„Ästhetik des Widerstands“: Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss [Reprint 2021 ed.] 9783112481486, 9783112481479


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German Pages 220 [229] Year 1988

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„Ästhetik des Widerstands“: Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss [Reprint 2021 ed.]
 9783112481486, 9783112481479

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„Ästhetik des Widerstands" Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Ästhetik des Widerstands" Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss Herausgegeben von Norbert Krenzlin

Akademie-Verlag Berlin 1987

Die Fotovorlagen f ü r die Abbildungen stellten Harald Olbricht und Wolfgang Schindler zur Verfügung

ISBN 3-05-000428-2 ISSN 0232-315 X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4, © Akademie-Verlag Berlin 1987 Lizenznummer: 202 • 100;'121/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6789 Lektor: Alfred Gessler LSV: 8053 Bestellnummer: 754 748 4 (2150/92) 00750

Inhalt

Vorbemerkung

7

Kurt Pätzpid Jahrhundertsicht in Peter Weiss' Roman „Die Ästhetik des Widerstands"

13

Wolfgang Schindler Der Große Fries des Pergamonaltars — Peter Weiss' Deutungen in der Sicht des Klassischen Archäologen

31

Irene Dötting Frauen im Klassenkampf — Klassenkampf und Geschlechterfrage in Peter Weiss' „Ästhetik des Widerstands" . . . . . .

45

Karl-Hein% Mauß Die Psychologie des Widerstands — Gedanken zum Handlungskonzept von Peter Weiss

64

Norbert Kren?Jin Ästhetik im Epochenumbruch — Zur Stellung der „Ästhetik des Widerstands" in den Ästhetik-Debatten der Gegenwart . . .

79

Ursula Heukenkamp Angelus novus oder der Erzähler in der „Ästhetik des Widerstands"

100

Harald Olbrich „Die Ästhetik des Widerstands" als Herausforderung: Zum Umgang mit bildender Kunst

122

5

Gudrun Klatt Korrespondenz und Widerspruch — Brecht bei Peter Weiss . .

135

Jürgen Kuttner „ . . . kein Buch, das einfach zum Leser gelangt"? — Zur Aufnahme der Ästhetik des Widerstands in der BRD 154 Anmerkungen

177

Auswahlbibliographie

204

Personenregister

208

Zu den Autoren

211

Vorbemerkung

Peter Weiss (1916—1982), weltweit bekannt geworden durch sein Drama Die Verfolgung und "Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielergruppe des Hospizes Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (Uraufführung 1964), hat den Roman Die Ästhetik des Widerstands als sein Hauptwerk betrachtet. Es ist, wenn man von der fast gleichzeitigen Arbeit an dem Drama Der neue Prozeß (Uraufführung 1982) absieht, zugleich sein letztes geworden. Der erste Band des Romans erschien 1975. Ein zweiter Band folgte 1978, der dritte und abschließende 1981. Zusammen mit ihm wurden zwei Bände Notizbücher. 1971—1980 veröffentlicht, die Aufschluß über Entstehung und Entwicklung des Romans geben. 1 Um eine erste Vorstellung vom Rang dieses Buches zu vermitteln, sei auf die Bemühungen Thomas Metschers verwiesen, seiner Wertschätzung des Romans Ausdruck zu geben. Von einem Überblick über markante Urteile ausgehend, kommt er in einem Gespräch Peter Weiss' ,,Die Ästhetik des Widerstands" zu folgendem Ergebnis: „Wolfgang Fritz Haug hat sie ein Jahrhundertbuch' genannt, ,fast so wichtig für unsere politische und theoretische Kultur wie das Kapital' . . . Die österreichische Schriftstellerin Marie-Thérèse Kerschbaumer, selbst Verfasserin eines Werks, das den antifaschistischen Widerstand von Frauen erinnernd rekonstruiert (Der weibliche Name des Widerstands), spricht von der Odyssee unseres Jahrhunderts, Horst Hensel von einem ,Nationalepos der Deutschen', neben dem Faust der .größte deutsche Text' . . . Dies sind fürwahr große Worte, doch selbst bei hinreichender Skepsis gegenüber Superlativen wird nicht zu leugnen sein: Die Ästhetik des Widerstands gehört zu den Grundbüchern unseres Jahrhunderts, ist der Roman einer Epoche. Ich würde ihn in eine Reihe stellen — im deutschsprachigen Bereich — mit etwa dem Doktor Faustus und den komplexesten Werken von Brecht." 2 7

Peter Weiss' Roman ist einer der politischsten in der Gegenwartsliteratur und hat dementsprechend heftige Reaktionen der Kritik hervorgerufen und sie tief gespalten. An diesem Buch schieden sich, was sich heutzutage von nicht allzuvielen Werken sagen läßt, die Geister. Allein die deutschsprachigen Stellungnahmen zu der Trilogie sind gegenwärtig kaum noch überschaubar. Sie reichen von der schnellen Rezension in der Tageszeitung über umfangreichere Besprechungen in Wochen- und Fachzeitschriften bis zu Sammelbänden, die speziell und ausschließlich dem Roman gewidmet sind.3 Auch dürfen die zahlreichen Gespräche nicht vergessen werden, die mit dem Autor über sein Werk geführt und veröffentlicht worden sind, die besonderen Kapitel dazu in monographischen Abhandlungen über Peter Weiss sowie die bisher — soweit mir bekannt — fünf Tagungen über Die Ästhetik des Widerstands:4 Mit anderen Worten: Die Ästhetik des Widerstands als ein äußerst anspruchsvolles Werk hat in erstaunlich kurzer Zeit eine außergewöhnliche Publizität gefunden. Sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist Sozialistenpflicht. Die geschichtliche Bedeutung des Romans, wie sie aus der bisherigen Aufnahme ablesbar ist und in dem vorliegenden Sammelband weiter herausgearbeitet werden soll, läßt sich vor allem durch folgende Leistungen umreißen. Die Ästhetik des Widerstands hat die Auseinandersetzung über den Charakter der Epoche, über die sie bewegenden Kräfte und die Chancen progressiver Politik von den Positionen des Sozialismus und für diesen in ungeahnter Weise belebt. Sie trägt dazu bei, einen Prozeß der kollektiven Verständigung über die letzten Fragen unseres Jahrhunderts zu organisieren. Und sie ist — ganz gewiß nicht zufällig — sofort in den Diskurs über die Aufgaben der Friedenssicherung hier und heute einbezogen worden. Unsere Publikation, in der Wert darauf gelegt wird, Epochenprobleme an verschiedenen Themen und unter den Aspekten verschiedener Gesellschaftswissenschaften auszuleuchten, versteht sich als ein Beitrag zu eben diesem Prozeß. — Die Ästhetik des Widerstands ist Peter Weiss' letzte und umfassendste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Kunst, von politischer und künstlerischer Avantgarde. Die Beschäftigung mit dieser Problematik zwingt dazu, sich sehr grundsätzlich über die Möglichkeiten einer emanzipatorischen Funktion von Kunst und über den politischen Auftrag der marxistischen Ästhetik und Kunstwissenschaften in der Gegenwart zu verständigen. Ästhetiker, Kunst- und Literatur8

Wissenschaftler stellen in den Beiträgen dieses Bandes einschlägige Überlegungen zur Diskussion. — Die Ästhetik des Widerstands hat nicht nur heftige Reaktionen hervorgerufen, sie hat vor allem auch die sich betont literarisch und gern als linksinteressiert gebende Kritik gezwungen, ihren latenten Antikommunismus offen einzugestehen.5 Dieses Buch wirkt entlarvend; vor ihm gibt es kein Verstecken. Auch deshalb war es für uns wichtig, in gemeinschaftlicher Unternehmung eigene Positionen zu entwickeln und vorzustellen, um deren Deutung nicht länger westlichem Orakel oder dubioser Ostforschung zu überlassen. Die vorliegende Publikation, in der Versuche vorgeführt werden, produktiv mit der Ästhetik des Widerstands umzugehen, möchte in diesem Zusammenhang ein Zeichen setzen. Die Ästhetik des Widerstands, nach Auffassung der bekannten sowjetischen Literaturwissenschaftlerin Tamara Motyljowa eines „der bedeutendsten Werke der antifaschistischen deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre" 6 , stellt ein bemerkenswertes Ereignis in der Geschichte der sozialistischen Ideologie, Kunst und Wissenschaft unserer Zeit dar. In ihr wird eine Methode der Weltaneignung praktiziert, die viele Momente synthetisiert: ästhetische und moralische, historische und psychologische, wissenschaftliche und politische. Der Versuch, sich ihr komplex, d. h. unter den Aspekten verschiedener Gesellschaftswissenschaften zu nähern, ist u. E. der einzig angemessene, der seine Produktivität in der Lehre bereits unter Beweis gestellt hat. Peter Weiss' Roman stand im Mittelpunkt eines Seminars, das ich zum Thema „Ästhetik im Epochenumbruch" an der Grundstudienrichtung Kulturwissenschaft der HumboldtUniversität zu Berlin durchgeführt habe. Neben Studenten der Kulturwissenschaft nahmen daran Doktoranden der Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie teil. Hatte sich bereits die interdisziplinäre Zusammensetzung des Teilnehmerkreises auf die Ergebnisse und den Verlauf der Lehrveranstaltung produktiv ausgewirkt, so bedeutete die Tatsache, daß es gelang, bekannte Wissenschaftler verschiedener Disziplinen für das Thema zu interessieren und zur Mitarbeit zu bewegen, einen außerordentlichen Gewinn. In der Regel spielte sich die Mitarbeit so ab, daß die Kollegen in einem Vortrag ihre Sicht der durch Peter Weiss' Roman aufgeworfenen und ihr Fach berührenden Probleme darlegten und zur Diskussion stellten. Es kam meiner Hochschätzung der Ästhetik des Widerstands nur entgegen, dabei erleben zu können, daß der 9

