interesse geäußert, aber die Verhandlungen müßten wohl wieder von vorne beginnen, und zwar mit einem anderen Firmenvertreter. (Thomas, 1996b, S. 126)
Diese Beispiele belegen nicht nur die mangelnde Sensibilität für ‚Gesicht‘ in den geschilderten Situationen. Sie verkörpern zugleich das meistgefürchtete Szenario interkultureller Kommunikation: In Unkenntnis fremder kultureller Normen handelt der Akteur nach gewohnten Regeln, die jedoch so unangebracht sind, dass die Interaktion scheitert und weiterer Kontakt unmöglich wird.
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Gerade Situationen, in denen ‚Gesicht‘ eine Rolle spielt, bergen anscheinend das Potential drastischer negativer Konsequenzen. Die drei von Sader (1999) dargestellten Situationen zum Thema ‚Gesicht‘ enden alle im Desaster. In einem Fall war die beteiligte deutsche Firma „komplett raus“, obwohl sie viel in die Geschäftsverbindung investiert hatte. Im zweiten Fall vermutet der Erzähler, die Person, der Gesicht genommen wurde, habe „nie mehr ein Produkt unseres Unternehmens gekauft“. Im oben geschilderten Fall wurde der deutsche Manager damit konfrontiert, dass eine Woche lang niemand mit ihm sprach. Damit folgen die drei hier berichteten Vorfälle (wie auch das Beispiel von Thomas) einem einheitlichen und distinkten Erzählformat (das z.B. bei keiner der anderen von Sader zitierten „kritischen Interaktionssituationen“ auftritt). Die Abfolge von (gut gemeinter) Intervention Æ Fehler Æ Scheitern des Kontakts scheint als Erzählformat in spezifischer Weise mit dem Themenfeld ‚Gesicht‘ verknüpft zu sein. Entsprechende Beispiele finden sich auch in Ratgebern zum Thema. So wird ‚Gesicht‘ einmal mehr als geheimnisvolle Dimension des Ostens, dessen Nichtbeachtung bedrohliche Konsequenzen zeitigt, konstruiert. Es kann davon ausgegangen werden, dass entsprechende Berichte in mündlicher Form auch (und gerade) in den ‚Expat communities‘ Chinas zirkulieren und mit entsprechendem Respekt aufgenommen werden. Schließlich ist das Resultat der berichteten Begebenheiten ebenso unerwartet wie unwiderruflich („nie mehr“, „komplett raus“) und hält damit sowohl die Furcht am Leben, nicht wieder gutzumachende Fehler zu begehen, als auch die kulturelle Distanz zu denen aufrecht, für die ‚Gesicht‘ so wichtig ist. Doch erscheint ‚losing face‘ in den Berichten weniger als präzise Erklärung des Sachverhalts, denn eher als Ausdruck für die unbestimmte kulturelle Dimension dessen, was schief gegangen ist. ‚Gesicht‘, so ließe sich vielleicht ableiten, verkörpert damit nicht nur in besonderer Weise die – von den Erzählern so empfundene – chinesische Fremdheit, sondern steht ebenso sehr für ihre Furcht, an dieser Fremdheit zu scheitern. Die Mahnung, „nichts ist schlimmer, als dem Chinesen das Gefühl zu geben, sein Gesicht zu verlieren“ (Interviewaussage bei Nagels, 1996, S. 39), bleibt inhaltlich wie handlungspraktisch unbestimmt und nimmt damit, wie Nagels beobachtet, den Charakter „eines über der Arbeit schwebenden Damokles-Schwertes“ an (ebd.). Trotz des Gewichts, das das Thema ‚Gesicht‘ in der einschlägigen Literatur besitzt, sei sie nun wissenschaftlich oder eher praxis-orientiert, bleibt bei genauer Betrachtung offen, inwieweit ‚Gesicht‘ tatsächlich ein Problem für Deutsche in China darstellt. Zwar fokussieren etliche der von Sader gesammelten „kritischen Interaktionssituationen“ auf ‚Gesicht‘, ob es sich dabei aber nicht vielleicht nur um eine rhetorische Figur handelt, ist aus den vorliegenden Arbeiten letztlich nicht präzise abzuleiten. Wie vage das Konzept ‚Gesicht‘ für deutsche Manager in China selbst nach z.T. etlichen Aufenthaltsjahren bleibt, legen auch die Beobachtungen von Nagels nahe. Sie schreibt:
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‚GESICHT‘ Zwar ist vielen Deutschen der Begriff des ‚Gesichts‘ bekannt, seine Verankerung in Handlungsnormen wird zumeist aber nicht wahrgenommen, sondern er gilt vielmehr als Ausdruck antiquierter und überkommener Traditionen. (Nagels, 1996, S. 48)
Es scheint, als sei ‚Gesicht‘ zwar eine häufig genannte, jedoch inhaltlich wenig gefüllte Kategorie. Die Tatsache, dass die von Nagels befragten Manager ‚Gesicht‘ im Alltag nicht wahrnehmen, es aber gleichwohl in den Interviews erwähnen, legt nahe, dass Reflexionen über ‚Gesicht‘ weniger aus Erfahrungen des konkreten Alltags resultieren, sondern stärker mitgebrachten sowie in Expat-Kreisen zirkulierenden Vorstellungen über die chinesische Kultur (und kultureller Fremdheit) entstammen.
‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ Chinesische Bemühungen, das ‚Gesicht‘ zu wahren, führen, wie oben bereits erwähnt, mitunter dazu, dass Fehler und Versäumnisse nicht offen gelegt werden oder dass Kritik auf indirekte Art und Weise geäußert wird. Deutsche haben oft wenig Verständnis für entsprechendes Verhalten, das ihnen „unehrlich“, „konfliktfeindlich“ oder „hintenrum“ erscheint (Interviewaussagen bei Nagels, 1996, S. 41). Keiner der von Nagels Befragten bringt jedoch diese negativen Urteile mit ‚Gesicht‘ in Zusammenhang. Auch die Interviewpartner von Sader schildern „indirekte Kommunikation“ als Problem in der Zusammenarbeit, wobei acht der Befragten diesen Kommunikationsstil „mit dem chinesischen Bestreben, das eigene ‚Gesicht‘ und auch das des Gegenübers zu bewahren“, erklären (Sader, 1999, S. 108). Unter den von Thomas und Schenk (2001) gesammelten Kulturstandards lässt sich das Themenfeld „Soziale Harmonie“ (S. 87-103) auch als ‚allseitiges Gesichtwahren‘ interpretieren. Die dort präsentierten ‚critical incidents‘ thematisieren beispielsweise den Unwillen chinesischer Mitarbeiter, ihr Nichtverstehen ‚zuzugeben‘ oder sich auf Streitgespräche einzulassen. Das taktvolle Wechseln oder Vermeiden des Themas auf chinesischer Seite ziele darauf, trotz Irritationen in der Interaktion das ‚Gesicht‘ zu wahren. Aus deutscher Sicht sei diese Strategie unbefriedigend, da Probleme und Sachthemen so keiner Lösung oder konstruktiven Diskussion zugeführt werden könnten. Auch diese ‚kritischen Interaktionssituationen‘, die auf Interviews mit deutschen China-Rückkehrern beruhen, spiegeln das von Sader und Nagels dokumentierte Problemfeld ‚indirekter‘ Kommunikation wider. ‚Gesicht‘ gerät somit aus deutscher Sicht zu einem Hindernis auf dem Weg effizienter und direkter Problemlösung. Wie oben geschildert, steht ‚Gesicht‘ in engem Zusammenhang mit dem Status einer Person. Personen in höheren Positionen besitzen deswegen mehr ‚Gesicht‘, was wiederum mit Verpflichtungen einhergeht, die ihnen aus ihrer Position erwachsen. Während Deutschen in China zwar die starke Hierarchieorientierung auffällt (und problematisch erscheint), spielt ‚Gesicht‘ zur Erklä103
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rung jedoch kaum eine Rolle.13 Auch der von chinesischen Autoren bisweilen beklagte Drang zur Selbstdarstellung (s.o.) und Mehrung des eigenen ‚Gesichts‘ spielt in den hier zugrunde gelegten Arbeiten keine Rolle. Dies mag aus dem Umstand resultieren, dass diese Arbeiten insbesondere auf Probleme der Zusammenarbeit abzielen. Das chinesische Streben nach ‚Gesicht‘ erscheint westlichen Ausländern jedoch nicht notwendigerweise als Problem, sondern wird bisweilen belustigt aufgenommen. So berichtet beispielsweise Berger (1995), der ein Jahr lang als Student in der VR China verbrachte, von den Anstrengungen, einer Tagung durch Anwesenheit ‚ausländischer Experten‘ zusätzlichen Glanz zu verleihen, auch wenn diese ausländischen Gäste, wie er selbst, ausländische Studierende der lokalen Universität waren. Der Ablauf der Konferenz ist ganz dem Demonstrieren von ‚Gesicht‘ gewidmet: […] und so fuhr man uns mit noblen japanischen Toyota-Limousinen zum Konferenzort. Bald hatten wir verstanden, daß ‚internationale Konferenz‘ nichts anderes bedeutete, als die Anwesenheit von uns sechs Ausländern neben etwa 200 Chinesen – unsere Funktion war also, für das notwendige internationale Flair zu sorgen; […] Die Konferenz begann damit, daß der Kongreß-Präsident alle anwesenden Honoratioren begrüßte – selbstverständlich incl. der ‚ausländischen Experten‘. Für jeden Einzelnen wurde applaudiert. […] Danach begab sich die ganze Konferenz ins Freie, wo man sich höchst umständlich für ein Foto gruppierte. Nun war es Zeit für das Mittagessen: eines dieser fantastischen chinesischen Bankette wurde aufgetischt […]. (Berger, 1995, S. 19-20)
Für den anwesenden Deutschen stellt sich das Ereignis als „tun wir so, als ob dies eine Konferenz sei“ (ebd.) dar – doch ist neben der guten Unterhaltung der Anwesenden vor allem dafür gesorgt, dass allseitig ‚Gesicht‘ gewonnen wird. Als Fazit der hier referierten Literatur lässt sich festhalten, dass ‚Gesicht‘ von Deutschen in China zwar häufig als Problemfeld genannt, jedoch nicht sehr präzise mit Inhalt gefüllt wird. ‚Gesicht‘ erscheint als ebenso fremdes wie kritisches Konzept, dessen Nichtbeachtung dramatische Konsequenzen nach sich ziehen kann. Damit erscheint ‚Gesicht‘ vor allem als gefürchtetes Problem und kaum je als konstruktiv nutzbares Handlungsfeld. Wird ‚Gesicht‘ explizit thematisiert, so geschieht dies fast immer im Zusammenhang mit einem Gesichtsverlust – entweder auf der eigenen oder auf chinesischer Seite. Problemfelder in den Interaktionen, die aus dem Bestreben, das Gesicht zu wahren, resultieren, wie zum Beispiel indirekte Kommunikation und Konfliktvermeidung, werden häufig ohne Bezug auf das Gesichtskonzept genannt. Analoges gilt für das Streben nach oder Demonstrieren von ‚Gesicht‘, das in den vorliegenden Arbeiten nicht diskutiert wird. Die Interpretation des chinesischen 13 Thomas und Schenk (2001) verweisen jedoch unter dem Themenfeld „Hierarchie“ explizit auf ‚Gesicht‘ (S. 45-46). Auch findet sich hier wiederum die für den Umgang mit ‚Gesicht‘ typische Warnung, ein Nichtbeachten von ‚Gesicht‘ könne „der Anfang vom Ende der Zusammenarbeit“ sein (S. 46). 104
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Konzepts ‚Gesicht‘ geschieht so ohne Bezug auf die chinesische Vielfalt gesichtsrelevanter Begriffe und Handlungsformen. ‚Gesicht‘ könnte so in weitaus mehr Facetten als Problem in deutsch-chinesischen Interaktionen relevant sein, als von den deutschen (oder auch chinesischen) Interviewpartnern der genannten Arbeiten beschrieben wird.
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DER
EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG
Ziel der Arbeit ist die Erfassung und Analyse informeller (interkultureller) Lernprozesse von Deutschen in Taiwan. Dabei wird ein psychologischer Lernbegriff zugrunde gelegt, der Lernen als Veränderung von Verhaltensdispositionen aufgrund von Erfahrung bestimmt. Da informelles Lernen nicht an bestimmte Kontexte gebunden ist, sondern prinzipiell in allen Bereichen des alltäglichen Lebens vorkommen kann, zielt die Untersuchung auf einen bestimmten Ausschnitt des Alltagswissens und seiner Veränderungen. Der gewählte Ausschnitt besteht in ‚Alltagstheorien‘ über das chinesische Konzept ‚Gesicht‘ (z.B. in den Kontexten ‚Gesicht wahren‘ oder ‚Gesicht verlieren‘), zu deren Erfassung Interviews und Strukturlegeverfahren zum Einsatz kommen. Der Anschluss an das Forschungsfeld ‚Alltagswissen‘/‚Alltagstheorien‘ beinhaltet die Übernahme der Überzeugung, dass Menschen sich beständig – also auch während Auslandsaufenthalten – deutend mit ihrer (sozialen und materiellen) Umwelt auseinander setzen. Die Psychologie interkulturellen Handelns hat die Rolle kultureller Sinnsysteme für individuelles Erleben und Handeln herausgestellt. Da jedoch, wie weiter oben begründet, der Rückschluss von kulturellen Bedeutungssystemen auf individuelle Handlungszusammenhänge fragwürdig ist, soll die Verwendung von ‚Kultur‘ als handlungserklärender Dimension in dieser Arbeit vermieden werden. Im Mittelpunkt dieser Studie stehen daher Individuen mit ihrer je subjektiven Selbst- und Weltsicht. Dabei werden kulturelle Bedeutungsdimensionen nicht geleugnet. Sie sollen im Forschungsprozess als Möglichkeiten Raum finden, ohne jedoch als Vorannahmen in die Untersuchungsfrage einzugehen. Ob es sich bei den zu erfassenden Lernprozessen um ‚interkulturelles Lernen‘ handelt, bleibt daher zu erkunden. In Anwendung der oben genannten Definition wäre interkulturelles Lernen prinzipiell als eine bestimmte Art von Lernen zu bestimmen, die sich entweder durch die Interkulturalität der Erfahrungssituation oder die Interkulturalität der Verhaltensdisposition auszeichnet. Wie weiter oben dargelegt wurde, ist die Interkulturalität einer Erfahrungssituation nur schwer – und nicht allein aufgrund der Differenz von Nationalität oder Muttersprache – bestimmbar. Auch ist ohne normative Setzungen (die zum Beispiel einen ‚besseren‘ Umgang mit kultureller Differenz beinhalten) nicht begründbar, worin die Interkulturalität der geänderten Verhaltensdispo-
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sition bestehen soll. Von der Verwendung des Begriffs ‚interkulturelles Lernen‘ wird daher zunächst abgesehen. Stattdessen setzt der hier gewählte Weg auf die Verwendung allgemeinpsychologischer Konzepte (Alltagstheorie, Lernen) zur Erforschung der Binnenperspektive von Personen, die sich in einem Handlungsfeld befinden, das Möglichkeiten für Interkulturalitätserfahrungen bereithält. Mit der Wahl des Themas ‚Gesicht‘ wurde versucht, die Wahrscheinlichkeit für Interkulturalitätserfahrungen und Lernprozesse weiter zu erhöhen. Diese Argumentation gründet auf der Annahme, dass a) ‚Gesicht‘ im chinesischen und taiwanesischen Alltag ein weit verbreitetes Konzept im sozialen Umgang ist, so dass vermutet werden kann, dass Deutsche in Taiwan mit ‚Gesicht‘ im Alltag konfrontiert werden, und dass b) Deutsche über das chinesische bzw. taiwanesische Konzept ‚Gesicht‘ zunächst wenig wissen, mithin das Lernpotential besonders groß ist. Diese Annahmen dienen jedoch lediglich der Auswahl des Handlungs- und möglicherweise Lernfeldes. Insbesondere werden an dieser Stelle noch keine Aussagen darüber getroffen, ob u.U. zu beobachtende Veränderungen von Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ als interkulturelles Lernen bezeichnet werden können. Dies wird im Anschluss an die Darstellung der empirischen Untersuchung diskutiert. Ziel der empirischen Untersuchung ist mithin die Erfassung von Alltagstheorien deutscher Studenten und Manager in Taiwan über das chinesische Konzept von ‚Gesicht‘ sowie deren Veränderungen über die Zeit. Die durch die eingesetzten Methoden dokumentierten Veränderungen dieser ‚Alltagstheorien‘ werden dabei als Ausdruck von ‚Lernen‘ verstanden.
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5. D U R C H F Ü H R U N G
DER EMPIRISCHEN
UNTERSUCHUNG
Die Durchführung der empirischen Untersuchung fand zwischen November 1998 und August 2000 in Taiwan statt. Teilnehmer waren vierzehn deutsche Studenten, Praktikanten, Dozenten, Ingenieure und Manager sowie eine österreichische Probandin. Jeder Teilnehmer wurde dreimal interviewt, wobei jeweils vier bis sechs Monate zwischen den Interviews lagen. Kurz nach dem ersten Interview fand außerdem ein weiteres Treffen statt, das dem Erstellen eines Strukturbildes gewidmet war, so dass die Studie jeweils vier Treffen mit jedem Interviewpartner umfasst. Insgesamt deckt die Untersuchung den Zeitraum des ersten Aufenthaltsjahres jedes Teilnehmers ab. Die Interviews bestanden aus einem ‚Erzählteil‘, der sich den Lebenserfahrungen der Gesprächspartner in Taiwan widmete, einem teilstrukturierten Gesprächsteil zum Thema ‚Gesicht‘ sowie aus einem ‚Strukturlegeteil‘, in dem ‚Strukturbilder‘ zur Repräsentation des Alltagswissens über ‚Gesicht‘ erstellt wurden. Das erste Treffen war ausschließlich einem Interview und das zweite Treffen ausschließlich dem Erstellen des Strukturbildes gewidmet. Lediglich ein Interviewtermin kam – aufgrund von Terminschwierigkeiten und der längeren Auslandsreise einer Teilnehmerin – nicht zustande. Als Ergebnis umfasst die Datenbasis 44 wörtlich transkribierte Interviews sowie 44 Strukturbilder. Sowohl für ein Verständnis der Anlage der Untersuchung als auch für die Interpretation der Ergebnisse sind deren Rahmenbedingungen von Bedeutung. Im Folgenden soll deshalb kurz auf die Lebensbedingungen von Deutschen in Taiwan eingegangen werden, insofern diese für meine Gesprächspartner relevant waren. Der Darstellung von Untersuchungsort und -teilnehmern folgt sodann eine ausführlichere Schilderung des Untersuchungsablaufs, der eingesetzten Erhebungsmethoden und der Auswertungsverfahren.
Der Untersuchungsort: Taiwan als Lebensumfeld Materielle Lebensbedingungen Taiwan hat in den vergangenen Jahrzehnten eine rasante wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklung durchlaufen. 1 In der Folge des wirt1 Hintergrundinformationen über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Taiwans finden sich z.B. in Schubert/Schneider (1996), Behne (2000), Lee (2000), Schneider/Schubert (1997). Zur Beschreibung des Alltagslebens in Taiwan siehe den Band von Merkelbach und Gesk (1999) und darin insbesondere den Beitrag von Leipelt-Tsai zur Alltagskultur in Taiwan. 109
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schaftlichen Booms 2 entstanden in den Städten der Insel in rasantem Tempo Betonbauten wachsender Höhe, die für Europäer kaum optischen Charme besitzen. Das Bild des städtischen Taiwans ist geprägt durch eine Vielfalt an architektonischen Stilen, Gebäudehöhen und -farben, die nur in seltenen Glücksfällen ein harmonisches Ganzes ergeben. Abbröckelnde Klinker- oder Betonfassaden von dicht an dicht stehenden mehrstöckigen Wohnhäusern wechseln sich ab mit den glatten Fassaden neuer Hochhäuser dreifacher Höhe. Bäume und öffentliche Grünflächen sind selten, auch wenn in den letzten Jahren erfolgreich Anstrengungen unternommen wurden, die Städte zu begrünen. Die Geschäftsviertel der Städte zeigen ein modernes Gesicht. Breit angelegte Alleen kanalisieren den Autoverkehr in Taipei auf sechs Spuren in schnurgeraden Straßenfluchten. Hochhäuser, klimatisierte Limousinen und Menschen im Business-Look verbreiten eine Atmosphäre von Wohlstand und Geschäftigkeit. Etwas abseits der großen Straßen und in den Vororten geht es ebenso geschäftig, wenngleich weniger international und schick zu. Die Straßen sind gesäumt von einer Vielzahl kleiner Geschäfte, deren große Neontafeln mit chinesischen Schriftzeichen das Straßenbild prägen. In den Läden, die häufig als Familienbetriebe geführt werden, gehen Wohn- und Geschäftsbereich bisweilen ineinander über, so dass man im hinteren Ladenteil Kinder an ihren Hausaufgaben sitzen oder die Familie beim gemeinsamen Abendessen sieht, während im vorderen Teil Kunden bedient werden. Geschäfte schließen nicht vor zehn Uhr abends, und auch Nachtmärkte, auf denen ab Einbruch der Dunkelheit Essen, Kleidung, Spielzeug und allerlei Haushaltswaren verkauft werden, laden abends zum Bummeln und Einkaufen ein. Etwas ruhiger lebt es sich in den städtischen Randbezirken, die sich in Taipei auf den Hügeln befinden, die die Stadt umgeben. Hier lockert die Bebauung auf, und es finden sich freistehende Häuser mit Gärten und zum Teil spektakulärem Blick auf die tiefer gelegene Stadt. Die subtropische Vegetation sorgt für üppiges Grün, das an den Stadträndern in undurchdringliche Baum- und Pflanzendickichte übergeht. Nicht größer als Holland, ist Taiwan doch Heimat von 22 Millionen Menschen und damit eines der dichtestbesiedelten Länder der Welt. Der Bevölkerungsdruck ist nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land deutlich spürbar: Die Westküste der Insel ist von städtischen Ballungszentren überzogen, die unter extrem hoher Bevölkerungsdichte, chronischen Staus und schlechter Luftqualität leiden. Auch die Flächen zwischen den Städten wer-
2 So hat sich z.B. in der Zeit zwischen 1987 und 1997 das Pro-Kopf-Einkommen in Taiwan auf 12.074 US$ erhöht und damit binnen 10 Jahren mehr als verdreifacht (Directorate-General of Budget, Accounting and Statistics, Executive Yuan, The Republic of China, 2001a), und bereits 1997 gehörte Taiwan zu den 14 wichtigsten Handelsnationen der Erde (Directorate-General of Budget, Accounting and Statistics, Executive Yuan, The Republic of China, 2001b). Beide Quellen zitiert nach Weidemann, A. (2001, S. 38). 110
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den, wo immer dies möglich ist, intensiv genutzt. Reisfelder, Fisch- und Garnelenfarmen wechseln sich ab mit kleineren Orten, Gemüseanbau, Fabriken und Tiermastbetrieben. Die hohe Bevölkerungsdichte bedeutet im Alltag, dass nicht nur Fahrten während der Stoßzeiten, sondern auch Ausflüge an Wochenenden mit kilometerlangen Staus und langen Wartezeiten einhergehen. Die Luftverschmutzung – die im Vergleich zu früheren Jahren bereits deutlich verringert ist – veranlasst noch immer die meisten Ausländer, in den Städten auf Freizeitsport oder Fahrradfahren zu verzichten. Doch das Leben in Taiwan hat auch seine schönen und aufregenden Seiten. Zu den ‚Pluspunkten‘ des Lebens in Taiwan zählen eine bunte Fülle des Straßenbildes, Einkaufsmöglichkeiten rund um die Uhr, das im Vergleich zu Deutschland wärmere Klima und die große landschaftliche Schönheit der Bergregionen. Je nach Interesse und Blickwinkel zählen zu den Attraktionen auch chinesische Kulturangebote, die von chinesischer Küche, Sprache, Kung-Fu, Kunst und Kalligraphie bis zu Tempeln, Theater oder Oper reichen. Die fremde Tier- und Pflanzenwelt begeistert nicht nur Naturliebhaber und Biologen, und schließlich ermöglicht die geographische Lage Taiwans Abstecher in die umliegenden Länder und deren exotische Feriengebiete. Ein Leben in Taiwan, die Beschäftigung mit Taiwan kommt um eine Auseinandersetzung mit dem völkerrechtlichen Status dieser Insel nicht herum. Mit der Niederlage Japans und dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel Taiwan, das seit 1895 japanische Kolonie gewesen war, an die damalige Republik China. Während auf dem chinesischen Festland die Republik China 1949 von der neu gegründeten Volksrepublik China abgelöst wurde, blieb Taiwan unter der Regierung des 1947 mit seinen Truppen auf die Insel geflüchteten Chiang Kaishek das einzig verbleibende – und fürderhin umstrittene – Territorium der alten Republik China. Die Führung auf Taiwan lehnte in den kommenden Jahrzehnten die Anerkennung der VR China nicht nur vehement ab, sondern hielt bis vor wenigen Jahren auch einen Herrschaftsanspruch auf Gesamtchina aufrecht. Mit der Ablösung der zugewanderten, festländischen Eliten durch einheimische (taiwanesische) Nachfolger wurde der Anspruch der Taipeier Regierung auf Vertretung des chinesischen Festlandes schließlich aufgegeben. Seither mehren sich Stimmen für eine nationale Unabhängigkeit Taiwans, die aber seitens der VR China kategorisch ausgeschlossen wird, da sie die Insel als integralen Bestandteil Chinas betrachtet. Die Regierung in Beijing hat unmissverständlich erklärt, eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans werde mit Waffengewalt beantwortet, und alle Aktivitäten Taiwans, die in diese Richtung gedeutet werden können, ziehen drohende Rhetorik und demonstrative Militäreinsätze Chinas nach sich. Für Ausländer, die in Taiwan leben, bedeutet diese Situation nicht nur, sich durch politische Empfindlichkeiten ihrer Gesprächspartner hindurchlavieren zu müssen (der eine sähe am liebsten eine chinesisch-chinesische Wieder111
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vereinigung, der andere weigert sich, von den Einwohnern Taiwans anders denn als ‚Taiwanesen‘ zu sprechen und lehnt die Amtssprache Mandarin als aufgezwungen ab), sondern auch mit den Unwägbarkeiten der lokalen politischen Situation zu leben, die teilweise Anlass zu Sorgen um die persönliche Sicherheit gibt. Im Zeitraum der Untersuchung lebten etwa 860 Deutsche mit Aufenthaltsgenehmigung (davon 540 mit Arbeitserlaubnis) in Taiwan3, die sich aus verschiedenen Gründen und unter verschiedenen Lebensumständen in Taiwan aufhielten: aus Deutschland entsandte Manager und Fachkräfte, Angehörige der (inoffiziellen) bundesdeutschen Vertretungen in Taiwan, christliche Missionare, Studenten, die in Taiwan chinesische Sprachkurse besuchten, Deutsche, die zu lokalen Bedingungen in Taiwan angestellt waren oder eigene Firmen gegründet hatten, Ehepartner und Kinder aller dieser Gruppen. Interessanterweise bildeten sich unter dieser recht bunten Mischung etwa drei Gruppen heraus, die intern vernetzt waren, untereinander aber nur sehr wenig Kontakt hatten. Es sind dies die Gruppe der Studenten, die Gruppe der ‚long term residents‘ und die Gruppe der von Deutschland aus mit festem Auftrag entsandten Personen (‚expatriates‘). Interessanterweise überschnitt sich das jeweilige Lebensumfeld dieser Gruppen kaum, so dass nur äußerst selten Kontakte entstanden, die über Begegnungen in offiziellen Situationen oder Arbeitskontakte hinausgingen. Angehörige aus zwei dieser Gruppen waren Teilnehmer der hier vorgestellten Untersuchung; eine Beschreibung der Lebenssituation von Angehörigen der dritten Gruppe, der lokal auf Dauer engagierten Deutschen, findet sich bei A. Weidemann (2001).
Zur Lebenssituation deutscher Studenten in Taiwan Als chinesischsprachige Alternative zur Volksrepublik China hat Taiwan eine lange Tradition als Studienort für ausländische Sinologen. Nicht nur während der Abschottung der VR China für die Dauer der Kulturrevolution, sondern auch nach der blutigen Zerschlagung der Demokratiebewegung 1989 entschieden sich viele ausländische Studenten für eine Sprachausbildung in Taiwan, was zur Entstehung zahlreicher Sprachinstitute in verschiedenen taiwanesischen Städten geführt hat. Aber es sind nicht nur Sinologiestudenten, die zum Sprachstudium nach Taiwan kommen; auch etliche Studenten und Doktoranden anderer Fachrichtungen (z.B. Jura, Politikwissenschaften, Biologie) wählen Chinesisch als Zusatzqualifikation für einen immer internationaler werdenden Arbeitsmarkt. Die Situation deutscher Studierender in Taiwan unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der ausländischer Studenten an westlichen Hochschulen. So nehmen sie nur in seltenen Ausnahmefällen ein reguläres Fachstudium an 3 Auskunft der National Police Administration der Republik China (2001), zitiert nach Weidemann, A. (2001, S. 43). 112
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einer der taiwanesischen Universitäten auf, wo sie Bewährungs- und Prüfungsdruck ähnlich wie einheimische Studenten ausgesetzt wären. In der Regel studieren sie einige Monate (nur selten länger als ein Jahr) an den Instituten für Chinesisch als Fremdsprache, die ausschließlich von Ausländern und Überseechinesen besucht werden. Zwar sehen sie sich auch hier mit ihnen fremden didaktischen Methoden und einer Vielzahl an Prüfungen konfrontiert, doch geschieht dies in einem gleichsam abgeschirmten Raum, in dem versucht wird, den Bedürfnissen der ausländischen Studierenden entgegenzukommen. Dennoch ist das Leben deutscher Studenten in Taiwan – besonders in den ersten Wochen und Monaten – nicht einfach, denn typischerweise sind sie in allen Dingen des täglichen Lebens völlig auf sich allein gestellt4. Ohne große Hilfe von anderen müssen sie eine Wohnung finden, sich am Sprachinstitut orientieren, einen Freundeskreis aufbauen und zudem viele kleine Probleme des Alltags bewältigen. Sprach- und Verständigungsprobleme sind daher für sie viel elementarer als für Expatriates, die in der Regel die Hilfe von englischsprachigen ‚agents‘ (Dienstleistern, die sich auf die Erfüllung der Wohnund Alltagsbedürfnisse von Expats spezialisiert haben) oder Sekretärinnen in Anspruch nehmen können. Etliche der Studenten, die für ein ganzes Jahr in Taiwan bleiben, erhalten ein Stipendium zum Lebensunterhalt; dennoch ist es üblich, durch Sprachunterricht5 oder andere Nebenjobs etwas Geld hinzuzuverdienen, denn die Lebenshaltungskosten sind, vor allem in Taipei, sehr hoch. Etliche Studenten sind auf das verdiente Geld angewiesen und erleben zum Teil eine erhebliche Doppelbelastung durch Studium und Arbeit.6 4 Unter Bezug auf Church (1982) und nachfolgende Untersuchungen fasst de Verthelyi (1995) die Probleme, mit denen ausländische Studenten im Allgemeinen konfrontiert sind, wie folgt zusammen: „language difficulties, financial problems, dealing with a new educational system and pressure to succeed, changes in social status, homesickness, adjusting to social customs and norms, difficulties in making friends with host nationals, and for some students, racial discrimination“ (S. 389). 5 In Ergänzung des Schulunterrichts besucht ein Großteil der taiwanesischen Schüler in ihrer Freizeit Englischkurse an privaten (Nachhilfe-)Schulen. Auch viele Erwachsene nehmen privat oder an Abendschulen Englischunterricht (siehe auch Wachob, 1999). Angesichts des enormen Bedarfs an ausländischen Lehrern existieren für westlich aussehende Studenten zahlreiche Gelegenheiten, Englisch zu unterrichten, insbesondere, wenn sie sich als Amerikaner ausgeben. Das Ausüben bezahlter Arbeit ist für Studenten in Taiwan zwar illegal, wird aber nicht konsequent geahndet, und die Stundenlöhne sind recht hoch. 6 Finanzielle Rahmenbedingungen des Auslandsstudiums sind ein wichtiger Faktor. Geldsorgen können als belastend erlebt werden und Arbeitssuche und Jobben nehmen Zeit in Anspruch, die für das Studium fehlt. Andererseits eröffnen Arbeitszusammenhänge neue Einsichten, die das Studium allein nicht vermitteln kann. Als Hinweis auf die Problematik kann die Studie von Tanaka et al. (1994) gelten, in der sich ausländische Studenten in Japan, die ein Stipendium zum Lebensun113
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Das Leben der Sprachstudenten spielt sich typischerweise in der Nähe der Universitäten ab und richtet sich nach den meistens sehr begrenzten finanziellen Mitteln. Die Tage sind ausgefüllt mit dem Besuch der Sprachkurse, deren Vor- und Nachbereitung, Treffen zum Sprachaustausch mit taiwanesischen Kommilitonen, Verabredungen mit ausländischen und taiwanesischen Freunden, Sport, Kalligraphieunterricht oder anderen Freizeitaktivitäten. Die Wohnverhältnisse sind in der Regel dem knappen Budget angepasst. Wohngemeinschaften sind die Regel und werden auch – sofern es chinesische Mitbewohner gibt – als willkommene Gelegenheit gesehen, die eigenen Sprachkenntnisse zu verbessern. Da das Lernen der chinesischen Sprache und das Kennenlernen der taiwanesischen Kultur im Vordergrund stehen, werden Gelegenheiten zum Chinesischsprechen freudig wahrgenommen und Kontakte zu anderen Deutschen nicht unbedingt gesucht.
Zur Lebenssituation deutscher Expatriates in Taiwan Ganz anders ist die Lebenssituation deutscher Expatriates in Taiwan. Während ausländische Sprachstudenten gerade die Nähe zum taiwanesischen Alltag suchen, vollzieht sich das Leben der Expat-Familien in größerer Distanz zu ihrer taiwanesischen Umgebung. Auch räumlich gibt es zwischen beiden Gruppen wenig Überschneidung, da sich das Leben ausländischer Studenten in der Nähe der Universitäten abspielt, das Leben der Expats aber auf andere Stadtteile fokussiert ist. ‚Expat‘ ist ein Begriff, der sich unter den in Taiwan lebenden Deutschen auch umgangssprachlich eingebürgert hat und der sowohl zur Selbstbeschreibung als auch zur Beschreibung anderer verwendet wird. Während Cohen (1977) noch eine recht umfassende Definition des Wortes vornimmt7, hat der Begriff ‚Expat‘ heute eine recht eng umrissene Bedeutung. Als ‚Expats‘ werden in Taiwan im Allgemeinen jene Mitarbeiter internationaler Firmen und Organisationen bezeichnet, die mit ausländischem Arbeitsvertrag dorthin ent-
terhalt erhielten, als zufriedener, gesünder und sozial integrierter beschrieben als solche ohne Stipendium. 7 „The term ‚expatriate‘ will here be used to refer to those voluntary temporary migrants, mostly from affluent countries, who reside abroad for one or several of the following purposes: Business – private entrepreneurs, representatives, managers and employees of foreign and multinational firms, foreign employees of local firms, professionals practising abroad. Mission – diplomatic and other governmental representatives, foreign aid personnel, representatives of foreign nonprofit-making organizations, military stationed abroad, missionaries. Teaching, research and culture – academics, scientists (e.g. archaeologists, anthropologists, etc.) and artists. Leisure – owners of second homes abroad, the wealthy, the retired living abroad and other ‘permanent tourists‘, bohemians and drop-outs“ (Cohen, 1977, S. 6). 114
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sandt werden.8 Typisch für diese Arbeitsverträge ist die Ausstattung mit einem ‚expatriate package‘, das zusätzlich zum Grundgehalt Auslandszulagen, Mietzuschüsse, Schulgeld der Kinder, jährliche Heimflüge und ggf. weitere Benefits umfasst. Auch Personen, die schon seit vielen Jahren in Taiwan leben und fließend Chinesisch sprechen, sind Expats, wenn sie einen ausländischen Arbeitsvertrag haben, der mit den genannten Vergünstigungen einhergeht. Andererseits werden ausländische Mitarbeiter internationaler Firmen, die zu lokalen Bedingungen angestellt sind, nicht als Expatriate bezeichnet, obwohl sie über dieselbe Nationalität, Ausbildung und Expertise wie Expats verfügen und sogar dieselbe Arbeit verrichten mögen. Auch wenn Expatriates üblicherweise gewisse Merkmale teilen, wie zum Beispiel die vergleichsweise kurze Aufenthaltsdauer oder den Aufenthaltszweck, ist für die Zuordnung zur Kategorie „Expat“ daher letztlich die Art des Arbeitsvertrages ausschlaggebend, die im Allgemeinen zudem mit einem bestimmten sozialen Status assoziiert ist (vgl. auch Zorzi, 1999, S. 297). Als Gruppe konstituieren sich Expats aber auch durch einen geteilten Lebensstil, der durch die Nutzung der ausländischen Infrastruktur (s.u.) gekennzeichnet ist und durch den Umstand, dass die Entscheidung für den Taiwanaufenthalt nur selten ihrem Interesse an dem Land, sondern vorrangig den Interessen ihres Arbeitsgebers geschuldet ist. Ein spezielles Interesse an Taiwan haben daher nur wenige, und nur in Ausnahmefällen sprechen Expats Chinesisch. Das Leben deutscher Expatriates in Taipei spielt sich überwiegend in den nördlichen Stadtteilen sowie in der Nähe der Büros ab, die zumeist eine beträchtliche Fahrtzeit vom Wohnort entfernt liegen. Die Wohnviertel im Norden der Stadt bieten westlichen Ausländern Wohnraum mit dem gewohnten Komfort und ausreichendem Platz. Einfamilienhäuser in den Hügeln am Stadtrand haben teilweise eigene Gärten oder sogar einen Swimmingpool. Im Norden Taipeis befinden sich die Deutsche Schule9 mit einem angegliederten Kindergarten, die Amerikanische Schule, diverse englischsprachige Kindergärten, internationale Einkaufsmöglichkeiten, eine deutsche Bäckerei, ein deutscher Metzger, die internationale Kirche und das International Community Services Center. Hier findet sich auch der American Club, der in gediegener Atmosphäre Möglichkeiten zum Kennenlernen anderer Ausländer, Tennisplätze, ein Schwimmbad, Kinderbetreuung, Restaurants und anderen Service bietet. Für viele deutsche Expatriates, deren Vertrag eine Clubmitgliedschaft vorsieht, ist der American Club ein wichtiger Anlauf- und Treff-
8 Dies deckt sich in etwa mit den unternehmensseitigen Sprachregelungen. Als Auslandsentsendung wird hier in der Regel ein befristeter, mehrjähriger Auslandsaufenthalt bezeichnet, der auf dem Fortbestehen des Arbeitsvertrages mit dem Mutterhaus beruht (auch wenn dieser Vertrag für die Zeitdauer der Entsendung ruht) (siehe etwa Kühlmann, 1995). 9 Die Deutsche Schule Taipei ist 2002 in die Europäische Schule integriert worden, deren deutscher Zweig weiterhin deutschsprachigen Unterricht anbietet. 115
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punkt, eine internationale Umgebung, in der man sich auch ohne Chinesisch orientieren kann. Doch auch wenn sich die Infrastruktur der ‚ausländischen Community‘ auf wenige Stadtteile konzentriert, kann von einem ‚Ausländergetto‘ nicht die Rede sein. Selbst in den von westlichen Ausländern bevorzugten Stadtvierteln ist das Straßenbild dominiert von asiatischen Gesichtern, taiwanesischen Geschäften und Waren; separate Ausländerwohnblocks sind in Taiwan unbekannt. Insofern überhaupt ein isoliertes Lebensumfeld der ausländischen Community existiert – Cohen (1977) spricht hier von der ‚bubble‘, jener Glasglocke, unter der sich das Leben mancher ausländischer Gemeinschaften in völliger Isolation vom Gastland abspielt –, findet sich dieses in Taiwan nicht in der räumlichen Struktur, sondern eher im sozialen Gefüge. Rund um die Treffpunkte der ausländischen Community knüpfen Expats häufig ausschließlich Freundschaften zu anderen Expats. Mit der Perspektive, dass der Aufenthalt in Taiwan ohnehin zeitlich begrenzt ist, lernen die wenigsten Chinesisch sprechen und lesen und suchen soziale Kontakte v.a. im Umfeld anderer entsandter Kollegen und deren Familien. Insbesondere wenn Kinder da sind, die sich nur auf Deutsch verständigen können, spielt sich ein Großteil der Freizeit zusammen mit anderen Deutschen ab. Innerhalb dieser Gemeinschaft entwickeln sich wichtige und tragfähige Netzwerke, die (insbesondere auch Neuankömmlingen) Orientierung und soziale Unterstützung bieten. Wie Moosmüller (1997) über in Japan lebende Deutsche anmerkt, vollzieht sich innerhalb der ausländischen Gemeinschaft auch ein kollektiver Interpretationsprozess in Bezug auf die lokale Kultur, das heißt, Beobachtungen, Erklärungen und Anekdoten über Taiwan und Taiwanesen werden geteilt, bestätigt und tradiert.10 Indem man wechselseitig Theorien darüber austauscht, „wie die Taiwanesen sind“, erfüllt die deutsche Community nicht nur eine soziale Funktion, sondern vermittelt auch Interpretationssicherheit in einem zunächst fremden Umfeld. Für deutsche Expats bedeutet das Leben in der ausländischen Community jedoch keine Beschränkung auf die deutsche ‚Diaspora‘. Vielmehr kann die deutsche Gemeinde als Bestandteil der internationalen Gemeinschaft betrachtet werden, in der US-amerikanische Standards durchgesetzt sind. Anders als möglicherweise für US-Amerikaner ist für Deutsche in Taiwan die Teilhabe am Leben der ausländischen Community daher immer eine internationale Erfahrung, denn Englisch ist die Standardumgangssprache und auch das Warenangebot der internationalen Kaufhäuser, englische Radio- und Fernsehprogramme, Clubaktivitäten, Sportveranstaltungen oder Gottesdienste orientieren
10 Moosmüller nennt diesen Vorgang „Konzept-Bildung“ (1997, S. 227), führt jedoch deren kollektive Dynamik nicht weiter aus. In Bezug auf die Gruppe der „Taiwan-Deutschen“ arbeitet Weidemann, A. (2001) gruppenkonstituierende Elemente (insbesondere die große Bedeutung des (Geschichten-)Erzählens) heraus, die zur Ausbildung eines spezifischen kulturellen Bezugssystems beitragen. Analoge Formen können auch für die Expat-Community vermutet werden. 116
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sich an nordamerikanischen Gewohnheiten, die Europäern häufig fremd sind. Das Leben in Taiwan fordert von Deutschen daher nicht nur die Gewöhnung an taiwanesische Maßstäbe, sondern vor allem auch Anpassung an die amerikanisch geprägten Standards der ‚foreign community‘.11 Bei aller Vielfalt der individuellen Arbeitszusammenhänge ist der Arbeitsalltag deutscher Expats in Taiwan typischerweise durch lange Arbeitszeiten und häufige Auslandsreisen geprägt. Die Zeitverschiebung gegenüber Europa und Amerika bestimmt die Möglichkeiten direkter Kommunikation und Abstimmung und führt im Falle der Kommunikation mit Deutschland zur Verschiebung der Arbeitszeit in die Nachmittags- und Abendstunden. Zentrales Element der Expat-Funktion ist häufig die Mittlerrolle zwischen Zentrale und taiwanesischer Niederlassung, wozu häufig auch noch die Abstimmung mit anderen Geschäftseinheiten im asiatischen Raum gehört. Für die Expats bedeutet diese Rolle häufig ein schwieriges Jonglieren zwischen mehrfachen Interessens- und Aufgabengebieten, das die Berücksichtigung mehrerer (unternehmens-)kultureller Standards erfordert. Insofern Expats von ihren Familien begleitet werden, addieren sich Herausforderungen im privaten Bereich. Zu den Problemen, die von Familien typischerweise zu lösen sind, gehören zum Beispiel die Suche einer passenden Wohnung, Wahl der Schule oder Kindergarten, Aufbau von Freundschaften und generell eines ‚sozialen Netzes‘ sowie die Integration der Kinder in den (möglicherweise fremdsprachigen) Klassenverband. Nicht zuletzt zählt hierzu auch die Bewältigung neuer Rollenaufteilungen innerhalb der Partnerschaft, wenn z.B. der Auslandsumzug für die Partnerin die Aufgabe ihrer Berufstätigkeit bedeutet.12 11 In der – nordamerikanisch dominierten – Akkulturationsforschung wird dieser Umstand nicht thematisiert. Für Deutsche ist die Dominanz der amerikanischen Kultur in Taiwan sowie die Tatsache, dass sie selbst von Taiwanesen selbstverständlich als Amerikaner wahrgenommen werden, jedoch ein deutlich wahrgenommenes und heftig diskutiertes Ärgernis. Die Subsumtion unter eine kollektive Identität (‚Amerikaner‘), die man subjektiv jedoch keineswegs teilt, wird hier sehr negativ aufgenommen. Entsprechendes wurde mir auch von deutschsprachigen Schweizern oder Ostdeutschen berichtet, die mit den in der deutschen Community geltenden Normalitätserwartungen und Regeln konfrontiert sind und die sich nur bedingt als Bestandteil dieser Community fühlen. 12 Wie andere Studien immer wieder dokumentiert haben, ist der typische entsandte Firmenmitarbeiter männlich und verheiratet (Brüch, 2001; Conway, 1996; Stahl, 1998; Stroh/Dennis/Cramer, 1994). Für die Ehefrau bedeutet die Ausreise sehr häufig die Aufgabe ihrer Berufstätigkeit und den Rückzug auf ihre Rolle als Mutter und/oder Hausfrau. In Taiwan bestehen zwar keine unüberwindbaren Probleme, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, doch setzen lokale Beschäftigungsverhältnisse sehr gute chinesische Sprachkenntnisse voraus, so dass selbst ansonsten hochqualifizierte Bewerber/innen kaum eine adäquate Stelle finden. Mit der Situation ‚mitausreisender Ehefrauen‘ („trailing spouses“) beschäftigen sich u.a. Conway (1996), de Verthelyi (1995), Hardill/MacDonald (1998), Pelli117
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Charakteristisch für das Leben von Expats ist die große Bedeutung, die die entsendende Organisation für berufliche wie private Pläne hat. Expat sein bedeutet, seine Lebensplanung mit personalpolitischen Erwägungen ‚der Firma‘ zu verquicken: Versetzungen geschehen nicht immer zu selbst gewählten Zeitpunkten oder an selbst gewählte Orte, sondern aufgrund der Bedürfnisse der Organisation, für die man tätig ist. In seiner Ethnographie Schweizer Expatriates in Japan beschreibt Zorzi (1999) Expats dementsprechend als „Schachfiguren auf dem Spielbrett eines großen, weltumspannenden, nach taktischen und strategischen Gesichtspunkten gespielten Spiels“ (S. 319). Für die Auslandsentsandten und ihre Familien bedeutet diese Situation erhebliche Einbußen bei der Planungssicherheit ihrer Lebensgestaltung. Dies schließt die eigene berufliche Karriere mit ein: In den von Stahl (1998) durchgeführten Interviews standen Sorgen um das berufliche Fortkommen nach der Rückkehr an erster Stelle der genannten Probleme (siehe entsprechend auch Conway, 1996).
Meine eigene Lebenssituation Meine eigene Lebenssituation in Taiwan war durch engen Kontakt zu der dritten der oben erwähnten Gruppe von Deutschen in Taiwan, den „TaiwanDeutschen“ (Weidemann, A., 2001) gekennzeichnet und unterschied sich damit in wesentlichen Punkten von den Lebensbedingungen sowohl der deutschen Expats als auch der Studenten. Durch einen früheren Studienaufenthalt waren mir die Lebensbedingungen als Sprachstudentin in Taipei vertraut. Diesen (Forschungs-)Aufenthalt allerdings trat ich mit meinem Mann und zwei kleinen Kindern an. Unseren Wohnort wählten wir in einem Randbezirk der Großstadt, der zu vergleichsweise moderaten Mieten ein Leben ‚im Grünen‘ ermöglichte und an dem sich im Laufe der Zeit Freundschaften zu den dort wohnenden Ausländern und Taiwanesen entwickelten. Die Wahl dieses Vorortes bedeutete zugleich eine räumliche Trennung von meinen Interviewpartnern, von denen niemand in der Nähe wohnte, und die Aufnahme in das Netzwerk der „Taiwan-Deutschen“, von denen einige unsere Nachbarn waren. 13 Als deutsche Familie mit zwei – zunächst nur Deutsch sprechenden Kindern – ergaben sich jedoch auch Anknüpfungspunkte zu anderen deutco/Stroh (1997) und Punnett (1997), mit der Situation deutscher Expatriates und ihrer Familien während verschiedener Phasen des Entsendungszyklus O’Reilly (2003). Die Situation der Familie bei Auslandsentsendungen behandeln zudem Gross (1994), Harvey (1985) und Tung (1999) sowie die sehr lesenswerte Arbeit von Haour-Knipe (2001). 13 Wichtiger als nur die räumliche Nähe war hierfür wohl der Umstand, dass mein Mann und ich früher bereits einige Zeit in Taiwan verbracht hatten und von daher nicht nur selbst auf eine ‚Taiwan-Geschichte‘ zurückblicken konnten, sondern auch Freunde hatten, die in dieses spezielle Netzwerk eingebunden waren (siehe hierzu ausführlich A. Weidemann, 2001). 118
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schen Familien aus Expat-Kreisen. Kontakte zu Studierenden kamen hauptsächlich durch die Forschungsarbeit zustande, entwickelten sich jedoch in einigen Fällen zu Freundschaften weiter. Da, wie oben erwähnt, Kontakte zwischen den Gruppen der Expats, Studenten und Taiwan-Deutschen selten sind, war die Verbindung zu allen diesen drei Gruppen ein besonderes Merkmal meiner Lebenssituation in Taipei. Mein ‚Forscherstatus‘ ermöglichte – trotz teilweise recht verschiedener Lebensumstände – mit allen drei Gruppen in Kontakt zu sein, wobei meine Rolle in jeder dieser Gruppen wiederum verschieden war (so waren für Taiwan-Deutsche gerade meine DeutschlandErfahrungen von Belang, für Expats vor allem meine Taiwan-Kenntnisse).
Ereignisse im Befragungszeitraum Der Befragungszeitraum erstreckte sich von Januar 1999 bis August 2000 und umfasste einige größere Ereignisse, die auch das Leben der Untersuchungsteilnehmer mehr oder weniger stark beeinflussten: Im Sommer 1999 kam es zu einer vorübergehenden Verschlechterung der Beziehungen zum chinesischen Festland, als der damalige Präsident Taiwans, Lee Deng-hui, chinesisch-taiwanesische Beziehungen als „zwischenstaatlich“ bezeichnete. Neben einer verschärften Rhetorik auf Seiten der VR China kam es zu Flugeinsätzen über der Taiwanstraße, die Reminiszenzen an die Krise von 1996 und bei vielen Ausländern Angst um ihre Sicherheit auslösten.14 Im September 1999 erschütterte ein heftiges Erdbeben die Insel, bei dem über zweitausend Menschen ums Leben kamen und hunderttausend obdachlos wurden. Auch für die in Taiwan lebenden Ausländer war das Erdbeben zum Teil ein traumatisches Erlebnis und die vielen Nachbeben in den kommenden Wochen und Monaten eine belastende Erfahrung. Selbst wem in Taipei nicht viel passiert war, blieben die Stromausfälle und Fernsehbilder der nachfolgenden Wochen noch lange in Erinnerung. Im März 2000 endete nach demokratischen Wahlen die Herrschaft der Kuomintang, die Taiwan seit Ende des Zweiten Weltkrieges ununterbrochen regiert hatte. Im Umfeld der Wahlen waren die Beziehungen zwischen Taiwan und der VR China wiederum sehr angespannt und deshalb für viele Ausländer erneut Anlass zu Besorgnis. Mit Beginn des Sommers 2000 verunsicherte die Verbreitung eines Grippevirus vor allem jene Ausländer, die mit kleinen Kindern in Taiwan lebten. Bei einer Epidemie im Jahr 1998 waren etliche (taiwanesische) Kleinkinder an den Folgen der Erkrankung gestorben.
14 1996 landeten chinesische Raketen nur 30 Meilen entfernt von den taiwanesischen Hafenstädten Kaohsiung und Keelung. In Reaktion auf diese Provokation demonstrierten US-amerikanische Streitkräfte massive Flottenpräsenz in den Gewässern um Taiwan (Mann, 1999). 119
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Teilnehmer der Untersuchung Aufgrund des explorativen Charakters der Untersuchung war es das Ziel, möglichst vielfältige Lebens- und Lernerfahrungen dokumentieren zu können. Die Rekrutierung von Untersuchungsteilnehmern erfolgte daher im Hinblick auf eine möglichst große Heterogenität der biographischen Hintergründe, Altersstufen, Aufenthaltsgründe und -bedingungen, des Geschlechts und Familienstandes. Wie ein kurzer Überblick zeigt, konnte die angestrebte Heterogenität der Interviewpartner weitgehend verwirklicht werden: Sechs Teilnehmer hielten sich in Taiwan zum Arbeiten auf, neun hauptsächlich zum Zweck des Sprachstudiums, wobei unter den Sprachstudenten vier Sinologen waren. Insgesamt vier Teilnehmer stammten aus Ostdeutschland, was in den Interviews zum Teil eine erhebliche Rolle spielte. Vier Teilnehmer hatten kleine Kinder, die mit ihnen nach Taiwan umgezogen waren; für einen Teilnehmer bedeutete der Aufenthalt die Trennung von seiner Lebensgefährtin und den (jugendlichen) Kindern. Auch die Arbeits- und Studienbedingungen vor Ort variierten ganz erheblich, zum Beispiel im Hinblick auf den Studienort (zwei der Studenten studierten im vergleichsweise traditionelleren Süden Taiwans), materielle Lebensbedingungen (etwa die Hälfte der Studenten war auf Nebenerwerbstätigkeiten angewiesen), Hierarchiestufe der Arbeitsposition und im Hinblick auf die Arbeitsaufgaben. Eine erste Vorstellung der Teilnehmer erfolgt in nachstehender Übersicht. Hier, wie auch im weiteren Verlauf der Arbeit, sind biographische Daten so verändert, dass sie die Anonymität der Untersuchungsteilnehmer gewährleisten, ohne tatsächliche Merkmale allzu sehr zu verfremden. Da eine eindeutige Zuordnung nach ‚Student‘ oder ‚Expat‘ nicht in jedem Fall möglich ist (siehe zum Beispiel Matthias oder Paul), erfolgt die Darstellung in alphabetischer Ordnung: – Alain, 22 Jahre, Student (Alte Geschichte), Sprachstudium in Taipei; – Alice, 19 Jahre, Abiturientin, Sprachstudium in Taipei; – Beate, 32 Jahre, Dozentin für Deutsch als Fremdsprache, für zwei bis drei Jahre in Taipei, begleitet von ihrer Familie mit zwei kleinen Kindern; – Denise, 26 Jahre, Studentin (Sinologie), Sprachstudium in Südtaiwan; – Holter, 33 Jahre, Ingenieur in einem Joint Venture mit deutscher Beteiligung, für drei Jahre in Taipei, begleitet von seiner Frau, ohne Kinder; – Julian, 22 Jahre, Student (Sinologie), Sprachstudium in Südtaiwan; – Klaus, 23 Jahre, Student (Betriebwirtschaftslehre), Sprachstudium in Taipei; – Marion, 21 Jahre, Studentin (Sinologie), Sprachstudium in Taipei;
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DURCHFÜHRUNG
– Matthias, 29 Jahre, Politologe und Gastwissenschaftler, Sprachstudium in Taipei, begleitet von seiner Frau und der gemeinsamen kleinen Tochter; – Paul, 22 Jahre, (studentischer) Praktikant und Unternehmer, für ein Jahr in Taipei; – Richard, 26 Jahre, Jurist, Sprachstudium in Taipei; – Schneider, 43 Jahre, Manager, Leiter der Niederlassung eines deutschen Konzerns, für drei Jahre in Taipei, begleitet von seiner Familie mit zwei Kindern im Vorschulalter; – Stefan, 30 Jahre, Manager in der lokalen Niederlassung einer deutschen Firma, für drei Jahre in Taipei, begleitet von seiner Familie mit zwei kleinen Kindern; – Torsten, 23 Jahre, Student (Sinologie), Sprachstudium in Taipei; – Weber, 40 Jahre, Ingenieur, für zwei Jahre in Taipei, von seiner Familie (mit zwei jugendlichen Töchtern) getrennt, die in Deutschland geblieben ist. Die begrenzte Größe der deutschen Community sowie die – innerhalb der jeweiligen Subgruppen der Studenten bzw. Expats – gut funktionierenden Netzwerke führten dazu, dass ich Interviewpartnern auch außerhalb der Interviewsituationen begegnete oder durch Dritte Neuigkeiten über sie erfuhr – ebenso wie über mich selbst Berichte kursierten. In dem Maße, wie sich im Laufe der Zeit zu einigen Gesprächspartnern Freundschaften entwickelten, ergaben sich zusätzliche private Treffen, die jedoch mit Freuden anderen Themen als denen der Datenerhebung gewidmet waren. In den Fällen, wo private Gespräche auf den Verlauf der Untersuchung direkten Einfluss gehabt hätten (zum Beispiel bei Fragen nach meinen persönlichen Erfahrungen und Annahmen zum Thema ‚Gesicht‘), habe ich mich um Erklärungen bemüht, warum ich mich auf entsprechende Gespräche nicht einlassen wollte. Die Abgrenzung der Rollen als ‚Freundin/Bekannte‘ und ‚Interviewerin‘ war in diesen Fällen nicht immer leicht. Insgesamt führte die Einbettung in ein gemeinsames ‚Feld‘ (als Deutsche in Taiwan) zu einem geteilten Erfahrungshintergrund, der für die Durchführung und Interpretation der Interviews von großem Vorteil war. Als besonders günstig erwies sich dabei, dass ich selbst auf Studienerfahrungen in Taiwan zurückblicken konnte, und dass meine jetzige Lebenssituation, insbesondere die Tatsache, dass ich mit meinem Mann und zwei kleinen Kindern in Taiwan lebte, auch zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Themen bot, die meine Gesprächspartner beschäftigten.
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Untersuchungsablauf Die Datenerhebungsphase umfasste mehrere Arbeitsschritte, die in festgelegten zeitlichen Abständen aufeinander folgten. Im Wesentlichen bestanden diese Arbeitsschritte aus vier Untersuchungsterminen, die jeweils verschiedene inhaltliche Schwerpunkte hatten (Interview und/oder Strukturlegen). Zeiträume zwischen den Untersuchungstreffen waren vor allem der Transkription der Gespräche sowie der Kontaktanbahnung und Gewinnung neuer Interviewpartner gewidmet. Vor Beginn der eigentlichen Datenerhebung fand zudem ein ‚Testlauf‘ statt, dem die Überarbeitung der Interviewleitfäden und Strukturlegeregeln folgte. Insgesamt erstreckte sich die Datenerhebungsphase von September 1998 bis April 2000.15
Testphase Zur Erprobung der Interviewleitfäden und Strukturlegemethode fanden Interviews und Strukturlegesitzungen mit zwei Testpersonen statt. Dieser ‚Testlauf‘ ergab die Notwendigkeit erheblicher Anpassungen der Instrumente. Hierzu zählten die Erweiterung eines biographischen Frageteils zu einem eigenständigen, offenen Interview, die Vereinfachung des Interviewleitfadens zum Thema ‚Gesicht‘ und die Vereinfachung der Strukturlegeregeln. Da die Durchführung der Testphase sowie die Neukonzeption der Erhebungsinstrumente recht zeitaufwändig waren, der zur Datenerhebung bewilligte Förderzeitraum jedoch beschränkt war, konnten die veränderten Instrumente nicht erneut getestet werden. Erst nach Ablauf der ersten beiden ‚regulären‘ Interviews nahmen die weiter unten vorgestellten Leitfäden nach einigen kleineren Anpassungen ihre endgültige Form an. Die während der Erprobungsphase erhobenen Interviewdaten flossen nicht in die weiter unten dargestellte Datenauswertung ein.
Kontaktanbahnung Die Ansprache von Interviewpartnern erfolgte entweder persönlich oder vermittelt durch Freunde bzw. Ehepartner. Zur Kontaktaufnahme wurden dabei verschiedene ‚Deutschentreffs‘ genutzt, wobei bei der Auswahl potentieller Teilnehmer auf die angestrebte Heterogenität geachtet wurde. Von den Angesprochenen lehnte lediglich eine Person die Teilnahme mit dem Hinweis auf ihre exponierte Stellung innerhalb der ausländischen Community ab. War die Bereitschaft zur Teilnahme seitens der Angesprochenen recht hoch, so war es doch nicht immer ganz einfach, Neuankömmlinge rechtzeitig genug ausfindig zu machen. Zwar machen innerhalb der kleinen ‚deutschen 15 Ein einzelnes Abschlussinterview fand erst im April 2001 statt. 122
DURCHFÜHRUNG
Community‘ Nachrichten von Neuankömmlingen innerhalb der entsprechenden Zirkel schnell die Runde, doch führten die vergleichsweise kleine Zahl Neueinreisender sowie die Vorgaben der Rekrutierung (v.a. bezüglich der Heterogenität sowie der Aufenthaltsdauer) mitunter zu Schwierigkeiten beim Auffinden potentieller Gesprächspartner.
Erstes Interviewtreffen Das erste Interviewtreffen fand im Zeitraum zwischen einem und drei Monaten nach Einreise des jeweiligen Gesprächspartners statt. Mitunter führten Terminschwierigkeiten des Interviewpartners oder untersuchungsbedingte Verzögerungen (z.B. das Fertigstellen von Transkripten zur Vorbereitung des zweiten Untersuchungstreffens anderer Gesprächspartner) dazu, dass das erste Interview in den vierten Monat nach der Einreise fiel. Das erste Interviewtreffen war zu gleichen Teilen einem offenen Interview zur Erfassung der allgemeinen Lebenssituation und biographischen Hintergründe wie einem ausführlichen, teilstrukturierten Interview zum Thema ‚Gesicht‘ gewidmet (s.u.). Dieses wie die nachfolgenden Treffen fand zum überwiegenden Teil in den Wohnungen oder Büros meiner Gesprächspartner, zum Teil auch in öffentlichen Räumen wie Cafés oder Parks statt. Mit Einverständnis der jeweiligen Gesprächspartner wurden alle Interviews auf Audiokassetten aufgezeichnet. Bei der Ansprache von Interviewpartnern wurden Zielsetzung und Ablauf der Interviews mit den Teilnehmern besprochen. Teilweise wurden Terminabsprachen in einem nachfolgenden Telefonat bzw. E-Mail vorgenommen. In Fällen, in denen das Anbahnungsgespräch sehr kurz war bzw. in denen der Kontakt über Dritte vermittelt wurde, fand vor Interviewbeginn ein Gespräch statt, in dem ich mich und mein Studienvorhaben vorstellte. In jedem Fall wurde der Ablauf des Interviews und der gesamten Untersuchungsreihe zu Beginn des Gespräches angesprochen und geklärt.
Erstellen des Interviewtranskripts und Strukturbildentwurfs Beide Teile des Erstinterviews wurden wörtlich transkribiert. Zur Vorbereitung auf den zweiten Interviewtermin wurde das Transkript des Interviewteils zu ‚Gesicht‘ einer Inhaltsanalyse unterzogen, auf deren Grundlage ich einen Entwurf des Strukturbildes erstellte.
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Erstes Strukturlegetreffen Nach Fertigstellen des Transkripts und des Strukturbildentwurfs fand etwa zwei bis vier Wochen nach dem Erstinterview ein zweites Treffen statt. Dieses Treffen war ausschließlich dem Erstellen des Strukturbildes zum Thema ‚Gesicht‘ gewidmet und dauerte zwischen einer und zwei Stunden. Zweites Interview- und Strukturlegetreffen Etwa sechs bis neun Monate nach Einreise des Interviewpartners fand ein drittes Treffen statt, das sowohl einen ausführlichen offenen Interviewteil zur allgemeinen Lebenssituation als auch einen kurzen Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ und die ausführliche Diskussion und Anpassung des Strukturbildes umfasste.
Drittes Interview- und Strukturlegetreffen Ein letztes Treffen fand zwischen zwölf und fünfzehn Monaten nach der Einreise des Interviewpartners statt. Inhalt und Ablauf entsprachen dem Vorgehen beim dritten Treffen und umfassten wiederum ein offenes Interview, ein kurzes Interview zum Thema ‚Gesicht‘ sowie die ausführliche Analyse und Veränderung des Strukturbildes.
Untersuchungsablauf im Überblick Die folgende Tabelle stellt die Untersuchungsschritte im Überblick dar: Zeitpunkt Interview I 1-3 Monate nach Einreise des Teilnehmers
Erzählteil mit Schwerpunkt auf:
Strukturlegeteil mit Schwerpunkt auf:
Gründe für und Erwartungen an den Aufenthalt, gegenwärtige Lebenssituation (bezüglich Arbeit, Studium, Familie, allgemeine Lebensumstände)
Teilstrukturiertes Interview zum Thema ‚Gesicht‘
Anfertigen des Interviewtranskripts und Erarbeiten eines Strukturbildentwurfs durch die Interviewerin Strukturbild I
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2-4 Wochen nach dem ersten Interview
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Gemeinsames Erstellen der Theoriestruktur zum Thema ‚Gesicht‘
DURCHFÜHRUNG Interview II und Strukturbild II
6-9 Monate nach Einreise des Teilnehmers
Interview III und Strukturbild III
12-15 Monate nach Einreise des Teilnehmers
Gegenwärtige Lebenssituation – wichtige Veränderungen seit dem letzten Interview Gegenwärtige Lebenssituation – wichtige Veränderungen seit dem letzten Interview; Resümee nach einem Jahr
Neue Erfahrungen mit dem chinesischen Konzept ‚Gesicht‘; Anpassen des Strukturbildes Neue Erfahrungen mit dem chinesischen Konzept ‚Gesicht‘; Anpassen des Strukturbildes
Tabelle 1: Überblick über den Untersuchungsablauf
Alle Interviewpartner nahmen bis zum Ende der Untersuchung teil. Lediglich ein einziges Treffen kam wegen der längeren Auslandsreise einer Teilnehmerin nicht zustande. Ein Abschlussinterview verzögerte sich wegen meiner eigenen Ausreise um ein ganzes Jahr. Die Einhaltung der exakten Untersuchungszeitpunkte erwies sich in der konkreten Durchführung als schwierig. Nicht nur galt es den Arbeitsaufwand (vor allem bei den Transkriptionen der Erstinterviews) zu koordinieren, sondern insbesondere waren hier Terminvorgaben meiner Interviewpartner zu berücksichtigen. So ließ es sich zwar einerseits nicht vermeiden, dass Gesprächspartner zum Zeitpunkt eines bestimmten Interviews unterschiedlich lange im Land waren, was sich ungünstig auf die Vergleichbarkeit der Daten auswirkt, andererseits stellt im Rahmen dieser qualitativ angelegten Untersuchung die Aufenthaltsdauer keine fest definierte unabhängige Variable dar, sondern wird als Hintergrundinformation begriffen, die eine von mehreren möglichen Vergleichsdimensionen eröffnet.
Erhebungsmethoden Die Untersuchungsplanung sah ursprünglich lediglich die Verwendung eines Verfahrens zur Erhebung von Alltagswissen über ‚Gesicht‘ vor, das durch einen kurzen Frageteil zu biographischen Angaben ergänzt werden sollte. Schon während des ersten Testlaufes in Taiwan zeigte sich jedoch die Notwendigkeit, das Interview um einen ausführlichen Erzählteil zu erweitern. Diese Notwendigkeit resultierte zum einen daraus, dass auch kurze biographische Fragen lange Antworten nach sich zogen, insbesondere bei Erläuterungen der aktuellen Arbeitszusammenhänge und -aufgaben. Zum anderen stellte sich schon bei der Anbahnung der Interviews heraus, dass etliche Gesprächspartner ein großes Interesse hatten, ihre Erfahrungen mitzuteilen und im Gespräch zu reflektieren. Gerade zu Beginn ihres Aufenthaltes führte die große Dichte an neuen, teilweise verunsichernden oder schwierigen Erfahrungen zu einer großen Erzählbereitschaft, zumal in der Anfangszeit typischerweise noch wenig Freunde als Zuhörer zur Verfügung standen. In Abwandlung der ursprüngli125
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chen Planung weitete ich deswegen die Erhebung durch einen ausführlichen ersten Interviewteil aus, der sich mit wichtigen Erlebnissen meiner Gesprächspartner beschäftigte. Im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigte sich gerade dieser Interviewteil als unverzichtbar für die Interpretation der Strukturbilder und Lernprozesse. Eine zweite Veränderung der Erhebungsmethoden resultierte ebenfalls aus den Erfahrungen des Testlaufes: Es stellte sich heraus, dass der auf Kenntnis entsprechender Literatur zum Thema ‚Gesicht‘ erstellte Frageteil für meinen Untersuchungszweck zu differenziert war und ein zu großes Vorwissen bezüglich des Konzepts ‚Gesicht‘ verlangte. So, wie meine Fragen gestellt waren, konnten meine Gesprächspartner wenig mit ihnen anfangen. Nach diesen ersten Erfahrungen reduzierte ich die Zahl der Fragen drastisch und setzte auch hier auf ein offeneres und flexibleres Interviewformat.
Offenes Interview zur allgemeinen Lebenssituation in Taiwan Der ursprünglich als kurzer biographischer Frageteil konzipierte Interviewteil wurde aus den oben erwähnten Gründen zu einem eigenständigen qualitativen Interview ausgebaut, das auch innerhalb der jeweiligen Interviewtreffen durch eine eigene Einleitung und eine explizite Schlussformel von dem nachfolgenden Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ klar abgegrenzt war. Die Dauer des Interviews betrug zwischen 30 und 90 Minuten, wobei im Interesse des nachfolgenden Interviewteils zu ‚Gesicht‘ von mir darauf geachtet wurde, 60 Minuten möglichst nicht zu überschreiten. 16 Da nicht die Dokumentation objektiver Daten im Vordergrund stand, sondern der subjektiven Perspektive des Gesprächspartners Platz eingeräumt werden sollte, erschien ein offenes Interview als das am besten geeignete Erhebungsinstrument (vgl. Hopf, 2000). Ziel des Interviews war das Explizieren des (subjektiv erlebten) Lebenszusammenhanges, vor dessen Hintergrund der Interviewpartner jetzt in Taiwan mit dem Thema ‚Gesicht‘ konfrontiert wurde (oder nicht). Themen des Interviews waren daher die Gründe für und Ziele des Taiwanaufenthaltes, die konkrete Lebens- und Arbeitssituation (einschließlich der u.U. mit ausgereisten Familie) sowie Eindrücke von, wichtige Erlebnisse in und Ansichten über Taiwan. Die Wahl nur weniger, erzählstimulierender Fragen (s.u.) sollte individuellen Deutungen und Schwerpunktsetzungen Raum
16 In der Regel brach ich das Interview nach spätestens 60 Minuten mit dem Hinweis auf den zweiten Interviewteil ab. In Einzelfällen war dies aufgrund der Gesprächssituation nicht möglich, z.B. wenn der Gesprächspartner mitten in einem Bericht über ihn emotional belastende Entwicklungen steckte. In diesen Fällen habe ich auf das ‚Abfragen‘ weiterer Interviewthemen verzichtet und den zweiten Interviewteil erst nach einer deutlich markierten, mehrminütigen Pause begonnen, wobei ich dem Interviewpartner freistellte, auf den zweiten Interviewteil zu verzichten. 126
DURCHFÜHRUNG
geben und die Gesprächspartner zu ausführlichen Mitteilungen und Erzählungen einladen. Da die Auswahl der Fragen große Übereinstimmung mit spontanen ‚Kennenlerngesprächen‘ aufwies, die in Taiwan unter Ausländern an der Tagesordnung sind17, wies dieser Interviewteil ein Format auf, das den Gesprächspartnern weitgehend vertraut war und relativ wenig als ‚formales Interview‘ markiert war. Ein kurzer Leitfaden18 listete Themengebiete auf, die durch eigene Erfahrung bzw. durch wissenschaftliche Arbeiten zum Thema ‚Akkulturation‘ als möglicherweise relevant ausgewiesen waren. Die Themengebiete wurden von mir nur dann explizit angesprochen, wenn der Interviewpartner sich nicht bereits spontan zu ihnen geäußert hatte. Interviewleitfaden Interview I INTERVIEW I A: Zur Lebenssituation in Taiwan x Wie ist es gekommen, dass Sie jetzt hier in Taiwan sind? (Wenn nicht von selber angesprochen, folgende Fragen stellen: Was hat Sie bewogen, nach Taiwan zu ziehen? (Motivation), Was haben Freunde, Eltern zu den Taiwan-Plänen gesagt? (Unterstützung/Hinderung), Waren Sie schon einmal in Taiwan? Längere Zeit im Ausland? (Vorerfahrung) x Haben Sie bestimmte Ziele für den Aufenthalt in Taiwan? Welche? x Bitte erzählen Sie einmal, was Sie hier jetzt tun. Wie sieht zum Beispiel ein typischer Tagesablauf aus? (Wenn nicht von selber angesprochen, klären: - Wohnsituation: zufrieden stellend? - Arbeit/Studium: Was genau sind Arbeitsaufgaben, Studienbedingungen? - Freizeit: wichtige Aktivitäten oder Interessen? - Freundeskreis/Kollegen: Bestehen Kontakte zu Taiwanesen? Zu anderen Ausländern? - Familie/Partner: Wie ist die familiäre Situation? (Partner, Kinder in Taiwan?) x Haben Sie sich auf den Aufenthalt hier in irgendeiner Weise vorbereitet? Wie? x Wenn Sie sich einmal in die ersten Tage/Wochen nach Ihrer Ankunft zurückversetzen, wie ist es Ihnen da gegangen? x Gibt es Dinge, die Ihnen hier Schwierigkeiten bereiten oder die Sie bemerkenswert finden? Gibt es sonst noch etwas, was Sie seit Ihrer Ankunft in Taiwan beschäftigt hat, was ich vielleicht zu fragen vergessen habe? Abbildung 1: Interviewleitfaden Erstinterview
17 In typischer Abfolge umfassen solche Gespräche folgende Fragen: Woher kommst du? Warum bist du hier? Was machst du hier? Wie gefällt es dir? 18 Diese und alle weiteren erwähnten Leitfäden waren nur für mich vorgesehen und den Interviewpartnern nicht zugänglich. Die Leitfäden listeten die zu erfragenden Themenkomplexe auf und sahen keine standardisierten und vorformulierten Fragen vor. Die Ausformulierung der Fragen wurde dem Gesprächsverlauf entsprechend angepasst. 127
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Die Durchführung dieses Interviewteils erwies sich als unproblematisch. Alle Gesprächspartner gaben bereitwillig und teilweise sehr ausführlich Auskunft. Die Ähnlichkeit zu ‚Kennenlerngesprächen‘ nahm der Situation ihren formalen und damit möglicherweise verunsichernden Charakter, was sich sicherlich positiv auf Gestimmtheit und Mitteilungsbereitschaft auswirkte. Auf der anderen Seite wies die Situation auch deutliche Unterschiede zu ‚Kennenlerngesprächen‘ auf, die vor allem in der Einseitigkeit des Erzählens bestand, aber auch in der Einladung zu ausführlichen Berichten, Urteilen und Reflexionen, die üblicherweise nicht Bestandteil solcher Unterhaltungen sind. Unternahmen Interviewpartner Versuche, das Interview einem ‚echten‘ Kennenlerngespräch stärker anzunähern, war dies für das Erreichen meiner Untersuchungsanliegen jedoch ungünstig. Neben die dann eingeforderte Reziprozität der Mitteilungen (der ich bei konkreten Fragen nachkam bzw. auf die Möglichkeit eines Gesprächs nach Ende des Interviews verwies) trat das aktive Erkunden etwaiger Ähnlichkeit und Übereinstimmung von Ansichten und Interessen seitens des Interviewpartners. Dies reflektiert die Funktion von Kennenlerngesprächen, die auch geführt werden, um die Möglichkeit weiteren und eventuell engeren Kontakts zu eruieren. Bei einem entsprechenden Gesprächsinteresse meines Interviewpartners bestand die Möglichkeit, dass Themenwahl und Ausdrucksweise stark von meinen Reaktionen und Empathiebekundungen beeinflusst wurden. Interviews, die zu stark das Format von Kennenlerngesprächen annahmen, erschwerten zudem den Wechsel zum zweiten (formaleren) Interviewteil. Problematisch war auch, dass mein (letztlich erkennbares) Beharren auf dem Interviewformat von einzelnen Gesprächspartnern möglicherweise negativ aufgefasst wurde und den weiteren Interviewverlauf beeinflusst haben könnte. Doch stellen diese Hinweise Möglichkeiten und Vermutungen dar. Die spätere Auswertung des ersten Interviewteils ergab eine hohe Übereinstimmung individuell relevanter Kernthemen über alle Interviewzeitpunkte hinweg, die darauf hinweisen, dass individuelle Themen deutlich im Vordergrund standen und durch Gesprächsführungs- und Interviewereffekte nicht überlagert wurden. Auch während des dritten und vierten Untersuchungstermins fanden Interviewteile zur allgemeinen Lebenssituation statt (der zweite Termin war ausschließlich dem Erstellen des Strukturbildes gewidmet). Im Mittelpunkt standen hier insbesondere wichtige Erlebnisse und Veränderungen der Lebensumstände seit dem letzten Interview. Das Interview wurde dementsprechend mit der Aufforderung begonnen: „Bitte erzählen Sie einmal, was seit dem letzten Interview so alles passiert ist“. Wie im Erstinterview wurden die im Leitfaden definierten Themenfelder (Arbeit/Studium, Freizeit, Freundeskreis/Kollegen, Familie) nur dann explizit angesprochen, wenn sich der Interviewpartner noch nicht von selbst zu ihnen geäußert hatte. Das grundsätzliche Interesse in diesen Interviewteilen zur Lebenssituation bestand darin, von etwaigen Veränderungen oder Neuentwicklungen zu erfahren. Waren im ersten Interview bestimmte wichtige Entwicklungen noch nicht abgeschlossen (wie 128
DURCHFÜHRUNG
zum Beispiel die Wohnungssuche, oder war ein bestimmter Konflikt gerade aktuell), stellte ich auch diesbezüglich Fragen nach der Art: „Sie haben letztes Mal von xy erzählt. Wie ist das weitergegangen?“ Interviewleitfaden Interview II und III INTERVIEW II/III A: Zur Lebenssituation in Taiwan Ich würde gerne so vorgehen: (Vorgehen schildern)… Aber Sie haben Sich ja gedanklich auch auf dieses Gespräch vorbereitet; Vielleicht gibt es etwas, was Sie gleich zu Beginn loswerden möchten? x Mich interessiert zuerst, wie es Ihnen jetzt so geht. Vielleicht können Sie mal erzählen, wie Ihr Leben heute aussieht und was seit unserem letzten Gespräch alles passiert ist. (Wenn nicht erwähnt, nachfragen: Wie sieht heute der typische Tagesablauf aus? - Arbeit/Studium: Fortschritte, Hindernisse? - Freizeit: Veränderungen? - Freundeskreis/Kollegen: Veränderungen, neue Kontakte? - Partnerschaft/Familie: Veränderungen? x Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Lebenssituation hier? (Im Abschlussinterview zusätzlich: Wie zufrieden sind Sie mit dem Jahr in Taiwan? Mit dem, was Sie in diesem Jahr in Taiwan erreicht haben?) x Gibt es Dinge, die Ihnen an Ihrem Leben in Taipei besonders gut oder besonders schlecht gefallen? Abbildung 2: Interviewleitfaden Interview II und III
Trotz weitgehend gleicher Themen war die gesamte Interviewsituation – beim nun dritten oder vierten Treffen – deutlich verändert. Die Kennenlernphase war abgeschlossen und in einigen Fällen einer Vertrautheit gewichen, die jetzt auch das Ansprechen ‚heikler‘ Themen ermöglichte. War bei einigen Gesprächspartnern während des Erstinterviews Verunsicherung zu spüren, dass sie als ‚Taiwan-Neulinge‘ einer Interviewerin mit vermeintlich größerem Taiwan-Wissen gegenüber saßen, so war dies bei den späteren Interviewzeitpunkten nicht mehr der Fall. Einige Gesprächspartner nutzten diese Gespräche, die in ihrem hektischen Arbeitsleben seltene ‚Auszeiten‘ darstellten, explizit zur Selbstreflexion und als Gelegenheit, persönlichen Veränderungsund Lernprozessen nachzuspüren. Waren es gerade diese persönlichen Veränderungen, die sie als Ergebnis des Taiwanaufenthaltes erhofft hatten, hatten sie doch anderweitig selten Muße und Zuhörerschaft, sich diese zu vergegenwärtigen und zu bewerten. Insgesamt galt, dass der Interviewteil zur Lebenssituation bei meinen Gesprächspartnern auf größeres Interesse traf als der zweite teilstrukturierte Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘. Hier war Gelegenheit, die für sie wichtigen Themen und Entwicklungen anzusprechen, während das Thema ‚Gesicht‘ ein von mir eingeführtes Thema war, das für etliche Gesprächspartner – wie sich im Laufe der Untersuchung herausstellte – ohne große Alltagsrelevanz blieb. Dies war lediglich in zwei Fällen anders, in denen ‚Gesicht‘ für die Interviewpartner im Alltag subjektiv große Bedeutung entfaltete. 129
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Teilstrukturiertes Interview zum Thema ‚Gesicht‘ Der zweite Teil der Interviewtreffen war dem Thema ‚Gesicht‘ gewidmet. Die Alltagstheorien meiner Gesprächspartner wurden dabei in einem zweistufigen Vorgehen erhoben und dokumentiert, das sich prinzipiell an die im Forschungsprogramm Subjektive Theorien entwickelten Verfahren anlehnt. Ein teilstrukturiertes Interview von ca. 45 Minuten Dauer zielte darauf, das Thema ‚Gesicht‘ in möglichst großer Bandbreite zu diskutieren. In einem zweiten Schritt wurden die individuellen Theorien gemeinsam mit dem Interviewpartner in einem ‚Strukturbild‘ aufgezeichnet. Während das ‚Strukturbild‘ als verdichtete Darstellung der Theorie das eigentliche Ergebnis darstellte, erfüllte der Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle: Beim ersten Untersuchungstermin forderte dieser Interviewteil den Interviewpartner zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Thema auf. Die Interviewfragen dienten so als Stimulus für die Entfaltung subjektiver Vorstellungen über die Funktion und Wirkungsweise von ‚Gesicht‘ im taiwanesischen und chinesischen Alltag.19 Das Interview wurde von mir wörtlich transkribiert und diente als Grundlage für die Erstellung des Strukturbildes. Zu den späteren Untersuchungsterminen war der Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ stark verkürzt und diente hier ebenso der Einstimmung auf das Thema und Diskussion des Strukturbildes wie dem Erzählen relevanter Erlebnisse und Episoden. Bei allen Untersuchungsterminen zielte dieser Interviewteil auf einen möglichst breiten Ausschnitt der Erfahrungswelt, um so einer Verengung der Berichte durch die vergleichsweise engeren Vorgaben des Strukturbildes entgegenzuwirken. Die Konstruktion des Interviewleitfadens orientierte sich zunächst an den Empfehlungen von Scheele und Groeben (1988) für die Leitfadenkonstruktion der Heidelberger Strukturlegetechnik. Das dort vorgesehene Strukturgerüst wurde nach ausführlicher Selbstexploration, der Befragung im Freundeskreis und dem Sichten von Fachliteratur inhaltlich dem Thema ‚Gesicht‘ angepasst. Der Leitfaden wurde während eines Testlaufes in Interviews mit zwei Personen erprobt. Es stellte sich heraus, dass detaillierte hypothesen-gerichtete Fragen (im Sinne von Scheele/Groeben, 1988) Taiwan-Neulinge überforderten und bei ihnen tendenziell zu dem (unerwünschten) Gefühl führten, ‚getestet‘ zu werden. Der Leitfaden wurde daraufhin in seiner Komplexität erheblich reduziert. Zusätzlich bekamen Fragen nach persönlich erlebten Episoden mehr Gewicht, die im Sinne der Befragung als Beispiele dienen können. Während das Interview so seine teilstrukturierte Form beibehielt, bestand nun erheblich 19 Da die wissenschaftliche Literatur in Bezug auf Inhalt, Funktion oder Gültigkeit von ‚Gesicht‘ nicht zwischen China und Taiwan unterscheidet, habe ich meine Fragen an die Erfahrungen der Interviewpartner angepasst. Etwaige gesichtsrelevante Erlebnisse in der VR China wurden deshalb mit aufgenommen.