Roman in den Augen des Historikers, des klassischen Archäologen, der Kulturwissenschaftlerin u. a. Spezialisten nicht nur Bestand hatte, sondern sie sichtlich anregte, die Herausforderungen der Ästhetik des Widerstands anzunehmen, zu versuchen, sich ihnen als ebenbürtig zu erweisen und innovativ darauf zu reagieren. Das ist der Grund für den Wunsch, einige Ergebnisse des Seminars zu publizieren, und für die Hoffnung, sie mögen bei einer interessierten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit finden. Die Ästhetik des Widerstands war uns — sowohl von der Sache, dem nicht einfachen Roman, als auch von unserer Einstellung her — ein Buch angestrengter Arbeit. Das hat, wie einigen der Beiträge zu entnehmen ist, seine Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählt, daß uns diese Herangehensweise davor bewahrt hat, mit dem Roman allzu feierlich umzugehen. Aber auch die Nachteile liegen auf der Hand: Insofern im Vordergrund das Bemühen stand, uns mit Hilfe des Romans über uns heute bewegende epochale Fragen zu verständigen, wir ihn in diesem Sinne „instrumentalisierten", kam der Kunstcharakter des Romans zu kurz; waren die Versuche, Die Ästhetik des Widerstands nun auch literarhistorisch zu orten, nicht entschieden genug. Wir verbinden dieses Eingeständnis allerdings mit der Überzeugung, daß wir in der Aufarbeitung des Romans bei uns erst den Anfang gemacht haben. Der vorliegende Band ist der Alma mater berolinensis auf besondere Weise verbunden. Seine Autoren waren — mit einer Ausnahme — z. Z. ihrer Mitarbeit an Seminar und Sammelband Angehörige der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Seminar endete in dem Jahr, in dem sie auf eine einhundertfünfundsiebzigjährige Geschichte zurückblicken konnte, also 1985. Das zeitliche Zusammenfallen von Seminarende und Jubiläum ist Zufall — für nicht zufällig dagegen halten wir, daß dieser Band von der Produktivität und Unverwüstlichkeit einer Idee zeugt, die schon bei der Gründung der Berliner Universität Pate gestanden hat: Die Rede ist von der u n i v e r s i t a s l i t t e r a r u m , der großen Gründungsidee Wilhelm von Humboldts. — Im Gartenhof der Humboldt-Universität erinnert ein M a h n m a l f ü r die Opfer des F a s c h i s m u s an zwölf Angehörige der Berliner Universität, die als Kämpfer gegen die Nazidiktatur zwischen 1942 und 1945 zum Tode verurteilt und ermordet worden sind, unter ihnen Arvid Harnack, Mildred Harnack-Fish und Horst Heilmann. Sie gehören zu den Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes, denen Peter Weiss mit seinem Roman ein Denkmal gesetzt hat. Ihrer Tradition vor allem fühlen wir uns 10

verpflichtet — auch bei dem Versuch, Die Ästhetik des Widerstands in unsere Bemühungen um Frieden und Sozialismus einzubringen. Zum Schluß sei ein Dank ausgesprochen. Der Herausgeber dankt Gerhard Schneider, dem Leiter der Reihe „Literatur und Gesellschaft", und Alfred Gessler, dem Lektor dieses Bandes, für die umfassende Förderung und tatkräftige Unterstützung des Projektes. Ohne Alfred Gesslers intensive Arbeit am Manuskript hätten die relativ kurzen Fristen, die wir uns gesetzt hatten, nicht eingehalten werden können. Berlin, im Februar 1986 Norbert Krenzlin

Kurt Pätzold

Jahrhundertsicht in Peter Weiss' Roman

Die Ästhetik des Widerstands

Rezensenten sehr unterschiedlicher politischer und geistiger Standorte, die sich des Romans von Peter Weiss für ihre Zwecke bemächtigten, haben den Eindruck hervorzurufen gesucht, als biete das Werk keine wichtigere Herausforderung als die, den Abweichungsgrad festzustellen, bis zu dem die Sicht des Schriftstellers auf den Kampf der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sich von jener unterscheidet, die in Werken marxistischer Geschichtsschreiber gegeben wurde. Solche Unterschiede existieren im einzelnen. Das hat offenbar dazu beigetragen, daß jene „Interpretationshilfen" auch hierzulande Leser des Werkes auf eine Aneignungsweise hindrängen konnten, die an dessen Hauptgehalt vorbeiliest. Und das wiederum mochte denen recht sein, welchen die philosophisch-historische Grundrichtung nicht paßt, zu der sich Peter Weiss gerade auch mit diesem Roman bekannte und deren Sache er durch ihn befördern wollte. Die Ästhetik des Widerstands handelt vom Kampf zwischen den Kräften des Friedens und des Krieges, des Antifaschismus und des Faschismus, der Revolution und der Konterrevolution. Sie benennt und charakterisiert diese Kräfte in aller Schärfe und Unverwechselbarkeit. Wer sich den Fragen und Antworten des Autors einmal gestellt hat, kann alle Mogelei vergessen. Daher sind Weiss' Kontrahenten instinktsicher und vorsichtshalber auf Nebenfelder geflohen. Der Gefallen, ihnen dorthin zu folgen, wird ihnen nicht getan werden. Wir werden bei den letzten Fragen des Schriftstellers und bei seinen Antworten bleiben. Den letzten in einem doppelten Sinne: sie betreffen Leben und Überleben der Menschheit, und sie wurden formuliert, als die Tage des Autors schon gezählt waren. Peter Weiss' Roman wurde in jenen Jahren geschrieben und begann zu erscheinen, als viele Hoffnungen auf einen sicheren Weltfrieden 13

Kurt Pätzold

Jahrhundertsicht in Peter Weiss' Roman

Die Ästhetik des Widerstands

Rezensenten sehr unterschiedlicher politischer und geistiger Standorte, die sich des Romans von Peter Weiss für ihre Zwecke bemächtigten, haben den Eindruck hervorzurufen gesucht, als biete das Werk keine wichtigere Herausforderung als die, den Abweichungsgrad festzustellen, bis zu dem die Sicht des Schriftstellers auf den Kampf der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sich von jener unterscheidet, die in Werken marxistischer Geschichtsschreiber gegeben wurde. Solche Unterschiede existieren im einzelnen. Das hat offenbar dazu beigetragen, daß jene „Interpretationshilfen" auch hierzulande Leser des Werkes auf eine Aneignungsweise hindrängen konnten, die an dessen Hauptgehalt vorbeiliest. Und das wiederum mochte denen recht sein, welchen die philosophisch-historische Grundrichtung nicht paßt, zu der sich Peter Weiss gerade auch mit diesem Roman bekannte und deren Sache er durch ihn befördern wollte. Die Ästhetik des Widerstands handelt vom Kampf zwischen den Kräften des Friedens und des Krieges, des Antifaschismus und des Faschismus, der Revolution und der Konterrevolution. Sie benennt und charakterisiert diese Kräfte in aller Schärfe und Unverwechselbarkeit. Wer sich den Fragen und Antworten des Autors einmal gestellt hat, kann alle Mogelei vergessen. Daher sind Weiss' Kontrahenten instinktsicher und vorsichtshalber auf Nebenfelder geflohen. Der Gefallen, ihnen dorthin zu folgen, wird ihnen nicht getan werden. Wir werden bei den letzten Fragen des Schriftstellers und bei seinen Antworten bleiben. Den letzten in einem doppelten Sinne: sie betreffen Leben und Überleben der Menschheit, und sie wurden formuliert, als die Tage des Autors schon gezählt waren. Peter Weiss' Roman wurde in jenen Jahren geschrieben und begann zu erscheinen, als viele Hoffnungen auf einen sicheren Weltfrieden 13

aufkeimcen. Als er geschlossen vorlag, hatte die Verschärfung der internationalen Widersprüche erneut die Oberhand gewonnen. Die Sicht des Schriftstellers auf dieses „sein" Jahrhundert, von dem vier Fünftel verflossen waren, als der letzte Band des Werkes erschien, fordert heraus. Sie verlangt Parteinahme. Sie enthält einen zuversichtlichen Appell zum Mitkämpfen für Frieden, Revolution und Sozialismus. Dieses Buch wird weiter und lange gebraucht werden. Von ihm muß Gebrauch gemacht werden. Denn es ist noch nicht entschieden, ob von unseren Tagen dereinst geschrieben werden kann, daß in ihnen der Weltfrieden dauerhaft fundiert wurde, oder ob über sie als einer Vorstufe zum Menschheitsuntergang dauernd geschwiegen werden wird. Keine Frage, für welchen Ausgang des Ringens Peter Weiss mit jedem Zug seiner Feder focht. Keine Frage, daß seine Hoffnungen auf der Macht der Volksmassen ruhen, von deren Eigenschaften, Fähigkeiten und Kräften er die höchste Meinung besaß. Ihnen und der Arbeiterklasse voran traute er zu, daß sie die Wahrheit über die Geschichte verstehen und ertragen könnten, um sie nach ihren Interessen gestalten zu können. Verstehen: das bedeutete, daß Peter Weiss Vertrauen in das Vermögen der aktivsten, ausdauerndsten und politisch-charakterfestesten Teile der Unterdrückten setzte, sich nach dürftiger, von den verführerischen Absichten der Herrschenden geprägter Schulausbildung, nach alltäglicher Arbeitsqual und bedrückt von sozialer Unsicherheit doch tiefe Einsicht in Gesetze und Triebkräfte der Geschichte zu verschaffen und dies in einer zeitlichen Ausdehnung, die sich bis zu den frühesten Kämpfen der Menschheit zurückerstreckt, und in einem thematischen Umfang, der Wissenschaft und Kunst gleichermaßen einbegreift. Man mag dieses Vertrauen als bildungsbeflissene Utopie denunzieren: Marx und Engels hätten ihr dann auch gehuldigt und die Autoren des Gründungsprogramms der Kommunistischen Partei Deutschlands an der Jahreswende 1918/19 ebenso, als sie Hunderttausenden deutscher Arbeiter zutrauten, daß sie sich unter Begriffen wie Baal und Moloch Vorstellungen zu machen verstanden und ihnen die Bilder vom Golgathaweg und des hammerschwingenden Thor Gedanken schufen und Begleiter bei revolutionärer Tat sein konnten. Ertragen: das bedeutete für Peter Weiss das Vertrauen in die geistigen und physischen Kräfte der für ihre Befreiung Kämpfenden, nicht nur die allgemeine Wahrheit anzuerkennen, daß es Fortschritte 14

ohne Schattenseiten nicht gibt, daß Fortschreiten ohne Fehler nur geträumt werden kann, daß Revolutionen aus der Geschichte nicht hervortreten können wie die sagenhafte Pallas Athene dem Haupte des Zeus entstiegen sein soll, sondern daß sie sich auch den schwärzesten Erfahrungen eigener Vergangenheit zu stellen, d. h. aus ihnen zu lernen wissen, statt sie zum eigenen Nachteil zu verdrängen. Eigener Vergangenheit? Solange Bourgeoisie und Proletariat irgendwo auf dem Erdball noch existieren, besitzt die Arbeiterklasse nirgendwo ausschließlich ihre eigene, nach ihrem Willen freigewählte Geschichte. Doch ändert das nichts an der Notwendigkeit, sich die Vergangenheit anzueignen, damit Erfahrungen nicht unnütz doppelt gemacht werden müssen — und vor allem damit sie, die Vergangenheit, nicht zurückkehrt. Daß Peter Weiss' Jahrhundertsicht nicht die des abseits der großen Kämpfe stehenden Chronisten, sondern die des Revolutionärs ist, hat er auf eigenwillig-überzeugende Weise verdeutlicht. Für den Romancier begann dieses Jahrhundert mit dem Jahr des Sieges der ersten proletarischen Revolution: 1917. Die Mutter des IchErzählers, mit der dem Schriftsteller eine der großen Frauengestalten der deutschsprachigen Literatur gelang, lag mit ihrem ersten und einzigen Sohn in den Wehen, als in Petrograd die Salven des Panzerkreuzers „Aurora" donnerten, und sie schenkte ihrem Kind das Leben eben in dem Augenblick, „als Antonov Ovsejenko . . . die Mitglieder der provisorischen Regierung im Winterpalais für verhaftet erklärte" (I, 252). Das Ereignis Oktoberrevolution galt später dem Jüngling und Manne, der als Ich-Erzähler die Zentralfigur des Romans bildet, zu keinem Lebenszeitpunkt als Vergangenheit, sie blieb ihm stets „etwas unmittelbar Gegenwärtiges" (I, 256). Er und seine Freunde betrachten das Wohl und Wehe des revolutionsgeborenen Staates im Osten Europas und im Norden Asiens unter allen Bedingungen weiteren Menschheitsfortschritts als die wichtigste. Die Behauptung seines Triumphs über Zarismus und Kapitalherrschaft, seine Verteidigung gegen jedwede Anfeindungen und Angriffe gilt den Kampfgefährten als eine Pflicht, über die es grundsätzlicher Verständigung schon nicht mehr bedarf. Zwanzig Jahre trennen die Zeitgenossen vom Oktobersieg in Rußland, in dem Moment, in dem Peter Weiss die Romanhandlung inmitten Deutschlands im Herbst 1937 einsetzen läßt. Europas Ge15

schichte steuert zu diesem Zeitpunkt in eine neue Vorkriegskrise. Seit mehr als viereinhalb Jahren war die Klassenherrschaft des deutschen Finanzkapitals faschistisch organisiert und das zu dem doppelten Zweck, im Innern den Herr-im-Hause-Standpunkt der Ausbeuter uneingeschränkt durchzusetzen und zugleich die idealste Vorbedingung für die bereits fest vorgesetzten Kriegsabenteuer zu schaffen. Jedes Jahr deutscher Entwicklung hatte seitdem seine spektakulären Ereignisse. 1933 setzte sich die braundrapierte Konterrevolution in einer Kette grausiger Gewaltakte und skrupelloser Betrügereien fest in den Sattel. 1934 schloß sie die Konsolidierung des Regimes mit dem blutigen Mord an rivalisierenden Reaktionären ab. 1935 ging sie zur offenen Militarisierung über, führte die allgemeine Wehrpflicht wieder ein, zeigte die neugeschaffene Luftwaffe öffentlich, begann ein ehrgeiziges maritimes Bauprogramm, für das der kapitalistische Hauptrivale in Europa, Großbritannien, obendrein seine ausdrückliche Zustimmung gab. 1936 besetzte sie die demilitarisierte Rheinlandzone, die Streitkräfte, behutsam noch, bis an Frankreichs und Belgiens Grenzen vorschiebend, und entsandte, ohne es einzugestehen, Offiziere und Soldaten auf den K a m p f platz des spanischen Bürgerkrieges, um den vor Madrid stehenden Franco-Faschisten an die Macht zu verhelfen. Aber 1937? Kein Blutbad, keine außenpolitische Provokation wie in den Jahren vorher werden da verzeichnet. War da eine Art Normalzustand des Regimes erreicht, hatte es seine Energien zunächst erschöpft und war deshalb an Grenzen eigener Aktivität gestoßen? Tatsächlich begannen in den nichtfaschistischen Nachbarstaaten Europas Millionen Menschen sich auf die Existenz mit dem verbrecherischen Faschismus einzurichten. Zuviele hatten aufgehört, sich dauernd über die deutschen Zustände zu beunruhigen. Doch wurde der Alltag Nazideutschlands durch die schärfste, auf kürzeste Fristen bis zum Kriege gerichtete Aufrüstung bestimmt. Die Machthaber häuften die Kräfte an, die ihren Expansionsplänen Instrument sein sollten. D a s war kein Geheimnis. Während sich der Ich-Erzähler mit seinen beiden engen, ihm durch kommunistische Gesinnung und antifaschistische Haltung verbundenen Freunden noch einmal vor dem Pergamon-Altar inmitten Berlins trifft, u m von ihnen für unbestimmte Zeit Abschied zu nehmen, denn er ist im Begriff, nach Spanien zu gehen und in den Reihen der Internationalen Brigaden die Republik zu verteidigen, war in Deutschland eine faschistische Staatsaktion in G a n g gesetzt, die 16

über Tage ganze Zeitungs- und Zeitschriftenseiten besetzte, Rundfunksendungen und Filmvorführungen vollständig ausfüllte: Benito Mussolini, der faschistische Diktator des verbündeten Italien, war zum ersten Mal in das Nazireich gekommen, und sein Besuch ward den in München, Essen und Berlin zu Hunderttausenden zusammenströmenden Menschen wie allen Zeitgenossen als weltgeschichtliches Ereignis ausgegeben. Da, wo der „Duce" hinkam, arbeits- und schulfreie Tage anbefohlen waren, ließ sich ihm demonstrieren,' D 7

daß das faschistische Regime das Volk in Massen hinter sich gebracht hatte. Es gab den Auftritten Hitlers und Mussolinis die geschlossen-drohende Kulisse, mit der den imperialen Ansprüchen beider Staaten, die sich als Habenichtse hinstellten, vor aller Welt psychologischer Nachdruck verliehen werden sollte. Für die Gegner des Faschismus in Deutschland waren das besonders schwere Tage. In Feldherrnpose beobachten die beiden Faschistenführer die aufwendigsten Wehrmachtsmanöver, die in Mecklenburg stattfanden, sich auch auf die Ostsee erstreckten und die Zivilbevölkerung dreist ins Kriegsspiel einbezogen. Es wurde über deutschen Großstädten der Luftkrieg geprobt, die totale Verdunklung von Werken, Wohnhäusern, Straßen und Plätzen geübt, in Berlin ein Bombenangriff auf das Stadtzentrum vorgetäuscht und das Verhalten während einer Katastrophe mit Spezialkräften exerziert. Vom Manöverfeld reisten Hitler und Mussolini •direkt in die größte Waffenschmiede des Ruhrgebiets, wo ihnen von Gustav Krupp von Bohlen und Hallbach gezeigt wurde, wie deutsche Arbeiter schuftend dem faschistischen Staat einen Rüstungsvorsprung verschafften, der Siege in Blitzkriegen sichern sollte. Wer von Deutschland 1937 nichts kannte als nur die Staatsschauspiele dieser einen Woche, mußte zu dem Schluß gelangen, daß der nächste Krieg in Europa nahe war. Die Mehrheit der Deutschen hatte aber die Bereitschaft schon aufgegeben, ihren eigenen Augen zu trauen. Statt dessen verließ sie sich auf ihre Ohren, in die es aus Mussolinis Munde auf einer nächtlich-gespenstischen Kundgebung in Berlin tönte: „Der ganzen Welt, die sich gespannt fragt, was das Ergebnis von Berlin sein wird: Krieg oder Frieden, können wir beide, der Führer und ich, mit lauter Stimme antworten: Frieden." 1 Der falsche Friede währte noch knapp zwei Jahre. Die Rede Mussolinis hören der Ich-Erzähler, der sich auf dem Weg nach Spanien befindet, und seine aus Deutschland geflohenen Eltern im böhmischen Warnsdorf, im tschechoslowakischen Staat 2