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mehr Raum für Erfahrungsberichte. Die Leitfragen wurden im Interview flexibel eingesetzt, so dass auch in diesem Interviewteil ein relativ natürlicher Gesprächscharakter beibehalten werden konnte. Die zweite wesentliche Veränderung des Interviewformats von Scheele und Groeben bestand in der Anpassung an das längsschnittliche Untersuchungsdesign. Da sich das Interview beim zweiten und dritten Untersuchungstermin auf vorherige Interviews und ein existierendes Strukturbild stützen konnte, konnte (und musste) ein verändertes Interviewformat zum Einsatz kommen. Der Diskussion und Korrektur der Theoriestruktur wurde deshalb ein verkürzter Interviewteil vorangestellt, der vor allem auf zwischenzeitlich gemachte neue Erfahrungen und Erlebnisse fokussierte. Bei allen Untersuchungstreffen unterteilte sich der Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ in vier inhaltliche Felder, die mit den Begriffen „Gesicht verlieren“, „Gesicht nehmen“, „Gesicht haben“ und „Gesicht geben“ bezeichnet wurden. Diese Unterteilung stützt sich – unter Auslassung der Kategorie ‚Gesicht wahren‘ – auf die von Bond und Hwang (1986) vorgenommene Aufteilung in sechs Kategorien20 und spiegelte damit ein logisches Raster wider, nach dem ‚Gesicht‘ in Interaktionen entweder negativ oder positiv beeinflusst werden kann, wobei dieser Einfluss entweder bei der Person selbst oder bei ihrem Gegenüber wirksam werden kann. Selbst
Andere Person
Negative Auswirkung
‚Gesicht‘ verlieren
‚Gesicht‘ nehmen
Positive Auswirkung
(viel) ‚Gesicht‘ haben
‚Gesicht‘ geben
Tabelle 2: Vier Themenfelder von ‚Gesicht‘ in der empirischen Untersuchung
Weiterhin wurde zwischen Antezedens- und Folgehandlungen unterschieden: - Handlungen, die dazu führen, dass ‚Gesicht‘ verloren geht bzw. gewonnen wird - Handlungen, die infolge des Einflusses auf das ‚Gesicht‘ gewählt werden
20 Wie oben erwähnt, zählen diese Autoren zusätzlich zu diesen vier Kategorien auch das ‚Wahren des eigenen Gesichts‘ sowie das ‚Wahren des Gesichts des Gegenübers‘ auf. Da ‚Gesicht wahren‘ darauf abzielt, einen Gesichtsverlust zu verhindern, besteht ‚Gesicht wahren‘ insbesondere darin, Handlungen zu unterlassen, die einen Gesichtsverlust zur Folge haben könnten. Die Kategorie ‚Gesicht wahren‘ versprach daher keine zusätzlichen Informationen, die über Angaben hinausgingen, die im Zusammenhang mit ‚Gesichtsverlust‘ erwähnt werden würden. Im Sinne der Komplexitätsreduktion des Strukturbildes habe ich deshalb auf diese Kategorie verzichtet. Insofern ‚Gesicht wahren‘ als Reparaturmechanismus nach erfolgtem Gesichtsverslust interpretiert wurde, fand es unter jener Kategorie Aufnahme in das Strukturbild. 131
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In Kombination ergeben die vier Themenfelder und zwei Handlungsbereiche die grundlegende Struktur des Interviewleitfadens sowie der Strukturbilder. Interviewleitfaden Interview I INTERVIEW I B: ‚Gesicht‘ Ich möchte mich jetzt gerne mit Ihnen über ein bestimmtes Thema unterhalten: Es wird immer wieder behauptet, eine Besonderheit in China sei, dass die Menschen besonders darauf bedacht sind „ihr Gesicht zu wahren“ oder umgekehrt, dass sie befürchten, „ihr Gesicht zu verlieren“. Mich interessieren jetzt also die Erfahrungen, die Sie hier in Taiwan mit dem Thema ‚Gesicht‘ evtl. gemacht haben. Dabei meine ich ‚Gesicht‘ in dem Sinne, wie er etwa in dem Ausdruck „Gesicht wahren“ zum Ausdruck kommt. Definitionsteil: x Fällt Ihnen eine Situation ein, in der ‚Gesicht‘ eine Rolle gespielt hat? Bitte schildern Sie sie einmal. x Was verbinden Sie mit dem Begriff ‚Gesicht‘? Was, würden Sie sagen, ist ‚Gesicht‘? Ausdifferenzierung x ‚Gesicht verlieren‘ - Was ist in Taiwan damit gemeint, wenn jemand sagt, er habe sein oder sie habe ihr „Gesicht verloren“? Fällt Ihnen ein Beispiel ein? - Was führt dazu, dass man selbst ‚Gesicht‘ verliert? Fällt Ihnen ein Beispiel ein? - Was kann man tun, wenn man in einer Situation selbst das ‚Gesicht‘ verloren hat? x ‚Gesicht nehmen‘ - Was kann dazu führen, dass eine andere beteiligte Person ‚Gesicht‘ verliert? - Was passiert, wenn man jemanden anders ‚Gesicht‘ verlieren lässt? Was für Konsequenzen hat ein ‚Gesichtsverlust‘? Für einen selbst, für den anderen? - Was kann man tun, wenn man jemand anders (unbeabsichtigt) das ‚Gesicht‘ genommen hat? x ‚Gesicht geben‘ - Was ist damit gemeint, jemandem ‚Gesicht‘ zu geben? Fällt Ihnen ein Beispiel ein? - Wie kann man anderen ‚Gesicht‘ geben? (Wenn nur verbale Strategien genannt werden, darauf hinweisen und nachfragen: Gibt es auch andere Möglichkeiten, als durch Worte dem anderen ‚Gesicht‘ zu geben? Welche?) - Was kann man tun, wenn man merkt, dass jemand anders einem ‚Gesicht‘ gibt? x (viel) ‚Gesicht haben‘ - Was kann man tun, um selbst möglichst viel ‚Gesicht‘ zu haben? - Was resultiert daraus, wenn man selbst viel ‚Gesicht‘ hat? Abbildung 3: Interviewleitfaden Interview I B zu ‚Gesicht‘
Da sich während des Testlaufs sowie während des ersten regulären Interviews gezeigt hatte, dass die Interviewpartner nur über sehr wenige Erfahrungen mit 132
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dem chinesischen Konzept ‚Gesicht‘ verfügten, wurde eine während des Testlaufs erzählte Begebenheit in nachfolgenden Interviews als Beispiel und Diskussionsmaterial verwendet: Versetzen Sie sich einmal in die folgende Situation: Sie sind von einem Geschäftspartner21, der einige Jahre älter ist als Sie, ins Restaurant zum Essen eingeladen worden. Außer Ihnen sind noch andere Personen gekommen, und man unterhält sich angeregt über dies und das. Schließlich kommt das Gespräch auf die chinesischchinesischen Beziehungen, und Ihr Gastgeber äußert entschieden die Ansicht, alle nach dem Krieg zugewanderten Festlandschinesen sollten Taiwan wieder verlassen müssen. Ihnen selbst scheint diese Ansicht zu extrem, weshalb Sie deutlich widersprechen. Da Sie engagiert argumentieren, fällt Ihnen erst nach einer Weile auf, dass Ihr Gastgeber plötzlich mit verschränkten Armen zurückgelehnt dasitzt und niemand anders das Gespräch fortsetzt. Nach einer kurzen Stille wechselt die Dame neben Ihnen das Thema. Was ist Ihrer Meinung nach hier passiert?
Diese Beispiel-Erzählung war insbesondere in den Interviews nützlich, in denen der Gesprächspartner äußerte, nicht viel über das Thema ‚Gesicht‘ zu wissen, und in denen nur wenig eigene Beispiele genannt wurden. Hier half das Beispiel als Ideenlieferant und als Anregung zur Entwicklung eigener Erklärungen und Urteile. Da zu den späteren Interviewzeitpunkten die Wissensstruktur bereits dokumentiert war, kam es vor allem auf Veränderungen dieses Wissens an. Der Interviewteil zu ‚Gesicht‘ wurde deshalb zunächst mit einigen offenen Fragen nach neuen Erfahrungen mit dem Thema ‚Gesicht‘ eingeleitet, wobei alle Themenfelder abgedeckt wurden. Weiterhin wurde nach den Quellen des neuen Wissens gefragt. Erst danach wurde mit dem Interviewpartner das Strukturbild sorgfältig auf Gültigkeit überprüft. Interviewleitfaden Interview II und III INTERVIEW II/III B: ‚Gesicht‘ Wir haben uns ja letztes Mal über das Thema ‚Gesicht wahren/Gesicht verlieren‘ unterhalten. Haben Sie seitdem: x sich mit diesem Thema weiter beschäftigt? Wie (gelesen, nachgedacht, beobachtet, mit Freunden gesprochen, usw.)? x weitere Erfahrungen gemacht mit Situationen, in denen ‚Gesicht‘ eine Rolle gespielt hat? Welche? - Situationen im Bereich ‚Gesicht verlieren/nehmen‘? - Situationen im Bereich ‚Gesicht haben/geben‘? x Wenn Sie Ihr Strukturbild heute betrachten, gibt es Dinge, die Sie heute anders sehen? (Die Punkte einzeln durchgehen, genannte Beispiele/Erfahrungen einarbeiten.) Abbildung 4: Interviewleitfaden Interview II B und III B zu ‚Gesicht‘
21 Je nach Kontext wurde „Geschäftspartner“ ersetzt durch „Dozent“, „Mannschaftskapitän“, „Eltern der Freundin“. Ausschlaggebend war die – hier durch das Alter markierte – höhere hierarchische Stellung. 133
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Strukturlegeverfahren So genannte ‚Strukturlegeverfahren‘ sind im Zusammenhang des ‚Forschungsprogramms Subjektive Theorien‘ (FST) zur graphischen Abbildung subjektiver Theorien entwickelt worden. Strukturlegeverfahren zielen darauf, diese Struktur im Dialog mit dem Interviewpartner graphisch (mittels Kästchen und Pfeilen) abzubilden. Zur Abbildung der Struktur wird dabei vom Interviewer ein explizites Regelsystem vorgegeben, das vom Interviewpartner erlernt und angewendet wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde ein modifiziertes Strukturlegeverfahren verwendet, das sich an die im FST entwickelte Methode der ‚Heidelberger Strukturlegetechnik‘ anlehnt, ohne jedoch die mit dem FST assoziierten Annahmen über Struktur, Funktion und Handlungsbezug von Alltagswissen zu übernehmen (siehe hierzu ausführlich Kapitel 2). Die Entscheidung für den Einsatz eines (modifizierten) Strukturlegeverfahrens fiel dabei aufgrund folgender Überlegungen: – Graphische Repräsentationsformen kognitiver Inhalte werden auch außerhalb des FST eingesetzt. Die große Popularität so genannter ‚Mind-maps‘ weist zudem auf die subjektiv erlebte Zweckmäßigkeit solcher Repräsentationstechniken sowie auf die Gültigkeit der Repräsentationsform hin. Der Einsatz von Repräsentationsregeln zur graphischen Abbildung von Wissensinhalten ist daher auch ohne Übernahme der im FST vorgenommenen theoretischen Setzungen möglich. – Aufgrund der symbolischen Repräsentation von Relationen und Zusammenhängen (zum Beispiel durch Pfeile) sind Strukturbilder ökonomische Darstellungsformate komplexer Zusammenhänge. Wissensstrukturen lassen sich so auf beschränktem Raum komprimiert und dennoch übersichtlich darstellen. – Strukturbilder stellen anschauliche ‚Momentaufnahmen‘ des Alltagswissens zu einem bestimmten Zeitpunkt dar, die leicht mit ‚Aufnahmen‘ späterer Zeitpunkte verglichen werden können. Die Methode versprach deshalb, Lerneffekte besonders deutlich sichtbar zu machen. – Das Erstellen eines Strukturbildes stellt eine zweite Erhebungssituation dar, die ein Interview sinnvoll ergänzen kann. Die Erstellung des Strukturbildes beschränkt sich nicht auf die graphische Abbildung der im Interview gemachten Äußerungen, sondern ermöglicht die Aufnahme zusätzlicher Wissenselemente, die während des Interviews keine Rolle gespielt haben. Zudem bietet sie einen weiteren methodischen (abstrakteren und systematischeren) Zugang, der manchen Interviewpartnern entgegenkommen mag. In jeder Hinsicht ermöglicht sie so eine Anreicherung der Datenbasis. – Das gemeinsame Erstellen des Strukturbildes bietet die Möglichkeit, zu überprüfen, ob die vom Interviewpartner getroffenen Aussagen von mir angemessen verstanden wurden. Entsprechend besteht auch 134
DURCHFÜHRUNG
die Möglichkeit, ein solches Verständnis im Dialog herzustellen (Dialog-Konsens-Validierung). Strukturbilder sind daher ebenso sehr ‚Daten‘ wie Dokumentation eines ersten, kommunikativ validierten Interpretationsschrittes. Eine solche Validierung ist prinzipiell auch auf anderem Wege erreichbar, schien aber im vorliegenden Zusammenhang auf diesem Wege besonders ökonomisch und präzise zu bewerkstelligen zu sein. In Abgrenzung zu Annahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien stellen die auf diese Weise erstellten Strukturbilder im vorliegenden Zusammenhang lediglich mögliche, in gemeinschaftlicher Arbeit von Interviewpartner und Interviewerin konstruierte (nicht re-konstruierte) Repräsentationen des Alltagswissens über ‚Gesicht‘ des jeweiligen Interviewpartners dar. Insbesondere wird nicht davon ausgegangen, dass mit Hilfe der Methode mental bereits vorliegende Theoriestrukturen lediglich abgebildet würden. Das Strukturbild wurde in dem Moment für ‚gültig‘ erklärt, in dem beide Beteiligten das Bild für vollständig hielten und der Interviewpartner seine Zufriedenheit mit der Abbildung ausdrückte. Dabei wird jedoch nicht davon ausgegangen, dass andere Untersuchungsumstände (Interviewfragen, Strukturlegeregeln, Interviewerin) zu identischen Strukturbildern geführt hätten. Das hier verwendete Strukturlegeverfahren wurde in Anlehnung an die Heidelberger Strukturlegetechnik (Scheele/Groeben, 1988) entworfen, weist jedoch entscheidende Modifikationen auf. So wurde das angewandte Regelwerk drastisch vereinfacht. Damit wurde den Erfahrungen des Testlaufs Rechnung getragen, in dem sich herausstellte, dass erstens eine große Zahl unterschiedlicher Relationen und Symbole Interviewpartnern viel Aufmerksamkeit für das ‚korrekte‘ Einhalten der Regeln abverlangte, was zu dem Gefühl führte, dass das Verfahren technisch schwierig sei und von der eigentlichen Aufgabe, ein subjektiv gültiges Strukturbild zu erstellen, ablenkte. Zweitens wurden eingeführte Unterscheidungen (zum Beispiel zwischen den Relationen „ist Merkmal von“, „ist Beispiel für“) in der konkreten Anwendung als verwirrend und der subjektiven Struktur nicht angemessen empfunden. Die von meinen Interviewpartnern formulierten Alltagstheorien ließen sich nicht in die formalen, logischen Relationen einpassen. Vielmehr wiesen diese weitaus vagere Annahmen über Zusammenhänge auf, die häufig am besten mit der vergleichsweise unbestimmten Relation „führt zu“ wiedergegeben wurden. Und schließlich stellten sich Inhalte und Relationen als nicht trennscharf heraus: Aussagen wie „Rumschreien führt dazu, dass der andere Gesicht verliert“ lassen sich ebenso als positive Relation ausdrücken [A (= Rumschreien) führt zu Verstärkung von B (= Gesichtsverlust)] wie als negative Relation [A (= Rumschreien) vermindert B (= Gesicht)]. Die Differenzierung der Relationen (hier: „verstärkt“, „vermindert“) erhöht den formalen Charakter der Darstellung auf Kosten der durch sprachliche Repräsentation erreichbaren Präzision. Das hier verwendete Verfahren setzte deshalb auf differenzierten sprachlichen Aus135
INTERKULTURELLES LERNEN
druck bei Vereinfachung der verwendeten Relationen. Insgesamt wurde bei der Darstellung Wert darauf gelegt, die von den Interviewpartnern gewählten Formulierungen und Beispiele so weit wie möglich zu erhalten. Dabei wurde ein mittlerer Abstraktionsgrad angestrebt, der Inhalte so ausführlich wie möglich beließ, diese jedoch so weit komprimierte wie nötig, um ein übersichtliches Bild zu ermöglichen. Übersicht über die verwendeten Relationen: = I Bsp -IxyI-
„ist gleich“, „lässt sich definieren als“ „ist Unterkategorie von“ „ist Beispiel für“ „führt zu“ „unter der Bedingung xy“
Abbildung 5: Übersicht über die in den Strukturbildern verwendeten Relationen
Die Erstellung des Strukturbildes vollzog sich in mehreren Arbeitsschritten. Zunächst wurde der Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ von mir vollständig transkribiert. Der Text wurde dann einer Inhaltsanalyse unterzogen, die Aussagen zu den vier Themenfeldern „Gesicht wahren“, „Gesicht verlieren“, „Gesicht haben“ und „Gesicht geben“ unterschied. Diese wurden weiter danach untergliedert, ob sie Antezedens- oder Folgehandlungen thematisierten. Auf der Grundlage dieser Analyse erstellte ich einen ersten Entwurf des Strukturbildes, den ich während der Strukturlegesitzung dem Interviewpartner vorstellte. Zu diesem Zweck schrieb ich zentrale Begriffe und Beispiele auf gelbe Kärtchen. Weiße Kärtchen identifizierten Relationen zwischen den gelben Kärtchen (z.B. „führt zu“, „unter der Bedingung, dass“, „ist Beispiel für“). Eine Interviewaussage wie „Wenn jemand rumschreit, dann verliert er Gesicht“ wurde dabei beispielsweise in folgender Weise abgebildet:
Rumschreien
Gesicht verlieren
Abbildung 6: Beispiel für die Repräsentation von Alltagstheorien im Strukturbild
Das Strukturlegeverfahren sowie die zur Verfügung stehenden Relationen wurden von mir zu Beginn der Strukturlegesitzung anhand konkreter Aussagebeispiele aus dem vorausgegangen Interview mit dem jeweiligen Gesprächspartner eingeführt. Damit stellte die Erklärung der Strukturlegemethode zugleich den Einstieg in die Erstellung der spezifischen Struktur dar. Getrennt nach den vier Themenfeldern von ‚Gesicht‘ stellte ich so den von mir vorbereiteten Entwurf des jeweiligen Strukturbildes zur Diskussion. Die 136
DURCHFÜHRUNG
Vorbereitung dieses Entwurfs diente der Beschleunigung des Strukturlegeprozesses, doch war der Entwurf an jeder Stelle reversibel. Im Verlauf der Strukturlegesitzung wurden sowohl Inhalte (der gelben Kärtchen) als auch Relationen verändert und ergänzt, bis beide Beteiligten das Gefühl hatten, die Struktur bilde das Wissen der Person über ‚Gesicht‘ vollständig und angemessen ab. Die Kärtchen wurden dann von mir mit Klebestreifen fixiert und das Strukturbild abgezeichnet. In keinem Fall wurde der von mir eingebrachte erste Entwurf unverändert übernommen, und in jedem Fall gelang es, einen Dialog-Konsens herzustellen. Strukturlegesitzungen fanden ca. zwei bis drei Wochen nach Durchführung des ersten Interviews statt22 und dauerten zwischen einer und zwei Stunden. Da Lerneffekte in der vorliegenden Untersuchung als Veränderung der individuellen Wissensstruktur operationalisiert wurden, galt es in den nachfolgenden Untersuchungstreffen, das während des zweiten Treffens erstellte Strukturbild auf seine Gültigkeit zu überprüfen. Nachdem auch diese Treffen je mit einem (verkürzten) teilstrukturierten Interviewteil zum Thema ‚Gesicht‘ eingeleitet worden waren, erging an den Interviewpartner jeweils die Aufforderung, das Strukturbild sorgfältig daraufhin zu überprüfen, ob es weiterhin Gültigkeit habe bzw. an welchen Stellen Ergänzungen oder Veränderungen nötig seien. Das Strukturbild wurde dabei insbesondere mit berichteten Erlebnissen in Bezug gesetzt und, wo nötig, verändert. Veränderungen umfassten dabei sowohl neue inhaltliche Kategorien als auch eine Ausdifferenzierung der Relationen. In selteneren Fällen bestanden sie auch im Entfernen vormals eingeführter Inhalte. Die Diskussion und Abänderung des Strukturbildes wurde – wie schon im ersten Strukturlegeteil – so lange fortgesetzt, bis sowohl mein Gesprächspartner als auch ich selbst das Gefühl hatten, das Bild stelle eine angemessene Repräsentation der Wissensstruktur dar.
Auswertung Die verschiedenen eingesetzten Instrumente resultieren in unterschiedlichen Datenformaten (Interviewtranskripte und Strukturbilder) und Inhalten (Berichte über die allgemeine Lebenssituation, Alltagswissen über das chinesische Konzept ‚Gesicht‘). Die Datenauswertung reflektiert diese Vielfalt und richtet sich nach dem unterschiedlichen Beitrag, den die einzelnen Daten zur Beant-
22 Da in dieser Zeit jeweils Transkription, Auswertung und Strukturentwurf zu erstellen waren, führte dies dazu, dass Erstinterviews mit verschiedenen Gesprächspartnern einen zeitlichen Abstand aufweisen mussten, selbst wenn sich dadurch der Abstand zum Einreisedatum vergrößerte. Dies war insbesondere bei Studenten ein Problem, die semesterbedingt zu bestimmten Terminen gleichzeitig anreisten.
137
INTERKULTURELLES LERNEN
wortung der Untersuchungsfrage leisten. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an inhaltlichen Kriterien und unterscheidet zwischen Daten zum Thema ‚Gesicht‘ (erhoben durch den teilstrukturierten Interviewteil und das Strukturlegeverfahren) und Daten zur allgemeinen Lebenssituation (erhoben durch den offenen Interviewteil).
Interview und Strukturbild zum Thema ‚Gesicht‘ Teilstrukturierte Interviews zu ‚Gesicht‘ Wie oben erwähnt, wurden die teilstrukturierten Interviews zum Thema ‚Gesicht‘ vollständig verschriftlicht. Da die Interviews im Hinblick auf ihren Informationsgehalt zum Thema ‚Gesicht‘ ausgewertet werden sollten und keine tiefer gehenden Analysen beabsichtigt waren, wählte ich als Transkriptformat die wörtliche literarische Umschrift (Kowal/O’Connell, 2000). Dialekt, Versprecher und Füllwörter (wie ‚mhm‘, ‚ähm‘) wurden im Transkript nicht wiedergegeben. In Klammern vermerkt wurden dagegen Pausen und Lachen. Das Transkript des Erstinterviews wurde wie oben beschrieben nach vorher festgelegten Kriterien einer Textanalyse unterzogen. Diese Kriterien waren mit den Konstruktionsprinzipien des Interviewleitfadens identisch und bezogen sich auf die vier Themenfelder von ‚Gesicht‘ sowie die jeweiligen Antezedens- und Folgehandlungen. Ebenfalls kodiert wurden Passagen, die sich der Begriffsbestimmung widmeten. Zentrale Aussagen und Begriffe wurden sodann in Vorbereitung des ersten Strukturbildentwurfes auf Kärtchen geschrieben. Transkripte der späteren Interviews wurden v.a. zum Vergleich mit den Strukturbildern herangezogen. In einem zeitlich nachgeordneten Schritt wurden die Interviews im Hinblick auf erkennbare Lernstrategien kodiert. Dieses Vorgehen ergab sich jedoch erst im Verlauf der Auswertung und reflektiert die Erkenntnisse der Einzelfallstudien. Strukturbilder Strukturbilder nehmen eine Mittelstellung zwischen ‚Datum‘ und ‚Interpretation‘ ein. Da sie auf der Textanalyse des Erstinterviews beruhen, stellen sie gewissermaßen eine dialog-konsens-validierte Interpretation der Interviewaussagen und der in der Strukturlegesitzung fortgeführten Kommunikation dar. Da sie jedoch mit Inhalten angereichert wurden, die im Erstinterview nicht vorhanden waren, und Ergebnis einer erneuten Interaktion sind, können sie auch als ‚Daten‘ betrachtet werden. Im Rahmen der Datenerhebung wurden von jeder Person drei Strukturbilder erstellt, wobei die beiden späteren Strukturbilder auf den vorausgegangenen Entwürfen beruhten. Nach Abschluss der Untersuchungsreihe wurden die Strukturbilder jeder Person in Textform überführt (sog. ‚Verbalisierung‘), wo138
DURCHFÜHRUNG
bei die zu den späteren Interviewzeitpunkten vorgenommenen Veränderungen der Strukturbilder als Weiterentwicklung interpretiert wurden. Die Verbalisierung der Strukturbilder kann als ‚formulierende Interpretation‘ (Straub, 1993) gefasst werden, die im Falle der hier vorgenommenen Längsschnittuntersuchung zugleich einen fallinternen Vergleich über drei Untersuchungszeitpunkte beinhaltete. Zum Thema ‚Gesicht‘ standen somit drei Quellen unterschiedlichen Interpretationsgrades zur Verfügung: Interviewtranskripte, Strukturbilder und Verbalisierungen der Strukturbilder. Alle drei Formate wurden für die weitere Auswertung herangezogen.23 Die Vorstrukturierung des Interviewleitfadens und der Strukturbilder in vier Themenfelder und eine Definition erleichterte den Vergleich zwischen Strukturbildern verschiedener Personen. Dennoch stellten einzelne Strukturbilder hochgradig subjektive Konstruktionen dar, die sich durch eingeführte Relationen ebenso sehr unterschieden wie durch Wortwahl, Gliederungstiefe, Abstraktionsgrad etc. Interindividuelle Vergleiche der Strukturbilder waren deshalb vorrangig auf deskriptiver Ebene möglich. Die Auswertung der Strukturbilder bestand deshalb in der Zuordnung genannter Inhalte zu den vier Themenfeldern, Untersuchungszeitpunkten und Personen. In der Zusammenschau ergibt sich so ein Bild, welche Inhalte von welchen Personen zu welchen Zeitpunkten genannt wurden.24 23 Der Einsatz unterschiedlicher Methoden kann die Validität der Ergebnisse erhöhen (Prinzip der Methodentriangulation (Denzin, 1989); zur Erläuterung, Kritik und Weiterentwicklung dieses Konzept siehe Fichten/Dreier, 2003). Allerdings handelt es sich bei den drei hier eingesetzten Datenerhebungsverfahren (teilstrukturiertes Interview, offenes Interview und Strukturlegetechnik) nicht um völlig getrennte Methoden, insbesondere da der Strukturentwurf auf Daten des teilstrukturierten Interviews zurückgreift. 24 Für die Zusammenfassung mehrerer Strukturbilder zu Metastrukturen sind verschiedene Verfahren vorgeschlagen worden (Kapp/Scheele, 1996; Patry/Gastager, 2002; Schreier, 1997; Stössel/Scheele, 1992). Dabei besteht das grundsätzliche Problem, ein Datenformat, das sowohl in den Inhalten als auch in den gewählten Relationen zur Verknüpfung dieser Inhalte ein subjektives Bild wiedergibt, zu intersubjektiven Strukturen zusammenzufassen. Das Problem besteht dabei m.E. nicht allein darin, idiographische Daten nomothetisch auswerten zu wollen (Patry/Gastager, 2002), sondern auch darin, dass die komprimierte Darstellung der Strukturbilder angesichts ähnlicher Begriffe von unterschiedlichen subjektiven Bedeutungen dieser Begriffe und ihrer Zusammenhänge ablenkt, mithin der idiographische Charakter dieser Daten leicht aus dem Blick gerät. Die bisher entwickelten Verfahren lösen das Problem, subjektive Bedeutungsgefüge zu intersubjektiven Äquivalenzen zusammenzufassen, nicht zufrieden stellend. Auch erscheinen die Ergebnisse so genannter ‚aggregierter‘ Theoriestrukturen angesichts der Datenreduktion, die ihre Herstellung erfordert, inhaltlich wenig überzeugend. Nomothetische Forschungs-interessen könnten meiner Ansicht nach durch den parallelen Einsatz herkömmlicher Fragebögen methodologisch fundierter erfolgen und differenziertere Ergebnisse hervorbringen. 139
INTERKULTURELLES LERNEN
Um auch die in den Relationen enthaltene Information berücksichtigen zu können, wurden in einem zweiten Schritt die Verbalisierungen interpretiert. Da diese als Text vorlagen, konnte hierzu eine textanalytische Methode eingesetzt werden. Es wurde ein induktives Verfahren gewählt: Kodierkategorien wurden aus den Daten entwickelt, am Text überprüft und zur Kodierung der Verbalisierungen verwendet. Wo sich im Einzelfall Fragen nach dem Ursprung einzelner Inhalte ergaben, wurde auf die Interviewtranskripte zurückgegriffen. Da in den Strukturbildern, und somit auch in den Verbalisierungen, jedoch auch Inhalte enthalten sind, die in den Interviews nicht genannt wurden, waren Vergleiche nur punktuell möglich. Ergebnisse dieser Auswertungsschritte sind in Kapitel 6 dargestellt.
Interview zur allgemeinen Lebenssituation Die offenen Interviews zur allgemeinen Lebenssituation wurden ebenfalls in voller Länge in literarischer Umschrift transkribiert. Angaben zu Personen und Orten sowie andere Angaben, die eine Identifizierung des Interviewpartners ermöglicht hätten, wurden sodann im Transkript verfremdet. Eine erste Auswertung zielte auf die Erstellung von ‚Kurzbiographien‘ der Interviewpartner. Hierzu wurden Aussagen zur Lebens- und Arbeitssituation zusammengetragen und zu einer kurzen Fallgeschichte verdichtet. Der zweite, wesentlichere Auswertungsschritt schloss sich der Strukturbildanalyse an. Da sich bei der Auswertung der Strukturbilder zeigte, dass insbesondere Fragen nach erklärenden Faktoren der dort beobachteten Veränderungen durch die Strukturbilder allein nicht beantwortet werden konnten, wurden ausgewählte Fälle unter Einbezug der offenen Interviewteile nach den Grundprinzipien des Grounded Theory-Ansatzes (vgl. Glaser/Strauss, 1979; Strauss/Corbin, 1990; Strauss, 1994) vertieft analysiert. Charakteristika der Strukturbilder dienten dabei zur Auswahl von ‚Einzelfällen‘, wobei ein maximaler Kontrast im Hinblick auf die in der Strukturbildanalyse als relevant identifizierten Merkmale angestrebt wurde. Einzelfallanalysen beruhten sodann auf mehreren Kodierschritten (offenes Kodieren, axiales Kodieren, selektives Kodieren), die im Rahmen der Grounded Theory expliziert (z.B. Strauss, 1994) wurden. Zur Kodierung wurde das Computerprogramm Atlas/ti eingesetzt, das für die Datenauswertung bzw. Theorieentwicklung im Sinne des Grounded Theory-Ansatzes konzipiert wurde. Im Rahmen der Einzelfallanalysen resultierte daraus die Identifikation eines ‚Kernthemas‘ (analog etwa einer „Schlüsselkategorie“, Strauss, 1994), das Integrations- und Erklärungskraft für eine große Zahl von Kategorien innerhalb des Interviewtranskripts sowie über alle drei Interviewtranskripte der Person hinweg aufwies. Das von mir gewählte Vorgehen war jedoch nicht in jeder Hinsicht dem Grounded Theory-Ansatz verpflichtet. So begannen die Einzelfallanalysen zwar mit offenem Kodieren, jedoch brach ich die Analyse im Stadium des selektiven Kodierens jeweils dann ab, wenn im Hinblick auf das jeweilige Kernthema ein 140
DURCHFÜHRUNG
gewisser Sättigungsgrad erreicht wurde, der es gerechtfertig erscheinen ließ, dieses Kernthema auf die übergeordnete Fragestellung nach Dynamik und Ablauf interkulturellen Lernens anzuwenden. Auf weitere Feinanalysen der Interviewtranskripte habe ich hier verzichtet; auch folgte der Ermittlung der Kernthemen keine neue Runde der Datenerhebung. Die Auswertung der offenen Interviewteile erfolgte damit in pragmatischer Abwägung der Erfordernisse eines methodologisch fundierten Vorgehens und dem Interesse, den Auswertungsaufwand überschaubar zu halten und die übergeordnete Forschungsfrage nicht aus den Augen zu verlieren (zur Begründung eines ähnlichen flexiblen Umgangs mit dem Grounded Theory-Ansatz siehe etwa Breuer, 1996). Insofern der Rückbezug der individuellen Kernthemen Aufschluss auf den Lernprozess über ‚Gesicht‘ ergab, wurden die als relevant ermittelten Faktoren in einem dritten Schritt fallübergreifend auf ihren Erklärungswert überprüft. Ergebnisse dieser fallvergleichenden Analyse sind in Kapitel 8 dargestellt.
141
6. D E R L E R N P R O Z E S S
IM
SPIEGEL
DER
STRUKTURBILDER
Dieses sowie die folgenden beiden Kapitel beschäftigen sich mit Antworten auf die oben formulierte Untersuchungsfrage nach Inhalten, Verlauf und differenzierenden Bedingungen des Lernens über ‚Gesicht‘. Dafür stehen verschiedene Datenquellen zur Verfügung, deren Beitrag zur Beantwortung der aufgezählten Teilaspekte unterschiedlich ausfällt. Die Strukturbilder und Interviewteile zum Thema ‚Gesicht‘ geben Auskunft darüber, was zu welchen Zeitpunkten gelernt wurde und weisen auf interindividuelle Unterschiede hin. Bedingungen und Moderatoren individueller Lernverläufe lassen sich ihnen jedoch nicht entnehmen. Erst der Einbezug der offenen Interviewteile ermöglicht das Nachzeichnen individueller Lebens- und Bedeutungszusammenhänge, vor deren Hintergrund verstehbar wird, warum bestimmte Inhalte gelernt werden, warum bestimmte andere Inhalte nicht gelernt werden und welche Faktoren auf den Lernprozess Einfluss nehmen. Die Darstellung der Ergebnisse folgt im Wesentlichen der skizzierten Abfolge. In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Strukturbildanalyse vorgestellt, wobei sich allgemeine Tendenzen des Lernprozesses ebenso abzeichnen wie interindividuelle Unterschiede hinsichtlich Komplexität und Inhalt der Strukturbilder. Diesen Unterschieden wird im nächsten Kapitel in Einzelfallanalysen nachgegangen, die zusätzlich zu den Strukturbildern Lebensberichte (der offenen Interviewteile) interpretativ heranziehen. Insofern in den Einzelfallanalysen moderierende Faktoren aufscheinen, für die eine allgemeine Gültigkeit angenommen werden kann, dienen diese Kapitel 8 als Grundlage für fallvergleichende Analysen. Der Einsatz eines Strukturlegeverfahrens barg im Rahmen der durchgeführten Untersuchung in zweifacher Hinsicht Risiken: Zum einen zielte meine Befragung auf ein Thema, über das die Teilnehmer – so meine Erwartung – anfangs nur wenig wissen konnten. Ob die Abbildung in einer Wissensstruktur überhaupt möglich sein würde, war daher zunächst ungewiss. Zum anderen sollte das Verfahren längsschnittliche Veränderungen dokumentieren. Auch hier war nicht vorhersehbar, ob diese Veränderungen in dem gesteckten zeitlichen Rahmen eintreten würden und ob das Verfahren tatsächlich zu ihrer Dokumentation geeignet sein würde. Entgegen anfänglicher Befürchtungen erwies sich das Verfahren in beider Hinsicht als tauglich. Keinem meiner Interviewpartner war der Begriff ‚Gesicht‘ gänzlich unbekannt, so dass zu Beginn in jedem Fall ein Strukturbild erstellt werden konnte. Zum Teil waren bereits diese ersten Bilder inhaltlich umfangreich und strukturell komplex. Im Laufe der Zeit wurden alle Strukturbilder von meinen Gesprächspartnern verändert 143
INTERKULTURELLES LERNEN
und ergänzt, wobei sowohl die Struktur als auch die Inhalte differenziert und erweitert wurden. Da aus Platzgründen hier auf die Darstellung aller 44 Grafiken verzichtet werden muss, sollen Inhalt und Weiterentwicklung der Strukturbilder anhand eines ausgewählten Beispiels vorgestellt werden. Für weitere Analysen wird sodann auf Inhalte aller Strukturbilder zurückgegriffen, ohne diese jedoch in vollem Umfang darzustellen.1
Das Datenformat am Beispiel Weber Herr Weber ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews zweiundvierzig Jahre alt, Ingenieur und für zwei Jahre nach Taiwan entsandt. Es ist sein erster längerer Auslandsaufenthalt und überdies sein erster Aufenthalt in der asiatischen Region. Das Angebot des Auslandseinsatzes hat er ohne langes Überlegen angenommen, denn ihn reizt die berufliche Herausforderung sowie die Möglichkeit, durch Mitarbeit in einem internationalen Team seine englischen Sprachkenntnisse zu verbessern und im Ausland „andere Eindrücke“ (Weber I, 54) zu sammeln. Anders als früher fühlt er sich familiär „relativ ungebunden“ (Weber I, 57), denn nach einer Scheidung leben seine jugendlichen Töchter im Haushalt ihrer Mutter, und er hält die Gelegenheit für einen Auslandsaufenthalt für günstig (ebd.). Im folgenden Abschnitt wird die Information der Strukturbilder aus Gründen der besseren Lesbarkeit zuerst in Textform wiedergeben (sog. ‚Verbalisierung‘ der Strukturbilder), die Strukturbilder selbst finden sich im Anschluss an die Paraphrase. Erstes Strukturbild: Für Herrn Weber ist ‚Gesicht‘ gleichbedeutend mit ‚Ansehen‘. ‚Gesicht‘ ist außerdem daran geknüpft, ein gleichberechtigter Partner zu sein. Das Gesicht kann verloren gehen, wenn man in Fettnäpfchen tritt. Denselben Effekt hat es, wenn man zugibt, etwas nicht verstanden zu haben, wenn man beim Lügen ertappt wird oder sich als inkompetent erweist. Hat man Gesicht verloren, so kann man das Thema wechseln oder gar nichts unternehmen, es einfach „dabei bewenden lassen“. Weitere Möglichkeiten sind, den Vorfall noch einmal anzusprechen und zu erklären und auch sich ggf. zu entschuldigen. Äußert man sich negativ über das Land (den Kulturkreis, die Sprache) des anderen, so nimmt man ihm das Gesicht. Entsprechend verletzen auch Beleidigungen das Gesicht des anderen. Ist das Gesicht des anderen angegriffen worden, so kann man die Sache auf sich beruhen lassen, wenn der Kontakt normal weitergeht. Ist der Kontakt allerdings gestört, dann wird man versuchen, „eine Brücke zu bauen“, um dem anderen Gesicht wiederzugeben. Mög1 Weitere Strukturbilder bzw. Ausschnitte derselben werden jedoch im Weiteren gelegentlich zu Illustrations- und Belegzwecken herangezogen. 144
STRUKTURBILDANALYSE
lichkeiten hierzu sind: vom Thema ablenken, die Situation ansprechen und erklären, sich entschuldigen oder eine dritte Person als Mittler einschalten. So kann man z.B. bei einem Konflikt einen hochrangigen Mittler einschalten. Das eigene ‚Gesicht‘ kann durch (selbstbewusstes) Auftreten und durch das „Outfit“ (angemessene Kleidung, Auto) gesteigert werden. Dieselbe Wirkung hat es, „Gefolge“ um sich scharen zu können. Gesicht geben kann man dadurch, dass man die Wertschätzung des anderen demonstriert, so zum Beispiel wenn man jemanden, der in der Hierarchie niedriger steht, gleichberechtigt behandelt. Einladungen und Lob geben ebenfalls Gesicht. Gesicht wahren soll verhindern, dass es zu einem Gesichtsverlust entweder bei einem selbst oder beim anderen kommt. Handlungen, die dazu beitragen, sind, die Interessen des anderen explizit mit zu berücksichtigen und statt direkter Kritik die positiven Ansätze beim anderen zu betonen. Auch das Vermeiden von Nachfragen hilft, das Gesicht zu wahren. Hilfreich ist es, stattdessen zu nicken oder „ja“ zu sagen. Unter Umständen führen Anstrengungen, um das Gesicht zu wahren, dazu, dass die gewünschte Handlung des anderen ausbleibt. Zweites Strukturbild: Herr Weber ergänzt, dass auch Ratschläge oder Bevormundungen einer anderen Person Gesicht nehmen. Was das eigene Gesicht angeht, so wirkt sich positiv aus, wenn man einen hierarchischen Führungsstil praktiziert. Hierzu gehört, dass man die Entscheidungskompetenz behält, statt sie abzugeben und Gesprächspartner nur auf dem eigenen Level aussucht. Nützliche Beziehungen werden ebenfalls gesucht und gepflegt, um das eigene Gesicht zu steigern. Hat man Gesicht, so wird man bestrebt sein, es auch zu wahren. Drittes Strukturbild: Herr Weber ergänzt, dass Reaktionen auf einen erlittenen Gesichtsverlust auch „unangemessen“ sein können, bis hin zu „Trotzreaktionen“. Ziel aller Reaktionen ist es, schließlich das Gesicht wiederzuerlangen. Das Benennen von Fehlern verletzt das Gesicht des anderen, egal ob es sich dabei um tatsächliche oder vermeintliche Fehler handelt. Dieselbe Wirkung hat es, wenn man jemanden „klein macht“, zum Beispiel wenn man ihn mit „Argumenten erschlägt“ und gar nicht zu Wort kommen lässt. Gesicht nehmen kann auch mit Absicht geschehen. Ziel ist dabei, die „Hackordnung“ klarzustellen und eigene Ziele durchzusetzen. Anschließend wird der Partner wieder aufgebaut, um ihn nicht als Gegner zu haben. In Bezug auf das eigene Gesicht stellt der gezielte Einsatz von Macht eine Strategie dar, selbst „mehr“ Gesicht zu haben. Dazu gehört, dass man die Mechanismen ‚Gesicht nehmen‘ und ‚Gesicht geben‘ gezielt einsetzt. Wird einem Gesicht gegeben, so erfordert das eine Gegenleistung.
145
INTERKULTURELLES LERNEN
Thema wechseln
in Fettnäpchen treten
Ansprechen, Erklären
zugeben, dass man etwas nicht verstanden hat
Gesicht verlieren
Entschuldigen
es dabei bewenden lassen
beim Lügen ertappt werden
Inkompetenz Interessen des anderen explizit mit berücksichtigen statt direkter Kritik positive Ansätze des anderen betonen
verhindert
Gesicht wahren Überreagieren
Nicken, "ja" sagen statt nachzufragen
Beherrschung verlieren, ausrasten
verhindert
gewünschte Handlung des anderen bleibt aus
sich negativ über das Land des anderen äußern
wenn der Kontakt normal weitergeht
Gesicht nehmen
Beleidigungen
wenn der Kontakt gestört ist
Abbildung 7: Strukturbild Weber I
146
STRUKTURBILDANALYSE
"Gefolge" haben
Gesicht haben
selbstbewusst auftreten teures Auto Outfit
B
angemessene Kleidung
=
Gesicht
Ansehen
gleichberechtigter Partner sein
dabei bewenden lassen
Gesicht geben
Wertschätzung des anderen demonstrieren
B
jmd. in der Hierarchie niedriger Stehenden ernstnehmen, gleichberechtigt behandeln
B
Sprachbarriere gezielt überwinden, manchmal mit Händen und Füßen
Einladungen vom Thema ablenken "eine Brücke bauen"
B
Lob (v.a. in Anwesenheit Dritter)
ansprechen und (deutschen Hintergrund) erklären Entschuldigen Mittler einschalten
B
bei Konflikt hochrangigen Mittler einschalten
147
INTERKULTURELLES LERNEN
Thema wechseln
in Fettnäpchen treten
Ansprechen, Erklären
zugeben, dass man etwas nicht verstanden hat
Gesicht verlieren
Entschuldigen
es dabei bewenden lassen
beim Lügen ertappt werden
Inkompetenz Interessen des anderen explizit mit berücksichtigen statt direkter Kritik positive Ansätze des anderen betonen
verhindert
Gesicht wahren Überreagieren
Nicken, "ja" sagen statt nachzufragen
Beherrschung verlieren, ausrasten
verhindert
gewünschte Handlung des anderen bleibt aus
sich negativ über das Land des anderen äußern
wenn der Kontakt normal weitergeht
Gesicht nehmen
Beleidigungen
Ratschläge (u.U.)
B
jmd. bevormunden
Abbildung 8: Strukturbild Weber II: Veränderungen hervorgehoben
148
wenn der Kontakt gestört ist
STRUKTURBILDANALYSE
nützliche Beziehungen suchen und pflegen hierarchischen Führungsstil praktizieren
Gesprächspartner auf dem eigenen Level aussuchen
B
Entscheidungskompetenz behalten
"Gefolge" haben
Gesicht haben
selbstbewusst auftreten teures Auto Outfit
B
angemessene Kleidung
=
Gesicht
Ansehen
gleichberechtigter Partner sein
dabei bewenden lassen
Gesicht geben
Wertschätzung des anderen demonstrieren
B
jmd. in der Hierarchie niedriger Stehenden ernstnehmen, gleichberechtigt behandeln
B
Sprachbarriere gezielt überwinden, manchmal mit Händen und Füßen
Einladungen vom Thema ablenken "eine Brücke bauen"
B
Lob (v.a. in Anwesenheit Dritter)
ansprechen und (deutschen Hintergrund) erklären Entschuldigen Mittler einschalten
B
bei Konflikt hochrangigen Mittler einschalten
149
INTERKULTURELLES LERNEN
Thema wechseln
in Fettnäpchen treten
Ansprechen, Erklären
zugeben, dass man etwas nicht verstanden hat
Gesicht verlieren
Entschuldigen
es dabei bewenden lassen
beim Lügen ertappt werden
Inkompetenz Interessen des anderen explizit mit berücksichtigen statt direkter Kritik positive Ansätze des anderen betonen
verhindert
Gesicht wahren Überreagieren
Nicken, "ja" sagen statt nachzufragen
Beherrschung verlieren, ausrasten
verhindert
gewünschte Handlung des anderen bleibt aus
sich negativ über das Land des anderen äußern
ohne Absicht
Gesicht nehmen
Beleidigungen
Ratschläge (u.U.)
B
B
wenn der Kontakt gestört ist
jmd. bevormunden Fehler benennen (reale und unreale)
jmd. mit Argumenten erschlagen, nicht zu Wort kommen lassen
mit Absicht
jmd. "klein machen"
Abbildung 9: Strukturbild Weber III: Veränderungen hervorgehoben
150
wenn der Kontakt normal weitergeht
Hackordnung klarstellen, eigene Ziele durchsetzen
Wiederaufbau um Partner nicht als 100%igen Gegner zu haben
STRUKTURBILDANALYSE
Macht gezielt einsetzten, G. nehmen und geben
nützliche Beziehungen suchen und pflegen
Gesicht wiedererlangen
hierarchischen Führungsstil praktizieren
Gesprächspartner auf dem eigenen Level aussuchen
B
Entscheidungskompetenz behalten
"Gefolge" haben
Gesicht haben
selbstbewusst auftreten teures Auto Outfit
B
angemessene Kleidung
=
Gesicht
Ansehen
gleichberechtigter Partner sein
erfordert Gegenleistung
dabei bewenden lassen
Gesicht geben
Wertschätzung des anderen demonstrieren
B
jmd. in der Hierarchie niedriger Stehenden ernstnehmen, gleichberechtigt behandeln
B
Sprachbarriere gezielt überwinden, manchmal mit Händen und Füßen
Einladungen "eine Brücke bauen"
B
vom Thema ablenken
Lob (v.a. in Anwesenheit Dritter)
ansprechen und (deutschen Hintergrund) erklären Entschuldigen Mittler einschalten
B
bei Konflikt hochrangigen Mittler einschalten
151
INTERKULTURELLES LERNEN
Wissen über ‚Gesicht‘: Inhalte der Strukturbilder Wie oben beschrieben, waren die Interviews und Strukturbilder um die vier Themenfelder ‚Gesicht verlieren‘, ‚Gesicht nehmen‘, ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ herum aufgebaut. Weiterhin wurde jeweils nach Antezedensund Folgehandlungen unterschieden. Zunächst werden die von den Interviewpartnern genannten Aspekte den vier Themenfeldern sowie den einzelnen Untersuchungszeitpunkten in Form von Übersichtstabellen zugeordnet. In der Zusammenschau wird so erkennbar, welche Inhalte zu welchen Zeitpunkten von welchen Personen genannt wurden. Hieraus lassen sich erste Aussagen für Verlauf und Inhalt von Lernprozessen ableiten. Die nachfolgenden Tabellen beruhen auf Inhalten der Strukturbilder. Ähnliche Aussagen wurden gruppiert, wobei versucht wurde, jedes Thema durch mehrere – als ähnlich beurteilte – Aussagen zu charakterisieren. Personennamen weisen aus, wer zu welchem Zeitpunkt entsprechende Aussagen beigesteuert hat. Dabei wurde für jeden Zeitpunkt die Zahl der Nennungen festgehalten. Äußerten sich Personen zu verschiedenen Zeitpunkten zu denselben Themen, so ist ihr Name in Bezug auf ein Thema mehrfach, jedoch nach unterschieden Zeitpunkt vermerkt. Als ‚Äußerung‘ galt jeweils der Inhalt eines StrukturbildKästchens, unabhängig davon, ob es sich um zentralere Kategorien oder lediglich um Beispiele handelte. Pro Zeitpunkt und Thema geht jede Person jedoch höchstens einmal in die Zählung ein, auch wenn sie mehrere Beispiele zum selben Thema nannte. In die Darstellung wurden nur solche Themen aufgenommen, die im Verlauf der gesamten Untersuchung von mindestens zwei verschiedenen Personen genannt wurden. Damit sollte verhindert werden, dass eine große Zahl an Einzelbeiträgen, die für das Gesamtbild wenig typisch sind, zu einer Unübersichtlichkeit der Tabelle führte. Ziel war dabei, die in den Strukturbildern genannten Kategorien (und damit die dort festgehaltene Abstraktionstiefe) möglichst zu erhalten und nicht neue übergeordnete Kategorien einzuführen.
Definition Alle Interviewpartner wurden gebeten, ihr subjektives Verständnis des Begriffes ‚Gesicht‘ zu erläutern. Gesicht wurde dabei häufig mit „Ansehen“ oder „Prestige“ gleichgesetzt. Auch wurde ‚Gesicht‘ als „Maske“ oder „äußeres Selbst“ beschrieben, das nach außen gerichtet ist und zugleich das Innere nicht unmittelbar preisgibt. Definitionen von ‚Gesicht‘ wurden nur selten bei den späteren Untersuchungstreffen verändert. Zwei Personen ergänzten jedoch, dass ‚Gesicht‘ einen eingeschränkten Geltungsbereich habe, der sich nicht auf Ausländer erstrecke. Ausländer hätten per Definition nur eingeschränkt ‚Gesicht‘. 152
STRUKTURBILDANALYSE Strukturbild I
Strukturbild II
Ansehen, Prestige (8) Alain, Denise, Julian, Klaus, Matthias, Stefan, Torsten, Weber
Ausländer haben nur eingeschränkt Gesicht (2) Marion, Richard2
Strukturbild III
Maske, äußeres Selbst (5) Beate, Denise, Julian, Stefan, Torsten Bild, das andere von einem haben, Image (4) Holter, Marion, Matthias, Stefan Ehre (3) Alice, Klaus, Richard Sozialer Status, Autorität (3) Holter, Schneider, Torsten Wie sehr man als Teil der Gesellschaft akzeptiert ist (2) Marion, Richard Würde (2) Marion, Richard Moderierend: Bei engen Kontakten nicht so wichtig (3) Denise, Julian, Richard Tabelle 3: Kategorien zur Definition von ‚Gesicht‘
Gesicht verlieren Das Themenfeld ‚Gesicht verlieren‘ ist zum ersten Interviewzeitpunkt bereits ausführlich repräsentiert. Alle Interviewpartner hatten z.T. recht differenzierte Vorstellungen über Handlungen und Gegebenheiten, die einen Gesichtsverlust nach sich ziehen können sowie über entsprechende Folgehandlungen nach einem Gesichtsverlust. Antezedensbedingungen und Folgen sind in jeweils getrennten Tabellen dargestellt. 2 Paul definiert Gesicht durch den Hinweis, es habe damit zu tun, „andere nicht bloßzustellen“ (vgl. Strukturbild Paul I). Diese Begriffsbestimmung konnte keiner der hier aufgelisteten Kategorien zugeordnet werden. 153
INTERKULTURELLES LERNEN
Handlungen und Umstände, die zum Gesichtsverlust führen In Bezug auf genannte Handlungen, die zum Gesichtsverlust führen, fällt auf, dass die Zahl der genannten Kategorien begrenzt ist und die Aspekte jeweils mit recht hoher Übereinstimmung genannt werden. Bemerkenswert ist auch der im Vergleich zu anderen Themenfeldern höhere Abstraktionsgrad einzelner Kategorien (z.B. „gesellschaftliche Normen verletzen“), deren Benennung in der Wortwahl den Äußerungen mehrerer Interviewpartner folgt. Auffällig ist weiterhin, dass dieser Teil der Strukturbilder nur in wenigen Fällen zu späteren Untersuchungszeitpunkten noch ergänzt oder verändert wird. Es scheint, als bestünden zum Zeitpunkt der ersten Befragung recht einheitliche Ansichten darüber, wie es zu einem Gesichtsverlust komme, die auch im Verlauf der Zeit nicht wesentlich revidiert werden müssen. Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
Gesellschaftliche Normen verletzen (7) Alain, Beate, Marion, Matthias, Paul, Schneider, Torsten
Fehler machen (1) Julian
Erwartungen enttäuschen (1) Julian
Erwartungen enttäuschen (1) Klaus
Fehler machen (6) Alain, Beate, Holter, Klaus, Paul, Stefan Unwissenheit, Unvermögen offenbaren (6) Alain, Alice, Klaus, Matthias, Paul, Weber In ein Fettnäpfchen treten (6) Alain, Denise, Julian, Paul, Torsten Weber Beherrschung verlieren (4) Denise, Holter, Julian, Stefan Erwartungen enttäuschen (3) Denise, Matthias, Richard, Hierarchien missachten (3) Alain, Holter, Paul Beim Lügen ertappt werden (2) Denise, Weber Tabelle 4: Handlungen und Umstände, die zum Gesichtsverlust führen 154
STRUKTURBILDANALYSE
Mögliche Handlungen, nachdem man selbst ‚Gesicht‘ verloren hat Eine Schwierigkeit der Darstellung möglicher Folgehandlungen ergibt sich daraus, dass ein Gesichtsverlust selbstverschuldet oder durch Verschulden einer anderen Person eintreten kann. Für die Reaktionen auf einen erlittenen Gesichtsverlust kann das u.U. einen wichtigen Unterschied darstellen. Auch dieser Teil des Themenfeldes ‚Gesicht verlieren‘ ist bereits zum ersten Untersuchungszeitpunkt relativ ausführlich repräsentiert, doch existiert eine etwas größere Uneinigkeit bei den genannten Handlungsmöglichkeiten. Zu den beiden weiteren Untersuchungszeitpunkten werden Erweiterungen der Strukturbilder vorgenommen, wobei hier vor allem passive Reaktionen oder Rückzugshandlungen genannt werden. Proaktive Handlungen wie „erklären, ansprechen“, „konstruktive Lösung“ werden zu diesen späteren Treffen nicht neu aufgeführt. Stattdessen wird von zwei Personen die eher destruktive Möglichkeit erwähnt, Kooperation zu verweigern. Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
Wenn selbst oder durch andere verschuldet
Wenn selbst oder durch andere verschuldet
Wenn selbst oder durch andere verschuldet
Distanz, Rückzug (7) Alice, Denise, Matthias, Schneider, Stefan, Torsten, Weber
sich entschuldigen (2) Julian, Paul
andere Anwesende verlieren Gesicht (1) Marion
erklären, ansprechen (4) Alain, Marion, Torsten, Weber sich entschuldigen (3) Alain, Torsten, Weber
gar nichts unternehmen (2) Klaus, Torsten Distanz, Rückzug (1) Julian
Demutshaltung (1) Beate Distanz, Rückzug (1) Beate Verlegenheit (1) Beate
win-win Situation herstellen (3) Denise, Paul, Richard Verhalten künftig ändern (3) Alain, Denise, Marion Beeinträchtigung des Images (2) Beate, Marion Verlegenheit (2) Julian, Matthias andere Anwesende verlieren Gesicht (1) Julian 155
INTERKULTURELLES LERNEN
Demutshaltung (1) Schneider gar nichts unternehmen (1) Weber Wenn durch andere verursacht zusätzlich auch: Abbruch der Kommunikation (6) Denise, Holter, Julian, Klaus, Matthias, Richard
Wenn durch andere verursacht zusätzlich auch: Abbruch der Kommunikation (1) Torsten
Wenn durch andere verursacht zusätzlich auch: Kooperation verweigern (2) Denise, Weber
Aggression (6) Alice, Matthias, Richard, Schneider, Stefan, Torsten Tabelle 5: Mögliche Handlungen, nachdem man selbst ‚Gesicht‘ verloren hat
Gesicht nehmen Handlungen, Umstände die jemand anders ‚Gesicht‘ nehmen Das ‚Gesicht‘ einer anderen Person kann durch eine Fülle von Handlungen angegriffen werden. Direkte Kritik, Herabsetzungen oder unverblümte Absagen sind Handlungen, die von etlichen Interviewpartnern genannt werden. Im weiteren Untersuchungsverlauf werden dabei keine wesentlichen Ergänzungen vorgenommen. Auch hier scheint bereits beim ersten Untersuchungstreffen recht große Klarheit und Einigkeit über gesichtsbedrohende Handlungen zu herrschen. Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
(Direkte) Kritik (11) Alain, Alice, Beate, Holter, Julian, Klaus, Marion, Richard, Schneider, Stefan, Weber
die höhere Stellung des anderen missachten (1) Stefan
jemanden ‚schneiden‘, nicht beachten (1) Schneider
direkte Absagen (1) Alain
jemanden bloßstellen (1) Weber
jemanden ‚klein‘ machen, lächerlich machen (1) Stefan
jemanden ‚klein‘ machen, lächerlich machen (1) Weber
andere Person herabsetzen, beleidigen (5) Alice, Denise, Klaus, Richard, Weber direkte Absagen (5) Klaus, Paul, Richard, Schneider, Stefan 156
schlecht über jemanden reden (1) Beate
STRUKTURBILDANALYSE die höhere Stellung des anderen missachten (4) Alain, Holter, Julian, Paul jemanden ‚schneiden‘, nicht beachten (3) Alice, Holter, Marion jemanden bloßstellen (4) Alice, Julian, Paul, Stefan jemanden zurechtweisen (2) Matthias, Schneider jemanden ‚klein‘ machen, lächerlich machen (1) Holter schlecht über jemanden reden (2) Denise, Stefan unfreundlich sein (2) Alain, Stefan Moderierend:
Moderierend:
Moderierend:
umso schlimmer, wenn andere ranghöher (1) Stefan
umso schlimmer, wenn andere ranghöher (1) Julian
umso schlimmer, wenn vor Dritten (1) Beate
umso schlimmer, wenn vor Dritten (3) Julian, Paul, Stefan
umso schlimmer, wenn vor Dritten (1) Richard
Tabelle 6: Handlungen und Umstände, die jemand anders ‚Gesicht‘ nehmen
Mögliche Handlungen, nachdem man jemand anders ‚Gesicht‘ genommen hat Dagegen ergeben sich in Bezug auf mögliche Folgehandlungen bei einigen Interviewpartnern wichtige Veränderungen. Sie stellen fest, dass ‚Gesicht‘ bisweilen auch in voller Absicht genommen wird, um nach der Demontage der anderen Person eigene Machtansprüche besser durchsetzen zu können. Auch in Bezug auf mögliche ‚Reparaturmöglichkeiten‘ werden Handlungsweisen ergänzt, wobei eine Orientierung zu nonverbalen Strategien auffällt. Insgesamt finden sich in den beiden Themenfeldern ‚Gesicht verlieren‘ und ‚Gesicht nehmen‘ im Vergleich zu den anderen beiden Themenfeldern (‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘) nur wenige Ergänzungen.
157
INTERKULTURELLES LERNEN Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
ansprechen, klären (7) Alain, Denise, Holter, Klaus, Marion, Schneider, Weber
ansprechen, klären (1) Stefan
klären (1) Torsten
auf sich beruhen lassen (7) Alice, Denise, Holter, Klaus, Marion, Paul, Weber
Gesicht wiedergeben (1) Paul
sich entschuldigen (7) Alain, Alice, Denise, Julian, Marion, Schneider, Stefan
Geschenke (1) Matthias
sich um Kontakt bemühen (2) Paul, Schneider
auf sich beruhen lassen (1) Richard Geschenke (1) Beate sich entschuldigen (1) Beate Gesicht wiedergeben (1) Beate sich um Kontakt bemühen (1) Beate
sich um Kontakt bemühen (5) Alice, Holter, Paul, Richard, Weber
Vermittler einschalten (1) Schneider
Gesicht wiedergeben (5) Alice, Julian, Klaus, Stefan, Weber Wertschätzung demonstrieren (4) Holter, Marion, Richard, Stefan Geschenke (3) Holter, Richard, Stefan Thema wechseln (2) Julian, Weber Vermittler einschalten (2) Stefan, Weber Fehler künftig vermeiden (2) Alice, Marion Wenn Gesicht absichtlich genommen:
Wenn Gesicht absichtlich genommen:
Wenn Gesicht absichtlich genommen:
eigene Interessen durchsetzen, Macht demonstrieren (1) Schneider, Torsten
eigene Interessen durchsetzen, Macht demonstrieren (1) Torsten
eigene Interessen durchsetzen, Macht demonstrieren (1) Schneider, Stefan, Weber
Tabelle 7: Handlungen, nachdem man jemand anders ‚Gesicht‘ genommen hat
158
STRUKTURBILDANALYSE
Gesicht haben Handlungen, Umstände, die sich auf das eigene ‚Gesicht‘ positiv auswirken Das Themenfeld ‚Gesicht haben‘ ist mit einer großen Zahl von Handlungen oder Umständen verknüpft, die sich auf das eigene Gesicht positiv auswirken. Das inhaltliche Spektrum ist dabei beträchtlich. Die große Zahl an Themen kommt jedoch teilweise durch das geringere Abstraktionsniveau zustande. Auffallend ist, dass in diesem Themenfeld ein deutliches Ungleichgewicht von Antezedenshandlungen und Folgen zu verzeichnen ist: Einer großen Zahl von Antezedensbedingungen stehen nur wenige genannte Reaktionen oder Folgen gegenüber. Unmittelbar auffallend ist ferner, dass auch zu den späteren Untersuchungszeitpunkten eine Vielzahl von Ergänzungen vorgenommen wird. Eine genauere Betrachtung enthüllt, dass bei den späteren Treffen auch inhaltlich andere Schwerpunkte gesetzt werden. Einige Themen, die nun bedeutsam werden, sind beim ersten Treffen zum Teil noch gar nicht (z.B. „Macht“) oder weniger häufig (z.B. „wichtige soziale Kontakte haben“) genannt worden. Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
gutes Benehmen, achtungsvoller Umgang mit anderen (8) Alain, Alice, Denise, Holter, Matthias, Paul, Richard, Stefan
wichtige soziale Kontakte haben (4) Alice, Klaus, Schneider, Weber
großzügig sein, Geschenke machen (3) Alain, Klaus, Matthias
Statussymbole (6) Denise, Holter, Klaus, Paul, Richard, Schneider materieller Besitz, Geld (5) Alain, Alice, Denise, Holter, Torsten
Status, angesehener Beruf (3) Klaus, Richard, Alice Statussymbole (3) Alice, Paul, Schneider großzügig sein, Geschenke machen (2) Alice, Matthias
erwünschte Fähigkeiten besitzen (3) Klaus, Matthias, Beate Macht haben (2) Weber, Schneider wichtige soziale Kontakte haben (2) Beate, Paul Bildung (1) Klaus
geachtet werden (4) Beate, Julian, Holter, Schneider
Macht haben (2) Alice, Holter
großzügig sein, Geschenke machen (4) Denise, Matthias, Paul, Schneider
Bewusstes Understatement mit strategischem Interesse (2) Paul, Weber
Status, angesehener Beruf (4) Torsten, Klaus, Paul, Denise
gutes Aussehen (1) Klaus
Erfolg haben (1) Matthias hohes Lebensalter (1) Paul Status, angesehener Beruf (1) Beate Statussymbole (1) Beate
gute Leistungen (1) Stefan 159
INTERKULTURELLES LERNEN
gute Leistungen (3) Alain, Julian, Marion
gutes Benehmen (1) Alice
Fachkompetenz, Wissen (3) Holter, Julian, Torsten
hohes Lebensalter (1) Alain
Bescheidenheit (2) Alice, Matthias
selbstbewusstes Auftreten (1) Torsten
selbst erarbeiteter Wohlstand (2) Alain, Marion ‚Outfit‘, Kleidung (2) Paul, Weber Entscheidungsrecht haben (2) Holter, Weber gut aussehen, westlich aussehen (2) Denise, Richard wichtige soziale Kontakte haben (2) Denise, Klaus Bildung (1) Alain Erfolg haben (1) Klaus erwünschte Fähigkeiten besitzen (1) Denise selbstbewusstes Auftreten (1) Weber Tabelle 8: Handlungen, Umstände, die das eigene ‚Gesicht‘ mehren
Folgen von ‚Gesicht haben‘ Die meisten Interviewpartner begnügen sich mit der Aufzählung von Faktoren, die sich positiv auf das eigene Gesicht auswirken. Doch bemerken andere, dass viel ‚Gesicht‘ zu haben selbst Folgen nach sich zieht, die vor allem in einem erweiterten Handlungsspielraum bestehen. Dies wird nur von einer Person (die bereits über anderweitige langjährige Asienerfahrung verfügt) zum ersten Untersuchungszeitpunkt erkannt. Dass ‚Gesicht‘ zu haben mehr „Möglichkeiten“ erschließt und zum eigenen Vorteil eingesetzt werden kann, wird typischerweise beim zweiten oder dritten Untersuchungstreffen ergänzt.
160
STRUKTURBILDANALYSE Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
sichert eigenen Vorteil, mehr Einfluss (1) Alice
größere Freiheit im Verhalten, mehr Möglichkeiten (3) Alain, Klaus, Richard
Gesicht als Tauschwert (2) Beate, Klaus
Sorge um das Gesicht, Oberflächlichkeit (1) Denise verpflichtet, sich entsprechend der Position zu verhalten (1) Richard
herablassendes Verhalten gegenüber Personen mit weniger Gesicht (2) Alain, Richard
Sorge um das Gesicht (2) Denise, Paul Sichert den eigenen Vorteil, mehr Einfluss (1) Holter
Sorge um das Gesicht (1) Weber
Tabelle 9: Folgen von ‚Gesicht haben‘
Gesicht geben Handlungen, die anderen ‚Gesicht‘ geben Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch für das Themenfeld ‚Gesicht geben‘ ab. Auch hier finden sich viele Ergänzungen zu den späteren Untersuchungszeitpunkten. Während „Lob“ in seiner Bedeutung typischerweise schon zum ersten Interviewtermin erwähnt wird, werden insbesondere indirekte oder nonverbale Strategien bei den späteren Treffen ergänzt. Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
Lob (9) Alain, Beate, Holter, Julian, Marion, Richard, Stefan, Torsten, Weber
jemanden als statushöher anerkennen (3) Alain, Stefan, Torsten
Einladungen, Geschenke (3) Alice, Klaus, Paul
Komplimente, Schmeicheleien (5) Alice, Klaus, Marion, Matthias, Richard Einladungen, Geschenke (5) Holter, Klaus, Richard, Schneider, Weber Interesse, Wertschätzung zeigen (4) Marion, Richard, Schneider, Weber
Interesse, Wertschätzung zeigen (2) Alain, Holter
Komplimente, Schmeicheleien (2) Paul, Stefan
beim Vorstellen Status geben (1) Alain Einladungen, Geschenke (1) Holter jemanden vor Gesichtsverlust retten (1) Julian Lob (1) Paul
161
INTERKULTURELLES LERNEN
sich um jemanden kümmern, unterstützen (4) Holter, Klaus, Marion, Schneider
Dem anderen Möglichkeit zur positiven Selbstdarstellung geben (1) Alice
beim Vorstellen Status geben (2) Beate, Matthias
sich um jemanden kümmern, unterstützen (1) Alice
Höflichkeit (2) Schneider, Torsten Jemanden vor Gesichtsverlust retten (2) Julian, Schneider Dem anderen Möglichkeit zur positiven Selbstdarstellung geben (1) Paul Tabelle 10: Handlungen, die anderen ‚Gesicht‘ geben
‚Gesicht geben‘: Folgen Jemandem durch Lob, Schmeicheleien oder Geschenke ‚Gesicht‘ zu geben bleibt nicht ohne Folgen. Wird jemandem Gesicht gegeben, so erfordert dies von ihm eine „Gegenleistung“, die ihrerseits verschiedenste Formen (von einer verbalen Replik bis hin zur Gewährung finanzieller Vorteile) annehmen kann. Der Umstand, dass ‚Gesicht‘ in ein Ritual von Geben und Erwidern eingebettet ist und damit als „Tauschwert“ (Beate 1) verstanden werden kann, wird häufig erst im Verlauf des Aufenthalts in Taiwan erkannt. Immerhin die Hälfte der Interviewpartner erwähnt diesen Aspekt von ‚Gesicht‘ zu keinem der drei Untersuchungszeitpunkte. Strukturbild I
Strukturbild II
Strukturbild III
erfordert Gegenleistung (3) Alice, Beate, Schneider
erfordert Gegenleistung (1) Alain
erfordert Gegenleistung (3) Klaus, Paul, Weber
steigert das eigene Gesicht (1) Schneider
steigert das eigene Gesicht (1) Beate
Tabelle 11: Folgen von ‚Gesicht geben‘
162
STRUKTURBILDANALYSE
Veränderung der formalen Strukturmerkmale Zunahme von Inhalten und Relationen Aus den oben dargestellten Ergebnissen ist ersichtlich, dass eine wesentliche Veränderung der Strukturbilder darin besteht, dass zusätzliche Kästchen in die Darstellung aufgenommen werden. Nur in seltenen Fällen werden Kästchen wieder entfernt. Mit zunehmender Zahl der Kästchen steigt naturgemäß auch die Zahl vorhandener Relationen. Darüber hinaus bestehen Veränderungen jedoch auch in zwei anderen Formen der Ergänzung: a) bestehende Inhalte werden durch neue Relationen verknüpft, und b) differenzierende Relationen (‚unter der Bedingung, dass…‘) werden eingefügt. Das Einfügen neuer Relationen repräsentiert dabei ebenso neues Wissen wie neu aufgenommene Inhalte (= Kästchen). Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. So repräsentiert etwa die Verknüpfung der Themenfelder ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ durch einen Doppelpfeil die Aussage, dass das Geben von ‚Gesicht‘ sich positiv auf das eigene ‚Gesicht‘ auswirkt und umgekehrt, dass Personen mit viel ‚Gesicht‘ eher in der Lage sind, anderen ‚Gesicht‘ zu geben. Dieser Zusammenhang erschließt sich einigen Interviewpartnern im Laufe ihres Aufenthalts, so dass das Hinzufügen einer Relation hier neu erworbenes Wissen repräsentiert (siehe z.B. Klaus, Schneider, Beate, Richard). Das Einführen differenzierender Bedingungen bildet die Erkenntnis ab, dass eine bisher angenommene Regel oder die Wahl einer bestimmten Handlung nicht in jedem Fall, sondern nur unter bestimmten Bedingungen gültig bzw. zielführend ist. So geht etwa Klaus davon aus, eine Möglichkeit, nachdem man einer anderen Person Gesicht genommen habe, bestehe darin, das „Problem noch einmal verständnisvoller anzusprechen“ (vgl. Strukturbild Klaus I). Zum letzten Untersuchungszeitpunkt differenziert er unter Einführung einer neuen Bedingung: Nur, wenn man mit dem anderen „gut bekannt“ sei, könne man das Problem noch einmal ansprechen. Andernfalls könne man dem anderen durch bestimmte Handlungen „Gesicht wiedergeben“. Das Einführen einer differenzierenden Bedingung repräsentiert unmittelbar neues Wissen, verlangt jedoch zusätzlich die Berücksichtung der alternativen Bedingung (hier: „wenn nicht gut bekannt“), was dann häufig auch zur Aufnahme neuer Inhalte führt. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Differenzierung danach, ob das ‚Gesicht‘ einer anderen Person versehentlich oder mit Absicht verletzt wurde. Auch hier schließen sich (je nach Absichtlichkeit) unterschiedliche Folgehandlungen an, die zugleich mit der neuen Relation ergänzt werden. (Eine solche spätere Differenzierung nach „Absicht“ im Zusammenhang mit ‚Gesicht nehmen‘ erfolgt bei Torsten, Weber und Stefan.) Lerneffekte drücken sich gleichermaßen in der Zunahme der Relationen wie in der Zunahme (bzw. Wegfall) von Inhalten aus.
163
INTERKULTURELLES LERNEN
Ungleichmäßige Repräsentation der vier Themenfelder Eine Betrachtung der Strukturbilder zeigt, dass Veränderungen unterschiedlichen Mustern folgen. Wie bereits unter Bezug auf die vier Themenfelder von ‚Gesicht‘ erwähnt, sind insbesondere die Themen ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ zunächst nur mit wenigen Inhalten und Relationen vertreten. Im Verlauf der Untersuchung werden hier jedoch die meisten Inhalte ergänzt. In Bezug auf die beiden genannten Themenfelder lassen sich zugleich große interindividuelle Unterschiede erkennen. Manche Untersuchungsteilnehmer füllen bis zuletzt das Themenfeld ‚Gesicht geben‘ mit nur wenigen Inhalten (z.B. Denise, siehe Kapitel 7).
Lernverläufe Auffallend ist, dass nicht bei allen Teilnehmern zu allen Zeitpunkten gleichermaßen Veränderungen festzustellen sind. Drei Muster zeichnen sich ab: a) etwa gleiche Anzahl von Veränderungen zu beiden späteren Strukturlegeterminen (Stefan, Matthias, Klaus, Richard, Holter, Schneider), b) eine Häufung von Veränderungen zum zweiten Strukturlegetreffen bei nur wenigen Veränderungen zum dritten Strukturlegetreffen (Alain, Alice, Julian, Torsten), c) wenige Veränderungen zum zweiten, dafür eine größere Zahl von Veränderungen zum dritten Strukturlegetreffen (Paul, Weber, Marion, Denise). Die Tabelle gibt die Anzahl sprachlich repräsentierter Veränderungen zu den Strukturlegeterminen II und III wider. Person
Strukturbild II
Strukturbild III
Stefan Matthias Klaus Klaus Holter Schneider
17 9 10 9 3 8
11 13 12 8 1 7
Paul Weber Marion Denise
6 6 2 2
15 13 12 8
Alain Alice Julian Torsten Beate
20 13 14 13 Miss.
4 1 5 4 Miss.
Tabelle 12: Anzahl der sprachlich repräsentierten Veränderungen 164
STRUKTURBILDANALYSE
Unterschiede lassen sich dabei nicht auf Merkmale des ersten Strukturbildes, wie zum Beispiel dessen Komplexität, zurückführen. Weder die Strukturbilder selbst noch grundlegende biographische Merkmale (z.B. Alter, Sprachkenntnisse, Status als Student oder Expat) liefern Anhaltspunkte für eine Erklärung. Insbesondere das dritte Muster (Veränderungen erst zum letzten Untersuchungszeitpunkt) widerspricht üblichen Lernkurven, die durch einen anfänglich steilen, später aber abflachenden Verlauf gekennzeichnet sind. Dieses Muster kann als verzögerter Lernprozess interpretiert werden, wobei mögliche Begründungen sich erst aus vertieften Einzelfallanalysen ergeben. (vgl. die Einzelfallanalyse von Marion, Kapitel 7).
Veränderung der Wissensinhalte Zwar bleibt das anfänglich erstellte Strukturbild wichtige Grundlage auch der späteren Strukturbildversionen, doch sind im Rahmen der Forschungsfragestellung die späteren Veränderungen von besonderem Interesse, da insbesondere aus diesen der Lernprozess in Taiwan erschlossen werden kann. Diese Veränderungen sollen deshalb in einem zweiten Schritt gesondert betrachtet werden. 3 Das Interesse galt dabei insbesondere etwaigen charakteristischen Merkmalen der neu aufgenommenen Wissensinhalte, wobei alle sprachlichen Ergänzungen (also auch jene der neu eingeführten differenzierenden Bedingungen) des zweiten und dritten Untersuchungstreffens berücksichtigt wurden. In Einzelfällen wurde zur Veranschaulichung auf korrespondierende Passagen der Originalinterviews zurückgegriffen. Als charakteristische Merkmale ließen sich dabei die Erfahrungsnähe neu eingeführter Inhalte, spezifische thematische Schwerpunktsetzungen sowie die Zunahme an negativ bewerteten Inhalten ausmachen. Auf alle drei Aspekte soll im Folgenden etwas ausführlicher eingegangen werden.
Neue Inhalte sind erfahrungsnah Die in den Strukturbildern festgehaltenen Wissensinhalte, insbesondere die dort aufgeführten Beispiele (in den Strukturbildern durch ‚B‘ markiert), entstammen in der Regel dem unmittelbaren Lebenszusammenhang des Interviewpartners. Das heißt, dass neu aufgenommene Inhalte in Taiwan gemachte Erfahrungen widerspiegeln. Die Form, in der diese Erfahrungen in den Strukturbildern repräsentiert sind, ist jedoch unterschiedlich. Während einzelne Episoden unmittelbar übernommen werden (z.B. „sich für ein Foto mit Chinesinnen zur Verfügung stellen“, Alice II), dienen andere als Ausgangspunkt für die Ableitung des – nach Meinung des Interviewpartners – zugrunde liegen3 Anders als in den oben vorgestellten Tabellen wurden hierbei sämtliche Veränderungen, d.h. auch solche, die nur bei einzelnen Personen vorkamen, betrachtet. 165
INTERKULTURELLES LERNEN
den abstrakteren Prinzips. Ein Beispiel ist der Bericht von Alain, der von zwei Erlebnissen während eines Besuches der Eltern seiner taiwanesischen Freundin erzählt: Wir hatten zwei Wochen Neujahrsferien, da bin ich nach [Taidong] gefahren, zur Familie meiner Freundin. Und sie hat mir [die Gegend] gezeigt, das war sehr nett. Ihre Eltern sind auch ganz nett. Ihr Vater ist ein bisschen seltsam, nicht richtig seltsam (lacht), aber... also er betrachtet mich als Taiwanesen und behandelt mich entsprechend. Insofern ist es relativ schwer manchmal sozusagen mitzuhalten, weil die Taiwanesen scheinen wirklich sehr auf... wenn jemand kommt, den man relativ gut kennt oder der einem relativ nahe steht, da wird erstmal getrunken, und beim ersten Mal habe ich ihn wohl etwas beleidigt, das ist sicherlich auch sehr interessant (lacht), weil ich abgelehnt habe, mit ihm zu trinken. Aber na ja, beim zweiten Mal wurde ich darauf hingewiesen, ich sollte es doch lieber machen. (Alain II, 104:117) […] also es wurde in der Familie meiner Freundin knallhart drauf geachtet, wie wer anzureden war, und selbst mir wurden mindestens 20 Begriffe beigebracht, wie ich wen anzureden hätte. Und ich stand dann da immer erst mal, „und wie redest du den jetzt an?“. Jedes Mal, wenn ich eine Frage stellen wollte, habe ich erst mal überlegt, „o.k., wer ist das jetzt? O.k., den musst du so und so anreden.“ Das ist sicherlich ein Fall davon, aber ansonsten. I: Von Gesicht, oder wie? A: Ja, ja. Ich meine, wenn man natürlich den älteren Bruder des Vaters mit dem Titel für jüngeren Bruder anredet, dann ist dann sicherlich nicht ganz o.k., und dann guckt der auch ein bisschen seltsam. (Alain II, 1045:1058)
Die konkret erlebten Episoden werden von Alain als Beispiele zweier verschiedener abstrakterer Prinzipien interpretiert. Eine falsche Anrede zu wählen deutet Alain als weiteres Beispiel des – bereits vorhandenen – Aspekts, dass eine Missachtung der (höheren) Stellung des anderen dieser Person ‚Gesicht‘ nimmt. Die Ablehnung, mit dem Vater seiner Freundin zu trinken, dagegen sieht Alain im Strukturbild noch nicht repräsentiert. Er verallgemeinert das konkrete Beispiel zu einer weiter gefassten Regel, die lautet „die Einladung eines anderen abzulehnen, nimmt dieser Person Gesicht“. Die konkrete Situation dient dabei als Ausgangspunkt der Ableitung einer abstrakteren Formulierung. In Alains Strukturbild verändert sich die Repräsentation des Themenfeldes ‚Gesicht nehmen‘ wie folgt:
als Schüler den Lehrer auf einen Fehler hinweisen
der Lehrer verliert umso mehr Gesicht, je eklatanter der Fehler war
B
die (höhere) Stellung des anderen missachten
pampig werden, unfreundlich
ironisch argumentieren
Abbildung 10: ‚Gesicht nehmen‘ im Strukturbild Alain I
166
Gesicht nehmen
STRUKTURBILDANALYSE
als Schüler den Lehrer auf einen Fehler hinweisen
B
die falsche Anrede wählen
die (höhere) Stellung des anderen missachten pampig werden, unfreundlich ironisch argumentieren
der andere verliert umso mehr Gesicht, je eklatanter der Fehler war
Gesicht nehmen
die Einladung eines anderen ablehnen B mit dem Vater der Freundin nicht trinken
Abbildung 11: ‚Gesicht nehmen‘ im Strukturbild Alain II
Aus konkreten Episoden verschiedener Lebenszusammenhänge können identische Prinzipien abgeleitet werden. Typisch ist dabei eine induktive Vorgehensweise, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Identifikation einer Episode als ‚gesichtsrelevant‘ auf der Grundlage des jeweiligen Vorverständnisses des Interviewpartners geschieht. In keinem Fall wurden Strukturbilder aufgrund eines – ebenfalls denkbaren – deduktiven Vorgehens erstellt oder verändert.4 Für die Ergänzung der Strukturbilder bedeutet dies, dass diese das Vorhandensein ‚gesichtsrelevanter‘ Erfahrungen im Lebenskontext des Interviewpartners voraussetzt. Unterschiede der Strukturbilder gehen daher – auch bezüglich abstrakterer Inhalte – immer auch auf die unterschiedlichen Erfahrungssituationen der Interviewpartner zurück. Abstrahierungen greifen häufig auf einzelne erlebte Beispiele zurück. Dabei kann jedoch davon ausgegangen werden, dass hier aus anderen Zusammenhängen bestehende Kategoriensysteme angewandt werden und nicht völlig
4 Ein Interviewpartner bemerkt bei der Erstellung des ersten Strukturbildes ‚Lücken‘ (mögliche Folgehandlungen, nachdem einer andern Person Gesicht genommen wurde), kann zu diesem Zeitpunkt aber kein entsprechendes Wissen beisteuern oder ableiten. Erst als zum nächsten Termin entsprechende Erfahrung vorliegt, wird die Lücke geschlossen (Hier: man kann Geschenke machen, Matthias II). 167
INTERKULTURELLES LERNEN
neue Abstrahierungsleistungen vollbracht werden. So erwähnt zum Beispiel Schneider das Angebot eines Geschäftspartners, dessen Clubmitgliedschaft für einen vergünstigten Zutritt zu den clubeigenen Sportanlagen zu nutzen, was er (als Beispiel für ‚Gesicht geben‘) zu „anderen Privilegien zur Verfügung stellen“ verallgemeinert. Die Anwendung des abstrakteren Prinzips „Privilegien zur Verfügung stellen“ stellt einen induktiven Schluss aufgrund existierender Kategoriensysteme dar. Seine Assoziation mit dem Themenfeld ‚Gesicht geben‘ ist jedoch neu und verdankt sich der konkret erlebten Episode. Zugleich spielt jedoch der Deutungskontext ‚Gesicht geben‘ für die Abstrahierung eine bestimmte Rolle. Da Schneider davon ausgeht, dass ‚Gesicht‘ grundsätzlich mit Kalkül gegeben wird, um eine Gegenleistung einfordern zu können, verallgemeinert er das konkrete Angebot zu jener neutralen Fassung „Privilegien zur Verfügung stellen“ und interpretiert es nicht als Beispiel von „Großzügigkeit“, was ebenfalls denkbar gewesen wäre. Nicht in jedem Fall werden konkrete Episoden mit abstrakteren Prinzipien verknüpft. Insbesondere wenn Interviewpartner zu bestimmten Themenfeldern insgesamt nur wenig sagen können, sind die angeführten Inhalte typischerweise wenig abstrahiert.5 Zwei Beispiele zeigen Theoriestrukturen, die eine Fülle von Beispielen aufweisen, wobei diese in einem Fall (Denise) unter Einführung eines zusätzlichen Abstraktionsschrittes eine Meta-Gliederung aufweisen, im andern Fall (Paul) jedoch nicht. An keiner anderen Stelle in Denises Strukturbild findet sich eine ähnliche Fülle von Beispielen, noch eine analoge Meta-Strukturierung. Diese scheint nur im Themenfeld ‚Gesicht haben‘ möglich (da unter der Vielzahl der erlebten Episoden ähnliche gruppiert werden können) und (aus Gründen der Übersichtlichkeit) nötig zu sein. Bemerkenswert ist, dass der Schluss auf abstraktere Prinzipien bereits im Interview erfolgt und nicht ausschließlich dem Systematisierungszwang des Strukturlegeverfahrens geschuldet ist. So führt Denise die Kategorie „sozialer Reichtum“ im Zusammenhang mit Beobachtungen des Vaters ihrer Freundin im ersten Interview ein: Das ist dann für ihn auch so eine Art Stabilität zu sagen, die Familie, die sind alle gesund, die haben alle einen Job, die heiraten alle, kriegen Kinder, das ist dann sozusagen der soziale Reichtum neben dem Geld. Das ist dann das, was gleich an zweiter Stelle kommt. (Denise I, 1533:1537)
Die Einführung der anderen Kategorien dagegen erfolgt erst während der Strukturlegesitzung.
5 Möglicherweise finden hier auch unterschiedliche persönliche Stile oder Persönlichkeitseigenschaften ihren Ausdruck. Dies kann auf Basis der hier vorliegenden Daten nicht beurteilt werden. 168
STRUKTURBILDANALYSE
gut aussehen
B
schlank und hübsch (Mächen)
erwünschte Dinge tun
B
den Eltern gegenüber Respekt zeigen
Streit aus dem Weg gehen
Gesicht haben
erwünschte Fähigkeiten besitzen
Kochen können (Mädchen)
B
süß, niedlich sein (Mädchen) erwünschte Charaktereigenschaften besitzen
B
freundlich, höflich, friedvoll, klug sein
eine pompöse Hochzeit ausrichten
materieller Reichtum
andere zum Essen gehen einladen B teures Auto besitzen angesehenen, gut bezahlten Job haben
gesunde, erfolgreiche Kinder haben
sozialer Reichtum
B
einen reichen und "begehrten" boyfriend haben (Mädchen) eine niedliche Freundin haben (Jungen)
Abbildung 12: ‚Gesicht haben‘ im Strukturbild Denise III
Auch die Strukturbilder von Paul weisen eine große Anzahl verschiedener Handlungen und Attribute auf, die mit ‚Gesicht haben‘ verknüpft sind. Eine Meta-Strukturierung findet sich hier jedoch nicht:
169
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höheres Lebensalter
Zugang zu anerkannten Persönlichkeiten
Statussymbole
Auto haben
Titel haben
Gesicht haben
andere mit Respekt behandeln
andere zum Essen einladen Kleidung (v.a. für Mädchen) gut Golf spielen gut singen beim KTV
Abbildung 13: ‚Gesicht haben‘ im Strukturbild Paul III
Die von Denise eingeführten Kategorien weisen einen recht hohen Abstraktionsgrad auf. Auch in anderen Strukturbildern finden sich Inhalte ähnlicher Abstrahierungsstufe. Auffällig ist, dass dies insbesondere im Themenfeld ‚Gesicht verlieren‘ der Fall ist. Einträge wie „von Normen abweichendes Verhalten“ (Matthias), „Nichteinhalten sozialer Regeln“ (Schneider) oder „gesellschaftliche Normen verletzen“ (Marion) werden hier schon in der ersten Strukturbildfassung vorgenommen, wobei sie in der Regel vom Interviewpartner nicht aus erlebten Episoden abgeleitet, sondern direkt genannt werden. ‚Gesicht verlieren‘ (und in etwas geringerem Umfang ‚Gesicht nehmen‘) entpuppt sich damit als Themenfeld, das zum ersten Untersuchungszeitpunkt problemlos mit Inhalt gefüllt wird, bei den nachfolgenden Treffen jedoch vergleichsweise wenig ergänzt wird, und in dem Inhalte hoher Abstrahierungsstufe häufiger sind. All dies kann als Ausdruck umfassenderen und sichereren Wissens in diesem Bereich interpretiert werden. Dass sich umfassenderes Wissen in der Existenz abstrakterer Kategorien niederschlägt, zeigt sich auch in einer von mir zu einem anderen Zeitpunkt durchgeführten Untersuchung mit ‚Taiwan-Experten‘, die neben Interviews ebenfalls die Erstellung von Strukturbildern zum Thema ‚Gesicht‘ beinhaltete (Weidemann, D., 2005). 170
STRUKTURBILDANALYSE
Dieser Zusammenhang verweist auch darauf, dass der Wissensumfang nicht ohne weiteres aus der Zahl der Kästchen der Strukturbilder abgeleitet werden kann. In einem Fall (Richard) geschieht die Einführung übergeordneter Kategorien während des Untersuchungszeitraumes. Hier werden die im Strukturbild bereits aufgeführten Reaktionen auf einen erlittenen Gesichtsverlust unter Einführung der Metakategorien „passiv“, „destruktiv“ und „konstruktiv“ qualitativ geordnet.
aggressiv sein
beleidigt sein
Gesicht verlieren
Gleichgültigkeit demonstrieren
Alternative finden, z.B. Termin umlegen
Enttäuschung überspielen
Situation meistern, Problem lösen
B
versteckte Hinweise
Abbildung 14: Folgen eines Gesichtsverlusts im Strukturbild Richard II
aggressiv sein
destruktiv
B
beleidigt sein
Enttäuschung überspielen
Gesicht verlieren
B passiv
B
Gleichgültigkeit demonstrieren
konstruktiv
B
Situation meistern, Problem lösen
Alternative finden, z.B. Termin umlegen
B
versteckte Hinweise Beziehungspflege
Abbildung 15: Folgen eines Gesichtsverlusts im Strukturbild Richard III 171
INTERKULTURELLES LERNEN
Dass dieser Abstrahierungsschritt nur in einem der Strukturbilder festgehalten wird, bedeutet nicht, dass er nicht mental an anderen Stellen erfolgt sein könnte. Die Methode, die Untersuchungspartner bei den späteren Untersuchungstreffen mit ihrem bereits existierenden Strukturbild zu konfrontieren, lud an dieser Stelle möglicherweise zur Verringerung des Bearbeitungsaufwandes ein, solange sich nicht deutlich neue Perspektiven oder Diskrepanzen auftaten. Wenn eingangs festgestellt wurde, dass neu aufgenommene Inhalte erfahrungsnah seien, so bedeutet dies also nicht, dass Verallgemeinerungen ausblieben. Wo Verallgemeinerungen oder die Einführung abstrakter Kategorien vorgenommen werden, gründen jedoch auch diese, zumindest was die neu eingeführten Inhalte der späteren Untersuchungszeitpunkte angeht, in konkreten Erfahrungen (d.h. eigenen Erlebnissen und Beobachtungen). Eigene Erfahrungen umfassen dabei auch Gespräche mit Freunden und Bekannten und die von diesen beigesteuerten Erlebnisse und Meinungen. Deutlich abgegrenzt sind sie jedoch von Wissen aus externen Quellen wie Büchern oder interkulturellen Trainings. Das dort erworbene Wissen wurde nur dann in das Strukturbild integriert, wenn es zuvor durch eigene Erfahrung überprüft werden konnte, worauf meine Gesprächspartner jeweils ausdrücklich verwiesen. Weitere denkbare Wissens- oder Beobachtungsquellen, wie zum Beispiel Fernsehprogramme, chinesische Romane, Reklame oder andere Artefakte, spielten in der bewussten Reflexion während der Interviews keine Rolle (wurden von mir jedoch auch nicht gezielt erfragt). Dass nur erfahrungsgeprüfte Inhalte aufgenommen wurden, bedeutete auch, dass von mir eingeführte Annahmen negiert wurden, solange sie nicht der eigenen Erfahrung entsprachen. Dies schloss auch die Berechtigung der Untersuchungsfrage ein: Die von mir (implizit) durch die Durchführung der Studie aufgestellte Behauptung, dass ‚Gesicht‘ ein in Taiwan bedeutsames Konzept sei, wurde von meinen Untersuchungspartnern so lange in Frage gestellt, bis sie durch eigene Erfahrung bestätigt war. Dies geschah jedoch keineswegs in jedem Fall. Verzerrende Effekte durch die Untersuchung selbst dürften in dieser Hinsicht begrenzt geblieben sein.
Der Machtaspekt von ‚Gesicht‘ als vorrangiges Lernfeld Die Erfahrungsnähe neu aufgenommener Inhalte bedeutet angesichts der Verschiedenheit individueller Lebenszusammenhänge eine große Varianz der angesprochenen Themen. Wie sich den oben angeführten Tabellen entnehmen lässt, gibt es jedoch eine gewisse Tendenz zu thematischen Schwerpunkten, wenngleich diese auch nicht ausgeprägt ist. Eine Inhaltsanalyse aller ergänzter Inhalte ergibt, dass ‚machtbezogenes Verhalten‘ die Kategorie mit der relativ größten Erklärungskraft ist. Der Machtaspekt von ‚Gesicht‘ kann damit als vorrangiges Lernfeld gelten. Neu aufgenommene Inhalte bestehen dabei häufig aus genuin neuen Themen, nicht aus der Anreicherung vorhandener Themen mit neuen Beispielen, d.h. nicht nur wird über den Machtaspekt von ‚Ge172
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sicht‘ hinzugelernt, sondern teilweise besteht der Lerneffekt in der Entdeckung des Machtaspekts überhaupt. Als ‚machtbezogenes Verhalten‘ wurden jene Inhalte kodiert, die sich auf das Steigern oder Ausüben von Macht beziehen. Das Spektrum reicht dabei von Handlungen, die absichtsvoll gegen den Willen anderer gerichtet sind, über manipulative Handlungen, die andere zu einem bestimmten Tun verpflichten sollen, bis zum Bestreben, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Entsprechende Inhalte fanden sich in allen Themenfeldern. Drei zentrale Zusammenhänge mit ‚Gesicht‘ sind dabei (1) Reziprozität von Macht und ‚Gesicht‘, (2) Berechnung beim Geben von ‚Gesicht‘ und (3) absichtsvolles Nehmen von ‚Gesicht‘, um den eigenen Machtanspruch durchzusetzen. ‚Gesicht haben‘: Reziprozität von Macht und ‚Gesicht‘ Neben vielen anderen Aspekten ist auch ‚Macht zu haben‘ etwas, was das eigene Gesicht aufwertet (Alice, Holter). Dies gilt nicht nur für einzelne Personen, sondern kann auch auf Nationen angewendet werden: „Großmacht sein“ ist gleichbedeutend mit nationalem ‚Gesicht‘ (Matthias). Dass jemand über Macht verfügt (bzw. einen Machtanspruch geltend macht), erschließt sich zum Beispiel aus seinem Verhalten Mitarbeitern gegenüber. Herr Weber beobachtet: Das passt sicher in die Beziehung rein Gesicht geben, Gesicht nehmen bzw. auch einen gewissen Machtanspruch ausdrücken, eben nicht nur mit Autos, Sachen und was weiß ich nicht alles, sondern eben auch im Auftreten und in der Führung von Personal, von Gleichberechtigten und Untergebenen. (Weber II, 979:983)
Zur Demonstration von Macht und damit zum eigenen ‚Gesicht‘ trägt bei, einen hierarchischen Führungsstil zu praktizieren und die Entscheidungskompetenz zu behalten (Weber). Ist Macht ein Attribut von ‚Gesicht‘, so führt ‚Gesicht zu haben‘ umgekehrt dazu, dass der eigene Handlungsspielraum wächst (Klaus). Zu der größeren Freiheit (Alain), die man dann besitzt, gehört schließlich auch das Recht, andere zu ignorieren oder Regeln zu missachten (Richard). ‚Gesicht geben‘, um Recht auf Gegenleistung zu bewirken Dass das Geben von ‚Gesicht‘ bisweilen mit Kalkül geschieht, um eine Gegenleistung zu erreichen, erschließt sich häufig erst im Verlauf des Aufenthalts. Während drei Personen dies bereits zum ersten Untersuchungstermin angeben, ergänzen vier weitere (Weber, Alain, Paul, Klaus) diesen Aspekt erst zu einem der beiden späteren Termine. Herr Schneider formuliert den Zusammenhang wie folgt: Auf der anderen Seite hat das Gesicht etwas mit diesem Beziehungsgeflecht zu tun. Für die ist es vollkommen normal, für die ist es vollkommen normal, dass wenn ich 173
INTERKULTURELLES LERNEN etwas gebe, dass ich was nehmen kann. Im Gegenteil ist es sogar so, wenn ich etwas gebe, dann darf ich etwas verlangen. Und das hat aus meiner Sicht auch etwas mit Gesicht zu tun. (Schneider I, 1552:1557)
‚Gesicht nehmen‘, um Machtanspruch durchzusetzen Das ‚Gesicht‘ einer anderen Person kann versehentlich verletzt werden, es kann jedoch auch gezielt angegriffen werden, um die andere Person zu demontieren, den eigenen Machtanspruch durchzusetzen oder eine „bewusste Eskalation der Situation“ (Stefan) zu bewirken. Herr Weber beschreibt das Geben und Nehmen entsprechend als „Spiel“, bei dem das Gesicht des anderen erst gezielt verletzt wird, um – nach Klarstellen der „Hackordnung“ (Weber) – den anderen so weit wieder ‚aufzubauen‘, dass man ihn „nicht als hundertprozentigen Gegner“ (Weber) hat. […] man kann das Spiel ja bösartig treiben, man kann jemandem ins Wort fallen, man kann laut werden, man kann ihn fast anschreien, man kann ihn fast rausschmeißen, so dass er fast keine Chance hat sich zu wehren oder Gesicht zu wahren und ihn damit unheimlich klein machen. Das geht sehr gut das Spiel. Und wenn der Gegenüber dann auch noch rumdruckst, dann hat man gewonnen, dann kann man ihn wieder aufbauen. (Weber III, 1037:1047)
Bei einigen Interviewpartnern ist der Machtaspekt schon im ersten Strukturbild enthalten. Möglicherweise wurden diese Interviewpartner bereits zu Beginn ihres Taiwanaufenthalts mit dem Machtaspekt konfrontiert (dies ist mit Sicherheit bei Herrn Schneider der Fall, vgl. Kapitel 7). Zum Teil stammt das Wissen jedoch aus früherer Taiwan-Erfahrung (z.B. bei Richard). Jedoch sind auch Strukturbilder ohne Berücksichtung des Machtaspektes zu beobachten (Matthias, vgl. Kapitel 7).
Neue Inhalte sind häufig negativ gefärbt Schon die oben angeführten Beispiele zum Machtaspekt von ‚Gesicht‘ lassen erkennen, dass eine Vielzahl neu eingeführter Inhalte mit negativen Bewertungen verknüpft ist. Dies ist in verschiedener Hinsicht, jedoch nicht bei allen Untersuchungspartnern der Fall. Negativ bewertete Inhalte reichen von „Unaufrichtigkeit“, „Verhinderung der Problemlösung“ über „Trotz“ bis hin zu „Psychoterror“. Diese Inhalte stehen mit verschiedenen Themenfeldern in Zusammenhang. a) ‚Gesicht wahren‘ verhindert Aufgabenerfüllung oder Problemlösung. Obwohl nach ‚Gesicht wahren‘ nicht explizit gefragt wurde, erwähnen viele Interviewpartner dieses Prinzip, jedoch häufig, um es gleichzeitig zu kritisieren. Da ‚Gesicht wahren‘ bedeuten kann, auf Kritik oder direkte Kommunikation zu verzichten, betrachten einige Interviewpartner diese Strategie als
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„kontraproduktiv“ (Paul), als Ursache von „Missverständnissen“ und „Fehlentscheidungen“ (beide Stefan) und Quelle von „Unsachlichkeit“ (Holter). b) Der Wunsch, selbst ‚Gesicht‘ zu haben, geht, wie etwa Denise, Torsten oder Stefan ergänzen, zum Teil mit Übertreibungen und Unwahrheiten einher. Negativ vermerkt hier etwa Torsten „positive Selbstdarstellung bis hin zur Selbstverherrlichung“, zum Beispiel wenn die eigenen Verdienste herausgestellt werden oder einem potentiellen Kunden gegenüber die Zahl der eigenen Angestellten übertrieben wird. Ähnlich bemerkt Stefan „Übertreibungen bis hin zu Unwahrheiten“, die sich beispielsweise in der (nicht zutreffenden) Äußerung „ihr seid unser wichtigster Geschäftspartner“ zeige. Und Denise beobachtet, dass mitunter sogar „falsche Tatsachen vorgetäuscht“ werden. So erlebt sie zum Beispiel, wie sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Englischlehrerin im Kindergarten den Eltern der von ihr unterrichteten Kinder als amerikanische Harvard-Absolventin präsentiert wird. c) Dass ‚Gesicht‘ mit dem Durchsetzen eigener Machtinteressen in Zusammenhang stehen kann, wurde oben dargestellt. Entsprechende Handlungen werden jedoch häufig zugleich negativ bewertet. Konstatiert wird „herablassendes Verhalten gegenüber Personen mit weniger Gesicht“ (Alain), das Recht „andere zu ‚treten‘, zu ignorieren, zu missachten“ (Richard) oder das Klarstellen der „Hackordnung“ (Weber). d) Auch unter den Ergänzungen von Reaktionen auf einen erlittenen Gesichtsverlust fallen negativ bewertete Inhalte auf. Neu aufgenommen werden etwa „emotionale Überreaktionen“ (Paul), „Psychoterror“ und „Rache“ (beide Stefan), „Trotzreaktion“ (Weber) oder vordergründige Freundlichkeit bei späterem „Explodieren“ (Denise). Da oben festgestellt wurde, dass neue Inhalte erfahrungsnah seien, stellt sich die Frage, ob die Tendenz zu negativ gefärbten Inhalten dem Umstand geschuldet ist, dass die gemachten Erfahrungen besonders häufig negativ sind. Denkbar ist jedoch auch, dass negativ bewertete Aspekte erst im Lauf der Zeit bemerkt oder erst im Lauf der Zeit mit ‚Gesicht‘ in Verbindung gebracht werden. Da anfänglich ‚Gesicht‘ vor allem mit ‚Gesicht verlieren‘ in Verbindung gebracht wird, könnte es sein, dass diesbezüglich ein idealisiertes Bild von ‚Gesicht‘ herrscht, das vorrangig dadurch geprägt ist, dass man andere Personen nicht ‚verletzt‘. Erst die Beobachtung gegenteiliger Praxis würde dann dazu führen, ein erweitertes Handlungsrepertoire mit ‚Gesicht‘ in Verbindung zu bringen, so dass mit zunehmendem Wissen ein umfassenderes und realistischeres Bild von ‚Gesicht‘ entsteht. Möglich wäre auch, dass meine Interviewpartner im ersten Interview kritische und ablehnende Ansichten nicht äußern, weil sie in der Anfangsphase noch keine Urteile fällen möchten und erst nach wiederholten Beobachtungen zu einer gefestigten Meinung finden. Weiterhin wäre denkbar, dass sie der 175
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noch unbekannten Interviewerin gegenüber besondere Vorsicht walten lassen, um nicht als ‚intolerant‘ zu erscheinen. Während möglicherweise alle diese Aspekte eine Rolle spielen, ist doch eine Erklärung an dieser Stelle nicht möglich. Warum bestimmte Inhalte gelernt werden und andere nicht, warum dies bei einigen Interviewpartnern mit negativen Bewertungen einhergeht und bei anderen nicht, kann erst durch Einbezug zusätzlicher Datenquellen – der offenen Interviewteile – teilweise beantwortet werden. Die Strukturbilder dokumentieren zunächst nur erhebliche Unterschiede zwischen den Interviewpartnern.
Zusammenfassung und offene Fragen Die Analyse der Strukturbilder und ihrer Verbalisierungen gibt Aufschluss über Lernfelder und Lerninhalte zum Thema ‚Gesicht‘. Während sich einerseits bestimmte generelle Muster abzeichnen, lassen sich andererseits große interindividuelle Unterschiede beobachten. Die wichtigsten Befunde der Strukturbildanalyse seien hier kurz zusammengefasst. 1. Alle Interviewpartner verfügen schon zu Beginn ihres Aufenthalts über ausreichend umfangreiches Wissen über ‚Gesicht‘, um aussagekräftige Strukturbilder zu erstellen. Dieses Wissen gründet dabei auf Erfahrungen, die sie in und außerhalb Taiwans gemacht haben, sowie auf Berichten Dritter, der Lektüre einschlägiger Bücher oder interkulturellen Trainings. Alle Strukturbilder werden zu beiden späteren Untersuchungszeitpunkten ausgebaut. 2. Unterschiedliche Theorieteile sind (vor allem zum ersten Interviewzeitpunkt) unterschiedlich ausgeprägt: Die Themenfelder ‚Gesicht nehmen‘ und ‚Gesicht verlieren‘ sind mit mehr Inhalten und differenzierteren Relationen verknüpft als die Themenfelder ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘. Letztere sind jedoch die Bereiche, in denen die meisten Lerneffekte auftreten. Die Strukturbilder legen nahe, dass zum ersten Interviewzeitpunkt bereits recht präzise Vorstellungen darüber existieren, welche Handlungen dazu führen, dass Gesicht (entweder auf der eigenen oder auf der Seite des Interaktionspartners) verloren geht. Diese Vorstellungen sind interindividuell recht ähnlich und werden im Verlauf des Aufenthalts kaum verändert. Anders ist dies bei möglichen Folgehandlungen. Hier werden einige neue Zusammenhänge hergestellt, wobei zunehmend auch nonverbale Handlungen (z.B. Geschenke machen, Abwarten, um Kontakt bemühen) berücksichtigt werden. Das Wissen bezüglich der Themenfelder ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ ist anfänglich relativ begrenzt, was im Sinne einer größeren ‚Fremdheit‘ interpretiert werden kann. Das Ungleichgewicht des Repräsentationsgrades findet nicht zuletzt im deutschen Sprachgebrauch seinen
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3.
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Ausdruck, dem zwar der Ausdruck ‚Gesicht verlieren‘, nicht jedoch der Ausdruck ‚Gesicht geben‘ geläufig ist. Nach einem Jahr sind nicht bei allen Interviewpartnern alle Theorieteile repräsentiert. Unterrepräsentierte Theorieteile sind dabei immer solche, die auch von den anderen Untersuchungspartnern erst hinzugelernt werden müssen, das heißt die Themenfelder ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘. Die Strukturbilder lassen darauf schließen, dass sich Lernen über ‚Gesicht‘ nicht automatisch im Laufe des ersten Aufenthaltsjahres einstellen muss. Neue Wissensbestandteile sind erfahrungsnah und gründen zum Teil in einer einzelnen erlebten Episode. Dabei dient diese Episode mitunter, jedoch nicht immer als Ausgangspunkt für die Ableitung eines allgemeineren Prinzips. Erfahrungsnähe bedeutet dabei nicht in jedem Fall einen Verzicht auf Abstraktion, doch gibt es hier große interindividuelle Unterschiede. Typisch ist jedoch, dass Wissen erfahrungsgeprüft sein muss, bevor es in die subjektive Struktur aufgenommen wird. Der erfahrungsnahe Charakter von Alltagswissen bedeutet, dass nur solche Inhalte gelernt werden, mit denen Interviewpartner in ihrem Lebenskontext konfrontiert werden und die sie dort als ‚gesichtsrelevant‘ wahrnehmen. Die Wahrnehmung von ‚Gesicht‘ im Alltag verändert sich im Laufe der Zeit dahingehend, dass die Bedeutung von ‚Gesicht‘ zunehmend erkannt wird. Dies muss jedoch nicht alle Teilaspekte von ‚Gesicht‘ umfassen und trifft nicht für alle Interviewpartner zu. Ein wichtiges Lernfeld ist der Machtaspekt von ‚Gesicht‘. Unter den zu den späteren Untersuchungszeitpunkten neu aufgenommenen Inhalten bilden jene, die mit Streben nach und Ausüben von Macht zu tun haben, die größte Kategorie. Dies betrifft das absichtsvolle Nehmen von ‚Gesicht‘, um eigene Interessen durchzusetzen, die Praxis, ‚Gesicht‘ zu geben, um das Recht auf eine Gegenleistung zu erwerben, oder die Beobachtung, dass viel ‚Gesicht‘ zu haben einen größeren Handlungsspielraum eröffnet, der herablassendes Verhalten anderen gegenüber einschließt. Mit längerer Aufenthaltsdauer nimmt die Anzahl negativ gefärbter Inhalte zu. Hinzu kommen zum Beispiel Aspekte von Macht und Machtmissbrauch, Eitelkeit, gezielter Missachtung oder Abwertung anderer usw., die nur in Einzelfällen bereits im ersten Strukturbild enthalten sind. In Bezug auf Komplexität, Lerndynamik und Inhalte der Strukturbilder gibt es große interindividuelle Unterschiede. In inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sich Strukturbilder insbesondere bezüglich ihrer Gestimmtheit (abzulesen in der Häufigkeit negativ bzw. positiv gefärbter Inhalte) und danach, ob der ‚instrumentelle‘ Aspekt von ‚Gesicht‘ benannt wurde (z.B. das Geben von Gesicht, um eine 177
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Gegenleistung zu bewirken, das Nehmen von Gesicht, um eigene Machtansprüche durchzusetzen). Die Strukturbildanalyse ergibt eine erhebliche Variation zwischen Wissensstrukturen unterschiedlicher Untersuchungsteilnehmer. Sie erlaubt jedoch keine Rückschlüsse auf zugrunde liegende Ursachen und Begleitumstände dieser Variation. Gerade die nachfolgenden Fragen sind aber für das Verständnis des Erwerbs von Alltagswissen über ‚Gesicht‘ besonders interessant: – Warum lernen Interviewpartner gerade das, was sie lernen, und warum lernen sie bestimmte andere Inhalte nicht? – Wie erklären sich Veränderungen, z.B. der Bewertung gesichtsrelevanter Inhalte (bei Stefan in negative, bei Schneider in positive Richtung)? – Wie erklären sich interindividuelle Unterschiede bezüglich der Lerninhalte, der Lerndynamik, der Wertungen? – Welche Lernstrategien lassen sich erkennen, und wie sind sie zu bewerten? Da sich diese Fragen auf der Basis der Strukturbilder nicht beantworten lassen, wurde ihnen in einem zweiten Analyseschritt unter Einbezug der offenen Interviewteile nachgegangen. Da der Erkenntnisschwerpunkt auf dem Erwerb von Alltagswissen über ‚Gesicht‘ liegt, wurden für die weiter gehende Analyse Einzelfälle ausgewählt, die aufgrund der Charakteristika der Strukturbilder als besonders interessant erschienen. Da sich, wie oben ausgeführt, Strukturbilder in inhaltlicher Hinsicht insbesondere danach unterscheiden, ob der instrumentelle Aspekt von ‚Gesicht‘ erkannt wird oder nicht und ob die Bewertungen von ‚Gesicht‘ positiv oder negativ gefärbt sind, richtete sich die Auswahl der Einzelfälle nach diesen beiden Kriterien. Eine Kombination beider Merkmale ergab folgende vier Optionen: – Instrumenteller Charakter von ‚Gesicht‘ nicht erkannt / negative Bewertung von ‚Gesicht‘: „Gesicht bedeutet, dass alle nur aufs Äußere achten“ (Denise) – Instrumenteller Charakter von ‚Gesicht‘ nicht erkannt / positive Bewertung von ‚Gesicht‘: „Gesicht bedeutet, den anderen zu achten“ (Matthias) – Instrumenteller Charakter von ‚Gesicht‘ erkannt / positive Bewertung von ‚Gesicht‘: „Gesicht eröffnet Möglichkeiten“ (Klaus) – Instrumenteller Charakter von ‚Gesicht‘ erkannt / negative Bewertung von ‚Gesicht‘: „Gesicht führt zu Machtkampf und Psychoterror“ (Stefan) ‚Gesicht‘ erweist sich gemäß jeder Option als unterschiedliches Konzept. Die in Anführungszeichen gesetzten Aussagen verdichten die jeweiligen Interpretationen von ‚Gesicht‘ und greifen z.T. auf Originalausdrücke der Interview178
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partner zurück, sind jedoch in dieser Form keine Zitate. Der in Klammern angegebene Name weist die Personen aus, die nach Maßgabe ihrer Strukturbilder der jeweiligen Option zugeordnet werden können und die – im Vergleich zu anderen Interviewpartnern – zugleich diese Option in besonders typischer Form vertreten. In Ergänzung dieser vier Fälle (Denise, Matthias, Klaus und Stefan) wurden zwei weitere ausgewählt, die aus unterschiedlichen Gründen interessant erschienen. Der Fall Schneider schien viel versprechend, da sich hier die Bewertung von ‚Gesicht‘ im Laufe der Zeit von negativer in positive Richtung verschob. Für die Auswahl dieses Falls sprach zudem der – durch äußere Umstände verursachte – lange Beobachtungszeitraum von zwei Jahren, der im Hinblick auf ein Verständnis des Lernprozesses möglicherweise aufschlussreich sein würde. Der Fall Marion wurde aufgrund formaler Charakteristika des Strukturbildes einbezogen. Wie oben angeführt, dokumentiert dieses einen asymmetrischen Lernprozess, bei dem erst beim letzten Untersuchungstreffen Veränderungen des Strukturbildes vorgenommen wurden. Alle sechs Fälle wurden in einem nächsten Schritt ausführlichen Einzelfallanalysen unterzogen.
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7. E I N Z E L F A L L A N A L Y S E N Der große Vorteil der Strukturbilder – ihre Komprimiertheit – ist zugleich ihr größter Nachteil. Zwar erlauben Strukturbilder eine schnelle Übersicht über Veränderungen, doch sind diese, wie im letzten Kapitel dargelegt, ohne Kenntnis des Lebenskontextes der einzelnen Befragten nur schwer interpretierbar. Eine Ergänzung der Strukturbildanalyse durch die Interpretation der offenen Interviewteile zur allgemeinen Lebenssituation erscheint daher aus mehreren Gründen notwendig: Im Hinblick auf die Frage nach dem Lernen über ‚Gesicht‘ versprechen sie zusätzliche Informationen, so dass ein präziseres Verständnis dessen erlangt werden kann, was die Befragten über ‚Gesicht‘ lernen. In diesem Sinne dient die Analyse dieser zusätzlichen Interviewteile der Absicherung der in den Strukturbildern erhobenen Daten (im Sinne einer Triangulierung des Forschungsprozesses). Da das offene, erzählstimulierende Interviewformat die Befragten zur Schilderung, Reflexion und Deutung ihres Alltags und ihrer Lebensumstände einlud, besteht zudem die Erwartung, den Berichten der Interviewpartner Hinweise auf die Hintergründe des Lernprozesses entnehmen und so das Warum der Entwicklungen nachvollziehen zu können. Schließlich ist nur auf diesem Wege zu erfahren, welcher Lernstrategien sich einzelne Untersuchungsteilnehmer bedienen, d.h. wie sie zu neuen Einsichten und Urteilen gelangen. Die hier vorgestellten Einzelfallanalysen beruhen zwar auf den gesamten erhobenen Daten der jeweiligen Person, beziehen sich jedoch in besonderer Weise auf die Transkripte der Interviewteile zur allgemeinen Lebenssituation. Die Analysen wurden unter dem Blickwinkel durchgeführt, näheren Aufschluss über Hintergründe und Dynamik der Lernverläufe zum Thema ‚Gesicht‘ zu gewinnen. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass entsprechende Lernvorgänge in jeweils individuelle Lebens- und Erfahrungskontexte eingebettet und durch Kenntnis letzterer besser verstehbar sind. Die Interpretation der Transkripte macht diesen Lebenskontext sichtbar, verdeutlicht jedoch auch, dass den spezifischen Erfahrungen und Bedeutungszusammenhängen ein umfassenderes Gewicht zukommt, als ursprünglich antizipiert. Sich auf einzelne Interviewpartner einzulassen, bedeutet in diesem Zusammenhang, das, was ursprünglich als bloßer ‚Kontext‘ an den Rand des Blickfelds gedrängt war, nun als eigenständigen ‚Text‘ in den Blick zu nehmen, der zwar auch im Hinblick auf das Lernen über ‚Gesicht‘ Relevanz besitzt, zugleich jedoch über diesen – von mir gewählten – spezifischen Ausschnitt hinausweist. Einzelfallanalysen rücken einen breiteren Ausschnitt des Erlebens ‚vor Ort‘ in den Blick, dem mehr als nur ergänzende Informationen über das Lernen über ‚Gesicht‘ zu entnehmen sind. Die ausführlichen Berichte der Unter181
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suchungspartner umfassen Schilderungen der Auseinandersetzung mit Vertrautem und Fremden, Reflexionen über den Wandel von ‚Fremde‘ zu ‚Heimat‘ oder Berichte über Irritationen angesichts einer befremdlichen Praxis, die erkennen lassen, dass neben dem Wissen über ‚Gesicht‘ zahlreiche andere Wissensinhalte erworben werden, Perspektivwechsel stattfinden und die Transformation von Identitätsstrukturen einsetzt. In diesem je individuellen Kontext wird das Lernen über ‚Gesicht‘ besser verstehbar und zugleich geraten weitere Themenfelder in den Blick, die für die Diskussion ‚interkulturellen Lernens‘ von Bedeutung sind. Nicht zuletzt wird durch Einzelfallanalysen auch dem Anspruch Rechnung getragen, Interviewpartner als Individuen mit persönlicher Geschichte und Geschichten vorzustellen. Die nachfolgend vorgestellten Einzelfallanalysen versuchen deshalb – ausgehend von der engeren Fragestellung nach dem Lernen über ‚Gesicht‘ – auch individuell bedeutsame Themen in der Auseinandersetzung mit ‚Taiwan‘ und dem Leben dort nachzuzeichnen. So wird zu erkennen sein, dass die Bedeutung des Taiwanaufenthaltes für meine Interviewpartner jeweils völlig unterschiedlich ist. Dies erstreckt sich in umfassender Weise auf die Wahrnehmung und Interpretation des Umfelds ‚Taiwan‘ sowie der dort beobachteten und erlebten Interaktionen mit ‚Taiwanesen‘. Wie weiter unten diskutiert werden soll, hat dieser Befund nicht unerhebliche Auswirkungen auf Sinn und Möglichkeit interkultureller Trainings zur Auslandsvorbereitung sowie auf die theoretische Konzipierung ‚interkultureller‘ Interaktionen. Die Einzelfalldarstellungen umfassen einleitend eine kurze Beschreibung des jeweiligen biographischen Hintergrunds.1 Für jeden der sechs ausgewählten Interviewpartner werden sodann Kernthemen ihrer Auseinandersetzung mit dem Leben in Taiwan herausgearbeitet. Als Kernthemen werden dabei solche Themen bezeichnet, die im Interpretationsprozess Erklärungs- und Integrationskraft für eine große Zahl ermittelter Kategorien aufweisen, das heißt Themen, die sich in den Interviews in großer Konsistenz durch eine Vielzahl diverser Äußerungen über verschiedene Aspekte des Lebens in Taiwan ziehen. Aufgrund der zentralen Rolle, die diese Themen in den jeweiligen Interviews spielen, werden sie als Hintergrund für die Interpretation des Lernens über ‚Gesicht‘ herangezogen. In einer ‚Schlussfolgerung‘ wird ihre Erklärungskraft für die Besonderheiten der jeweiligen Strukturbilder herausgearbeitet, und gegebenenfalls werden zusätzliche Themen für fallvergleichende Analysen sowie für eine Diskussion ‚interkulturellen Lernens‘ ausgewiesen.
1 Dieser wurden im Sinne einer Anonymisierung der Daten leicht verfremdet. 182
EINZELFALLANALYSEN
Denise Biographischer Hintergrund Denise absolviert zunächst eine Banklehre, bevor sie ein Sprachenstudium beginnt. Für Chinesisch entscheidet sie sich – ohne zunächst ein spezielles Interesse an China zu haben –, um ihre Berufsaussichten zu verbessern. Da sie ein sehr „reiselustiger“ Mensch ist, freut sie sich über die mit dem Studium verbundenen Auslandsaufenthalte, da sie so nicht nur ihre Sprachkenntnisse verbessern, sondern auch neue Erfahrungen machen kann. Der Aufenthalt in Taiwan ist schon der zweite Studienabschnitt im Ausland, nachdem sie bereits ein Jahr in Spanien studiert hat. Entgegen ihrer ursprünglichen Hoffnungen und Erwartungen bekommt Denise keinerlei finanzielle Unterstützung für ihr Auslandsstudium. Sie beschließt, sich davon nicht entmutigen zu lassen, und plant kurzerhand, auf eigene Faust nach Taiwan zu reisen, ohne zunächst konkret zu wissen, wie sie diesen Aufenthalt finanzieren könne. Sie entscheidet sich für einen Studienort im Süden Taiwans, weil sie sich, nach begeisterten Berichten von Kommilitonen, dort bessere Studienbedingungen und angenehmeres Wetter erhofft. Da sie erst kurz vor Semesterbeginn in Taiwan ankommt, hat sie zunächst erhebliche Schwierigkeiten, ein geeignetes Zimmer zu finden. Das Mieten eines ersten Zimmers endet in einem Drama, als sie entdeckt, dass die Vermieterin ihr Zimmer doppelt vermietet hat. Ein Eingreifen der Polizei wird nötig, und nur unter Aufbietung aller ihrer Überredungskünste kann sie die Vermieterin schließlich dazu bewegen, die vorab gezahlte Miete zurückzuzahlen. Um eine Erfahrung reicher findet sie bald ein anderes Zimmer in einer national gemischten WG, in dem sie sich sehr wohl fühlt. Da sie nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern auch ihre chinesischen Sprachkurse selbst finanzieren muss, ist Denise darauf angewiesen, neben dem Studium kontinuierlich zu arbeiten. Relativ schnell findet sie Arbeit als Englischlehrerin und unterrichtet sowohl an verschiedenen Sprachschulen als auch als Privatlehrerin bis zum Ende ihres Aufenthalts regelmäßig etwa vierzehn Stunden pro Woche. Ihr Verdienst reicht aus, um ihren Aufenthalt zu finanzieren. Nach ihrer Ankunft in Taiwan stellt sich schnell eine gewisse Routine ein: Morgens hat sie Chinesischunterricht, geht mittags meistens mit Kommilitonen Essen, macht nachmittags Hausaufgaben oder erledigt Besorgungen und verbringt die Abende damit, Englisch zu unterrichten. Rasch ergeben sich auch Kontakte und einige Freundschaften zu taiwanesischen Studenten und später auch zu einigen ihrer Englischschüler. Das Zusammenleben in ihrer WG entwickelt sich nach einer verbalen Auseinandersetzung zwischen einem taiwanesischen Mitbewohner und einem kanadischen Besucher problematisch. Eine Zeitlang spalten sich die Mitbewohner in eine ausländische und eine taiwanesische Fraktion, die kaum noch 183
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miteinander reden, und erst als einige Monate später der Taiwanese auszieht, entspannt sich die Lage. Über Weihnachten fliegt Denise für vier Wochen nach Deutschland, um ihre Familie und ihren Freund wieder zu sehen. Nach ihrer Rückkehr nach Taiwan ist sie unerwarteterweise damit konfrontiert, dass sie sich in ihr taiwanesisches Leben nicht wieder einfinden kann. Etwa drei Wochen lang kämpft sie mit einem durch den Jetlag verschobenen Lebensrhythmus und der unangenehmen Winterkälte in Taiwan. Sie vermisst ihren Freund, fühlt sich insgesamt deprimiert und denkt darüber nach, den Aufenthalt in Taiwan oder gar ihr Sinologiestudium abzubrechen, doch beschließt sie schließlich, das Angefangene zu Ende zu führen und zu bleiben. Nach einer Reise an die Südspitze der Insel, als ihr Unterricht im Februar wieder anfängt und das Wetter wärmer wird, verbessert sich ihre Stimmung wieder. Im Frühjahr fühlt sich Denise wieder sehr wohl, ist sehr motiviert, ihre Sprachkenntnisse weiter zu verbessern und denkt eine Zeitlang sogar über die Möglichkeit nach, ihren Aufenthalt um weitere sechs Monate zu verlängern, doch sprechen verschiedene private und studienbezogene Gründe dagegen. So nutzt sie die Zeit in Taiwan intensiv und verbringt nun viel mehr Zeit mit Hausaufgaben und Selbststudium als zu Beginn. Mit ihrer Entscheidung, nach Taiwan zu gehen, ist sie sehr zufrieden, insbesondere auch nachdem Kommilitonen von den Lebens- und Studienbedingungen auf dem chinesischen Festland nur wenig Gutes berichteten. Ein unangenehmes Erlebnis stellt sich im April ein, als Denise erfährt, dass sie nicht nur ihr Visum nicht verlängern kann, sondern dass sie das Datum in ihrem Pass falsch interpretiert hat, ihre genehmigte Aufenthaltsdauer bereits überzogen hat und deshalb unverzüglich ausreisen muss, um im Ausland ein neues Visum zu beantragen. Völlig geschockt wegen dieser unerwarteten Probleme, organisiert Denise dennoch in den nächsten Tagen ihre Ausreise nach Hongkong und kämpft sich mit Hilfe einer Freundin durch zahllose bürokratische Hürden und Schikanen, bevor sie eine Woche später mit einem neuen Visum wieder einreisen kann. Nachdem die bürokratischen Probleme gelöst sind, stellen sich kurze Zeit darauf neue Schwierigkeiten ein: Denises Gesundheit verschlechtert sich rapide, ohne dass zunächst ein Grund dafür zu erkennen wäre. Erst die Untersuchung von Spezialisten gibt Aufschluss und ist zugleich Anlass zu ernster Besorgnis. Nach ausführlichen Tests und schlechten Erfahrungen mit der hygienischen Situation in den örtlichen Krankenhäusern entschließt sie sich, vorzeitig nach Deutschland zurückzukehren, um sich dort in ärztliche Behandlung zu begeben. Es gelingt ihr jedoch nicht, während der nun einsetzenden Urlaubssaison einen Flug zu finden. Ihren chinesischen Sprachkurs muss sie vorzeitig beenden, weil sie körperlich nicht mehr in der Lage ist, am Unterricht teilzunehmen und Hausaufgaben zu machen. Ein neuer Job als Englisch184
EINZELFALLANALYSEN
lehrerin in einem Kindergarten entwickelt sich zum Fiasko und belastet sie zusätzlich.
Übergriffe des Fremden Denise ist im Laufe ihres Aufenthalts mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert: Sie muss sich selbst finanzieren, Auseinandersetzungen mit taiwanesischen Vermietern, Arbeitgebern und Behörden meistern und sich schließlich nicht nur mit ihrer Erkrankung, sondern auch mit Ärzten, Krankenhäusern und der Krankenversicherung auseinandersetzen. Diesen Hintergrund gilt es im Blick zu behalten, wenn im Folgenden ein wesentliches Thema in Denises Erzählungen verfolgt werden soll, das ich als ‚Übergriffe des Fremden‘ bezeichnen möchte. Unter ‚Übergriffen‘ lassen sich Grenzverletzungen verschiedenster Art zusammenfassen. Diese betreffen die physischen wie psychischen Grenzen der Person gleichermaßen. Übergriffe bestehen beispielsweise in Angriffen auf die körperliche Gesundheit durch Lärm, Umweltverschmutzung oder Krankheitserreger. Sie betreffen jedoch auch Verletzungen der Privatsphäre, zum Beispiel durch unvermitteltes Anfassen, Anstarren und verbale Belästigung, und reichen schließlich bis zur Verletzung von Selbstwertgefühl und Würde. In Denises Erzählungen sind alle diese Aspekte repräsentiert und nehmen vor allem zum Zeitpunkt des ersten Untersuchungstermins breiten Raum ein. Sie sollen hier als ‚Übergriffe des Fremden‘ näher thematisiert werden.2 Übergriffe auf die Privatsphäre: Angefasst, angestarrt, angemacht werden Denise lebt im Süden Taiwans an einem Ort, an dem es nur wenige westliche Ausländer gibt. Aufgrund ihrer Größe, Haarfarbe und Physiognomie sind westliche Studenten daher weithin sichtbar und wecken bei den Einheimischen weitaus größere Neugier als etwa in Taipei, wo Ausländer weniger selten sind. Besonders Denises blonde Haare ziehen viele Blicke auf sich, und sie kann kaum durch die Straßen gehen, ohne angesprochen oder sogar angefasst zu werden. Für Denise stellt dies einen Eingriff in ihre Privatsphäre dar, der sie extrem stört: Diese Privatsphäre ist doch sehr beschränkt, meine eigene Privatsphäre ist wirklich nur mein Zimmer, ansonsten ist es wirklich schwer, mal Sachen für sich persönlich
2 In dieser wie in allen folgenden Einzelfallanalysen werden alle Schlussfolgerungen anhand von Interviewzitaten unter Angabe des Interviews und der Zeilennummer(n) belegt. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit sind kurze Zitate (z.B. einzelne Begriffe) nicht mit Referenzstellen ausgewiesen, wenn sie Bestandteil ausführlicher Blockzitate im selben Abschnitt sind. Sie sind jedoch durch Anführungszeichen im Text als wörtliche Zitate gekennzeichnet. 185
INTERKULTURELLES LERNEN zu machen. Es ist zum Beispiel unmöglich, durch die Straßen zu gehen, ohne angestarrt, ohne angesprochen, angefasst zu werden. (Denise I, 870:875) Letztens zum Beispiel hat mich eine Frau gefragt, ob sie meine Haare anfassen darf, weil sie noch nie so’ne Haare, also da bekommt man doch teilweise etwas Angst, muss ich sagen. (Lachen) Oder zum Beispiel, ich war vor kurzem mit einer Freundin von mir in einem Park, wir wollten uns einfach nur hinsetzen und ein bisschen die Sonne genießen und ein bisschen entspannen, relaxen, das ging einfach nicht, weil wir ständig von irgendwelchen Männern angestarrt worden sind und ah, ni-hao, na ja, so immer diese Anmache und das geht hier einfach nicht. Also man kann hier nicht einfach mal in den Park gehen, sich hinsetzen oder hinlegen oder was weiß ich, ohne halt irgendwie gefragt zu werden oder angestarrt zu werden oder sonstige sexual harrassments. Und das finde ich sehr, sehr ärgerlich hier, also das ist wirklich das, was mich am meisten stört. Aber man kann es auch nicht ändern, man kann halt nur versuchen, solche Plätze zu meiden. Wenn man das einmal weiß, dann ist das O.k., dann geht man da nicht noch mal hin. Oder man sollte hier auch auf keinen Fall alleine irgendwo hingehen, zumindest nicht abends, und man soll versuchen, also ich persönlich mach es auf jeden Fall so, wenn irgendwelche aufgezwungenen Gespräche entstehen, dass ich das ignoriere und dann einfach gehe. Das ist das Beste, weil sobald man sich irgendwie mit irgendwelchen Taiwanesen unterhält, einfach nur unterhält, dann denken die schon gleich fünf Schritte weiter. Ich habe das jetzt wirklich schon so oft erlebt, dass wenn man sich einfach nur normal unterhält, dass man dann ständig irgendwelche Anrufe bekommt, na, möchtest du nicht mal mit mir in die Disco gehen, und was machst du denn morgen und soll ich dich übermorgen abholen und wir können am Wochenende dies und jenes machen, ach und ich vermisse dich so. Und das geht dann immer weiter, immer weiter, und irgendwann steht man dann vor einer Situation, mit der man dann gar nicht mehr klarkommt, und deswegen wahrscheinlich wirklich versuchen sehr distanziert zu sein, also zumindest zu männlichen Personen, zu weiblichen ist es überhaupt kein Problem. (Denise I, 883:915)
Es bleibt nicht bei neugierigen Blicken, denn insbesondere Männer versuchen häufig, ihre Bekanntschaft zu schließen, was Denise als „sexual harrassment“ empfindet. Sowohl neugierige Blicke („Anstarren“) als auch „aufgezwungene“ Gespräche stellen Übergriffe auf ihre Privatsphäre dar, da beides ihr Bedürfnis nach Distanz ignoriert. Lässt sie sich einmal auf spontan entstehende Gespräche ein, so entsteht auch hier das Gefühl, ihre Distanz nicht wahren zu können, wenn der taiwanesische Gesprächspartner gleich „fünf Schritte weiter“ denkt, als ihr selber lieb ist. Bewegungen in der Öffentlichkeit gehen daher für Denise mit der Notwendigkeit einher, Distanz aktiv herstellen zu müssen. Dies bedeutet, auf nächtliche Ausflüge allein zu verzichten, auch tagsüber sich nicht längere Zeit an bestimmten Orten aufzuhalten und Gesprächsangebote (bzw. „Anmache“) zu ignorieren. Angesichts der ständigen, zumindest potentiellen Bedrohung ihres Wunsches nach Distanz beschränkt sich ihre Privatsphäre, wie Denise feststellt, letztlich auf ihr eigenes Zimmer. Nicht immer ist es möglich, Distanz zu wahren. Auch in Gesprächen mit Bekannten erlebt Denise, dass sie mit neugierigen Fragen konfrontiert wird, die sie als unangemessen „direkt“ empfindet, wie beispielsweise Fragen nach dem Einkommen ihrer Eltern oder danach, ob sie einen Freund habe. Diese Fragen 186
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werden nicht von engen Freunden gestellt, sondern von ihr zunächst völlig Fremden, die mit ihr auf diese Weise ein Gespräch beginnen3: Die erste Frage, die mir meine Mitbewohner gestellt haben, als ich eingezogen bin, habt ihr einen Mercedes. Habe ich gesagt, nein, warum? Warum? Das ist das beste Auto, das ist ein deutsches Auto, das kostet viel Geld. Wie viele Autos habt ihr, wie viele Computer habt ihr zu Hause? Wie viel Geld verdienen deine Eltern? Gleich diese direkten Fragen. … egal wo ich hinkomme, egal mit welchen Leuten ich in Kontakt komme, die erste Frage ist immer, hast du einen Freund, was machst du hier, bekommst du ein scholarship, was machen deine Eltern, sind deine Eltern reich? (Denise I, 846:859)
Für Denise bedeuten diese Fragen eine doppelte Fremdheitserfahrung, denn nicht nur das Dialogformat ist ihr unbekannt (in Deutschland gelten diese Fragen als ‚persönlich‘ und werden, wenn überhaupt, nur engeren Freunden gestellt, siehe dazu Liang, 1998), sondern auch die Wertmaßstäbe, die sie hinter den Fragen vermutet, sind ihr fremd. Nicht nur sind die Fragen „direkt“, sondern sie zielen stets auf das Abschätzen des materiellen Hintergrundes des Gegenübers. Fragen, wie die nach Einkommen oder Auto, stellen daher nicht nur einen Angriff auf ihre Privatsphäre dar, indem sie aus Denises Sicht eine Vertrautheit voraussetzen, die nicht gegeben ist, sie stehen zudem in direkten Kontrast zu ihren eigenen Werthaltungen und Überzeugungen. Übergriffe auf Werthaltungen, Überzeugungen, Selbstwert und Würde In Beobachtungen und Gesprächen mit taiwanesischen Bekannten und Freunden sieht Denise sich immer wieder mit ihr fremden Gewohnheiten und Weltanschauungen konfrontiert. Sie registriert eine große Vielfalt an Praktiken, die sie – insbesondere unter den jungen Erwachsenen, mit denen sie hauptsächlich zu tun hat – nicht erwartet hat, wie zum Beispiel das Festhalten an traditionellen Geschlechterrollen oder die Bedeutung von Hierarchien in Familien und unter Freunden. Denise zieht sich nicht auf die Rolle einer distanzierten Beobachterin zurück, die Unterschiede lediglich registrieren würde. Für sie bedeutet die abweichende Praxis zugleich eine unmittelbare Herausforderung ihrer eigenen Ansichten und Werthaltungen. Die taiwanesische Art, Dinge zu tun, schildert sie als „erschreckend“ oder „störend“. Ist schon die Existenz der Praxis ein Angriff auf ihre Weltsicht, so wird der Angriff dadurch verstärkt, dass ihre Gesprächspartner diese Praxis ihr gegenüber auch argumentativ ver3 Die Gesprächspartner folgen damit dem im Chinesischen weithin beachteten Gesprächsformat des „wen hou“, d.h. sie versuchen als Zeichen ihres Interesses und Respekts eine persönliche Beziehung herzustellen (Liang, 1998, S. 117 ff.). In deutsch-chinesischen Gesprächen führt das abweichende Diskursmuster von Kennenlerngesprächen immer wieder zu Irritationen auf beiden Seiten, da der deutsche Gesprächspartner die Fragen als unangemessen neugierig empfindet und chinesische Gesprächspartner die Kurzangebundenheit der Deutschen als Desinteresse und Ablehnung interpretieren (ausführlich dazu z.B. Günthner, 1993). 187
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treten. Immer wieder erfährt sie, dass nicht nur ihre Sicht der Dinge nicht geteilt wird, sondern dass ihre Ansichten und Einstellungen auch auf blankes Unverständnis stoßen. Wäre beispielsweise Denises Beobachtung, dass Umweltschutz in Taiwan keine große Rolle spielt, noch mit ihren Überzeugungen (dass Umweltschutz wichtig sei) vereinbar gewesen, auch wenn dieser Umstand von ihren Freunden kritisiert würde, so ist sie mit einer Situation konfrontiert, in der ihre eigenen Vorstellungen nicht vermittelbar sind. Da ihre eigenen Werthaltungen für sie unhintergehbar sind, ist sie mit einer Vielzahl von konflikthaften Beobachtungen und Diskussionen konfrontiert, die jeweils als Übergriffe des Fremden auf das Eigene zu Buche schlagen. Denise verfügt über große Sensibilität für das Aufspüren entsprechender Differenzen, deren Schilderungen stets mit einer Beschreibung verbunden sind, wie die taiwanesische Praxis auf Denise selbst wirkt (zum Beispiel „seltsam“, „erschreckend“, „lächerlich“, usw.). Die Sensibilität, die Denise an den Tag legt, offenbart sich so als Sensibilität für Angriffe auf ihre eigenen Überzeugungen und Werthaltungen. Es handelt sich um Angriffe auf zentrale Bestandteile ihrer Selbst- und Weltsicht, die nicht so leicht ‚wegzustecken‘ sind. Neben den schon erwähnten Geschlechtsrollendefinitionen gehören hierzu die Unterordnung der erwachsenen Kinder in den Familien, Intoleranz gegenüber Homosexuellen und Ausländern, die starke Betonung materiellen Besitzes, mangelnder Umweltschutz, die starke religiöse Ausrichtung und Aberglaube, eine verbreitete Oberflächlichkeit von Gesprächen sowie die allfällige, kritiklose Begeisterung für die USA. Alle diese Praktiken verstoßen direkt gegen ihre eigene, liberalere Weltsicht, keine lässt sie in den Schilderungen unwidersprochen stehen, d.h. ohne ihre Ablehnung zu betonen. Die folgenden Zitate stehen stellvertretend für eine größere Anzahl ähnlicher Kommentare.4 Diese Prestigesachen sind für die Taiwanesen so unendlich wichtig, dass die anderen Sachen, wie zum Beispiel Liebe oder Familie oder so, ein bisschen hintenangestellt werden. Also das fand ich doch sehr erschreckend. (Denise I, 859:870) Und auch diese Männer-Frauen Sache, das ist ja hier immer noch sehr, sehr veraltet im Gegensatz zu Europa. I: Wie meinst du das? D: Na ja, zum Beispiel, dass eine Frau den Haushalt machen muss, für die Kinder zuständig ist, gut aussehen muss, für den Mann da sein muss und der Mann halt das Geld verdient und das war’s. Und dass es halt nicht unbedingt gern gesehen wird, wenn die Frau halt sehr intelligent ist, sich sehr viel bildet, moderne Ansichten hat, fortschrittliche Ansichten hat, also das ist hier nicht so gerne gesehen. Auch unter den Jugendlichen, und das hat mich ein bisschen erschreckt, muss ich sagen. (Denise I, 779:792)
4 Alle Zitate stammen aus dem ersten Interview, doch bedeutet dies nicht, dass sie zu späteren Zeitpunkten keine Gültigkeit mehr besäßen. Denise kommentiert später, dass sie selbst überrascht sei, wie gut sie Dinge schon kurz nach ihrer Ankunft habe einschätzen können, und dass sich an ihrem Urteil nichts geändert habe (Denise II, 1051:1056). 188
EINZELFALLANALYSEN Das ist diese Ranghierarchie, die hier immer noch existiert, selbst die Schüler und Studenten untereinander, die reden sich mit, was weiß ich, senior classmate und junior classmate und so an, also nicht mit ihrem Namen, sondern mit ihrer Rangstellung sozusagen. Und das ist für mich was sehr, sehr Seltsames, hen qi-guai. (Denise I, 1209:1213) Also das ist mir wirklich richtig aufgefallen, ich habe auch mit ihr darüber gesprochen, weil, ich habe sie auch gefragt, ja wie bist du denn auf das Studium gekommen? Ja, mein Vater hat es mir ausgesucht. Ich sage, was? Da haben wir darüber ein bisschen geredet, sie hat versucht mir zu erklären diese taiwanesische Kultur, wie das funktioniert und so. Und das ist erschreckend, absolut erschreckend. (Denise I, 1541:1546) Und das finde ich so erschreckend, man ist als Jugendlicher doch schon sehr eingeschränkt in seiner eigenen Privatsphäre, weil die Eltern haben noch solch einen Druck und Einfluss auf die Kinder hier, das ist erstaunlich. (Denise I, 829:833) Auf der einen Seite finde ich das absolut widersprüchlich, Taiwan ist so ein Hightech-Land und total modern eingestellt und ist mit eines der reichsten Länder der Welt und was weiß ich noch alles, aber auf der anderen Seite solche veralteten, festgefahrenen Ansichten, das passt irgendwo überhaupt nicht zusammen. Und dann wieder die typische Sache mit dieser Gläubigkeit. Auf der einen, ja, was weiß ich, ich glaube an viele Götter und dieser Aberglaube, und dann geht man in die Tempel, um zu beten und man Coca-Cola Büchsen hin, das ist doch total lächerlich eigentlich. (Denise I, 1551:1560)
Während Denise die taiwanesische Praxis „seltsam“ und „erschreckend“ findet, ist sie zugleich damit konfrontiert, dass ihre eigenen Ansichten aus taiwanesischer Perspektive nicht weniger ungewöhnlich erscheinen. Immer wieder erlebt sie, dass eine Verständigung durch Gespräche nicht erreicht werden kann. Denise stellt fest, dass ihre Ansichten nicht vermittelbar sind bzw. dass sie selbst für viele Taiwanesen „seltsam“ sei. Dass sie im folgenden Zitat den chinesischen Ausdruck „qi-guai“ (= seltsam) verwendet, markiert nicht nur den Perspektivwechsel (hier spricht sie aus taiwanesischer Sicht), sondern resultiert vermutlich auch aus dem Umstand, dass sie selbst diesen Ausdruck bereits so oft in Reaktion auf ihre Ansichten gehört hat: Was man halt dann später mitkriegt, das sind die verschiedenen Ansichten, die die Leute hier doch haben, und dass die eigenen Ansichten dann doch eher als qi-guai angesehen werden, als merkwürdig. (Denise I, 668:674)
Insbesondere ein Mitbewohner findet vieles von dem, was sie tut, sagt und isst, merkwürdig und irgendwie lächerlich. Denise und ihre australische Mitbewohnerin versuchen geduldig, ihm ihre Gewohnheiten zu erklären, doch gelingt ihnen dies nicht wirklich. Schließlich stellen sie ihre Bemühungen ein und werben für seine Akzeptanz, dass sie eben anders seien: Aber dann hat er halt nicht verstanden, warum wir kein Fleisch essen, das war für ihn auch mit sehr ausschlaggebend, also er fand das sehr merkwürdig und dumm und so’ne Kindergewohnheit. Und er hat das nicht verstanden, wie wir uns gekleidet haben, was wir für Musik hören und was wir für Ansichten haben, wie zum Beispiel 189
INTERKULTURELLES LERNEN Umwelt, dass wir das halt nicht verstehen, warum jeder mit dem Scooter hier fährt und nicht mit dem Fahrrad und diese ganze Umweltsituation an sich. Also wir hatten da oft sehr große Auseinandersetzungen. (Denise I, 732:740) Und er hat immer gefragt, warum isst du das, was ist das, was isst du da, also wenn wir dann uns irgendwas was zu Essen geholt haben und hingesetzt haben und gegessen haben. Eh, zhe shi shen-mo, zhe shen-mo, und uns ist das dann wirklich auf die Nerven gegangen und wir sind dann auch richtig böse drüber geworden, aber wir haben uns dann immer gesagt, o.k., das ist ein anders Land, eine andere Kultur. (Denise I, 769:775) Wir haben vorher schon oft genug gesagt, akzeptiert, dass wir anders sind, akzeptiert, dass wir Ausländer sind. Wir versuchen zu lernen, wir versuchen zu akzeptieren und tolerieren, aber es wäre nett, wenn ihr über uns nicht lachen würdet und uns nicht verspotten würdet. (Denise I, 1337:1341)
Die Akzeptanz für ihr Anderssein ist nicht leicht zu finden. Immer wieder fühlt Denise sich nicht nur in ihren Ansichten, sondern sogar in ihrer Würde angegriffen (sie fühlt sich „verspottet“). Es scheint ihr nicht unplausibel, dass ihr taiwanesischer Mitbewohner die Ausländer in der WG „nicht so als vollen Menschen“ betrachtet. Das folgende Zitat bezieht sich zwar auf die Homosexualität eines kanadischen Besuchers, mit dem der Mitbewohner in Streit gerät, doch ist bereits die Vermutung dieser Einstellung ein Hinweis auf Denise Empfindungen: […] und dann hat der Taiwanese gesagt, wie kannst du, du als Ausländer, es kam noch hinzu, dass er homosexuell war, das hat er natürlich auch überhaupt nicht verstanden, und hat ihn wahrscheinlich auch nicht so als vollen Mensch angesehen, ich weiß nicht warum. (Denise I, 1161:1165)
Die Ablehnung ihrer Ansichten erlebt Denise nicht als Reaktionen auf ihre individuellen Äußerungen, sondern als Reaktion auf das Kollektiv „Ausländer“, dem sie angehört. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass sie von anderen westlichen Ausländern nicht als „seltsam“ eingestuft wird, sondern dass dies konsistent ausschließlich durch Taiwanesen geschieht. Indem sie als Ausländerin nicht nur als „anders“, sondern als „seltsam“ betrachtet wird, gewinnt der Umstand, dass sie durch ihr Aussehen stets als solche identifizierbar ist, eine verschärfte Bedeutung. Zu den Übergriffen auf ihre Privatsphäre durch Anstarren oder Anmache gesellt sich stets der potentielle Angriff, in den eigenen Überzeugungen abgelehnt zu werden und unverstanden zu bleiben. Reaktionen auf die Übergriffe Denise versucht Übergriffen auf ihre Privatsphäre aus dem Weg zu gehen, indem sie bestimmte Orte und Situationen meidet. Angriffe auf ihre Ansichten und Einstellungen versucht sie durch Gespräche zu entschärfen, in denen sie ihre Weltsicht erklärt und für die Akzeptanz ihres Andersseins wirbt. Doch 190
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auch wenn es ihr bisweilen gelingt, sich selbst mitzuteilen und Verständnis zu wecken, so kann sie doch an der taiwanesischen Praxis nichts ändern. Ihr selbst ist das nur allzu bewusst, und so schließt Denise, dass sie die taiwanesischen Gewohnheiten nur als „gegeben“ hinnehmen kann. An ihrer kritischen Einstellung ändert dies jedoch nichts. Sie betont, dass sie sich zwar um Toleranz bemühe, dass sie aber die taiwanesische Praxis trotzdem nicht „akzeptieren“ könne: Das ist eine Sache, die ich überhaupt nicht verstehe. Na ja, aber das muss ich als gegeben nehmen, ich kann es nicht ändern, ich will es auch nicht ändern, um Gottes willen, das steht mir überhaupt nicht zu. (Denise I, 1236:1253) Ich meine, gut, man kann es vielleicht tolerieren, aber nicht akzeptieren. (Denise I, 1550:1551)
Diese Haltung bedeutet für Denise, sich mit Dingen zu arrangieren, die ihr nicht nur inakzeptabel erscheinen, sondern die in verschiedener Hinsicht ständige Übergriffe auf ihre Bedürfnisse nach Distanz, nach Anerkennung ihres Standpunktes und ihrer Würde darstellen. Auf Dauer führt dies dazu, dass Denise sich ein „dickes Fell“ zulegt, das einen Teil dieser Übergriffe nicht mehr in ihr Bewusstsein durchlässt. Dies ist zum Beispiel der Fall im Hinblick auf das unverändert vorhandene Anstarren in der Öffentlichkeit. Als Denise nach einem halben Jahr Besuch von einer deutschen Freundin bekommt, registriert diese die vielen neugierigen Blicke. Denise hingegen stellt fest, sie habe sich schon daran gewöhnt: Ich glaube, ich habe mich teilweise schon so daran gewöhnt... zum Beispiel als meine Freundin gekommen ist, und ich habe ihr so am Anfang dies und jenes gezeigt, die Läden, wo sie einkaufen kann und die hat gemeint, oh nee, die gucken mich alle an und das ist ja furchtbar. Und ich sage, ja? Ich glaube, das merke ich schon gar nicht mehr so. Oder jetzt auch so, dass zum Beispiel, wenn wir irgendwo reinkommen in einen Laden die Verkäuferinnen so (mit leiser Stimme) wai guo ren, auf uns zeigen. Da meint sie, guck mal, die tuscheln schon wieder, und ich sag, reg dich doch nicht auf, das kriegst du irgendwann gar nicht mehr mit. Also solche Sachen, die mich am Anfang tierisch aufgeregt haben, dass ich halt angesprochen werde, so „hello“, diese blöden Anmachen. So was bekomme ich schon gar nicht mehr mit, weil da habe ich wahrscheinlich schon so ein dickes Fell entwickelt, dass ich das schon gar nicht mehr mitkriege. Gut so, sonst würde ich mich nur aufregen. (Denise II, 791:806)
Dass das „dicke Fell“ nur ein äußerer Schutz ist, verrät der letzte Satz. Weder hat sich an der Art der Übergriffe etwas geändert noch an ihrer Ablehnung. Wäre Denise sich der Blicke weiterhin bewusst, müsste sie sich wie zuvor darüber „aufregen“. Wie im Falle der aufdringlichen Blicke hat Denise sich auch an andere Dinge „gewöhnt“. Nach einem halben Jahr beobachtet sie an sich selbst, dass sie sich durch den Aufenthalt verändert. Sie kann nun Dinge akzeptieren, die sie anfangs aus dem emotionalen Gleichgewicht gebracht haben. Ihre folgende Bemerkung spiegelt ihre Anpassungsstrategien wider, die vor allem darin be191
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stehen, fremde Dinge anzunehmen, zu akzeptieren und die Grenzen der Toleranz zu erweitern: Aber es ist erstaunlich, wie man sich ändert in dieser ganzen Zeit, was man für Entwicklungen durchmacht, vor allen Dingen auch Erfahrungen. Also mir geht es jedenfalls so, also die Anfangszeit, muss ich sagen, ich hatte wirklich Gefühlswellen von hoch, tief, hoch, tief, jeden Tag, jeden Tag. Und dass man als Mensch von Emotionen so durchrüttelt werden kann, das ist erstaunlich, und dass man so was intensiv im Ausland erlebt, das ist faszinierend. Faszinierend. Und dass man auch sich selber auch sich kennen lernt, an seine Grenzen stößt und rausfindet, inwieweit man doch Dinge akzeptiert, inwieweit man sich an Dinge gewöhnt, wie dehnbar eigentlich das eigene Innere ist, das ist so faszinierend, das ist so faszinierend. Ich würde solche Erfahrungen nie in Deutschland machen, nie. (Denise II, 933:945) Der Mensch ist ein Gewöhnungstier, es ist erstaunlich, an was man so gewöhnen kann. Oder an so Kleinigkeiten halt, dass man halt eben die Gewohnheiten und der Gepflogenheiten der Taiwanesen doch wirklich... am Anfang, dass man sagt, um Gottes willen, das ist ja sehr merkwürdig und die sind ja bekloppt, und was machen die denn überhaupt, und das ist ja überhaupt nicht logisch, was die machen. Aber man nimmt es als gegeben, man gewöhnt sich daran. (Denise II, 830:837)
Interessanterweise tritt neben die erweiterte Duldsamkeit jedoch kein tieferes Verständnis dessen, was sie so leicht aus der Bahn werfen kann. Denise beschäftigt sich damit, Differenzen zu inventarisieren, und nicht damit, sie zu analysieren. Die Erklärung, dass die taiwanesische Praxis kulturell und historisch sich eben so und nicht anders entwickelt habe, markiert Anfang und zugleich Ende vereinzelter Analyseversuche. Letztendlich aber ist für Denise nicht das Verständnis der kulturellen Praxis von Bedeutung, sondern der Umstand, dass sie diese nicht nachvollziehen kann: Sicherlich ist es eine Sache von Geschichte und langen kulturellen Sachen, aber ich kann es nicht nachvollziehen. (Denise I, 1108:1127)
Die „Erklärung“, dass es sich hier um „kulturelle Sachen“ handelt, beendet zugleich jede weitere Frage nach den speziellen Sinnzusammenhängen oder möglichen Differenzierungen. Die Diskrepanz, die sich zu ihren Einstellungen offenbart, ließe sich höchstens durch das Ändern der taiwanesischen Praxis erreichen, doch das, weiß sie, „steht ihr nicht zu“, ist unmöglich. Auch in der Verständigung über diese Praxis hofft Denise vor allem darauf, Verständnis bei der anderen Seite für ihre Ansichten zu wecken, nicht ein Verständnis für die andere Seite selbst zu entwickeln. Wie auch im Hinblick auf taiwanesische Gewohnheiten muss sie sich auch hier schließlich damit abfinden, dass sich dieses Verständnis nicht einstellt. Etwas resigniert stellt sie fest „das ist wahrscheinlich wieder mal meine typisch europäische Art zu denken, was die Chinesen ja nun gar nicht verstehen“. Als Problem erscheint ihr nicht, dass sie aufgrund ihrer europäischen Denkart die Chinesen nicht verstehen kann, sondern umgekehrt, dass sie in ihrer europäischen Art von den Chinesen nicht verstanden wird:
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EINZELFALLANALYSEN […] zum Beispiel diese Sache mit dem Heiraten hier. Egal wie arm eine Familie ist, sie gibt das Letzte, um ein pompöses Fest zu machen, egal wie viel Schulden sie dann im Nachhinein haben, das ist auch so eine Sache für mich um dieses face, keeping the face. ... das ist so eine Sache, womit ich nicht ganz einverstanden bin. Ich meine, ich kann es akzeptieren, aber ich kann es nicht tolerieren. Also das ist wahrscheinlich wieder mal meine typisch europäische Art zu denken, was die Chinesen ja nun gar nicht verstehen. Aber ich weiß nicht, ja sicherlich ist es eine Sache von Geschichte und langen kulturellen Sachen, aber ich kann es nicht nachvollziehen. (Denise I, 1108:1127) Und er hat das nicht verstanden, wie wir uns gekleidet haben, was wir für Musik hören und was wir für Ansichten haben, wie zum Beispiel Umwelt, dass wir das halt nicht verstehen, warum jeder mit dem Scooter hier fährt und nicht mit dem Fahrrad und diese ganze Umweltsituation an sich. Also wir hatten da oft sehr große Auseinandersetzungen. (Denise I, 732:740)
Sie verlangt von der anderen Seite Verstehensleistungen, zu denen sie selbst nicht bereit ist. Statt sich um Verständnis dafür zu bemühen, dass „jeder mit dem Scooter hier fährt“, beklagt sie, dass ihr Mitbewohner nicht versteht, dass sie nicht versteht, warum so wenige Leute Fahrrad fahren. Eine Relativierung ihres eigenen Wertesystems und Weltbildes findet dabei nicht statt. Stattdessen bestätigt sie zum Zeitpunkt des zweiten Interviewtermins ihre anfänglich gewonnenen Einsichten: Also ich habe mir wie gesagt die Abschrift durchgelesen und ich muss dazu sagen, dass ich es am Anfang ziemlich gut eingeschätzt habe, also hätte ich nicht gedacht. Hätte ich gedacht, na ja, vielleicht änderst du deine Meinung noch mal oder es kommen noch irgendwelche anderen positiven oder negativen Erfahrungen dazu. Nee, es hat sich nichts geändert, mein Statement ist gleich geblieben. (Denise II, 1050:1060)
Und auch beim letzten Treffen (nach 11 Monaten in Taiwan) schildert sie nichts Gegenteiliges. Auf diese Weise verbleibt Denise in einer Situation, die ständige Übergriffe bereithält. Dass sie ihr „dickes Fell“ vor diesen Übergriffen nur unzureichend abschirmt, wird im weiteren Verlauf deutlich. So sind auch beim letzten Interviewtermin die Grenzverletzungen ein Thema, die sich in einzelnen Begegnungen sehr zugespitzt haben und auf die Denise schließlich mit neuen Formen der ‚Gegenwehr‘ reagiert. Insbesondere die Erfahrungen, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem Deutschlandurlaub macht, zeigen jedoch, dass schon das ‚normale‘ Maß an Übergriffen plötzlich zu viel wird und von Denise vorübergehend nicht bewältigt werden kann. Der Heimaturlaub Über Weihnachten fährt Denise für vier Wochen nach Deutschland, um ihre Familie und ihren Freund zu sehen. Der Urlaub ist auch ein Urlaub von der Fremde und von den Übergriffen, denen sie durch sie ausgesetzt ist. Die Übergriffe nehmen schon am Flughafen in Taipei ab, wo sie nicht mehr so ange193
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starrt wird wie an ihrem Studienort. Denise fühlt sich ganz „erlöst“ und registriert erfreut, dass sie – in Europa angekommen – wieder unauffällig in der Masse verschwindet. Als sie nach Taiwan zurückkehrt, bricht die Fremde wieder über sie herein. Anders als bei ihrer ersten Ankunft in Taiwan geht es nicht darum, sich zurechtzufinden, denn sie kehrt in ihr ‚altes‘ Leben zurück. Doch das erneute Angestarrt werden, Klima, Zeitzone, Essen, Unterricht, Freunde addieren sich zu einer Summe von Übergriffen, mit deren Wucht Denise nicht gerechnet hat. Sie reagiert mit „Abwehr“ und verbringt zwei Wochen zurückgezogen in ihrem Zimmer, lebt von deutschem Essen und liest deutsche und englische Bücher: Und dann auch komischerweise das Essen, dass alles, was ich vorher gerne gegessen habe und getrunken habe, das hat mir überhaupt nicht mehr geschmeckt. Das war ääh, und wie konntest du das nur vorher gegessen haben und so ein Mist. Und dann haben mich die Leute hier genervt. Und dann das Chinesischstudium, das hat mir überhaupt keinen Spaß gemacht, ich habe das richtig verweigert regelrecht. Also, ich habe dann mein Essen gegessen, was ich mir aus Deutschland mitgebracht habe und habe halt englische Bücher und deutsche Bücher gelesen. Also ich habe das erst mal total... irgendwie, es war wie so eine richtige Abwehr, das war total komisch. (Denise II, 71:81) Also, die vier Wochen Deutschland, also im Nachhinein sage ich mir, das war falsch, nach Hause zu fahren. Also, ich hätte es lieber nicht machen sollen, das war auf alle Fälle nicht gut, das hat mich ganz schön wieder zurückgeworfen. Ich meine jetzt nicht, dass ich mich an alles gewöhnen musste, weil alles fremd war, also weil gut, ich kannte das ja schon, aber irgendwie so eine Abwehr halt, dass du sagst, nee, ich will das nicht und ääh, die Leute, wenn die mich auf der Straße angeguckt haben, dass mich das schon wieder auf die Palme gebracht hat. Warum guckt mich denn nur so an? Weil, das war... in Taipei halt habe ich das auch schon am Flughafen gemerkt, da waren auch teilweise so ein paar Ausländer, und da wirst du halt auch nicht mehr so angeguckt. Und das fand ich ziemlich erlösend sozusagen. Und dann in London am Flughafen, oh, alles Europäer (lacht), oh, was ist denn hier los? Das war ganz, ganz seltsam, nur noch europäische Gesichter zu sehen. Und von daher hat mich das dann ganz schön genervt. Na ja, (kurze Pause) ja, ich meine, zwei Wochen, dann war das wieder o.k.. (Denise II, 84:100)
Zurückgezogen in ihr Zimmer lebt sie das ‚Eigene‘, ohne sich zunächst auf das ‚Fremde‘ wieder einlassen zu wollen. Das Problem ist nicht ihre Orientierungslosigkeit, sondern das Empfinden einer starken Abwehr und des Gefühls „nee, ich will das nicht“. Neben die schon vorher vorhandene Nichtakzeptanz tritt damit das Gefühl, die taiwanesische Praxis nun auch nicht mehr tolerieren zu können bzw. zu wollen. Nur langsam und durch das Anknüpfen an schöne Erfahrungen (wie zum Beispiel Reisen) findet Denise den Weg aus dieser Abwehr und schöpft neue Energie für die verbleibenden Monate. Ausnutzen und Rumschubsen Zum Zeitpunkt des letzten Interviewtermins hat sich die Situation differenziert: Einerseits hat Denise eine Reihe unkomplizierter und teilweise enger Freundschaften geknüpft, die sie sich in Taiwan sehr wohl fühlen lassen. An194
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dererseits erlebt sie einige heftige Konflikte und Ärgernisse, die sie zum Zeitpunkt des Interviews stark beschäftigen. Wieder sind es Übergriffe auf ihre Privatsphäre sowie das Abwerten ihrer Kompetenzen und Ansichten (als Ausländerin), die sie wütend machen. Neben die äußerlich demonstrierte Duldsamkeit treten jetzt jedoch aktive Strategien der Gegenwehr. So entwickelt sich infolge eines Angebots, in einem Kindergarten Englisch zu unterrichten, eine für Denise sehr unangenehme Situation. Nachdem Denise sich nur zögerlich auf das Angebot einlässt, wird sie mit Bitten geradezu bestürmt, und schließlich sagt sie zu. In der Folge wird sie – unbezahlt – für Werbeaktionen der Sprachschule eingesetzt, die von ihr mit dem Hinweis verlangt werden, der Job werde sonst an jemand anders vergeben. Auch Übersetzungsdienste werden von ihr verlangt, ohne dass sie dafür bezahlt würde und ohne dass auf ihre Freizeit Rücksicht genommen würde: Und da meinten sie, so Denise, du machst heute noch eine halbstündige Demo. Ich sage, wieso, ich habe das doch schon gemacht. Meinten sie, nee, das ist jetzt für die Eltern. Ich sage, wieso habt ihr mir das denn vorher nicht gesagt? Meinten sie, na ja, das ist doch kein Problem für dich und du machst das jetzt. Die haben mich echt dazu gezwungen. Da habe ich gesagt, nee, ich mache das nicht. Da haben sie gesagt, wenn du es nicht machst, kriegst du den Job nicht, und wir haben noch jede Menge andere Ausländer, die auf den Job warten. Obwohl ich genau wusste, dass es nicht so war. Aber die haben mich dann echt unter Druck gesetzt. Und dann habe ich das 10 Minuten gemacht. (Denise III, 521:531)
Denise fühlt sich „unter Druck gesetzt“ und leidet unter den zahlreichen Anrufen der Sprachschule, die schließlich der ganzen Wohngemeinschaft das Leben schwer machen. Übergriffe reichen diesmal bis an ihre Zimmertür und das Telefonklingeln bis in die Privatsphäre ihres Zimmers hinein: Die hatte zu unmöglichen Uhrzeiten angerufen. Ich habe manchmal fünf Zettel an meiner Tür kleben gehabt, Nancy called, Nancy called, Nancy called, das war furchtbar. Und da habe ich gesagt, na warte, dir zeig ich es, weil die uns wirklich tyrannisiert hat. (Denise III, 550:567)
Denise fühlt sich rumgeschubst und „benutzt“ (Denise III, 550). Als sich die Leiterin der Sprachschule sogar in Fragen ihrer Kleidung einmischt, werden Denise die Übergriffe zu viel und sie wehrt sich dadurch, dass sie „extra“ nicht auf die Empfehlungen hört: Da meinten sie doch so zu mir, ja, Denise, aber wenn du am Samstag kommst, bitte zieh dir was Ordentliches an. Ich meine, du bist so hübsch und so piao-liang, du kannst ruhig mal einen Rock anziehen. Sage ich, tut mir leid, ich fahre Fahrrad, da kann ich keinen Rock anziehen. Ach, das geht schon, das geht schon. Und bitte schmink dich. Ich sage, wieso soll ich mich schminken? (I. lacht). Ja, ja, du bist doch ein Mädchen, und da muss das doch alles ganz toll aussehen. Da dachte ich, mein Gott, ich bin keine Taiwanesin. Und ich habe dann mit Absicht nichts anderes angezogen, ich habe mit Absicht kein Make-up benutzt. (Denise III, 596:613)
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Schließlich verlässt Denise die Sprachschule nach zwei Wochen, obwohl sie eine längere Arbeitsdauer zugesagt hat. Sie tut dies, weil sie nach Deutschland abreist, aber auch in der bewussten Kalkulation, dass sie die Sprachschule damit in eine schwierige Situation bringt, denn diese kann nur schwer kurzfristig Ersatz für sie organisieren. Denise empfindet dies als angemessenen Ausgleich für die Art, in der sie dort behandelt wurde. Den Übergriffen der Sprachschule setzt sie damit gezielt ein Ende, doch ist sie zu diesem Zeitpunkt bereits erkrankt und muss ihre Abreise vorziehen, um in Deutschland ärztliche Behandlung zu suchen. Übergriffe auf den Körper Die Erkrankung bestätigt Denises anfänglich geäußerte Furcht, in Taiwan körperlich „verletzbar“ zu sein. Zu Beginn des ersten Interviews bemerkt sie, wie der chaotische Verkehr, die Umweltverschmutzung und die zahlreichen Erdbeben (es handelt sich hier um die Nachbeben des großen Erdbebens im September 2001, das sie wenige Tage nach ihrer Ankunft erlebt) in ihr das Gefühl wecken, „wie schnell es eigentlich doch sein kann, dass man verschwindet“: Diese Kleinigkeiten, die sind dann irgendwie wichtiger als alles andere, also das habe ich hier wirklich gemerkt. Und dass man auch sehr intensiv lebt, viel mehr nachdenkt, und sich selber auch irgendwo, speziell jetzt auch durch diesen chaotischen Verkehr, diese Umweltverschmutzung oder auch diese Erdbeben, also man denkt da viel, viel intensiver über sich selber nach und wie schnell es eigentlich doch sein kann, dass man verschwindet. Also das habe ich persönlich festgestellt, dass ich sehr leichter persönlich verletzbar bin, als wenn ich zu Hause bin. (Denise I, 135:143)
Ohne dass ihr zunächst tatsächlich körperlicher Schaden widerfährt, entsteht in ihr doch das Gefühl größerer Verletzbarkeit. Dieses Gefühl ist nicht nur geographisch an Taiwan gebunden – wo sie mit objektiv vorhandenen Gefahren konfrontiert ist –, sondern erfährt eine weiter gehende Deutung durch den Kontrast mit „zu Hause“. Damit wird nicht nur der Vergleich angestellt, dass Taiwan mehr Gefahren aufweise als Deutschland, sondern das Gefühl ausgedrückt, dass der Sicherheit des „zu Hause“ eine prinzipielle Verletzbarkeit in der Fremde gegenübersteht. Wie der weitere Verlauf zeigt, ist die Furcht nicht unbegründet. Ihr Körper erweist sich als verletzbar, wenn auch nicht gegenüber den eingangs vermuteten Gefahren, sondern gegenüber unsichtbaren Krankheitserregern. Die Diagnose lautet auf eine Viruserkrankung, die alle Organe ihres Körpers angegriffen hat und die als so ernst eingestuft wird, dass die Ärzte erwägen, sie nach Deutschland ausfliegen zu lassen. Durch die Erkrankung fühlt sich Denise schließlich völlig „lahm gelegt“. (Denise III, 242) Denise ist nicht mehr in der Lage, ihrem gewohnten Leben nachzugehen. Sie verliert an Gewicht und fühlt sich energie- und kraftlos. Schließlich fällt 196
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ihr schon das Aufstehen schwer, und ihren Chinesischunterricht gibt sie auf, weil sie sich nicht mehr konzentrieren kann: Die ersten 14 Tage im Juni war es noch so einigermaßen ertragbar, aber es gab dann so ab Mitte Juli so eine Zeit, da ging es dann gar nichts mehr. Und da hatte ich auch gerade mit dem neuen Semester angefangen, musste früh morgens um sieben aufstehen, weil ich die erste Stunde hatte, da musste ich dann um acht anfangen mit dem Unterricht. Und das ist mir furchtbar schwer gefallen aufzustehen. Das war egal, wann ich ins Bett gegangen bin, ich war immer total fertig, müde, und das waren wahrscheinlich alles so ne Stressfaktoren, die mit reingespielt haben …. Na ja, das war furchtbar nervig. Wahrscheinlich hat dann die Psyche auch ein bisschen mit eine Rolle gespielt, dass das alles ziemlich schlecht geworden ist. (Denise III, 354:365)
Bezieht sich anfangs ihre Sorge darauf, „wie schnell es eigentlich doch sein kann, dass man verschwindet“, so hat nun ein Schwinden ihrer Kräfte eingesetzt, das ihren Handlungsradius verringert und ganz wörtlich an das Schwinden ihres Körpers gebunden ist, der mehr und mehr an Gewicht verliert. Ihre körperliche Verletzbarkeit hat sich bestätigt; auch auf körperliche Ebene findet ein Übergriff statt, dem sich ihr Körpersystem nicht erwehren kann. Die – lebensbedrohliche – Krankheit ist schließlich der Anlass für die vorzeitige Abreise aus Taiwan.