Krenzlin, P. Weiss

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also, der ihnen ein immer unsicherer werdendes Exil bietet. Denn an der Existenz dieses Staatswesens lagen schon die Minen der Henlein-Faschisten, der fünften Kolonne des Naziregimes. Die Lügen der beiden faschistischen Führer ebenso im Ohr wie den hysterischen Beifall ihrer Anhänger, drängte sich in die Unterhaltung von Vater und Sohn unabweisbar die Frage, ob Deutschland und Europa denn bis zu diesem verhängnisdrohenden Punkt gelangen mußten. Nicht nur während dieses Gesprächs, sondern in vielen weiteren Debatten läßt Peter Weiss seine Romanfiguren immer aufs neue gedanklich zu den entscheidungsvollen Jahren bei und nach Ende des ersten Weltkrieges zurückkehren, als die Revolution allein in Rußland zu siegen vermochte und die Hoffnungen, die sich an die revolutionären Kämpfe in Ungarn und Deutschland knüpften, durch die Siege der Gegenrevolution zerschlagen wurden. Aber 1918 waren die deutschen Arbeiter und ihre Mitkämpfer aus anderen Klassen und Schichten für einen Moment ihrem Ziel nahe gekommen, ohne es jedoch erreichen zu können. Seitdem hatte sich ihnen nie wieder eine Chance geboten, die deutsche und — Peter Weiss macht es ohne einen Anflug von nationaler Überhebung klar — europäische Geschichte zu wenden. Hitler und sein Gast stünden 1937 nicht im grellen Scheinwerferlicht im Berliner Olympiastadion, der Vater befände sich nicht in fremdem Berüf an fremdem Ort, die Mutter wäre nicht arbeitslos und von ihrer Naziumgebung als Jüdin behandelt, die sie nicht ist, der Sohn nicht auf dem Wege in ein vom Faschismus bedrohtes Land, die zurückgelassenen Freunde lebten nicht in tiefer Illegalität inmitten ihrer Heimat, hätten nicht deutsches Großkapital und Großagrariertum im Verein mit den preußisch-deutschen Militaristen, die 1918 allesamt in den Abgrund ihres eigenen Untergangs hatten blicken müssen, Helfer und Kräfte mobilisiert, die sie vor dem Absturz bewahrten. Die Novemberrevolution in Deutschland war der Höhepunkt im politischen Handeln des Vaters geblieben. Aus Ungarn gebürtig, hatte er sich in jungen Jahren der Sozialdemokratischen Partei angeschlossen, in deren Zeitung 1915 schon erste Artikel veröffentlicht, bis man ihn nach kurzzeitiger Haft in den Kriegsdienst der Donaumonarchie preßte, von wo er, an der galizischen Front schwer verletzt, in ein Lazarett nach Bremen gebracht worden war. Leidlich genesen, gehörte er dort als ein Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu den Kämpfern für die Räte18

repüblik und mußte, erneut verwundet, die Bitternis , der Niederlageerleben. Nach ihr blieb er nur kurze Zeit noch in der Hansestadt, von wo er nach Berlin verzog. Anders als die Mehrheit seiner Parteifreunde hatte er den Schritt zur Kommunistischen Partei nicht mitgetan, sondern war, geschreckt von deren unverstandener innerer Disziplin, im März 1921 in die Reihen der Sozialdemokratie eingetreten — ein Schritt, den man Rückkehr nicht nennen konnte, denn beladen mit dem Fluch der Burgfriedenspolitik und des Revolutionsverrats war das die einstige Partei August Bebels lange nicht mehr, auch wenn dessen Bild und das von Karl Marx noch immer über den Präsidien der Parteiveranstaltungen angebracht wurde. Indessen sollte nach dem Verständnis des Vaters dieser objektive Rückschritt keine Option für die Politik der Reformisten bedeuten, gegen deren erklärten Willen er doch noch 1919 an der Weser zur Waffe gegriffen hatte. Doch im Grunde war dem Sozialdemokraten, der den Glauben an den Menschheitsfortschritt festhielt, Berührungsängste zu den Kommunisten auch in späteren Jahren in sich nicht aufkommen ließ, die Orientierung auf die revolutionäre Umgestaltung doch schon verlorengegangen, hatte sich eine Wendung seiner politischen Biographie vollzogen, die auch Persönlichkeitsverlust bedeutete. Erst zweiundfünfzig Jahre alt, fand sich der einstige Schmiedelehrling, Schlosser, Maschinist, Werftarbeiter und jetzige Textildrucker, der in Abendschulen ein Reifezeugnis erworben und auch ein Ingenieurexamen bestanden hatte, obwohl auch in seiner neuen Umgebung von seiner Organisation mit verantwortungsvollen Aufträgen betraut, doch am Rande der politischen Kämpfe. Was konnte er in ihnen noch leisten, was von ihrem Ausgang erwarten? Als Folge seiner Verletzungen auch äußerlich die Haltung eines ewigen Zweiflers einnehmend, bekämpfte er „seine Anfälle von Resignation" (I, 130) noch aus eigener Kraft, ersehnte er weiter die Arbeitereinheit, die ihm schlimmste Erfahrung als Grundbedingung unter allen Bedingungen für den Aufstieg seiner Klasse eingeprägt hatte. Anders der Sohn, der parteilose Mitstreiter der Kommunistischen Partei, den Mutlosigkeit auch nicht anzufechten vermochte, als er im Zentrum Berlins tagtäglich miterlebte, daß der Faschismus sich immer weiter im Aufstieg befand. In einem Proletarier viertel im Norden Berlins großgeworden, hatten seine Eltern sich ständig um die geistige und politische Entwicklung ihres Jungen gesorgt, ihn für einige Jahre auch auf eine fortschrittliche Schule geschickt, 2*

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bis er als Lagergehilfe und später als Hilfsmonteur in das Arbeitsleben eintrat — da waren die Faschisten bereits in die Regierungsbauten in der Wilhelmstraße eingezogen. D o c h in keinem Augenblick wollten der Ich-Erzähler und seine Freunde sich mit der Dauerhaftigkeit dieser Herrschaft abfinden. Von Anfang an traten sie ihr entgegen, und indem sie den Sturz der faschistischen Macht herbeizuführen trachteten, erstrebten sie den Untergang der kapitalistischen Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte. „Für uns lag alles Feindliche im Faschismus" (I, 169), so beschreibt Peter Weiss den Kern des politischen Denkens der Jungen, die auch angesichts der Millionen von Arbeitenden, „die sich von den Aufgaben ihrer Klasse abbringen ließen" (I, 74), ihren früh gewählten Weg nicht verlassen. Die Helden der Ästhetik des Widerstands suchen mit dem Faschismus alles für immer zu beseitigen, was dem menschenwürdigen Leben der Votksmassen entgegensteht. So, in den Dimensionen der weltgeschichtlichen Aufgabe, mit deren L ö s u n g 1917 begonnen wurde, begriff Peter Weiss den K a m p f zwischen Faschisten und Antifaschisten. Und eben das macht seine revolutionäre Sicht auf das Ringen aus, das ihm ein Stadium in einem Prozeß ist, aus dem die ganze, ungeteilte neue Welt hervorgehen soll. Daß der Sohn als ein Kommunist ohne Mitgliedsbuch handelt, von seinen Mitstreitern als solcher auch angenommen wurde, brachte unvermeidlich eine Entfernung v o m Denken und Handeln des Vaters mit sich. D o c h geht es dem Romanautor nicht darum, am Verhältnis beider zueinander einen Konflikt literarisch darzustellen, der sich allein in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in unserem Jahrhundert zwischen Vätern und Söhnen zehntausendfach zugetragen haben mag. Viel stärker rückte Peter Weiss in den Blick, wieviel an sozialistisch humanistischer Haltung der Jüngere von dem Älteren übernommen hat, wieviel von jenem in diesem weiterlebt, wenn es sich auch auf andere — kommunistische — Weise ausdrückt. Nicht anders als dem Vater galt dem Sohn schon während der Jahre der Arbeitslosigkeit die Maxime, sich an Wissen anzueignen, wozu irgend er imstande war, selbst wenn dessen spätere Verwertung sich noch in keinem Umriß abzeichnete. In Abendschulkursen beschäftigte er sich mit seinen Freunden ebenso mit Grundfragen gesellschaftlicher Prozesse wie er sich medizinisches Wissen vermitteln ließ, das er auf Spaniens Boden — unerwartet — der Revolution nutzbar machen sollte. Im Denken, im Charakter und in den aus beiden hervorwachsenden Entschlüssen und Handlungen des Sohnes 20

läßt Peter Weiss das Beste aus der Biographie des Vaters fortleben und verdeutlicht in dieser Beziehung, wieviel von allem aufbewahrt und fortgeführt wurde, was in den Kämpfen der Klasse schwer erworben worden war, selbst wenn der einzelne Mittler der Tradition schon dem Gesetz nicht mehr folgen kann oder will, unter dem er einst angetreten war. Peter Weiss schuf in der Vater-Sohn-Beziehung ein Sinnbild des Aufstiegs der Klasse, die im zwanzigsten Jahrhundert mehr und mehr in den Mittelpunkt der Geschichte getreten ist, die nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, nur zu kämpfen verstand, ohne ihr letztes Ziel schon erreichen zu können, sondern nun auch zu siegen vermochte. Den auf einem Sechstel der Erde errungenen Triumph der fortschrittlichen Gewalt stellt der Autor als Frucht ungezählter, weit in der Menschheitsgeschichte zurückliegender Schlachten dar. Er sieht diesen Triumph vorbereitet in Auseinandersetzungen, in deren Ausgang bürgerliches Urteil stets nur die Niederlage der Aufbegehrenden zu erblicken vermag. So waren ihm namentlich die Kämpfe von 1830, 1871 und viele weitere Vorgefechte und der Oktober 1917 der schlüssige Beweis, „daß sich in all den Anläufen eine Kraft gespeichert hatte, die mehr Gewicht besaß als alles, was uns früher gebunden hatte" (III, 74). Diesem Blick in die Geschichte und auf die Gegenwart bedeutet die Verteidigung der UdSSR nicht nur die Bewahrung der Erbschaft, die Lenins Generation hinterließ, sondern eine geschichtlich-moralische Pflicht gegenüber allen Kämpfern, die am eigenen Leibe zu den verschiedensten Zeiten erfahren hatten, wie „unendlich m ü h s a m . . . das Erklimmen einer höheren historischen Stufe "(I, 343) stets war, und von denen die meisten nur die Strapazen, die Leiden und Opfer, nicht aber schon die Siege gekannt hatten. Die Hochachtung vor den Leistungen der versklavten, bäuerlichen, plebejischen und proletarischen Vorkämpfer bildet und bleibt ein starkes Bindeglied der Revolutionäre zweier Generationen. Beide bekannten sich zu dem an anderer Stelle des Romans ausgesprochenen Grundsatz: „An nichts Kommendes können wir glauben, wenn wir Vergangenes nicht zu würdigen wissen." (II, 38) Dies schloß für den sozialdemokratischen Vater ein, daß er „nie zu einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Sowjetstaat" (1,121) sich hatte treiben lassen, und es bedeutete für den Sohn und dessen Genossen, daß ihnen der Kampf gegen den deutschen Faschismus Teil ihrer „Solidarität mit dem Sowjetstaat" (1,170) war. Weiss entwickelt in den Bänden seines Romanwerkes das Bild 21

der die Jahrhundertgeschichte mehr und mehr prägenden, aufsteigenden Arbeiterklasse, die, im Gegensatz zur Bourgeoisie, „die mitten im Kampf nach ihren eigenen Vorteilen Aussschau hielt" (I, 342), mit ihren ureigenen zugleich allgemein-humanistische Ziele, Menschheitsinteressen verficht. Dabei bleibt der Autor sich und macht er anderen bewußt, daß die das Jahrhundert umwälzende Kraft selbst wieder und weiterhin „Begrenzungen unterworfen" (I, 284) ist. Nichts beschäftigte Peter Weiss und viele seiner literarischen Geschöpfe mehr, quälte sie mitunter ärger als die Frage, wie sich diese Begrenzungen zurückdrängen ließen, wie Aktionsfeld und Wirkungsmacht der Arbeiterklasse erweitert werden könnten. Nichts fesselt das Denken zahlreicher Figuren des Romanciers stärker, als der wirklich (oder auch vermeintlich) unnötige Verschleiß der von der Klasse schon gewonnenen Kräfte aneinander. Kein Problem läßt Peter Weiss Kommunisten, Anarchisten und Sozialdemokraten leidenschaftlicher erörtern als das der Arbeitereinheit. Das Thema bildet den Inhalt des letzten Geprächs, das der Ich-Erzähler, bevor er Deutschland verläßt, in einer Arbeiterwohnung Berlins führt, es taucht sogleich und kontrovers in den Unterhaltungen des Sohnes mit dem Vater jenseits der Grenze wieder auf, es bildet den Kern sich erhitzender Debatten im Hinterland der um ihren Bestand kämpfenden spanischen Republik, es begleitet den Asylsuchenden während seines kurzen Aufenthalts in Paris und wird anhand der Wege der deutschen, der spanischen und der schwedischen Arbeiterbewegung wieder und wieder erörtert. Denn es war, wie zuletzt noch die Niederlage der Republikaner im Kampf gegen die Franco-Faschisten und deren deutsche und italienische Bundesgenossen gelehrt hatte, „weiter nach der einzigen Waffe zu suchen, mit der dem Feind beizukommen war, der Waffe der Einheit" (II, 44). Die rücksichtslose Suche „nach den wahren Gründen", welche so oft „die Einigung nicht Zustandekommen ließen" (I, 137), erscheint bei Peter Weiss als unerläßlich, soll der Sieg der Arbeiterklasse und der ihr verbündeten Klassen und Schichten möglich und errungen werden. Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind, Brust an Brust ausgetragen, kann — auch das ist eine in Spanien durch das Erleben des Ich-Erzählers gewonnene Einsicht — Fragen an die Geschichte relativieren, sie momentan ganz bedeutungslos machen, doch kehren sie außerhalb der direkten Kampfzone zurück, solange die Antworten nicht gefunden sind. Erst wenn die Kämpfender! ihr Woher ganz verstanden haben und auch die Irrtümer der 22

Vergangenheit kritisch durch ihre Köpfe hindurch sind, werden sie kommenden Kämpfen gewachsen sein, in denen ihnen ein Gegner entgegentritt, dessen Sinne eigene Niederlagen geschärft haben. Gewiß war dem Ich-Erzähler seit seinem Eintritt in die politischen Auseinandersetzungen mit dem Faschismus, daß die Kommunisten die Einheit der Klasse wieder und wieder gefordert und angeboten hatten. Fraglich und nicht ausreichend erscheinen ihm die Mittel, mit denen sie ihrem Streben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 Ausdruck verliehen hatten. Sicher, und noch durch jüngste Erlebnisse bestätigt, war ihm, daß die Führer der Sozialdemokratie allen Initiativen zur Einheit ihr ständiges Nein entgegensetzten, Fortschritte durch Demagogie und mit Intrigen zu hintertreiben und rückgängig zu machen suchten und daß sie dabei von Stufe zu Stufe sanken, bis sie schließlich die Bereitschaft zu gemeinsamem Kampf gegen den Faschismus an die unerfüllbare Bedingung knüpften, daß sich an seinem glücklichen Ende der ..kommunistische Einfluß" (I, 256) nicht erhöht haben dürfe, was darauf hinauslief, „Deutschland eher einem Vernichtungskrieg auszuliefern, als mit der Kommunistischen Partei in ein Bündnis einzutreten" (I, 146). Was aber hatten Kommunisten zu tun angesichts dieser Konstante, die die Einheitsfrontfeindlichkeit in der Politik der Reformisten darstellte, um das Hindernis doch zu überwinden? Welche Zugeständnisse konnten und durften gemacht, welche Kompromisse geschlossen werden, ohne die für die Einheit der Klasse unternommenen Anstrengungen schließlich ins Sinnlose zu verkehren? Noch im schwedischen Exil, mit der wechselvollen Geschichte der Arbeiterbewegung des Landes intim bekanntgeworden, an den Auseinandersetzungen über die antifaschistische Programmatik in Nachkriegsdeutschland teilnehmend, war sich der Ich-Erzähler darüber nicht vollständig klar geworden. Was den Streitgesprächen über Geschichte und Gegenwart der Arbeiterbewegung, über Machtgewinn oder Machtverlust in Peter Weiss' Roman ihre äußerste Zuspitzung gibt, ist das Wissen vieler Teilnehmender um den Zusammenhang von Aufstieg der Klasse und Schicksal des Friedens. Denn schon vor dem Pergamon-Altar verband sich den kommunistischen Antifaschisten die „Perspektive des Kommenden" mit der Ahnung eines neuen Massakers. Indem sie sich der äußersten Reaktion entgegenstellten, die sich in Europa etabliert hatte, suchten sie allen Menschen des Kontinents den Frieden zu bewahren. Wie dem Interbrigadisten der Kampfplatz Spanien 23