Schlussfolgerungen für den Lernprozess Die Entscheidung für die Analyse des Falls Denise fiel aufgrund der Beobachtung, dass der Machtaspekt von ‚Gesicht‘ von ihr kaum berücksichtigt wurde und die Einschätzung von ‚Gesicht‘ zugleich negativ ausfiel. Zudem sind Denises Strukturbilder von einer auffallenden Asymmetrie: Während der Themenkomplex ‚Gesicht haben‘ mit einer großen Fülle von Beispielen vertreten ist, finden sich unter dem Stichwort ‚Gesicht geben‘ bis zuletzt keine nennenswerten Einträge. Weiterhin ist auffallend, dass Denise zum ersten Interviewzeitpunkt eine Reihe von Beobachtungen und Beispielen anführt, zu den späteren Terminen jedoch nur marginale Ergänzungen vornimmt. Weist die Differenziertheit des ersten Strukturbildes Denise als aufmerksame Beobachterin einer komplexen sozialen Praxis aus, so überrascht, dass ihr analytischer Blick zum zweiten Interviewzeitpunkt keine neuen Erkenntnisse zu Tage gefördert hat und sie auch zum letzten Interviewzeitpunkt nur wenige Ergänzungen vornimmt. Diese Besonderheiten sind vor den oben ausgeführten Hintergründen verstehbar. Die große Zahl von Beispielen, die Denise bereits im ersten Strukturbild – vor allem im Themenfeld ‚Gesicht haben‘ – integriert, verdankt sich ihrer Sensibilität für Ansichten und Handlungspraktiken, die zu ihren eigenen Überzeugungen und Werthaltungen in Kontrast stehen. ‚Gesicht‘ gewinnt so vor allem an der Schnittstelle von ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘ Kontur, wird jedoch jenseits der Grenze des Eigenen als ‚fremd‘ lokalisiert und zugleich abgelehnt. 197
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So besteht etwa die große Fülle an Beispielen zum Thema ‚Gesicht haben‘ ausschließlich aus – in ihren Augen – fragwürdiger Praxis. Im Zuge ihrer Strategie, die fremde Praxis zu „tolerieren“, nicht aber zu verstehen, ist die weitere Beschäftigung mit ‚Gesicht‘ für sie nicht weiter relevant, bis – wie zum letzten Interviewzeitpunkt – Extremerfahrungen die Grenzen ihrer Toleranz durchbrechen. Wieder sind die im Strukturbild neu aufgenommenen Beispiele (absichtsvolle Täuschung, Selbstmord, vordergründige Freundlichkeit und späteres Explodieren5) mit negativen Bewertungen verknüpft. Denises „dickes Fell“ (s.o.) schützt sie zwar vor externen Angriffen, verhindert jedoch auch eine Auseinandersetzung mit der sie irritierenden Praxis. ‚Gesicht‘ bleibt so ein fremdes Konzept, das sie aufgrund der allzu schnellen Ablehnung nicht als konstruktiv nutzbares Handlungsfeld deutet. Damit ist die instrumentelle Funktion von Gesicht (Gesicht als ‚Tauschwert‘ oder ‚Machtfaktor‘) aus dem Blick, denn diese setzt die Gestaltbarkeit der Situation durch eigene Handlungen voraus. Vielleicht bleibt aus demselben Grund das Themenfeld ‚Gesicht geben‘ leer. Der Begriff selbst weist auf einen aktiven, positiven Umgang mit ‚Gesicht‘ hin, der für Denise gerade nicht erkennbar ist. Solange ‚Gesicht‘ für sie negativ besetzt ist und ihr als Ausdruck überkommener Tradition oder Eitelkeit erscheint, kann sie positiv erlebte Ereignisse nicht unter demselben Begriff subsumieren. ‚Gesicht‘, so legt eine ihrer Äußerungen nahe, ist etwas für „Extremfälle von Charakteren“ 6, nichts für einen positiven, unkomplizierten Umgang miteinander. Vor diesem Hintergrund werden von Denise Erlebnisse nicht mit ‚Gesicht‘ in Verbindung gebracht, die anderen Interviewpartnern typischer Ausdruck des ‚Gesichtgebens‘ sind: großzügige Geschenke. Im letzten Interview erzählt Denise ausführlich von der für sie sehr eindrücklichen Erfahrung, von den
5 Diese Ergänzungen werden von Denise in den Themenfeldern ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht verlieren‘ vorgenommen. Aus der Sorge um das ‚Gesicht‘ resultiere, dass bisweilen falsche Tatsachen vorgetäuscht würden. In Reaktion auf einen selbstverschuldeten Gesichtsverlust stelle Selbstmord eine mögliche Handlungsalternative dar (z.B. nach dem Versagen bei dem Hochschulzulassungsexamen). Ist der Gesichtsverlust durch andere verschuldet, so könne man zunächst freundlich bleiben und das Gesicht wahren, allerdings folge dann später u.U. das ‚Explodieren‘. 6 „I: Und hast du das sonst mal bei deinen chinesischen Freunden irgendwie gehört, dass da einer den Begriff mianzi benutzt und gesagt hat, ach, das macht der alles nur wegen mianzi, Gesicht, oder da geht es nur drum, dem mianzi zu geben oder so? D: Nee, nee, nee, gar nicht, überhaupt nicht. Vielleicht habe ich jetzt auch nicht solche Extremfälle von Charakteren als Freunde, weil die meisten sind wirklich nur nett und lieb und lustig und zuvorkommend und hilfsbereit. Also ich habe jetzt nicht irgendwie jemanden dabei, wo ich sage, oh mein Gott, das ist aber ein schwieriger Charakter, die sind eigentlich alle ziemlich einfach, so an der Oberfläche betrachtet.“ (Denise II, 1116:1127)
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Eltern ihrer Englischschüler, aber auch von Freundinnen mit großen Geschenken verabschiedet worden zu sein. Zwar ist ihr bewusst, dass ein Teil dieser Geschenke ihr gerade in ihrer Rolle als Lehrerin gemacht wurde, doch bringt sie weder den Status, den sie als Lehrerin genießt, noch das Geben von Geschenken mit ‚Gesicht‘ in Verbindung. Stattdessen fragt sie sich: Das ist unglaublich, was ich hier für Geschenke bekommen habe. Manchmal dachte ich wirklich, mein Gott, wieso kriegst du eigentlich so viele Geschenke? (Denise III, 1737:1739)
Eine Erklärung im Rahmen des Konzepts ‚Gesicht‘, die für andere Gesprächspartner offensichtlich erscheint, nimmt Denise nicht vor. Die frühzeitige Festlegung auf eine Deutung von ‚Gesicht‘, die zugleich an die Strategie des nicht weiter forschenden ‚Tolerierens‘ einer abgelehnten Praxis geknüpft ist, verhindert in Denises Fall, dass sie weitere Aspekte des Konzepts ‚Gesicht‘ entdeckt oder für sich selbst als Handlungsfeld eröffnet.
Matthias Biographischer Hintergrund Schon immer hat sich Matthias für andere Länder interessiert, und als er an seiner Universität chinesische Kommilitonen kennen lernt, ist sein Interesse an China geweckt. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive mit China und unternimmt auch eine kurze Reise in die Volksrepublik, um dort Material für seine Arbeit zu sammeln. Nach Abschluss der Dissertation bewirbt er sich für ein Sprachstipendium und erhält die Zusage für ein Auslandsjahr in Taiwan. Da er seine Forschung vorher ganz auf das chinesische Festland ausgerichtet hat, setzt er sich nun erstmalig auch mit Taiwan auseinander, was sich für seine Arbeit als fruchtbar herausstellt. Gemeinsam mit seiner Frau Petra und der kleinen Tochter Mona fliegt er Ende August nach Taipei. Durch Verbindungen ihrer deutschen Kirchengemeinde entsteht der Kontakt zu einer christlichen Organisation in Taiwan, die ihnen preiswert eine Wohnung vermieten kann. Da sie sich um alle organisatorischen und bürokratischen Dinge von Deutschland aus gekümmert haben, reisen sie an, ohne sich um ihre Wohnsituation oder Aufenthaltsgenehmigung weiter sorgen zu müssen. Während Matthias bald seinen Sprachunterricht beginnt, kümmert sich Petra um die Tochter und lernt mithilfe von Sprachaustauschpartnern selbst so viel Chinesisch, wie es geht. Neben den wöchentlich 16 Stunden Sprachunterricht verbringt Matthias Zeit mit der Tochter, besucht einen Kalligraphiekurs oder geht in die Bibliothek. Eine Zeitlang ist er intensiv mit dem Schreiben eines wissenschaftlichen Artikels beschäftigt und nutzt die lokalen Archive, 199
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um zusätzliches Material zu finden. Abends, nachdem er die Tochter ins Bett gebracht hat, ist wieder Zeit zum Lernen und Vorbereiten des Unterrichts. In ihrer Freizeit fährt die Familie häufig in die Stadt und am Wochenende meistens ins Grüne. Ein fester Termin ist auch der Gottesdienst am Sonntag. Die Familie wohnt inmitten des Gewühls eines lokalen Marktes in einer kleinen Gasse in einem ärmlichen Bezirk am Taipeier Stadtrand. Ausländer verirren sich nur selten hierher, und die deutsche Familie ist bald weithin bekannt. Insbesondere die kleine blonde Tochter zieht viel begeisterte Aufmerksamkeit auf sich, und die Eltern haben bisweilen Mühe, das Mädchen vor allzu eifriger Zuneigung zu schützen, die, wie sie finden, wenig Rücksicht auf Monas Bedürfnisse nimmt. An der Universität, an der Matthias Chinesisch lernt, ergeben sich schnell Kontakte und Freundschaften zu taiwanesischen Studenten, die Deutsch studieren. Auch treffen sie hier taiwanesische Studenten wieder, die sie aus der gemeinsamen Studienzeit in Deutschland kennen. Auf der Straße und in der Nachbarschaft wird die Familie immer wieder angesprochen und in freundliche Gespräche verwickelt. Auch in der Kirche, die sie regelmäßig besuchen, lernen sie neue Leute kennen. Langsam erobern sie die chinesische Umgebung, tasten sich an das Essen der Nachtmärkte heran und erweitern ihren Aktionsradius. Sehr beeindruckt ist Matthias von der großen Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Taiwanesen. Teilweise kümmern sich Freunde wie deren Verwandte um die Familie, aber auch fremde Menschen, die sie nur zufällig treffen, begegnen ihnen freundlich und machen ihnen spontan Geschenke. Ihre engsten Freunde in Taiwan sind Taiwanesen, doch gibt es auch einige deutschsprachige Familien mit kleinen Kindern, mit denen sie viel unternehmen. Als Familie werden sie oft eingeladen und erleben, wie sehr das Austauschen (großer) Geschenke zum taiwanesischen Alltag gehört. Matthias genießt das chinesische Essen, die schöne Natur, die Sehenswürdigkeiten und auch das Lernen und Sprechen der chinesischen Sprache. Als er im Frühjahr das Angebot erhält, an einem College zu unterrichten, reizt ihn der Gedanke, den Aufenthalt zu verlängern, sehr. Da ihm jedoch die langfristige berufliche Perspektive unbefriedigend erscheint, lehnt er das Angebot ab. Ein weiterer Grund für die Absage ist die in Taiwan bestehende Luft- und Umweltverschmutzung und die damit verbundene Sorge um die Gesundheit der Tochter. Hinzu kommen die Gefahren durch die außenpolitische Situation, Straßenverkehr, Erdbeben, Schlangen und Taifune, denen sie nicht dauerhaft ausgesetzt sein möchten. Nach Deutschland zieht sie schließlich auch der Wunsch, wieder in größerer Nähe zu ihren Familien zu wohnen. Matthias bemerkt, wie sehr das Jahr in Taiwan ihn, Petra und Mona verändert hat. Nicht nur durch die sprachlichen Fortschritte, sondern auch durch die vielen Erlebnisse in diesem Jahr hat er das Gefühl, sich weiterentwickelt zu haben, mehr Situationen begreifen und meistern zu können, eine größere Bandbreite des Denkens erreicht zu haben.
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„Von der Fremde zur Heimat“: Fremdheit und Befremden Kurz vor seiner Abreise zurück nach Deutschland resümiert Matthias, die anfängliche Fremdheit Taiwans sei dem Gefühl der Vertrautheit gewichen: „Irgendwie ist so eine Bewegung vom Fremdsein zu, dass es Heimat geworden ist hier“ (Matthias III, 12:13). Dieser Prozess des Vertrautwerdens mit Taiwan ist als Hintergrund der in den Strukturbildern festgehaltenen Veränderungen zu verstehen. Er soll deshalb auf der Grundlage der Interviews so weit wie möglich nachvollzogen werden. Der Begriff der ‚Fremdheit‘ ist dabei von zentraler Bedeutung, zumal er von Matthias in verschiedenen Zusammenhängen in allen drei Interviews gebraucht wird. Aufmerksam registriert Matthias Unterschiede zum deutschen Alltag, die er nicht nur in seinem unmittelbaren Lebenskontext, sondern auch in allgemeinen politischen und soziohistorischen Zusammenhängen entdeckt. Taiwan gerät so ebenso sehr zum praktisch zu bewältigenden Lebenskontext wie zum wissenschaftlichen Erkenntnisobjekt, wobei beide Perspektiven zahlreiche (Selbst-)Deutungsprozesse anstoßen. Möglichkeiten und Bedeutung von Grenzziehungen zwischen Eigenem (Vertrautem) und Fremdem (Befremdlichem) durchziehen alle drei Gespräche. Fremdheit erweist sich dabei in Matthias‘ Berichten als ein relationales Konzept, das verschiedene Manifestationen und verschiedene Auflösungen erlebt. Dabei lassen sich insbesondere zwei unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge unterscheiden: Das Gefühl der Fremdheit stellt sich sowohl in Bezug auf konkrete Probleme des Alltags wie auch in Bezug auf eine ihm fremde religiöse und soziale Praxis ein. Während Matthias unterschiedslos bemerkt, das Beobachtete sei ihm ‚fremd‘, zeigt eine genauere Betrachtung erhebliche Unterschiede bezüglich der Möglichkeit des Umgangs mit der wahrgenommenen Fremdheit. ‚Fremdheit‘ bei der praktischen Bewältigung des Alltags Unmittelbar nach seiner Ankunft ist Matthias mit einem ihm fremden Umfeld konfrontiert, in dem er sich nicht ohne weiteres sofort zurechtfindet. Schon das Überqueren der großen Straßen gehorcht unbekannten Regeln; fremde Gerüche (z.B. der lokalen Tofu-Spezialität „chou dou-fu“) hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck, und es ist für ihn keineswegs einfach, bei dem großen Angebot der Garküchen, Schmackhaftes und hygienisch Vertrauenserweckendes auszuwählen. So ist ihm anfangs „vieles fremd“ (Matthias I, 133): Zum Beispiel haben wir in der Nähe von der Shi-da gewohnt, am Anfang im Hotel, und da zum Beispiel diese Nachtmärkte und überhaupt der Verkehr, dass man nicht so einfach über die Straßen kommt, das war schon erstmal überhaupt besonders, ein bisschen strange halt, fremd. (Matthias I, 133:137) Chou Dou-fu, das erste Erlebnis, wo wir das halt gerochen haben, und mit den 7/11s, das fand ich anfangs auch interessant, dass man da immer einkaufen kann, dass man da Telefonkarten kriegt, das war für uns das erste, was wir dringend kaufen wollten. Das war schon auch ein interessantes Erlebnis. Also diese Tempel und dieses Geis201
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In Deutschland unproblematische Tätigkeiten, wie z.B. Bus fahren, geraten angesichts eines chinesischsprachigen Routenplans, der fremden Lokalität sowie unbekannter Zahlungsmodalitäten zum Abenteuer. Mit der wiederholten Erfahrung weicht die anfängliche Unsicherheit jedoch bald dem Gefühl der „Routine“. Am Beispiel des Busfahrens schildert Matthias, wie sich der Aktionsradius – hier durch die Wahl neuer Strecken und neuer Verkehrsmittel – Schritt für Schritt ausweitet: Man hat einfach dann, wie gesagt, wann man gerade so Erfahrungen hat, zum Beispiel Bus fahren, das wurde schneller zur Routine, weil wir das täglich gemacht haben – aber auch nicht jede Route dann. Also bis zur [Universität], das war halt schon relativ schnell Routine, aber dann die Fahrten in die Innenstadt, das war immer noch ein Erlebnis. Das ist inzwischen auch Routine, mit unseren Bussen mindestens. Jetzt sagen wir mal, wenn man das irgendwie so räumlich sieht, das Routinegebiet, oder vielleicht Tätigkeitsgebiet, das erweitert sich halt eigentlich sukzessive also nach und nach. Irgendwann haben wir halt gelernt, auch Bahn zu fahren (lacht), das ist dann auch was Neues noch mal, oder halt diese Fernbusse jetzt zu benutzen. Das ist jetzt wieder ganz was Neues, das machen wir vielleicht seit drei, vier Wochen, vielleicht zwei, drei Wochen erst, dass wir mal so die Überlandbusse auch in die Innenstadt reinnehmen oder so was. Die haben wir immer an uns vorbei fahren lassen, weil wir nicht wussten, wie das funktioniert. Das ist jetzt inzwischen auch wieder Routine, also das können wir inzwischen wieder. Das ist immer eines nach dem anderen, was man lernt. (Matthias I, 242:263)
Auch zum letzten Interviewzeitpunkt erklärt Matthias, wie sich durch Wiederholung ein Gefühl der Routine einstellt. Vieles wird so normal dadurch, dass man es immer wieder erlebt, also jetzt durch die Wiederholung verliert man halt Angst vor manchen Situationen, die einem erst besonders vorkommen. Zum Beispiel das Busfahren, inzwischen ist mir schon immer langweilig, wenn die Busse vierzig fahren (lacht), warum fährt der so langsam, und am Anfang hatten wir oft große Angst dann vorm Busfahren. (Matthias III, 56:61)
Eine anfänglich fremde Praxis ist schließlich „normal“ geworden, da sie nun bekannt ist und beherrscht wird. Das Gefühl der Normalität ist an das Empfinden gebunden, dass das betreffende Ereignis nichts ‚Besonderes‘ mehr ist, zur Bewältigung keiner bewussten Anstrengung mehr bedarf oder, wie im nachfolgenden Beispiel, gar nicht mehr ‚auffällt‘. So haben sich Matthias und seine Frau etwa nach wenigen Monaten an das Treiben auf den lokalen Märkten bereits so „gewöhnt“, dass ihnen das, was anfänglich „fremd“ war, völlig vertraut geworden ist. Die Rekonstruktion der Fremdheitserfahrung ist zwar möglich, setzt jedoch aktives Bemühen voraus, ihre Umgebung wieder mit „deutschen Augen“ (Matthias II, 16) zu sehen. Erst als sie Besuch aus 202
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Deutschland bekommen, bemerken sie plötzlich, wie „strange“ ihre – mittlerweile gewohnte – Umgebung im Vergleich zu Deutschland ist: Ja überhaupt hier unsere Umgebung, das fällt uns viel stärker auf jetzt, wie strange das eigentlich ist. Dann jetzt der Markt da jeden Morgen, wie da die Hühner geschlachtet werden, dass man hier handeln kann, überhaupt diese ganzen Spezialitäten, nu-wei, also die Essspezialitäten, nu-wei und chinesischer Pfannkuchen und kao-rou und gegrillte Tintenfische und solche Sachen, da haben wir uns schon so daran gewöhnt eigentlich, dass es das gibt. (Matthias II, 35:41)
Naturgemäß steht die Bewältigung ‚fremder‘ Alltagspraxis vor allem während des ersten Interviews im Vordergrund. Wie sehr die Bewältigung gerade dieses Fremdheitsanteils aber zu dem Gefühl des Vertrautwerdens mit Taiwan beiträgt, lässt sich folgender Rückschau entnehmen, die dem Abschlussinterview entstammt: Als wir gekommen sind, war halt alles total fremd, war alles neu, interessant, aufregend, ein bisschen beängstigend auch zum Teil, vieles womit man nicht umgehen kann, zum Beispiel die Schlangen, um mal ein Beispiel rauszunehmen. Wir wussten halt nicht, ob man hier irgendwie in den Wald gehen kann oder in den Park und jetzt ist alles ganz normal. Jetzt gehen wir selbst über den Yangminshan ohne große Angst und, ja eben, das was einen erst beängstigt hat, fremd war, das ist jetzt ganz normal und nicht mehr schlimm. Die Erdbebengefahr ist nicht mehr. Ist zwar noch da, aber es ist halt, man hat sich irgendwie daran gewöhnt, damit zu leben. Kriegsbedrohung und alles, was jetzt auch da ist. Das ist irgendwie, wenn so was am Anfang gekommen wäre, glaube ich, weiß ich gar nicht, was ich gemacht hätte, jetzt wie jetzt diese Chinakrise. Aber jetzt irgendwie, ich weiß, meine Freunde haben überhaupt gar keine Angst und ja, man geht jetzt, ich gehe jetzt irgendwie anders damit um. Es ist halt ganz gut gewohnt. Das ist vielleicht so ein großer Unterschied, also von der Fremde zur Heimat, so was. (Matthias III, 19:35)
Die wiederholte Erfahrung sowie das Wissen darum, wie „das funktioniert“ (Matthias I, 261), lassen das Gefühl der Fremdheit bei der Verrichtung alltäglicher Dinge schwinden. Die Fremdheit der Alltagspraxis weicht dabei in dem Maße, wie relevantes Wissen und praktische Fertigkeiten zur Alltagsbewältigung erworben werden. Das Auflösen des Fremdheitsgefühls geht dabei mit der Übernahme der vormals fremden Praxis einher, wobei das Erlernen neuer Regeln und Kenntnisse weitgehend konfliktfrei möglich ist. Doch lassen sich nicht alle von Matthias als ‚fremd‘ beschriebenen Ereignisse dieser Kategorie subsumieren. Jenseits der praktischen Probleme des unmittelbaren Alltagslebens ist er mit einer ihm fremden sozialen und religiösen Praxis konfrontiert, die sich nicht so problemlos übernehmen lässt wie die Regeln der Einkaufens oder Busfahrens. Eine durch fremde Werte begründete Praxis weckt Befremden, das nicht nach Kenntnis vergleichsweise einfacher und leicht erlernbarer Regeln, sondern nach Erklärung des Bedeutungszusammenhangs verlangt. ‚Fremdheit‘ dieser Dimension lässt sich nicht durch Wiederholung in Routine überführen, sondern stößt bei Matthias eine Suche nach Erklärungen an, deren Plausibilität er sorgfältig überprüft.
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Fremdes und Befremdliches Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews beschäftigen Matthias eine Reihe von Beobachtungen, die ihm „fremd“ oder „befremdlich“ erscheinen. Während er versucht, die taiwanesische Gesellschaft zu verstehen, ist ihm eine konfliktfreie Integration der zahlreichen Beobachtungen und Berichte zu einem stimmigen Bild nicht möglich. Ein Versuch der Erklärung besteht in der Hypothese, Taiwan sei „wie Deutschland früher“. Etliche Unterschiede zwischen Taiwan und Deutschland, insbesondere solche der materiellen Lebensbedingungen, erklären sich ihm durch Einbezug einer imaginären Zeit- und Entwicklungsskala. Andererseits kann der Widerspruch der gleichzeitigen Existenz verschiedener Entwicklungsstufen nicht völlig aufgelöst werden. Ich glaube halt, vieles ist hier so wie in Deutschland vor dreißig Jahren, was ich eben schon mal gesagt habe, hier erlebt man verschiedene Zeiten. Also meine Eltern sagten, sie erinnert sehr sehr vieles zum Beispiel an vor dreißig Jahren. Da gab es bei uns auch, was weiß ich, solche kleinen Garagen, Werkstätten oder so was, da waren auch die Wohnungen ähnlich einfach und so in Deutschland vor dreißig Jahren. Und dann wiederum die Autos und solche Sachen, Computer, da sind die ja, da ist Taiwan ja auch an der Spitze mit dabei. Dazwischen ist irgendwie so eine Bandbreite. Auch das Verkehrschaos, das war bei uns anders noch vor ein paar Jahren, oder in verschiedenen Ländern wurde das nach und nach erst so ein bisschen besser. (Matthias II, 656:667)
Insbesondere beim zweiten Untersuchungstermin testet Matthias diese Hypothese in verschiedener Hinsicht auf Gültigkeit. An vielen Stellen entpuppt sich vermeintlich Fremdes auf diese Weise als Spielart des Bekannten. Ach so, jetzt zum Beispiel diese Taoisten, da entdeckt man auch viele Sachen, die bei uns früher so waren, zum Beispiel dass man so starken Wert legt auf diese Ahnenfolge, auf den Nachnamen, den xing. Und dann jetzt auch unbedingt einen Jungen haben will als Nachfahren und ja dann diese ganzen Geschichten, die mit der Hochzeit dann zusammenhängen und dann mit Namensänderung und dann nachher auch diese Ahnenverehrung. All diese Geschichten. Also abgesehen von der Ahnenverehrung war bei uns auch bis vor kurzem etlichen Jahren glaube ich auch ähnlich, dass man darauf geachtet hat, dass die Familie einen Stammhalter hat, dass die Frau den Namen des Mannes annimmt und das war halt einfach. Also was hier noch so traditionell ist, das war bei uns auch so früher auch traditioneller, hat sich jetzt schon verändert. Oder das gibt es zum Teil auch noch, gerade in ländlichen Bereichen ist es bei uns auch so, dass diese Stammhaltergeschichte eine Rolle spielt und die Grabpflege und so was. (Matthias II, 675:691) Oder ob das wirklich jetzt Konfuzianismus ist, dass das hier stärker ist. Also wenn Leute sehr viel vom Konfuzianismus erzählen und von den Werten hier, und das kommt jetzt auch bei uns in den Unterrichtsstunden immer wieder mal vor im Lehrbuch, dann habe ich da auch immer das Gefühl, das war bei uns eigentlich auch sehr ähnlich oder manches ist einfach auch noch so. (Matthias II, 712:717)
Manche Erlebnisse entziehen sich jedoch einer einfachen Erklärung. Überall nimmt Matthias Widersprüche und „Brüche“ wahr: Neben starker Familien204
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orientierung bemerkt er die Ausstoßung von Behinderten aus den Familien, die „Hightech-Welt“ sieht er durch altertümliche religiöse Bräuche konterkariert, und neben der großen Gastfreundschaft, die er erlebt, nimmt er auch die existierende Ausgrenzung der taiwanesischen Ureinwohnern wahr. Es kann vermutet werden, dass die empfundene Widersprüchlichkeit dabei gerade auch dem Versuch geschuldet ist, die beobachteten Phänomene anhand ‚eigener‘ Deutungskategorien zu erklären. Da diese den zu erklärenden Phänomenen nicht tatsächlich gerecht werden (nicht in jeder Hinsicht ist Taiwan wie Deutschland früher), bleiben bestimmte Anteile unerklärlich oder ‚widersprüchlich‘. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Eines Tages wird Matthias zufällig zum Beobachter eines ekstatischen Tempelfestes, in dessen Verlauf sich Anwesende in Trance selbst verletzen. Für Matthias ist dies ein „schockierendes“ und „befremdliches“ Erlebnis. Und dann aber, was auch schockierend war, das war, hier war in der Nähe ein Tempelfest in einem taoistischen Tempel, wo die Leute so in Trance gewiegt wurden, wie sagt man, die wurden in Trance besprochen oder in Trance versetzt. Und haben sich also dann, das waren so einige junge Leute, die sind also da mit glaube ich so einer Art Schwertern herumgelaufen und haben sich da in Trance so hingelegt und dann haben sie halt angefangen.. die hatten auch so, wie sagt man, so Gabeln so was, und damit haben sie dann selbst angefangen, sich die Haut aufzuschlitzen und so. Das war schon sehr befremdlich. (Matthias II, 68:77)
Auf der Suche nach einer Erklärung dieses verstörenden Ereignisses, greift Matthias auf ‚mitgebrachte‘ Referenzsysteme zurück. Das beobachtete Phänomen ist ihm nur als Relikt vergangener Zeiten erklärlich. Doch wie schon in anderen Fällen gerät diese Zuordnung mit der Tatsache in Widerspruch, dass es sich um ein jüngst beobachtetes Erlebnis handelt: Das ist überhaupt eine interessante Frage, die man sich halt manchmal stellt: Gibt es das hier noch? Zum Beispiel das mit diesem Zerfleischen in den taoistischen Tempeln. Auf der einen Seite haben die einen Anschluss an die Hightech-Welt und auf der anderen Seite verstümmeln die sich selbst oder verehren ihre Ahnen dann noch mit Bräuchen wie vor hunderten von Jahren. Das fragt man sich wirklich sehr oft, gibt es das hier noch. Wir haben jetzt letztes Mal in der Bibel so einen alten Vers, so altes Testament, das haben wir auch gedacht, das haben wir in Deutschland nie gedacht, wenn man zum Beispiel diese Götzengeschichten liest mit diesem die beten Figuren aus Holz an und so was, das steht ja im Alten Testament an allen Ecken und Enden, das konnte man sich früher nie vorstellen, dass es das in einer zivilisierten Welt gibt. Dass das in Afrika noch irgendwie der Fall ist oder in so ganz Entwicklungsländern, das war klar, aber dass es das praktisch in einem entwickelten Land gibt, das ist eine ganz interessante Erfahrung. Wir lesen das jetzt plötzlich wieder ganz anders. (Lachen) Das kann man sich echt vorstellen wie das so aussah dann die Tempel, diese Figuren, die man da anbetet und räuchert und so. Und das im Hightech-Alter. (Matthias II, 822:840)
Im Rahmen einer christlichen Weltsicht ist ihm taiwanesische religiöse Praxis, einschließlich Ahnenverehrung und Geißelungsritualen, schließlich als ‚Göt205
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zenverehrung‘ übersetz- und erklärbar. Da diese jedoch innerhalb des Referenzsystems ‚Altes Testament‘ an spezifische materielle Entwicklungsbedingungen geknüpft ist, ist die Einbettung dieser Praktiken in eine „HightechWelt“ nicht denkbar. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Unmöglichkeit der schlüssigen Erklärung keinen Zweifel an der Gültigkeit des Referenzsystems und seiner Voraussetzungen weckt, sondern den empfundenen Widerspruch als Eigenschaft des Phänomens auffasst! Da sich das christliche Referenzsystem nichtchristlichen Lesern als spezifische ‚kulturelle‘ Konstruktion darstellt, erschließt sich ihnen der Ethnozentrismus der obigen Äußerung besonders leicht. Im Prinzip geschieht hier jedoch nichts anderes als beim Verweis auf andere eigenkulturelle Deutungskategorien, deren Konstruktionscharakter weniger leicht ersichtlich ist. Der Umgang mit Fremdheit ist in diesem Beispiel geprägt durch die einseitige Angleichung des Beobachteten an das Eigene. Ein Perspektivwechsel findet dabei nicht statt. Fremdheit als Bereicherung Dies bedeutet jedoch nicht, dass Perspektivwechsel nicht an anderer Stelle stattfänden. Zum Zeitpunkt des letzten Interviews beobachtet Matthias an sich selbst persönliche Veränderungen, die eine andere Sichtweise auf manche Phänomene einschließt. Für ihn selbst ist u.a. seine veränderte Einstellung zur VR China bedeutsam, die ihm mit den Monaten in Taiwan „immer fremder“ geworden ist (Matthias III, 637). Auch in anderer Hinsicht zeigt sich, dass neben der Übernahme von Alltagsroutinen eine Veränderung von Einstellungen stattgefunden hat. Nicht nur in Bezug auf alltagspraktische Verrichtungen, sondern auch im Hinblick auf Teile einer kulturell eingebetteten sozialen Praxis ist das Gefühl der Fremdheit gewichen, hat sich Matthias diese gar anverwandelt. An folgendem Beispiel zeigt sich dies besonders deutlich: In den ersten Wochen seines Aufenthalts ist Matthias überrascht, von vielen Seiten mit großen Geschenken „überhäuft“ zu werden. Er interpretiert dies als taiwanesische „ren qing wei“ (= Herzlichkeit, Gastfreundschaft) und empfindet das Ausmaß des Schenkens als „fremd“: Aber jetzt so bei den Leuten also wie jetzt bei den Nachbarn, das ist dann, wenn wir dann so große Geschenke bekommen, das kann man irgendwie gar nicht so, das ist halt scheinbar dies ren qing wei, da sind die ganz anders als Europäer, irgendwie, dass man die Leute mit Geschenken überhäuft direkt. Das ist fremd. (Matthias I, 215:220)
Zum Zeitpunkt des letzten Interviews jedoch hat er nicht nur diese Praxis (die er nach wie vor als „chinesisch“, nicht länger jedoch als ‚fremd‘ interpretiert) übernommen, sondern erwähnt, dass diese Praxis seine Einstellungen teilweise verändert habe:
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EINZELFALLANALYSEN Wir haben jetzt auch den chinesischen Weg gewählt (lacht), wir haben halt viel Geschenke noch gemacht auch. (Matthias III, 617:618) Das Schenken finde ich eigentlich eine gute Sache, und da mache ich auch gerne mit. Also irgendwie habe ich ein anderes Verhältnis zum Eigentum auch gewonnen (lacht). Man schenkt halt viel und wird viel beschenkt, und man ist eigentlich dadurch reicher insgesamt. Also das macht einfach Spaß. (Matthias III, 560:564)
Nicht nur in dieser Hinsicht hat sich Matthias neue Denk- und Handlungsmuster erschlossen. Er beobachtet, dass gerade anfänglich fremde und „schockierende“ Sachen für ihn eine „Horizonterweiterung“ darstellen: Ich habe letztes Mal ja schon erzählt, manches waren schockierende Sachen, aber einfach mal zu sehen, so was gibt es auch auf der Welt, was man sich eigentlich in Deutschland überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Das war echt eine Bereicherung für mich selbst auch, Horizonterweiterung. (Matthias III, 91:96)
Diese Horizonterweiterung zeigt sich insbesondere im Hinblick auf die Bandbreite an Situationen, mit denen er jetzt umgehen kann. Nicht nur an sich selbst, auch an seiner Frau beobachtet Matthias eine persönliche Entwicklung durch den Auslandsaufenthalt. Er resümiert: Wirtschaftstheoretisch gesagt (lacht), wir haben eine höhere Komplexität irgendwie erreicht. Also wir können jetzt mehr Zustände denken, wir kommen jetzt einfach mit ganz vielen Dingen zurecht, mit Hitze und mit chou dou-fu und mit ganz interessanten Lebenssituationen (Lachen). […]. So in diesen Extremsituationen irgendwie so zu überleben, irgendwie damit umzugehen, damit fertig zu werden mit vielen Sachen. Und dann halt die vielen, vielen Dingen, die man einfach hier, was ich eben gesagt habe, die Entwicklung, die fremde Religion, so was, das ist einfach, was uns gemeinsam irgendwie auch geprägt hat, interessiert hat. (Matthias III, 135:153)
Vielleicht ist ein Aspekt dieser Veränderungen, dass Matthias im folgenden Beispiel Zweifel äußert, ob ein in Taiwan beobachteter Vorfall anhand des ‚deutschen‘ Wertesystems beurteilt werden sollte. In dem Beispiel geht es um die Verschmutzung des lokalen Flusses mit Chemie- und Industrieabfällen: Oder auch dieses Bewusstsein von Gemeineigentum, dass zum Beispiel die Umwelt uns alle betrifft, das ist in Deutschland viel stärker. Wenn der Fluss so verschmutzt wäre wie hier, da würden wahrscheinlich zig Leute anrufen bei der Polizei und das melden, hier kümmert sich keiner darum. Hier kocht jeder sein Süppchen. Ja, aber ist es halt jetzt ein Vorteil, dass irgendwie dieses Rechtssystem so viel stärker ist oder ist es ein Nachteil, oder dieses Rechtsempfinden, da bin ich mir halt nicht sicher, ob man das empfehlen kann. (Matthias III, 501:509)
Matthias bezieht das Beispiel auf das abstraktere Prinzip „Rechtsempfinden“. Anders als im Beispiel des Tempelrituals ist er sich jedoch keineswegs sicher, ob eine deutsche Interpretation dieses Prinzips gültiger und empfehlenswerter Standard einer Beurteilung des Geschehenen ist. Ohne dass Matthias in diesem Fall mit einer Antwort aufwarten könnte, weist der artikulierte Zweifel auf einen anderen Umgang mit erlebter Differenz und Fremdheit hin. Mögli207
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cherweise kann dies als Hinweis auf einen (beginnenden?) Wandel des Werteund Referenzsystems interpretiert werden. Insgesamt, so stellt Matthias fest, hat sich nach Ablauf des Jahres das Gefühl der Fremdheit reduziert. Verschwunden ist es jedoch nicht. Bei der Vorstellung „ganz taiwanesisch zu leben“ ist Matthias letztlich unwohl. Ungeachtet möglicherweise noch immer fremder Werte und Denkweisen zeigt sich, dass auch die Übernahme taiwanesischer Routinen für ihn nur temporär denkbar ist. Auch hier bleibt jenseits der Gewöhnung Fremdheit letztlich bestehen: Da war heute Morgen im Unterricht die interessante Frage, da war im Lehrbuch die Frage, kannst du dir vorstellen, mit einer Taiwanesin verheiratet zu sein? Also das wäre sozusagen das Absolute, wie soll man sagen, also ganz taiwanesisch zu leben, das steckt ja auch mit dahinter. Ich glaube, das könnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. Letztens mal wie so ein Traum, wie ein Alptraum fast, dass ich mit einer Taiwanesin verheiratet war und aber Petra kannte ich auch, und dann habe ich mir immer überlegt, warum habe ich das nur gemacht, warum habe ich nicht Petra geheiratet (Lachen), kann ich mich eigentlich viel besser unterhalten, wir sind viel mehr eine Wellenlänge, denken das Gleiche. Ja auch zum Beispiel so das Leben jetzt, viele Dinge halt, die uns unheimlich fremd sind, jetzt was weiß ich, Tischkultur und so was. Ja irgendwie, das war wie so ein Alptraum. Dann bin ich wach geworden, war ganz glücklich, dass ich mit Petra verheiratet bin (Lachen) und das war mir irgendwie, ich glaube so ganz, so vollkommen so leben, auch nur immer, was weiß ich, ohne Tischdecke zu essen und dafür eben das gute Essen, aber halt dann eben sonst einfach, oder andere Sauberkeitsstandards. Oder zum Beispiel, dass immer Wasser läuft auf dem Klo oder der Boden ist immer nass halt, weil irgendwelche Rohre nicht fest sind, oder so was, das kann man ganz gut so aushalten, aber ich glaube, auf Dauer so zu leben, wie viele Taiwanesen leben, das könnte ich mir glaube ich nicht vorstellen. Also das wäre sozusagen ein Schock, also bis ins Letzte so zu leben. (Matthias III, 405:428)
Schlussfolgerungen für den Lernprozess Besonderes Merkmal der Strukturbilder von Matthias ist die weitgehende Abwesenheit des Machtaspekts von ‚Gesicht‘ bei einer gleichzeitig positiv gefärbten Bewertung. Die Beschäftigung mit dem biographischen Hintergrund legt nahe, dass dies insbesondere die besondere Lebens- und Erfahrungssituation der Familie vor Ort widerspiegelt. Matthias‘ Lebenssituation ist durch sein Engagement in Studium, Familie und Freundeskreis geprägt. Durch die Einbindung in die Kirchengemeinde sowie durch existierende Freundschaften zu taiwanesischen Studenten ist die Familie bereits bei ihrer Ankunft in ein soziales Netz eingebunden, das sich im Laufe der Zeit noch ausweitet. Von Anfang an erleben sie die große Gastfreundschaft ihrer Bekannten und Nachbarn, die sich u.a. in Hilfsbereitschaft und dem reichen Geben von Geschenken ausdrückt. Aufgrund dieser spezifischen Lebenssituation ist Matthias mit bestimmten Aspekten sozialer Interaktionen (z.B. Macht(missbrauch), Eitelkeit, Kalkül, Intrigen) nicht erkennbar konfrontiert. Vermutlich spielt auch die Tatsache, dass ihm – wie Matthias über sich selbst berichtet – Harmonie in 208
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sozialen Beziehungen sehr wichtig ist, eine Rolle bei der Wahrnehmung gesichtsrelevanter Phänomene. Positiv bewertete Aspekte stehen eindeutig im Vordergrund, so wenn er bemerkt, dass sich das ‚Gesicht‘ einer Person vorrangig Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Freundlichkeit und Bescheidenheit (beim Zurückweisen von Komplimenten) verdankt. Erst zum letzten Untersuchungszeitpunkt ergänzt er die Liste um Aspekte des ‚Impression-Management‘, hält das Vorzeigen von Geld, Familie und Statussymbolen jedoch vorrangig für männliches Gebaren. Aspekte von Macht entdeckt Matthias einzig auf politischer Ebene, auf der er außenpolitische Krisen als Machtgerangel interpretiert und den Herrschaftsanspruch Chinas auf Taiwan mit ‚Gesicht‘ in Verbindung bringt. In seinem unmittelbaren Lebensumfeld spielt jedoch das Einfordern oder Ausüben von Macht keine Rolle. In Matthias‘ Fall spiegelt die Abwesenheit bestimmter konzeptueller Aspekte die Abwesenheit dieser Aspekte in seinem Handlungsfeld wider (nicht etwa mangelnde Sensibilität oder Abwehr). Für Matthias ist die Auseinandersetzung mit dem fremden Umfeld Taiwan sehr wichtig und erfolgt hochgradig reflektiert. Das Thema ‚Gesicht‘ ist für ihn dabei jedoch nicht unmittelbar relevant. In dem Maße, wie er sich mit der taiwanesischen Gesellschaft auseinander setzt, greift er zwar auch das von mir eingebrachte Thema mit Interesse auf, doch ist es kein drängendes Problem seines Alltags. In der Auseinandersetzung mit ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘ haben andere Themen Vorrang und insofern Perspektivwechsel stattfinden, betreffen diese andere Phänomene, nicht ‚Gesicht‘. Das Beispiel Matthias verweist so einerseits darauf, dass das Lernen über ‚Gesicht‘ möglicherweise einen gewissen Handlungsdruck voraussetzt, der nicht durch Interesse und Offenheit ersetzbar ist. Es bestätigt andererseits, dass persönliche Dispositionen und Werthaltungen (z.B. das von Matthias an sich selbst beobachtete „Harmoniestreben“, Matthias I, 964) bestimmte Ausschnitte sozialer Wirklichkeit sichtbarer machen als andere. Aus den Selbstreflexionen über die Aneignung der fremden Praxis lassen sich jedoch wichtige Hinweise über den (interkulturellen) Lernprozess im weiteren Sinne entnehmen. Dies betrifft zum Beispiel die Unterscheidung einer unbekannten, durch wiederholte Erfahrung oder Übung in Routine und ‚Normalität‘ transformierbaren Praxis und einer ‚befremdlichen‘, unverstandenen Praxis, die nicht der Routine, sondern der Erklärung bedarf. Dies betrifft auch die hier erkennbaren Schritte und Fallstricke eines solchen ‚Erklärens‘, das – zumindest temporär – auf bereits verfügbare Kategorien angewiesen ist und so zu sperrigen Assimilationen des Fremden an das Eigene führt, ohne dass dies eine befriedigende Auflösung des Befremdens zur Folge hätte. Und schließlich betrifft dies die Erweiterung des eigenen Einstellungsund Handlungsrepertoires um neue kulturelle Muster (hier: des Schenkens), die nicht mehr als nur reine ‚Routinen‘ gewertet werden können, sondern die eine eigene, für Matthias neue, innere Handlungs- und Wertelogik aufweisen (‚durch Schenken werden alle reicher‘).
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Klaus Biographischer Hintergrund Schon als Kind genießt Klaus die Reisen nach Südeuropa, auf die ihn seine Eltern mitnehmen. Begegnungen mit fremden Kulturen findet er spannend, und fasziniert erlebt er, wie das Sprechen der lokalen Sprache Türen öffnet und Begegnungen zu den Einheimischen ermöglicht. Sein Interesse an Sprachen ist geweckt, und für ihn steht fest, dass sein zukünftiges Studien- und Arbeitsfeld Möglichkeiten zu internationalem Kontakt bieten soll. So entscheidet er sich gezielt für ein international ausgerichtetes Wirtschaftsstudium. Als er nach Ende des Wehrdienstes und vor Beginn des Studiums freie Zeit zu überbrücken hat, entscheidet er sich für den Besuch eines EnglischSprachkurses in den USA. Dort hat er zahlreiche asiatische Mitschüler, mit denen er viel diskutiert und so nicht nur ein Interesse an ihren Heimatländern und -kulturen entwickelt, sondern auch Gelegenheit hat, die eigene Kultur zu reflektieren. Durch dieses Erlebnis motiviert wählt er zu Beginn seines Studiums auch chinesische Sprachkurse. Nicht zuletzt berufliche Perspektiven tragen dazu bei, dass Klaus sich bald stärker auf die asiatische Region ausrichtet und schließlich ein Auslandsstudium in China ins Auge fasst. In den Semesterferien nimmt Klaus an einer Sprach- und Studienreise nach China teil, auch um einen Eindruck zu gewinnen, ob er wirklich ein Jahr lang in der Region studieren wollen würde. Grundsätzlich in seinem Interesse bestärkt bewirbt er sich aufgrund einiger negativer Erfahrungen in China sowie des begeisterten Berichtes eines Bekannten für ein Stipendium für Taiwan. Seine Bewerbung hat Erfolg, und nach Ende des Grundstudiums fliegt er im August mit einer Gruppe von Stipendiaten nach Taipei. Kurz nach seiner Ankunft lernt er einen Professor der Volkswirtschaft kennen, der seinerseits einen besonderen Bezug zu Deutschland hat, da er dort promoviert hat. Mithilfe des Professors erreicht Klaus in den kommenden Tagen, trotz abgelaufener Bewerbungsfristen, zum laufenden Semester als Student an der angesehen Staatlichen Taiwan-Universität aufgenommen zu werden. Für Klaus bedeutet dies, dass er nicht nur Gelegenheit hat, sein Fachstudium fortzusetzen, sondern vor allem auch, dass er von Anfang an Kontakt zu zahlreichen taiwanesischen Kommilitonen hat. Dies ist insbesondere auch deshalb der Fall, weil er sich in der Volleyballmannschaft der Universität stark engagiert und schnell im Team integriert ist. Seine Tage beginnen fortan frühmorgens mit Volleyballtraining, denn die Mannschaft bereitet sich auf einen wichtigen Wettkampf vor. Nach dem Frühstück besucht er einen chinesischen Sprachkurs, nachmittags hört er Vorlesungen oder verbringt Zeit in der Bibliothek. Weicht Klaus zunächst in den Universitätskursen auf englische oder deutsche Angebote aus, so kann er im folgenden Semester chinesischen Vorlesungen weitgehend problemlos folgen 210
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und bewältigt auch die Lektüre chinesischer Fachtexte. Sprachlich macht Klaus nach eigener Einschätzung schnell Fortschritte, was auch daran liege, dass er sich von Anfang an bemüht habe, seine Zeit mit taiwanesischen Freunden und Mitbewohnern zu verbringen und in Gesprächen mit ihnen möglichst nicht auf Englisch auszuweichen. Nach einem Monat hat Klaus so schon das Gefühl, mit der Sprache zurechtzukommen und sich ausdrücken zu können. Nach einer Zeit intensiven Trainings ist seine Volleyballmannschaft im November bei einem Turnier zwischen drei großen Universitäten erfolgreich. Auch sonst entwickelt sich für Klaus alles so positiv, dass er bereits zum Jahreswechsel über die Möglichkeiten nachdenkt, seinen Aufenthalt in Taiwan zu verlängern. Er hat viele taiwanesische Freunde, mit denen er gerne etwas unternimmt und die ihn teilweise auch nach Hause zu ihren Familien einladen. So ist er auch zu Weihnachten bei der Familie eines Kommilitonen eingeladen, so dass das befürchtete Heimweh ausbleibt. Besonders freut ihn, dass die Kontakte zu seinen Freunden nicht an den Zweck gebunden sind, sich gegenseitig Sprachen beizubringen, sondern dem Gefühl entspringen, einfach gerne Zeit miteinander zu verbringen. Einige Male ergibt sich auch die Gelegenheit, Freunden von ihm bei der Organisation von Studium und Aufenthalt in Deutschland zu helfen. Im Winter und Frühjahr bekommt Klaus Besuch von verschiedenen Freunden aus Deutschland. Klaus freut sich über diese Besuche, denn sie ermöglichen ihm, seinen Freunden Taipei zu zeigen und das, was ihm wichtig ist, mit ihnen zu teilen. Auch seine Eltern und Schwester kommen zu Besuch und werden von der Familie von Klaus’ Freund herzlich aufgenommen. Er selbst fliegt in den Ferien für ein paar Tage nach Singapur und Malaysia in Urlaub, später auch nach Hongkong. Nach einem halben Jahr fühlt Klaus sich mit seinem Leben in Taiwan so wohl, dass er Bedenken äußert, wie er wohl in Deutschland wieder zurechtkommen werde. Eine Verlängerung seines Aufenthaltes ist verlockend, doch nach langen Überlegungen und Gesprächen mit seinen Eltern und Professoren entscheidet er sich schließlich dagegen, da ein deutscher Studienabschluss für ihn schneller zu erreichen und langfristig nützlicher ist. Er tröstet sich mit dem Gedanken, nach Abschluss des Studiums wieder nach Taiwan oder Asien zurückkehren zu können. In den letzten beiden Aufenthaltsmonaten verändert sich Klaus’ Leben, da er nun ein mehrwöchiges Praktikum bei einer Unternehmensberatung absolviert. Seine chinesischen Sprachkurse verschiebt er auf die Abendkurse und nimmt nicht länger am Volleyballtraining teil. Dennoch sind diese Wochen sehr anstrengend. Das Praktikum findet er sehr interessant, weil es ihm eine neue Perspektive bietet, die er als Student bisher nicht hatte. Ein weiteres Prakti-
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kum plant er in Shanghai nach Ende der Stipendienlaufzeit und bevor er im Herbst wieder an seine deutsche Universität zurückkehrt.
Taiwan als Feld von Möglichkeiten Klaus’ Berichte über sein Leben, Alltag und Studium in Taiwan sind positiv gestimmt bis begeistert. Die Möglichkeiten, die sich ihm bieten und die er entschlossen nutzt, übertreffen seine ursprünglichen Erwartungen bei weitem, so dass er zu allen Interviewzeitpunkten eine positive Bilanz zieht und zeitweilig sogar an eine Verlängerung seines Aufenthalts denkt. Wie zu zeigen sein wird, resultiert die große Zufriedenheit mit seinem Taiwanaufenthalt daraus, dass es ihm gelingt, hier für ihn wesentliche Motive und Bedürfnisse zu erfüllen. In Taiwan gelingt es ihm, wichtige selbst gesteckte Ziele seines Aufenthalts zu verwirklichen. Hierzu gehören das Ziel, seine Sprachkenntnisse zu verbessern und berufliche Möglichkeiten in der ostasiatischen Region zu erkunden, sowie der Wunsch nach neuen Bekanntschaften und neuen Eindrücken. Diese, von Klaus selbst explizit genannten Ziele seines Aufenthalts durchziehen als Themen alle drei Interviews. Eine schlüssige Interpretation der Texte gelingt jedoch erst durch eine Rückführung dieser Themen auf ‚dahinter liegende‘ Motivstrukturen. Insbesondere der – von Klaus wiederholt genannte – Wunsch nach Kontakt und neuen Bekannten lässt sich erst so in angemessener Komplexität darstellen. Als wesentliche Motive erscheinen dabei der Wunsch nach Abwechslung, Leistungsorientierung und das Bedürfnis nach Unterstützung. Diese drei Motive konturieren das Feld, in dem sich sein Wunsch nach Kontakt und Freundschaft ansiedelt und verwirklicht. ‚Kontakt‘ entpuppt sich somit als zentrale Kategorie des Zusammenspiels der genannten Motive und markiert zugleich einen Bereich der ‚Passung‘ mit dem taiwanesischen Umfeld. In den folgenden Abschnitten sollen sowohl die drei Motive als auch deren Zusammenspiel herausgearbeitet werden. Abwechslung Die Abwechslung, die Klaus sucht, besteht nicht nur in der Kombination verschiedener Tätigkeiten oder Hobbys, sondern bezieht sich ganz wesentlich auf die Suche nach neuen Eindrücken. Mit seiner Entscheidung gegen ein „schmalspurmäßiges“ Leben und Studium (Klaus I, 189) begründet er zugleich, sich für ein international ausgerichtetes Studienfach entschieden zu haben. Reisen, Studium und mögliche spätere Berufstätigkeit im Ausland sind nicht „schmalspurmäßig“, denn sie bieten – in Form neuer Erlebnisse und neuer Kontakte – vor allem Abwechslung. So lange er nur „viele neue Sachen“ erlebt und vermeiden kann, dass sich langweilige Routine einstellt, geht es ihm gut:
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EINZELFALLANALYSEN Ansonsten hoffe ich, dass ich relativ viele neue Sachen auch immer mitbekommen kann, weil ich nicht irgendwie in so einen Trott reinkommen möchte. Ich glaube, wenn sich alles zu sehr eingespielt hat, dann mag vielleicht auch irgendwann so ein Tief kommen. Also ich muss sagen, das hatte ich nicht bis jetzt … (Klaus I, 696:701)
Auch im Alltag sucht Klaus Abwechslung. So stellt er bald fest, dass seine Tage in Taiwan mit einer Vielzahl von Aktivitäten ausgefüllt sind: Ja, ja, also ich weiß auch nicht, ich habe da glaube ich so ein gewisses Talent, dass ich egal was ich mache, dass ich dann doch immer wahnsinnig viel mache. Ich hatte eigentlich gedacht, wunderbar, zwei Stunden am Tag Uni, das ist ja überhaupt kein Stress und schön relaxt, aber jetzt habe ich dann festgestellt, dass ich doch wieder ziemlich viel zu tun habe. Auf der anderen Seite bin ich auch nicht der Typ, der sich dann den ganzen Tag irgendwo in den Sessel setzt und vor sich hindöst oder so, also ich brauche auch Abwechslung. Wer rastet, der rostet und das wäre also nichts. (Klaus I, 524:532)
Ein halbes Jahr später kommentiert Klaus sein Leben „zwischen Sport, Freizeit und so weiter und lernen oder so“ (Klaus II, 211) wiederum mit dem Satz: „ich brauche da ab und zu auch ein bisschen Abwechslung, sonst haut das nicht hin“ (Klaus II, 216:217). Das Leben in Taiwan bietet nicht nur aufgrund der vielen Aktivitäten, denen er nachgeht, Abwechslung, sondern auch durch die Fülle an neuen Eindrücken und Bekanntschaften. Er wünscht sich, „dass dieser Zustand, dass man viel Neues auch immer mitbekommt, lange anhält“ (Klaus I, 739:740). Auch nach einem Jahr ist sein Bestreben, „neue Sachen, neue Leute“ kennen zu lernen, ungebrochen. Ich will ja da neue Sachen, neue Leute kennen lernen. Dieser Durst, sage ich mal, ist noch nicht gestillt. Klar, und wenn man am Anfang... der ganze Drang, da alles so in sich aufzusaugen, der ist natürlich nicht mehr ganz so stark, weil man jetzt einfach viel mehr Sachen kennt und weiß und so. Aber so grundsätzlich, würde ich sagen, also dieses Feuer ist irgendwo schon noch da, auf jeden Fall. Auf jeden Fall. (Klaus III, 439:445)
Die Suche nach Abwechslung erschöpft sich nicht in der Entscheidung für das Auslandsstudium. Gezielt sucht er in Taiwan nach neuen Betätigungsfeldern und Kontakten, unternimmt mehrere Reisen in Nachbarländer, organisiert zwei Praktika, um verschiedene Berufsfelder und verschiedene Orte kennen zu lernen, und plant bereits neue Auslandsaufenthalte für die Zeit nach seinem Studienabschluss. Indem er Studienabschnitte und zukünftige Berufstätigkeit mit Auslandsplänen kombiniert, gelingt es ihm, seinen Wunsch nach Abwechslung mit einem zweiten Motiv zu verbinden: dem Leistungsmotiv.
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Leistung Klaus nimmt sein Studium ernst, sowohl, was sein Betriebswirtschaftsstudium in Deutschland angeht, als auch, was sein Sprachstudium oder die BWLKurse in Taiwan betrifft. Er selbst formuliert den Anspruch, seine Aufgaben „ordentlich“ zu erledigen: Ich weiß nicht, ob die Noten dann weitergegeben werden oder so, aber auf jeden Fall war das, was ich so mir selber als Maßstab gesetzt hatte, dass ich da nicht großartig dann irgendwelche schlechten Noten einfahren wollte, sondern dann, wenn ich es mache, dann auch ordentlich. (Klaus II, 282:289)
Dass die gesteckten Ziele dabei hoch sind, erschließt sich aus der Kurswahl (im zweiten Semester seines Aufenthalts wählt er chinesischsprachige Kurse des regulären Studienprogramms) sowie aus dem Arbeitspensum, das er sich zumutet. Dies gilt auch schon für das letzte Semester in Deutschland, in dem er bereits für den nächsten Studienabschnitt ‚vorgearbeitet‘ hat: Und das Semester davor in [N-Stadt] war ziemlich viel Arbeit, weil ich teilweise mein BWL-Zeug vorgezogen habe, weil ich in Taiwan nichts machen kann, was ich in Deutschland mir anrechnen lassen kann, sonst hätte ich einfach zu viel verloren, jetzt vom deutschen Studium ausgehend. (Klaus I, 583:587)
Klaus’ Leistungsorientierung geht mit großer Zielstrebigkeit einher. Bei der Studien- und Kurswahl hat er spätere Beschäftigungsmöglichkeiten immer im Blick. Dies gilt auch für den Taiwanaufenthalt, der explizit auch dem Ziel verpflichtet ist, Chancen und Attraktivität zukünftiger beruflicher Tätigkeit in diesem Land sowie der asiatischen Region zu erkunden. Gute Leistung im Studium setzt u.a. den Rückzug in Bibliotheken, intensive Lektüre, sorgfältiges Ausarbeiten von Texten und – im Falle des Erlernens der chinesischen Sprache – ständige Wiederholung der Schriftzeichen voraus. Alle genannten Tätigkeiten sind durch ein geringes Maß an Abwechslung gekennzeichnet, und so verwundert es nicht, dass Klaus’ Wunsch danach, immer wieder „Neues“ zu erleben, an dieser Stelle mit dem Ziel, gute Leistungen zu erbringen, bisweilen in Konflikt gerät. Er selbst stellt fest: […] ich meine, ich habe natürlich gewisse Ambitionen gehabt und habe die immer noch, in Bezug auf Weiterkommen in Chinesisch oder so, aber ich bin auch nicht der Typ, der dann acht Stunden am Tag am Schreibtisch hängt und dann nur Zeichen lernt oder nur Grammatik lernt oder so, das ist nichts. Nee, ich brauche da ab und zu auch ein bisschen Abwechslung, sonst haut das nicht hin. (Klaus II, 211:217)
Zu dieser Beobachtung passt auch, dass Klaus erwähnt, Arbeiten häufig erst kurz vor Abgabeschluss in Angriff zu nehmen, dann jedoch unter Druck zu Hochform aufzulaufen (Klaus III, 290). Diese Strategie ermöglicht ihm nicht nur, vergleichsweise wenig abwechslungsreiche Arbeiten im Zeitumfang zu 214
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reduzieren, sondern wandelt diese – durch den entstandenen Zeitdruck – in eine regelrechte Herausforderung um, deren Bewältigung nun besonderen Einsatz und Kreativität verlangt. Dass er auf diesem Wege stets gute Ergebnisse erlangt, verdankt Klaus nicht nur seinem (kurzfristig sehr hohen) Einsatz, sondern auch dem Umstand, dass ihm Lernen generell leicht fällt. Die erwähnten Beispiele legen nahe, dass ‚Abwechslung‘ für Klaus letztendlich mehr unmittelbare Zufriedenheit bewirkt als das Erbringen guter Leistung. Doch sind Leistung und Karriereperspektiven für Klaus so wichtig, dass er sie an keiner Stelle durch andere Aktivitäten in Gefahr bringt. Dies wird aus den Überlegungen bezüglich einer etwaigen Verlängerung seines Aufenthalts in Taiwan besonders deutlich. Obwohl er sich in Taiwan so wohl fühlt, dass er nur ungern nach Deutschland zurückkehrt, entscheidet er sich für das Fortsetzen des Studiums an seinem alten Studienort, da der deutsche Studienabschluss schneller zu erreichen sei und bessere Berufsperspektiven ermögliche. Der Argumentationsgang belegt jedoch erneut, dass das Fernziel – für das hier die vorübergehende Rückkehr in den alten ‚Trott‘ in Kauf genommen wird – mit dem Erbringen von Leistung allein noch nicht erreicht ist: Insofern denke ich werde ich gucken, dass ich die letzen fünfeinhalb, sechs Monate hier so gut wie möglich verbringe und dann zwei Jahre Deutschland, und dann hoffe ich mal, dass ich hier irgendwie nach Hongkong, Taiwan, Singapur, so in diesen Raum zurückkomme, aber sehr wahrscheinlich Taipei. (Klaus II, 14:19) Weil, ich sage, ich muss jetzt halt erst mal gucken, dass ich da nach Deutschland zurückgehe und da mein Zeug einigermaßen gut abschließe, weil ohne Abschluss hat das alles keinen Zweck. Aber auf lange Sicht gesehen, denke ich mal, ist das was... Also, meine Eltern, das ist auch eigentlich schon klar, die haben halt nur gesagt, ich soll erst zurückkommen und das Zeug in Deutschland und so weiter zu Ende machen, weil ohne ist es halt alles ziemlich nervig. Und dann habe ich nachher aber alle Möglichkeiten dann. (Klaus III, 69:77)
Wichtig ist Klaus, dass er später „alle Möglichkeiten“ hat, das zu verwirklichen, was ihm wichtig ist. An anderen Stellen im Gespräch erklärt er, auf welches Ziel er hinarbeitet: eine qualifizierte Position im Ausland, bevorzugt in Ostasien. So dienen der Taiwanaufenthalt, speziell aber die beiden Praktika, die er in Taipei und Shanghai arrangiert hat, insbesondere auch dem Zweck, Arbeitsperspektiven auszuloten: Mit der [Chefin der Unternehmensberatung] hatte ich auch am Anfang so ein kleines Interview, und die meinte damals, dass ich da also auf jeden Fall nachher noch Optionen habe oder so, und da will ich zunächst mal ungefähr wissen, wie so da die Aktien stehen. Ob das realistisch ist, da... Also nicht unbedingt in Taipei, aber die haben halt auf der ganzen Welt da ihre Offices, und das ist halt ziemlich verlockend, wenn man halt die Möglichkeit hat, dann, ich weiß nicht, in Hongkong oder Singapur oder Taipei oder Japan... (Klaus III, 58:65)
Was Klaus „verlockt“, ist die Möglichkeit eines Lebens, das nicht „schmalspurmäßig“, sondern stets voller neuer Eindrücke ist. „Verlockend“ ist nicht die Perspektive, auf jeden Fall nach Taiwan zurückzukehren, sondern die 215
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Möglichkeit, „auf der ganzen Welt“ einsetzbar zu sein. Dass er zum Zeitpunkt des zweiten Interviews eine Rückkehr nach Taiwan für „sehr wahrscheinlich“ hält, diese zum Zeitpunkt des dritten Interviews aber „nicht unbedingt“ anstrebt, mag wiederum einen Hinweis auf den übergeordneten Wunsch nach ‚Abwechslung‘ darstellen. Sicherheit und Unterstützung Trotz der Suche nach steter ‚Abwechslung‘ ist das Gefühl von Sicherheit und Unterstützung für Klaus sehr wichtig. Wichtigster Quell von Unterstützung sind dabei seine Eltern: Nun muss ich dazu sagen, ich habe insofern Glück, als dass meine Eltern grundsätzlich also wirklich alles unterstützen, was ich so mache. Also sie sagen, wenn ich mir das gut überlegt habe und so weiter und so fort, wir haben also wirklich lange, lange diskutiert, auch mit Freunden und so weiter, und das war aber immer so, dass sie dann auch die Sachen unterstützt haben, und das gibt einen unheimlich guten Rückhalt, weil man eben weiß, dass man sich auf den Bereich immer verlassen kann. Also ich bewundere dann Leute auch, die diesen Rückhalt nicht haben, weil das für mich eine unglaubliche Stärkung ist. Und dann muss ich mir natürlich immer auch vorstellen, wie viel Kraft Leute aufbringen, die so was gegen den Willen ihrer Familie machen, und da bin ich wirklich froh, dass ich da unheimlich verständnisvolle Eltern habe, egal in welche Richtung ich gehe oder was ich mache. (Klaus I, 337:350)
Seine Eltern sind – zum Beispiel im Fall seiner Überlegung, den Taiwanaufenthalt zu verlängern – wichtige Ansprechpartner, und Klaus findet bezüglich der von ihm gefällten Entscheidungen bei ihnen stets den nötigen „Rückhalt“. Während dieser Rückhalt den Hintergrund darstellt, vor dem Klaus sich verschiedenen neuen Herausforderungen stellt, so versucht er an anderer Stelle, Unsicherheiten zu reduzieren. So dient seine Studienreise nach China explizit dem Ziel, Lebens- und Studienmöglichkeiten dort zu erkunden, bevor er sich auf einen längerfristigen Aufenthalt einlassen will: Und dann habe ich mir überlegt, bevor ich ein Jahr hier hingehe, möchte ich auf jeden Fall mal gucken, wie ich so mit den Leuten klarkomme, so ganz ins kalte Wasser wollte ich dann doch nicht springen. (Klaus I, 71:74)
Entsprechend fällt die Entscheidung für Taiwan nicht zuletzt deshalb, weil er in Taiwan schon Bekannte hat: Und dann hatte ich aber, eben weil ich hier auch Bekannte hatte, auch schon vorher sehr stark mit dem Gedanken gespielt, nach Taiwan zu gehen. Zum einen weil ich direkt am Anfang meines Studiums einen kennen gelernt habe, der gerade wiedergekommen ist von einem Jahresaufenthalt in Taiwan und der also ganz begeistert erzählt hat. Aber eben zum anderen eben weil ich hier auch Bezugspersonen hatte, mit denen ich mich da gut verstanden habe. (Klaus I, 94:101)
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Das Gefühl von Sicherheit und Aufgehobensein ist stark an Freunde und Bekannte geknüpft, die sich um einen „kümmern“ (Klaus I, 730) und „einen unterstützen, wenn man das braucht“ (Klaus II, 40). In Taiwan erlebt er in vielen Zusammenhängen, dass sich Mitbewohner, Kommilitonen oder Professoren um ihn kümmern, so dass er trotz mancher Verunsicherung (zum Beispiel anlässlich des großen Erdbebens, das er wenige Wochen nach seiner Ankunft in Taipei erlebt, oder anlässlich der Befürchtung, dass er an den Weihnachtsfeiertagen Heimweh bekommen würde, usw.) mit seinen Sorgen nicht alleine ist. So trägt auch das Gefühl, dass es in Taiwan Leute gibt, die sich um ihn kümmern und ihn unterstützen, zu seiner Zufriedenheit mit dem Studienaufenthalt bei. Nach einem halben Jahr in Taiwan resümiert er: Und dann ist das eine unheimlich tolle Erfahrung, dass das hier im Endeffekt genauso geht wie in Deutschland auch, und dass man sich auf die Leute verlassen kann und dass die einen unterstützen, wenn man das braucht. Also das ist schon eine gute Erfahrung, dass das hier genauso geht wie zu Hause. (Klaus II, 37:42)
Im Zusammenhang mit Klaus’ Bedürfnis nach Aufgehobensein und Sicherheit spielen andere Menschen eine große Rolle. Doch auch in anderen Kontexten betont Klaus immer wieder, wie wichtig ihm Kontakte zu Bekannten und Freunden sind. Kontakte und das Zusammenspiel der drei Motive An zahlreichen Stellen in den Interviews erwähnt Klaus Freunde und Bekannte, und es wird deutlich, dass ihm das Knüpfen und die Pflege von Kontakten sehr wichtig sind. Nach seinem USA-Aufenthalt, während dem er zahlreiche asiatische Studenten kennen gelernt hat, erstreckt sich sein Netz von Bekannten über die ganze Welt. Nicht zuletzt war es der Kontakt zu diesen asiatischen Studenten, der sein Interesse an der asiatischen Region erstmals geweckt hat. Seither haben ihn einige bereits in Deutschland besucht oder ihn in ihre Heimatländer eingeladen. Auch eine Bekannte aus Taiwan ist darunter, die sich jedoch zum Zeitpunkt seiner Ankunft im Ausland aufhält. Angesichts der großen Bedeutung von Freunden und Kontakten, die Klaus selber schildert, überrascht jedoch, dass das Bild seiner Bekannten und Freunde in den Interviews ausnehmend vage bleibt. Berichte über die Lebenssituation anderer Personen, Beschreibungen von Eigenschaften oder der Wesensart einzelner Beziehungen finden sich in Klaus’ Berichten nicht. Unter der großen Zahl von erwähnten Bekannten, Verwandten und Freunden gewinnen lediglich seine Eltern in gewissem Maße Kontur. Zwar könnte dies dem Umstand geschuldet sein, dass Klaus in den Interviews eine distanzierte Haltung wahrt und deshalb Einzelheiten nicht preisgeben will, doch passt diese Deutung nicht zu den ansonsten flüssig und lebhaft erzählten Berichten und Einschätzungen. Hier soll eine andere Interpretation vorgestellt werden, die sich aus der Betrachtung dessen ableitet, was Klaus über seine Freunde und gemeinsame Aktivitäten berichtet – und was er auslässt. Die Systematisierung ent217
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sprechender Textstellen ergibt folgende Zusammenhänge, in denen Klaus Bekanntschaften und Freundschaften als wichtig schildert: Gemeinsame Unternehmungen, Spaß haben Freunde sind Leute, mit denen man gerne Zeit verbringt. Zu den gemeinsamen Unternehmungen, von denen Klaus berichtet, gehören gemeinsames Sporttraining, Essengehen, Besuche bei den Familien seiner Freunde und Unterhaltungen. Wichtig ist ihm, dass diese Unternehmungen nicht zweckgebunden sind (wie zum Beispiel bei einem Sprachaustausch mit Taiwanesen, die Deutsch lernen), sondern dass sie dem „Spaß“ daran entspringen, miteinander Zeit zu verbringen: Ich habe so wahnsinnig viele nette Leute kennen gelernt, über Volleyball, in meiner Fakultät, und da fühle ich mich unheimlich wohl. Und mit denen mache ich auch wahnsinnig viel außerhalb der Uni und bin da dann jetzt auch teilweise so ein bisschen in die Familien rein integriert und so weiter und so fort. Also das denke ich mal hat mir die Möglichkeit gegeben, wahnsinnig viele Taiwanesen kennen zu lernen, nicht immer nur mit Deutschen oder Ausländern zusammenzuhängen. Und außerdem ist das auch immer eine etwas lockerere Atmosphäre, als wenn man mit Taiwanesen, die Deutsch lernen, zusammenhängt, weil die dann halt auch immer ganz bestimmte Erwartungen haben, dass man dann regelmäßig dann irgendwie was macht. Und so, das ist einfach, wenn man Zeit und Lust hat, dann unternimmt man was. Das ist keine, sagen wir mal, zweckgebundene Freundschaft oder sonst irgendwas, kein zweckgebundener Austausch oder so, sondern einfach wie das zu Hause auch ist. Leute, mit denen ich gerne viel Zeit verbringe, mit denen verbringe ich viel Zeit, da ist kein Druck und kein Gar nichts dahinter, einfach, weil es mir Spaß macht und ihnen auch. (Klaus II, 20:37)
Zugang zum Land Durch die Unterhaltung mit ausländischen Freunden und Bekannten erfährt man etwas über ihre Herkunftsländer und ist dazu aufgefordert, die Eigenheiten der eigenen Kultur zu reflektieren: Und das fand ich, wie gesagt, in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen dass man eben ein gewisses Bild von der anderen Kultur oder von bestimmten Einstellungen bekommen hat, zum anderen aber auch, dass man dadurch, dass man sich mit anderen Leuten über deren Kultur unterhält, man automatisch, jedenfalls war das meine Erfahrung, auch seine eigene Kultur reflektiert, und da so ein paar eigene Macken, Angewohnheiten und so weiter und so fort, dass das praktisch so eine Art Spiegelfunktion hat, habe ich festgestellt. Dass ich mir über viele Sachen vorher gar nicht so wahnsinnig viele Gedanken gemacht habe, aber dadurch, dass die halt gefragt haben, ja, wie läuft das denn bei euch, dass man erst mal für sich überhaupt so nachgedacht hat, ja wie ist denn das überhaupt im täglichen Ablauf und so weiter. Und das fand ich eigentlich unheimlich spannend. (Klaus I, 32:45)
Neben Gespräche tritt die praktische Teilhabe am Leben der anderen, wenn man sich in ihrem Land aufhält. In Taiwan, stellt Klaus fest, wird er überallhin mitgenommen, so dass er eine Menge sieht und erfährt, was er alleine erst nach längerem Aufenthalt herausgefunden hätte:
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EINZELFALLANALYSEN Also ich glaube, dass die instinktiv auch so ein bisschen das Gefühl haben, dass die sich um einen irgendwie so ein bisschen kümmern müssen. Und man wird überall eingeführt und mit hingenommen und so, das finde ich unheimlich toll, weil die Leute natürlich hier Gott und die Welt kennen und viele, weiß ich nicht, ob das jetzt ein gutes Restaurant ist, so ein kleines oder irgendwelche Sachen, das bekommt man ja am Anfang alles gar nicht richtig mit. Das ist so viel an Eindrücken, dass man das vielleicht nach einen halben Jahr, wenn überhaupt, dann irgendwann mal herausgefunden hätte, und so habe ich halt von vielen Leuten so ein bisschen profitieren können, und da bin ich unglaublich dankbar. (Klaus I, 728:740)
Kontakte ermöglichen diesen Zugang in all jenen Ländern, in denen Freunde leben. So lange er Kontakt hält, besteht die Möglichkeit, Freunde in ihren Heimatländern zu besuchen. Auch er selbst vermittelt seinen Freunden Anlaufstellen und Unterkunft in Deutschland: Und es reicht auch, die Erfahrung habe ich gemacht, dass man sich wirklich, ich weiß nicht, alle drei, vier Monate mal kurz mit einer Mail zurückmeldet, und sogar noch weniger reicht aus. Also das fand ich unheimlich faszinierend, das ist auch schon zwei Jahre oder so her, dass ich die Leute kennen gelernt habe, und wenn man Zeit hat, dann schreibt man mal eine kurze Mail, dass man das und das macht, und dass es einem gut geht. Und dann kommt in zwei, drei Wochen eine Mail zurück, dass sie sich gefreut haben, mal wieder was zu hören, oder wenn ich irgendwo weg bin, dann schreibe ich immer so vierzig Postkarten an alle Leute, dass die mal wieder so ein Lebenszeichen haben, und die schicken auch Postkarten, wenn die irgendwo weg sind. Und das ist unheimlich schön, dass was man irgendwo für einen relativ kurzen Zeitraum zusammen erlebt hat, dass das aber immer noch so ein bisschen verbindet, und wie gesagt, ich hoffe, dass ich jetzt die Leute, sage ich mal, aus dem asiatischen Raum, dass ich die hier jetzt auch nach und nach mal besuchen kann, während der Zeit jetzt hier in Taiwan. (Klaus I, 257:273) Und ansonsten hoffe ich natürlich auch, dass sich irgendwie Bindungen aufbauen, die das Jahr überleben. Bestärkt hat mich in der Hoffnung, dass ich immerhin ich weiß nicht zwei, zweieinhalb Jahre jetzt mit anderen Leuten hier in dem Raum Kontakt habe halten können und wieso nicht auch hier. Ich habe hier auch schon Kontakt zu Leuten, aber jetzt sagen wir mal ein erweiterter Personenkreis dann, weil ich denke mal, dass ich mit Sicherheit immer mal wieder gerne hier herkomme. (Klaus I, 606:613)
Sprache lernen In Taiwan sind Freundschaften zu Einheimischen auch deswegen wichtig, weil sie Gelegenheit bieten, die chinesischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Während seiner Studienreise nach China hat er erlebt, dass in der Volksrepublik ausländische und chinesische Studenten getrennt wohnten und deshalb nur wenig Möglichkeit für Kontakt bestand. Die Abgrenzung zwischen Ausländern und Chinesen stört ihn vor allem im Hinblick auf die (Un-)Möglichkeit, auch außerhalb des Unterrichts Chinesisch zu lernen: […] wobei ich festgestellt habe, dass mich eben an China etliche Sachen sehr gestört haben. Zum einen diese strikte Abgrenzung Chinesen-Ausländer, die sich besonders dahingehend äußert, dass man im Ausländerwohnheim wohnen muss als Ausländer und das praktisch abgegrenzt ist auf dem Campus noch mal durch einen eigenen Zaun und Chinesen eben zu acht oder so in ihren Wohnheimszimmern wohnen müs219
INTERKULTURELLES LERNEN sen. Das hat mich also ziemlich gestört, weil man eben im Ausländerwohnheim dann wirklich nur englisch, deutsch, französisch, italienisch, japanisch gesprochen hat, aber eben nicht chinesisch. Und dann habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass man irgendwann bestimmte Kapazitäten ausgeschöpft hat beim Chinesischlernen, mit herkömmlichen Methoden, sage ich mal. Und wenn man didaktisch schlecht geschulte Lehrer hat, dann kann man das auch wirklich nicht weiter ausreizen, irgendwann ist dann Schluss. (Klaus I, 80:94)
Entsprechend nutzt er in Taiwan die Gelegenheit, mit Mitbewohnern, Kommilitonen und Freunden Chinesisch zu sprechen. Kontakte zu anderen Ausländern, insbesondere zu anderen Deutschen, versucht er zu reduzieren, da sie in sprachlicher Hinsicht keine Vorteile bieten. Im Rückblick schildert er, wie anfänglich in Taiwan geknüpfte Freundschaften nicht weiter verfolgt wurden: Aber ich denke mal, dass das nicht irgendwie daran liegt, dass man sich großartig auseinander gelebt oder zerstritten hätte. Das ist einfach, dass jeder seine eigenen neuen Freunde gefunden hat, und dass man da so eine generelle Übereinkunft hat, dass es wenig Sinn macht, wenn man wahnsinnig viel Zeit miteinander verbringt, weil man dann halt Deutsch redet und so weiter und so fort, und das lohnt dann einfach nicht oder so. (Klaus II, 231:237) Ausländer kann ich auch in Deutschland kennen lernen, Deutsche, da habe ich es auch nicht so sehr drauf angelegt. Ich meine, das ist jetzt nicht so... Am Anfang habe ich das schon relativ strikt gemacht, dass ich also wirklich nicht so viele mache, das hatte halt sprachliche Gründe in erster Linie. Jetzt, wenn sich da was Gutes ergibt, dann mache ich das natürlich. Aber wie gesagt, da die Mehrzahl meiner Freunde Taiwanesen ist, und die Zeit ja auch nicht mehr so wahnsinnig viel ist, da mache ich doch lieber noch was mit denen, als irgendwelche tausend neue Leuten kennen zu lernen. (Klaus III, 305:313)
Da das Erlernen der chinesischen Sprache wesentlicher Zweck und Ziel des Aufenthalts ist, macht Klaus das Vorhandensein einer Lerngelegenheit zur Prämisse von Freundschaften in Taiwan. Erst, als sich seine Sprachkenntnisse festigen, kann er sich vorstellen, auch andere Freundschaften einzugehen. Aufgehobensein und Unterstützung Die Bedeutung von Freunden für das Gefühl des Aufgehobenseins wurde oben bereits erwähnt. Freunde sind hier eine wichtige Quelle von emotionaler und praktischer Unterstützung. Doch auch das Kontakthalten nach Deutschland hat eine Komponente der Vergewisserung. Klaus hofft, so den Anschluss an die Heimat zu behalten, so dass er weiß, was ihn bei der Rückkehr erwartet: Und dann emaile ich halt mit Freunden und Leuten, die mir wichtig sind, von zu Hause. Das ist mir eigentlich auch ganz wichtig, dass ich so ungefähr weiß, was sich so ereignet, dass man nicht so völlig in eine andere Welt reinkommt, wenn man wieder zurückgeht. (Klaus II, 361:365)
In Taiwan erlebt Klaus in den verschiedensten Bereichen Unterstützung, dass sich andere um ihn „kümmern“ (s.o.). 220
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Gegenseitige Hilfe beim Erreichen von Zielen Im Umfeld seines Professors, der vor einigen Jahren in Deutschland studiert hat, finden sich zahlreiche Studenten mit Interesse an Deutschland, die daher auch an Kontakt zu Klaus interessiert sind. In einigen Fällen kann Klaus für diese nützliche Kontakte nach Deutschland vermitteln. So entwickelt sich eine Situation gegenseitiger Hilfe: Klaus besorgt deutsche Fachliteratur für den taiwanesischen Lehrstuhl, hilft angehenden Auslandsstudenten bei der Suche nach Wohnheimplätzen am deutschen Studienort und kann umgekehrt auf unbürokratische Hilfe setzen, als er einem deutschen Kommilitonen einen Studienplatz in Taipei sichern möchte. Er resümiert: So die Eine-Hand-wäscht-die-andere-Sache, das ist hier ganz groß. Aber das liegt mir eigentlich gut. (Klaus III, 759:760)
Verspricht das Netz asiatischer Bekanntschaften vor allem die Möglichkeit, Freunde in ihren Heimatländern zu besuchen, so entwickelt sich nun ein Netzwerk, in dem persönliche Ziele mithilfe Dritter leichter erreicht werden können. Zusammenspiel der Motive Die verschiedenen Kontexte, in denen Klaus Freunde und Bekannte erwähnt, schließen an die drei oben genannten Motive an: Kontakt zu ausländischen Freunden bietet in hohem Maße ‚Abwechslung‘, denn man erfährt viel Neues über ihre Länder, sie leisten emotionale und praktische Unterstützung und sie ermöglichen das Verwirklichen von Leistungs- bzw. Karrierezielen, da man die Fremdsprache übt und Zugang zu Ressourcen des Freundeskreises erhält. In seinen Beziehungen zu seinen taiwanesischen Freunden aktualisieren sich alle drei Motive, so dass sich für Klaus eine perfekte Passung einstellt. Der Umstand, dass sich in Klaus’ Blick auf die Potentiale und Funktionen von Freundschaft vor allem seine eigenen Motive widerspiegeln, geht mit dem Umstand einher, dass andere Personen in seinen Schilderungen kaum Kontur annehmen. Die beschriebenen Beziehungen sind nicht instrumentell, doch zieht Klaus in den Schilderungen andere als seine eigenen Ziele und Wünsche nicht in Betracht. Seine hohe Zufriedenheit in Taiwan resultiert nicht primär aus den speziellen Eigenschaften bestimmter Personen oder besonderer Eigenarten des Ortes, sondern vor allem aus dem Umstand, dass Taiwan für ihn im Hinblick auf seine eigene Motivlage und Zielsetzung ein „optimales Umfeld“ bietet. Auf meine Frage, was ihm denn an Taiwan besonders gut gefalle, antwortet er: Die Gastfreundschaft. Teilweise ungeheuerlich wie freundlich und offen die Leute sind und wie nett und herzlich man überall aufgenommen wird und wie sich die Leute um einen kümmern, auch sich verantwortlich fühlen für einen, Profs wie Kommilitonen oder so. […] Dann dass ich hier ein optimales Umfeld gefunden habe von wahnsinnig netten Leuten, wo ich mich ungeheuer wohl fühle. Das ist eigentlich immer das Wichtigste für mich, dass ich ein Umfeld habe, wo ich mich wohl fühle 221
INTERKULTURELLES LERNEN und wo ich mit Leuten zusammen bin, die ich nett finde. Und dass ich sehr gute Studienbedingungen, viel lerne. (Klaus II, 325:337)
Seine Antwort verrät nichts über Taiwan, doch viel darüber, in welcher Hinsicht es ihm gelingt, dort eigene Bedürfnisse zu verwirklichen. Insofern Taiwan Attribute beigemessen werden, sind es solche, die in Bezug zu ihm selbst stehen („Gastfreundschaft“, „gute Studienbedingungen“) – Taiwan selbst gerät zum ‚Umfeld‘. Taiwan, so das Resultat, ist letztlich austauschbar. Was zählt, ist, dass das Umfeld im Hinblick auf die eigenen Motive und Ziele genügend Möglichkeiten bietet.