nicht allein die Verteidigung eines Landes vor dem faschistischen Zugriff bedeutet, sondern Stätte ist, auf der die größere Kriegsdrohung abgewendet werden soll, so enthüllt Peter Weiss auch an anderen Stellen der Romanhandlung den Zusammenhang von Revolution, Antifaschismus und Frieden sowohl in seiner objektiven Existenz wie in seiner subjektiven Rolle als politisch-moralische Triebkraft, die Kommunisten und andere Kampfgefährten der Volksfront gegen Hitler bestimmten, als sie mit der Überwindung des Faschismus die ökonomische, politische und geistige Entmachtung des Finanzkapitals erstrebten, um die Garantie für einen künftigen ungestörten Frieden zu schaffen. Peter Weiss entläßt den Leser seines Romans mit einem Blick auf das Jahr 1945, der aus einer Perspektive gewonnen ist, die erst durch den geschichtlichen Abstand von mehr als drei Jahrzehnten ermöglicht wurde. Auf dem Erdball existieren die sozialen und politischen Systeme des Sozialismus und des Kapitalismus in veränderten geographischen Dimensionen, und ihr Kräfteverhältnis befindet sich weltweit in weiterem Wandel zu Lasten der Ausbeuter. Das Bündnis der Staaten und Völker, die Anti-Hitler-Koalition, besteht seit Jahrzehnten nicht mehr. Noch in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs hatten die Herrschenden in den USA, ohne es offiziell aufzukündigen, mit der Entscheidung und der Untat des Abwurfs der Hiroshima- und Nagasaki-Bomben die Politik des gegen ihren einstigen Hauptverbündeten erhobenen Atomknüppels begonnen. Unzufrieden mit dem, was sie dem Sozialismus in den vierziger und fünfziger Jahren in Europa und in Asien und dann gar vor ihrer eigenen Haustür in Kuba, schon hatten überlassen müssen, sannen die Imperialisten nach Mitteln, Wegen und Zeitpunkten, um den Erdball nach ihrem Bilde konterrevolutionär umzugestalten — und sei es um den Preis eines dritten Weltkriegs. Indessen setzten sie die gewaltigen wirtschaftlichen Kräfte, über die sie geboten und die sie zu mehren vermochten, nicht nur für die Zwecke einer beispiellosen Aufrüstung ein, sie kehrten sie als ökonomische Waffe gegen den Sozialismus und verwandten sie darauf, in den Staaten des neugeschaffenen Militärbündnisses immer wieder Minen gegen die demokratische und sozialistische Einheit der Arbeitenden zu legen, die zu schmieden bei Kriegsende nicht oder nur vorübergehend gelungen war. Gegenüber dem Sozialismus, so resümiert der Ich-Erzähler im Schlußteil seine Weltsicht, von der ge24

sagt wurde, daß sie sich gegen Romanende immer stärker der des Autors annähere, verfolge „der Westen" jetzt das Ziel, das einst die Faschisten angestrebt hatten. Die auf den letzten Romanseiten als Skizze nur gegebene Aufsicht auf den Ablauf der Weltgeschichte während der Nachkriegsjahrzehnte fängt vor allem die neuentstandene Konfrontation ein und hebt die Tatsache ins Bewußtsein, daß die von den Volksmassen ersehnte Welt ohne Krieg nicht geschaffen werden konnte, weil die sozialen Wandlungen, aus denen allein sie hätte hervorgehen können, nicht erreicht worden waren. Es fällt — überraschend, denkt man an das Niveau universalgeschichtlicher Analyse zuvor — das Wort vom „verhängnisvollen Ende des Kriegs" (III, 270), auf das man in den Memoiren geschlagener Generäle stieß, das sich in Schriften alter und neuer Möchtegern-Revisionisten findet und das in Pamphleten der Neonazisten angetroffen werden kann, wo es den abgrundtiefen Haß auf die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs ausdrückt, die so ganz anders beschaffen waren, als es die Pläne der Welteroberer in Berlin 1939 vorgesehen hatten. Bei Peter Weiss aber hat sich in der Wortwendung „verhängnisvollem Ende" eine Enttäuschung ganz anderen Inhalts festgesetzt. Sie betrifft die geschichtliche Begrenztheit des Erfolgs der antifaschistischen Kämpfer, die so unvorstellbar viele Opfer gebracht hatten, daß — wie es heißt — ihr Blut vom verbrannten Boden der Erde „nie aufgesogen werden könnte" (III, 274). Geschichtspessimismus und politische Resignation sind in diese Sicht auf das Jahr 1945 wohl hineingelesen worden. Den Kern des Verhältnisses, das der Ich-Erzähler zu jenem Datum besitzt, trifft das nicht. Für diese Feststellung steht unter anderem seine kritische Überwindung der Haltungen, die Karin Boye in den Selbstmord und Max Hodann zum Frontwechsel trieben, für die beide — jeweils auf unterschiedliche Weise — geschichtliche Hoffnungs- und Ausweglosigkeit zur Quelle selbstgewählten Verderbens werden. Karin Boye vermochte sich, bevor sie das Unwiderrufliche tat, nur noch eine Zukunftswelt vorzustellen, die „von einem ungeheuren gegenseitigen Terror" der Staaten geprägt, in der selbst „Reste von Erinnerungen an eine Freiheit" (III, 39—40) nicht mehr vorhanden sein würden. In dieser vorgestellten Welt von morgen würde keinerlei „Hoffnung auf den Sieg der Seite" mehr existieren, „der wir (das ist der Ich-Erzähler mit seinen Genossen — K. P.) den Vorzug gaben" (III, 39). An diesem Punkte ihres Denkens und Lebens war die Dichterin angekommen, weil sie auch jedwedes Vertrauen in die politischen 25

Organisationen verloren hatte, die „uns zur Verwirklichung unserer Absichten zur Verfügung stehen sollten" (III, 40). Nicht wesentlich anders sah Hodann 1941 die Welt an, vermochte er doch in der Menschheitsgeschichte nichts anderes als „eine Geschichte des Mordens" (III, 49) zu erblicken, bestritt er doch glatt eine „Entwicklung im Sinn des Fortschritts". Diesem Versinken in grundlosem Geschichtspessimismus hatte der Ich-Erzähler, noch bevor sich das Kräfteverhältnis zwischen dem faschistischen Mächteblock und seinen Widersachern als Folge des Überfalls auf die Sowjetunion grundlegend zu verändern begann, überzeugt entgegengehalten, daß „das Wesentliche" (III, 50) nicht die Macht der Mörder, sondern das Vorhandensein der Gegenkräfte und deren Tat sei. In dem geschichtlichen Moment, da der Faschismus Europa vom Norden Norwegens bis Sizilien fest in seinem Griff hielt, in Nordafrika vordrang, sich von Polen bis vor die militärische Felsenfestung Gibraltar erstreckte, konstatiert der Ich-Erzähler, sich dem „Vergehn in Betrübnis und Bitterkeit" (III, 40) entgegenstemmend : „Es war notwendig sich zu sagen, daß die Lage nie so günstig gewesen sei wie jetzt, daß keine Verluste den Sieg über den Feind aufhalten könnten." (III, 50) Woher rührte dann im Augenblick des fest erhofften und miterkämpften Sieges die sich im Denken des Ich-Erzählers etablierende Metapher vom „verhängnisvollen Ende des Krieges"? (III, 270) In ihr drückt sich eine quälende Unzufriedenheit mit der widersprüchlichen Bilanz der Kämpfe aus, die aus so großen Hoffnungen gespeist und von ihnen erfüllt waren — Hoffnungen, die weiter reichten und trugen als die Kräfte derer, die sie hegten. Wieviel hatten sich die Teilnehmer des antifaschistischen Ringens damals vorgesetzt, was später „über den Haufen" (III, 268) geworfen worden war. Wie unbeirrt hatten sie an ihren Zukunftsbildern festgehalten, ohne die sie nicht durchzuhalten vermocht hätten. Doch bevor noch der letzte Schuß abgefeuert worden war, wurde ihnen schon zur Gewißheit, daß es „nicht so werden würde" (III, 274), wie sie es sich erhofft hatten. Wie in anderen Etappen ihrer Entwicklung auch ließ die Geschichte am Ausgang des zweiten Weltkriegs mit der Masse von Fakten, die konträren Tendenzen zugehörten, eine Bilanz zu, die den einen Ursache ihres Optimismus war, anderen Quelle pessimistischer und resignierender Gedanken und Gefühle wurde. Dabei war Düsterkeit der Sicht, wie erwähnt, nicht nur bei jenen anzutreffen, die unein26

geschränkt lind unwiderruflich verloren hatten. Sie konnten auch auf seiten der Sieger dort aufkommen, wo Errungenes und Verlorenes;, Erreichtes und Verfehltes, Gewonnenes und Preisgegebenes sich subjektiv verzerrt widerspiegelten, sei es durch die „fortwährende Konfrontation mit der Schattenseite einer großen historischen Leistung" (1,218), sei es, daß die elementare Wahrheit ignoriert wurde, daß es einen Kampf großen geschichtlichen Ausmaßes ohne „Rückschläge" (I, 339) nicht geben kann. In diesem Bezirk, in den Schwierigkeiten der Aneignung der neugewonnenen weltgeschichtlichen Wirklichkeit, liegen die Fragen, von denen der Ich-Erzähler nicht losgelassen wird. Doch bildet nach Jahrzehnten nicht mehr die Differenz zwischen der 1945 erkämpften Realität und jenen erwartungsgeladenen Vorstellungen, welche sich so viele Antifaschisten von ihr zuvor gemacht hatten — als sie „in der kurzen Zeit bis zum Friedenstag . . . von einer seltsamen Euphorie ergriffen", sich der Vorstellung hingaben, „das Bewußtsein der Leiden" werde „doch noch zu einer Versöhnung" (III, 278) widerstreitender Meinungen 1 und Interessen führen —, den Grund bohrenden Nachdenkens. Mit des Erzählers Fragen nach der Schlacht und inmitten neuer Kämpfe wird eine Antwort darauf gesucht, ob das Erreichte auch das Mögliche war, ob nicht tatsächlich vorhanden gewesene Chancen unerkannt blieben oder, obwohl gesehen, doch nicht verwertet wurden. In diesen Fragen schwingt Klage unüberlesbar mit. Doch es dominiert der Wille, der Vergangenheit die Lehren abzupressen. Mußte das Verhältnis der Antifaschisten zueinander so beschaffen sein, wie es sich in jenen Auseinandersetzungen entwickelt hatte, die immer heftiger entbrannt waren, seit nicht mehr das Wie, Wodurch und Wann des Sieges, sondern seine Ausbeutung in den Vordergrund der Debatten getreten war? Mußten neue Konfrontationen, wo Organisationen und Personen sich schon angenähert hatten und gemeinsam agierten, unvermeidlich entstehen? Konnte die Entwicklung, die zu erneuter Spaltung von Kräften führte, die — im Freien Deutschen Kulturbund in Schweden und ähnlich anderswo — gemeinsam gewirkt hatten, wirklich nicht aufgehalten werden? Wäre mehr Nachgiebigkeit nicht ein Weg gewesen, was an Arbeitereinheit und Bündnis der Antifaschisten sich angebahnt hatte, zu erhalten und so eine Grundbedingung des ungeteilten Erfolgs in Nachkriegsdeutschland zu gewinnen? Der Ich-Erzähler stellt diese und verwandte Fragen an sich, einen 27

Kommunisten, ein Mitglied der Partei, die wie keine andere die Annäherung, die gemeinsame Aktion und den aus ihr hervorwachsenden Zusammenschluß gesucht und erstrebt hatte und deren erfahrene Kämpfer doch sicher wußten, daß sich für diese Einheit nicht ein beliebiger Preis entrichten ließ, weil Einheit nach aller geschichtlichen Erfahrung ihren Sinn verlor, wenn sie aus der Preisgabe des Wesentlichen geboren wurde. Als die Kommunisten im schwedischen Exil sich wider die Gegentendenz, verkörpert in erster Reihe von unbelehrten rechten Sozialdemokraten, nicht durchzusetzen vermochten und die teilweise „Spaltung der Front" (III, 269) geschah, da war sich der Ich-Erzähler in Peter Weiss' Roman über die Ursachen dieses Vorgangs unschlüssig und noch bereit, die Schuld den Handelnden zu gleichen Teilen zuzumessen. Aus dem Rückblick jedoch kann er dieses Urteil vor sich nicht aufrechterhalten. Mehr noch: es kommt ihm dann so vor, als hätte er „den harten, unaufhörlich die Entscheidung fordernden Stimmen damals schon recht gegeben" (III, 269). Nach Jahrzehnten ist es ihm zur Gewißheit geworden, daß „Klarsicht", nicht „Verblendung" oder „Monomanie" (III, 269) diejenigen leiteten, die ein fest umrissenes Programm antifaschistischer Umgestaltung Deutschlands verfochten, von dem sie sich nichts abhandeln lassen konnten und das sie mit dem Tage ihrer Befreiung in tatkräftigen Angriff zu nehmen gedachten. Die Kommunisten hatten damals, im Augenblick einer großen Chance, wie sie in der Geschichte selten genug entsteht, dafür zu sorgen, daß „die vielen rückschrittlichen Bestrebungen nicht" wie 1918 „die Oberhand gewännen" (III, 258). Wer im Moment des Jahres 1945 auch nur zauderte, dem Gedanken an eine Handlungspause des Besinnens und Sondierens anhing, überließ die Initiative den anderen, schenkte sie gewissermaßen jenen zurück, denen sie soeben entwunden worden war und die ihren Krieg unter Umgehung der Revolution hatten loswerden wollen, um das rettende Ufer ihres — eines faulen — Friedens zu erreichen. Was Peter Weiss an politischen Kämpfen der letzten Kriegsphase am Beispiel der deutschen Emigration in Schweden romanhaft wiederbelebt hat, war Teil von Auseinandersetzungen, die sich unter sehr unterschiedlichen Bedingungen in nahezu ganz Europa zutrugen und die einem Kulminationspunkt zustrebten, als die Okkupanten vertrieben waren. Überall verloren die Debatten nun vollständig ihren akademischen Charakter. Die Jahre 1944 und 1945 und die auf sie unmittelbar folgende Zeit waren angefüllt von Klassenaus28

einandersetzungen vergleichbar jenen am Ende des ersten Weltkriegs. Ihr nationales Ausmaß und ihre internationale Tragweite differierten von Region zu Region, doch zielten die Kämpfe auf Seiten der Volksmassen allesamt darauf, dauerhafte Sicherungen gegen nationale Katastrophen zu schaffen, wie sie sich seit 1938 — beginnend mit der Liquidierung Österreichs und der Tschechoslowakei — ereignet hatten. Und dies bedeutete: Europa in einen Kontinent friedlicher Beziehungen der Staaten und Völker zu-verwandeln. Diese Kämpfe, gegen und nach Kriegsende mit politischen, geistigen, ökonomischen, juristischen und militärischen Mitteln ausgetragen, führten in Norwegen zu anderen Resultaten als in Jugoslawien, sie endeten in den Niederlanden anders als in Griechenland, sie zeitigten in Finnland Zustände, die von jenen in Rumänien sehr verschieden waren. Aus diesem kontinentweiten Ringen entstand ein gespaltenes Europa, dessen sozialökonomische Trennlinie anders verläuft als die jenes geteilten Europa, das aus den Klassenkämpfen am Ende des ersten Weltkrieges hervorging. Die jüngere so wenig wie die ältere Grenze der Systeme war künstlich entstanden. Weder die eine noch die andere folgte aus den Absichten und Handlungen weniger. Die Resultate, welche die Weltgeschichte um die Mitte der vierziger Jahre und bis in unsere Jahrhundertmitte hervorbrachte — hier liegt der Einwand gegen den Blick, den Peter Weiss eröffnet —, waren nicht „von oben, von den Zentralen der mächtigen Sieger" (II, 272) bestimmt, nicht determiniert durch die Beschlüsse der JaltaKonferenz, wenn auch niemand bezweifeln wird, angesichts der Rolle des britischen Imperialismus als Würger der antifaschistischen Demokratie in Griechenland, daß der Ausgang des Ringens im einzelnen durch konterrevolutionäre Intervention bestimmt wurde. Doch hatte die Gegenrevolution in einer Kampfregion nicht deshalb so viele Kräfte verfügbar, weil sie ihr durch die relative Schwäche der Volksbewegung in anderen Ländern gelassen wurden? Was durch den Sieg über den faschistischen Mächteblock entstand und aus den anschließenden Auseinandersetzungen hervorwuchs, schuf der europäischen und Weltgeschichte einen neuen Ausgangspunkt. Nicht alle Abteilungen, die in die Kämpfe gezogen waren, vermochten zu siegen. Daß aber — dies der Standpunkt des Ich-Erzählers, gewonnen oder zumindest gefestigt in den Nachkriegsjahrzehnten — Erfolg und Scheitern nebeneinanderlagen, änderte „doch an den Hoffnungen nichts" (III, 274). Sie wurden in eine 29

wieder und immer noch „von Folter, Brandschat2ung und Mord gefüllte Zukunft" (III, 274) mitgenommen, in welcher „der Bereich der Hoffnungen" größer werden und „sich über alle Kontinente erstrecken" (III, 275) würde. Peter Weiss' Position, ist sie mit der des Ich-Erzählers am Ausgang des Romanwerks identisch, trägt ebensowenig die Züge der Resignation wie die eines Optimismus, der sich nur behaupten kann, wenn er Teile der Realität verdrängt. Es ist der unverwüstliche Optimismus des geschulten und wachen Kämpfers, der seinen Platz endgültig gewählt hat, der seine politische Lebensenergie veräußert und wieder nährt durch die Teilnahme an der Revolutionierung der Welt, der aus Siegen Mut schöpft und sich auch die bitterste Erfahrung zur Lehre macht und der unabwerfbar auch die Last mitverschuldeter Niederlagen mit sich schleppt, ohne sich von ihr niederwerfen zu lassen. Diese Haltung des Streiters für eine lichtvolle Menschheitszukunft spricht auch aus der letzten Romanszene. Peter Weiss läßt den Mann, der als einziger der drei Antifaschisten überlebte, die dort 1937 einmal zusammenstanden, im Gedenken an seine toten Freunde wieder vor den Fries des Pergamon-Altars treten. Und es ist das Fazit ihrer aller Lebenserfahrung, das sich den Zurückgekehrten zum Bild jener unwiderstehlichen Bewegung formt, mit der die Töchter und Söhne der Erde doch „den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten" (III, 277). Dessen würden sie aber nur durch sich selbst und erst dann mächtig werden, wenn sie aufhörten, auch übereinander herzufallen und einander zu zerstampfen.