Schlussfolgerungen für den Lernprozess Die Entscheidung für eine vertiefte Analyse von Klaus’ Interviews fiel aufgrund der Beobachtung, dass die Strukturbilder sowohl eine positive Grundstimmung aufweisen als auch den instrumentellen Aspekt von ‚Gesicht‘ berücksichtigen. Dabei werden von Klaus zu beiden der späteren Untersuchungstermine Veränderungen an den Strukturbildern vorgenommen. Vor dem Hintergrund der obigen Analyse ist die positive bis begeisterte Grundstimmung, die sich in den Strukturbildern widerspiegelt, als perfekte Passung zwischen Klaus’ Motiven und Möglichkeiten ihrer Erfüllung verstehbar. In Taiwan fühlt sich Klaus vor allem deshalb so wohl, weil es ihm im Hinblick auf seine Motive und Ziele ein optimales Umfeld bietet. Mit ‚Gesicht‘ kommt Klaus, der an der ‚Kaderschmiede‘ Taida gemeinsam mit den Töchtern und Söhnen der Macht- und Leistungselite Taiwans studiert, in mehrerer Hinsicht in Berührung. Er erlebt, dass schon die Verbindung mit der Universität ‚Gesicht‘ verleiht, beobachtet jedoch auch den Leistungsdruck, der daraus für die Kinder erfolgreicher Eltern resultiert. Sein Verständnis des instrumentellen Charakters von ‚Gesicht‘ schließt an die Erfahrung an: „eine Hand wäscht die andere“. Da er als Student nicht wirklich an Fragen von Macht und Einflussnahme interessiert ist, stellt sich ‚Gesicht‘ vor allem als Baustein zur Erweiterung von ‚Möglichkeiten‘ dar (vgl. die entsprechenden Einträge im Strukturbild). Angesichts der großen Passung von Motiven, Zielen und Möglichkeiten stellt sich die Frage, ob und in welcher Hinsicht Klaus in Taiwan mit Differenz konfrontiert ist. Die Strukturbilder dokumentieren zwar einen Wissenszuwachs im Themenfeld ‚Gesicht‘, doch erscheinen neue Inhalte als zusätzliche Bausteine eines bereits gelegten Fundaments. Konflikte, Reibungen, Differenzen, Perspektivenwechsel, Transformationen sind an keiner Stelle der Interviews auszumachen. Klaus selbst berichtet zumindest nicht von Empfindungen kultureller Differenz oder gar Fremdheit. Er schildert lediglich sein Wissen als noch unzureichend und ergänzt während der späteren Interviews neu entdeckte Zusammenhänge. Die grundlegende Passung der drei Bedürf222
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nisse nach Abwechslung, Leistung und Unterstützung und den Möglichkeiten des Umfeldes werfen hier im Hinblick auf Voraussetzungen und Verlauf interkulturellen Lernens interessante Fragen auf: So lässt sich etwa an dieser Stelle vermuten, dass ihm die Verwirklichung aller drei Motive in Taiwan besser gelingt als in Deutschland (das sicherlich für Klaus weniger reich an Abwechslung ist). Nicht zuletzt deshalb strebt Klaus ja eine Karriere im internationalen Umfeld im Ausland an. Zu bedenken ist auch, dass möglicherweise in Taiwan eine spezifische Verknüpfung von Motiven erst möglich wird, zum Beispiel weil zwischen Freundschaft und Bereitstellung von Ressourcen (im Sinne von guanxi) im Allgemeinen weniger stark unterschieden wird als in Deutschland. Ohne nationale Kontrastierungen weiter strapazieren zu wollen, wäre dies ein weiterer Grund dafür, weshalb sich Klaus in Taiwan so wohl fühlt und in vielerlei Hinsicht (Studium, Kontakte, Praktikum) so erfolgreich ist. Generell stellt sich bei der Analyse der Interviews der Eindruck ein, Klaus bewege sich in Taiwan wie der sprichwörtliche ‚Fisch im Wasser‘. Dabei geht das Einleben reibungslos vonstatten, ohne dass sich Differenzerleben überhaupt in nennenswertem Umfang einstellen würde. Modelle (interkulturellen) Lernens müssen auch für diesen Fall Erklärungen bereithalten bzw. dessen Unmöglichkeit stichhaltig belegen können. Zumindest aber muss ein entsprechendes Modell erklären können, warum in bestimmten Fällen – und andere solche Fälle sind zum Beispiel auch von Weidemann, A. (2001) dokumentiert – sich bei der Ankunft in einer fremden Umgebung das subjektive Gefühl großer Passung einstellt (das in Klaus’ Fall jedoch v.a. interpretativ erschlossen wird).
Stefan Biographischer Hintergrund Seit elf Jahren ist Stefan für dasselbe Versicherungsunternehmen tätig. Nachdem er in verschiedenen Abteilungen ausgebildet wurde, war er in den letzten Jahren in der Sparte Transportversicherung eingesetzt. Da er in seinem bisherigen Tätigkeitsbereich bereits häufig auf Auslandsreisen war, kommt das Angebot einer Auslandsentsendung für Stefan nicht überraschend. Er ist Anfang Dreißig, als er den neuen Posten in der neu gegründeten Niederlassung in Taipei antritt. Da er bisher dem Länderbereich Naher Osten zugeordnet war, bedeutet die Stationierung in Ostasien eine Veränderung der Zuständigkeitsregion. Da er rechtzeitig von der Entsendung erfährt, kann er sich bereits in Deutschland auf den neuen Arbeitsbereich vorbereiten. Stefan reist gegen Jahresende nach Taiwan; seine Frau Annette und die beiden gemeinsamen kleinen Kinder, Katrin und Hannes, kommen einige Wochen später nach, nachdem Stefan die Wohnung für die Familie eingerichtet hat. 223
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Da das Unternehmen einen schnellen Marktzugang anstrebt, wird als Leiterin der Niederlassung eine Taiwanesin bestellt. Unter den wenigen bisher eingestellten Mitarbeitern ist Stefan der einzige Deutsche und zugleich der einzige westliche Ausländer. Da die taiwanesische Chefin weder den Geschäftsbereich noch die Firma so gut kennt wie Stefan, empfindet er seine neue Position als „Spagat“ (Stefan I, 698) zwischen der Notwendigkeit, seine spezifischen Kenntnisse einzubringen, und der Anforderung, sich der Chefin unter allen Umständen unterzuordnen. Als Stefan im Laufe der Zeit bemerkt, dass die Aktivitäten der Chefin nicht immer zum Vorteil des Unternehmens sind, entwickelt sich die Situation für Stefan als problematisch. Obwohl er mit vielen Entscheidungen der Chefin nicht einverstanden ist, die – wie er findet – stärker ihren eigenen Interessen als denen der Firma verpflichtet sind, bemüht er sich dennoch lange um Konfliktvermeidung, denn ohne Unterstützung höherer Instanzen der Firmenzentrale sieht er sich nicht in der Lage, die für ihn unbefriedigende Situation in der Niederlassung zu verändern. Nach den besonderen Anforderungen während der Einarbeitungszeit fällt in Stefans Tätigkeitsbereich nach einem halben Jahr nicht mehr viel Arbeit an. Auch hier wirkt sich die Unmöglichkeit, die Situation in der Firma zu verändern, für Stefan negativ aus, so dass er nach einigen Monaten neue Herausforderungen vermisst und sogar über eine Rückkehr nach Deutschland nachdenkt. Nicht nur aus finanziellen und karrierebezogenen Gründen steht ein Abbruch des Aufenthalts jedoch nicht wirklich zur Debatte. Ein Grund hierfür ist, dass seine Frau Annette in Taiwan einige enge Kontakte geknüpft hat und sich in der Community der deutschen Familien in Taipei sehr wohl fühlt. Zum Zeitpunkt des letzten Interviews ist Stefans Situation von der schwierigen Lage in der Niederlassung geprägt. Nach einem Wechsel der Führungsriege in der deutschen Firmenzentrale finden seine Berichte über die Missstände in der Niederlassung plötzlich Gehör. Da die taiwanesische Vorgesetzte bei der Beseitigung dieser Missstände wenig kooperativ ist, steht die Forderung nach ihrer Entlassung im Raum, ist jedoch zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht ausgesprochen. Für Stefan, der mit seinen Berichten die Loyalität zu seiner lokalen Chefin aufgegeben hat, bedeutet die Situation ein unangenehmes Warten, denn sollte die Chefin auf ihrem Posten bleiben, wäre er sich negativer Sanktionen ihrerseits gewiss. Zugleich ist die Firma mit der Kündigung der drei wichtigsten lokalen Mitarbeiter konfrontiert, die eine weitere Zusammenarbeit mit der Chefin ablehnen, so dass mit Monatsablauf die weitere Besetzung der Niederlassung völlig unklar ist. Die Arbeitssituation ist für Stefan extrem belastend, zumal eine Rückversetzung nach Deutschland für ihn immer noch keine gute Alternative darstellt. Die arbeitsbedingten Sorgen strahlen in sein Privatleben hinein, was ihn zusätzlich belastet. Er hofft auf eine positive Lösung der Situation, die ihm einen 224
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Verbleib in Taiwan ermöglicht, denn die Familie hat nun gute Freunde für zahlreiche gemeinsame Unternehmungen gefunden und Stefan genießt, in der ausländischen Community einen so bunt gemischten Freundeskreis gefunden zu haben. Insbesondere nachdem er Kontakt zu dem Netzwerk deutscher Manager in Taipei geknüpft und damit die für ihn vor Ort begrenzten Austauschmöglichkeiten erweitert hat, vermisst Stefan in dieser Hinsicht nur wenig. Zum Zeitpunkt des letzten Interviews planen Stefan und seine Frau, bis zum Ende der dreijährigen Vertragslaufzeit in Taipei zu bleiben.
Das Vermeiden von ‚Fehlern‘ und Identifizieren von Fremdheit Obwohl er schon seit langem in dem Unternehmen tätig ist, fühlt Stefan sich – gerade erst dreißig geworden – noch recht jung und unsicher, als er den Auslandsposten angeboten bekommt. Es ist seine erste Auslandsentsendung, und für ihn bedeutet sie nicht nur den nächsten Schritt auf der Karriereleiter, sondern auch eine Gelegenheit, sich persönlich und fachlich weiterzuentwickeln. Für Stefan stellt die Entsendung nach Taiwan daher auch eine Lehr- und Lernerfahrung dar. Er hofft, durch die Erfahrungen in Taiwan Defizite, die er an sich wahrnimmt, überwinden zu können und insbesondere „Fehler“, die er jetzt noch macht, künftig zu vermeiden: Es ist für mich schon eine Art Lehrzeit hier […] also da kann man sich dann auch schon mal einen Fehler leisten, das ist dann nicht so schlimm. Aber wenn ich natürlich in [der Zentrale] in einer anderen Position bin, dann darf ich mir diese Fehler nicht mehr leisten. Also es ist schon auch, ich meine, das ist das ganze Leben und das Berufsleben erst recht, eine ewige Lernzeit, Lehrzeit. (Stefan I, 2109:2118)
„Fehler“ ist ein Begriff, der in den Interviews wiederholt auftaucht und der von Stefan in besonderer Weise mit dem Ausüben seines Berufes verknüpft wird. Kann er sich in seiner jetzigen Position noch Fehler erlauben, so geht dies in einer höheren Position nicht mehr. Karriereschritte sind deshalb auch daran gekoppelt, zu lernen, Fehler, die Unerfahrenen noch passieren mögen, zu vermeiden. „Fehler“ haben dabei eine unmittelbare Auswirkung auf das Ansehen, das man bei anderen genießt. Jemand, der viele Fehler macht, hat ein „geringfügigeres Ansehen“ als andere, denen diese nicht unterlaufen. Das hohe Ansehen von Vorgesetzten beruht deshalb zum Teil auch darauf, dass diese weniger Fehler machen als ‚normale‘ Mitarbeiter. Personen, „die einen eben beeindrucken“, sind auf jeden Fall solche, die sich nicht „dämlich“ anstellen oder „Fehler“ machen. Für Stefan verliert eine Person, die „immer wieder den gleichen Fehler macht“, ihr Gesicht: Also für mich verliert jemand, also nach meiner Definition, das hat aber nichts mit China zu tun, ja, wahrscheinlich weil ich selber auch so reagiere, wenn einer doch zu viele dumme Fragen stellt oder so, weiß ich nicht. Sich zu dämlich anstellt, immer wieder den gleichen Fehler macht, dann hat man halt ein anderes Ansehen von dem,
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INTERKULTURELLES LERNEN geringfügigeres Ansehen als von einem, dem das nicht passiert. Oder der einen eben beeindruckt. (Stefan I, 1172:1178)
Das Ideal vom Aufstieg durch wachsende Kompetenz, die sich vor allem darin zeigt, dass man weniger Fehler macht, wird an anderer Stelle durch ein negatives Beispiel bestätigt: Als Stefan im Laufe des Aufenthalts erleben muss, dass selbst Personen der höchsten Unternehmensebene Fehler begehen, reagiert er enttäuscht und verärgert. Die Vorstellung, die wichtigsten Posten seien von besseren, kompetenteren Menschen besetzt, weicht der Erkenntnis, dass auch dort „Nieten in Nadelstreifen“ vertreten seien. Die Feststellung, selbst bei höchsten Vorgesetzten handele es sich (eben doch nur) um „Menschen wie wir auch“, gründet vor allem auf dem Beweis ihrer Fehlbarkeit: Ich habe immer geglaubt, das Sprichwort oder das Buch „Nieten in Nadelstreifen“, das ist nur von irgendwelchen Neidern ins Leben gerufen worden. Ich denke, nein, es ist nicht so, es sind wirklich Nieten in Nadelstreifen. Das sind genauso Menschen wie wir auch, und es werden auf dieser Ebene genauso Fehlentscheidungen getroffen wie wir auch, nur tragen die natürlich eine sehr viel höhere Verantwortung. (Stefan III, 526:532)
Das Bild des Vorgesetzten, der selbst keine Fehler begeht – und wenn er sie begeht, verantwortungsvoll und mutig zu ihnen steht –, ist ein Leitbild, dass während des Taiwanaufenthalts erheblich beschädigt wird (siehe dazu weiter unten). Doch zumindest während der Anfangsphase kann vermutet werden, dass das Bestreben, möglichst keine Fehler zu machen, für Stefan Leitlinie seines eigenen Handelns sowie des Entwurfs künftiger Entwicklung ist. Das Bestreben, Fehler zu vermeiden, bedeutet in umgekehrter Formulierung den Wunsch, alles richtig zu machen. In diesem Zusammenhang kann die große Bedeutung, die ‚Loyalität‘ zum Vorgesetzten für Stefan hat, gedeutet werden. Loyalität zum Vorgesetzten gründet sich nicht auf dessen fachliche Überlegenheit, denn sie ist selbst dann geboten, wenn der Vorgesetzte „Defizite“ zeigt. Ein Vorgesetzter verdient deshalb Loyalität, „weil es eine grundsätzliche Überlegung ist, dass man seinem Vorgesetzten eben loyal ergeben ist“ (Stefan I, 696:697). Als Untergebener verhält man sich deshalb nur dann ‚richtig‘, wenn man dem Vorgesetzten gegenüber loyal ist. Dies gilt auch für seine chinesische Chefin: Und ich bin halt mit der Prämisse herangegangen, sie ist die Chefin, auch wenn sie nicht immer alles genau weiß, aber ich muss ihr einfach loyal sein, und ich denke, das müsste ich auch einem deutschen Chef. Selbst wenn ich bei ihm Defizite feststellen würde, muss ich ihm loyal gegenüber sein. (Stefan I, 687:691)
Die Verpflichtung zu Loyalität und das Bestreben, Fehler zu vermeiden, gehen so eine Verbindung ein, die das Loyalitätsgebot auch zu einem inneren Anliegen werden lassen. Beides sind wiederkehrende Themen in Stefans Erzählungen, was zum einen an der großen Bedeutung liegt, die sie für Stefan 226
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besitzen, zum anderen jedoch daran, dass beide in der besonderen Situation in Taiwan ihre Aktualisierung finden. Diese Konstellation ist der spezifische Hintergrund der Erfahrungen, die Stefan mit dem Konzept ‚Gesicht‘ in Taiwan sammelt. „Fehler“ meiden und vorsichtiges Erkunden von Differenz In einer fremden Umgebung ist es nicht einfach zu wissen, wie man sich verhalten soll, welche Handlungen angemessen sind und welche nicht. Das Bemühen, keine Fehler zu machen, führt deshalb bei Stefan zu einer vorsichtig abwartenden Haltung, in der er zu erkunden versucht, wie in Taiwan Geschäftskontakte ablaufen. Da zu seiner Arbeit der Aufbau und die Pflege von Kundenkontakten gehört, umfasst sein Arbeitsfeld mehr als nur unternehmensinterne Verständigung. Aus vorherigen Auslandsaufenthalten und zahlreichen Geschäftsreisen in den Nahen Osten weiß er um die Bedeutung, die das Beachten lokaler Bräuche und Werte für den Erfolg seiner Arbeit hat. Bei der Ausreise nach Taiwan ist er deshalb auf kulturelle Verschiedenheit eingerichtet und versucht, sich durch das Lesen entsprechender Bücher („AsienKnigge“, Stefan I, 1799) über die lokalen Bräuche zu informieren. Da er sich seiner mangelnden Kenntnis möglicher Tabus bewusst ist, bewegt er sich in Taiwan zunächst vorsichtig und versucht, dem Verhalten anderer zu entnehmen, wie vor Ort Geschäfte gemacht werden. Erleichtert stellt er fest, dass die Schwierigkeiten nicht so groß sind wie befürchtet: […] und musste also hier zu meinem Erstaunen feststellen, dass es hier ähnlich ist. Also das, was mir mein Vorgänger und mein Chef aus Deutschland mir mehr oder weniger vorgemacht haben in den ersten Wochen, war das, was ich aus meinem alten Länderbereich gewohnt war. (Stefan I, 571:575)
Tatsächlich ist von kultureller Verschiedenheit in Taiwan für Stefan anfänglich wenig zu spüren. Da er aber davon gelesen hat, verwundert ihn dies selbst, und er will nicht ausschließen, dass er – was den Themenbereich ‚Gesicht‘ angeht – entsprechende Situationen erlebt, sie jedoch nicht als solche erkannt habe. Vielleicht, mutmaßt er, verletze er ständig das ‚Gesicht‘ anderer Leute, ohne dies selbst zu bemerken: Weiß ich nicht. Kann ich nicht beantworten, habe ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht. Weil ich, wie gesagt, auch nicht richtig sagen kann, was ist Gesicht verlieren und was nicht. Ich kann nicht sagen, ein Mitarbeiter von mir oder ein Kollege von mir hätte schon mal, wo ich jetzt sagen würde, der hat jetzt sein Gesicht verloren. Oder umgekehrt, ich habe den jetzt sein Gesicht verlieren lassen. Weiß ich nicht, vielleicht habe ich das schon. Vielleicht mache ich das ständig, vielleicht weiß ich es nur nicht. (Stefan I, 1292:1299)
Taiwan stellt sich für ihn als Umgebung heraus, in der er zwar zunächst bei Angelegenheiten des täglichen Lebens Hilfe braucht (z.B. beim Auto- oder Computerkauf), in der jedoch kein erhöhtes Risiko wahrnehmbar ist, Fehler zu 227
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begehen. Seine Arbeit läuft auch hier mehr oder weniger nach gewohnten Regeln ab, und wo immer Stefan aufgrund der Lektüre von Büchern auf Differenz vorbereitet ist, stellt sich diese Erwartung als unzutreffend heraus: Und komischerweise laden die Kunden uns auch nicht ein. Und sie nehmen unsere Einladungen ganz ungerne an, obwohl man ja überall liest, in diesen Asien-Knigge oder so, dass viele Geschäfte beim Essen gemacht werden. Und das habe ich hier eigentlich auch erwartet. Und also es ist wirklich so, dass die teilweise Einladungen zum Essen von uns annehmen und dann kurz vorher absagen, weil ihnen wohl eingefallen ist, dann müssten wir ja rückeinladen, und, nee, das wollen wir nicht. Und es ist uns also schon öfter passiert, dass wir versucht haben, einen Kunden zum Essen einzuladen und die haben dann also abgesagt. (Stefan I, 1798:1807)
Statt Herausforderungen durch kulturelle Differenz überwiegt für Stefan der Eindruck von Gleichheit, doch will er nicht ausschließen, dass diese Wahrnehmung trügerisch ist und einer späteren Neubewertung weichen könnte: Vielleicht, im Laufe der Zeit, werde ich schon Einzelheiten feststellen, die doch anders sind, die vielleicht augenscheinlich gleich sind, aber dann wirklich doch anders sind. (Stefan I, 577:580)
Es gilt, voreilige Schlüsse zu vermeiden, denn die Möglichkeit, dass – ihm noch unbekannte – kulturelle Regeln existieren, bedeutet, sich dem Risiko auszusetzen, diese Regeln zu verletzen und Fehler zu machen. Auch ein halbes Jahr später hält er es noch immer für möglich, dass das Phänomen ‚Gesicht‘ – entgegen seiner Wahrnehmung – in Taiwan doch eine Rolle spielt, denn schließlich hat er darüber gelesen, und nicht zuletzt nimmt er an meiner Studie teil, die das Vorhandensein dieses Phänomens postuliert: Aber sonst zum Thema Gesicht nehmen, geben... wenig. Vielleicht nehme ich teilweise Dinge wahr, wo ich das nicht als Gesicht erkenne. (...) Nee, ich mache mir da schon Gedanken drüber, weil ich habe da ja auch drüber gelesen und dass das jetzt, zumindestens für mich nicht erkennbar, sehr wichtig wäre. (Stefan II, 1328:1332) Gesicht... also wie gesagt, Gesicht ist für mich nicht so erkennbar, das Thema. (Stefan II, 1318:1319)
Die Suche nach Differenz ist für Stefan an dieser Stelle keineswegs ‚abgehakt‘. Dass dieses Bemühen insbesondere der Sorge geschuldet ist, in Unkenntnis der Regeln Fehler zu begehen, legen die Gesprächsteile nahe, die dem Thema Gesicht gewidmet sind. Mit ‚Gesicht‘ assoziiert Stefan vor allem das Aufrechterhalten des guten Rufs und meint, er selbst mache sich wohl mehr Sorgen um sein ‚Gesicht‘ als seine taiwanesischen Kollegen sich um ihres. Auf die Frage, wie er ‚Gesicht‘ definieren würde, antwortet Stefan: Ruf? Nach außen hin was zu verkörpern, was dann in Gefahr kommt, wenn man eben zu viel nachfragt, dass man meint, der ist ja wohl doch ein bisschen blöder, als ich dachte. Also, wie gesagt, ich mache mir vielleicht manchmal mehr Sorgen um mein Gesicht als die sich. (Stefan I, 1102:1105) 228
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Seine Sorge gilt nicht nur dem eigenen ‚Gesicht‘, denn auch das Verletzen des ‚Gesichts‘ des anderen kann einem selbst negativ angelastet werden und so den Ruf beschädigen. Für Stefan spielt ‚Gesicht wahren‘ eine große Rolle, denn es gilt, weder das eigene Ansehen zu beschädigen, noch dem ‚Gesicht‘ der anderen Person Schaden zuzufügen. Erst zum Zeitpunkt des dritten Interviews tritt eine neue Handlungsbegründung auf, die das Schädigen des fremden ‚Gesichts‘ in Kauf nimmt (oder gezielt anstrebt) und das Durchsetzen eigener Interessen als eigentliches Ziel hat. Unbedingte ‚Loyalität‘ und resignative Anpassung Am Arbeitsplatz wird Stefan bei seiner Suche nach Differenz nach und nach fündig. Seine Kollegen und Mitarbeiter, insbesondere aber die Chefin, verhalten sich in vielen Angelegenheiten anders, als Stefan erwarten würde oder gutheißen könnte. In seiner Suche nach Gründen für das ihm fremde Verhalten entdeckt er nach und nach kulturelle Kategorien. Insbesondere ‚Gesicht‘ entpuppt sich nun als Konzept von hohem Erklärungswert. Seine Chefin, so erkennt Stefan, berücksichtigt in ihren Entscheidungen häufig stärker die Folgen für ihr Gesicht als Folgen für das Unternehmen, wie er anhand der folgenden zwei Beispiele darlegt: […] ein völlig unwichtiger Kunde, der nie viel Geschäft gebracht hat. Das eine Geschäft, was dann mal gelaufen ist, ist in die Hose gegangen, unsere [Firma] hat da nicht gut bei ausgesehen und man hätte sich sicherlich da anders verhalten sollen, aber nur, weil sie persönlich angesprochen wurde und ihr wohl klargemacht wurde, das war jetzt ganz schlecht, wie [die Firma] sich verhalten hat und sie wohl persönlich angegangen wurde, sie auch persönlich reagiert hat und sie das Thema immer wieder aufgebracht hat, immer wieder den Finger in die offene Wunde, intern, gelegt hat, Wo man einfach hätte sagen müssen, „o.k., es ist nicht gelaufen, aber der Kunde ist letztlich nicht so wichtig, als dass wir jetzt alles andere Geschäft deswegen vernachlässigen und uns jetzt wirklich nur um diesen einen Kunden jetzt vielleicht in irgendeiner Form doch noch zu befriedigen“. Dann muss man sagen, „o.k., es ist schlecht gelaufen, den Kunden haben wir verloren, aber dann müssen wir auch einen Schlussstrich ziehen.“ Aber nein, sie hat sich persönlich da wahrscheinlich ihr Gesicht genommen gefühlt und hat dann immer wieder mit völlig illegitimen Argumenten immer wieder versucht, [die Firma] da doch noch zu bewegen, ihren Standpunkt ändern, weil sie eben ihr persönliches Gesicht retten wollte. (Stefan III, 760:780) Und es hat noch einen andern Fall jetzt mit einem [Geschäftspartner] gegeben, wo [die Firma] von vornherein gesagt hat, das können wir nicht machen, das wollen wir nicht machen, wir sehen kein Potential in dem Kunden, deswegen kommen wir seinem Wunsch nicht nach, und o.k., wenn die Folge ist, dass er deswegen mit uns kein Geschäft macht, so be it, aber wir sind nicht bereit, gewisse Vorleistungen zu erbringen. Und sie eben, da sie persönlich die Gespräche geführt hat, sich immer wieder, immer wieder berichtet hat „wir müssen aber doch“ und „mir ist gesagt worden, wenn wir das nicht...“ und bla, bla, bla und auch hier denke ich, dass sie wieder nur um ihr Gesicht gekämpft hat. (Stefan III, 780:790)
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Die chinesische Auffassung von ‚Gesicht‘ nimmt für Stefan immer deutlichere Konturen an. Immer häufiger erkennt er ‚Gesicht‘ nun als eigentliches Handlungsmotiv und Handlungsziel. Aber wenn ich vielleicht vor einem Jahr oder einem halben Jahr gesagt hätte, „nee, das ist kein Gesicht“, doch, das ist Gesicht. Weil ich einfach zu viel jetzt, oder sehr vieles in der Richtung gesehen habe. (Stefan III, 1460:1463)
Auch den mangelnden Erfolg seines ständigen Mühens, kritisches Feedback von seinen Mitarbeitern zu erhalten, erklärt er sich nun mit kulturellen Kategorien. Seine Mitarbeiter, so meint er nun, könnten die Weisungen eines Chefs gar nicht hinterfragen, da sie durch das Bildungssystem an die unbedingte Gültigkeit der Aussagen Höhergestellter gewöhnt seien. Auch in diesem Fall stößt er wieder auf die Bedeutung von ‚Gesicht‘: Und das ist bestimmt eine Sache, die mit Gesicht und Kultur zu tun hat. […] das, was der Chef sagt, wird gemacht, und der Chef weiß auch immer eine Antwort, und was der Chef sagt, ist auch immer richtig. Und dieses kulturelle Problem eben durch die Bildung, durch das Bildungssystem hier einfach unterstützt wird. Weil es eben Teil der Kultur ist, deswegen ist das wahrscheinlich so. (Stefan III, 710:729)
Im Zuge zahlreicher Beobachtungen und insbesondere während der langen Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz hat Stefan sich zum Zeitpunkt des dritten Interviews das Konzept anverwandelt. Nicht nur ‚sieht‘ Stefan ‚Gesicht‘ in sozialen Interaktionen, sondern er erkennt es als Kalkül der Handlungen anderer und seiner selbst. So ist er sich auch im Klaren darüber, welche seiner Handlungen der Chefin ‚Gesicht‘ nehmen und was ihre Reaktionen sein werden: Ich habe ihr das Gesicht genommen, dessen bin ich mir vollkommen bewusst, auch wenn sie mich ganz normal behandelt wie vorher, denke ich mal, dass sie jetzt einfach nur gute Miene zum bösen Spiel macht. (Stefan III, 439:442)
Der Begriff ist jetzt normaler Bestandteil seines Wortschatzes geworden und wird von ihm auch verwendet, um das Verhalten deutscher Kollegen zu erklären. Mittlerweile habe ich das so oft benutzt, dass es für mich jetzt auch das Gesicht ist. Und ich würde es wahrscheinlich in Deutschland jetzt auch sagen. Ich habe es ja auch im Zusammenhang mit dem Vorstand gesagt, er muss sein Gesicht gegenüber seinen Vorstandskollegen wahren. Ich weiß gar nicht, wie man das jetzt in Deutschland sagen würde. Sein Ansehen. (Stefan III, 1145:1165)
Der Konflikt und resultierende Resignation Das Entdecken von Differenz geht – unter den in der Niederlassung gegebenen Bedingungen – mit dem Ablehnen der entdeckten Praxis einher, da diese Stefans Meinung nach den Interessen der Firma schadet. Angesichts des 230
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Loyalitätsgebotes und seiner untergeordneten Stellung, die ihm eine positive Veränderung der Situation unmöglich machen, entwickelt sich für Stefan eine problematische Situation. Seine Loyalität gegenüber dem deutschen Mutterhaus, die auf eine lange Betriebszugehörigkeit gründet, gerät nun in Konflikt mit der direkten Anweisung, sich der neuen Chefin unter allen Umständen unterzuordnen: Ich bin seit 12 Jahren dabei und […] meinem Arbeitgeber doch irgendwo loyal ergeben, und ich kann es einfach nicht mit ansehen, wie dem also fortwährend, teilweise auch bewusst, geschadet wird. (Stefan III, 754:757)
Da ihm die Hände gebunden sind, hält er sich an das Loyalitätsgebot. Dies führt dazu, dass er eine Praxis toleriert und unterstützt, mit der er nicht einverstanden ist, nur um den „Burgfrieden“ zu wahren: Ich habe vor vielen Dingen meine Augen verschlossen, weil ich einfach auch mich dran gewöhnen wollte. Ich musste mich sonst an Taipei gewöhnen, aber ich habe mir auch gesagt, auch im Büro gibt es sicherlich viele Dinge, die anders sind, allein wegen der verschiedenen Kulturen anders sind. Und ich habe bei vielen Dingen, die ich persönlich nicht gut gefunden habe, einfach die Augen zugemacht und sie mit getragen auch teilweise, auch mit verantwortet habe, um einfach da, ja, den „Burgfrieden“ (Lachen) zu haben. (Stefan III, 146:156)
Aufgrund personalpolitischer Konstellationen im Mutterhaus hat er wenig Hoffnungen auf eine baldige Veränderung seiner Situation. Er versucht sich mit der Situation abzufinden und seine Ansprüche zurückzuschrauben, doch da auch anderweitig Impulse für seine Arbeit ausbleiben, bleibt er unzufrieden. Auch ein Abbruch der Entsendung, das ist ihm klar, wäre – nicht nur aus finanziellen Erwägungen – langfristig keine gute Lösung: Also wenn ich jetzt zurückgehen würde, dann würde ich natürlich wieder auf mein Deutschlandniveau zurückgestuft werden, und ich sage mal, das wäre dann unterm Strich während den Jahren dann schon eine ganze Ecke weniger, was uns unser späteres Leben dann in gewisser Form, dass man sich vielleicht ein Auto kauft oder ein Haus anzahlt, schon erleichtert. Von daher muss ich jetzt auch sagen, ich muss auch jetzt hier durchhalten. Da habe ich mich vielleicht jetzt mit abgefunden, und deswegen habe ich mich an die Dinge gewöhnt, weil, ich muss sie einfach ertragen, ich will es mir nicht vorhalten, dass es ja viel besser sein könnte. (Stefan II, 1064:1090)
Für Stefan führt die Unmöglichkeit, den Konflikt offen anzugehen oder gar zu lösen, in Resignation und Stagnation. Der Abbruch des Aufenthalts scheint ihm ein möglicher Ausweg – doch im Versuch, auch jetzt die Loyalität nicht aufzukündigen und keine Fehler zu machen (das Gefährden der künftigen Sicherheit von Haus und Auto wäre ein solcher Fehler), bleibt ihm in dieser Situation keine andere Lösungsmöglichkeit als „durchzuhalten“ und sich mit den Dingen vor Ort abzufinden.
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Die Wendung Es ist eine Wende in der Haltung der Firmenzentrale, die die Situation für Stefan schließlich verändert. Nachdem die Führungsriege im Mutterhaus ausgetauscht wurde, verfolgt der neue Vorgesetzte die Veränderung der Situation in der Niederlassung mit viel Elan. Für Stefan bedeutet dies eine völlige Veränderung der Situation: Und die Situation hat sich also völlig gedreht, weil, das hatte ich ja auch beim letzten Mal schon gesagt, wir ein neues Managementteam in [M-Stadt] haben. (Stefan III, 146:156)
Ermutigt durch die Unterstützung des neuen Vorgesetzten gibt er die Loyalität gegenüber der taiwanesischen Chefin zugunsten der Loyalität zum Arbeitgeber auf. Indem er dazu beiträgt, die Missstände in der Repräsentanz zu dokumentieren, begibt er sich dabei in offene Opposition zu ihr. Zum Zeitpunkt des letzten Interviews ist noch nicht klar, welche Konsequenzen diese Entscheidung, die auch seinen eigenen Verbleib in Taiwan aufs Spiel setzt, haben wird. Die Entlassung der Chefin ist im Gespräch, ist jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht beschlossen. Für Stefan ist seine Stellungnahme nicht ohne Risiko und als entsprechend belastend erlebt er die Situation. Und doch hat sich eine Veränderung bereits eingestellt: Indem Stefan sich entschieden hat zu handeln, ist seine Handlungsfähigkeit wieder hergestellt. ‚Gesicht‘ erscheint hier erstmals als Gegenstand aktiver Handlungen, die auf das Durchsetzen eigener (Macht-)Interessen abzielen. Nicht länger geht es nur darum, das Gesicht allseits zu bewahren (d.h. keinen Fehler zu machen), sondern in einem Akt direkter Aggression der anderen Person Gesicht zu nehmen. Eine zweite Veränderung besteht in der Wahrnehmung kultureller Differenz, die sich in den Äußerungen über Taiwanesen ablesen lässt. Die anfänglich zögernden Erkundungen von Differenz sind einer wertenden Bestimmtheit gewichen. Von Beobachtungen zu Urteilen über Taiwanesen Von Anfang an besteht in Stefans Äußerungen eine klare Trennung zwischen Taiwanesen und Deutschen, zwischen ‚denen‘ und ‚uns‘. Stefan versucht, mehr über ‚die‘ zu erfahren, indem er Bücher zu Rate zieht und das Gespräch mit anderen sucht. Wo er kulturelle Erklärungen heranzieht, tut er dies ohne zu werten. Die folgenden Textpassagen stammen aus dem ersten Interview: Ich denke mal, irgendwann... Sie geben sich Mühe, aber irgendwann ist halt die Grenze erreicht dann können sie sich nicht mehr kontrollieren, vielleicht. Ich habe gehört, wo war denn das, wo ein Taxifahrer einen anderen Taxifahrer…, nee, irgendjemand im Verkehr behindert, und der ist dann in aller Seelenruhe ausgestiegen, ein Taxifahrer, hat einen Vorschlaghammer im Taxi gehabt und hat dem alle vier Lampen, also alle beiden vorderen Scheinwerfer eingeschlagen und hinteren und ist dann in aller Seelenruhe in sein Taxi eingestiegen und weggefahren. Der ist 232
EINZELFALLANALYSEN irgendwie..., der hat sich nicht aufgeregt, der hat einfach, ich meine, der hätte ja jetzt aussteigen können und fragen, was machst du denn da. Aber der hat gesagt, ich bin lieber im Auto sitzen geblieben. Nicht, wenn sie sich mal aufregen, so hat er das gesagt, wenn sie sich mal aufregen, dann richtig. Also, sie haben sich vielleicht augenscheinlich mehr im Griff als wir, aber es gibt in Deutschland auch Leute, die eine Seelenruhe haben und irgendwann platzt ihnen der Kragen. Und andere, so wie ich, denen platzt halt immer mal der Kragen, aber die beruhigen sich dann auch wieder, und vielleicht kommt es dann nie zum großen Crash. Aber ist das eine Sache, die jetzt ... Vielleicht werden sie so erzogen, sich bei Kleinigkeiten halt mehr im Griff zu haben. Aber irgendwann, wenn sie sich dann doch so erregen, dann platzt ihnen halt der Kragen. (Stefan I, 1254:1276) Und es ist auch ganz witzig: Ganz offensichtlich falsche Schlussfolgerungen von mir, da wird dann nicht eingewandt, aber unter den und den Aspekten – ich mein, das geht jetzt wieder in die gleiche Richtung – sollte man vielleicht so und so entscheiden. Und das würde ich mir halt wünschen. Ich will nicht sagen, dass ich jetzt falsche Entscheidungen getroffen habe, aber durchaus Entscheidungen, bei denen wir, sagen wir mal, doch mehr Arbeit investieren musste. Wenn man mir ganz offen erwidert hätte, haben Sie das und das berücksichtigt und haben Sie gesehen, dass so und so, das hätte uns viel Zeit gespart. Und das ist halt hier im Moment noch nicht so. Vielleicht kann ich sie dazu ermuntern. (Stefan I, 893:903)
Zum Zeitpunkt des dritten Interviews sind seine Beobachtungen mit entschiedenen, negativen Wertungen verknüpft. Auf der Suche nach Differenz ist Stefan schließlich fündig geworden, doch ist das Bemühen, im taiwanesischen System keine Fehler zu machen, der Überzeugung gewichen, dass Bestandteile dieses Systems selbst ein Fehler seien. Eine Gültigkeit dieses Systems für die Beurteilung seiner Handlungen scheint nun abwegig. Wo anfänglich augenscheinlich so vieles gleich war, erkennt Stefan nun Unterschiede, die so groß sind, dass er sich nicht vorstellen kann, sich in Taiwan je wirklich wohl fühlen zu können. Und das ist bestimmt eine Sache, die mit Gesicht und Kultur zu tun hat. Bildungssystem. Meines Erachtens werden die hier alle nur zu Jasagern erzogen im Sinne des Konfuzius, wo sie am Anfang hörig gegenüber ihren Eltern sein müssen, später gegenüber ihren Lehrern, von denen erwartet wird, dass sie immer sagen, wo es lang geht. Ein Lehrer, der ihnen sagen würde, „deine Frage kann ich im Moment nicht beantworten, ich recherchiere das aber gerne, ich sage dir morgen Bescheid“ undenkbar ist, sie wahrscheinlich völlig aus der Bahn werfen würde, wenn ein Lehrer mal keine Antwort geben konnte. Und dass natürlich auch da – es kann nicht auf jede Frage sofort eine Antwort gegeben werden – auch da bestimmt immer viel, ich sage es jetzt mal ganz platt, zusammengelogen wird, nur damit man sein Gesicht wahrt, nur damit man seinem Schüler gegenüber eine Antwort geben kann. Und das sich bis ins Berufsleben fortsetzt, das, was der Chef sagt, wird gemacht, und der Chef weiß auch immer eine Antwort, und was der Chef sagt, ist auch immer richtig. Und dieses kulturelle Problem eben durch die Bildung, durch das Bildungssystem hier einfach unterstützt wird. Weil es eben Teil der Kultur ist, deswegen ist das wahrscheinlich so. (Stefan III, 710:729) Also die Leute sind... […] … Sie sind nicht aufrichtig. Weiß nicht, ob man das so sagen darf. Sie haben andere Ideale, andere Werte, die sie schützen wollen, und es ist ihnen eben wichtiger... Ah ja, das fällt mir jetzt ein: Sie handeln immer so bis zur nächsten Situation oder denken immer nur an den heutigen Tag. Ich denke mir, sie 233
INTERKULTURELLES LERNEN sind sich bewusst, dass, was sie jetzt sagen, dass das morgen zum Problem führen kann, weil sie es nicht geklärt haben in der Situation. Aber sie nehmen es bewusst in Kauf, morgen ein Problem zu haben, um heute das Problem von sich fern zu halten. (Stefan III, 1071:1088) Und bei denen ist das halt ganz... überhaupt nicht so, weil Zeit ist in unbegrenztem Maße vorhanden, also ist es völlig egal, was ich morgen vielleicht für ein Problem habe, wichtiger ist, dass ich heute hier einigermaßen mein Gesicht gewahrt habe. Und das ist ein Einstellung, mit der ich überhaupt nicht zurechtkommen würde. (Stefan III, 1108:1112) Hier ist mir der Unterschied einfach zu groß, als dass ich mich hier irgendwann wohl fühlen könnte. (Stefan III, 1121:1122)
Bei der Beantwortung der Frage, warum Stefan ein so negatives Bild von ‚den Taiwanesen‘ entwickelt, spielt die problematische Arbeitssituation in der Firma, die von Intrigen und Machtspielen durchzogen ist, sicherlich eine große Rolle. Da Stefan außerhalb des Arbeitskontexts kaum Kontakt zu Taiwanesen hat, nehmen die negativen Beispiele am Arbeitsplatz eine überragende Rolle ein. Doch spielen hier noch weitere Faktoren eine Rolle, die den Effekt der negativen Erfahrungen am Arbeitsplatz möglicherweise verstärken: Es sind dies die „Sprachbarriere“, die einen Austausch mit Taiwanesen weitgehend verhindert, sowie der Einfluss ausländischer Bekannter, die (negative) Interpretationshilfen anbieten. ‚Sprachbarriere‘ und die Möglichkeit von ‚Austausch‘ Zu Beginn seines Aufenthaltes ist Stefan offen für die vermutete kulturelle Differenz. Vor diesem Hintergrund bedauert er, aufgrund seiner fehlenden chinesischen Sprachkenntnisse vor einer „Sprachbarriere“ zu stehen. Für Stefan ist jedoch die Möglichkeit verbalen Austausches sehr wichtig. Wo ihm Möglichkeiten des Austausches fehlen – zum Beispiel mit Kollegen in Taiwan, in der Kommunikation mit dem Mutterhaus – vermerkt er das negativ. Umgekehrt schafft er sich in Taiwan Möglichkeiten, diesen Austausch mit anderen westlichen Ausländern herzustellen, und nutzt Gespräche immer auch als Quelle neuer Einsichten und Erkenntnisse. Die Möglichkeit eines sprachlichen Zugangs ist für Stefan nicht nur wichtig, um an Informationen zu gelangen, sondern vor allem, um einen emotionalen Kontakt herzustellen, der ihn – und den Gesprächspartner – ganz anders zufrieden stellen kann als gedolmetschte Gespräche. Zwar ist das Funktionieren alltäglicher Kommunikation mit Kunden dank Dolmetscher in der Regel gewährleistet, doch nur wo der Gesprächspartner sehr gut Englisch spricht, stellt sich für Stefan das Gefühl ein, wirklich in Kontakt gewesen zu sein: Also, da ich ja kein Chinesisch kann und es irgendwie geht – ja, irgendwie geht es schon. Aber wenn ich denn mal in ein Gespräch reingehe, wo der Gesprächspartner sehr gut Englisch kann, gehe ich aus diesem Gespräch ganz anders raus, als wenn ich aus einem Gespräch rausgehe, wo übersetzt wurde. Da fühle ich mich persönlich 234
EINZELFALLANALYSEN viel besser, weil ich kommuniziert habe, weil es eine win-win situation war, und das ist es glaube ich nicht, wenn übersetzt wird. (Stefan II, 1241:1247) Also von daher ist sicherlich das Sprachproblem auch ein wesentlicher Grund für die Situation hier. Wenn es doch am Ende des Tages nicht zu mehr Geschäft führt, so doch zu vielleicht einer größeren Zufriedenheit bei mir und auch beim Kunden – was dann natürlich idealerweise auch zu mehr Geschäft führt. (Stefan II, 1261:1265)
Bei dem Wunsch, Chinesisch sprechen zu können, geht es um mehr als nur das Erlernen einer Fremdsprache; „deren Sprache“ zu sprechen bedeutet auch, auf einer Wellenlänge zu kommunizieren. Sprache wäre für ihn – vermutet Stefan – ein Schlüssel für die Feinheiten, das Warum des Handelns anderer: Ja, also... Ist mein subjektiver Eindruck, ich denke, ja, es ist wichtig hier, aber hier für mich wäre es viel wichtiger, dass ich deren Sprache sprechen würde, um irgendwann mal dahin zu kommen, um da auch diese Feinheiten zu erkennen. (Stefan I, 2002:2005) Ich glaube, selbst wenn ich hier die Sprache sprechen würde, da ist einfach zu viel, sagen wir mal, Verhalten, das ich nicht beurteilen kann, ob die sich nun verstehen oder nicht. Ich weiß nicht, wie es auf die Kunden wirkt. Im Moment noch nicht. Aber ich finde es eine Anmaßung, selbst nach einer längeren Zeit, zu sagen, die können nicht miteinander, das werde ich wahrscheinlich nie beurteilen können. Deswegen werde ich wahrscheinlich auch nie die Situation im Büro beurteilen können, weil, das werde ich in der kurzen Zeit, und drei bis fünf Jahre, die mein Vertrag sind, ist glaube ich, dafür eine kurze Zeit. Zumal ich eigentlich keine Zeit habe, mich hier jetzt hier groß mit Kultur oder Sprache zu beschäftigen, weil mein normaler Tagesablauf mich so in Anspruch nimmt, dass ich da keine Zeit habe, das zu lernen in der kurzen Zeit. (Stefan I, 823:836)
Schließlich erweist sich die Hoffnung, einen solchen Austausch über die Sprachbarriere hinweg erleben zu können, als enttäuscht. Nach einem erneuten Anlauf, mit einer taiwanesischen Bekannten näher in Kontakt zu treten, schließt Stefan, dass Kommunikationsprobleme jenseits des reinen Sprachproblems fortbestünden. Er vermutet nun, dass eine geteilte Sprache Probleme der Verständigung nicht beseitigen würde, da die Unterschiedlichkeit von Werten und Idealen eine Verständigung letztlich immer erschweren würden. Also die Leute sind... vieles ist ein Kommunikationsproblem, und das ist natürlich auch unsere Schuld, dass wir kein Chinesisch können. Aber ich denke, selbst wenn entweder wir besser Chinesisch könnten oder sie besser Deutsch oder Englisch könnten – wie gesagt, ich erwarte hier aber von keinem, dass er Deutsch spricht, ich kämpfe selber mit Englisch – wenn sie ein bisschen besser Englisch sprechen könnten, denke ich selbst, wenn der eine genau wüsste, was der andere meint, es würde immer wieder auf diese gleichen Probleme hinauslaufen. Sie sind... (kurze Pause)... Sie sind nicht aufrichtig. Weiß nicht, ob man das so sagen darf. Sie haben andere Ideale, andere Werte, die sie schützen wollen […] (Stefan III, 1071:1088)
In dem Bemühen, die Gründe zu verstehen, die zu unterschiedlichen Werthaltungen und Einstellungen geführt haben, führt er Gespräche mit anderen westlichen Ausländern und besucht sogar ein interkulturelles Seminar, das in Tai235
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pei für Expats angeboten wird. Dieses bestärkt ihn in seiner Sicht, dass der taiwanesische Weg nicht nur anders, sondern letztlich defizitär ist: Sie treffen heute eine Entscheidung, wissen ganz genau, dass das nicht richtig ist, aber es ist ihnen wichtiger, heute ihr Gesicht da ü ber dieses Thema zu wahren als... morgen ist denen scheinbar egal. […] Aber das ist hier ein Riesenproblem aus meiner Sicht. Und damit tun die sich selber auch keinen Gefallen. Ich meine, sie sind erfolgreich. Es ist aber auch ein kleines Land, es ist alles begrenzt. In Festlandchina, ich denke mal die Ansätze sind ja da die gleichen aufgrund der gemeinsamen Kultur sieht man ja, da klappt es nicht so. Und ich denke es kann nur... auch in Hongkong, Singapur oder den overseas Chinese communities in anderen Ländern wie Indonesien, Malaysia, kann es nur funktionieren, können die Chinesen nur deswegen erfolgreich sein, weil sie in relativ kleinen Communities leben. Es ist alles überschaubar. Es sind keine flächenmäßig keine großen Länder oder so. Und da ist eben Mainland China das einzige, und da funktioniert es eben nicht. Sie tun sich damit selber keinen Gefallen. (Stefan III, 1092:1142)
Interpretationshilfe durch andere Expats Ohne dass Stefan dies direkt anspricht, gibt es Hinweise, die vermuten lassen, dass Einstellungen zu Taiwan auch der Teilhabe an der deutschen Community geschuldet sind. So betont Stefan zu allen Interviewzeitpunkten die prägende Rolle, die Vorgesetzte für ihn gespielt haben. Es wäre nahe liegend zu vermuten, dass es in der Situation in Taiwan, in der das Mutterhaus für ihn ferner rückt, andere Auslandsentsandte mit Taiwanerfahrung sind, die für Stefan Teile dieser Rolle übernehmen. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Kontakt zum deutschen Expat-Netzwerk in Taipei Bedeutung. In dieser Runde werden Ansichten und Erfahrungen über das Anleiten taiwanesischer Mitarbeiter ausgetauscht, und Stefan stellt erstaunt fest, dass hier andere Manager härter durchgreifen als er selbst. Auch wenn er selbst diese Praxis für sich nicht in Betracht zieht, so ist doch ein Hauch Bewunderung für die – zumindest von diesen Managern verbal reklamierte – Konsequenz im Handeln zu spüren. Also ich erstaune manchmal, wie die anderen Deutschen damit umgehen. Sehr viel konsequenter als ich. Nun sind sie auch teilweise in anderen Positionen als ich, die sagen denen dann „so oder nicht“, die gehen die richtig hart an. Die nehmen denen auch teilweise Gesicht, aber das ist denen egal. Also es geht da keiner vorsichtig mit um. Also ich möchte fast sagen, durch meine Situation hier gehe ich da noch am vorsichtigsten mit um, im Vergleich jetzt zu anderen Deutschen, wo ich einfach höre, wie die auf gewisse Situationen reagieren. Also Kommentar zu meinem office boy, der hat eben auch teilweise falsche Aussagen anderen gegenüber getroffen, was mich angeht: „sofort rausschmeißen“ war die Reaktion. Gut, einerseits habe ich nicht die Kompetenz, andererseits hätte ich diesen Schritt nicht sofort vollzogen, ich hätte immer noch mal drüber gesprochen und schon versucht und gemacht und getan, aber „nee, da gibt es doch überhaupt gar nichts, das ist illoyal, raus!“ (I. lacht) Da wird eher mit Unverständnis mein Zögern angesehen. Und der eine Kollege, der muss halt öfter mal auf die Baustelle, hat da Bauleitung, der sagt, „jedes Mal, wenn ich da ankomme, muss ich die erst mal zur Sau machen.“ (Stefan III, 1172:1191)
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Stefan mag nicht die Entschlossenheit haben, einen „office boy“, mit dessen Arbeit er unzufrieden ist, einfach rauszuschmeißen. Die „Konsequenz“ der anderen, die chinesische Regeln einfach ignorieren und hart durchgreifen, weckt zwar seine Bewunderung, doch steht Stefan zu seinem Anliegen und Anspruch, vor einem solchen Schritt ein Gespräch zu suchen, das eine andere Lösung ermöglicht. Auch im dritten Interview glaubt Stefan an die Möglichkeit und Notwendigkeit von Dialog, und es ist dieser Glaube, der Zweifel daran weckt, dass die oben angeführten negativen Urteile über ‚die Taiwanesen‘ Stefans letztes Wort über die Möglichkeit interkulturellen Dialogs sind. Er hat bis zu diesem Zeitpunkt nicht die Erfahrung gemacht, dass eine gemeinsame Sprache existiert, und diese Erfahrung muss in Anbetracht der Erwartungen zu Beginn des Aufenthaltes eine Enttäuschung sein. Ob diese Erfahrung im weiteren Verlauf revidiert wird, wäre eine interessante Frage. Angesichts seines hartnäckigen Interesses an den Handlungsmotiven seiner taiwanesischen Partner scheint es unwahrscheinlich, dass er in seinem Bemühen um Dialog und Verstehen so leicht aufgeben würde. Sowohl die Teilnahme an meinen Interviews als auch der Besuch interkultureller Seminare in Taipei spiegeln den Wunsch wider, mehr über Taiwan und seine Bewohner zu erfahren. Nach Abschluss des letzten Interviews (nach siebzehn Monaten Aufenthaltsdauer) konnten weitere Entwicklungen jedoch nicht mehr systematisch erfasst werden.
Schlussfolgerungen für den Lernprozess Stefans Strukturbild fällt durch die Fülle negativ gefärbter Inhalte auf, die vor allem zu den späteren Untersuchungstreffen ergänzt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Ergänzungen unmittelbar die problematische Arbeitssituation in der Niederlassung widerspiegeln. Wenn Stefan negative Beispiele ergänzt, dann deshalb, weil er entsprechende Situationen, selten jedoch positive Umgangsweisen erlebt hat. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen erscheinen Stefan auch andere, anfangs neutral beobachtete Verhaltensweisen seiner Mitarbeiter (z.B. das Ausbleiben von Fragen zur Verständnissicherung) auf negative Attribute der Beteiligten oder deren Kultur zurückführbar. Dass er sich hier negativer Erklärungskategorien (z.B. mangelnde Aufrichtigkeit) bedient, kann vermutlich zusätzlich auch durch entsprechende Erklärungsangebote seitens anderer Ausländer erklärt werden. Bemerkenswert ist, dass negativ gefärbte Erklärungen von Stefan auch mit dem Hinweis auf die während eines interkulturellen Seminars gesammelten Erkenntnisse vorgebracht werden. Ein derartiger Effekt eines interkulturellen Seminars ist nicht auszuschließen, auch wenn interkulturelle Trainings in der Regel andere Zielsetzungen haben. Stefans Erfahrungen belegen, dass die Erreichung dieser Zielsetzungen im Einzelfall ebenso ungewiss ist wie die Qualifikation der Seminarleiter.
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In Stefans Fall spielt zusätzlich vermutlich auch der Umstand, dass er kein Chinesisch spricht, eine ungünstige Rolle. In Ermangelung einer gemeinsamen Sprache macht er keine positiven Erfahrungen im Umgang mit Taiwanesen, die das Bild ‚gerade rücken‘ würden, und es ist ihm auch nicht möglich, im Gespräch alternative Begründungen zu erfahren. Die sich hier abzeichnende Rolle, die chinesische Sprachkenntnisse für den Lernprozess spielen, soll weiter unten fallvergleichend näher untersucht werden (vgl. Kapitel 8). Ein weiteres Merkmal von Stefans Strukturbildern ist die nur spärliche Repräsentation des Machtfaktors. Zwar vermerkt Stefan, dass das absichtsvolle Nehmen von ‚Gesicht‘ dem Durchsetzen eigener Interessen dient, doch verknüpft er weder das Themenfeld ‚Gesicht geben‘ noch das Themenfeld ‚Gesicht haben‘ mit Aspekten der Einflussnahme. Stattdessen spiegelt sich das Anliegen, möglichst keine Fehler zu machen, auch in der Interpretation von ‚Gesicht‘: So ist ‚Gesicht haben‘ damit verknüpft, sich „gut zu benehmen“ (Strukturbild I), „Probleme schnell lösen“ zu können (Strukturbild II), während ‚Gesicht geben‘ v.a. mit „Lob“ und „Bestätigung“ des anderen assoziiert ist. Aspekte von Macht, Einflussnahme, Selbstpräsentation sind in Stefans Strukturbildern kaum repräsentiert. Auch in Stefans Fall lässt sich daher argumentieren, dass das Lernen über ‚Gesicht‘ durch persönliche Anliegen ‚vorstrukturiert‘ ist. Stefans Bemühen, Fehler zu vermeiden, führt dabei zu einer spezifischen Interpretation, in der ‚Fehler‘ und ‚Gesichtsverlust‘ weitgehend gleichbedeutend sind. Stefans Beispiel zeigt schließlich auch, dass Lernen über ‚Gesicht‘ sich nicht in zunehmendem Wissen über ‚Gesicht‘ erschöpft, sondern ganz entscheidend mit dem Erkennen der Relevanz dieses Themas für das eigene Handeln und Erleben verknüpft ist. Für Stefan ist ‚Gesicht‘ monatelang ‚kein Thema‘, bis er zum Zeitpunkt des dritten Interviews bemerkt, mit ‚Gesicht‘ ständig konfrontiert zu sein. Das zunehmende Erkennen von ‚Gesicht‘ im Alltag kann im Sinne wachsender ‚Awareness‘ interpretiert werden. Stefans Beispiel legt nahe, dass diese nicht durch Offenheit, Interesse oder Wissen allein hergestellt werden kann. Sein Bemühen, kulturelle Verschiedenheit zu erkennen, zu benennen und zu verstehen, findet nicht ohne weiteres mit dem – durch meine Untersuchung eingeführten – Postulat zusammen, dass ‚Gesicht‘ in sozialen Interaktionen in Taiwan von Bedeutung sei. Es kann vermutet werden, dass die Teilnahme an meiner Untersuchung einen Einfluss auf Stefans Interpretationen des Alltagsgeschehens gehabt hat. Umso bemerkenswerter ist es, dass nach Beginn der Untersuchung noch mehrere Monate vergehen, bis Stefan für sich selbst die Relevanz dieses Phänomens entdeckt und sich ‚Gesicht‘ als Begriff sprachlich anverwandelt. Auch bezüglich sich entwickelnder ‚Awareness‘ für das Phänomen ‚Gesicht‘, einschließlich deren Verlauf und Bedingungen, versprechen fallvergleichende Analysen zusätzlichen Aufschluss über Verlauf und Bedingungen (vgl. Kapitel 8).
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Marion Biographischer Hintergrund Marion wächst in einem kleinen Ort in der ehemaligen DDR auf. Mit sechzehn verbringt sie ein Jahr als Austauschschülerin an einer amerikanischen Highschool, was ihr gut gefällt. Unter anderem motiviert durch die Erfahrungen in den USA will sie nach dem Abitur auf jeden Fall eine Fremdsprache studieren, hält Amerikanistik aber für nicht so zukunftsträchtig wie Chinesisch. Sie entscheidet sich deshalb für Sinologie und zieht in eine nahe gelegene Universitätsstadt, wo sie sich bald zu Hause fühlt. Neben dem Studium engagiert sie sich beim Sport, hat einen großen Freundeskreis und verbringt die Wochenenden regelmäßig mit ihrem Freund, dessen Freunden und Familie. Marion beginnt das Sinologiestudium ohne spezielle Vorkenntnisse, entdeckt aber in den ersten Semestern ihr Interesse an dem Studienfach und findet die chinesische Kultur zunehmend faszinierend. Da ein Auslandsaufenthalt zum Erlernen der chinesischen Sprache an ihrer Universität erwartet wird, geht auch Marion davon aus, für einige Zeit in China zu studieren. Doch unsicher, ob sie schon weit genug für das Auslandsstudium sei, lässt sie die Bewerbungsfrist für ein Stipendium in die Volksrepublik zunächst verstreichen. Durch Zufall erfährt sie von dem späteren Bewerbungstermin für TaiwanStipendien, erarbeitet ein Studienthema für die Bewerbung und ist damit – ganz entgegen ihrer Erwartung – erfolgreich. Die ersten Wochen in Taiwan erlebt Marion in Hochstimmung. Ihre Freunde und Familie, selbst ihren Freund in Deutschland vermisst sie nur wenig. Ihre Tage sind ausgefüllt mit dem Besuch des Sprachkurses, dem Knüpfen von Kontakten, Übungen im Sprachlabor und dem Englisch-Unterrichten von Kindergartenkindern. Die Wochenenden verbringt Marion mit Ausflügen, häufig mit den anderen ausländischen Studenten, die sie am Sprachenzentrum kennen gelernt hat, bisweilen auch allein. Etwas Sorge macht ihr der Umstand, dass sie außerhalb des Unterrichts zunächst nur selten Chinesisch spricht. Marion ist unzufrieden mit ihrer (niedrigen) Einstufung in den chinesischen Sprachkurs und hat das Gefühl, sie selbst müsse sich mehr anstrengen, um sprachlich Fortschritte zu machen. Schon zum ersten Interviewtermin denkt sie deshalb darüber nach, die Studienzeit in Taiwan zu verlängern, weil sie befürchtet, die Sprache sonst nicht ausreichend gut zu lernen. Im November verschlechtert sich Marions Stimmung rapide. Zum einen hängt das mit dem kälter werdenden Wetter zusammen, zum anderen mit dem Umstand, dass Kontakte zu den ausländischen Freunden am Spracheninstitut nun seltener werden. Diese verlagern ihre Unternehmungen zunehmend auf ihre 239
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chinesischen Freundeskreise und Marion ist nicht mehr so viel mit ihnen zusammen. Sie fühlt sich allein, zieht sich zurück und verbringt viel Zeit mit dem Schreiben von Briefen nach Deutschland und mit Telefonaten mit ihren Eltern und ihrem Freund. Neue Kontakte findet sie unbefriedigend, weil diese oberflächlich bleiben und sie noch niemanden gefunden hat, mit dem eine echte Freundschaft möglich ist. Sie leidet unter einem Hautausschlag, der auch an den Armen und Händen zu sehen ist, was sie stark belastet. Zeitweise verliert sie jeden Antrieb, die Stadt weiter zu erkunden, und selbst das Erledigen kleiner Aufgaben fällt ihr schwer. Sie fühlt sich unglücklich und hadert mit der Entscheidung, nach Taiwan gekommen zu sein. Etwas besser geht es ihr erst, nachdem sie beschließt, über Chinesisch-Neujahr nach Deutschland zu fahren, und als sie im Dezember Besuch von zwei guten Freunden bekommt. Kurz vor ihrem Deutschlandurlaub teilt Marions Freund ihr mit, er habe eine neue Freundin und wolle sich von ihr trennen. Die Nachricht stürzt Marion in eine schwere Krise, weil das Heimfahren ihr plötzlich sinnlos erscheint, sie sich in Taiwan aber auch unglücklich fühlt. Schließlich entscheidet sie sich doch für den Urlaub, besucht ihre Eltern und Freunde und beschließt, ihren Taiwan-Aufenthalt um ein halbes Jahr zu verlängern. Erleichtert, sich so zeitlich etwas „Luft“ verschafft zu haben und nicht mehr so sehr unter Lern- und Erfolgsdruck zu stehen, geht es für Marion nach ihrer Rückkehr nach Taiwan langsam „bergauf“. Sie lernt nun viele taiwanesische Freunde kennen, merkt, dass ihr Chinesisch Fortschritte macht und ist dennoch sehr besorgt, dass sie sich wieder „runterziehen“ lässt (Marion II, 1435), denn die Trennung von ihrem Freund macht sie oft noch traurig. Ihre Tage sind nun ausgefüllt mit der doppelten Anzahl von Unterrichtsstunden, Kursen in chinesischer Malerei, Kalligraphie, dem Pflegen von Kontakten, Sprachaustauschen und Englischunterricht. Noch immer leidet sie aber unter dem Ekzem und vermisst Möglichkeiten zum Sporttreiben. Mit dem wärmeren Wetter steigert sich zum Sommer hin Marions Wohlbefinden. Ihren Aufenthalt in Taiwan will sie nun um mindestens ein halbes Jahr verlängern, kann sich jedoch auch vorstellen noch ein viertes Semester anzuhängen, weil sie ihre Sprachkenntnisse weiter verbessern und das Erreichte stabilisieren möchte.
‚Unabhängigkeit‘ und ‚Bezogenheit‘ Für Marion ist der Taiwanaufenthalt von Anfang an zwischen zwei widerstreitenden Motiven angesiedelt, die für sie beide von großer Bedeutung sind. So sind ihr einerseits Freiheit und Unabhängigkeit sehr wichtig, andererseits sehnt sie sich nach sozialer Eingebundenheit und Geborgenheit, die für sie emotional an die Heimat in Deutschland geknüpft sind. Der Taiwanaufenthalt gewinnt vor dem Hintergrund dieser Motive eine spezielle Bedeutung. So folgt sie mit der Entscheidung für den Taiwanaufenthalt ihrem Wunsch nach 240
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Abenteuer und Unabhängigkeit, riskiert jedoch gleichzeitig den (zumindest vorübergehenden) Verlust von Heimat, Geborgenheit, Beziehung und Familie. Ihr Dilemma resultiert daraus, dass beide Motive für sie gleichermaßen wichtig sind, dass die Ausrichtung an jedem der Motive jedoch aus ihrer Sicht gegensätzliche Handlungen erforderlich macht. Die Entscheidung für oder gegen den Taiwanaufenthalt bringt das Dilemma auf den Punkt, da sie die Entscheidung für den einen oder anderen Ort erzwingt. Der Aufenthaltsort ist daher mehr als nur eine geographische Größe. Er symbolisiert zugleich die Aktualisierung des einen Motivs, hinter dem die Erfüllung des anderen Motivs zurücktreten muss. Vor dem Hintergrund dieser inneren Zerrissenheit erhält die Begegnung und Auseinandersetzung mit Taiwan für Marion eine ganz besondere Bedeutung. Gerät ‚Taiwan‘ einerseits zur symbolischen Repräsentation ihres Wunsches nach Unabhängigkeit, so ist es andererseits auch ‚Bühne‘ ihrer Zweifel an diesem Wunsch und an ihren Fähigkeiten, ihn tatsächlich mit Leben füllen zu können. Zwar bedeutet in Taiwan zu sein bereits das Anerkennen ihres Wunsches nach Unabhängigkeit und Abenteuer, doch in dem Maße, in dem es ihr in Taiwan zunächst nicht gelingt, sich wirklich wohl zu fühlen, erhalten Zweifel Nahrung, ob dieses Motiv ihr wirklich so wichtig sei. Die Verwobenheit und zunächst erlebte Antinomie beider Motive tritt in der Krise, die Marion in Taiwan erlebt und durchschreitet, besonders deutlich hervor. Als die anfänglich in Taiwan geknüpften Freundschaften zu anderen ausländischen Studenten nicht halten, stürzt sie das in ein emotionales Tief, denn die in Taiwan geforderte (und genossene) Unabhängigkeit findet nun kein Gegengewicht mehr in dem sicheren Gefühl sozialen Aufgehobenseins. Die Bedeutung Taiwans erfährt damit eine Verschiebung, die sie aus dem inneren Gleichgewicht bringt und eine Sehnsucht nach der Heimat in Deutschland anstößt. Sie spielt mit dem Gedanken, den Aufenthalt abzubrechen und zu ihrem Freund zurückzukehren. Doch diese – bereits als hochgradig konflikthaft erlebte – Auflösung ihres Dilemmas wird unmöglich, als ihr Freund in Deutschland sich unerwartet von ihr trennt. Für Marion beginnt nun ein Ringen um das innere Gleichgewicht, das ihre beiden Motive (nach Unabhängigkeit und Bezogenheit) gleichermaßen berücksichtigt. Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews (nach etwa sechs Monaten in Taiwan) scheint ihr der innere Konflikt unauflösbar zu sein: In Taiwan zu bleiben hieße, sich für Unabhängigkeit zu entscheiden, sich dabei aber nicht heimisch und geborgen fühlen zu können; den Aufenthalt abzubrechen käme der Aufgabe von Unabhängigkeit gleich, ohne dass die Geborgenheit der Beziehung ein Gegengewicht bilden könnte. In Marions Erzählung ist ‚Taiwan‘ mehr als nur die Kulisse dieses Ringens; es verkörpert vielmehr Aspekte dieses Konfliktes und gerät schließlich in dessen Auflösung zu einem Bestandteil von Marions Identität. In dem Ausmaß, in dem es ihr gelingt beide Motive mit Leben zu füllen, verbindet sich sowohl 241
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die Einsicht in die Existenz beider Motive als auch die Möglichkeit ihrer Erfüllung mit den spezifischen Erfahrungen in Taiwan. Wenn Marion Taiwan nach einem Jahr Aufenthalt in mancher Hinsicht als ‚Heimat‘ empfindet, umfasst dies auch Aspekte ihrer Persönlichkeit. Während des Aufenthalts hat sie sich verändert und sie selbst stellt fest, dass „Asien jetzt so ein wichtiger Teil geworden ist in meinem Leben“ (Marion III, 231:232), dass sie sich Freundschaften nur noch zu Leuten vorstellen kann, die Zugang zu diesem Teil ihres Lebens haben. In jeder Hinsicht und insbesondere in den ersten beiden Interviews erfährt ‚Taiwan‘ so eine höchst Ich-nahe Deutung, die in engem Bezug auf die konfligierenden Motive geschieht. Erst zum Zeitpunkt des dritten Interviews ist Marion ein positiver Umgang mit beiden Motiven gelungen, so dass ein neuer, von diesem Konflikt unbelasteter Blick auf Taiwan möglich wird. Marions Wunsch nach Bezogenheit Familie und Freunde sowie die Möglichkeit wechselseitiger Anteilnahme und echten Interesses aneinander sind für Marion sehr wichtig. Es sind Menschen, nicht Dinge oder abstrakte Sachverhalte, die in ihren Erzählungen den größten Platz einnehmen, und ihre vorrangige Sorge gilt in Taiwan zunächst der Möglichkeit, Freundschaften herstellen zu können. Anders als der Wunsch nach Unabhängigkeit, findet der Wunsch nach Geborgenheit und Nähe nicht Eingang in Marions explizite Selbstbeschreibungen. Er ist in Marions Erzählungen vielmehr selbstverständlicher Bestandteil ihres Welterlebens und muss als solcher nicht expliziert werden. Diese Deutung stützt sich auf die Vielzahl der Kommentare, in denen die Möglichkeit von Austausch und Bezogenheit eine Rolle spielen, sowie auf die große Bedeutung von Heimat, Geborgenheit, Anteilnahme, Dazugehörigkeit und „echter“ Freundschaft, die in diesen Äußerungen zu erkennen ist. „Bezogenheit“ ist eine interpretative Kategorie, die mir das grundlegende Element der im vorigen Satz aufgezählten Themen am besten wiederzugeben scheint. Sie verweist auf verschiedene Facetten, die in Marions Erzählung unterschieden werden und doch gleichzeitig in der Ähnlichkeit ihres Anliegens zusammenspielen. Vor dem Hintergrund der in Taiwan zunächst erlebten Schwierigkeit, Freundschaften herzustellen, sowie in der Reflexion des Scheiterns der Beziehung zu ihrem Freund sind viele dieser Anliegen durch negative Äußerungen gekennzeichnet, die präzisieren, was ihr in Taiwan fehlt. Vier Aspekte ihres Wunsches nach Bezogenheit seien kurz angerissen: (a) ihr Bedürfnis nach Austausch durch Gespräche, (b) die Suche nach „echter“ Freundschaft, die auf geteilten Interessen beruht, (c) der Wunsch nach Geborgenheit und (d) nach Zugehörigkeit.
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„Quatschen“ können, Gespräche mit Freunden Nachdem sich die ersten Kontakte zu anderen Sprachstudenten zerschlagen haben, hat Marion niemanden, mit dem sie „richtig echt so quatschen kann“. Neue Kontakte bleiben oberflächlich und damit für Marion unbefriedigend. Lieber zieht sich Marion zurück, als sich auf Freundschaften dieser Art einzulassen: Und dann hatte ich irgendwie keine Lust mehr, in die Uni zu gehen, beziehungsweise ich habe das schon gemacht, aber ich habe dann mehr und mehr Zeit im Computerraum verbracht mit Email schreiben und Briefe schreiben. Weil ich dann irgendwie gemerkt habe, die Leute hier und die paar Amis, die du [am Spracheninstitut] kennen lernst, das ist ja alles nur so furchtbar oberflächlich und das ist so anstrengend, neue Leute kennen zu lernen, du erzählst nur jedem dasselbe, warum du hier bist und es gibt irgendwie niemanden, mit dem man so richtig echt so quatschen kann, dass man sich wohl fühlen kann und einfach man selber sein kann. (Marion II, 49:59)
Doch schließlich entwickeln sich – zu anderen ausländischen Studenten und zu Taiwanesen – engere Freundschaften, die auf einem tiefer gehenden Interesse aneinander beruhen. Anteilnahme und wechselseitiges Interesse Marions Ansprüche an Freundschaft sind hoch; zweckgebundene Kontakte, die etwa nur der Sprachvermittlung dienen wie beim Sprachaustausch, lehnt sie ab. Für sie sind ein echtes wechselseitiges Interesse aneinander und gegenseitige Anteilnahme unerlässliche Bestandteile „echter“ Freundschaft. Zu solch einer Freundschaft gehört auch, dass man sich umeinander kümmert und gegenseitig hilft. Als Marion einmal krank ist, kommen ihr erste Zweifel an den in den ersten Wochen geknüpften Freundschaften, denn niemand kümmert sich um sie oder erkundigt sich auch nur nach ihr. Und dann war es so, dass ich ganz krank geworden bin, und irgendwie auch zwei oder drei Wochen fast wirklich nur zu Hause war im Bett. Ich habe mich zwar immer an die Uni geschleppt, aber habe da zum ersten Mal gemerkt, dass die Leute sich nicht wirklich um mich kümmern, dass irgendwie niemand angerufen hat, um sich nach mir zu erkundigen oder so. Und da habe ich mich sehr drüber gewundert, weil ich das vorher immer gemacht habe, weil die anderen mir einfach wichtig waren. Und da habe ich irgendwie gedacht, komisch. (Marion II, 372:380)
Interesse aneinander ist für Marion mit geteilten Interessen an Themen verknüpft. Zu einer engeren Freundschaft gehört deshalb, dass es gemeinsame Interessen gibt. Und das waren dann halt mehrere Leute ab dann, die ich alle einmal oder maximal zweimal getroffen habe und dann aber ganz schnell gemerkt habe, dass da irgendwie doch nicht so gemeinsame Interessen waren. Und rein jetzt für den Zweck Sprachaustausch irgendwie finde ich irgendwie langweilig. Ich weiß nicht, ich habe so viele Mitstudenten in der Uni, Amerikaner oder was, die sagen, sie treffen sich einmal in der Woche regelmäßig mit ihrem Sprachaustausch, gehen dann eine Stunde Kaffee trinken, reden dann eine halbe Stunde Chinesisch, eine halbe Stunde Englisch, so 243
INTERKULTURELLES LERNEN nach einem Modell und werten irgendwelche Zeitungstexte oder was weiß ich aus, um halt ein Gesprächsthema zu haben. Das ist sicher hilfreich für die Sprache, aber ich finde das halt irgendwie, wenn kein freundschaftlicher Hintergrund oder kein wirkliches Interesses an dem Gegenüber besteht, dann ist das irgendwie nicht so echt, ich weiß nicht. (Marion II, 442:456)
Da für Marion sowohl ihr Chinesischstudium und der Taiwanaufenthalt als auch ihre Herkunft aus Deutschland wichtige Interessen und Themen sind, kann sie sich nicht vorstellen, mit jemandem eng befreundet zu sein, der diese Interessen nicht teilt. So wie sie erwartet, dass taiwanesische Freunde sich für Deutschland interessieren, so erwartet sie von ihrem deutschen Freund, dass er ihr Interesse an China teilt. Dass er dies nicht tut, ist ihr Indiz dafür, dass die Beziehung „nicht gut“ (Marion II, 851) war. Sie schließt daraus, dass nun, da Taiwan für sie so wichtig geworden ist, eine Beziehung wie früher für sie vollends unmöglich wäre: Ich kann mir das auch schwer vorstellen, mit jemandem ... mit einem Taiwanesen oder so befreundet zu sein, der jetzt überhaupt kein Interesse an Deutschland hätte irgendwie. Das ist ja ein Widerspruch in sich irgendwie, ich bin ja nun mal Deutsche. Gut, der kann sagen, er hat Interesse an meiner Person, aber ich bin ja Deutsche. Ich weiß ja nicht, inwiefern ich das dann ablegen muss, trotzdem meine Persönlichkeit beibehalten, aber meine Identität oder das verleugnen, und das geht irgendwie nicht. (Marion III, 966:973) Und gleichzeitig habe ich aber jetzt gemerkt, dass wir nie wieder so eine Beziehung haben können wie vorher, selbst wenn ich irgendwann wieder zu Hause bin und wir uns irgendwie noch mal treffen oder irgendwas unternehmen oder so. Aber so wie vorher eine Beziehung, was ich halt noch lange gehofft hatte, irgendwie, kann nicht mehr passieren, dahingehend, weil Asien jetzt so ein wichtiger Teil geworden ist in meinem Leben, und ich das vorher immer außen vor gelassen habe, vor der Beziehung, weil er wirklich kein Interesse dafür hat. Und das geht jetzt nicht mehr. Das geht jetzt überhaupt nicht mehr. (Marion III, 226:235)
„Dazu gehören“ Marion registriert sehr genau, an welchen Orten, in welchen Situationen sie sich als zugehörig erlebt und behandelt fühlt. So ist die Freude darüber, in Taiwan erstmals mit westdeutschen Studenten befreundet zu sein, auch eine Freude über das Zugehörigkeitsgefühl („zum ersten Mal seit der Wende habe ich wirklich das Gefühl, dass es wirklich nur noch ein Deutschland gibt irgendwie“, Marion I, 270:271), und sie deutet das Scheitern dieser Freundschaften als (schließlich entlarvte) Negation von Zugehörigkeit: „Die anderen sind eben doch Wessis und ich bin eben doch Ossi, und der Unterschied ist eben doch noch da“ (Marion II, 45:47).7 Diese Erfahrung verstärkt das alte
7 Diese Äußerung ist ein Selbstzitat, mit dem Marion im zweiten Interview ihre Haltung zu jenem früheren Zeitpunkt wiedergibt. Rückblickend meint sie, mit dieser Erklärung habe sie es sich damals „leicht gemacht“ (Marion II, 45). Zum Zeitpunkt des Scheiterns der ersten Freundschaften schien ihr diese Erklärung jedoch plausibel, weshalb ich sie auch in diesem Zusammenhang zitiere. 244
EINZELFALLANALYSEN
Gefühl, eben in den Osten zu „gehören“ und drückt zugleich die Sorgen aus, sich ohne das Gefühl der Zugehörigkeit „verloren“ vorzukommen: Ich wollte eigentlich nie in eine westdeutsche Stadt zum Studieren, weil ich mir da vielleicht noch verlorener vorgekommen wäre. Da fühlte ich mich in [M-Stadt] eher noch zu Hause, dass ich da hin gehöre und alle anderen, die von drüben kommen, die Gäste sind. (Marion I, 282:286)
In dem Maße, in dem sie selbst sich in Taiwan zu Hause fühlt und als zugehörig erlebt, gerät für sie die Unmöglichkeit dieser Zugehörigkeit auch in Taiwan zum Thema. Neugierige Blicke, die sie anfangs noch wohlwollend registriert hat, beginnen sie zu stören, da sie ihr die erlebte Distanz des Betrachters widerspiegeln: Und dann habe ich aber, seitdem ich jetzt auch länger halt hier bin, habe ich halt doch ein, zwei Situationen mal gemerkt, wo ich es nervig fand, dass Leute mich angeglotzt haben oder wo ich dann auch erbost darüber war oder so. Oder gemerkt habe... nicht direkt jetzt auf Rassismus gestoßen bin, aber wo ich halt gemerkt habe, dass die Leute mich eben bewusst, was du eben gesagt hast, ausgrenzen wollen oder so. Weil ich mich hier dann zeitweise eben wieder, auch jetzt innerhalb der letzten drei Wochen wieder so wohl gefühlt habe, und trotzdem aber durch mein Aussehen mir das mehr oder weniger signalisieren, dass ich Ausländer bin und wahrscheinlich auch nie die Chance habe dazuzugehören, selbst wenn ich irgendwann mal fließend Chinesisch spreche oder so. Dass halt in Restaurants oder so, das merkt man halt doch mal, die Leute irgendwie glotzen oder so, was am Anfang irgendwie angenehm war, was ich als sympathische Neugier empfunden habe, was jetzt halt wirklich... ich weiß nicht... eben nicht Rassismus, aber die Leute glotzen halt irgendwie, weil sie sich vielleicht selber nicht denken können, warum ist denn die eigentlich hier, oder was sucht die hier. Weiß nicht, das ist irgendwie unangenehm. (Marion II, 1698:1716)
Sie selbst mag sich zugehörig fühlen, doch die Blicke signalisieren ihr, dass Passanten diese Zugehörigkeit nicht erkennen. Wird sie auf Englisch angesprochen, so ist ihr auch dies Hinweis darauf, dass sie als ‚anders‘, als nicht dazu gehörig gesehen und behandelt wird. Für sie ist es daher sehr wichtig, zu erkennen zu geben, dass die Sicht der anderen unzutreffend ist, dass sie, obwohl sie Ausländerin ist, sehr wohl Chinesisch spricht und sich an die lokalen Normen hält: Und dann habe ich zum Beispiel im Flugzeug auch gemerkt, da waren halt wenige Ausländer, die meisten waren halt schon Taiwanesen alle, die nach Deutschland geflogen sind, und alle Stewardessen haben halt immer alle Ausländer auf Englisch angesprochen, das hat mich einfach tierisch genervt, weil ich nicht wie so ein oller Analphabet zwischen den ganzen Taiwanesen sitzen wollte und habe dann immer, egal was sie mich gefragt haben, auf Chinesisch geantwortet. Für die Leute ist es dann natürlich höflich, mich auf Englisch anzusprechen, ist ja klar, aber trotzdem, für mich war es dann irgendwie auch unangenehm, als wenn die Leute mich dann auch für blöd halten oder so. Und was ich eigentlich in der Gesellschaft will oder warum ich da eigentlich bin, wenn ich doch eigentlich die Sprache wahrscheinlich sowieso nicht spreche, so nach dem Motto. (Marion II, 1663:1684)
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Emotionale Nähe und Geborgenheit Emotionale Nähe und Geborgenheit findet Marion insbesondere bei ihren Eltern und in der Familie ihres Freundes. Hier findet sie ein „Gefühl von Heimat“ (Marion II, 843), einen „Ruhepol“ (ebd.), der ihr viel bedeutet. Und es war halt das, was mir ein Zuhause gegeben hat. Ich war halt wie ich gesagt habe seit ich vierzehn war aus dem Haus, im Internat und im Wohnheim und überall, in Amerika, und nirgends mehr richtig zu Hause. Und seit meine Eltern umgezogen waren auch nicht mehr bei meinen Eltern zu Hause, weil ich da auch kein Zimmer mehr habe in der neuen Wohnung. Und bin am Wochenende immer mit zu meinem Freund gefahren. Und da hatten wir am Wochenende immer unser eigenes Schlafzimmer, und da war ich bei der Familie und ich war halt dann schon die Schwiegertochter irgendwie. (Marion II, 776:784)
Der emotionale Rückhalt, den sie bei ihren Eltern und Großeltern, aber auch bei der Familie ihres Freundes findet, ist für sie auch eine wichtige Quelle von Kraft und Zuversicht. Auf der Grundlage positiver Bezogenheit ruht die Zuversicht, Unabhängigkeit wagen zu können. Gerät dieser Rückhalt in positiver Bezogenheit ins Wanken, nimmt das Abenteuer Unabhängigkeit einen bedrohlichen Charakter an. Doch ist ein Zuviel an Bezogenheit mitunter ein Hemmnis für das Verwirklichen von Unabhängigkeit: Der Wunsch, enge Beziehungen nicht zu gefährden, führt dann zu einer Anpassung, die letztlich einem Verzicht auf Unabhängigkeit in wesentlichen Bereichen gleichkommt. In diesem Zwiespalt erlebt Marion die Beziehung zu ihrem Freund, und die Trennung erscheint ihr im Rückblick als Befreiung aus der für sie unbefriedigenden Situation, ihre Unabhängigkeit für den Wunsch nach Bezogenheit geopfert zu haben. Marions Wunsch nach Unabhängigkeit In ihren Selbstentwürfen geht es um Selbständigkeit und Unabhängigkeit, aber zugleich auch um viel mehr als nur das. Marions Selbst- und Lebensentwürfe sind gekoppelt an Metaphern der Bewegung, sie will „raus“, „unterwegs sein“, immer wieder „woanders hin“. Auf keinen Fall hält sie es aus, „eingesperrt“ zu sein, und falls sie überhaupt „sesshaft“ werden will, so ist dies ein Plan für die ferne Zukunft. „Sesshaft sein“ und „unterwegs sein“ repräsentieren zwei unterschiedliche Lebensentwürfe, die Marion kontrastiv entwirft: Sie kann sich nicht vorstellen, „ein ganz normales Leben“ zu führen wie ihre Cousins oder Bekannte, die mit Anfang zwanzig noch bei ihren Eltern wohnen oder doch nie den Sprung aus der Heimatstadt gewagt haben. Ausbildung, Studium, Freundin, Disco, finanzieller Erfolg mögen Bestandteile eines solchen Lebens sein, doch ist es arm an „Erfahrungen“ und lässt den eigenen Horizont sehr „eingeschränkt“. Ein solches Leben, daran lässt Marion keinen Zweifel, ist irgendwie eine Verschwendung von Zeit, und auch wenn sie sich bemüht, die Wahl der anderen nicht „abzuwerten“, so bleibt es doch für sie ein armseliges, eben „na ja, ein ganz normales Leben“ (Marion I, 206):
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EINZELFALLANALYSEN Also ich kenne einige Leute aus [M-Stadt], die halt auch noch zu Hause wohnen bei ihren Eltern mit 21, 22 und auch gesagt haben, oh, meine Eltern würden mich nie weglassen und du warst ja schon so oft und auch in Amerika. Und das kann ich dann immer nicht nachvollziehen. Gut, die wollen vielleicht auch nicht und fühlen sich schon wohl in ihrer Haut, aber ich weiß nicht, ich glaube ich bin so ein Mensch, ich muss irgendwie raus und gerade, weil ich das seit ich 14 bin so kenne, weg zu sein und schon mein eigenes Leben geführt zu haben. (Marion I, 239:247) Aber ich habe halt unheimlich den Unterschied gemerkt, dass er [der Cousin, der Marion in Taipei besucht hat] 27-jährig immer noch nie in seinem Leben aus seiner Heimatstadt rausgekommen ist. Und wenn ich das verglichen habe, einfach so meinen Eindruck irgendwie, worüber wir uns einfach zeitweise unterhalten haben oder so. Ich meine halt auch, ich will ihn jetzt irgendwie überhaupt gar nicht abwerten oder so, aber er hat halt auch ganz normal sein Abi gemacht und sein Studium und verdient jetzt Schweinekohle, er macht halt Consulting und was nicht alles und das ist voll sein Ding, so mit Wirtschaft und was. Und der verdient gut Geld und hat sein Auto und seine Hobbys und seine Freundin und geht zur Disco und ins Kino und was nicht, und der ist voll glücklich damit… Aber mir ist halt dahingehend bewusst geworden, was ich schon gesehen habe alles, wo ich schon war in meinem Leben, was ich für Erfahrungen gemacht habe gegenüber ihm. Und ich hatte halt ihn so erwartet, dass er halt total aufgeschlossen ist und ganz furchtbar neugierig irgendwie. […] aber zeitweise habe ich halt gemerkt, da fehlte irgendwie… seine Toleranzschwelle war dann irgendwie nicht hoch genug oder so. Manche Sachen hat er irgendwie einfach nicht richtig aufnehmen können oder wollen oder hat einfach zugemacht an irgendeiner Stelle. Also der Horizont, der war irgendwie schon ein bisschen eingeschränkt irgendwie. (Marion III, 343:373)
Sesshaft sein, das wird klar, bedeutet Normalität, Langeweile und Stagnation. Dem steht die Bewegung gegenüber: Unterwegs sein ist außergewöhnlich, Abwechslung, persönliche Veränderung und Wachstum. Marion hat sich schon zuvor für „außergewöhnliche Sachen“ entschieden, hat ein Jahr in Amerika verbracht und einen Studienort außerhalb der Heimatstadt gewählt. Marion möchte „immer wieder woanders“ sein und „neue Sachen ausprobieren“. Veränderungen und Wachstum in verschiedenen Lebensabschnitten sind durch Veränderungen des Ortes markiert, und Marion genießt, dass sie so immer wieder neue Dinge kennen lernt. Der Drang nach Veränderung ist Teil ihrer Persönlichkeit, der sich nicht unterdrücken lässt. Sie glaubt, „ich bin so ein Mensch, ich muss irgendwie raus“ (s.o.) und selbst der Entschluss zur Sesshaftigkeit könne nicht verhindern, dass diese sie doch nach einiger Zeit wieder „aufregt“: Und jetzt bin ich aber froh, dass ich nach den zwei Jahren [in M-Stadt] jetzt wieder eine Abwechslung in meinem Leben habe. Und, weiß nicht, deswegen bin ich vielleicht auch so ein Typ, dass ich halt nicht lange irgendwo sein kann, ohne dass es mir, weiß nicht, langweilig wird kann ich eigentlich auch nicht sagen, aber ich bin dann schon immer glücklich über einen Tapetenwechsel. Also ich glaube, in [MStadt] einfach in eine neue Wohnung zu ziehen, wäre nicht genug gewesen. Ich habe dann immer so ein Gefühl, ich muss das immer so lebensabschnittsweise abhaken, das war das Grundstudium, das ist vorbei, und jetzt kommt erstmal ein Auslandsjahr, und ich kann mir gut denken, dass das so weitergeht die nächsten Jahre. (Lacht) Immer wieder woanders, neue Sachen ausprobieren. (Marion I, 298:310)
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INTERKULTURELLES LERNEN Und selbst danach, wenn ich mich dann entscheide dann sesshaft zu werden irgendwo, dann regt es mich nach drei Jahren vielleicht doch wieder auf und ich will wieder woanders hin, weiß ich nicht. (Marion II, 846:849) Ich weiß nicht, inwiefern das vielleicht damit zusammenhängt, dass ich aus Ostdeutschland komme und in der DDR halt nicht viel Möglichkeiten hatte zum Rumreisen. Das heißt, na gut, ich war 11, als die Wende kam, da kann ich auch nicht sagen, ich habe mich eingesperrt gefühlt, also das wäre Quatsch oder übertrieben in dem Zusammenhang. Ja, irgendwie interessierte mich schon, was sonst noch auf der Welt passiert und ich habe auch im Moment jetzt schon wieder, dass ich viel zu wenig Zeit habe, um alles das zu entdecken und herauszufinden und zu erfahren, was ich eigentlich gerne kennen lernen möchte. Und das ging mir eigentlich dann seit ich in Amerika war so, dass ich immer das Gefühl hatte, die Zeit rennt mir weg und ich war dann immer in einer gewissen Hektik und habe manchmal das Gefühl gehabt, ich verschwende Zeit8, wenn ich mal nichts gemacht habe, einfach mal nur die Seele habe baumeln lassen. Und bin halt gerne immer unterwegs und mache Sachen einfach, weil ich mich dann gut fühle, weil ich merke, ich beschäftige mich mit Sachen und lerne neue Dinge kennen. (Marion I, 150:166)
Die Zerrissenheit Das Streben nach Veränderung und Unabhängigkeit ist gleichzeitig mit Zweifeln und Ängsten besetzt, denn es stellt eine Aufgabe dar, an der man auch scheitern kann. Solange Marion ihr Bedürfnis nach Bezogenheit, nach echter Freundschaft und Dazugehörigkeit in Taiwan zunächst nicht verwirklichen kann, gewinnt der Wunsch nach Bezogenheit die Oberhand und lässt sie an ihrer Kraft, ein Leben in der „Weltgeschichte“ zu meistern, zweifeln. Sie schwankt nun zwischen dem Wunsch, in die Geborgenheit der Heimat zurückzukehren, um dort ein „ganz normales Leben“ zu führen, und dem Wunsch, aufregende, neue Sachen zu erleben. Das Leben in der „Weltgeschichte“, so erkennt sie nun, ist „hart“ und rastlos. Im Rückblick schildert sie ihre Empfindungen: Eigentlich will ich gar nicht hier bleiben und mir gefällt es hier gar nicht mehr und so, und eigentlich bin ich mir gar nicht sicher, ob Sinologie noch das richtige Studienfach für mich ist, und ich stelle mich so blöd an mit dem Chinesisch lernen und komme überhaupt nicht vorwärts, und eigentlich will ich doch nur ein ganz normales Leben führen, so mit Familie, mit meinem Freund und irgendwo ein kleines Haus im Grünen und mit Kindern und was nicht. Und war dann so hin und her gerissen immer, ob das überhaupt das Richtige ist für mich, so ein Leben in der Weltgeschichte, und immer auf die harte Tour und immer neue Sachen kennen lernen und mir nie Ruhe gönnen. Und war halt manchmal fast so weit, dass ich wegen meinem Freund tatsächlich das hingeschmissen hätte alles, dass ich gesagt hätte, nein, ich will jetzt glaube ich wirklich lieber nach Hause fahren und nicht in der Weltge8 Die Vorstellung, die Zeit laufe ihr davon, ist ein wiederkehrendes Thema in Marions Erzählungen und spielt insbesondere im zweiten Interview eine große Rolle. Im dritten Interview findet es keine Erwähnung mehr. Marion sagt, sie habe das Gefühl, sie verschwende Zeit, wenn sie mal „nichts gemacht habe“, das heißt wenn sie nicht unterwegs war und neue Sachen kennen gelernt hat, wenn sie sich nicht um ihren Wunsch nach Veränderung gekümmert hat. 248
EINZELFALLANALYSEN schichte rumgurken und mir das hier antun, obwohl ich mich zu Hause wahrscheinlich wohler fühlen würde. (Marion II, 117:134)
Als ihr Freund in Deutschland sich auch noch kurz darauf von ihr trennt, geht ihr der emotionale Rückhalt, den ihr diese Beziehung geboten hat, verloren. Sie stürzt in eine tiefe Krise, denn plötzlich kann sie keines der beiden Motive verwirklichen: Weder in Taiwan noch in Deutschland erlebt sie Zugehörigkeit und Nähe, aus der sie Kraft für die in Taiwan von ihr geforderte Unabhängigkeit schöpfen könnte. Ohne äußeren Rückhalt ist sie auf sich selbst zurückgeworfen. Und habe dann, als er angerufen hat, um mir zu sagen, dass er es halt nicht aushält, weil ich so weit weg bin und er braucht aber jemanden, und er kann die Einsamkeit nicht ertragen und was nicht, da habe ich gedacht, nee, jetzt brauchst du eigentlich nicht nach Deutschland fliegen, aber in Taiwan brauchst du auch nicht mehr bleiben, weil, jetzt hast du ja erst recht keine Kraft mehr und keinen Rückhalt oder keine Quelle mehr, aus der ich die Kraft schöpfen kann, das hier durchzustehen. Und dann habe ich mich so fallen gelassen gefühlt irgendwie und stand echt irgendwie vor einem schwarzen Loch. Und habe dann irgendwie drei Tage mit mir gerungen, ob ich einfach mich fallen lasse in das schwarze Loch, oder ob ich Anlauf nehme und versuche drüber zu springen. Und ich habe mich dann fürs Drüberspringen entschieden (lacht) und habe dann irgendwie auf einmal das Gefühl gehabt, ja, jetzt bist du auf einmal frei. Jetzt ist irgendwie niemand mehr zu Hause, der auf mich wartet und eigentlich gar nicht versteht, warum ich in Taiwan bin. Und es ist niemand mehr da, dem ich Rechenschaft schuldig bin und dem ich erklären muss, warum ich hier bin und was ich eigentlich mache, und jetzt kann ich doch eigentlich wirklich machen, was ich will. (Marion II, 179:197)
Das schwarze Loch, vor dem sie steht, ist die Konfrontation mit ihrer Angst vor der Unabhängigkeit, mit dem Gefühl der Ohnmacht angesichts der ungeheuren Aufgabe, sie sich alleine zuzumuten. Nach langem Ringen beschließt sie, auf ihre eigene Kraft zu vertrauen. Der Entschluss, über das schwarze Loch hinweg zu springen und sich nicht aufzugeben, gibt ihr neue Kraft und das Gefühl der Freiheit; ihrer Unabhängigkeit steht nichts mehr im Wege, sie ist niemandem mehr „Rechenschaft schuldig“. Im Rückblick auf die Trennung erkennt Marion die Bedeutung dieses Schritts an, der sie hat erkennen lassen, dass sie „noch einen eigenen Kopf“ hat: Und dahingehend ist es jetzt vielleicht sogar ganz gut, dass ich jetzt erstmal meinen eigenen Kopf wieder habe. Und ich weiß nicht, einerseits glaube ich zum Beispiel sogar, dass er mir damit einen Gefallen getan hat, dass er mich irgendwie hat gehen lassen, so nach dem Motto. Dass ich jetzt doch endlich mal sehe, dass ich noch einen eigenen Kopf habe und dass es noch Sachen gibt, die mich eben wirklich interessieren und die ich einfach machen will und mich nicht total in der Beziehung aufgeben sollte. (Marion II, 274:282)
Doch ändert diese Erkenntnis zunächst nichts an der Situation, dass sie sich in Taiwan allein und unglücklich fühlt, und das Ringen um Bleiben und Abbruch besteht noch eine Weile fort.
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Der Weg aus der Zerrissenheit Vor dem Hintergrund ihres Hin- und Hergerissenseins zwischen beiden Motiven, fällt es ihr schwer, ihrem Wunsch nach Ungebundenheit tatsächlich nachzugeben. Es entwickelt sich eine Situation, in der sich ihr tiefer Wunsch nach Unabhängigkeit gleichsam gegen ihren Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit und trotz ihrer Ängste vor der Unabhängigkeit Bahn bricht. Ihr Tun und ihre verbalen Begründungen für dieses Tun geraten nun in einen fast bizarren Widerspruch. Während sie handelnd ihre Unabhängigkeit unter Beweis stellt und weiter ausbaut, kontert sie diesen Wagemut stets mit Begründungen, die jeglichen Verdacht, es handele sich um eigene, autonome Entscheidungen, von ihr selbst und anderen fernhält. Zwei Beispiele zeigen dies besonders deutlich: Als sie sich für ein Auslandsjahr in Taiwan bewirbt, folgt sie damit (eigentlich) ihrem Wunsch nach einem aufregenden und unabhängigen Leben, doch begründet sie die Entscheidung nicht mit ihrem Wunsch nach Abenteuer und Unabhängigkeit, sondern mit dem gerade umgekehrten Argument, sie folge mit der Bewerbung lediglich dem „Gruppenzwang“ an ihrer Universität. Auf diese Weise gelingt es ihr, die Verantwortung für die Entscheidung, sich zu bewerben, von sich fernzuhalten, denn nicht sie selbst, sondern die Gruppe, die Professoren fordern diese Entscheidung. Marion kann so – vor sich selbst und anderen – die Entscheidung, Unabhängigkeit und Abenteuer wagen zu wollen, mit dem Gegenteil von Unabhängigkeit begründen, indem sie ihr eigenes Handeln als „Anpassung“ an den „Gruppenzwang“ beschreibt: Also, als ich mich für das Studium entschieden habe, wusste ich von Anfang an natürlich, dass irgendwann ein Auslandsjahr dazwischen geschoben wird, wahrscheinlich dann halt nach dem Grundstudium, es ist ja so auch gekommen, und ausschlaggebend war eigentlich am Anfang der Gruppenzwang an unserer Uni und der Druck von unserem Professor. (Marion I, 10:15)
Dass ihre Bewerbung alles andere als passive Anpassung an externe Vorgaben ist, belegt nicht nur das von ihr selbst geschilderte Engagement beim Verfassen des Förderantrages, sondern auch die Tatsache, dass sie schließlich – aufgrund einer überzeugenden schriftlichen Bewerbung und eines Auswahlgespräches – das Stipendium erhält. Auf ähnliche Weise löst sie die als hochgradig konflikthaft erlebte Situation, sich für oder gegen den Abbruch des Taiwanaufenthaltes entscheiden zu müssen. Ihr Handeln ist zu keiner Zeit zweideutig, denn schon kurz nach Beginn ihres Deutschlandurlaubes stellt sie einen Antrag für die Genehmigung eines zusätzlichen Auslandssemesters. Ihre Zweifel, ob sie überhaupt aus dem Urlaub nach Taiwan zurückkehren soll, drücken sich in Überlegungen und Gesprächen aus. Mehr noch als ihre widerstreitenden Wünsche geraten Handeln und Zweifel in einen Zwiespalt. Schließlich folgt sie einer Art „höheren Gewalt“ oder ihrer „Vernunft“ und beschließt, nach Taiwan zurückzukehren. Zwar versteht sie diese „höhere Gewalt“ als innerpsychische Instanz, doch 250
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übernimmt sie auch hier nicht die volle Verantwortung für ihre Entscheidung, denn sie folgt dieser Instanz ohne willentlichen Beschluss. Externe Gründe (das bereits gebuchte Flugticket, die Genehmigung des Auslandssemesters) nehmen ihr die Entscheidung quasi ab, und sie folgt lediglich der Einsicht, sie könne „ja eigentlich gar nichts anderes mehr machen. Es gibt ja irgendwie keine Alternative“: Und habe dann auch in Deutschland weiter mit mir gerungen, einerseits mit dem Gedanken, eigentlich will ich doch gar nicht länger in Taiwan bleiben, und eigentlich will ich auch jetzt gar nicht noch mal zurück, und gleichzeitig habe ich am Computer gesessen und meine Bewerbung für die Verlängerung geschrieben. So völlig zweigespalten. Und wusste aber trotzdem irgendwie, das war halt so eine höhere Gewalt, oder ich weiß nicht, ob es meine Vernunft war, die dann irgendwie gesiegt hat, dass ich gesagt habe, na gut, jetzt fliege ich aber doch wieder nach Taiwan. Ich habe jetzt den Flug gebucht, und dann hatte ich die Bestätigung schon für meine Verlängerung sogar von dem Rektor gleich in derselben Woche noch bekommen, und da habe ich gedacht, na ja, jetzt kannst du ja eigentlich gar nichts anderes mehr machen. Es gibt ja irgendwie keine Alternative. (Marion II, 212:225)
Noch deutlicher wird das Leugnen der eigenen Entschlusskraft in einem weiteren Abschnitt, in dem Marion beschreibt, dass sie schon kurz nach der Landung in Deutschland eine Distanz zu ihrer alten Heimat spürt. Sie empfindet sich als „Fremdkörper“, fühlt sich nicht richtig wohl und will wieder nach Taiwan zurück, zumal es aus ihrer Sicht auch nichts gibt, was ihre Anwesenheit in Deutschland erfordere. Doch anstatt aus dieser Einsicht die Entscheidung für eine baldige Rückkehr abzuleiten, verweist sie erneut auf externe Zugzwänge, die diese Entscheidung unausweichbar machen: Und habe eben, was ich vorhin schon gesagt habe, gemerkt, dass ich gerade irgendwie wirklich nur auf Besuch bin und alle anderen ihr Leben da gerade haben und ich gerade auch ein Fremdkörper war irgendwie. Überall. Weil das hier eben noch nicht abgeschlossen ist irgendwie. Das hat wirklich lange gedauert, die ganze Woche irgendwie, bis ich mich wieder richtig in Deutschland wohl gefühlt habe. Und dann ging es aber auch nur zwei Tage oder so (kurze Pause)... und dann ging es mir in Deutschland irgendwann so, dass ich gedacht habe, nee, irgendwie willst du jetzt wieder nach Taiwan zurück. Dein Freund hier hat jetzt auch gerade eine andere Freundin, brauchst du eigentlich auch nicht in Deutschland bleiben, fährst du noch mal irgendwo anders hin. Aber mein Flugticket war halt gebucht, ich musste das dann irgendwie machen eben. Ich hatte dann auch nicht den Mut... Es wäre natürlich auch völlig unvernünftig, aber was ist denn auch schon wieder Vernunft, vielleicht sollte ich doch nach meinem Gefühl leben oder so? Aber von der Vernunft her.. Ich glaube meine Eltern, die hätten mich zum Flughafen geprügelt. (Marion II, 1010:1028)
Bemerkenswert ist, dass Marion, um an ihrem Begründungsmuster festhalten zu können, in der Mitte der Erzählpassage die Argumentationslogik unvermittelt umkehrt. Das „aber“, mit dem sie die Begründung für ihre Rückkehr einleitet, markiert einen Schwenk zu externen Gründen, die tatsächlich in keinerlei Gegensatz zu dem zuvor Gesagten stehen, sondern umgekehrt eher als weitere Gründe neben die zunächst erwähnten treten. Durch das „aber“ wird 251
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das zuvor Gesagte jedoch relativiert und zur Einleitung degradiert für die durch die Konjunktion angekündigten eigentlichen Gründe: Die Tatsache, dass der Flug bereits gebucht war und ihre Eltern die Rückkehr stark befürworteten. Erneut – und rhetorisch in letzter Minute – gelingt es Marion so, die Verantwortung für die Entscheidung für Unabhängigkeit abzugeben und ihr Tun mit dem entgegengesetzten Grund zu rechtfertigen, nämlich dem Befolgen der Ratschläge ihrer Eltern. Zwar gelingt es Marion erfolgreich, stets Sachzwänge zu identifizieren, die ihr die Übernahme von Verantwortung für ihre Entscheidungen abnehmen. Zugleich hat diese Strategie aber einen hohen psychischen Preis, denn sie basiert auf dem Leugnen der eigenen Entschlusskraft. Wie im Falle der Entscheidung für den Stipendienantrag erlebt Marion ihre Entscheidungen als von außen gesteuert und hat Mühe zwischen ihren eigenen Entscheidungen und den Beeinflussungen von außen zu unterscheiden. Sie fragt sich, ob sie überhaupt „mündig“ genug sei, eigene Entscheidungen zu treffen: Und habe mich dann aber zum Beispiel auch in dieses Stipendium eigentlich auch von den anderen nur reindrängeln lassen irgendwie. Dass es dann geklappt hat, dass ich dann hier war und die ersten zwei Monate auch so super waren, das war ja alles Sonnenschein. Aber als ich dann eben diese zweite Phase (lacht) hatte, habe ich dann eben nachgedacht über diese Situation, dass ich es zwar erst gut fand, dass ich mich habe von anderen beeinflussen lassen, wahrscheinlich viel zu sehr, aber im Endeffekt dann auch gedacht habe, na, ist es dann jetzt überhaupt wirklich das hier, was ich will? Ist es wirklich meine eigene Entscheidung? Und da habe ich echt manchmal an meiner eigenen Vernunft oder an meiner eigenen Entscheidungskraft gezweifelt, ob ich nicht mündig genug bin, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, ob ich mir einfach nur von tausend anderen Leuten irgendwas einreden lasse. (Marion II, 632:645)
Die Tatsache, dass ihr – angeblich rein reaktives – Handeln äußerst erfolgreich ist (wie im Falle der Bewerbung um das Stipendium), sowie die oben zitierten Textpassagen legen jedoch nahe, dass Marion sich weniger äußeren Beeinflussungen handelnd beugt, als sich vielmehr dieser argumentativ bedient, um sich den mit dem Streben nach Unabhängigkeit verbundenen Ängsten nicht zu stellen. Es scheint, als wäre es für Marion leichter, sich eine mangelnde Entscheidungskraft ‚einzugestehen‘, als sich zu der Aussage durchzuringen, dass sie selbst es ist, die ehrgeizige Ziele verfolgt. Ein möglicher Grund hierfür ist, dass sie selbst sich als zu „klein“ erlebt, um sich an Ziele dieses Ausmaßes zu wagen. So fühlt sie sich, als sie zum Auswahlgespräch bei der Stipendienorganisation eingeladen ist, unter den selbstbewussten Mitbewerbern als „kleine Sinologin“, für die eine Förderung wohl kaum in Frage kommen könne. Dass sie sich dennoch „erdreiste“, um ein Stipendium nachzusuchen, ist ihr selbst fast unheimlich: […] und ich dann immer nur gedacht habe, du meine Güte, ich bin so eine kleine Sinologin aus [M-Stadt] und erdreiste mich hier, mich bei [der Stipendienorganisation] zu bewerben. (Marion I, 51:53) 252
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Noch in Taiwan fragt sie sich, „was ich eigentlich hier mache und ob das wirklich das Richtige ist“. Sie mutmaßt, dass sie sich „zu viel zugemutet“ habe: […] dass ich mich zu dem allen, dass ich jetzt in Taiwan bin, dass ich Sinologie studiere, versuche mich durch dieses Land hier zu boxen, dass ich mir viel zu viel zugemutet habe und gar nicht der Typ dafür bin, und dass ich mir mein ganzes halbes Leben schon nur was vorgemacht habe und immer nur gemacht habe, was andere von mir erwartet haben und nie das, was ich selber wollte. (Marion II, 610:625)
Das Zurücktreten von der aktiven Wahl des großen Ziels ‚Unabhängigkeit‘ ist keine Bescheidenheit. Es berücksichtigt vielmehr die stets vorhandene Möglichkeit, an dem gesteckten Ziel zu scheitern, und ein etwaiges Scheitern ist umso unangenehmer, je vollmundiger man sich zuvor zu dem Ziel bekannt hat. Ein Scheitern an den Vorgaben von Sachzwängen dagegen ist weit weniger bedrohlich, so dass ein Rückzug auf externe Gründe zwar erfordert, die eigene Mündigkeit zu bezweifeln, jedoch im Fall der Fälle nicht nur vor Vorwürfen der Selbstüberschätzung schützt, sondern auch das ungebrochene Festhalten am Grundmotiv ‚Unabhängigkeit‘ ermöglicht, da dieses durch einen Fehlschlag in extern verursachten Situationen nicht wirklich gefährdet werden kann. Angesichts dieser ‚Risiken‘ entscheidet sich Marion für eine Strategie, handelnd ihre Unabhängigkeit voranzutreiben, sie verbal jedoch zu leugnen, um für den Fall des Scheiterns ‚abgesichert‘ zu sein. Diese Deutung erhält Unterstützung durch den Umstand, dass Marion zum Zeitpunkt des dritten Interviews, als sie beide Grundmotive positiv verwirklicht und ihre Unabhängigkeit in manchen Bereichen tatsächlich etabliert hat, auf diese ‚Absicherung‘ verzichtet und sich offen zu neuen, anspruchsvollen Zielen bekennt. Kurz vor Ende des Förderzeitraumes will sie sich nun um ein neues Stipendium bewerben und zugleich die Genehmigung eines vierten Urlaubssemesters beantragen. Beide Entscheidungen sind zu diesem Zeitpunkt ungebrochen als willentliche und eigene ausgewiesen. Der Aufenthalt hat sie ‚wachsen‘ lassen. Verwundert stellt sie nach einem Jahr fest, dass sie sich zu einer erfahrenen Auslandsstudentin weiterentwickelt hat, die nun ihrerseits neu ankommenden Stipendiaten Auskunft und Rat geben kann. Von der anfänglich „kleinen Sinologin“ ist hier nicht mehr die Rede: Dann können die, sobald ich hier bin, und ab September bin ich wieder erreichbar, dann können die sich gerne alle bei mir melden. Ich möchte die halt schon auch mal kennen lernen, das ist ja auch bestimmt ganz spannend. Die haben auch alle meinen Zwischenbericht schon gelesen und so. Das ist irgendwie komisch. Aber das ist echt komisch, wenn ich überlege, jetzt bin ich irgendwie in der Rolle, wie vor einem Jahr… Das ist ganz komisch. An so’nen Sachen merkt man aber, dass man sich absolut ständig weiterentwickelt und so, dass es überhaupt nicht geht, dass man irgendwo auf der Stelle stehen bleibt, egal was kommt. (Marion III, 754:763)
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Zum Zeitpunkt des dritten Interviews erkennt Marion die Rolle der beiden Strebungen nach Unabhängigkeit und Bezogenheit als zentrale Elemente der durchgemachten Krise. Eine Interpretation als „Kulturschock“ lehnt Marion explizit ab, denn sie erkennt die Krise als innerpsychische, die mit „Beziehungssachen“ zu tun hatte: Ich weiß, woran es bei mir lag. Das waren halt die Beziehungssachen bei mir, der Beziehungsstress. Ich habe auch darüber vieles gelernt hier in der Zeit jetzt, was auch zukünftige Beziehungen oder so angeht. Dass ich halt irgendwie meinerseits am Grübeln bin, wenn ich halt ein gewisses Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit bewahren will, aber wie beziehungsfähig ich dann noch bin irgendwie, und wie viel man aufgeben muss für den anderen, oder mit jemandem fest zusammen sein, ohne sich abhängig zu machen oder so, das ist halt irgendwie auch ganz wichtig. Das sind irgendwie Sachen, die in letzter Zeit… also was ich hier auch gelernt habe in dieser Zeit. (Marion III, 916:926)
Sie erkennt die Aufgabe, Unabhängigkeit und Beziehungsfähigkeit gegeneinander auszubalancieren, denn sie weiß nun, dass ihr beide Motive wichtig sind. In ihrem alltäglichen Leben findet sie nun Wege, beide Motive hinreichend zu erfüllen: Sie fühlt sich in Taiwan wohl, hat einen großen Freundeskreis und fühlt sich doch emotional von diesen Freundschaften nicht abhängig. Sie weiß, dass immer wieder etwas Neues kommt, neue Leute in ihr Leben treten werden und schmiedet neue Pläne für die verbleibende Zeit in Taiwan und ihr weiteres Leben. Eine engere Beziehung zu einem Freund strebt sie nicht an, denn sie fühlt, dass sie hier mit dem Ausbalancieren beider Motive in anderer Form konfrontiert wäre. Stattdessen genießt sie ihre Unabhängigkeit und Freiheit: […] und habe auch momentan auch überhaupt keinen Bock auf irgendwelchen Beziehungskram. Weil, irgendwie fühle ich mich gerade ziemlich unabhängig, vielleicht weil ich mein eigenes Ding mache, ohne jemandem wegen irgendwas Rechenschaft schuldig zu sein oder so. Und damit geht es mir momentan ganz gut. (Marion III, 239:243)
Marion kann jetzt „unterwegs“ sein und sich doch gleichzeitig in Taiwan hinreichend „zu Hause“ fühlen. In Taiwan gelingt ihr nun – zumindest in Ansätzen – die Verwirklichung des Wunsches nach Unabhängigkeit und Abenteuer bei dem gleichzeitigen Gefühl von Zugehörigkeit und der Möglichkeit von Nähe und Austausch in engen Freundschaften: Und ich weiß nicht, das ist irgendwie so ein Zu-Hause-Gefühl jetzt mittlerweile, so schnell. Das ist komisch, ich hätte das nicht gedacht. Ich meine, das ging mir in [MStadt] so, dass ich mich innerhalb von zwei Jahren da mehr zu Hause gefühlt habe als irgendwo anders in Deutschland, wo ich vorher länger gewohnt habe. Ich weiß nicht, das kann ich jetzt hier vielleicht nicht damit vergleichen in dem Sinne, aber wenn ich halt weiß, ich gehe in meinen Supermarkt und ich weiß, wo was steht, das ist doch super, oder? (Lacht) I: Ja, ja. M: Oder ich gehe um die Ecke und kaufe mir einen zhen-zhu nai-cha und die Frau weiß schon, was ich kaufen möchte. Oder... Weiß nicht. (Kurze Pause) Und wenn ich losgehe und jetzt halt schon 95 Prozent 254
EINZELFALLANALYSEN aller Speisekarten überall lesen kann und so, weiß nicht, ich glaube, wenn ich kein Chinesisch könnte, dann würde es mir hier auch anders gehen. Das ist glaube ich ganz wichtig. (Marion III, 594:611)
Während die Wünsche nach Bezogenheit und Unabhängigkeit schon vorher Bestandteil ihrer Persönlichkeit waren, so ist die Verwirklichung beider Anteile eine Erfahrung, die auf spezifische Weise mit Taiwan verknüpft ist. Wenn Marion feststellt, dass „Asien jetzt so ein wichtiger Teil geworden ist in meinem Leben“, dann bezieht sich dies nicht nur auf einen biographischen Lebensabschnitt, sondern auch auf die innerpsychische Bedeutung, die ‚Taiwan‘ trägt. ‚Taiwan‘ ist nicht nur ein geographischer Ort, sondern repräsentiert die gelungene Erfahrung von Unabhängigkeit in Bezogenheit. Erst nachdem die innerpsychische Zerrissenheit gelöst ist, kann Taiwan auch als externer Ort und damit als Gegenstand von Beobachtung und Reflexion in Erscheinung treten. Dies ist zu den Zeitpunkten der ersten beiden Interviews noch kaum möglich.
Schlussfolgerungen für den Lernprozess Marions Strukturbild fällt dadurch auf, dass es zum ersten Interviewzeitpunkt nur wenig abstrakte Inhalte umfasst und zum zweiten Interviewzeitpunkt nur unwesentlich ergänzt wird. Nennenswerte Ergänzungen finden erst zum dritten Zeitpunkt statt. Vor dem Hintergrund der oben geschilderten Zusammenhänge wird dies verständlich. Die große Bedeutung, die das Ringen um Unabhängigkeit und Nähe für Marion lange Zeit hat, bringt mit sich, dass Marions Beschäftigung mit ihrer Umgebung unter der unbedingten Prämisse dieses inneren Konflikts geschieht. Nicht nur hält sie der innere Konflikt zum Zeitpunkt des zweiten Interviews noch immer so beschäftigt, dass sie gerade erst wieder beginnt, sich mit ihrer Umwelt auseinander zu setzen und dementsprechend nicht von neuen Beobachtungen berichten kann. Taiwan tritt als objektiver Erkenntnisgegenstand, zum Beispiel im Hinblick auf Kultur, Geschichte, Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft in den Interviews nicht in Erscheinung, sondern nur als subjektiver Lebens- und Bedeutungsraum. Entsprechend sind auch die in die Strukturbilder eingehenden Beispiele Ich-nah und nicht in abstraktere Theorien eingebettet. In ihrer Situation ist ‚Gesicht‘ für Marion kein relevantes Thema, zumal sie auch im Alltag nicht auf eine Weise damit konfrontiert ist, die eine Beschäftigung erzwingen würde. Beobachtungen und Beispiele, die Marion anführt, bleiben sporadisch; abstraktere Theorien über das Themenfeld entwickelt sie kaum. Die Interpretation, dass der innere Konflikt Vorrang hat über die Beschäftigung mit dem ‚Außen‘, stützt sich auch auf den Umstand, dass nach der langen Zeit der Krise Marion zwar viel über sich selbst gelernt hat, das Strukturbild jedoch kaum weiterentwickelt.
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INTERKULTURELLES LERNEN
Marions Beispiel zeigt, dass der Auslandsaufenthalt an sich nicht notwendigerweise eine interkulturelle Erfahrungssituation darstellt, sondern dass diesem in subjektiver Perspektive in anderer Hinsicht ein weit größeres Gewicht zukommen kann. Die in Marions Fall zu beobachtende innerpsychische Konstellation muss dabei situativ, nicht dispositional gedeutet werden. Marion mangelt es nicht an Eigenschaften wie Offenheit oder Sensibilität – zumindest geben die Interviews keinen Anlass, dies zu vermuten –, sondern sie befindet sich in einer momentanen ‚Krise‘, die für sie zeitweise absoluten Vorrang vor anderen Geschehnissen hat. Weder objektive Daten (der Auslandsaufenthalt an sich) noch psychologisch messbare Eigenschaften ermöglichen in diesem Fall Rückschlüsse auf einen einsetzenden Lernprozess; dieser kann nur aufgrund der Kenntnis subjektiver Deutungen der Lebenssituation nachvollzogen werden. Erst auf diesem Wege ist erkennbar, dass ‚Taiwan‘ nicht nur ein geographischer, sondern ein psychisch bedeutsamer Ort ist, und dass diese zweite Bedeutung Vorrang vor der ersten gewinnen kann. Lernen über ‚Gesicht‘ geschieht mithin nicht automatisch, sondern ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Zu diesen zählt die Bereitschaft, Interesse und Aufmerksamkeit auf die soziale Umwelt zu richten und nach Deutungen für das dort Gesehene zu suchen. Diese Bereitschaft kann nicht durch chinesische Sprachkenntnisse bzw. Instruktionen im Sprachunterricht ersetzt werden, d.h. der Zuwachs an Sprachkenntnissen allein ist ebenfalls keine hinreichende Bedingung für das Lernen über ‚Gesicht‘. Denn während Marion Chinesisch hinzulernt, erweitert sie doch nicht ihre Kenntnisse über ‚Gesicht‘. Die Rolle, die chinesische Sprachkenntnisse im Lernprozess spielen, wird fallvergleichend wieder aufzugreifen sein (vgl. Kapitel 8). Marions Beispiel zeigt in eindrucksvoller Weise, wie sehr ein Auslandsaufenthalt die gesamte Person betrifft, herausfordert und u.U. transformiert, ohne dass es dabei in irgendeiner Weise um Länderspezifika gehen muss. Der sich hier abzeichnende Lernprozess berührt grundlegende Aspekte der Identität und ist zutreffender wohl als ‚Entwicklung‘, denn als ‚Lernen‘ im eingangs definierten Sinne zu verstehen. Eine Diskussion ‚interkulturellen‘ Lernens muss für diese Dimension offen sein, will sie den Erfahrungen von Personen im Ausland gerecht werden.
Schneider Biographischer Hintergrund Als Herr Schneider auf einen Managementposten in einem internationalen Pharmakonzern wechselt, ist von Anfang an klar, dass die neue Position Auslandseinsätze beinhalten könnte. Dies erscheint ihm nicht unattraktiv, denn er hat großes Interesse an der nord- und südamerikanischen Region, spricht fließend Englisch und Spanisch und verfügt über zahlreiche geschäftliche Kontakte in diesem Raum. 256
EINZELFALLANALYSEN
Als ihm das Angebot gemacht wird, die Niederlassung in Taiwan zu leiten, kommt dies für ihn überraschend, denn er ist mit der asiatischen Region nicht vertraut und hat im Unternehmen bereits geäußert, nicht dorthin wechseln zu wollen. Auch zeitlich fügt sich das Angebot schlecht ein, da die Familie gerade in ihr eigenes Haus umgezogen und nicht auf einen Wechsel vorbereitet ist. Doch beruflich ist das Angebot attraktiv, und so entscheidet er schließlich gemeinsam mit seiner Frau, den Umzug mit den beiden kleinen Kindern zu wagen. Wenig glücklich ist Schneider über den Umstand, dass sich nach seiner Zusage der vorgesehene Zeitrahmen plötzlich ändert. Statt einer Vorbereitungszeit von zwei Monaten bleiben nun nur noch vier Wochen bis zum Antritt der neuen Stelle, so dass die Zeit nicht ausreicht, um den gemeinsamen Umzug der Familie zu organisieren. Schneider reist deshalb zunächst alleine nach Taipei, um sich der drängenden Probleme der Niederlassung anzunehmen und für die Familie ein Haus zu finden. Als nach einigen Wochen seine Frau und die Kinder nachkommen, hat die Familie zunächst große Schwierigkeiten, die Organisation des (un-)gewohnten Alltags zu bewältigen. Die anfänglichen Schwierigkeiten steigern sich in ein Tief, aus dem die Familie erst nach mehreren Monaten herausfindet. Verbesserte Betreuungsmöglichkeiten der Kinder, bewusst geplante ‚Familienzeiten‘, in denen die Familie Ausflüge ins nähere Ausland unternimmt und neue berufliche Perspektiven für Frau Schneider sind wesentliche Faktoren, die schließlich dazu führen, dass sich die ganze Familie in Taiwan sehr wohl fühlt. In der Niederlassung ist Herr Schneider mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, da die Umstrukturierungen, die den Konzern und die gesamte Branche erfasst haben, auch eine Neustrukturierung der Niederlassung und seiner persönlichen Aufgabenbereiche mit sich bringen. Ein ständiges Ärgernis inmitten dieser Veränderungen ist für ihn, dass das Mutterunternehmen mehrfach Versetzungspläne an ihn heranträgt, die Schneider seiner Familie nicht zumuten will. Für ihn bestätigt sich der Eindruck, den er schon in Deutschland gewonnen hat, dass weder die Belange seiner Familie durch das Unternehmen berücksichtigt würden noch seine unternehmensinterne Karriere planbar sei. Nach fast zwei Jahren in Taiwan zieht er hieraus Konsequenzen und wechselt zu einem Konkurrenzunternehmen in Taipei, das ihm aus seiner Sicht größere Sicherheit und Planbarkeit bietet.
Kontrolle und Handlungsfähigkeit Schneiders Position als Niederlassungsleiter und seine Verantwortung als Familienvater bringen die Notwendigkeit mit sich, in Taiwan sowohl in der Niederlassung als auch zu Hause schnellstmöglich handlungsfähig zu sein. Auch ohne sich am Arbeitsplatz zunächst mit den Einzelheiten und dem Kontext seiner neuen Tätigkeit vollständig auszukennen, muss er die Niederlassungs257
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aktivitäten unter Kontrolle behalten. In einer Situation, die für ihn noch weitgehend unüberschaubar ist, gewinnt die Notwendigkeit, die Fäden in der Hand zu behalten, eine besondere Bedeutung. Während er Versuche anderer registriert, sich in dieser Situation Einfluss (auch auf ihn persönlich) zu sichern, ist er sich bewusst, dass er sich nicht in Abhängigkeiten begeben darf, wenn er seine Handlungsfähigkeit nicht langfristig einschränken will. In der Furcht vor Ausgeliefertsein und Abhängigkeit strebt Schneider danach, die Kontrolle über die Niederlassung zu gewinnen und zu halten. In diesem Sinn bedeutet ‚Kontrolle‘ hier ‚Steuerung‘, nicht misstrauische Überwachung, auch wenn Schneider stets wachsam bleibt, sich nicht in Abhängigkeiten zu begeben. Kontrolle auszuüben ist Bestandteil seiner vertraglich definierten Tätigkeit, doch geht es in den Interviews um Kontrolle in weiter reichenden Lebensbereichen und -bezügen. Speziell das Thema ‚Gesicht‘ jedoch ist für ihn, wie zu zeigen sein wird, eng mit den Themen Einflussnahme, Macht, Kontrolle und Abhängigkeit verwoben. In der Rolle des Delegierten ist Schneider also in mehrerer Hinsicht mit Notwendigkeit und Möglichkeit von Kontrolle konfrontiert, so dass sich das Thema durch weite Teile der Interviews zieht. Besteht seine Funktion einerseits darin, die Niederlassung zu steuern und für den Konzern unter Kontrolle zu halten, so ist Schneider andererseits mit dem Gefühl konfrontiert, über seine Tätigkeitsbereiche und Laufbahn innerhalb des Konzerns nur wenig Kontrolle zu haben. ‚Kontrolle‘ über die Niederlassung Schneider begreift seine Entsendung als Strategie des Unternehmens, durch die Person eines Delegierten Kontrolle über die Niederlassung zu gewährleisten. Nur so kann langfristig verhindert werden, dass lokale Interessen über diejenigen des Mutterkonzerns die Überhand gewinnen. Ein „chinesisches Netz“ vor Ort wäre nur noch schwer zu kontrollieren: Das war eine der Ursachen, warum man gesagt hat, man möchte auf diesem Posten einen Delegierten haben. Man möchte hier verhindern, dass hier sich ein chinesisches Netz aufbaut, das man vielleicht später nur sehr schwer kontrollieren kann, weil das ist ja hier oft so, dass die Leute sich dann jemanden suchen, die fangen neue Kontakte an, verfolgen die dann konsequent, alles andere wird dann links und rechts liegen gelassen. (Schneider I, 21:28)
Schneider ist das Bindeglied zum Stammhaus, auf dem die Last der Kontrolle ruht. Zunächst gestaltet sich die Aufgabe schwierig, denn nicht nur ist Schneider mit den Geschäftsaktivitäten und -partnern der Niederlassung noch nicht vertraut, sondern er ist zudem mit zahlreichen – von außen verfügten – Umstrukturierungen konfrontiert.
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EINZELFALLANALYSEN
‚Kontrolle‘ über Einsatzbereiche im Konzern Die Entsendung aktualisiert für Schneider ein Problem, das ihn seit seinem Wechsel zu dem Konzern vor einigen Jahren immer wieder beschäftigt. Nicht zum ersten Mal erlebt er hier, dass im Unternehmen auf seine eigenen Wünsche und Ziele keine Rücksicht genommen wird. Obwohl er deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass eine Entsendung nach Asien für ihn und seine Familie nicht in Betracht komme, und trotz seiner großen SüdamerikaErfahrung wird ihm eine Position in Taiwan angeboten. Da die Position interessant ist und Schneider auch vermutet, eine Ablehnung werde intern negativ verbucht, nimmt er die Stelle an. Die mangelnde Unterstützung, die er während der Vorbereitungsphase erlebt, sowie der ihm – entgegen aller Absprachen – zugemutete enge Zeitrahmen haben ihn nicht nur verärgert, sondern bestärken erneut die Einschätzung, dass sein Leben innerhalb des Konzerns nicht planbar sei. Mehrfach hat Schneider erlebt, dass er Geschäftsbereiche aufgebaut hat, die dann nicht weiter verfolgt wurden. Seine Erfahrungen innerhalb des Unternehmens fasst Schneider wie folgt zusammen: Also Sie können im Prinzip nicht planen. Alles, was Sie an Vorbereitungsarbeit machen, um dann richtig durchzustarten, das ist im Prinzip, das kann nützlich sein, kann aber auch nicht nützlich sein. So baue ich im Prinzip seit viereinhalb Jahren immer wieder Türmchen auf, um mir eine Plattform zu schaffen, und danach, meistens kurz nachdem die Plattform da ist, passiert dann wieder was. (Schneider I, 92:99)
Zwar betont Schneider, dass eine gewisse Unwägbarkeit aus den globalen Marktentwicklungen resultiere und normal sei. Mit externen Veränderungen umzugehen begreift er als Bestandteil der Aufgaben, die mit seiner Position verknüpft sind. Was ihn verärgert, ist jedoch vielmehr die zusätzliche, prinzipiell vermeidbare Unsicherheit, die durch die Personalentscheidungen der Firma entsteht. So wird schon bald nach dem Umzug der Familie nach Taiwan offen seine Versetzung nach Peking und später nach Singapur erwogen: Und leider ist es so, dass diese ganze Entwicklung so rasant kommt, dass Ihnen da gar keine Möglichkeit bleibt, da irgendwas zu planen. Aber das ist eben mal diese turbulente Zeit, in der wir gerade leben. … da wo ich vorher war, da war es auch nicht unbedingt so..., da wurde auch ständig alles geändert, aber wenn ich an die letzten drei Jahre denke, da hieß es heute, wir investieren, plan mal, mach mal Pläne, wie wir hier neue Maschinen und so weiter installieren, da haben Sie ein neues Konzept gebaut, und als es fertig war, kam man und sagt, tut mir Leid, jetzt müssen wir das schließen. Da haben Sie wochenlange Arbeit in was investiert, und dann war es wieder weg. Von der Seite her war das schon klar für mich, also das ist etwas Normales, was man auch einfach handeln muss; in meiner Position muss man das handeln können, Veränderungen. Nur das Wichtige dabei ist eben, dass die Familie als ruhender Pol, dass die einen Pol hat und davon nicht infiziert wird von dieser Hektik, weil, sonst geht es kaputt denke ich. (Schneider II, 298:320)
Sowohl seine Arbeitserfahrungen innerhalb des Konzerns als auch das Übergehen der familiären Belange wecken in Schneider das Gefühl, dass er mit 259
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dem Konzern nicht zuverlässig planen kann; zu unwägbar ist die Situation. Fast ein Jahr nach seiner Ausreise ist die Situation noch immer unverändert und Schneider weiß noch immer nicht, wie es bei ihm weitergeht: Aber ich möchte auch jetzt endlich mal selbst wissen, das hatte ich bei dem ersten Gespräch ja schon gesagt, ich möchte endlich mal selbst wissen, wie es bei mir weitergeht, weil, diese ganzen Wechsel, rauf und runter, Sie wissen nicht mehr, was Sie machen und so weiter – letztendlich bewirkt das nicht nur Positives, auch in meiner eigenen Richtung. Man muss irgendwie seinen Weg haben oder zumindestens das Grobe sehen, wo man sich hinbewegen kann, sonst kann man irgendwo auch nicht mehr auf Langfristig arbeiten. (Schneider II, 196:204)
‚Kontrolle‘ spielt so in doppelter Hinsicht für ihn eine große Rolle, sowohl im Hinblick auf die mangelnde Planbarkeit seiner unternehmensinternen Rolle als auch auf die Notwendigkeit der Kontrolle der ihm unterstellten Unternehmenseinheiten. Der Umzug nach Taiwan verschärft das Problem, denn die erlebte Kontrolle nimmt in beiderlei Hinsicht ab. Es gelingt Schneider jedoch mit der Zeit, beide Probleme zu lösen. Während das erste Aufenthaltsjahr der Konsolidierung der Kontrolle über die Niederlassung gewidmet ist, stellt er die Planbarkeit seines beruflichen und familiären Lebens schließlich im zweiten Aufenthaltsjahr durch einen Unternehmenswechsel her. Erstes und zweites Interview: Chinesische Regeln verhindern Kontrolle Zum Zeitpunkt des ersten Interviews ist Schneider davon überzeugt, die Niederlassung müsse als Teil des internationalen Unternehmens nach internationalen Maßstäben geleitet werden. Trotz einer gewissen lokalen Anpassung müsse sichergestellt sein, dass „chinesische Regeln“ nicht die Überhand gewinnen, da sonst dem Konzern sämtliche Kontrolle über die Niederlassung verloren gehe: Als internationales Unternehmen, was weltweit operiert, sollte man eine internationale Strategie verfolgen, die man regional verfeinern kann, aber zumindestens sollte man noch wissen, was man tut. Wenn man das in chinesische Hände gibt … dann wird das nach chinesischen Regeln geführt, und ob das im Sinne eines international operierenden Unternehmens ist, das ist die große Frage. Weil, hier haben wir nur hier die Organisation, aber wenn Sie dann zum Beispiel weitergehen und dann zum Beispiel diesen Leuten nachgeben, dann können Sie nichts mehr kontrollieren, aber auch überhaupt nichts mehr. (Schneider I, 1452:1462) Wir können hier nicht chinesische Regeln machen. Mir sind diese chinesischen Regeln bewusst, aber im Zweifelsfalle gehe ich frontal dagegen, weil wir unsere Interessen hier durchsetzen müssen, ganz einfach. Wirtschaftliche Interessen werden dann vor diese anderen Dinge gestellt. (Schneider I, 1364:1368)
Er betont die Notwendigkeit, auf internationalen Normen und Qualitätsstandards zu bestehen, die aus seiner Sicht mit „chinesischen Regeln“ unvereinbar seien. Nur eine Begrenzung der lokalen Verstrickungen ermögliche es, die Kontrolle zu behalten: 260
EINZELFALLANALYSEN Und ich denke, ich sehe es auch als meine Aufgabe an, hier den Leuten etwas zu zeigen, wie man es anders machen kann. Weil, dieses System, was hier ist, ist einfach limitiert, der Erfolg, denke ich. So wie man hier arbeitet, mit diesem Beziehungsgeflecht, was die Leute haben, aufgrund von Beziehungen macht man Geschäfte und baut alles darauf auf, ich denke, auch das ist in Asien nicht mehr machbar, zumindestens in Taiwan nicht, Taiwan als international exportorientiertes Land. Mit Beziehungsgeflecht allein ist es nicht mehr machbar, ganz klar. Man muss sich anders ausrichten, man muss internationale Normen annehmen, was Qualität, was Management anbetrifft andere Dinge suchen und nach Ressourcen schauen, wie kann ich jetzt hier noch was rausholen. Weil, mit ihrem Netzwerk stoßen Sie irgendwann an Grenzen, denn das Netzwerk zu erweitern ist auch nicht einfach, weil da sind andere, die haben andere Netzwerke. Und da kommen Sie ruckzuck mit irgendeinem Konkurrenten ins Gehege, und dann fangen da an eventuelle Netzwerke sich zu bilden, und das dürfen wir nicht zulassen, das geht nicht. (Schneider II, 665:682 )
Ein wesentlicher Bestandteil der „chinesischen Regeln“ ist für ihn das „Beziehungsgeflecht“, das er unter den Chinesen wahrnimmt. Dieses hält er nicht nur für unternehmensschädlich, da Beziehungsverpflichtungen an die Stelle rationaler, wirtschaftlicher Entscheidungen treten, sondern er empfindet dies auch als persönlich vereinnahmend. Einladungen zu Abendessen, Hochzeiten und anderen Gelegenheiten erlebt er als interessengesteuert und ist sich sicher, dass Einladungen „Gründe“ haben, die auf die Einflussnahme auf seine Person abzielen. Er ist deshalb darauf bedacht, seine Entscheidungsfreiheit zu wahren und die Kontrolle nicht zu verlieren: Und man muss sich auch bewusst sein, dass man zum Beispiel eingeladen wird aus Gründen. Gründe sind zum Beispiel Einflussnahme, man will die Leute beeinflussen, manipulieren. Man muss einfach sich bewusst sein, denke ich, wenn man als westlicher Mensch hier herkommt, dass das so ist. Man muss das akzeptieren, man muss es sich bewusst machen und man darf es nur bis zu einem gewissen Maß, wie man es verantworten kann, zulassen. Wenn das zu viel wird, dann muss man schauen, dass man dann irgendwo die Bremse kriegt. Weil, wenn man die Bremse nicht setzt, dann hat das verheerende Folgen, weil wenn man diesen Leuten sich öffnet, dann heißt das im Prinzip für die, sie können am Schluss verlangen, was sie wollen. (Schneider I, 1294:1305) Weil, hier haben wir nur hier die Organisation, aber wenn Sie dann zum Beispiel weitergehen und dann zum Beispiel diesen Leuten nachgeben, dann können Sie nichts mehr kontrollieren, aber auch überhaupt nichts mehr. […] Sie geben sich dann voll in die Abhängigkeit hinein. Das ist dann im Prinzip ein Ausgeliefertsein, man muss dann absolut, und da muss ich sagen, das sollte man als westlicher Mensch vermeiden. Über kurz oder lang entstehen da riesige Konfliktpotentiale. Da muss man wirklich sagen, dann müssen Chinesen da rein, die das leben, und die müssen das auch verantworten. Wo immer das hinführt. (Schneider I, 1459:1472) Eine gewisse Abhängigkeit, jeder hat eine gewisse Abhängigkeit, jeder hat gewisse Sympathien oder Antipathien, die sich im Geschäft auswirken. Man sollte aber immer in der Lage sein, das zu kontrollieren und nicht die Kontrolle zu verlieren. Und man sollte immer in der Lage sein, irgendwann auch nein sagen zu können und sich nicht dem anderen so weit ausliefern, dass man dann nicht mehr nein sagen kann. (Schneider I, 1514:1520)
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Im zweiten Interview zieht er eine erste positive Bilanz. Ihm sei es geglückt, die Situation in der Niederlassung zu stabilisieren und im positiven Sinne unter seine Kontrolle zu bringen: Ich denke ich habe in den sechs Monaten es hier geschafft, die Situation bei uns zu stabilisieren und jetzt, nach und nach, mit kleinen Schritten hier immer mehr Kontrolle auszuüben, und zwar nicht Kontrolle im negativen Sinn, sondern Kontrolle über die Leute auszuüben und sie in diese Richtung reinzubringen. Langsam, ganz, ganz langsam. Weil, mit großen Schritten, so schön sie sein mögen, schaffen Sie das nicht. (Schneider II, 709:715)
Gleichzeitig ist er von der Gültigkeit seiner bisherigen Einschätzung weiter überzeugt und vertritt nun vehement den Standpunkt, sich nicht den chinesischen Regeln anpassen zu wollen. Wie zuvor nimmt er Versuche der Einflussnahme durch das gezielte Knüpfen von Beziehungen zu ihm wahr, die er nun scharf als „Mafiamethoden“ (Schneider II, 971) kritisiert, die er keinesfalls unterstützen könne. Einflussnahme charakterisiert er als den Wunsch, ihn „in die Hand zu bekommen“ und erpressbar zu machen, wogegen er sich entschieden verwahrt: Aber gut. Schauen Sie, wie auch immer, noch mal, ich bin nicht gewillt, in irgendeiner Weise mich anzupassen, weil, für mich ist es so, ich denke, wenn man das in Europa hat, dann kommt das genauso. (Schneider II, 1156:1158) Aber das hängt immer damit zusammen, diesen Einfluss auf sie zu gewinnen und Sie in die Hand zu bekommen, weil, wenn Sie erst mal in der Hand sind, dann hat man natürlich auch Mittel, Sie zu erpressen. Ich möchte nicht wissen, wie weit man hier geht, aber ich könnte mir vorstellen, wenn Sie dann anfangen abspenstig zu werden oder nicht mehr folgen, dass man dann anfängt, bestimmte Dinge zu dokumentieren. „Also schau mal, was sind denn das für Rechnungen?“ oder „Wo waren wir denn da?“, oder mal einen Film machen und sagen, „so, du willst jetzt nicht mehr mitspielen, ein böser Junge sein? Ach, dann müssen wir doch deinem Chef mal dies und das zuspielen.“ (Schneider II, 1261:1270) Ich sehe nicht ein, diesen Leuten auf diese Art und Weise ein Gesicht zu geben, das ist falsch. Das sind Mafiamethoden, die wir nicht unterstützen können. (Schneider II, 969:971)
Das Abschlussinterview: Gesicherte Kontrolle Durch äußere Umstände verschiebt sich das letzte Interview in der Zeit stark nach hinten, so dass fast ein ganzes Jahr vergangen ist, bis Schneider von den Veränderungen berichtet, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben. Nach nun fast zweijähriger Aufenthaltszeit haben sich seine Einstellungen zum Teil drastisch gewandelt. Chinesische Regeln lehnt er nun nicht mehr ab, sondern bemüht sich darum, sie selbst anzuwenden, da er mittlerweile von ihrem Nutzen überzeugt ist. Während er teilweise auf identische Begriffe zurückgreift, verwendet er sie nun, um das Gegenteil seiner ursprünglichen Ansichten zu erläutern:
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EINZELFALLANALYSEN Ja gut, Sie müssen hier im Prinzip chinesische Regeln anwenden, sonst, ich meine, es macht ja keinen Sinn. (Schneider III, 1008:1009)
Er selbst ist der Meinung, er habe in Taiwan viel gelernt und besitze mittlerweile „einen Heidenrespekt vor der taiwanesischen Art, Dinge zu sehen“. Sein Respekt gründet dabei insbesondere auf den Ergebnissen, die durch diese Art hervorgebracht werden, z.B. auf den Veränderungswillen und kurze Wege zur Umsetzung. Schneider hat die Stärken des taiwanesischen Systems erkannt und gelernt, diese für sich nutzbar zu machen. Gemessen an den Ergebnissen, die so zu erzielen sind, macht eine Übernahme des westlichen Systems „keinen Sinn“, „es bringt nichts“: Und ja, o.k., das sind eben sagen wir mal für mich nicht unbedingt jetzt Regeln, aber dann Erklärungen, die dazu führen und einfach dazu geführt haben, dass ich gesagt habe, o.k., es hat keinen Sinn, hier eine Diktatur einzuführen und diese westlichen Systeme zu übernehmen, es bringt nichts, sondern man muss im Prinzip erst mal schauen, wo sind die Stärken, wie sieht er das, das nehmen. Und dann im Prinzip dieses Gute nehmen und daraus etwas machen. (Schneider III, 536:543) Und ich habe hier speziell im letzten Jahr sehr, sehr viel gelernt und heute einen Heidenrespekt vor der taiwanesischen Art, Dinge zu sehen. Und ich denke, da können wir in Deutschland oder in Europa und auch in Amerika mit Sicherheit noch viel lernen. Die können mit Sicherheit viel von uns lernen, aber wir können auch sehr viel von ihnen lernen, wie sie Dinge angehen, wie sie Dinge sehen, und mit welcher Geschwindigkeit hier Dinge umgesetzt werden, wo wir Jahre brauchen dafür. (Schneider III, 586:593)
Auch das „Beziehungsgeflecht“ erfährt in diesem Zusammenhang eine positive Umdeutung. Die Furcht, sich dem anderen auszuliefern, spricht Schneider nicht wieder an. Stattdessen betont er die Nützlichkeit funktionierender „Netzwerke“. An die Stelle des anfänglichen Misstrauens, von der anderen Seite womöglich erpresst zu werden, ist Vertrauen getreten. Statt sich ausgeliefert zu fühlen, betont Schneider nun „das regelt sich“ und hält das Vertrauen als grundlegend für den geschäftlichen Erfolg: Dieses persönliche Beziehungsgeflecht, dieses Netzwerk, ist sehr, sehr wichtig. Wenn das intakt ist, kann man über vieles hinwegsehen. Ob das hier Probleme gibt, oder da Probleme gibt, ist nicht wichtig. Das regelt sich. Weil, man kennt sich, man vertraut sich. Und wenn aber das Vertrauen nicht da ist, dann können Sie haben, was Sie wollen, da können Sie ein Marketingkonzept haben, gute Produkte, die Leute ziehen nicht mit, glauben nicht daran. (Schneider III, 315:322)
Die (Un-)Möglichkeit von „Kontrolle“ ist im letzten Gespräch kein großes Thema mehr. Dies lässt sich damit erklären, dass Schneider zu diesem Zeitpunkt ein zufrieden stellendes Ausmaß an Kontrolle über seine Situation in Taiwan und in der Niederlassung erlebt. Er hat sich „Respekt“ verschafft (Schneider III, 421), Zugang zu Netzwerken gefunden und die Situation in der Niederlassung stabilisiert. Vielleicht ist es gerade vor diesem Hintergrund, dass Schneider die erneuten Versetzungspläne, die sein Unternehmen an ihn 263
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heranträgt, so negativ aufnimmt. Als er dem erneuten Wechsel schon zugestimmt hat, wird der Plan von Unternehmensseite fallen gelassen, und Schneider erlebt (wieder einmal), wie wenig Planbarkeit und persönliche Sicherheit für ihn im Unternehmen möglich sind. Schließlich zieht er Konsequenzen und stellt auch die Planbarkeit seines weiteren beruflichen und familiären Lebens wieder her. Diese lässt sich aus seiner Sicht nur noch durch den Wechsel des Arbeitgebers erreichen: Ich werde auch die Firma wechseln, ich werde zu einem anderen Unternehmen gehen, weil wir in Asien bleiben wollen. Wir hätten auch mit der jetzigen Firma in Asien bleiben können, aber die Bedingungen sind nicht sonderlich gut. Wir haben viele Änderungen in unserem Unternehmen, und auf Personal wird nicht sonderlich Rücksicht genommen. Und nach allen Erfahrungen, die ich gemacht habe hier in Asien sehe ich es nicht mehr ein, dass ich meine Familie noch einmal durch so ein Feuer schicke. Ich möchte einfach eine Sicherheit haben für zumindestens einen absehbaren Zeitraum, dass man sagt, über vier bis fünf Jahre mache ich jetzt etwas fest, baue es auf. Und nicht wie hier, wie Sie sich erinnern können, herkommen und dann wird die Situation sofort verändert, dann sagt man Ihnen, Sie sollen in ein anderes Land wieder gehen, hin und her. Die Situation mache ich nicht mit. (Schneider III, 52:65)
Die Veränderungen, die sich zwischen dem zweiten und dritten Interview ergeben, sind überraschend und werfen Fragen danach auf, wie und warum ein solcher Wandel der Einstellungen geschehen ist. Als Schlüssel für eine Antwort erweist sich Schneiders Bemühen, die Unternehmung zum Erfolg zu führen, ohne dabei dogmatisch bestimmten Methoden verhaftet zu sein. Als Leiter der Niederlassung zählen für Schneider einzig Ergebnisse, nicht Überzeugungen bezüglich bestimmter Managementmethoden. Glaubt er anfänglich, nur internationale bzw. westliche Regeln könnten positive Geschäftsergebnisse bewirken, so erlebt er im Laufe der Zeit die hohe Effektivität der taiwanesischen Art, Dinge zu handhaben. Die Ergebnisse, die das taiwanesische System hervorbringt, gewinnen schließlich seine Hochachtung („Heidenrespekt“), so dass er Europa und Amerika Taiwan als Beispiel empfiehlt („da können wir […] mit Sicherheit noch viel lernen“, s.o.). Als ‚Macher‘ hat Schneider ständig ein Auge auf die „Praxis“, darauf, wie erfolgreich von ihm getroffene Entscheidungen sind – was er weiß, hat ihn „die Praxis gelehrt“ ( Schneider I, 344:351). In Taiwan erweist er sich trotz seiner anfänglich heftigen und rigorosen Ablehnung als offen und flexibel genug, um die positiven Ergebnisse taiwanesischer Geschäftsmethoden zu erkennen und schließlich selbst anzuwenden. Schneider beobachtet, dass seine Art, Dinge anzugehen, in Taiwan „auf großen Widerstand stößt“, schlechte Ergebnisse zur Folge hat, dass seine Ideen nicht im Einklang sind mit denen seiner Mitarbeiter. Er schließt, „das bringt nichts“ und verändert seine Ideen und seine Strategien, bis er schließlich auf Handlungsmöglichkeiten stößt, die erfolgreich sind, so dass er mit dem Ergebnis zufrieden ist („das hat gut funktioniert“): 264
EINZELFALLANALYSEN Aber wenn Sie denen zum Beispiel sagen, statt mit denen zwei Stunden zu sprechen, in fünf Minuten sagen, du machst mir jetzt das und das und das, in einer Tabelle oder was auch immer, dann... erstens warten Sie wochenlang auf das Ergebnis, und das Ergebnis, was Sie kriegen, ist schlecht. (Schneider III, 489:493) Das habe ich hier probiert, habe aber schnell gemerkt, dass das auf großen Widerstand stößt. (Schneider III, 457:458) Und ich habe dann relativ schnell gesehen, das bringt nichts, weil erstens ist ein Widerwille da, zweitens ist die Qualität nicht gut und drittens ist damit auch gar nichts gewonnen, weil die Leute selbst das nicht sehen als Modell, um das Geschäft voranzubringen. (Schneider III, 467:471) Beide Leute hatten sehr gute Ideen, aber beide Leute haben ihren Weg gesucht und haben das im Prinzip per Druck probiert umzusetzen. Und da kann jede Idee noch so gut sein – falsch. Bringt hier nichts. Bringt nur das, dass die Leute resignieren, kündigen. (Schneider III, 557:561) Also nicht von meiner Seite gesagt habe, so, sondern als ich gesehen habe, das geht nicht so, meine Ideen, die ich habe, passen nicht... im Einklang... diese Ideen, die von der anderen Seite kamen, genommen und dann reflektiert und zu einem Gemeinsamen zusammengebracht. Und das hat gut funktioniert. Das hat gut funktioniert, kann ich sagen. (Schneider III, 476:481)
Schneider lässt sich stets (und schon zu Beginn seines Taiwanaufenthaltes) eines Besseren belehren, wenn die beobachtete Praxis bessere Ergebnisse verspricht als sein bisheriges Vorgehen auf Basis seiner Vorannahmen. Entsprechend ‚testet‘ er auch Erklärungen in Bezug auf die größtmögliche Erklärungskraft und trennt sich von Vorstellungen, die ihm durch seine Beobachtungen (die Praxis) widerlegt scheinen. Entscheidend ist, was er „feststellen“ kann, nicht das, was ihm (zum Beispiel im interkulturellen Training) gesagt wurde: Ansonsten, alles, was man uns da gesagt hat, zum Beispiel was wir auch trainiert haben, wie Chinesen denken oder wie sie in Diskussionsrunden verfahren, wie sie Informationen weitergeben, das kann ich hier nicht feststellen. (Schneider I, 1080:1083)
Um einer Theorie Glauben schenken zu können, müssen empirische Hinweise auf ihre Gültigkeit vorliegen; ein Schluss lässt sich für ihn nur auf Grundlage empirischer Beobachtungen fällen: Überraschenderweise hatte ich hier vor Ort überhaupt keine Unterstützung, was dazu geführt hat, dass ich dieser Theorie meines Vorgängers Glauben schenkte, dass man hier es mir sehr schwer machen wird von Managementseite. (Schneider I, 362:366) Deswegen bin ich der Meinung, ist unser Verhältnis sehr gut, aus diesen Beobachtungen heraus. (Schneider III, 437:441)
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INTERKULTURELLES LERNEN Zum Beispiel ist es so, in dem interkulturellen Training, sage ich mal, habe ich verstanden, wie Chinesen denken, zum Beispiel das Netz-Denken. Das wurde mir ganz klar bewusst, und das ist auch das, was ich erfahren habe. (Schneider I, 31:75)9
Um die Wirksamkeit seines Vorgehens oder die Gültigkeit seiner Erklärungen zu überprüfen, ist Schneider auf Feedback angewiesen. Bleibt dieses aus, fehlen ihm wichtige Informationen für sein weiteres Vorgehen. Anders als in Deutschland, wo er in seinem Team stets in Austausch mit ‚seinen Leuten‘ ist, erfährt er von seinen Mitarbeitern in Taiwan aufgrund der größeren Bedeutung von Hierarchie nur sehr wenig. Für Schneider ist dies eine unbefriedigende Situation, doch findet er neue Wege, sich dieses Feedback zu verschaffen, zum Beispiel indem er stets einen lokalen Mitarbeiter zu Gesprächen mitnimmt: Es läuft, es läuft auch sehr gut, aber ich bin nicht sicher, ob es so gut läuft, weil ich es so mache, wie ich es mache. In Deutschland wüsste ich das zum Beispiel. Das wüsste ich, ob es deswegen so gut läuft … Schauen sie, in Deutschland, da weiß ich ganz genau, da habe ich meine Sensoren, da weiß ich ganz genau, wie die Stimmung ist. Das hat mit der Kommunikation überhaupt nichts zu tun, das hat einfach mit der Distanz zu tun, die die Leute hier haben. (Schneider II, 605:618) Das ist aber auch der Vorteil, wenn man dann einen Lokalen einbindet, was ich eigentlich immer mache, um ein internes Feedback auch zu kriegen, was läuft hier eigentlich? Ist, denke ich, aus meiner Sicht relativ wichtig. Dann hört man plötzlich eine ganz... aha, dann kann man das relativieren. Wenn Sie das nicht haben, kriegt man einen falschen Eindruck. [...] Deswegen braucht man auch sein Netz hier in einer Geschäftseinheit und man braucht Leute, denen man vertraut, und man im Prinzip schon einen gewissen Vertrauensvorsprung geben. Sonst, denke ich, kann man da vielleicht die eine oder andere Fehlentscheidung machen. (Schneider III, 1125:1134)
Im Zweifelsfall holt er sich Feedback aktiv durch Nachfragen und erfährt auf diesem Wege bisweilen, wie er sein Vorgehen weiter optimieren kann: […] und ich würde dann in diesem Moment, muss ich ehrlich sagen, einen Chinesen zu Rate ziehen, würde sagen, was kann da falsch gelaufen sein, wieso kommen wir da nicht weiter? Habe ich etwas Falsches gesagt und so weiter? (Schneider I, 1596:1599) Rat hole ich mir indirekt, zum Beispiel wenn ich taiwanesische Geschäftspartner sehe, die eigene Geschäfte haben, suche ich natürlich schon in Gesprächen... beim Essen stelle ich natürlich schon die eine oder andere Frage Wie machst du denn das, oder was hast du für Instrumente, zum Beispiel, deine Mitarbeiter zu motivieren, oder was gibt es denn bei dir denn für Probleme? Da habe ich mir natürlich schon Rat geholt, indirekt. Oder habe zum Beispiel auch mal Fälle irgendwie geschildert, 9 Dass Schneider hier – im Gegensatz zu dem weiter oben wiedergebenen Fazit – Inhalte des interkulturellen Trainings bestätigt sieht, belegt, wie wichtig im Einzelfall die empirische Bestätigung des Gehörten ist. So fällt er kein generelles Urteil über den Nutzen interkultureller Trainings, sondern findet manche Teilaspekte durch seine Erfahrung bestätigt, andere nicht. 266
EINZELFALLANALYSEN das und das und das, ja, was könnte denn die Ursache sein? Das kann man machen, aber intern nicht. Aber ist auch nicht notwendig. Wie gesagt, durch diese Möglichkeiten haben Sie eigentlich im Prinzip viel bessere Chancen, das sich anzuschauen, weil letztendlich, die meisten Leuten, mit denen ich hier geschäftlich zu tun habe, sind erfolgreich. Und was heißt das im Prinzip? Wenn Sie erfolgreich sind, kann das Konzept, das Sie anwenden, nicht so schlecht sein, und dann kann man sich dieses Konzept durchaus mal angucken. Das ist es durchaus mal wert sich anzugucken. (Schneider III, 569:586)
Bemerkenswert ist, dass ihm trotz aller Bewunderung für den geschäftlichen Erfolg seiner taiwanesischen Geschäftspartner, Taiwanesen letztendlich fremd bleiben. Zwar schildert Schneider keine Probleme, sich ‚taiwanesisches‘ Denken und Handeln anzuverwandeln, doch hält er Freundschaften zu Taiwanesen für „schwierig“, denn „die Sichtweise der Dinge ist zu unterschiedlich“ (Schneider III, 674:675). Auch hier schließt er aus seinen Beobachtungen: Diese legen ihm nahe, dass insbesondere die Einstellungen zu Freizeit und Familie nicht kompatibel seien. Nach fast zwei Jahren hat die Familie in Taiwan keine taiwanesischen Freunde gefunden. Auch in seinem Team stellt er eine Distanz fest, die er darauf zurückführt, dass er selbst als Fremder gesehen wird, der nicht wirklich dazu gehört: Also wir arbeiten hier, sagen wir mal so, wir arbeiten hier, ich denke, relativ gut zusammen, und wir haben eine sehr gute Kooperation und einen offenen Dialog. Trotz allem ist es aber so, dass ich selbst spüre, dass eine gewisse Distanz da ist. Diese Distanz, würde ich einfach sagen, ist allerdings normal. Es ist vermutlich diese normale taiwanesische oder chinesische Sicht, letztendlich bin ich ein Fremder, gehöre nicht dem gleichen Umfeld an, habe nicht die gleiche Erziehung und so weiter. Und man hat mir gegenüber dadurch eine gewisse Distanz, was ich eigentlich als Respekt bezeichnen möchte. Also ich sehe das nicht negativ. Aber es ist einfach so, die Beziehung ist nicht so, wie wenn ich zum Beispiel in Europa ein Team hätte. Ich habe zum Beispiel zu keinem der Mitarbeiter einen persönlichen Kontakt, während wenn ich in Europa ein Team hätte, hätte ich zumindest zu meinen führenden Leuten, mit Sicherheit zum einen oder anderen, einen intensiveren Kontakt. Das ist hier nicht der Fall. Und ich probiere es auch gar nicht, weil ich merke, es ist den Leuten auch... es ist ihnen nicht angenehm. Und das meine ich im Prinzip mit Distanz. Das Team selbst harmoniert und wir arbeiten hier, ich denke, sehr, sehr gut zusammen. (Schneider III, 412:430)
Schlussfolgerungen für den Lernprozess Besonderes Merkmal von Schneiders Strukturbildern ist die starke Präsenz des Machtfaktors. Gesicht wird von ihm vor allem als Mittel zur Sicherung von Einfluss gedeutet, wobei Schneider die damit assoziierten ‚Spielregeln‘ in den ersten beiden Interviews entschieden ablehnt. Dies spiegelt Schneiders Situation in der Niederlassung wider, die zunächst davon bestimmt ist, selbst Einfluss zu gewinnen und Versuche der Einflussnahme anderer abzuwehren. Die Deutung von ‚Gesicht‘ geschieht so im Hinblick auf das vordergründige Thema des Arbeitszusammenhangs. Auch hier zeigt sich, dass das Lernen 267
INTERKULTURELLES LERNEN
über ‚Gesicht‘ durch zentrale Themen des Lebenskontextes in spezifischer Weise vorstrukturiert ist und sich mit Bezug auf diese Themen vollzieht. Dass bei Schneider zum Zeitpunkt des dritten Interviews (nach fast zwei Jahren Aufenthaltsdauer) bemerkenswerte Einstellungsänderungen eingetreten sind, ist dem Strukturbild allein nicht zu entnehmen. Dies offenbart, dass die gewählte Methode, ein vorhandenes Strukturbild lediglich abzuändern, neue Bewertungen derselben Inhalte nur unzureichend wiedergibt und zur Dokumentation von Einstellungsänderungen daher nicht geeignet ist. Zweifelsohne sind jedoch auch diese Ausdruck von Lernprozessen und müssen bei der Diskussion ‚interkulturellen‘ Lernens berücksichtigt werden. Schneiders Berichte geben eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, mittels welcher Strategien dieser Lernprozess vorangetrieben wird. Sein Beharren auf dem Bewährungstest ‚in der Praxis‘ entpuppt sich dabei als wesentliches Element. Das strenge Vertrauen auf eigene Beobachtung sowie auf das Kriterium der Effektivität der angewandten Mittel und Maßnahmen führt bei Schneider dazu, alte Annahmen aufzugeben, sobald er sieht, dass diese nicht „funktionieren“ und neue, erfolgreiche Vorgehensweise zu übernehmen. Fallvergleichende Analysen können hier weiteren Aufschluss darüber geben, ob diese Lernstrategie auch von anderen Befragten verwendet wird bzw. welche anderen Strategien erkennbar sind (vgl. Kapitel 8). Nicht zuletzt demonstrieren die Interviews mit Schneider, die einen Zeitraum von fast zwei Jahren abdecken, jedoch auch, dass wesentliche Lerneffekte – hier die positive Umdeutung einer anfänglich abgelehnten Praxis – erst nach einer längeren (mehrjährigen) Aufenthaltsdauer stattfinden. Der Fall Schneider zeigt schließlich auch die große Bedeutung der organisationalen Rahmenbedingungen für das Leben entsandter Mitarbeiter am Einsatzort. Diese wirken sich nicht nur unmittelbar auf die Arbeitsaufgaben, sondern in umfassender Weise auf die gesamte Familie aus. Insbesondere die kurz nach seiner Ankunft an ihn herangetragenen Pläne einer erneuten Versetzung stellen für die gesamte Familie eine große Belastung dar. Als sich die Situation nach mehreren Monaten wiederholt, ist dies für Schneider schließlich der Anlass, das Unternehmen zu verlassen.10 Der Umstand, dass Schneider sich nicht nur um die Niederlassung, sondern auch um das Wohlergehen der Familie kümmern muss (und will!), spielt in den Interviews an verschiedenen Stellen eine Rolle. Insbesondere die ersten Wochen und Monate werden von Schneider als sehr anstrengend geschildert, da die Bewältigung alltäglicher Aufgaben (wie z.B. Einkaufen) mangels Ortsund Sprachkenntnis schwierig ist, die Bedürfnisse der Kinder jedoch keinen Aufschub zulassen. Hier deutet sich an, dass die Sorge für mitreisende Kinder zusätzliche Anforderungen an Eltern stellt, die sich auf den Prozess des ‚Einlebens‘ deutlich auswirken. Dies wird bei der Diskussion von Möglichkeiten und Ablauf informellen (interkulturellen) Lernens zu berücksichtigen sein. 10 Zum Zeitpunkt des letzten Interviews hat Schneider bereits gekündigt, ist jedoch noch im alten Unternehmen tätig. 268
EINZELFALLANALYSEN
Zusammenfassung und Schlussfolgerung Die Einzelfallanalysen bestätigen den Befund der Strukturbildanalyse, nach dem Lernen ausschließlich im unmittelbaren Handlungsraum stattfindet. Die Einzelfallanalysen zeigen jedoch, dass Wahrnehmung und Interpretation in den jeweiligen Handlungsfeldern durch persönliche ‚Anliegen‘ oder ‚Themen‘ vorstrukturiert sind. Dabei besitzt das Nachvollziehen subjektiver Sinnstrukturen größere Erklärungskraft als ‚objektive‘ Sachverhalte. So ist zwar richtig, dass die jeweilige Alltagsgestaltung der Studierenden untereinander eine gewisse Ähnlichkeit aufweist und sich zugleich von der der befragten Manager unterscheidet, Rückschlüsse auf das Lernen über ‚Gesicht‘ lassen sich hieraus jedoch nicht ziehen. Warum bestimmte Inhalte gelernt werden und andere nicht, erschließt sich erst unter Rückgriff auf subjektiv bedeutsame Kernthemen. Die Relevanz bestimmter Themen steht dabei in engem Zusammenhang mit der Arbeitssituation (z.B. bei Schneider: das Ringen um Kontrolle und Handlungsfähigkeit), mit Entwicklungsaufgaben und -phasen (z.B. bei Marion, deren Situation als Adoleszenzkrise interpretierbar ist), mit Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. Harmoniestreben bei Matthias; der Wunsch, Fehler zu vermeiden, bei Stefan) oder Motiven (z.B. Klaus) und sicherlich auch mit anderen, hier nicht nachvollziehbaren Faktoren. Warum bestimmte Themen für einzelne Personen diese Bedeutung erlangen, kann auf der Grundlage der vorliegenden Daten nicht beantwortet werden; ihre Verwobenheit mit berichteten Episoden und Interpretationen lässt sich jedoch – wie in den vorangehenden Abschnitten versucht – nachweisen. Lässt man sich auf die subjektiven Bedeutungswelten der hier Befragten ein, so lösen sich auch andere vermeintliche Selbstverständlichkeiten auf. Dies gilt zum Beispiel für die Annahme, alle Befragten teilten die Erfahrung, sich an einem objektiv bestimmbaren, mit bestimmten Merkmalen beschreibbaren Ort (Taiwan) aufzuhalten. Die Einzelfallanalyse zeigt, dass sowohl der Aufenthaltsort ‚Taiwan‘ sowie der Aufenthalt in Taiwan subjektiv höchst unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Dies betrifft nicht nur die Bewertungen verschiedener ‚objektiver‘ Tatbestände (Hitze, Verkehr, Sozialgefüge, Einkaufsmöglichkeiten), sondern bezieht sich in weit umfassenderem Maße auf die generelle Bedeutung, die Taiwan in den jeweils individuellen Lebensbezügen besitzt. Die Annahme, aus der Tatsache, dass sich alle Befragten in Taiwan aufhalten, würden signifikante geteilte Erfahrungen resultieren (im Sinne spezifischer Themen deutsch-taiwanesischer Kommunikation etwa), entpuppt sich als voreilig. Nicht nur das Lernen über ‚Gesicht‘, sondern die Deutung des gesamten Taiwanaufenthaltes geschieht unter Bezug auf individuell relevante ‚Themen‘. Eine bedeutsame Unterscheidung ergibt sich dabei im Hinblick darauf, wie sehr meine Gesprächspartner in den Interviews ‚Taiwan‘ als Herausforderung ihrer Identität und Identitätsgrenzen thematisieren. So erlangt – unter Bezug auf die beiden widerstreitenden Motive ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Bezo269
INTERKULTURELLES LERNEN
genheit‘ – ‚Taiwan‘ bei Marion als innerpsychische Größe Bedeutung; Denise verteidigt ihre Ich-Grenzen gegen permanente Übergriffe aus der taiwanesischen Umwelt, und Matthias setzt sich mit den Grenzen von ‚Fremdem‘ und ‚Eigenem‘ bewusst auseinander, wobei er die Veränderung der eigenen Identität als Entwicklung hin zu ‚höherer Komplexität‘ erlebt. In den Interviews mit Stefan, Schneider und Klaus hingegen nimmt ‚Taiwan‘ die Rolle eines äußerlichen Umfeldes ein, an das sie sich zwar im Handeln anpassen, das jedoch auf die Verfasstheit der eigenen Identität keinen erkennbaren Einfluss hat. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass Veränderungen der Identität stattfinden, doch werden diese in den Interviews nicht thematisiert. Interessant ist, dass diese Unterscheidung mit Merkmalen der Strukturbilder einhergeht: Während Marion, Denise und Matthias zum Teil ihre Strukturbilder nicht weiterentwickeln bzw. wichtige Aspekte unterrepräsentiert bleiben, lernen Stefan, Schneider und Klaus über ‚Gesicht‘ auffallend mehr hinzu. Dies überrascht auch deshalb, weil Schneider und Stefan im Gegensatz zu allen anderen nicht Chinesisch sprechen. Wie bei allen Korrelationen ist hier ein Kausalschluss nicht zulässig. Eine mögliche – und sehr plausible – Alternativerklärung wäre, dass Klaus, Stefan und Schneider im Alltag einfach stärker mit ‚Gesicht‘ konfrontiert sind als die drei anderen Interviewpartner und dass Vergleiche in anderen Bereichen zu anderen Ergebnissen führen würden. Die Unterscheidung der beiden genannten Deutungskategorien besitzt auch in anderer Hinsicht Erklärungspotential. Die Einzelfallanalysen zeigen, dass in Taiwan nicht in jedem Fall ein Gefühl der Fremdheit geschildert wird. Fasst man die oben genannte Unterscheidung als Kontinuum zwischen einer Ich-nahen (die eigene Identität betreffende) und Ich-fernen (Taiwan als externes Handlungsfeld deutende) Interpretation Taiwans auf, so stellt sich Fremdheit nur zwischen den beiden Extrempunkten ein. Marions Beispiel zeigt, dass eine völlig Ich-nahe Deutung ‚Taiwan‘ dem Eigenen inkorporiert und deswegen keine Fremdheitserfahrung in der Begegnung mit einem ‚äußeren Taiwan‘ stattfindet. Auf der anderen Seite belegt Klaus’ Beispiel die Möglichkeit, dass das Erleben von Fremdheit auch dann entfällt, wenn ‚Taiwan‘ nicht nur als ‚Umgebung‘ für die Verwirklichung eigener Motive gesehen wird, sondern diese Motive auch eine höchst befriedigende Erfüllung erfahren. Für alle anderen der in den Einzelfallanalysen berücksichtigten Interviewpartner stellen sich (unterschiedlich bedeutsame und unterschiedlich reflektierte) Erfahrungen von Fremdheit ein, wobei die Erfahrungsbereiche, in denen das passiert, jeweils völlig verschieden sind (und wiederum nur durch Kenntnis der individuellen Lebens- und Sinnzusammenhänge verstehbar sind). Für die Untersuchung informellen (interkulturellen) Lernens im Ausland werfen diese Ergebnisse interessante Fragen auf: – Ist Lernen über ‚Gesicht‘ tatsächlich von chinesischen Sprachkenntnissen unabhängig? Welche Rolle spielen Sprachkenntnisse für andere Aspekte informellen (interkulturellen) Lernens in Taiwan? 270
EINZELFALLANALYSEN
– Besitzt die Unterscheidung in Ich-nahe und Ich-ferne Interpretationen Taiwans auch in anderer Hinsicht Erklärungswert? Denkbar wäre, dass eine Ich-nahe Auseinandersetzung mit dem taiwanesischen Umfeld Perspektivwechsel erschwert, langfristig jedoch umfassendere Transformationen ermöglicht. Damit stünden Ich-nahe Auseinandersetzungen einer Entwicklungsperspektive nahe, Ich-ferne Auseinandersetzungen eher dem (psychologischen) Lernbegriff. – Die Einzelfallanalysen dokumentieren eine Reihe unterschiedlicher Lernstrategien. Stehen diese mit den erwähnten unterschiedlichen Grundhaltungen in Zusammenhang? Welche anderen Lernstrategien werden von anderen Interviewpartnern angewandt? Lassen sich – in Bezug auf das Lernen über ‚Gesicht‘ – erfolgreiche von weniger erfolgreichen Strategien unterscheiden? Einzelnen dieser Aspekte soll im folgenden Kapitel unter Einbezug aller, auch der nicht zur Einzelfallanalyse ausgewählten Interviews nachgegangen werden.
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8. F A L L V E R G L E I C H E N D E A N A L Y S E N Die Einzelfallanalysen haben verschiedene Aspekte zu Tage gefördert, die für individuelle Lernprozesse von Bedeutung sind. In diesem Kapitel werden einzelne dieser Aspekte zum Ausgangspunkt fallübergreifender Analysen gemacht. Dabei soll die Gültigkeit der in den Einzelfallanalysen erarbeiteten Zusammenhänge an anderen Fällen überprüft, vor allem aber das jeweilige Phänomen tiefer ergründet werden. Richtete sich die Struktur des vorherigen Kapitels nach einzelnen Personen, so ist dieses Kapitel nach Themen gegliedert. Um den Bearbeitungsaufwand und den Umfang der Darstellung überschaubar zu halten, fiel die Entscheidung auf nur wenige Themen, die – sowohl aufgrund der Einzelfallanalysen als auch aufgrund der zuvor bearbeiteten wissenschaftlichen Literatur – für die Frage nach Verlauf, Bedingungen und Moderatoren des Lernens über ‚Gesicht‘ besonders bedeutsam erschienen. Es sind dies: 1. die Bedeutung chinesischer Sprachkenntnisse; 2. die Frage nach verwendeten Lernstrategien; 3. die Bedeutung von Bewusstheit (‚Awareness‘) für ‚Gesicht‘ im Alltag; 4. die Frage nach dem Einfluss der Teilnahme an der Studie auf den Lernprozess. Allen vier Fragen wird in den folgenden Abschnitten nachgegangen.
Die Bedeutung chinesischer Sprachkenntnisse Ein Vergleich der Strukturbilder mit den chinesischen Sprachkenntnissen des jeweiligen Interviewpartners ergibt zunächst keinen erkennbaren Zusammenhang. Untersuchungsteilnehmer, die nicht Chinesisch sprechen 1 , erarbeiten gleichwohl sehr komplexe und thematisch umfassende Strukturbilder über ‚Gesicht‘, die bisweilen kontinuierlicher weiterentwickelt werden und mehr Aspekte abdecken als Strukturbilder von Teilnehmern, die Chinesisch sprechen und lesen können (siehe auch die beiden vorherigen Kapitel). Dieser Befund widerspricht den Erwartungen: Müssten nicht chinesische Sprachkennt-
1 Hier handelt es sich um alle Interviewpartner, die sich aus beruflichen Gründen in Taiwan aufhalten: Schneider, Stefan, Weber, Holter, Beate und (anfänglich) Paul. Paul engagiert jedoch eine Lehrerin für regelmäßige Unterrichtsstunden und lernt in seiner knapp bemessenen Freizeit Chinesisch, so dass er sich gegen Ende seines Aufenthalts auf Chinesisch bereits verständigen kann. 273
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nisse den Zugang zu Menschen und sozialen Praktiken in Taiwan erleichtern und daher zu mehr und differenzierterem Wissen über ‚Gesicht‘ führen? Der folgende Abschnitt geht der Frage nach, welche Bedeutung chinesische Sprachkenntnisse beim Lernen über ‚Gesicht‘ und darüber hinaus für das Leben in Taiwan haben. Hierzu wird zunächst herausgearbeitet, in welchen Kontexten die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Chinesisch zu sprechen, in den Interviews thematisiert wird, um hieraus verschiedene Funktionen abzuleiten, die chinesische Sprachkenntnisse erfüllen. Es wird sodann gezeigt, dass einige dieser Funktionen durch Ersatzstrategien kompensiert werden können, andere jedoch nicht. In dieser Gegenüberstellung wird deutlich, in welcher Hinsicht chinesische Sprachkenntnisse von Vorteil und unter welchen Umständen sie entbehrlich sind. Wissen über ‚Gesicht‘, so lässt sich feststellen, kann auch ohne chinesische Sprachkenntnisse erworben werden, jedoch erleichtern chinesische Sprachkenntnisse das Zustandekommen emotional befriedigenden Kontakts und führen deshalb eher zu positiven Einstellungen gegenüber Taiwan, Taiwanesen und ‚Gesicht‘, die sich auch in den Strukturbildern widerspiegeln.
Funktionen chinesischer Sprachkenntnisse In den Interviews wird die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit chinesischsprachiger Kommunikation in verschiedenen Kontexten thematisiert. Erwähnt werden Alltagssituationen (in der Bank, beim Einkaufen, beim Busfahren), Kommunikation am Arbeitsplatz, Zugang zu chinesischsprachigen Medien (Zeitungen, Websites) sowie Gespräche mit Freunden, Nachbarn, Kollegen oder Bekannten. Aus den Schilderungen lassen sich verschiedene Funktionen chinesischer Sprachkenntnisse ableiten, die hier zunächst kurz vorgestellt werden sollen. Chinesisch ist demnach wichtig: – als Kommunikationsmittel im Alltag: z.B. um Aufschriften lesen zu können, nach dem Weg fragen zu können, dem Taxifahrer die Adresse nennen zu können; – als Kommunikationsmittel bei der Arbeit; – zum Herstellen emotional befriedigenden Kontakts; – als Schlüssel zu Kultur, Gesellschaft und Mentalität; – als Schlüssel zur Teilhabe an der und Akzeptanz durch die taiwanesische Gesellschaft; – für Identität und Selbstbestätigung (z.B. der Stolz, eine besondere Sprache zu können, etwas Schwieriges gemeistert zu haben); – als ‚Kapital‘, das die Beschäftigungsmöglichkeiten verbessert. Der letzte Punkt ist häufig für die Entscheidung, überhaupt Chinesisch zu lernen, von Bedeutung, spielt jedoch im alltäglichen Leben in Taiwan und für den Verlauf von Lernprozessen dort keine Rolle. Er wird deshalb hier nicht weiter berücksichtigt. Alle anderen Punkte sollen jedoch im Weiteren inhalt274
FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN
lich präzisiert werden, wobei insbesondere auch Maßnahmen und Strategien berücksichtigt werden, die mangelhafte oder fehlende Chinesischkenntnisse kompensieren können (so genannte ‚Ersatzstrategien‘). Kommunikationsmittel im Alltag Mit der Ankunft in Taiwan sind Einreisende mit einer chinesischsprachigen Umgebung konfrontiert. Schlagartig weicht damit die aus der Heimat gewohnte Handlungskompetenz dem Gefühl der Orientierungslosigkeit und – angesichts der chinesischen Schriftzeichen – dem Empfinden, plötzlich „Analphabet“ zu sein: […] man ist ja wirklich Analphabet, man weiß nichts, man kann nichts lesen, man weiß nicht, wo man hinkommt, man weiß nicht, wo der Bus hinfährt, und dem Taxifahrer kann man auch nichts sagen, weil, versteht einen sowieso nicht. Und das ist schon sehr komisch am Anfang. (Paul I, 670:674) Was störend ist daran, ist natürlich immer diese Sprachbarriere, immer wieder. Das geht los auf der Straße, auf den Nebenstraßen, bei der Werbung, bei jedem Zettel, in jedem Restaurant bei der Speisekarte. Und die lateinischen Buchstaben, selbst wenn die in einer anderen Sprache sind, dann kann man ja noch versuchen, irgendwas rauszulesen, aber bei den chinesischen ist es aussichtslos. (Weber I, 540:546)
Busanzeigen, Speisekarten, Geschäftsaufschriften oder Bezeichnungen von Lebensmitteln im Supermarkt sind ohne Kenntnis der chinesischen Schrift nicht zu entziffern. Entsprechend groß sind die Schwierigkeiten, das zu finden, was man sucht. So berichtet etwa Schneider von dem ersten Einkauf der Familie im lokalen Supermarkt „Wellcome“: Und dann habe ich zum Beispiel meinem Fahrer gesagt, wir wollen einkaufen. Ach, kein Problem, wir fahren zusammen zu Wellcome. Und da sind wir da in der Nähe von unserem Haus zu einem Wellcome gefahren und haben eingekauft. Dann hat er uns da abgesetzt, ja, jetzt geht mal. Dann sind wir da rein, ha, surprise, surprise! Bei den Früchten und Gemüse und so weiter ging das ja noch, da haben wir das gesehen, was wir brauchen, das haben wir dann eingepackt. Dann bei dem Fleisch, O.k., das ging auch noch. Aber dann ging es los, Kaffee, Tee, Milch, Zucker, Salz, Mehl – nichts gefunden, wirklich nichts. Kaffee haben wir dann noch gefunden, aber natürlich den falschen dann, so einen Drei-in-eins Pulverkaffee, Tee, das ging auch noch, Zucker haben wir auch noch gefunden, aber die meisten Dinge, die wir kannten, unsere Kinder wollten Kekse oder Nutella, nichts. Brot? Toastbrot. Das waren wirklich Erfahrungen. Dann gab es jede Menge Essen, gefroren, was nicht zu identifizieren war. Jetzt kann man da nicht einfach kaufen, man weiß nicht, wie bereitet man das zu, was ist das überhaupt? Steht zwar drauf, aber was ist es? Dann Waschmittel. Was ist Waschmittel für was? Feinwaschmittel, für welche Temperatur, grüne Boxen, man konnte sehen, riechen, das muss Waschmittel sein, aber wie? Mehl, nicht gefunden, muss ich ganz klar sagen. (Schneider I, 486:506)
Auch Sprachstudenten schildern ähnliche Eindrücke, auch wenn sie sich bereits zu Beginn des Aufenthalts etwas besser orientieren können. Für sie überwiegt jedoch häufig die Enttäuschung darüber, trotz ihrer Sprachausbildung zunächst nur so wenig zu verstehen. 275
INTERKULTURELLES LERNEN
Kommunikations- und Orientierungsprobleme werden typischerweise während des ersten Interviews geschildert und sind schon nach wenigen Wochen bis Monaten kein Thema mehr. In allen Fällen schildern die Interviewpartner zum Zeitpunkt des zweiten Interviews, dass sie alltägliche Verrichtungen ohne nennenswerte Schwierigkeiten bewältigen. Ein Teil der entstehenden Routine ist an wiederholte Übung geknüpft (siehe z.B. die Berichte von Matthias, vgl. Kapitel 7), ein anderer jedoch an gezielte Strategien, mit einer chinesischsprachigen Umgebung zurechtzukommen. Im Falle der Sprachstudenten ist dies vor allem der Erwerb chinesischer Sprachkenntnisse, die es ihnen z.B. ermöglichen, nun Speisekarten zu lesen, Buspläne zu studieren und, wenn nötig, Auskünfte einzuholen. Bemerkenswert ist, dass auch Interviewpartner ohne Chinesischkenntnisse bezüglich der Bewältigung des Alltags während der späteren Interviews nicht länger von Problemen berichten. In den Interviews wird deutlich, dass sie eine Fülle verschiedener Wege finden, die „Sprachbarriere“ (Weber I, s.o.) zu umgehen. Dies geschieht in erster Linie dadurch, dass sie auf Englisch als Lingua franca ausweichen und eine englischsprachige Infrastruktur nutzen (z.B. Restaurants mit englischen Speisekarten, den American Club in Taipei) und dass sie die Hilfe von Sprachmittlern (z.B. Sekretärinnen, Nachbarn, Freunden) in Anspruch nehmen. Hinzu kommt eine Fülle weiterer Strategien: Die Anschaffung eines eigenen Autos entbindet von der Notwendigkeit, mit Taxifahrern zu kommunizieren; Zettel mit einer gewünschten Adresse oder dem aus dem Wörterbuch abgeschriebenen Schriftzeichen für einen gesuchten Gegenstand ermöglichen präzise Verständigung auch ohne Chinesisch; der Einsatz von Zeichnungen, Händen und Füßen unterstützt das gesprochene Wort, und schließlich hilft das Einprägen zentraler Schriftzeichen bei der Orientierung, auch ohne dass man sie aussprechen kann. Die Ausrichtung des Alltags ist schließlich auf die fehlenden chinesischen Sprachkenntnisse abgestimmt, so dass diese nicht als Manko empfunden werden: Na gut, in dem Umkreis, in dem ich mich bewege, geht das gut. Ich meine, das ist erstaunlich, viele sprechen Englisch. Das macht das hier auch sehr schön, muss man sagen, dass man überall gut durchkommt, in N. [Arbeitsort], in Taipei, aber auch da in Taroko, ich meine das war auch kein Problem. Klar ist das dann schwieriger, aber so’ne Situation, dass man ein großes Problem kriegt, weil man nicht Chinesisch spricht, das ist eigentlich selten. Das ist echt selten. (Holter II, 457:463) Ich meine, alles was du machen willst, bräuchte ich kein Chinesisch für. (Holter III, 169:170) Ich hatte es mir ganz fest vorgenommen gehabt, doch wirklich mehr [Chinesisch] zu lernen. Aber natürlich ist es auch so, dass die Motivation nach einem Jahr auch enorm nachlässt, weil du merkst, du kannst auch ohne überleben, es funktioniert ja. Und die meisten Sachen, die wichtigsten Sachen hast du so und so schon rausgefunden, wie man irgendwelche Rechnungen bezahlt und irgendwas bekommt. Und wir sind inzwischen auch so weit, dass wir es schaffen, uns irgendwas aus dem Wörterbuch rauszuschreiben, wenn wir irgendetwas ganz Wichtiges brauchen wie Talkum oder was weiß ich, dann wird das rausgeschrieben und irgendwo hingebracht. Und 276
FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN dann ist es ja doch meisten so, dass die Leute das mit Schriftzeichen besser verstehen, als wenn du versuchst, das auszusprechen. (Beate III, 687:698)
Spürbare Einschränkungen im Alltag resultieren für die von mir Befragten aus den fehlenden Sprachkenntnissen nicht. 2 Umgekehrt werden jedoch zunehmende Sprachkenntnisse von Sprachstudenten erfreut registriert, vor allem da sie hierdurch Handlungssicherheit (z.B. beim Bestellen von Speisen in Garküchen, wenn sie von Fremden angesprochen werden, etc.) und Gesprächsmöglichkeiten im Alltag gewinnen. Kommunikationsmittel im Arbeitskontext In den Unternehmen, in denen die von mir befragten Interviewpartner arbeiten, ist jeweils Englisch die offizielle Arbeitssprache. Für die Arbeit sind chinesische Sprachkenntnisse deshalb – so auch die offizielle Firmenpolitik – im Prinzip nicht notwendig. 3 De facto setzen jedoch bisweilen die englischen Sprachkenntnisse der Kollegen und Geschäftspartner den Verständigungsmöglichen Grenzen, so dass sich die Situation am Arbeitsplatz als vielschichtiger entpuppt. Auf der einen Ebene steht fest, dass die unmittelbare Kommunikation im Unternehmen, aber auch mit Geschäftspartnern auf Englisch funktioniert, denn „die sprechen alle Englisch“ (Schneider I, 930:931). Doch gibt es immer wieder Situationen, in denen die englischen Sprachkenntnisse der taiwanesischen Partner nicht ausreichen. Darunter leidet einerseits die sachbezogene Verständigung, vor allem jedoch die emotionale Kontaktaufnahme, „das Zwischenmenschliche“, wie Weber formuliert. Auch Stefan würde sich wohler fühlen, wenn er mit seinen Kunden besser reden könnte: I: Und würde es deine Arbeit denn erleichtern, wenn du Chinesisch könntest? W: Nein. I: Also es ist eigentlich auch egal, ob du es kannst oder nicht. W: Für die Arbeit ist es egal, aber für das Zwischenmenschliche würde ich mir das wünschen, dass ich eben nicht bloß „links“ und „rechts“ sagen kann und vielleicht „guten Tag“ und „Prost“ (Lachen), sondern vielleicht auch mal so einfach mal einen Satz „wie geht’s?“ und auch die Antwort verstehen. Dafür, nicht für die Arbeit, so intensiv, so weit geht der Ehrgeiz nicht. Aber einfach so ein paar Floskeln, dass der Gegenüber auch merkt, dass es mir wichtig ist und dass ich das akzeptiere, und dass ich nicht
2 Wie Richard erwähnt, kann die (in seinem Fall: vorgebliche) Unfähigkeit, Chinesisch zu sprechen, sogar Vorteile haben. Verschmitzt berichtet er, dass das Beharren auf englischsprachiger Kommunikation bei Behörden in der Regel schnelleren und besseren Service zur Folge habe, da die Englisch sprechenden Mitarbeiter, die in diesen Fällen eingeschaltet würden, zumeist ranghöher und kompetenter seien (Richard III, 114:131). 3 Auch fast alle der von mir befragten Studenten arbeiten in Taiwan. Bei den ausgeübten Tätigkeiten handelt es sich überwiegend um Sprachunterricht in Deutsch oder Englisch, gelegentlich auch um Dolmetschertätigkeit oder andere Aufgaben. In diesem Abschnitt geht es jedoch ausschließlich um den Arbeitsalltag der aus beruflichen Gründen in Taiwan ansässigen Interviewpartner. 277
INTERKULTURELLES LERNEN einfach bloß... trampel, trampel... durch das fremde Land (lacht). (Weber II, 780: 795) Also für mich persönlich, vielleicht auch für mein insgesamtes Wohlbefinden hier, wäre es sehr viel besser, wenn ich besser mit meinen Kunden reden könnte. […] Wenn es doch am Ende des Tages nicht zu mehr Geschäft führt, so doch zu vielleicht einer größeren Zufriedenheit bei mir und auch beim Kunden – was dann natürlich idealerweise auch zu mehr Geschäft führt. (Stefan II, 1251:1265)
Ohne Chinesisch zu sprechen, ist es zudem schwieriger, Feedback zu erhalten (Holter I, 751:752), denn es ist schwierig, in der Lingua franca ‚zwischen den Zeilen‘ zu lesen. Um das Gesagte und den Gesprächspartner besser einschätzen zu können, besteht deshalb Schneider darauf, zu wichtigen Gesprächen mit Kunden stets einen taiwanesischen Mitarbeiter hinzuzuziehen: Das ist aber auch der Vorteil, wenn man dann einen Lokalen einbindet, was ich eigentlich immer mache, um ein internes Feedback auch zu kriegen, was läuft hier eigentlich? Ist, denke ich, aus meiner Sicht relativ wichtig. Dann hört man plötzlich eine ganz... aha, dann kann man das relativieren. Wenn Sie das nicht haben, kriegt man einen falschen Eindruck. [...] (Schneider III, 1125:1130)
Die Bedeutung chinesischer Sprachkenntnisse im Arbeitskontext ist naturgemäß auch von den Arbeitsaufgaben abhängig, die in unterschiedlichem Ausmaß sprachliche Kommunikation voraussetzen. In Anbetracht seiner Aufgabe, eine neue Auslandsniederlassung aufzubauen und lokale Kunden zu akquirieren, beurteilt Stefan die Entsendungspolitik seines Unternehmens kritisch, die Sprachkenntnisse nicht zur Voraussetzung eines Auslandseinsatzes macht. Zwar sagt er: „Also, da ich ja kein Chinesisch kann und es irgendwie geht – ja, irgendwie geht es schon“ (Stefan II, 1241:1242), doch ist er letztlich überzeugt: „In Taiwan, wenn man hier persönlich, aber auch geschäftlich Erfolg haben will, sollte man Mandarin können“ (Stefan II, 1279:1281). Der anfängliche Eindruck, in den internationalen Unternehmen, in denen die Interviewpartner tätig sind, seien englische Sprachkenntnisse ausreichend, relativiert sich daher. Zwar wird nicht erwähnt, dass Arbeitsergebnisse leiden, doch wird an verschiedenen Stellen spürbar oder explizit gesagt, dass Möglichkeiten zu persönlich und emotional befriedigendem Kontakt zu Kollegen und Geschäftspartnern seltener sind als gewünscht. Wie im Falle Stefans gezeigt (vgl. Kapitel 7), kann die hier entstehende Unzufriedenheit einen Beitrag zur Entwicklung negativer Einstellungen gegenüber der taiwanesischen Umwelt leisten. Schlüssel zu emotional befriedigendem Kontakt Wenn fehlende Chinesischkenntnisse das Herstellen emotional befriedigenden Kontakts erschweren, müssten Sprachstudenten umgekehrt von positiven Erlebnissen berichten. Das Finden taiwanesischer Freunde ist für Sprachstudenten in der Regel ein wichtiges Ziel, und alle Sprachstudenten berichten auch während der späteren Interviewzeitpunkte von entstandenen, zum Teil engen 278
FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN
Freundschaften. Die Rolle chinesischer Sprachkenntnisse wird hierbei jedoch nicht explizit thematisiert. Wie häufig, scheint ein Mangel (hier: an emotional zufrieden stellendem Kontakt) präziser benennbar zu sein als die Faktoren, die dazu beitragen, dass auch in der taiwanesischen Umgebung das gelingt, was zu Hause selbstverständlich war, nämlich Vertraute und enge Freunde zu finden. Dass es dabei insbesondere auch die chinesischen Sprachkenntnisse sind, die das Herstellen von Freundschaften erleichtern und tiefer gehende Gespräche ermöglichen, erscheint vielleicht zu selbstverständlich, um es in Worte zu fassen (vgl. aber Richards Kommentar im nächsten Abschnitt). Ohne eigene chinesische Sprachkenntnisse können sich engere Beziehungen nur entwickeln, wenn der Gesprächspartner sehr gut Englisch spricht oder wenn ausländische Freunde mit sehr guten Chinesischkenntnissen als Sprachmittler fungieren. Enge Freundschaften zu Taiwanesen sind deshalb auch ohne chinesische Sprachkenntnisse möglich, jedoch schwieriger zu knüpfen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Kontakte am Arbeitsplatz aufgrund der in der Regel hohen hierarchischen Position der deutschen Mitarbeiter nur schwer zu Freundschaften entwickeln, da die taiwanesischen Kollegen den hierarchiebedingten Abstand auch nach Dienstschluss wahren. Unverheiratete Expats finden möglicherweise eine taiwanesische Freundin, doch ist das Herstellen anderer Freundschaften ohne chinesische Sprachkenntnisse prinzipiell schwieriger. Emotional zufrieden stellenden Kontakt erleben Expats ohne chinesische Sprachkenntnisse daher häufig ausschließlich in den Begegnungen mit und Freundschaften zu anderen Expats. Schlüssel zum Verständnis von Kultur, Gesellschaft, Mentalität Gespräche mit Freunden sind eine häufig genannte Quellen von Wissen über Taiwan. Chinesische Sprachkenntnisse ermöglichen hier nicht nur den Kontakt zu Freunden, sondern sind so auch die Voraussetzung für Gespräche über das Leben in Taiwan, für den Austausch von Ansichten oder Informationen über gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. Richard resümiert: Und natürlich auch mit dem steigenden Chinesisch kommt man näher an die Sache dran. Ohne Chinesisch kommt man glaube ich nicht sehr weit, weil es da häufig auch über soziale Strukturen geht und über Dinge, wo einfach chinesisch reden dann deren Zunge lockert oder auch die Fähigkeit sich zu artikulieren vielleicht einfacher ist. Also zum Beispiel mit meinem Sprachaustauschpartner, Z., habe ich da keine Probleme, drüber auch auf Deutsch zu reden, weil sein Deutsch sehr gut ist. Aber mit meiner alten Vermieterin habe ich schon sehr viel gequatscht, meistens, also 95%, 98% auf Chinesisch, und wenn wir an bestimmten Punkt kamen, wo das Chinesisch nicht mehr ausgereicht hat, hatte sie nicht die Fähigkeit, das auf Englisch auszudrücken, also musste ich versuchen, das auf Chinesisch irgendwie auszudrücken. Also da ist das Chinesische sehr wichtig. Und bei meinem Mitbewohner hier zum Beispiel war es so: Auf Chinesisch hat er das so losgebrabbelt, auf Englisch war das immer gehemmt. Ich glaube nicht nur durch die Sprache allein, sondern vielleicht auch durch das Gefühl. Und mit steigendem Chinesisch ändert sich auch die eigene Position zu den Chinesen hier, also wenn das guanxi halt besser wird, die
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INTERKULTURELLES LERNEN Beziehung besser wird, dann sind diejenigen halt auch eher dazu bereit, über solche Dinge zu reden. (Richard III, 339:359)
Umgekehrt bemerkt Holter, dass er ohne chinesische Sprachkenntnisse nur schwer etwas über politische und gesellschaftliche Zusammenhänge erfährt. Hierzu reicht die sporadische Lektüre englischsprachiger Zeitungen nicht aus: Aber das ist eben... das kriege ich nicht mit. Ich meine, in den internationalen Zeitungen steht da nicht viel. Auch in Taiwan News, dafür lese ich das zu sporadisch, das ist wirklich was, was man nur mitkriegt, wenn man zwischen den Zeilen liest. Da muss man wirklich jeden Tag Taiwan News wahrscheinlich lesen und auch speziell dann mit Chinesen diskutieren, sich da wirklich hinterklemmen, das kriegt man nicht einfach mit. (Holter II, 703:709)
Wie im Falle des Knüpfens von Freundschaften zeigt sich auch hier, dass fehlende Chinesischkenntnisse nicht so leicht zu ersetzen sind. Da ein direkter Austausch mit taiwanesischen Gesprächspartnern oder der Zugang zu taiwanesischen Medien nicht möglich ist, bedarf es für Einsicht in kulturelle, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge der Sprach- oder Kulturmittler. Eine weitere Quelle für Wissen über Taiwan stellen natürlich auch Beobachtungen dar, jedoch führen fehlende Sprachkenntnisse auch hier bisweilen dazu, dass bestimmte Aspekte des Lebens in Taiwan in der Erfahrung ausgeklammert bleiben. Eine Möglichkeit, den Erfahrungsbereich zu erweitern ist dabei, Kontakte zu Personen zu initiieren, die sich vor Ort besser auskennen oder zurechtfinden. So gelingt es zum Beispiel Weber, gemeinsame Unternehmungen mit chinesischen Bekannten oder Sandra, einer deutschen Sprachstudentin, zu organisieren, so dass er Sachen sieht, die er „alleine nie sehen würde“: […] das ist nach wie vor ein Problem. Wenn man unterwegs ist, man kann nichts lesen, man kann keinen fragen. Ich kann mich mittlerweile in Taipei sehr gut orientieren, habe die Probleme, wenn ich alleine nach außen gehen will. Deswegen ist es sehr gut, wenn ich entweder mit Chinesen oder mit der Sandra, die auch etwas Chinesisch kann, unterwegs bin, das hilft mir schon, dann sehe ich Sachen, die ich alleine nie sehen würde. Und das ist so ein Stück Symbiose. (Kurze Pause). Das ist echt ein Problem. Aber das ist nicht zu ändern, das ist so, das ist zu akzeptieren. (Weber II, 804:812)
Wissen über kulturelle, gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge in Taiwan erschließt sich auf der Grundlage chinesischer Sprachkenntnisse leichter. Ein Zugang ist jedoch auch ohne Chinesisch möglich, setzt dann aber möglicherweise mehr Eigeninitiative voraus, um entsprechende Sprach- und Kulturmittler zu finden und gezielt die Grenzen des eigenen Erfahrungs- und Verständnisbereiches zu erweitern.
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FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN
Teilhabe an der und Akzeptanz durch die taiwanesische Gesellschaft Ein wichtiges Thema in den Interviews ist die Überzeugung, dass ein Mindestmaß an chinesischen Sprachkenntnissen Voraussetzung für die Akzeptanz vor Ort ist. Chinesische Sprachkenntnisse, so vermuten meine Gesprächspartner, signalisieren einem taiwanesischen Gegenüber „Hochachtung“ (Stefan), dass man sich auf Land und Leute „einlässt“ (Richard) und nicht einfach durch das fremde Land „trampel[t]“ (Weber, s.o.). Chinesische Sprachkenntnisse sind hier nicht für die Übermittlung sprachlicher Inhalte von Bedeutung (Sachebene), sondern erfüllen eine wichtige Funktion in der Kommunikation auf der Beziehungs- und Selbstoffenbarungsebene4: […] und wenn man sich ein bisschen mit dem Hier und Jetzt beschäftigt und eben auch einlässt, indem man eben zum Beispiel die Sprache lernt, das ist glaube ich eine sehr wichtige Sache, um Gesicht zu bekommen. Wenn man eben nicht der blöder Ausländer ist, der hier nur Geschäfte macht, sondern wenn man schon derjenige ist, der sich hiermit einlässt. (Richard I, 1901:1906) Ich sehe dann schon unterschiedliche Personen, und viele sagen mir, oh, you have to learn Chinese. Und so ein bisschen fühle ich auch den Druck, wenn ich die jetzt das nächste Mal sehe, dass ich dann wenigstens schon mal „guten Tag“ und „schönes Wetter heute“ sagen kann. Also mehr will ich eigentlich gar nicht können – wie gesagt, Survival Chinese. Und einfach den Leuten auch zu zeigen, na gut, er kann es zwar nicht perfekt, aber er bemüht sich wenigstens, weil, ich merke schon, wenn ich dann mal xie-xie oder so was sage, dann: „oh, you speak Mandarin very well“, obwohl ich nur xie-xie nin gesagt habe. Und sei es, dass ich so eine Reaktion hervorrufe. Einfach auch, sage ich mal auch, aus Hochachtung meinen Gastgebern gegenüber. (Stefan II, 1156:1168)
Der Ausländer ohne Chinesischkenntnisse, „der hier nur Geschäfte macht“ (Richard) und „nach drei Jahren noch kein Wort Chinesisch“ spricht (Beate I, 150) macht in den Berichten meiner Gesprächspartner keine gute Figur. Dementsprechend werden von Richard und Marion chinesische Sprachkenntnisse für wichtig gehalten, um von taiwanesischer Seite nicht als „spinnert“ (Richard) oder „blöd“ (Marion) eingestuft zu werden. Für die Leute ist es dann natürlich höflich, mich auf Englisch anzusprechen, ist ja klar, aber trotzdem, für mich war es dann irgendwie auch unangenehm, als wenn die Leute mich dann auch für blöd halten oder so. Und was ich eigentlich in der Gesellschaft will oder warum ich da eigentlich bin, wenn ich doch eigentlich die Sprache wahrscheinlich sowieso nicht spreche, so nach dem Motto. (Marion II, 1678:1684) Das war noch so eine andere Erfahrung, wo ich gedacht habe, irgendwie ist das mehr als das normale zum Essen einladen, sondern das ist ein Vorzeigen. Und andererseits aber auch eben zeigen, „hey, guck mal, das ist ein Deutscher, der ist vernünftig. Das ist ein Ausländer, der kann Chinesisch, der macht einen ordentlichen
4 Diese Begriffe gehen auf Schulz von Thun (1993) zurück, dessen Kommunikationsmodell der ‚vier Ohren‘ zusätzlich noch die Sach- und die Appellebene unterscheidet. 281
INTERKULTURELLES LERNEN Eindruck, der ist nicht so spinnert, was man im Fernsehen häufig sieht von den Amerikanern und so“, eben so. (Richard III, 604:610)
Chinesische Sprachkenntnisse erfüllen in dieser Hinsicht eine Funktion, die nicht ersetzbar ist. Sie sichern – zumindest nach Ansicht der befragten Deutschen – dem Ausländer in Taiwan wohlwollende Anerkennung und sind Voraussetzung dafür, ihn womöglich als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren. Insofern bei einzelnen Personen der Wunsch besteht, Teil der taiwanesischen Gesellschaft zu sein, gewinnen die Sprachkenntnisse damit Bedeutung für Selbstbestätigung und Zufriedenheit, entsteht jedoch auch Enttäuschung angesichts der Perspektive, trotz perfekter Sprachkenntnisse letztlich nicht dazugehören zu können: […] und trotzdem aber durch mein Aussehen mir das mehr oder weniger signalisieren, dass ich Ausländer bin und wahrscheinlich auch nie die Chance habe dazuzugehören, selbst wenn ich irgendwann mal fließend Chinesisch spreche oder so. (Marion II, 1706:1709)
Identität und Selbstbestätigung Sind chinesische Sprachkenntnisse die mutmaßliche Voraussetzung für Akzeptanz und Anerkennung in Taiwan, so kann die Tatsache, diese Voraussetzungen zu erfüllen, eine Quelle von Stolz und Zufriedenheit sein. Diese Zufriedenheit resultiert zum einen daraus, dass die Sprachkenntnisse helfen, das Ziel, anerkannt zu werden, zu erreichen: Und dann habe ich zum Beispiel im Flugzeug auch gemerkt, da waren halt wenige Ausländer, die meisten waren halt schon Taiwanesen alle, die nach Deutschland geflogen sind, und alle Stewardessen haben halt immer alle Ausländer auf Englisch angesprochen, das hat mich einfach tierisch genervt, weil ich nicht wie so ein oller Analphabet zwischen den ganzen Taiwanesen sitzen wollte und habe dann immer, egal was sie mich gefragt haben, auf Chinesisch geantwortet. Und daraufhin wussten alle Stewardessen, da sitzt eine Ausländerin, die kann Chinesisch und redet mal mit der Chinesisch, und da haben danach auch dann alle mit mir Chinesisch geredet, was mir dann auch gut gefallen hat. Und dann habe ich eben auch die ganze Zeit neben einer Taiwanesin gesessen, neben einer anderen, und habe mich dann auch viel mit ihr unterhalten die ganze Zeit und so, was eigentlich auch nett war. Und dass es für mich so unangenehm war, da zu sitzen und die Leute sehen, ich bin Ausländerin und kann bestimmt kein Chinesisch... (Marion II, 1663:1678)
Da jedoch das Erlernen der Sprache an sich schon ein Ziel darstellt, führen wachsende Sprachkenntnisse zum anderen auch unmittelbar zu immer häufigeren Erfolgserlebnissen. Die Erfahrung, eine nebenbei gehörte Fernsehwerbung (Alain II) oder eine chinesische Vorlesung fast völlig zu verstehen (Klaus III), weckt Stolz auf das Erreichte. Auch in dieser Funktion sind chinesische Sprachkenntnisse nicht zu ersetzen, allerdings können sich Stolz und Zufriedenheit über das Erreichte in Taiwan gerade auch deshalb einstellen, weil man ohne Chinesischkenntnisse zurechtkommt oder in Bezug auf die wachsenden Englischkenntnisse (z.B. Weber). 282
FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN
Schlussfolgerung Führen fehlende chinesische Sprachkenntnisse im Alltag anfänglich zu den größten Schwierigkeiten, so können diese dort am leichtesten durch wachsende Routine sowie durch Ersatzstrategien kompensiert werden. Zu ernsthaften Beeinträchtigungen bei der Verständigung am Arbeitsplatz, Alltag oder Freizeit führen mangelnde chinesische Sprachkenntnisse nicht, da meistens auf Englisch als Lingua franca ausgewichen werden kann. Zur sachlichen Verständigung sind Chinesischkenntnisse daher nicht unbedingt nötig. Chinesische Sprachkenntnisse erhöhen jedoch die Wahrscheinlichkeit, in Taiwan emotional zufrieden stellende Kontakte zu Taiwanesen und eigene Handlungskompetenz im Alltag zu erleben und erleichtern es dadurch, sich in Taiwan wohl zu fühlen. Allerdings besteht hier nur ein relativer, kein absoluter Zusammenhang: Weder bürgen Sprachkenntnisse in jedem Fall für das Wohlbefinden (siehe z.B. Denise), noch verhindern mangelnde Sprachkenntnisse, zumindest einige Aspekte des Lebens in Taiwan sehr zu schätzen (z.B. Schneider). Auffallend ist jedoch, dass keiner der fünf Interviewpartner, die auch nach einem Jahr noch kaum Chinesisch sprechen (Holter, Stefan, Schneider, Beate, Weber), von engeren Freundschaften zu Taiwanesen berichtet5 oder dieselbe Begeisterung für das Leben in Taiwan entwickelt wie etwa Klaus oder Matthias. Auch in den Strukturbildern ist eine kritische, zum Teil ablehnende Einstellung zu ‚Gesicht‘ vor allem bei jenen Gesprächspartnern zu finden, die nicht Chinesisch sprechen. In Bezug auf das Lernen über ‚Gesicht‘ zeichnet sich somit ab, dass nicht der Erwerb von Wissen über ‚Gesicht‘, jedoch die positive oder negative affektive Tönung der diesbezüglichen Einstellungen mit chinesischen Sprachkenntnissen zusammenhängt. Was gelernt wird, scheint stärker von der individuellen Erfahrungssituation abzuhängen. Zufriedenheit und Wohlbefinden mit dem Leben in Taiwan, was sich in positiveren Einstellungen in den Strukturbildern widerspiegelt, sind jedoch bei guten Chinesischkenntnissen größer. Hierbei spielen u.a. die Möglichkeiten, Freundschaften zu schließen, tiefere Gespräche zu führen, mehr zu erfahren, eigene Sprachkompetenz zu erleben und sich zugehörig fühlen zu können, eine Rolle.
5 Wie oben erwähnt, kann die höhere hierarchische Position näheren Kontakt zu Kollegen erschweren. Allerdings sind nur zwei der hier Genannten in sehr hohen Hierarchieebenen tätig. Alternative Erklärungen, wie z.B. dass die große Arbeitsbelastung oder der Umstand, als Familie in Taiwan zu leben, das Knüpfen von Freundschaften erschwert, erscheinen nicht plausibel, da alle Befragten ausländische Freunde finden. Meine eigenen Erfahrungen sowie die von Matthias legen zudem nahe, dass das Kennenlernen taiwanesischer Freunde durch mitreisende Kinder eher erleichtert wird. Angesichts der vergleichsweise kurzen Untersuchungsdauer ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass fehlende Chinesischkenntnisse das Entstehen von Freundschaften lediglich zeitlich verzögern, so dass zu späteren Zeitpunkten durchaus Freundschaften zu Taiwanesen bestehen. 283
INTERKULTURELLES LERNEN
Ein weiterer Aspekt findet erstaunlicherweise in den Berichten der Interviewpartner keine Beachtung: Ohne chinesische Sprachkenntnisse fällt es nicht nur schwer, etwas über den taiwanesischen Gesprächspartner zu erfahren, sondern auch, jenem etwas über die eigene Person mitzuteilen. Wie Denise erzählt, ist es gerade der Umstand, dass sie sich und ihre Einstellungen anderen nicht verständlich machen kann, der ihr stark zu schaffen macht. Auch in der diesbezüglichen Literatur werden Sprachkenntnisse vor allem unter dem Aspekt des Verstehens der Gastkultur und kaum unter dem Aspekt betrachtet, dass erst so Mitteilungen über die eigene Person möglich sind.
Lernstrategien Bereits in den Einzelfallanalysen wurde sichtbar, dass Interviewpartner sich neues Wissen in Taiwan auf unterschiedliche Weise aneignen. Es zeigte sich, dass sowohl Gespräche mit Freunden, die Lektüre von Büchern und Zeitungen als auch systematische Beobachtungen (wie im Falle Schneiders) eine Rolle spielen. Dieser Abschnitt ist deshalb der Frage nach unterschiedlichen Lernstrategien gewidmet. Zu analytischen Zwecken wird dabei zwischen den Quellen neuen Wissens und der Art ihrer Nutzung unterschieden. Der Begriff ‚Lernstrategie‘ bezieht sich dabei darauf, wie bestimmte Quellen erschlossen, genutzt und ggf. kombiniert werden.
Quellen neuen Wissens über ‚Gesicht‘ Ohne dass ich meine Interviewpartner direkt zu den Quellen ihres Wissens über ‚Gesicht‘ befragt hätte, geben sie zumeist Auskunft darüber, worauf sie sich bei bestimmten Wissensinhalten stützen. Dies gilt nicht nur für Beiträge zum Thema ‚Gesicht‘, sondern häufig auch für andere Aussagen über gesellschaftliche, kulturelle und politische Zusammenhänge in Taiwan. Allerdings sind entsprechende Angaben nicht sehr präzise. Vermerkt wird in der Regel lediglich, einen bestimmten Sachverhalt habe man „so mitbekommen“ (z.B. Denise I, 823), von anderen „gehört“ (z.B. Weber II, 746), es selbst „beobachtet“ (z.B. Klaus III, 399), „erfahren“ (z.B. Schneider III, 349) oder man habe davon „gelesen“ (z.B. Beate I, 50). Folgende Aussage von Weber nennt gleich mehrere Quellen neuen Wissens: Das geht los, das gibt verschiedene Quellen, die so im Hotel mit ausliegen, Monatsberichte oder so Heftchen […], die hole ich mir manchmal, da stand jetzt was ganz Interessantes zu den Wahlen auch drin. Wenn man dann doch auch mal aus einem anderen Blickwinkel was mitbekommt. Und sonst Gespräche. Oder eben das eigene Erleben, das Auftreten, wo man sich selber was zusammenreimt. Was richtig sein kann, was falsch sein kann, aber das ist eben das, was bei mir ankommt, sich widerspiegelt. (Weber II, 755:763)
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FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN
Neues Wissen, so ist diesem Beitrag zu entnehmen, stammt dabei sowohl aus schriftlichem Material als auch aus Gesprächen, dem eigenen Erleben und eigenen Schlussfolgerungsprozessen. Im Wesentlichen sind damit alle Quellen angesprochen, die auch in den anderen Interviews thematisiert werden. Im Einzelnen sind dies: – Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren: Insbesondere zur Vorbereitung auf den Aufenthalt werden Reiseführer und andere Bücher über Taiwan gelesen. In Taiwan selbst werden zusätzlich auch (englischsprachige) Tageszeitungen gelesen, Kultur-Ratgeber für China oder Taiwan und von Studenten auch Unterrichtstexte, die sich mit Taiwan beschäftigen. – Eigene Beobachtung und Erfahrung: Ein großer Teil neuen Wissens stammt aus der unmittelbaren Erfahrung im Alltag und bezieht sich auf Aspekte, die dort aufgefallen, beobachtet, erlebt oder erfahren wurden. Dabei resultiert neues Wissen sowohl aus gezielten Beobachtungen als auch aus Situationen, in denen etwas Bestimmtes plötzlich ‚auffällt‘ oder aus impliziten Erfahrungen, die sich im Laufe der Zeit zu bestimmten ‚Eindrücken‘ verdichten. – Gespräche: Sehr häufig entstammen Wissen, Ansichten oder Urteile nicht eigener, unmittelbarer Anschauung oder Erfahrung, sondern den Mitteilungen Dritter. Dabei spielen Gespräche mit Kollegen, Freunden, Nachbarn, Bekannten, Vorgesetzten oder Lehrern eine Rolle. In diese Kategorie fällt auch Wissen aus interkulturellen Trainings6, da auch dieses von den Interviewpartnern mit dem Vermerk eingeleitet wird, man habe es dort ‚gehört‘. – Reflexion, Nachdenken: Zwar setzen auch Eindrücke aus Erlebnissen oder Gesprächen kognitive Verarbeitungsschritte voraus, um schließlich im Interview als Wissen (z.B. über ‚Gesicht‘) mitgeteilt werden zu können, mit ‚Nachdenken‘ ist jedoch ein weiter gehender, eigenständiger Schritt der Erkenntnisgenerierung gemeint, der – u.a. auf der Grundlage von Gehörtem, Gelesenem, Erfahrenem – zu neuen Hypothesen, Schlussfolgerungen und Erklärungen gelangt. Angesprochen ist damit das, was man sich „zusammenreimt“ (Weber I, 761), der Versuch, „diese Situation mir zu entschlüsseln“ (Schneider III, 568) oder auch der oben geschilderte Ansatz von 6 Hierbei zeigt sich ein interessanter Unterschied: Während das Gesagte für Schneider und Holter, die beide in Deutschland ein Training zur Vorbereitung auf den Auslandsaufenthalt absolvieren, und für Stefan, der in Taipei ein interkulturelles Seminar besucht, zutrifft, beschreibt Richard seine Teilnahme an einem Training anders. Als sich für ihn die Gelegenheit zur Teilnahme an einem interkulturellen China-Training ergibt, kann er bereits auf die Erfahrung eines mehrmonatigen Praktikums in Taiwan zurückblicken, das er einige Jahre vor dem jetzigen Aufenthalt absolviert hat. Er beschreibt das im Training Gelernte nicht als etwas, das er dort ‚gehört‘ habe, sondern als relevante Einsichten, die ihm helfen, seine bisherigen Erfahrungen einzuordnen und zu erklären. 285
INTERKULTURELLES LERNEN
Matthias, Hypothesen zu entwickeln, die eine große Bandbreite an Beobachtungen erklären können (vgl. Kapitel 7). Im Großen und Ganzen werden alle diese Quellen, vor allem aber ‚Gespräche‘ und ‚Erfahrung‘ von allen Interviewpartnern erwähnt. Unterschiedlich ist dabei jedoch, welche Quellen im Einzelnen zur Verfügung stehen (dies richtet sich u.a. nach den Sprachkenntnissen, Kontakten und Interessen einer Person), aber auch, wie diese Quellen konkret ‚genutzt‘ werden.
‚Aktive‘ und ‚passive‘ Nutzung von Quellen neuen Wissens Wichtigster Unterschied ist dabei, ob die Sammlung neuer Informationen gezielt und aktiv in Angriff genommen wird oder ob diese durch passive Teilhabe erworben werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch vermeintlich passive Teilhabe Ausdruck einer aktiven Strategie sein kann, die zum Beispiel darin besteht, den Zugang zu einer großen Bandbreite an Situationen überhaupt herzustellen, in denen die Person dann teilhat. Die nachfolgende Einteilung ist daher als grobes analytisches Raster zu verstehen, das den Einzelheiten individueller Lernprozesse nicht in jedem Fall gerecht werden kann. In Bezug auf die oben genannten Quellen ergeben sich folgende verschiedene Zugänge: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren Prinzipiell setzt die Lektüre längerer Texte immer eine aktive Entscheidung voraus, doch kann hier danach unterschieden werden, ob – zum Beispiel in der Hotellobby oder im Unterricht – angebotene Texte gelesen werden oder ob schriftliches Material gezielt gesucht und im Hinblick auf ein bestimmtes Interesse studiert wird. Von meinen Interviewpartnern werden schriftliche Quellen vergleichsweise selten erwähnt (hier macht lediglich Matthias eine Ausnahme). Dies kann angesichts des von mir gewählten Themas ‚Gesicht‘ auch nicht wirklich überraschen, da Bücher zu dem Thema selten sind und es aus Sicht meiner Interviewpartner auch kaum Anlass zu deren Lektüre gegeben hätte. Insofern schriftliche Quellen für das Wissen über ‚kulturelle Unterschiede‘ erwähnt werden, handelt es sich um Reiseführer bzw. Ratgeberbücher zur chinesischen Kultur und Mentalität. Deren Nutzen wird jedoch insgesamt zumeist kritisch beurteilt. Zwar gäben sie eine anschauliche Einführung in die Kultur (Matthias I, 346) und vermittelten Hinweise darauf, wie man sich verhalten solle (Klaus I, 873:877), doch müssten die beschriebenen Sitten und Gebräuche von Ausländern auch nicht unbedingt eingehalten werden (Marion I, 1498:1501). Reiseführer und Kultur-Ratgeber beschrieben Dinge, die in Taiwan nicht beobachtet würden (Stefan I, 1819), seien meistens geschichtlich orientiert und deshalb wenig aussagekräftig für heutige Praktiken in Taiwan (Alain I, 294:297), bauten kulturelle Grenzen eher auf, statt sie zu 286
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reduzieren (Beate I, 57:61) und seien zur Lösung konkreter Probleme nicht geeignet (Marion II, 608:615, ähnlich auch Schneider II, 879:881). In keinem Fall wurde konkretes Wissen über ‚Gesicht‘ damit begründet, dieses habe man in einem Buch gelesen. Eigene Beobachtung und Erfahrung. Die geteilte Praxis, der gelebte Alltag in Taiwan stellt eine wichtige Quelle neuen Wissens über ‚Gesicht‘ und über andere Zusammenhänge dar. Wie weiter oben erwähnt (vgl. Kapitel 6), stammt neues Wissen über ‚Gesicht‘ in erster Linie aus eigener Erfahrung. Interessant ist an dieser Stelle, dass sich in den Interviews unterschiedliche Zugänge zu Beobachtungen im Alltag abzeichnen. Während zumeist bestimmte Dinge im Alltag einfach ‚erlebt‘ werden, zeigt die Analyse der Interviews mit Schneider, dass mitunter gezielt beobachtet wird, wie bestimmte Situationen von Taiwanesen gehandhabt und welche Maßnahmen von ihnen eingesetzt werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (vgl. Kapitel 7). In den Interviews werden folgende ‚Strategien‘ geschildert: Trial and Error Die Wirkung einer bewusst gesetzten Intervention in einer bestimmten Situation wird beobachtet, um hieraus weiter gehende Aussagen (z.B. über die ‚Nützlichkeit‘ der Handlung) abzuleiten. Es werden verschiedene Vorgehensweisen ausprobiert und die erfolgreichen beibehalten. Zum Beispiel: Und oft ist auch vieles so Trial und Error, man versucht halt mal was und dann schaut man mal wie ist die Reaktion und wie erfolgreich ist es. Und manches ist halt einfach nicht so erfolgreich. Aber anderes geht manchmal sehr, sehr schnell, da wundert man sich dann. (Paul I, 773:777)
Gezielte Beobachtung Es wird mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse beobachtet, jedoch ohne die eigenen Handlungen als (in der Folge gezielt variierte) Intervention zu verstehen oder sogar ohne selbst handelnd einzugreifen. Zum Beispiel: Also für mich ist das schon eine wichtige Sache, damit umzugehen, mehr als nur das Hörensagen und vielleicht mal ein Buch zu lesen, sondern dann wirklich ganz gezielt auch bestimmte Sachen zu beobachten und auszuprobieren, was ist wenn so oder so. Dass man sich einfach da auch sicherer bewegen kann auf dem Parkett, wo zurzeit alles fremd ist und man relativ unsicher doch ist, aus welchen Gründen auch immer, ob Sprache, ob Umgebung, ob Anderssein. (Weber I, 1156:1163)
In diese Kategorie fallen auch Beobachtungen von Personen in ‚Vorbildrolle‘, zum Beispiel von Vorgesetzten oder anderen geschätzten Personen mit viel Erfahrung, oder das Abgucken erfolgreicher Konzepte ganzer Firmen:
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INTERKULTURELLES LERNEN Wenn sie erfolgreich sind, kann das Konzept, das sie anwenden, nicht so schlecht sein, und dann kann man sich dieses Konzept durchaus mal angucken. Das ist es durchaus mal wert sich anzugucken. (Schneider III, 583:586)
Ungerichtete Beobachtung mit gesteigerter Aufmerksamkeit Es wird mit einem breiten Erkenntnisinteresse beobachtet, um sich ein ‚Bild‘ von der Situation oder bestimmten Zusammenhängen zu machen. Zum Beispiel: Ich meine, ich habe das in der Uni-Volleyballmannschaft auch so ein bisschen so gesehen mit Hierarchie und Grüppchenbildung und so, aber das ist sehr, sehr interessant, wenn man einfach nur ein bisschen beobachtet und so und die Leute so ein bisschen einschätzt, sich so ein Bild macht von der Aufteilung und wer was zu sagen hat, wer wie ambitioniert ist und so weiter. (Klaus III, 396:401)
Ungerichtete Beobachtung ohne gesteigerte Aufmerksamkeit Bemerkt werden Ereignisse, die ‚auffallen‘ oder plötzlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ereignisse, die nicht besonders auffallen, verdichten sich im Rückblick zu bestimmten ‚Eindrücken‘ oder generalisierten ‚Erfahrungen‘. Zum Beispiel: Und das andere, was mir aufgefallen ist, viele Probleme werden über Vorgesetzte, über hierarchische Kommunikation gelöst. (Matthias II, 900:901) Ja, also wie gesagt, ich habe in China so ein paar Erfahrungen gemacht, dass die sich nicht gerne festlegen lassen wollen, und deshalb habe ich mir einfach überlegt, dass es einfach von vornherein viel besser ist, wenn man ganz unverbindlich fragt. (Klaus I, 1020:1023)
Das von meinen Interviewpartnern genannte Wissen über ‚Gesicht‘ stammt in aller Regel aus dieser Kategorie. Dies reflektiert mit Sicherheit auch den Umstand, dass ‚Gesicht‘ für sie – mit wenigen Ausnahmen – kein subjektiv relevantes Thema ist, das sie durch gezielte Beobachtungen näher erkunden wollen würden. Gespräche Wie bereits erwähnt, sind Gespräche eine wichtige Quelle neuen Wissens über Taiwan, wobei hier mit ‚Gespräch‘ nicht ein spezifisches (Gesprächs-)Format, sondern im weitesten Sinne ‚verbale Kommunikation‘ gemeint ist. Angesprochen sind damit alle Inhalte, von denen Interviewpartner angeben, sie irgendwo ‚gehört‘ zu haben. Die Rolle, die der Austausch mit taiwanesischen Gesprächspartnern dabei spielt, ist weiter oben bereits erörtert worden. An dieser Stelle interessiert jedoch nicht die Unterscheidung von Gesprächspartnern, sondern die Art und Weise, wie Gespräche initiiert werden. Auch hier lassen sich verschiedene ‚Strategien‘ nach Grad ihrer Zielgerichtetheit unterscheiden.
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Auskünfte oder Rat einholen: Nicht nur bei klar umrissenen Fragestellungen, sondern auch bei komplexen Problemen erwähnen Gesprächspartner, dass sie sich Auskünfte oder Rat holen. Hierzu werden kundige Personen aufgesucht, um sich gezielt (wenn auch nicht immer in direkter Formulierung) nach etwas zu erkundigen. Wer als ‚kundig‘ eingestuft wird, richtet sich dabei nach der Art des Problems. So erkundigen sich Matthias und seine Frau zum Beispiel bei taiwanesischen Bekannten, wie sie eine von ihnen vergessene Essenseinladung bei Freunden wieder gutmachen können: Wir haben uns einfach mal ungehört, was macht man dann. Das habe ich auch von anderen noch gehört mit den Geschenken und das haben wir auch dann so gemacht. (Matthias II, 886:889)
Alain bittet seine Freundin um generelle Verhaltenstipps, da er sich im Umgang mit ihrer Familie unsicher fühlt: Weil ich jetzt ja auch häufiger ihre Eltern sehe, insbesondere in der Beziehung habe ich mich damit auseinander gesetzt, und auch ihrer gesamten Familie inzwischen vorgestellt wurde, habe ich mich natürlich so ein bisschen damit... habe ich sie so ein bisschen gefragt, wie man sich verhalten muss in der Art und Weise. Aber da... also direkte Verhaltensregeln hat sie da auch nicht gewusst. (Alain III, 693:699)
Und Schneider nutzt Gespräche mit Geschäftspartnern, um sich indirekt Rat für Fragen der Niederlassungsleitung zu holen: Rat hole ich mir indirekt, zum Beispiel wenn ich taiwanesische Geschäftspartner sehe, die eigene Geschäfte haben, suche ich natürlich schon in Gesprächen... beim Essen stelle ich natürlich schon die eine oder andere Frage: Wie machst du denn das, oder was hast du für Instrumente, zum Beispiel, deine Mitarbeiter zu motivieren, oder was gibt es denn bei dir denn für Probleme? Da habe ich mir natürlich schon Rat geholt, indirekt. Oder habe zum Beispiel auch mal Fälle irgendwie geschildert, das und das und das, ja, was könnte denn die Ursache sein? (Schneider III, 570:578)
Während in diesen Fällen die Initiative jeweils vom Interviewpartner ausgeht, berichten zwei Interviewpartner von vertrauten Personen, die auch ungefragt Feedback beisteuern. Unter Umständen kann das Herstellen entsprechender Beziehungen als ‚Strategie‘ – jedoch nicht in unmittelbar instrumenteller Absicht – interpretiert werden. Paul berichtet: Und da ich zu zwei, drei Leuten doch ein relativ persönliches Verhältnis habe, die sagen mir das dann auch mal, wenn ich was falsch gemacht habe. (Paul I, 129:131)
Wenn das Verhältnis zum Ratgeber enger ist, können auch persönliche Themen angesprochen werden, wie etwa im folgenden Beispiel die Sorge, dass das Flirtverhalten (hier: von Julian) bei taiwanesischen Mädchen zu Missverständnissen führen könnte: Es ist natürlich schon so, dass wir ein wie gesagt ein freundschaftliches Verhältnis haben, und zumal sie auch weiß, dass ich an sich nicht darauf aus bin, jetzt hier eine 289
INTERKULTURELLES LERNEN Freundin zu suchen, und sie aber auch weiß, dass ich vom Verhalten schon recht flirtfreudig bin. Ja, sie meinte wohl, dass ich auch viele von diesen körpersprachlichen Signalen habe, die dann falsch ankommen könnten. Ich finde es gut, dass sie es mir gesagt hat, ich war ihr dafür auch irgendwo dankbar. (Julian I, 501:508)
Gespräche mit ‚allgemein kundigen‘ Gesprächspartnern suchen Nicht immer gibt es bestimmte Fragen, die in einem Gespräch geklärt werden sollen. In der Regel ist das Erkenntnisinteresse umfassender, besteht Offenheit für eine große Bandbreite interessanter Themen. Auch hier jedoch werden kundige Gesprächspartner gesucht, bestehen Freundschaften gerade auch aufgrund der Möglichkeit, ‚tiefe‘ und interessante Gespräche führen zu können. Die Bedeutung von Gesprächen für das Lernen über Taiwan wurde in Bezug auf die Rolle chinesischer Sprachkenntnisse bereits erörtert. Die Suche entsprechender Gesprächspartner kann in dieser Hinsicht auch als aktive ‚Lernstrategie‘ gedeutet werden. Sich ergebende Gespräche mit Gesprächspartnern des Umfeldes oder mit zufälligen Gesprächspartnern Sehr häufig entstammen Gesprächspartner dem unmittelbaren Arbeitsoder Studienumfeld. Vieles, was meine Gesprächspartner über ‚Gesicht‘ berichten, haben sie in diesem Umfeld ‚aufgeschnappt‘ oder ‚gehört‘. Zwei Beispiele stammen von Stefan und Weber: Aber ganz interessant, was ich auch gehört habe: Da sie halt angeblich so bestrebt sind, ihr Gesicht nicht zu verlieren und sich nicht so aufregen, dass, wenn sie sich denn mal aufregen, was vielleicht seltener ist als bei uns, sich aber dann richtig aufregen. Und dann auch richtig ungeordnet oder zu Gewaltakten neigen. (Stefan I, 1206:1211) Es ist auf jeden Fall was dran an dem Ganzen. Man hört es aus Gesprächen manchmal raus, mit Kollegen, die länger hier sind, aber nie konkret, nie konkret. (Weber II, 905:907)
Diese beiden Bemerkungen verdeutlichen auch, dass auf diesem Wege Gehörtes häufig nicht als besonders nützlich oder vertrauenswürdig eingeschätzt wird. Wie bereits weiter oben (Kapitel 6) erwähnt, bedarf Gehörtes des ‚Beweises‘ durch selbst Erlebtes, damit es als hinreichend gesichertes Wissen in das Strukturbild aufgenommen wird. Zufälliges Mithören der Gespräche Dritter Im Alltag bieten sich auch zahlreiche Gelegenheiten, Gespräche anderer mitzuhören (z.B. auf der Straße, am Arbeitsplatz, in Gesprächsrunden). Das Mithören wird jedoch nicht unbedingt angestrebt und kann bisweilen einfach nur nicht vermieden werden. Entsprechend kann dieser Zugang zu gehörten Informationen als ‚passiv‘ bewertet werden.
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Reflexion Reflexion und Nachdenken im hier gemeinten Sinne sind per Definition an bewusstes Bemühen geknüpft. Wie oben erwähnt, ist hiermit gemeint, sich durch Überlegen eine „Situation zu entschlüsseln“ (Schneider III, 568) oder Erklärungen für bestimmte Zusammenhänge zu finden. Schneider und Matthias berichten nicht nur davon, sich Zusammenhänge durch Nachdenken zu erschließen, sondern hier zeigt sich auch, dass das gezielte Sammeln von Informationen durch Beobachtung, Gespräche oder Lektüre erst auf der Grundlage eines bestimmten Erkenntnisinteresses bzw. einer bestimmten ‚Hypothese‘ möglich ist, mithin Nachdenken voraussetzt. Auf der Grundlage der Interviews kann jedoch nicht beurteilt werden, ob diese Strategie von anderen Interviewpartnern seltener eingesetzt wird oder ob sie von ihnen nur seltener berichtet wird.
Schlussfolgerung Die hier vorgestellten verschiedenen Zugänge zu neuem Wissen sind das Ergebnis einer qualitativen Textanalyse der vorliegenden Interviews. Diese zeigt eine große Bandbreite erwähnter Quellen und Lernstrategien auf, die – wie oben versucht – in eine bestimmte systematische Ordnung gebracht werden können. Die oben getroffene Aussage, dass neue Inhalte der Strukturbilder erfahrungsnah seien, kann nun um die Erkenntnis ergänzt werden, dass es sich bei diesen Erfahrungen zumeist um beiläufig Erfahrenes und Gehörtes handelt und nur selten um systematisch Beobachtetes oder Erfragtes. Dies ist lediglich in der Vorbereitungsphase vor dem Umzug nach Taiwan anders, während der auch gezielt über Taiwan gelesen wird. Die Einzelfallanalysen von Schneider und Matthias zeigen, dass aktive Informationssuche durch Gespräche und Beobachtungen sowie bewusste Reflexion wichtige Lerneffekte zur Folge haben. Eine Bewertung der Effektivität bestimmter Lernstrategien ist auf der Basis der vorliegenden Daten aufgrund der folgenden drei Umstände jedoch nicht möglich: a) Die Interviewtranskripte lassen nicht mit Sicherheit bei jeder Person erkennen, welche Lernstrategien sie verwendet. b) Auf der Grundlage der verfügbaren Datenbasis kann nicht nachvollzogen werden, ob und inwiefern Personen mit Situationen konfrontiert sind, in denen ‚Gesicht‘ bedeutsam ist. Ausmaß und Art der Konfrontation mit gesichtsrelevanten Ereignissen im Alltag stellen jedoch eine bedeutsame intervenierende Variable dar, deren Einfluss abwägbar sein müsste, um Aussagen über die Wirkung bestimmter Lernstrategien treffen zu können. c) Quellen neuen Wissens werden nicht immer explizit mit Bezug auf ‚Gesicht‘ genannt und werden daher möglicherweise zwar in anderen Bereichen, nicht jedoch für das Lernen über ‚Gesicht‘ herangezogen.
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INTERKULTURELLES LERNEN
Bewusstheit (‚Awareness‘) für ‚Gesicht‘ Die Frage, ob Lernen über ‚Gesicht‘ einem bestimmten Ablauf folgt, ist bereits in der Darstellung der Strukturbildanalyse thematisiert worden. Die Analyse der zu den jeweiligen Untersuchungszeitpunkten genannten Inhalte der Strukturbilder ergab bestimmte Veränderungen der Themen (die verstärkte Berücksichtigung des Machtaspektes) sowie Veränderungen der Bewertungen (hin zu negativeren Einschätzungen). Damit ist der Verlauf des Lernprozesses aus inhaltlicher Sicht bereits beschrieben worden. Lernen über ‚Gesicht‘ betrifft jedoch zusätzlich auch das Erkennen von ‚Gesicht‘ im Alltag (‚Awareness‘). Sowohl das Erkennen von als auch das Wissen über ‚Gesicht‘ sind Komponenten des kognitiven Lernprozesses.
‚Gesicht‘ im Alltag erkennen In Anbetracht der Tatsache, dass neue Inhalte erfahrungsnah sind, ist es für das Lernen über ‚Gesicht‘ entscheidend, dass gesichtsrelevante Phänomene im Handlungsfeld der betreffenden Person vorkommen und dass sie als solche erkannt werden. Während Ersteres aufgrund fehlender externer Datenquellen nicht beurteilt werden kann, können aus den Interviews dennoch Schlussfolgerungen darüber gezogen werden, ob und inwiefern ‚Gesicht‘ überhaupt als relevantes Phänomen erkannt wird. Eine Zusammenstellung entsprechender Interviewaussagen7 verdeutlicht, dass sich die Einschätzungen dabei im Laufe der Zeit verändern. In etlichen Fällen wird die Bedeutung von ‚Gesicht‘ im Laufe des Aufenthalts für den Interviewpartner zunehmend deutlich. In einem Fall (Holter) wird die anfänglich für möglich gehaltene Bedeutung im Laufe der Zeit zurückgewiesen. Interviewaussagen folgen meistens auf meine Frage danach, ob der Interviewpartner „schon einmal eine Situation erlebt habe, in der Gesicht eine Rolle gespielt habe“, bzw. auf die Frage nach der Einschätzung, ob „Gesicht in Taiwan eine Rolle spiele“. Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, verändern sich die entsprechenden Einschätzungen im Verlauf der Untersuchung zum Teil erheblich. Während für Stefan ‚Gesicht‘ anfänglich oft noch kaum „erkennbar“ ist und im Alltag nicht weiter „auffällt“, stellt sich die Situation zum Zeitpunkt des letzten Interviews deutlich anders dar. Zu den drei Interviewzeitpunkten äußert er sich wie folgt:
7 Nicht alle Interviewpartner liefern zu allen Interviewzeitpunkten entsprechende Einschätzungen. Die hier vorgestellten Ergebnisse beruhen auf den Interviewaussagen von Schneider, Stefan, Marion, Klaus, Denise, Richard, Holter, Weber, Alain, Paul, Matthias und Alice 292
FALLVERGLEICHENDE ANALYSEN Also, auch da kann ich nicht sagen, dass mir das jetzt hier besonders aufgefallen wäre. Also... Gesicht wahren... (Stefan I, 1026:1027) Gesicht... also wie gesagt, Gesicht ist für mich nicht so erkennbar, das Thema. (Stefan II, 1318:1319) Aber wenn ich vielleicht vor einem Jahr oder einem halben Jahr gesagt hätte, „nee, das ist kein Gesicht“, doch, das ist Gesicht. Weil ich einfach zu viel jetzt, oder sehr vieles in der Richtung gesehen habe. (Stefan III, 1460:1463)
Auch für Klaus entwickelt sich ‚Gesicht‘ von einem „unterschwelligen“ 8 Thema zu konkreter, benennbarer und gelebter Alltagspraxis. Die nachfolgenden Äußerungen entstammen den drei Interviews und sind in ebenfalls zeitlicher Reihenfolge wiedergegeben: Ich glaube so unterschwellig ist das immer vorhanden, zum einen dass sie sich, wie gesagt, wenn man sie als Kontaktpersonen gefunden hat, dann auch gut um einen kümmern. Und dass sie, falls man irgendwie was fragt, lieber unverbindlich antworten mit vielleicht oder so, als zu sagen, nein, das geht nicht, weil das die Richtlinien nicht erlauben oder wie auch immer, sondern lieber, ja, mmh, mal gucken, weil sie dann nicht zu direkt antworten wollen. (Klaus I, 806:813) Also, so unterschwellig bekommt man das häufiger mit oder so. Meistens dann, wenn irgendwas passiert ist oder so. Manchmal sagen sie es auch, Gesicht verloren oder so. Also, das bekommt man schon häufiger so mit, doch auf jeden Fall. Gerade auch, weil ich viel zusammen bin mit Taiwanesen. (Klaus II, 407:411) Ja, also ich meine, wie gesagt, ich meine, das begegnet einem ja tagtäglich mehr oder weniger. Mein jetziger Lehrer, der sagt das ab und zu mei you mianzi oder gei ni mianzi oder sonst irgendwas. Diu lian hört man auch alle naselang oder so. Aber wie gesagt, mittlerweile kann ich das auch immer besser einschätzen, in welchen Situationen das dann so vorkommen kann oder so. Und dann weiß man auch, wie man am besten so reagiert. (Klaus III, 461:467)
Ähnlich äußert sich auch Schneider, der – wiederum in zeitlicher Reihenfolge der Interviews – folgende Einschätzungen vornimmt: I: Sind Sie schon mal hier in einer Situation gewesen, wo Sie das Gefühl hatten, da hat irgendwie das Gesicht eines der Beteiligten eine Rolle gespielt? S: Ehrlich gesagt, nein. Wobei da natürlich vielleicht auch das Kommunikationsproblem eine Rolle spielt, weil, ich muss sagen, in bestimmten Situationen wird dann gewechselt in Chinesisch. Oder man bespricht dann bestimmte Dinge in Chinesisch. Kann ich nicht sagen, was passiert da. Wenn ich nachfrage, ich habe da schon manchmal das Gefühl, dass es da ein Problem gibt, aber wenn ich nachfrage, sagt man, das ist so und so, da kommt eine ganz simple Erklärung dann meistens von meinem Manager. Also ich kann nicht sagen, dass ich das Gefühl hatte, dass da jemand das Gesicht verloren hat, aber ich kann es auch nicht ausschließen. (Schneider I, 1193:1211) I: Sind Sie noch mal in einer Situation gewesen, wo sie gedacht haben irgendwie, da spielt das Gesicht eine Rolle? S: (Kurze Pause) Nein, wirklich nicht. Ich habe ver8 Auch Weber und Paul wählen die Begriffe „unterschwellig“ bzw. „unbewusst“ zur Einschätzung der Bedeutung von ‚Gesicht‘. 293
INTERKULTURELLES LERNEN mutlich auch zu wenige Kontakte da, um das wirklich sagen zu können. Und die Kontakte, die ich habe, spielt es wirklich... überhaupt nicht. … wirklich nichts Konkretes, was mir dazu einfällt, Gesicht. (Schneider II, 941:952) Na ja, gut, das Thema Gesicht begegnet einem eigentlich tagtäglich hier. (Schneider III, 740:741)
Eine Übersicht über alle entsprechenden Interviewpassagen zeigt folgende ‚Stufen‘ der Wahrnehmung von ‚Gesicht‘ im taiwanesischen Alltag 9: – Stufe 1: ‚Gesicht‘ wird nicht wahrgenommen; – Stufe 2: Empfindung „Gesicht ist da“, ist „unterschwellig“ vorhanden, kann jedoch nicht konkret benannt werden; – Stufe 3: ‚Gesicht‘ ist allgegenwärtig und wird ‚automatisch‘ berücksichtigt; zahllose Beispiele können benannt werden. Die Einschätzung, ‚Gesicht‘ sei allgegenwärtiges Prinzip, kommt dabei nicht nur in den diesbezüglichen Aussagen meiner Interviewpartner zum Ausdruck, sondern auch in der Art und Weise, wie der Begriff ‚Gesicht‘ nun sprachlich verwendet wird. Wie im Falle Stefans wird ‚Gesicht‘ nun selbstverständlicher Teil des eigenen Vokabulars; die Person hat sich den Begriff nicht nur konzeptuell, sondern auch sprachlich anverwandelt (vgl. Stefan, Kapitel 7). Ergeben sich bei Interviewpartnern Veränderungen der Einschätzung, so folgen diese ausnahmslos dem genannten Muster (von Stufe 1 über 2 zu 3); in keinem Fall verläuft die Entwicklung in anderer Abfolge. Jedoch unterscheiden sich die Untersuchungsteilnehmer darin, zu welchen Interviewzeitpunkten sie welche Einschätzung vornehmen und ob sich ihre Einschätzung über die Zeit verändert. Zu jedem Untersuchungszeitpunkt sind – über alle Interviews hinweg – alle Stufen vertreten. Einige Beispiele: – Richard benennt schon im ersten Interview ‚Gesicht‘ als allgegenwärtiges Prinzip, das er mit zahlreichen Beispielen anreichert. Dies ist auch in den folgenden beiden Interviews der Fall. – Weber äußert sich in allen drei Interviews unsicher und empfindet Gesicht „unterschwellig“ (Weber II, 899 und Weber III, 1008). – Marion erkennt ‚Gesicht‘ zunächst nicht, vermutet es zum letzten Interviewzeitpunkt aber in zahlreichen Kleinigkeiten
9 Der Begriff ‚Stufe‘ wird hier gewählt, um kenntlich zu machen, dass es sich bei den interpretativen Konstrukten um jeweils distinkte Kategorien handelt, die in einer logischen Abfolge zueinander stehen, die zudem durch die empirischen Daten gestützt ist. Mit der Wahl des Begriffs ist jedoch keine Annnahme darüber verbunden, wie der Wechsel von einer ‚Stufe‘ zur nächsten abläuft. Da es sich bei den hier beschriebenen ‚Stufen‘ um Konstrukte, nicht um empirische Realitäten handelt, ist es durchaus möglich, dass das Erkennen von ‚Gesicht‘ ein kontinuierlicher Prozess ist. Insofern dieser jedoch zu verschiedenen Zeitpunkten distinkte Qualitäten aufweist, kann er in einem Stufenmodell abgebildet werden. 294
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– Stefan und Schneider nehmen Gesicht anfänglich nicht wahr, betonen zum Zeitpunkt des letzten Interviews jedoch, ‚Gesicht‘ begegne einem eigentlich „tagtäglich“. – Holter erkennt bis zum letzten Interviewzeitpunkt keine konkrete Bedeutung von ‚Gesicht‘. Er urteilt: „Also ehrlich gesagt, ich kann mit diesem Gesicht nicht so viel anfangen. Je länger ich mich damit beschäftige… Ich meine am Anfang hatte ich vielleicht eine Vorstellung, aber ich finde dieses Gesicht nicht… das habe ich beim letzten Mal schon gesagt, dass ich das nicht so einsortieren kann“ (Holter III, 224:228).
Schlussfolgerung Der Zusammenhang zwischen der Einschätzung der Bedeutung von ‚Gesicht‘ und Inhalt sowie Komplexität der Strukturbilder ist uneinheitlich. Zwar geht im Extremfall die Wahrnehmung, dass Gesicht keine Rolle spiele, mit einer geringen Zahl an Ergänzungen im Strukturbild einher (z.B. Holter). Überraschend ist jedoch, dass selbst Interviewpartner, die Gesicht in Taiwan nicht ‚erkennen‘, dennoch elaborierte Strukturbilder zum Thema erstellen, die in einer Fülle eigener Erfahrungen gründen. Bleibt ‚Gesicht‘ nach Einschätzung des Interviewpartners „unterschwellig“, so sind jedoch die genannten Inhalte tendenziell beispielhaft, weniger abstrakt und weniger integriert. Da allerdings nicht alle Interviewpartner zu jedem Interviewzeitpunkt Einschätzungen über die Bedeutung von ‚Gesicht‘ im taiwanesischen Alltag abgeben, ist die Datenbasis für einen Vergleich hier nicht ausreichend. Und selbst wenn Einschätzungen vorgenommen werden, differenzieren diese nicht nach den unterschiedenen Themenfeldern von ‚Gesicht‘ (z.B. ‚Gesicht verlieren‘, ‚Gesicht geben‘). Eine allgemeine Einschätzung, ‚Gesicht‘ sei allgegenwärtiges Prinzip, bedeutet noch nicht, dass ‚Gesicht‘ in allen seinen Facetten erkannt wird. Erst auf der Grundlage einer solchen Differenzierung ließen sich jedoch Zusammenhänge zu Lerneffekten in einzelnen Themenfeldern überzeugend herstellen. Die Aussagen über die Relevanz von ‚Gesicht‘ im Alltag erlauben jedoch noch einen weiteren Schluss. Sie demonstrieren, dass die Aussage, ‚Gesicht‘ spiele keine erkennbare Rolle, nicht automatisch bedeutet, dass dies tatsächlich der Fall ist. Im Rückblick erkennt Stefan, dass bestimmte Situationen durchaus mit ‚Gesicht‘ in Verbindung gebracht werden können, auch wenn er dies früher nicht so gesehen habe. Gerade die Aussagen von Stefan zeigen, dass die Aneignung des Konzepts ‚Gesicht‘ Alltagserfahrungen neu strukturiert und mit neuer Bedeutung versieht, obwohl sich an den objektiven Zuständen nichts geändert hat. Dies bedeutet, dass auch in anderen Fällen die Aussage, ‚Gesicht‘ komme nicht vor, sich durchaus aus Sicht anderer Personen (z.B. einer Forscherin) als unzutreffend darstellen mag. Aus den Äußerungen des Interviewpartners allein kann also nicht gefolgert werden, ob ‚Ge295
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sicht‘ in seinem Alltag tatsächlich nicht vorkommt oder ob es sich bei dieser Aussage aus Beobachtersicht lediglich um mangelnde ‚Awareness‘ für das Phänomen handelt. Demgegenüber wäre der Schluss, es handele sich in jedem Fall um mangelnde Bewusstheit für ‚Gesicht‘, ebenso falsch. Es ist durchaus möglich, dass in bestimmten Arbeits- und Lebenszusammenhängen ‚Gesicht‘ keine Rolle spielt, auch wenn dies aufgrund der Arbeiten chinesischer und taiwanesischer Autoren zum Thema wenig wahrscheinlich erscheint (vgl. Kapitel 3 „Gesicht“).
Der Einfluss der Untersuchung Im Hinblick auf ein Verständnis der hier beobachteten Lernprozesse ist eine wichtige Frage schließlich die, welchen Einfluss die Teilnahme an der Untersuchung auf das Erleben und die Berichte der Interviewpartner hatte. Sicherlich blieben die Untersuchungsteilnehmer von der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und der methodischen Durchführung in ihrem Erleben und Handeln nicht unberührt. So postulierte meine Studie nicht nur, dass ‚Gesicht‘ ein in Taiwan relevantes Thema sei, sondern beinhaltete auch die Annahme, dass die Untersuchungsteilnehmer zum jeweils nachfolgenden Interviewzeitpunkt Neues über dieses Thema würden berichten können. Unter diesen Umständen ist es durchaus möglich, dass Untersuchungsteilnehmer dem Thema ‚Gesicht‘ im Alltag besondere Aufmerksamkeit und Lernanstrengungen widmeten. Bilden also die durch die Strukturbilder dokumentierten Lernprozesse nicht spontanes, sondern angeleitetes Lernen ab? Die Analyse der Interviewtranskripte legt nahe, dass die Teilnahme zu einem unspezifischen Sensibilisierungseffekt führt und zu gewissen Lerneffekten durch das Strukturlegen. Darüber hinaus scheint die Teilnahme an der Untersuchung keinen bedeutsamen Einfluss auf den Lernprozess gehabt zu haben.
Sensibilisierung für ‚Gesicht‘ Von einigen Interviewpartnern wird der Einfluss der Untersuchung explizit thematisiert. Typisch ist dabei die Einschätzung, die Teilnahme an der Studie habe für das Thema ‚Gesicht‘ sensibilisiert, so dass entsprechende Phänomene im Alltag eher auffielen. Richard kommentiert: Das beschäftigt einen dann vielleicht im Unterbewusstsein dann doch hin und wieder noch mal, aber nicht so richtig aktiv. Und man beobachtet halt aus einer anderen Perspektive, weil man mal drüber geredet hat. Man sieht halt vielleicht mehr Dinge, weil man drüber geredet hat, weil man sensibilisiert ist. Aber eben dann doch nicht so aktiv oder so extrem, dass ich darüber nachgedacht hätte. Dass einem Dinge natürlich, wie gesagt, dann auffallen, die einem vielleicht nicht aufgefallen wären, hätte man davon nichts gehört oder hätte man eben nicht dieses Interview gehabt, das ist klar. (Richard III, 314:323) 296
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Auch Denise und Alain beobachten, dass sie „unbewusst“ mehr auf ‚Gesicht‘ achten: Ich muss sagen, dadurch dass ich die Interviews immer mit dir gemacht habe, habe ich dann doch schon mehr darauf unbewusst auch geachtet, ja face, face, face. Also so bestimmte Situationen, wo ich mir gedacht habe, ja, alles klar. (Denise III, 1090:1093) Ja, wie gesagt, die gesamte Zeit als ich mit der Familie meiner Freundin zusammen war. Ich habe immer an dich gedacht (Lachen), wirklich so ein bisschen so im Unterbewusstsein, so überlegt, „so, was machst du jetzt?“ (Alain II, 885:888)
Die Teilnahme an der Untersuchung hat jedoch nicht nur auf das Erleben des Alltags einen Einfluss. Auch die Interviewsituation selbst stellt eine Lernsituation dar, in der durch bewusste Reflexion erst bestimmte Zusammenhänge deutlich werden. Im Falle Webers ist es gerade die Hoffnung auf solche Lerneffekte, die ihn überhaupt zur Teilnahme an der Studie motiviert hat: Nee, das hat mich in unserem ersten Gespräch ja auch dazu bewogen, dass wir uns heute hier treffen, dass ich eben dort mehr erfahren will von der ganzen Sache. Und sagen wir mal, schon das Gespräch heute, diese Beschäftigung mit dem Thema, so dass man sich eben eine Stunde da hinsetzt und darüber spricht, hilft einem ja auch schon auf wieder die Sprünge, bestimmte Gedankengänge, die dann einfach freigelegt werden oder bestimmte Situationen, die dann wiederkommen. (Weber I, 1148:1155)
Am Ende des ersten Interviews hat sich für Weber diese Hoffnung auch erfüllt. Erst im Interview hat er von dem Konzept ‚Gesicht geben‘ erfahren und nimmt sich vor, nun im Alltag verstärkt auf diesen Aspekt zu achten: Gerade Gesicht geben, das habe ich bisher noch gar nicht gesehen, das werde ich mir ein bisschen mit anschauen. (Weber I, 1192:1193)
Auch Matthias sieht die Teilnahme an der Studie als Lerngelegenheit. Angeregt durch das erste Interview ist für ihn die Frage nach ‚Gesicht‘ zu einem eigenen, latenten „Forschungsvorhaben“ geworden, das er beständig vorantreibt: Ich habe das ja eben schon mal erzählt, als das noch aus war hier, es ist halt wirklich, ich achte jetzt viel stärker darauf. Also wenn ich irgendwas höre, dann denke ich schon vielleicht auch stärker, was kann ich beim nächsten Interview, was kann ich dazulernen. […] Insofern ist es ein Anreiz, selbst auch zu lernen. Und da auch weiter nachzuforschen, das ist wie ein latentes Forschungsvorhaben, was im Hinterkopf immer weiter getrieben wird. (Matthias II, 854:864)
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Andere Einflüsse Die Teilnahme an der Untersuchung lässt keine weiteren Einflüsse, etwa auf die Aneignung bestimmter neuer Wissensinhalte, auf die Wahl bestimmter Lernstrategien oder das Wahrnehmen von ‚Gesicht‘ im Alltag, erkennen. Selbst das explizite Bekunden der Absicht, sich ‚Gesicht‘ nun genauer anschauen zu wollen, führt nicht erkennbar zur Wahl aktiverer Lernstrategien. ‚Gesicht‘, so scheint es, besitzt für viele Interviewpartner im Alltag nicht genügend Relevanz, um aufwändigere Formen der Informationsgewinnung (z.B. das Befragen Dritter, die Suche nach Büchern, gezielte Beobachtungen) anzustoßen. Diese Interpretation wird auch dadurch gestützt, dass – wie oben beschrieben – ‚Gesicht‘ für einige Interviewpartner auch nach längerem Aufenthalt in Taiwan und trotz Teilnahme an der Untersuchung nicht ‚erkennbar‘ ist. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Teilnahme hier das Erkennen beschleunigt, jedoch stellt sich dieses auf keinen Fall allein aufgrund der Tatsache ein, dass meine Studie die Relevanz von ‚Gesicht‘ behauptet. Das Gewicht eigener Erfahrung entpuppt sich als bedeutsamer als die durch meine Studie aufgestellte Behauptung und ist durch ‚Sensibilisierung‘ allein noch nicht hergestellt. Auch der Umstand, dass das Erstellen der Strukturbilder vertiefte Reflexion und Hypothesenbildung erfordert, verhilft nicht erkennbar zu einer Beschleunigung des Erkennens von oder Wissens über ‚Gesicht‘. Einzelne Teilnehmer erstellen ein Strukturbild über ‚Gesicht‘ und berichten dennoch im nachfolgenden Interview, dieses Thema sei für sie im Alltag nicht sichtbar. Zwar können Strukturlegesitzungen im Sinne der obigen Einteilung als aktive Lernstrategie klassifiziert werden, und sicherlich werden durch das Strukturlegen erst bestimmte Überlegungen angeregt und Zusammenhänge deutlich; von meinen Gesprächspartnern werden die Strukturlegesitzungen jedoch nicht als Lerngelegenheit thematisiert, so dass nicht klar ist, welchen Beitrag sie zum Lernprozess geleistet haben.
Schlussfolgerung Es kann davon ausgegangen werden, dass die Teilnahme an der Studie für das Thema ‚Gesicht‘ sensibilisiert, wodurch die Aufmerksamkeit für gesichtsrelevante Situationen im Alltag steigt. Da dies mehr oder weniger für alle Teilnehmer zutreffen dürfte, sind Unterschiede der Strukturbilder nicht auf diesen Sensibilisierungseffekt zurückzuführen. Der Anteil der geschilderten Sensibilisierung am Lernprozess ist aufgrund der verfügbaren Daten nicht abschätzbar. Auffällig ist jedoch, dass die Sensibilisierung allein nicht dazu führt, dass ‚Gesicht‘ im Alltag erkannt und inhaltlich beschrieben werden kann. Der Sensibilisierungseffekt wiegt also nicht andere, wirkungsvollere Einflüsse auf das Lernen über Gesicht auf, nämlich die im Alltag gemachten Erfahrungen und
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den durch individuelle ‚Themen‘ (siehe Kapitel 7 „Einzelfallanalysen“) vorstrukturierten Zugang zu Erfahrungen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Ziel dieses Kapitels war es, mögliche Einflussfaktoren auf das Lernen über ‚Gesicht‘ fallübergreifend zu untersuchen. Dabei wurden die Rolle chinesischer Sprachkenntnisse, die angewandten Lernstrategien sowie der Prozess des zunehmenden Erkennens von ‚Gesicht‘ näher beschrieben und mit Charakteristika der Strukturbilder in Zusammenhang gebracht. Schließlich wurde thematisiert, welchen Einfluss die Teilnahme an der Studie auf die in den Strukturbildern festgehaltenen Lernprozesse hat. Die Ergebnisse bestätigen den Befund der Einzelfallanalysen, nach dem der Erwerb von Wissen über ‚Gesicht‘ unabhängig von chinesischen Sprachkenntnissen möglich ist. Es zeigte sich, dass chinesische Sprachkenntnisse zur Informationsvermittlung in Alltag und am Arbeitsplatz weitgehend entbehrlich sind, da Englisch in der Regel zur Verständigung ausreicht. Jedoch erfüllen chinesische Sprachkenntnisse zusätzliche Funktionen, die nicht ohne weiteres durch Englisch ersetzt werden können. Insbesondere erleichtern chinesische Sprachkenntnisse das Herstellen emotional zufrieden stellender Kontakte, ermöglichen das Gefühl der Zugehörigkeit zur taiwanesischen Gesellschaft und erleichtern den Zugang zu Informationen über gesellschaftliche und politische Zusammenhänge in Taiwan. Aus diesen Gründen erleichtern es chinesische Sprachkenntnisse, sich in Taiwan wohl zu fühlen. Dementsprechend stehen chinesische Sprachkenntnisse zwar nicht im Zusammenhang mit Inhalten und Umfang des Wissens über ‚Gesicht‘, wohl aber mit der sich in den Strukturbildern abzeichnenden positiven oder negativen Einschätzung von ‚Gesicht‘ und Taiwan im Allgemeinen. Unabhängig von den Sprachkenntnissen oder dem Aufenthaltszweck der Teilnehmer nutzen alle prinzipiell vier Quellen, um neues Wissen über ‚Gesicht‘ oder andere Themen zu erlangen: Texte, Beobachtung und Erfahrung, verbale Kommunikation und Nachdenken. In der Nutzung dieser Quellen lassen sich jedoch aktive von passiven Strategien unterscheiden, wobei deutlich wurde, dass aktive Strategien seltener genutzt werden als passive. Das in den Strukturbildern festgehaltene Wissen über ‚Gesicht‘ stammt demnach überwiegend aus beiläufigem Erleben und Beobachten. Ein wesentlicher Bestandteil des Lernens über ‚Gesicht‘ besteht in dem zunehmenden Erkennen von ‚Gesicht‘ im Alltag. Die Transkriptanalyse ergibt drei diesbezügliche ‚Stufen‘, die stets eine bestimmte Abfolge aufweisen, im Untersuchungszeitraum jedoch nicht von allen Interviewpartnern durchlaufen werden. Wird – auf der ersten Stufe – ‚Gesicht‘ zunächst nicht erkannt, so be299
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schreibt die zweite Stufe das Gefühl, ‚Gesicht‘ sei ‚unterschwellig‘ vorhanden. Die dritte Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass ‚Gesicht‘ als allgegenwärtiges Prinzip sozialen Handelns in Taiwan erkannt wird, wofür auch eine Reihe konkreter Beispiele angeführt werden können. Untersuchungsteilnehmer, die ‚Gesicht‘ im Alltag nicht konkret erkennen und benennen können, erstellen zwar mitunter umfangreiche Strukturbilder, jedoch bleiben die Inhalte teilweise isoliert und beispielhaft. Da die Teilnahme an der Studie ein spezifisches Thema und bestimmte Methoden vorgab, war zu erwarten, dass allein die Teilnahme an der Untersuchung einen Einfluss auf den Ablauf des Lernprozesses haben würde. Überraschenderweise legt die Transkriptanalyse nahe, dass sich dieser auf einen unspezifischen Sensibilisierungseffekt beschränkt, der jedoch nicht ausreicht, um bestimmte Lernhemmnisse zu überwinden. Als wichtigste Einflussfaktoren für das Lernen über ‚Gesicht‘ entpuppen sich mithin die Erfahrungsangebote der Umwelt sowie individuelle ‚Themen‘ (vgl. Kapitel 7), die die Wahrnehmung dieser Umwelt lenken und vorstrukturieren.
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9. D I S K U S S I O N Die Ergebnisse der empirischen Längsschnittstudie sind in den vorherigen drei Kapiteln unter jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung vorgestellt worden. In diesem Kapitel sollen diese Ergebnisse integriert und kritisch diskutiert werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welchen Beitrag diese Arbeit zum Verständnis informellen ‚interkulturellen‘ Lernens im Ausland leisten kann. Hierzu werden unter anderem die in den ersten Kapiteln identifizierten Fragestellungen aufgegriffen und unter Einbezug der hier gewonnenen Ergebnisse erneut betrachtet. Die Gliederung der Teilabschnitte richtet sich nach den verschiedenen Zielsetzungen dieses Kapitels: – Zunächst wird diskutiert, welchen Beitrag die gewonnenen Ergebnisse für die Beantwortung der gewählten Forschungsfrage leisten können. Hierzu werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengetragen und Beschränkungen der Arbeit sowie weiterer Forschungsbedarf identifiziert. – Die Forschungsergebnisse werden sodann zu den eingangs referierten wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere mit den dort vorgestellten Modellen interkulturellen Lernens in Bezug gesetzt. Gefragt wird, ob und inwiefern sich die dort formulierten Befunde durch die Ergebnisse dieser Arbeit bestätigen, ergänzen oder differenzieren lassen. – Schließlich werden die praktischen Konsequenzen der hier gefundenen Ergebnisse erörtert. Welche Empfehlungen lassen sich für Personen ableiten, die daran interessiert sind, während eines Auslandsaufenthalts möglichst viel Neues zu lernen? Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Lernprozess durch interkulturelle Trainings oder interkulturelles Coaching zu unterstützen?
Ergebnisse und Kritik der empirischen Längsschnittstudie Ausgangspunkt der Arbeit war die Frage nach Art und Verlauf informellen ‚interkulturellen‘ Lernens während längerer Auslandsaufenthalte. Die Forschungsfrage wurde sodann präzisiert und lautete: Welche Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ entwickeln deutsche Studenten und Manager während ihres ersten Aufenthaltsjahres in Taiwan, und wie verändern sich die in Strukturbildern festgehaltenen Alltagstheorien über drei Messzeitpunkte hinweg? Diese Frage schloss das Anliegen, Bedingungen und moderierende Faktoren dieser
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Veränderungen bestimmen zu können, mit ein. Eine Analyse der durch die Untersuchung gewonnenen Daten ergab: – Alle Untersuchungspartner berichten bereits zum ersten Untersuchungszeitpunkt Alltagstheorien über ‚Gesicht‘, die sie im Laufe der Zeit ausbauen. Da im Rahmen dieser Arbeit Veränderungen der Strukturbilder als Ausdruck von Lernen interpretiert werden, lässt sich festhalten, dass gemäß dieser Definition alle Untersuchungsteilnehmer im Laufe ihres Aufenthalts über ‚Gesicht‘ hinzulernen. Personen unterscheiden sich jedoch darin, welche Inhalte sie in die Strukturbilder aufnehmen und zu welchen Zeitpunkten ihres Aufenthaltes sie dies tun. – Die dokumentierten Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ beziehen sich anfänglich vor allem auf die Themenfelder ‚Gesicht verlieren‘ und ‚Gesicht nehmen‘. Die Themenfelder ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ sind zunächst unterrepräsentiert, werden jedoch von den meisten Probanden im Laufe der Zeit aufgenommen bzw. elaboriert. ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘ stellen damit vorrangige Lernfelder dar.1 – Neu aufgenommene Inhalte sind – im Gegensatz zu den Inhalten der ersten Strukturbilder – häufig negativ gefärbt. Dies gilt vor allem (aber nicht ausschließlich) für die Strukturbilder von Personen, die nicht Chinesisch sprechen. Dieser Zusammenhang erklärt sich dadurch, dass chinesische Sprachkenntnisse in Taiwan vor allem für das Herstellen emotional zufrieden stellenden Kontakts zu taiwanesischen Gesprächspartnern eine wichtige Rolle spielen. Interviewpartner, die Chinesisch sprechen, sind daher mit dem Leben in Taiwan tendenziell zufriedener und fühlen sich dort wohler als Probanden, die nicht Chinesisch sprechen. Chinesische Sprachkenntnisse sind jedoch nur einer von vielen Faktoren, die für Zufriedenheit und Wohlbefinden bedeutsam sind; auch können fehlende Sprachkenntnisse durch eine Reihe von ‚Ersatzstrategien‘ kompensiert werden. – Inhalte der Strukturbilder sind unterschiedlich konkret. Dabei gilt: Je mehr eine Person über einen Bereich weiß, desto abstrakter sind die vorkommenden Kategorien. Bereiche mit weniger gesichertem Wissen sind dagegen eher durch vereinzelte Beispiele repräsentiert. Die Zahl der im Strukturbild abgebildeten Inhalte erlaubt deshalb
1 Dies entspricht der Darstellung in Ratgeberbüchern zu deutsch-chinesischer Kommunikation (vgl. Abschnitt 3.5). Vermutlich beziehen sich beide, sowohl Ratgeberbücher als auch meine Interviewpartner, auf geteilte soziale Repräsentationen oder Stereotype über das chinesische Konzept von ‚Gesicht‘. In beiden Fällen steht die Auffassung von ‚Gesicht‘ als ‚Problem‘ im Vordergrund, bleibt ‚Gesicht‘ als konstruktiv nutzbares Handlungsfeld unterrepräsentiert.
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nicht ohne weiteres einen Rückschluss auf Umfang und Komplexität des Wissens. Neue Inhalte der Strukturbilder beziehen sich typischerweise auf einzelne erlebte Episoden und sind zumeist auf niedrigem oder mittlerem Abstraktionsniveau angesiedelt. – Neue Inhalte der Strukturbilder sind typischerweise erfahrungsnah und ‚erfahrungsgeprüft‘. Dies bedeutet einerseits, dass Inhalt und Umfang der Strukturbilder u.a. davon abhängen, ob und in welcher Hinsicht der Untersuchungspartner in seinem Umfeld mit gesichtsrelevanten Situationen konfrontiert ist. Es bedeutet andererseits, dass Gelesenes oder von anderen Personen Gehörtes nur dann in das Strukturbild aufgenommen wird, wenn es außerdem durch eigene Erfahrung des Untersuchungspartners bestätigt wird. Neue Wissensinhalte werden dabei vor allem aus beiläufig gemachten Beobachtungen und Gesprächen abgeleitet und nur selten durch gezielte Informationssuche in Erfahrung gebracht. – Für das Lernen über ‚Gesicht‘ ist nicht nur bedeutsam, dass eine Person in ihrem Alltag mit gesichtsrelevanten Phänomenen konfrontiert ist, sondern dass sie diese selbst mit ‚Gesicht‘ in Verbindung bringt. Lernen über ‚Gesicht‘ ist deshalb an das Erkennen von ‚Gesicht‘ im Alltag geknüpft. Während einige Interviewpartner ‚Gesicht‘ im Verlauf ihres Aufenthalts zunehmend wahrnehmen, kommen andere zu dem Schluss, ‚Gesicht‘ spiele in Taiwan keine Rolle oder sei für sie nur ‚unterschwellig‘ erkennbar. Ob es sich dabei in jedem Fall um steigende (oder ausbleibende) ‚Awareness‘ für ‚Gesicht‘ handelt oder ob einzelne Interviewpartner mit ‚Gesicht‘ tatsächlich nicht in Berührung kommen, kann auf der Basis der vorliegenden Daten nicht beurteilt werden. – Strukturbilder verschiedener Untersuchungspartner unterscheiden sich weiterhin in Bezug auf ihre affektive Tönung und darin, ob der instrumentelle Charakter von ‚Gesicht‘ repräsentiert ist. Zur Erklärung interindividueller Unterschiede der Strukturbilder stellte sich die Unterscheidung eines Ich-nahen, die eigene Identität stark involvierenden Zugangs zur taiwanesischen Umwelt und eines Ichfernen, die eigene Identität kaum involvierenden Zugangs als bedeutsam heraus. Was über ‚Gesicht‘ gelernt wird, steht damit nicht nur mit dem Erfahrungsangebot der Umwelt, sondern auch mit subjektiv bedeutsamen ‚Kernthemen‘ in Zusammenhang, die die Wahrnehmung der und Reaktionen auf die Umwelt in spezifischer Weise vorstrukturieren. Durch die empirische Längsschnittstudie ist es gelungen, sowohl den Lernprozess über ‚Gesicht‘ zu dokumentieren als auch einige wichtige Einflussfaktoren auf dessen Verlauf zu ermitteln. Bedeutsam ist, dass die Untersuchung den Lernprozess nicht im Rückblick, sondern durch den Vergleich von drei Momentaufnahmen erfasst, die jeweils den aktuellen Stand der Alltagstheo303
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rien während des Auslandsaufenthalts festhalten. Entsprechendes gilt auch für die Berichte meiner Gesprächspartner in den offenen Interviewteilen: Erzählungen geben kürzlich Erlebtes wieder, und Einschätzungen spiegeln die jeweils aktuelle Sicht auf die Welt und die eigene Person. Damit unterscheidet sich die hier gewonnene Datenbasis von anderen Untersuchungen, die Akkulturations- und Lernprozesse entweder im Rückblick mittels Interviews (z.B. Sader, 1999; Taylor, 1994a, 1994b), mittels verschickter Fragebögen während des Auslandsaufenthalts (z.B. Brüch, 2001; Selmer, 1999) oder durch einmalige Interviews im Ausland (z.B. Seemann, 2000) erfasst haben. Im Gegensatz zu diesen Arbeiten macht die hier vorgestellte Studie eine inhaltlich dichte, zeitnah gewonnene Datenbasis verfügbar, auf deren Grundlage Veränderungen nicht nur den rückblickenden Schilderungen der Interviewpartner entnommen, sondern durch Vergleich der zu den verschiedenen Messzeitpunkten erhobenen Daten gewonnen werden können. Gleichwohl setzen die hier gewählten Methoden sowie das Untersuchungsdesign dem Zugang zu Lernprozessen meiner Untersuchungspartner bestimmte Grenzen. Diese resultieren sowohl aus der Entscheidung, informelles Lernen einzig auf kognitiver Ebene zu erfassen, als auch aus den spezifischen Charakteristika des Datenformats ‚Strukturbild‘ und den gewählten Abständen zwischen den Messzeitpunkten. Der Einsatz der Strukturlegetechnik in einer Längsschnittuntersuchung informellen Lernens im Ausland stellt eine neue Verwendung dieser Methode dar. Die Ergebnisse zeigen, dass Strukturlegeverfahren prinzipiell geeignet sind, solche Lernprozesse abzubilden. Allerdings setzen sie dem Zugang zu Lernprozessen zugleich bestimmte Grenzen, die insbesondere aus der starken Komprimierung des Datenformats resultieren. Wie oben dargelegt, ermöglichen Strukturbilder zwar eine übersichtliche Darstellung von Inhalten und Struktur individueller Alltagstheorien und mittels Vergleich der zu verschiedenen Zeitpunkten erhobenen Strukturbilder auch Aussagen über deren Veränderungen, Erklärungen individueller Lernverläufe und interindividueller Unterschiede sind auf ihrer Basis jedoch nicht möglich. Wie diese Arbeit zeigt, können diese Beschränkungen aber durch Einbezug zusätzlicher Datenquellen – in diesem Fall offener qualitativer Interviews – überwunden werden. Mit der Entscheidung für die Erhebung von Alltagstheorien bleiben Veränderungen auf affektiver und Handlungsebene weitgehend ausgeklammert. Zwar ermöglicht der Einbezug offener Interviews hier in gewissem Maße Einblicke in die Empfindungen der befragten Personen, doch standen diese nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Lerneffekte auf Handlungsebene wurden explizit nicht berücksichtigt. Obwohl entsprechende Untersuchungen für ein umfassendes Verständnis informellen Lernens im Ausland wichtig wären, war eine Ausdehnung der Forschungsfrage und Datenerhebung auf Veränderungen von Emotionen oder Handlungen mit den zur Verfügung stehenden 304
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Forschungsmitteln hier nicht möglich. Themen, die weiterer Forschung vorbehalten bleiben müssen, sind z.B. die Dokumentation von Einstellungsänderungen (vgl. den Fall Schneider, Kapitel 7) oder Handlungsbeobachtungen. Letztere könnten etwa Aufschluss darüber geben, in welchem Zusammenhang Handeln und expliziertes Wissen stehen, insbesondere jedoch auch darüber, ob sich im Handeln Effekte impliziten Lernens zeigen, die nicht verbalisiert und deshalb nicht mittels Interviews erfasst werden können. Weitere Einschränkungen resultieren aus der Wahl des Zeitabstandes zwischen den einzelnen Untersuchungsterminen. Ziel war es, diese so zu legen, dass die Abstände groß genug waren, damit in der Zwischenzeit signifikante Veränderungen der Alltagstheorien eintreten konnten, jedoch auch nahe genug aneinander waren, um Zwischenschritte des Lernprozesses erfassen zu können. Die Daten zeigen, dass das erste dieser beiden – partiell inkompatiblen – Ziele besser erreicht wurde als das zweite. Aufgrund der mehrmonatigen Abstände zwischen den Interviews dokumentieren diese deutliche Veränderungen und Entwicklungen. Um kleinere Veränderungen und spezifische Lerneffekte zu erfassen, ist dieses Format jedoch zu ‚grobmaschig‘. Mitunter lässt sich so zwar festhalten, dass ein bestimmter Untersuchungsteilnehmer Neues gelernt hat, jedoch nicht nachvollziehen, welcher konkreten Erfahrung er diese neue Einsicht verdankt. Die Arbeit ermöglicht damit einen Einblick auf mittlerem Abstraktionsgrad: Alltagstheorien spiegeln aggregierte Lernerfahrungen wider, nicht jedoch Mikrovorgänge einzelner Lernakte. Zudem sind die hier erfassten Alltagstheorien thematisch fokussiert und umfassen so nur einen bestimmten Wissens- und Erfahrungsausschnitt. Um informelles Lernen weiter aufzuschlüsseln, wären kürzere Abstände zwischen den Messzeitpunkten sowie andere Methoden erforderlich, die auch kleinere Lernergebnisse dokumentieren können (z.B. der Einsatz von speziellen Tagebüchern o.Ä.). Auf jeden Fall jedoch wäre eine Verlängerung des Untersuchungszeitraumes aufschlussreich gewesen. So fanden im Falle Schneiders die auffälligen Einstellungsänderungen erst im zweiten Aufenthaltsjahr statt, und auch in keinem anderen Fall gab es Hinweise darauf, dass der Lernprozess nach einem Jahr im Wesentlichen abgeschlossen sei. Die zeitliche Begrenzung der Datenerhebung war hier denn auch einzig externen Notwendigkeiten geschuldet, nicht jedoch der Annahme, durch weitere Datenerhebung nichts Neues mehr erfahren zu können. Einige der durch die Ergebnisse dieser Arbeit angeregten Fragen ließen sich nur durch längere Beobachtung klären, so zum Beispiel die Frage, ob sich im Laufe der Zeit in den Strukturbildern ein Prozess zunehmender Integration und Abstraktion der Kategorien abzeichnet, oder die Frage, welche langfristigen Auswirkungen ein Ich-naher bzw. Ich-ferner Zugang zur taiwanesischen Umwelt hat (denkbar wäre, dass eine Ich-nahe Auseinandersetzung langfristig zu tiefer greifenden Transformationen und größerer interkultureller Sensibilität führt).
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INTERKULTURELLES LERNEN
Voraussetzungen und Verlauf ‚interkulturellen‘ Lernens Im ersten Kapitel wurden verschiedene Modelle interkulturellen Lernens vorgestellt, die Dynamik, Verlauf und Stufen interkultureller Lernprozesse beschreiben. Diesen Modellen kann entnommen werden, dass Dissonanzerleben eine wesentliche Voraussetzung und Ethnorelativismus eine relevante Zieldimension interkulturellen Lernens darstellt. Auch werden bestimmte Lernstrategien für den Erwerb interkultureller Kompetenz erwähnt. Zwar ist die hier vorgestellte Arbeit nicht als Test dieser Modelle konzipiert, doch können und sollen deren Ergebnisse mit den Annahmen dieser Modelle in Bezug gesetzt werden.
Ethnozentrismus – Ethnorelativismus In seinem Entwicklungsmodell interkultureller Sensibilität beschreibt Bennett (1993) einen Entwicklungsprozess, der von ethnozentrischen zu ethnorelativen Stadien verläuft. Eine interessante Frage ist, ob dieser Prozess auch in den hier erhobenen Daten ablesbar ist. Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, dass bei konkreten Äußerungen entschieden werden kann, welcher Stufe diese zuzuordnen seien. Auf der Grundlage der allgemeinen Beschreibung der Lernstufen, die keine präzisen Kriterien vorgibt, ist dies jedoch nicht möglich, so dass eine Klassifikation schwer fällt. Bei entsprechendem Interesse könnte hier in künftigen Untersuchungen der von Hammer, Bennett und Wiseman (2003) auf der Grundlage des Bennett’schen Modells entwickelte Test zur Erfassung interkultureller Sensibilität eingesetzt werden (siehe auch Paige/Jacobs-Cassuto/Yershova/DeJaeghere, 2003). Dieser Test kam in der hier vorgestellten Studie jedoch nicht zum Einsatz, so dass sich über die jeweiligen Entwicklungsstufen der Untersuchungspartner keine Aussagen machen lassen. Der Versuch, Interviewaussagen zumindest danach zu klassifizieren, ob sie eine ethnozentrische oder ethnorelative Grundhaltung widerspiegeln, ergibt fast durchgängig eine Zuordnung zu ethnozentrischen Stufen (Ausnahmen finden sich evtl. bei Matthias, vgl. Kapitel 7). Dies kann kaum überraschen, denn der von Bennett skizzierte Entwicklungsprozess beschreibt umfassende Transformationen, die sich vermutlich über viele Jahre vollziehen und kaum während eines einzigen Jahres im Ausland durchlaufen werden. Es ist anzunehmen, dass der von mir gewählte Themen- und Zeitausschnitt zu eng ist, um Veränderungen zwischen den von Bennett beschriebenen Stufen zu erfassen.
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DISKUSSION
Lernstrategien In der Analyse von Interviews mit Personen, die eine längere Zeit im Ausland verbracht haben, identifiziert Taylor (1994a) verschiedene Lernstrategien, die im Ausland eingesetzt wurden: Beobachtungen, handelnde Teilnahme und Eingehen von Freundschaften zu Gastlandsangehörigen. Dies deckt sich mit den hier gefundenen Ergebnissen. Allerdings bringt es die hier vorgenommene Fokussierung auf die kognitive Ebene mit sich, dass Veränderungen im Handeln nicht berücksichtigt werden. Die oben entwickelte Unterscheidung verschiedener Quellen sowie zwischen einem aktiven und einem passiven Zugang zu diesen Quellen kann die von Taylor beobachteten Strategien weiter differenzieren. Inwiefern diese Befunde für die Gestaltung eigener Lernprozesse im Ausland nutzbar gemacht werden können, wird weiter unten diskutiert. Eine weitere Übereinstimmung mit Taylors Arbeit besteht in der Betonung der individuellen Voraussetzungen des Lernprozesses. Während Taylor hier vor allem an Wissen, Sprachkenntnisse, Vorerfahrungen, Aussehen oder Geschlecht denkt, zeigt diese Arbeit, dass insbesondere auch psychische Faktoren eine Rolle spielen. Darüber hinaus weist diese Arbeit nach, dass persönliche Merkmale und Eigenheiten nicht nur die Ausgangsbedingung für Kontakt darstellen („setting the stage“ bei Taylor), sondern in vielfältiger Weise auf Wahrnehmung, Verlauf, Steuerung und Evaluation dieses Kontakts einwirken.
Dissonanzerleben Gemäß der Modelle von Grove und Torbiörn (1985), Kim (2001) sowie Taylor (1994a, 1994b) sind Dissonanzerfahrungen, die von erheblicher emotionaler Verunsicherung begleitet sein können, Voraussetzung für Transformationen des individuellen kognitiven Bezugsrahmens. Erst der partielle Zusammenbruch dieses Referenzsystems, so die These dieser Modelle, ermögliche Neubewertungen und Lerneffekte. Diese Annahme, die zentrales Element der benannten Modelle ist, findet durch die hier erhobenen Daten keine Unterstützung. Vielmehr zeigen die Ergebnisse dieser Arbeit, dass die Integration neuer Wissensinhalte ohne Dissonanzerleben nicht nur möglich, sondern in Bezug auf das Lernen über ‚Gesicht‘ sogar die Regel ist. In einzelnen Fällen (z.B. Klaus, vgl. Kapitel 7) bleiben die etwa von Taylor beschriebenen Gefühle der Verunsicherung, Fremdheit und Einsamkeit völlig aus, während das Strukturbild dennoch einen fortschreitenden Lernprozess dokumentiert. Auch die von Grove und Torbiörn (1985) postulierte Verlaufskurve der ‚Orientierungsklarheit‘ kann nicht bestätigt werden. Grove und Torbiörn beschreiben, dass diese anfänglich hoch sei und erst nach einiger Zeit absinke. Den Äußerungen meiner Interviewpartner hingegen ist zu entnehmen, dass sie gerade zu Beginn ihrer Aufenthalte auf erhebliche Fremdheitserfahrungen 307
INTERKULTURELLES LERNEN
eingestellt sind und deshalb die Gültigkeit ihrer kognitiven Bezugsrahmen sehr stark in Frage stellen. Wollte man den Begriff ‚Orientierungsklarheit‘ verwenden (nach Grove und Torbiörn bezeichnet dieser das subjektives Empfinden der Angemessenheit der im kognitiven Bezugsrahmen verfügbaren Urteile und Wissensbestände), so wäre festzustellen, dass diese anfangs sehr niedrig ist und längere Zeit um ein niedriges Niveau herum schwankt. Ob hierbei ein ‚Mindestanspruchsniveau‘ unterschritten wird, dürfte – angesichts der von diesen Autoren nicht vorgenommenen Definition oder Operationalisierung – schwer festzustellen sein. Der eklatante Widerspruch der empirischen Befunde zu den erwähnten Modellen bedarf der Erklärung. Warum halten die oben genannten Autoren Dissonanz für einen „Katalysator des Wandels“ (Taylor, 1994a, S. 161) und warum ist davon in meinen Daten nichts zu merken? Hierfür sind verschiedene Erklärungen denkbar. Eine mögliche Erklärung wäre, dass diese Modelle interkulturelles Lernen auf eine Weise begreifen, die die hier erfassten Veränderungen von Alltagstheorien ausschließt. Da die Definitionen interkulturellen Lernens in diesen Modellen nicht sehr präzise sind, kann dies nicht komplett ausgeschlossen werden. Allerdings listen etwa Grove und Torbiörn (1985) verschiedene Elemente des kognitiven Bezugsrahmens auf, denen Alltagstheorien prinzipiell zugeordnet werden können, und auch Taylor spricht von Neuorientierungen von Kognitionen. Alltagstheorien müssten demnach zumindest eine Subkategorie der von diesen Autoren eingeschlossenen Bereiche darstellen. Wahrscheinlicher ist dagegen, dass jeweils Phänomene unterschiedlicher Reichweite gemeint sind. Womöglich beziehen sich die von den genannten Autoren gemeinten Veränderungen auf weit reichende Transformationen der Identität, von Einstellungen oder komplexen Erkenntnissen, während von mir nur ein vergleichsweise isolierter Bereich untersucht wurde und schon die Aufnahme einzelner Wissensinhalte als ‚Lernen‘ definiert war. So ist denkbar, dass zwar ohne größere Dissonanzerfahrung gelernt werden kann, einer Person durch Geschenke zu ‚Gesicht‘ zu verhelfen, dass Lernen jedoch bei tiefer greifenden Wandlungen von Werten und Emotionen nicht ohne spürbares Dissonanzerleben möglich ist. In diesem Zusammenhang mag eine Rolle spielen, dass z.B. Taylor entsprechende Befunde durch rückblickende Berichte seiner Interviewpartner absichert. Diese berichten u.a. von Schlüsselerlebnissen, die für bestimmte Einsichten von großer Bedeutung waren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die berichteten Ereignisse erst im Rückblick diese Bedeutung erlangen, für den ursprünglichen Lernprozess jedoch gar nicht ausschlaggebend waren. Im Rückblick entwickelte Deutungen und Erklärungen müssen als Konstruktionen verstanden werden, über deren Gültigkeit zum Zeitpunkt des berichteten Ereignisses keine Aussagen gemacht werden können. Selbst wenn jedoch der 308
DISKUSSION
Lerneffekt genau so eingetreten sein sollte, wie später berichtet, würde dies nur darauf hinweisen, dass Lerneffekte auf diese Weise entstehen können, nicht jedoch, dass diese die einzige Weise sei, auf die gelernt wird. Vermutlich findet sowohl in den Interviews als auch in den späteren Forschungsberichten eine Auswahl besonders auffälliger Lernereignisse statt. Es ist durchaus denkbar, dass diese für das Gros der alltäglichen Lernerfahrungen nicht repräsentativ sind. Jene mögen sich dann durchaus ähnlich wie das Lernen über ‚Gesicht‘ vollziehen. Ohne weitere Längsschnittstudien, die Lernprozesse im Ausland dokumentieren, kann hier kein Urteil gefällt werden. Auf jeden Fall verweisen die oben angestellten Überlegungen auf die Notwendigkeit begrifflicher Präzisierung. Solange solchen Modellen nicht zu entnehmen ist, welche Elemente eines kognitiven Bezugsrahmens gemeint sind, was mit ‚Dissonanz‘ und was genau unter ‚Lernen‘ oder ‚Transformation‘ verstanden werden soll, sind solche Modelle nicht empirisch überprüfbar. Schließlich ist die Möglichkeit zu erwägen, dass die genannten Modelle falsche Annahmen beinhalten. Um dies zu entscheiden, müssen zunächst die Unterschiede der jeweils – in dieser Arbeit und in den genannten Modellen – skizzierten Lernprozesse genauer in den Blick genommen werden. Dabei kristallisieren sich zwei unterschiedliche Bilder der Ausgangssituation sowie des ablaufenden Lernprozesses heraus. Das durch die hier unternommene Untersuchung gewonnene Bild des Lernens über ‚Gesicht‘ zeigt einen unspektakulären induktiven Lernprozess, in dem in kleinen Schritten aus neuen Erfahrungen Alltagstheorien gebildet werden, die – in jeweils erweiterter Form – wiederum auf neue Erfahrungen angewandt werden. So vollzieht sich informelles Lernen über ‚Gesicht‘ als Prozess in sehr kleinen Zirkeln, die jeweils moderate Schritte in (kognitives oder operatives) Neuland ermöglichen: Erst wenn gemachte Erfahrungen die Bedeutung von ‚Gesicht‘ nahe legen, zieht man das Konzept bei der Interpretation neuer Erfahrungen in Betracht, weitet sich das Konzept aufgrund zahlreicher werdender Erfahrungen aus, bis es schließlich einen weiten Bereich von Situationen sowie deren differenzierende Bedingungen abdeckt.2 Erst im Laufe der Zeit wird ein umfassendes Bild von ‚Gesicht‘ sichtbar und erweisen sich zahlreiche Situationen und Erlebnisse als Ausdruck dieses Prinzips. Dies bedeutet auch – wie sich in den Interviews immer wieder zeigt –, dass etwaige Differenzen zu bisher gewohnten sozialen Prinzipien erst im Laufe der Zeit sichtbar werden. Das auf den ersten Blick paradox erscheinende Resultat dieser Erkenntnis lautet, dass das Erleben von Differenz bezüglich ‚Gesicht‘ auf das zumindest partielle Verstehen der fremden Praxis angewiesen ist. Im – empi2 Diese Beobachtung entspricht den Beschreibungen der Veränderung von Alltagswissen, die in Kapitel 2 „Alltagstheorien“ vorgestellt wurden (siehe auch Matthes/Schütze, 1981; Wegner/Vallacher, 1977) 309
INTERKULTURELLES LERNEN
risch bestätigten – Umkehrschluss heißt dies: Ohne (erfahrungsgesättigte) Kenntnis von ‚Gesicht‘ bleibt in Taiwan ein diesbezügliches Differenzerleben aus! Zwar schildern meine Interviewpartner ihre anfängliche Verunsicherung und Desorientierung, doch beziehen sich diese durchweg auf Schwierigkeiten, ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen (einen Ort erreichen, Essen bestellen, bestimmte Dinge kaufen). Differenzen kultureller oder sozialer Art zählen gerade nicht zu den Anfangseindrücken und erschließen sich erst nach und nach im Verlauf des Aufenthalts. Mitunter resultiert die Verunsicherung meiner Gesprächspartner auch gerade daraus, dass antizipierte Differenz im Alltag gar nicht erkennbar ist (vgl. Stefan, Kapitel 7). Ein Vergleich dieser Befunde mit den impliziten Annahmen der geschilderten Modelle ergibt einen augenfälligen Unterschied. Für diese Modelle – wie für einen Großteil der Literatur über interkulturelle Begegnungen – ist die Annahme, dass sich in der ‚Konfrontation mit der fremden Kultur‘ Differenzerleben einstellt, unhintergehbar. Die zugrunde liegende Vorstellung ist, dass Personen im Ausland plötzlich mit einer neuen, objektiv beschreibbaren und mit festen Merkmalen ausgestatteten Umwelt konfrontiert seien, ähnlich wie etwa eine Topfpflanze mit einer neuen Umwelt konfrontiert ist, wenn sie im Sommer von der Fensterbank in den Garten gestellt wird. Ändere sich die Umwelt, so resultierten daraus Gefühle von Differenz und Fremdheit, so dass Wohlbefinden und kognitives Gleichgewicht durch Anpassungsprozesse erst wieder hergestellt werden müssten. Tatsächlich steht jedoch dieses ‚Topfpflanzenmodell‘ nicht nur im Widerspruch zu den Ergebnissen dieser Arbeit, sondern auch zu zahlreichen anderen Befunden der Psychologie. Diese hat vielfach nachgewiesen, dass die Wahrnehmung der materiellen und sozialen Umwelt von Vorwissen, bewussten und unbewussten Erwartungen, Gefühlslagen, Motiven etc. abhängt und dass Wahrnehmungsprozesse nicht zuletzt dem Erhalt einer konsonanten, selbstwertstützenden Weltsicht dienen. Wahrnehmung von Differenz ist unter diesen Bedingungen nur dort zu erwarten, wo sie aufgrund ihrer Prägnanz sowie subjektiv erlebter Relevanz erkennbar und nicht zu leugnen ist. Dem mag die Psychologie interkulturellen Handelns entgegenhalten, dass die Erfahrung kultureller Differenz durch zahlreiche Berichte und nicht zuletzt durch wissenschaftliche Forschung (wie z.B. die Erhebung von ‚Critical incidents‘) gesichert sei. Aus der Tatsache, dass auslandserfahrene Personen auf Nachfrage von ‚kritischen Interaktionssituationen‘ berichten können, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass neu Eingereiste in ähnlichem Ausmaß mit kultureller Differenz konfrontiert seien. Ohne auch nach anderen Erfahrungen zu fragen, kann selbst bei erfahrenen Personen nicht geschlossen werden, welche Rolle kulturelle Differenz in ihrem Leben im Ausland überhaupt spielt. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass Erlebnisse kultureller Differenz in Erzählungen anekdotisch zugespitzt und dramatisiert werden – insbesondere 310
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wenn diese den Erwartungen der (daheim gebliebenen) Zuhörer entsprechen (vgl. auch A. Weidemann, 2001, S. 145ff). Zwar ist sicher unzutreffend, dass entsprechende Berichte einzig in Reaktion auf die Erwartungen der interkulturellen Psychologen produziert würden (entsprechende ‚Storys‘ kursieren auch in den Expat-Gemeinden), doch müsste der Effekt der Zuhörererwartungen sowie die Ausblendung anderer Erfahrungen stärker als bisher reflektiert und revidiert werden. Aufgrund der oben angeführten empirischen Befunde muss die in diesen Modellen vertretene Annahme bezweifelt werden, dass interkulturelles Lernen einen „partiellen Zusammenbruch des mentalen Referenzrahmens“ (Grove/Torbiörn, 1985, S. 217) oder gar einen ‚Kulturschock‘ voraussetzt. Wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, gilt dies zumindest nicht für die Veränderung von Alltagstheorien – selbst dann nicht, wenn diese sich auf soziale Regeln der fremden Kultur beziehen. Auch die in diesen Modellen implizierte Vorstellung, der Aufenthalt im Ausland stelle eine Situation dar, in der Personen automatisch mit kultureller Differenz konfrontiert seien, muss in Zweifel gezogen werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich bei der Wahrnehmung – oder zutreffender: der Konstruktion – kultureller Differenz um ein komplexes Geschehen handelt, dessen Voraussetzungen und Ablauf noch keineswegs geklärt sind. Solange Lernmodelle die Binnenperspektive der Akteure nicht in Betracht ziehen, sind meiner Ansicht nach keine zutreffenden Aussagen über den Ablauf informellen Lernens im Ausland möglich. Die Vorstellung, Menschen seien mit dem Umzug ins Ausland mit (gar überwältigender) kultureller Differenz konfrontiert, die sie erst nach und nach durch ‚interkulturelles‘ Lernen auflösten, ist nicht nur aufgrund der hier gewonnenen Daten, sondern auch aufgrund der erwähnten psychologischen Forschungsergebnisse nicht haltbar. Für den Versuch der theoretischen Konzeption ‚interkulturellen Lernens‘ ist dies höchst bedeutsam, steht doch die Vorstellung auf dem Spiel, ‚interkulturelle Erfahrungssituationen‘ seien eindeutig (z.B. durch Kulturteilhabe der Akteure) als solche klassifizierbar. Da der Begriff der ‚Interkulturalität‘ auf die Existenz kultureller Differenz definitorisch angewiesen ist, geht mit der Relativierung letzterer die Legitimität des ‚Interkulturellen‘ verloren.
Interkulturalität Bereits weiter oben wurde festgestellt, dass nicht a priori zu entscheiden sei, welche Interaktionen als ‚interkulturell‘ bezeichnet werden können. Weder Unterschiede der Nationalität noch Unterschiede der Muttersprache erwiesen sich als zuverlässiges Kriterium für eine solche Klassifikation. Als wesentlich stellte sich hingegen die Relevanz, die kultureller Differenz in einer Situation zukommt, heraus (vgl. Kapitel 1). Diese Auffassung erhält durch die hier gewonnenen Ergebnisse Unterstützung. 311
INTERKULTURELLES LERNEN
Im Rahmen dieser Arbeit geht es nicht darum, ob bestimmte Interaktionen als ‚interkulturell‘ bezeichnet werden können, sondern darum, ob die Lebenssituation von Deutschen in Taiwan generell als ‚interkulturell‘ eingestuft werden muss. Wie weiter oben erwähnt, liegt die Vorstellung, Leben im Ausland sei prinzipiell eine ‚interkulturelle Erfahrungssituation‘, implizit etlichen Arbeiten zugrunde, die den Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ verwenden. Diese Einschätzung scheint mir aus verschiedenen Gründen nicht haltbar: – Wie Moosmüller (1997) für in Japan lebende deutsche und amerikanische Expatriates beobachtet, kommen diese mit einem rein ‚japanischen‘ Umfeld kaum in Kontakt, da sich deren Leben weitaus überwiegend in gemischtnationalen Unternehmen sowie den Kreisen der Expat-Community abspielt. Dies trifft auch für die von mir befragten deutschen Expats in Taiwan zu und in gewissem Maße auch für die Sprachstudenten, die an den Auslandsabteilungen der Universitäten (ohne chinesische Kommilitonen) studieren und in Wohngemeinschaften mit anderen Ausländern leben. In Zuspitzung dieses Arguments ist zu fragen, ob überhaupt geklärt werden kann, mit welchen Teilbereichen der (vorausgesetzt es gäbe sie) ‚taiwanesischen Kultur‘ eine Person denn in Kontakt kommen müsste, um eine interkulturelle Erfahrungssituation geltend machen zu können. – Hinzu kommt – und dies ist ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit –, dass zusätzlich psychische Prozesse bei der Wahrnehmung und Interpretation des taiwanesischen Umfelds eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund allgemeiner sozialpsychologischer Prozesse (Kategorisierung, Dissonanzreduktion, Erhalt des Selbstwertgefühls usw.) und spezifischer individueller ‚Kernthemen‘ ist diese auf bestimmte, durch qualitative Interviews nachvollziehbare Weise individuell höchst verschieden. Davon, dass Personen derselben, durch identische Merkmale beschreibbaren taiwanesischen Umwelt begegneten, kann keine Rede sein. – Wie oben erwähnt, zeigt die Analyse der Interviews, dass kulturelle Differenz für meine Untersuchungspartner nur schwer zu entdecken ist. Ein großer Teil der erlebten ‚Fremdheit‘ und Verunsicherung resultiert daraus, dass Routinen für das Erreichen bestimmter Ziele zunächst unbekannt sind. Die Differenz kultureller Bedeutungssysteme oder Praktiken erschließt sich ihnen jedoch erst langsam. Wie das Lernen über ‚Gesicht‘ zeigt, ist dabei das Erkennen kultureller Differenz an das Wissen über die fremde Praxis geknüpft. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob von der Interkulturalität der Situation auch gesprochen werden kann, wenn die betreffende Person kulturelle Differenz gar nicht wahrnimmt. Wenn das Erkennen von Differenz an – zumindest partielles – Wissen über die fremde Praxis geknüpft ist, stellt sich auch die Frage, ob diese durch das Wissen nicht bereits weniger ‚fremd‘ geworden ist, mithin kulturelle Diffe-
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renz im Moment ihres Gewahrwerdens einen Teil dieser Differenz bereits einbüßt. Wollte man das Kriterium ‚objektiver‘ kultureller Differenz zugrunde legen, so steht zunächst der Beweis an, dass die betreffende Person tatsächlich der ‚deutschen Kultur‘ angehört und in Taiwan mit einer ‚taiwanesischen Kultur‘ konfrontiert ist. Dass dieser Nachweis nicht durch den Verweis auf die Nationalität geführt werden kann, ist leicht einsichtig – wie er anders geführt werden könnte, bleibt jedoch ungelöst. Hält man jedoch an der Bestimmung fest, Interkulturalität sei an die Relevanz kultureller Differenz geknüpft, so zeigt sich, dass das Leben von Deutschen in Taiwan nur schwerlich generell als ‚interkulturell‘ definiert werden kann. Allerdings gewinnt die Frage danach, wessen Urteil bezüglich der Relevanz eigentlich ausschlaggebend ist, neue Dringlichkeit. Sicherlich nehmen an interkulturellen Fragestellungen interessierte Wissenschaftler andere Relevanzsetzungen vor als die jeweils unmittelbar involvierten Akteure. Beide können jedoch aufgrund ihrer spezifischen Expertise Deutungskompetenz geltend machen. Da sich Personen in ihrem Denken und Verhalten nach ihren Deutungen von Situationen ausrichten, ist ihre Einschätzung der Situation grundsätzlich von Belang. Kann jedoch eine Situation schon alleine deswegen als ‚interkulturell‘ klassifiziert werden, weil die involvierte Person glaubt, sie sei es, und muss von einer solchen Klassifizierung Abstand genommen werden, wenn sie uns versichert, kulturelle Differenz habe keinen Anteil am Geschehen?3 Zahllose Arbeiten, die sich mit Merkmalen interkultureller Kommunikation beschäftigen, haben nachgewiesen, dass Störungen der Kommunikation vor allem daraus resultieren, dass die Beteiligten den kulturellen Anteil am Geschehen unterschätzen. Die Einschätzung, kulturelle Differenz spiele keine Rolle, kann also durchaus eine Fehleinschätzung darstellen, die aus mangelnder Bewusstheit für kulturelle Unterschiede herrührt. Da auf der Grundlage wissenschaftlicher Konzepte sowohl das Geschehen als auch das Zustandekommen der Fehleinschätzung der beteiligten Akteure schlüssig erklärt werden kann, kann das subjektive Urteil der Person also kein gültiges Kriterium für die Relevanzschätzung sein. Dass jedoch die Einschätzungen von wissenschaftlicher Seite ohne Berücksichtigung der Sicht der Akteure ebenfalls problematisch sind, klang oben bereits an. Besteht der typische Fehler der Beteiligten darin, die Existenz kultureller Differenz zu unterschätzen, so bestehen die wichtigsten Fehler inter3 Sicherlich verwenden Personen bei ihrer Einschätzung einer Situation nicht den Kulturbegriff. Wenn hier von der Empfindung ‚kultureller Differenz‘ gesprochen wird, ist damit gemeint, dass eine Person in einer Interaktion zu dem Schluss kommt, dass für das Verhalten einer Person deren Zugehörigkeit zu einem Kollektiv relevant ist, von dem angenommen wird, dass es ein eigenes Set an Bräuchen, Werten, Bedeutungszuweisungen und Handlungspraxis unterhält, und dass die Person bezüglich der Teilhabe an dem Kollektiv eine Differenz zwischen sich und der anderen Person wahrnimmt. 313
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kulturell ausgerichteter Wissenschaftler darin, aufgrund ‚objektiver‘ Merkmale die Zugehörigkeit von Personen zu bestimmten Kollektiven sowie die Existenz von Differenz zu postulieren, ohne dies jeweils zu überprüfen. Wie diese Arbeit gezeigt hat, besteht eine Möglichkeit der Überprüfung darin, die Selbst- und Weltdeutungen der jeweiligen Individuen mit einzubeziehen und einer wissenschaftlichen (psychologischen) Analyse zu unterziehen. Auf diese Weise werden Phänomene sichtbar, die sonst dem Postulat gegebener ‚kultureller Differenz‘ zum Opfer fallen: Es zeigt sich, dass von Personen subjektiv erlebte kulturelle Grenzziehungen nicht aufgrund ‚objektiver‘ Merkmale vorhersagbar sind. So ist zum Beispiel die Grenzziehung zwischen ‚wir Ostdeutschen‘ und ‚die Westdeutschen‘ sowohl für Marion als auch für Weber zu bestimmten Zeiten ihres Aufenthalts höchst relevant und im Falle Webers zu einem Zeitpunkt sogar relevanter als die Grenzziehung zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Taiwanesen‘. Für andere Ostdeutsche spielt kulturelle Differenz an dieser Stelle jedoch keine Rolle. Warum dies jeweils der Fall ist, kann nur individuell nachvollzogen, nicht jedoch a priori postuliert werden. Es zeigt sich ferner, dass das Erleben kultureller Differenz selbst dort ausbleiben kann, wo dieses nach allen ‚objektiven‘ Kriterien zu erwarten wäre, so zum Beispiel wenn Freundschaften ohne Gefühle der Fremdheit quer über kulturelle Kategoriengrenzen geschlossen werden oder Personen in ihrem neuen kulturellen Umfeld eine besondere Art der ‚Passung‘ erleben (wie zum Beispiel Klaus, Kapitel 7). Will eine Psychologie interkulturellen Handelns das Verhalten und Erleben von Personen in ‚interkulturellen‘ Situationen verstehen und erklären können, so muss sie auch für solche Phänomene offen sein. Die Forderung von Günthner, (diskursanalytische) Forschung müsse erkunden, wie in konkreten Begegnungen „Fremdheit konstruiert wird“ (Günthner, 1999, S. 253), kann daher auch auf psychologische Forschung ausgedehnt werden. Zukünftige Forschung müsste stärker darauf gerichtet sein, zu erfahren, wie in bestimmten Lebenszusammenhängen und Interaktionen kulturelle Teilhabe und kulturelle Differenz wahrgenommen und handlungswirksam werden und welche Faktoren hierfür bedeutsam sind. Dies kann nur gelingen, wenn auf die Zuschreibung kultureller Zugehörigkeit und kultureller Differenz seitens der Forscher verzichtet und die individuelle Sicht der Beteiligten nachvollzogen wird. Freilich ist eine solche Ausrichtung mit den Prämissen einer Psychologie interkulturellen Handelns, die sich ja gerade durch ihren Bezug auf – vermeintlich ‚objektiv‘ feststellbare – ‚interkulturelle Interaktionen‘ definiert, nicht ohne weiteres vereinbar. Sie setzt vielmehr eine Erweiterung der Perspektive in Richtung einer umfassenderen Kulturpsychologie voraus, die sie um das spezifische Interesse der Erforschung kultureller Differenz in Interaktionen bereichern könnte. Ungehindert von Postulaten wie jenem, dass es um Menschen in ‚kulturellen Überschneidungssituationen‘ gehe, könnte so erkundet werden, in welcher Hinsicht und aus welchem Blickwinkel von solchen ‚Überschneidungssituationen‘ überhaupt die Rede sein kann. Für den Versuch, 314
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individuelle Akteure in ihren vielfältigen kulturellen Bezügen und Interaktionen zu verstehen, kann die Psychologie interkulturellen Handelns einen wichtigen Beitrag leisten. Meines Erachtens bietet jedoch nur eine interpretative Kulturpsychologie einen theoretischen und methodologischen Rahmen, in dem ein solches Verständnis in umfassender Weise gelingen kann. Die Feststellung von ‚Interkulturalität‘ wäre in einem solchem Ansatz stets aus mehreren Perspektiven zu begründen und prinzipiell erst durch eine Analyse konkreter Situationen zu ermitteln. Daraus mögen dann durchaus komplexe Einschätzungen resultieren, die bezüglich verschiedener Teilaspekte zu unterschiedlichen Urteilen gelangen. Welche Auswirkungen dies für einen psychologischen Begriff ‚interkulturellen‘ Lernens haben kann, ist nicht abzusehen. Es ist durchaus denkbar, dass auf diese Weise Mechanismen und Kriterien ermittelt werden können, die eine präzisere Definition dessen erlauben, was, wodurch und wie gelernt wird.
Unterstützung informellen Lernens im Ausland Unabhängig davon, welcher Begriff im Einzelfall gewählt wird – interkulturelles Lernen oder nicht –, sind Menschen häufig daran interessiert, während eines Auslandsaufenthaltes so viel Neues wie möglich zu sehen und zu lernen. Auch für meine Interviewpartner ist der Wunsch, ihren ‚Horizont zu erweitern‘, ein wesentliches Motiv für den Taiwanaufenthalt. In diesem Abschnitt soll deshalb die Frage im Vordergrund stehen, welche Einsichten und Empfehlungen für die Vertiefung informellen Lernens im Ausland aus den Ergebnissen dieser Arbeit gewonnen werden können. Das Anliegen, Empfehlungen für die Steigerung der Effizienz informellen Lernens zu geben, erscheint paradox, ist es doch gerade ein Merkmal informellen Lernens, dass dieses ohne Instruktion auskommt. Doch soll es an dieser Stelle weniger um konkrete Instruktion gehen als um eine Zusammenschau der durch die explorative Studie gewonnenen Ergebnisse. Angesichts der großen Bedeutung, die individuelle Sinnstrukturen für die Wahrnehmung und Reaktion auf die fremde Umwelt haben, kann es dabei nicht darum gehen, bestimmte Strategien als ‚überlegen‘ auszuweisen, sondern darum, individuelle Wahl- und Denkmöglichkeiten zu vergrößern, so dass Personen möglicherweise auf für sie interessante Alternativen stoßen. Dieses Unternehmen impliziert dabei zweierlei. Zum einen ist es von der Überzeugung getragen, dass Lernen im Ausland nicht ‚automatisch‘ geschieht, sondern aktives (wenngleich nicht unbedingt bewusst reflektiertes) Bemühen voraussetzt. Zum anderen geht es davon aus, dass Lernen im Ausland nicht allein an bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit, Flexibilität oder Ambiguitätstoleranz geknüpft ist, sondern durch Menschen verschieden gestaltet werden kann. Im Folgenden soll es deshalb um diese Gestaltungsmöglichkeiten gehen sowie um die Frage, wie informelles Lernen im Ausland möglicherweise durch formale Instruktion in interkulturellen Trainings unterstützt werden kann. 315
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Erweiterung der Lernstrategien Die Interviews zeigen, dass von den Untersuchungspartnern eine Fülle von Strategien eingesetzt wird, um mit dem Leben in Taiwan zurechtzukommen und Neues hinzuzulernen. Aus ihren Berichten sowie den Interviewanalysen können folgende Empfehlungen abgeleitet werden: – Für das Wohlbefinden vor Ort ist es wichtig, soziale Kontakte zu Taiwanesen zu knüpfen. Dies ist ohne chinesische Sprachkenntnisse schwieriger und setzt deshalb besondere Anstrengungen voraus, entsprechende ‚Kulturmittler‘ kennen zu lernen. Dies können Taiwanesen mit sehr guten Englischkenntnissen oder aber andere Ausländer mit guten Chinesischkenntnissen sein. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass insbesondere andere Ausländer bzw. Deutsche, die schon lange in Taiwan leben und gut Chinesisch sprechen, an Kontakten zu Neuankömmlingen häufig nicht interessiert sind. Für das Herstellen freundschaftlicher Kontakte zu Taiwanesen sind in der Regel geteilte Interessen oder Hobbys ausschlaggebend. Wenn niemand gefunden werden kann, der bereitwillig als Mittler zur Verfügung steht und taiwanesische Bekannte zu wenig Englisch sprechen, ist das Erlernen der chinesischen Sprache der einzige Ausweg, um Freundschaften zu Taiwanesen knüpfen zu können. Für die Bewältigung des Alltags sind chinesische Sprachkenntnisse entbehrlich. – Wie weiter oben geschildert, steht für das Gewinnen neuer Eindrücke und Einsichten eine Fülle verschiedener Quellen zur Verfügung. Es lohnt sich, möglichst viele Quellen einzubeziehen und stets nach neuen Ausschau zu halten. Weitere, oben nicht genannte Quellen neuen Wissens sind zum Beispiel auch Werbung, Fernseh- oder Kinofilme. – Die Berichte von Schneider und Matthias legen nahe, dass insbesondere aktive Strategien der Informationsgewinnung das Lernen beschleunigen. Je nach Neigung mögen hier bestimmte Strategien und Quellen attraktiver sein als andere. Die Möglichkeiten, die gezielte Beobachtung und sogar kleinere Feldexperimente bieten, werden m. E. häufig unterschätzt. Wichtig ist zudem, zwischendurch Zeit zum Reflektieren der neuen Erfahrungen einzuräumen. Generell ist das Entwickeln ethnographischer Neugier hilfreich. – Wie auch andere Arbeiten betonen (z.B. Haour-Knipe, 2001) kann das rasche Fällen von Urteilen weitere Erfahrungen ausschließen und zu negativeren Einstellungen gegenüber dem Gastland führen. Hilfreich ist es, zwischen Beschreibungen und Urteilen zu trennen. Nicht in jedem Fall verhindert dies, dass unzutreffende Urteile gefällt werden, jedoch ermöglicht der Verzicht auf vorschnelle Urteile größere Offenheit für neue Erfahrungen. – Die Daten zeigen, dass das starke Infragestellen der eigenen Identität nicht in jeder Hinsicht günstig ist. In den hier beobachteten Fäl316
DISKUSSION
len ging sie mit weniger umfangreichem Lernen einher. Ohne weitere Forschung ist jedoch nicht klar, ob diese Haltung eventuell langfristig oder in anderen Lernfeldern Vorteile hat und ob sie bewusst gesteuert werden kann.
Interkulturelles Training / Coaching Diese Arbeit beschäftigt sich nicht mit den Wirkungen interkultureller Trainings. Zwar haben drei Teilnehmer ein interkulturelles China-Training absolviert, doch ergab die Analyse der Lernprozesse keine Hinweise auf die Bedeutung der interkulturellen Trainings. An dieser Stellung sollen deshalb weniger die Effekte als vielmehr die Möglichkeiten interkultureller Trainings diskutiert werden. Die hier gewonnenen Ergebnisse zeigen, dass die Wahrnehmung von und das Lernen über ‚Gesicht‘ eng an Erfahrungen im Alltag geknüpft sind. Weder meine – implizit, durch die Durchführung der Studie aufgestellte – Behauptung, dass ‚Gesicht‘ in Taiwan relevant sei, noch die Vorgabe der vier Themenfelder (‚Gesicht verlieren‘, ‚Gesicht nehmen‘, ‚Gesicht haben‘ und ‚Gesicht geben‘) führten dazu, dass ‚Gesicht‘ als relevantes Phänomen erkannt oder mit Inhalt gefüllt wurde. Angesichts der großen Bedeutung unmittelbarer Erfahrung für den Lernprozess scheint es unwahrscheinlich, dass interkulturelle Trainings zur Ausreisevorbereitung hinsichtlich der Vermittlung komplexerer kultureller Phänomene (wie z.B. ‚Gesicht‘) eine große Wirkung erzielen können. Diese Vermutung gründet auch darauf, dass Lerninhalte und -zugänge jeweils eng an spezifische, individuelle Lebenssituationen und psychische ‚Kernthemen‘ geknüpft sind. Hieraus kann abgeleitet werden, dass Trainings für Personen umso nützlicher sind, je enger sie auf den jeweiligen persönlichen Erfahrungsbereich und ‚Typ‘ zugeschnitten sind. Diese Argumente sprechen für die Notwendigkeit von Individualisierung und Erfahrungsnähe von Trainingsangeboten. Beides kann sinnvoll erst durch Coaching am Einsatzort erfüllt werden. Individuelle Betreuungsangebote am Einsatzort scheinen auch deshalb sinnvoll, weil die Lernmotivation dort besonders hoch ist. Für die Teilnehmer meiner Studie war die Hoffnung, diese als Lerngelegenheit nutzen zu können, häufig ein wichtiger Grund für die Teilnahme. Auch von anderer Seite wird die Notwendigkeit von Beratungsangeboten und Coaching während des Auslandseinsatzes immer wieder betont (z.B. Bolten, 2000; Schröder, 1995). Über die besonderen Anforderungen an den Coach sowie über verschiedene Konzepte interkultureller Coachings geben zum Beispiel Clement und Clement (2000), Kinast (2003) sowie Peuker, Schmal und Götz (2002) Auskunft. Stehen die Mittel für individualisierte Trainingsmaßnahmen am Einsatzort nicht zur Verfügung, so legen die Ergebnisse dieser Arbeit nahe, dass auch die Vermittlung von Metaskills, zum Beispiel durch Anleitung zur Erweiterung 317
INTERKULTURELLES LERNEN
des Repertoires an Lernstrategien, hilfreich sein könnte. Da der Nutzen der Vermittlung komplexerer kultureller Inhalte vor der Ausreise bezweifelt werden kann und da nicht absehbar ist, welche Themen für eine Person am Entsendungsort dann tatsächlich relevant sein werden, besteht möglicherweise hier das größere Potential positiver Effekte interkultureller Trainings.
Fazit Die Analyse der Veränderung von Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ erlaubt Einblicke in den Verlauf informellen Lernens im Ausland. Dabei zeigt sich, dass das Erlernen neuen sozialen Regelwissens der ‚fremden Kultur‘ auch ohne die von etlichen Modellen interkulturellen Lernens postulierten Dissonanzerfahrungen möglich ist. Tatsächlich zeigen die hier vorgenommenen Analysen, dass das Erleben von Dissonanz und kultureller Differenz im Ausland nicht in dem Ausmaß beobachtet werden kann, wie häufig in Arbeiten über Akkulturation oder interkulturelles Lernen im Ausland angenommen wird. Angesichts des Umstandes, dass das Empfinden kultureller Differenz bisweilen völlig ausbleibt, stellt sich erneut die Frage, ob ein Auslandsaufenthalt generell eine interkulturelle Erfahrungssituation darstellt. Aufgrund der hier gewonnenen Ergebnisse muss diese Frage verneint werden. Vielmehr zeigt die Arbeit, dass Aussagen über die Interkulturalität einer Situation nicht ohne Berücksichtigung der subjektiven Sicht der beteiligten Personen getroffen werden können. An dieser Stelle verweist die Arbeit nicht nur auf die Nützlichkeit, sondern zugleich auch auf die Grenzen einer Psychologie interkulturellen Handelns. Für die Erforschung der Konstitution kultureller Zugehörigkeit und Differenz verspricht dabei eine interpretative Kulturpsychologie die nötigen theoretischen und methodologischen Voraussetzungen.
318
10. Z U S A M M E N F A S S U N G Einleitung Kulturvergleichende Forschung sowie zahlreiche Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation haben dazu beigetragen, Probleme und Herausforderungen interkultureller Interaktionen besser zu verstehen. Die einseitige Ausrichtung auf problematische Aspekte interkultureller Kommunikation sowie auf die Ermittlung kultureller Unterschiede der Akteure in interkulturellen Situationen lässt jedoch wichtige Erfahrungsbereiche unberücksichtigt und zahlreiche theoretische Probleme ungelöst. Hierzu zählen vor allem positive Erfahrungen und konstruktive Möglichkeiten im Umgang mit kultureller Differenz sowie die Frage danach, ob und wie die Überwindung eines essentialistischen Kulturbegriffs im Rahmen der Psychologie interkulturellen Handelns gelingen kann. Die vorliegende Arbeit stellt in zweierlei Hinsicht einen Versuch zur Beseitigung der genannten Forschungsdefizite dar: In theoretischer und methodischer Hinsicht setzt sie auf die Erfassung individueller Deutungs- und Erklärungsmuster mit qualitativen Methoden, wobei weder vorausgesetzt wird, dass Personen lediglich als Vertreter ‚ihrer‘ Kultur zu betrachten noch dass ‚interkulturelle‘ Interaktionen notwendigerweise konflikthaft seien. In inhaltlicher Hinsicht erweitert sie die Fragestellung psychologischer Forschung auf den Ablauf informeller, interkultureller Lernprozesse im Ausland, wobei die vielfach vorgetragene Forderung nach empirischen Längsschnittstudien umgesetzt wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die Veränderung von Alltagstheorien als ein möglicher Aspekt informellen Lernens herausgegriffen. Untersucht werden Alltagstheorien deutscher Studenten und Manager in Taiwan über das chinesische/taiwanesische Konzept ‚Gesicht‘ und deren Veränderungen über die Zeit.
Theoretische Grundlagen Die Forschungsfrage knüpft an die drei Forschungsfelder ‚Interkulturelles Lernen‘, ‚Alltagstheorien‘ und ‚Gesicht‘ an und verbindet sie in spezifischer Weise. Im ersten Kapitel werden Forschungsergebnisse zusammengetragen, die über die Situation von westlichen Ausländern in China und Taiwan Auskunft geben, wobei zugleich die Konstrukte ‚Akkulturation‘ und ‚interkulturelles Lernen‘ auf den Prüfstand gestellt werden. Das Konzept der ‚Akkulturation‘ wird aufgrund mangelnder inhaltlicher Präzision und theoretischer Fundierung 319
INTERKULTURELLES LERNEN
sowie aufgrund der einseitigen normativen Setzungen für das hier verfolgte Untersuchungsinteresse abgelehnt. Sodann wird die Möglichkeit erkundet, interkulturelles Lernen auf der Grundlage eines psychologischen Lernbegriffs zu definieren, der Lernen als Veränderung von Verhaltensdispositionen aufgrund von Erfahrung begreift. Zwar ist es dann möglich, ‚interkulturelles Lernen‘ definitorisch an die Existenz einer interkulturellen Erfahrungssituation oder an die spezifisch interkulturelle Art der Dispositionsänderung zu binden, was mit existierenden Forschungsarbeiten zum Thema durchaus vereinbar ist, doch verweisen die Schwierigkeiten, zu bestimmen, was genau eine interkulturelle Erfahrungssituation darstellt und worin die ‚interkulturelle‘ Dimension der resultierenden Dispositionsänderung bestehen könnte, auf die Grenzen eines solchen Versuchs. Als Grundlage der empirischen Studie wird daher der allgemeine Lernbegriff gewählt, der im Zusammenhang der Studie als Veränderung von Alltagstheorien operationalisiert wird. Im zweiten Kapitel werden bestehende und mögliche Verknüpfungen der Forschung über Alltagstheorien mit der Psychologie interkulturellen Handelns skizziert. Der für diese Arbeit gewählte Begriff der ‚Alltagstheorie‘ folgt dabei einer weiten Begriffsfassung, die sich insbesondere von dem in der deutschen psychologischen Forschung weit verbreiteten Konzept der ‚Subjektiven Theorie‘ absetzt. Dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien wird jedoch die Methode der ‚Strukturlegetechnik‘ entlehnt, die zur Dokumentation der Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ in dieser Arbeit zum Einsatz kommt. In der Literatur wird ‚Gesicht‘ übereinstimmend eine große Bedeutung im chinesischen und taiwanesischen Alltag, sowie große Relevanz für deutschchinesische Interaktionen bescheinigt. Im dritten Kapitel wird das chinesische Konzept von ‚Gesicht‘ sowohl aus der Perspektive chinesischsprachiger Autoren als auch aus der Perspektive westlicher Sozialwissenschaftler betrachtet. ‚Gesicht‘ entpuppt sich dabei als multidimensionales soziales Phänomen, das in der chinesischen Interpretation wesentlich an moralische Integrität, Fähigkeit, Status und Kultiviertheit von Personen gebunden ist, und das in Interaktionen beständig ausgehandelt wird. ‚Gesicht‘ kann in Interaktionen sowohl verloren gehen als auch gesteigert werden. Dabei wird in deutschen Interpretationen des chinesischen Konzepts ‚Gesicht‘ vor allem der Aspekt des Gesichtsverlust betont, ‚Gesicht‘ jedoch selten als konstruktives Handlungsfeld erschlossen.
Durchführung Im Rahmen der Längsschnittstudie wurden von 1998 bis 2000 vierzehn Studenten, Ingenieure und Manager aus Deutschland sowie eine Probandin aus Österreich während ihres ersten Aufenthaltsjahres begleitet und zu vier Zeitpunkten vor Ort ausführlich befragt. Die Dokumentation der Veränderung individueller Alltagstheorien während des Auslandsaufenthaltes erfolgte unter Einsatz eines Strukturlegeverfahrens, das deren graphische Repräsentation in 320
ZUSAMMENFASSUNG
‚Strukturbildern‘ ermöglicht. Zusätzlich wurden in offenen Interviews Veränderungen der allgemeinen Lebenssituation der Untersuchungsteilnehmer erfragt und aufgezeichnet. Die resultierende Datenbasis besteht aus 44 Strukturbildern sowie 44 Interviewtranskripten (zusammen etwa 1256 Seiten Transkript). Eine ausführliche Schilderung der Methoden, Untersuchungsdurchführung und Auswertungsverfahren findet sich im fünften Kapitel.
Ergebnisse Ergebnisse der Strukturbildanalysen (Kapitel sechs) zeigen, dass die dokumentierten Alltagstheorien über ‚Gesicht‘ im Laufe der Zeit komplexer werden und mehr Themenfelder abdecken. Während die Themenfelder ‚Gesicht verlieren‘ und ‚Gesicht nehmen‘ bereits zum ersten Strukturlegetermin ausführlich repräsentiert sind, stellen die Aspekte ‚Gesicht geben‘ und ‚Gesicht haben‘ vorrangige Lernfelder dar. Auch der instrumentelle Charakter von ‚Gesicht‘ erschließt sich häufig erst zu den späteren Untersuchungsterminen. Neu aufgenommene Inhalte sind dabei typischerweise ‚erfahrungsnah‘ und ‚erfahrungsgeprüft‘. Dies bedeutet, dass individuelle Erfahrungen für die Generierung von Strukturbildinhalten ausschlaggebend sind, während Gehörtes oder Gelesenes nur dann berücksichtigt wird, wenn es der eigenen Erfahrung entspricht. Strukturbilder weisen sowohl bezüglich ihrer Veränderungsdynamik als auch bezüglich ihres Inhalts und der (negativen oder positiven) Bewertungen gesichtsrelevanter Aspekte interindividuelle Unterschiede auf, deren Ursachen aus den Strukturbildern und biographischen Eckdaten alleine nicht erklärbar sind. Erst Einzelfallanalysen (Kapitel sieben) machen sichtbar, dass diese Unterschiede mit individuellen ‚Kernthemen‘ in Bezug stehen, die nicht nur den Blick auf ‚Gesicht‘, sondern auch auf den Aufenthalt in Taiwan im allgemeinen in spezifischer Weise vorstrukturieren. Personen unterscheiden sich dabei insbesondere darin, ob der Aufenthalt in Taiwan als Herausforderung ihrer Identität und Identitätsgrenzen erlebt wird – was keineswegs immer der Fall ist. Dabei entwickeln Untersuchungspartner, die in den Interviews einen ‚Ichfernen‘ Zugang zu ihrer Umwelt erkennen lassen, inhaltlich umfangreichere Alltagstheorien über ‚Gesicht‘. Aussagen genereller Art, z.B. bezüglich des Lernens anderer Themen, lassen sich hieraus jedoch nicht ableiten. Fallvergleichende Analysen (Kapitel acht) zeigen, dass das Lernen über ‚Gesicht‘ auch mit weiteren Faktoren in Zusammenhang steht. Chinesische Sprachkenntnisse gehen dabei nicht mit größerem Wissen über ‚Gesicht‘, wohl aber mit einer positiveren Einstellung zu ‚Gesicht‘ und dem Leben in Taiwan im allgemeinen einher. Eine Analyse der verwendeten Lernstrategien zeigt, dass die Interviewpartner eine Fülle verschiedener Strategien informellen Lernens einsetzen, die sich insbesondere im Grad ihre Aktivität und Passivität im Zugang zu verschiedenen Quellen neuen Wissens unterscheiden. Da Lernen über ‚Gesicht‘ an eigene Erfahrungen mit diesem Prinzip geknüpft ist, 321
INTERKULTURELLES LERNEN
hängt der Verlauf des Lernprozesses auch davon ab, ob ‚Gesicht‘ im Alltag erkannt wird. Typischerweise wird zum ersten Untersuchungszeitpunkt ‚Gesicht‘ nicht oder nur ‚unterschwellig‘ erkannt, später jedoch ‚überall‘ wahrgenommen. Auch hier zeigen sich große interindividuelle Unterschiede, die teilweise auf individuelle ‚Kernthemen‘ zurückzuführen sind, teilweise jedoch auch objektiven Bedingungen der Erfahrungsumwelten der jeweiligen Interviewpartner zugeschrieben werden müssen.
Diskussion Die Ergebnisse der empirischen Arbeit stehen mit existierenden Modellen interkulturellen Lernens nur teilweise in Einklang. Insbesondere zeigen sie, dass das Erlernen neuen sozialen Regelwissens der ‚fremden Kultur‘ auch ohne die von etlichen Modellen interkulturellen Lernens postulierten Dissonanzerfahrungen möglich ist. Vielmehr zeigt sich, dass das Erleben von Dissonanz und kultureller Differenz im Ausland tatsächlich nicht in dem Ausmaß beobachtet werden kann, wie häufig in Arbeiten über Akkulturation oder interkulturelles Lernen im Ausland angenommen wird. Die empirischen Daten bestätigen die auch von anderer Seite vorgebrachten Einwände, nach denen über die Relevanz kultureller Differenz oder die Art der individuell vorgenommenen kulturellen Grenzziehung in bestimmten Situationen nicht a priori entschieden werden könne. Vielmehr zeigt die Arbeit, dass Aussagen über die Interkulturalität einer Situation nicht ohne Berücksichtigung der subjektiven Sicht der beteiligten Personen getroffen werden können. Es ist fraglich, ob der Verzicht auf einen essentialistischen Kulturbegriff und damit auf kategorische kulturelle Grenzziehungen mit den Prämissen einer Psychologie interkulturellen Handelns vereinbar ist. Für die Erforschung der Konstitution kultureller Zugehörigkeit und Differenz verspricht eine interpretative Kulturpsychologie die besseren theoretischen und methodologischen Voraussetzungen.
322
VERZEICHNIS
DER
ABBILDUNGEN
UND
TABELLEN
Abbildungen Abbildung 1: Interviewleitfaden Erstinterview
127
Abbildung 2: Interviewleitfaden Interview II und III
129
Abbildung 3: Interviewleitfaden Interview I B zu ‚Gesicht‘
132
Abbildung 4: Interviewleitfaden Interview II B und III B zu ‚Gesicht‘
133
Abbildung 5: Übersicht über die in den Strukturbildern verwendeten Relationen
136
Abbildung 6: Beispiel für die Repräsentation von Alltagstheorien im Strukturbild
136
Abbildung 7: Strukturbild Weber I
146
Abbildung 8: Strukturbild Weber II: Veränderungen hervorgehoben
148
Abbildung 9: Strukturbild Weber III: Veränderungen hervorgehoben
150
Abbildung 10: ‚Gesicht nehmen‘ im Strukturbild Alain I
166
Abbildung 11: ‚Gesicht nehmen‘ im Strukturbild Alain II
167
Abbildung 12: ‚Gesicht haben‘ im Strukturbild Denise III
169
Abbildung 13: ‚Gesicht haben‘ im Strukturbild Paul III
170
Abbildung 14: Folgen eines Gesichtsverlusts im Strukturbild Richard II
171
Abbildung 15: Folgen eines Gesichtsverlusts im Strukturbild Richard III
171
323
INTERKULTURELLES LERNEN
Tabellen Tabelle 1: Überblick über den Untersuchungsablauf
125
Tabelle 2: Vier Themenfelder von ‚Gesicht‘ in der empirischen Untersuchung
131
Tabelle 3: Kategorien zur Definition von ‚Gesicht‘
153
Tabelle 4: Handlungen und Umstände, die zum Gesichtsverlust führen
154
Tabelle 5: Mögliche Handlungen, nachdem man selbst ‚Gesicht‘ verloren hat
156
Tabelle 6: Handlungen und Umstände, die jemand anders ‚Gesicht‘ nehmen
157
Tabelle 7: Handlungen, nachdem man jemand anders ‚Gesicht‘ genommen hat
158
Tabelle 8: Handlungen, Umstände, die das eigene ‚Gesicht‘ mehren
160
Tabelle 9: Folgen von ‚Gesicht haben‘
161
Tabelle 10: Handlungen, die anderen ‚Gesicht‘ geben
162
Tabelle 11: Folgen von ‚Gesicht geben‘
162
Tabelle 12: Anzahl der sprachlich repräsentierten Veränderungen
164
324
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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:
Katharina Lange Authentische Wissenschaft? Arabische Ethnologie und Indigenisierung Dezember 2004, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,00 €, ISBN: 3-89942-217-1
Julia M. Eckert (Hg.) Anthropologie der Konflikte Georg Elwerts konflikttheoretische Thesen in der Diskussion Oktober 2004, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-271-6
Heiner Bielefeldt, Jörg Lüer (Hg.) Rechte nationaler Minderheiten Ethische Begründung, rechtliche Verankerung und historische Erfahrung
Christian Berndt Globalisierungs-Grenzen Modernisierungsträume und Lebenswirklichkeiten in Nordmexiko September 2004, 332 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-236-8
Susanne Schwalgin »Wir werden niemals vergessen!« Trauma, Erinnerung und Identität in der armenischen Diaspora Griechenlands September 2004, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-228-7
Robert Pütz Transkulturalität als Praxis Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin
Oktober 2004, ca. 200 Seiten, kart., ca. 23,00 €, ISBN: 3-89942-241-4
September 2004, 294 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-221-X
Doris Weidemann Interkulturelles Lernen Erfahrungen mit dem chinesischen ›Gesicht‹: Deutsche in Taiwan
Mark Terkessidis Die Banalität des Rassismus Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive
Oktober 2004, 346 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-264-3
Oktober 2004, 224 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-263-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Klaus E. Müller, Ute Ritz-Müller Des Widerspenstigen Zähmung Sinnwelten prämoderner Gesellschaften September 2004, 214 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-134-5
Martin Sökefeld (Hg.) Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei Juli 2004, 184 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-229-5
Robert Frank Globalisierung »alternativer« Medizin Homöopathie und Ayurveda in Deutschland und Indien Mai 2004, 310 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-222-8
Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.) Jahrbuch 2002/2003 April 2004, 316 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN: 3-89942-177-9
Irina Yurkova Der Alltag der Transformation Kleinunternehmerinnen in Usbekistan März 2004, 212 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-219-8
Helmut König, Manfred Sicking (Hg.) Der Irak-Krieg und die Zukunft Europas Februar 2004, 194 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 3-89942-209-0
Wilhelm Hofmeister, H.C.F. Mansilla (Hg.) Die Entzauberung des kritischen Geistes Intellektuelle und Politik in Lateinamerika Februar 2004, 240 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-220-1
Markus Kaiser (Hg.) Auf der Suche nach Eurasien Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa 2003, 398 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-131-0
Andrea Lauser »Ein guter Mann ist harte Arbeit« Eine ethnographische Studie zu philippinischen Heiratsmigrantinnen April 2004, 340 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-218-X
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de