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Wolfgang Schindler

Der Große Fries des Pergamonaltars Peter Weiss' Deutungen in der Sicht des Klassischen Archäologen

1. Von dem Altmeister der Klassischen Archäologie, Ernst Buschor (1886—1961) wissen seine Schüler zu berichten, daß er sich einst in Berlin — und er kam als dezidiert Süddeutscher ungern nach Berlin — bei der Besichtigung des Pergamonaltars unerkannt einer Führung anschloß, um am Ende die Frage zu stellen: „Song se moli, wos sann denn dos: die Götter?" (Sagen Sie mal, was sind denn das: die Götter?") 2 . Der Führungskraft, die gewiß mit einem gediegenen Text aufgewartet hatte, soll der Mund offengeblieben sein. Auch in diesem Moment fataler Betroffenheit hat sich Buschor nicht als Archäologe zu erkennen gegeben und ist still davongegangen. Er war offenbar auch nicht der Meinung, daß die, die da professionell Auskunft über Götter und Giganten zu geben hatten, eigentlich gar nicht wüßten, wovon sie da redeten. Die Frage, die der Anonymus in den Raum gestellt hatte und die so manchen unvorbereitet getroffen haben dürfte, konnte und wollte auch nicht mit einem Hieb beantwortet werden. Sie signalisierte lediglich die Unwissenheit der vermeintlich Wissenden im sokratischen Sinne. Ähnlich hätte es Peter Weiss ergehen können, wenn er tatsächlich im Jahre 1937, das er als das Jahr der Besichtigung in seiner Ästhetik des Widerstands angegeben hat, vor dem Gigantenfries gestanden und um eine Auskunft dieser Art gebeten haben würde. Die Befragten wären ihm die Antwort vermutlich in gleicher Weise schuldig geblieben, abgesehen von Versuchen einer Antwort, im herkömmlichen Sinne die Götter zu benennen als Wesen, die — der Text ließe sich aus Lexikonzitaten aufgefüllt denken — die als Götter in der Antike angesprochen und kultisch verehrt worden sind, da und dort, mit diesem und jenem Attribut. Da ist eben Zeus der Zeus, Bruder 31

Wolfgang Schindler

Der Große Fries des Pergamonaltars Peter Weiss' Deutungen in der Sicht des Klassischen Archäologen

1. Von dem Altmeister der Klassischen Archäologie, Ernst Buschor (1886—1961) wissen seine Schüler zu berichten, daß er sich einst in Berlin — und er kam als dezidiert Süddeutscher ungern nach Berlin — bei der Besichtigung des Pergamonaltars unerkannt einer Führung anschloß, um am Ende die Frage zu stellen: „Song se moli, wos sann denn dos: die Götter?" (Sagen Sie mal, was sind denn das: die Götter?") 2 . Der Führungskraft, die gewiß mit einem gediegenen Text aufgewartet hatte, soll der Mund offengeblieben sein. Auch in diesem Moment fataler Betroffenheit hat sich Buschor nicht als Archäologe zu erkennen gegeben und ist still davongegangen. Er war offenbar auch nicht der Meinung, daß die, die da professionell Auskunft über Götter und Giganten zu geben hatten, eigentlich gar nicht wüßten, wovon sie da redeten. Die Frage, die der Anonymus in den Raum gestellt hatte und die so manchen unvorbereitet getroffen haben dürfte, konnte und wollte auch nicht mit einem Hieb beantwortet werden. Sie signalisierte lediglich die Unwissenheit der vermeintlich Wissenden im sokratischen Sinne. Ähnlich hätte es Peter Weiss ergehen können, wenn er tatsächlich im Jahre 1937, das er als das Jahr der Besichtigung in seiner Ästhetik des Widerstands angegeben hat, vor dem Gigantenfries gestanden und um eine Auskunft dieser Art gebeten haben würde. Die Befragten wären ihm die Antwort vermutlich in gleicher Weise schuldig geblieben, abgesehen von Versuchen einer Antwort, im herkömmlichen Sinne die Götter zu benennen als Wesen, die — der Text ließe sich aus Lexikonzitaten aufgefüllt denken — die als Götter in der Antike angesprochen und kultisch verehrt worden sind, da und dort, mit diesem und jenem Attribut. Da ist eben Zeus der Zeus, Bruder 31

oder Vater fast aller Olympier, Inbegriff der Rechtlichkeit und Gesetzlichkeit im Zusammenleben der griechischen Polis, aber auch der gefährliche Liebhaber, menschlich — allzumenschlich in seinen Schwächen, die ihn deshalb den Menschen vertraut erscheinen lassen3. Peter Weiss aber hat sich den Pergamonaltar erst viel später und auch intensiver entdeckt als so mancher Fachkollege seiner Zeit. Die Notizbücher geben Auskunft, wann diese Begegnung stattfand. (NI, 103—105) Die Frucht dieser Auseinandersetzung hat im Auftakt zu seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands (I, 7—15; 35—53) einprägsamen Niederschlag gefunden. Mir selbst ist es mit der Lektüre dieses Romans so ergangen, daß ich ihn ohne alle Vorinformation zu lesen begann. Das Initiationserlebnis war einmalig. Die pergamenische Friesschöpfung in einer dichterisch so anspruchsvollen Paraphrase wiederzuerkennen, verfehlte seine Wirkung nicht. Interessant war die Tatsache, daß zu den untrüglichsten Indizien jene Merkmale zählten, die sich auf signifikante Beschädigungen des Frieswerks beziehen: „. . . zu rohem Oval gespaltener Kopf . . ." (I, 7) — das konnte nur Athena (Abb. 1) sein, — oder aber einmalige Motivationen darstellen: „. . . ein Fallender, mit dem Ansatz des Fingers zielend ins Auge der über ihm hängenden Bestie . . ." (1,7) — das konnte sich nur auf den vom Hund der Artemis gebissenen Giganten des Ostfrieses beziehen. Die Anagnorisis, die Wiedererkennung des hellenistischen Rejiefwerks, das zu den Meisterwerken der griechischen Antike zählt'1, vollzog sich also schon auf der ersten Seite. Und nun folgte das geschärfte Fachwissen und Fachgewissen dem kühnen Interpreten Schritt auf Schritt, um einerseits diesen oder jenen Fehler zu entdecken, aber vor allem überwältigt zu werden von dem beherzten Zugriff des Zeitgenossen Peter Weiss, der sich in seinem Romanwerk angeschickt hatte, die Götter interpretativ in die Knie zu zwingen und die Giganten zu einer kaum zu bändigenden heroischen Höhe emporzuheben. Eine solche Annäherung, ein solcher Ansprung, stellte seit Iwan Turgenews begeistertem Hymnus, den er angesichts der im Alten Museum ausgestellten ersten Fundstücke des Altarfrieses im Jahre 1880 brieflich geäußert hatte 5 , die bisher dichterischste, zugleich interpretative Aneignung dieses epochalen Kunstwerks dar.

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Großer Fries, Ostseite: Kopf des Otos, des Gegners der Artemis.

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Großer Fries, Südseite: Stiernackiger Gigant.

Großer Fries, Südseite: Löwenköpfiger Gigant.

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Großer Fries, Ostseite: Leto bekämpft löwentatzigen Giganten.

2. Iwan Turgenew hatte sich in dem genannten Brief, den er drei Jahre vor seinem Tode (1883) schrieb, wie folgt geäußert: 6 „Unmöglich ist es, alle diese bald von Sonne strahlenden, bald drohenden, lebendigen und toten, siegenden und fallenden Figuren zu schildern; diese Windungen von schuppigen Schlangenleibern, diese ausgebreiteten Schwingen, diese Adler, Pferde, Waffen, Schilde, fliegende Gewänder, Palmenzweige und Körper, wunderschöne Menschenkörper in allen Stellungen, kühn bis zur Unwahrscheinlichkeit und harmonisch wie Musik, alle diese verschiedenen Gesichtsausdrücke, unmittelbaren Bewegungen der Gliedmaßen, diesen grimmigen Trotz, die machtlose Verzweiflung, die Freude der Götter und ihre Strenge, diesen Himmel, und diese Erde. — Ja es ist eine Welt, eine ganze Welt, vor deren Offenbarung ein unfreiwilliger Schauer der Begeisterung und leidenschaftlicher Ehrfurcht den Beschauer durchzuckt . . . Wie glücklich bin ich, daß ich nicht starb, bevor ich einen solchen Eindruck mitnehmen und all diese Herrlichkeit sehen durfte." Es ist erstaunlich, zu welchem Ganzheitseindruck sich der russische Dichter aufgeschwungen hat, da er doch „alle die von ihm gerühmten Schätze gar nicht in ihrer richtigen Aufstellung sah, sondern am Boden liegend und nur teilweise zusammengefügt" 7 . Andererseits waren die Skulpturenreste — was die Friesstrecken der Ost-, Nordund Südseite betrifft — noch nicht, aus dem tektonischen Zusammenhang herausgelöst (der freilich längst seit der antiken Zerstörung aufgelöst war), der hohen Dimension der Leerwände ausgeliefert worden, die den Figurentext einer imaginären Schwebe aussetzten, zugleich ins Kleinformat gedrückt erscheinen ließen. In diesem introvertierten Zustand fand ihn Peter Weiss vor, der das Problem einer solchen Aufstellung durchaus reflektiert hat. (I, 15) Zugegeben, die Friespartien an den Treppenwangen geben einen authentischen Anhaltspunkt, wie diese Reliefschöpfung, in das Altarbauwerk eingebunden, ursprünglich zur Wirkung gekommen sein muß. 3. Bemerkenswert bleibt, daß Peter Weiss trotz dieser introvertiven, dem Architekturzusammenhang entbundenen, gleichsam sezierend vors Auge des Betrachters gerückten musealen Präsentation des 3

K r e n z l i n , P. W e i s s

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Gigantenfrieses sofort das Moment des immerwährenden Kampfes, in dem die Götter und ihre Verbündeten auf die Giganten stoßen, gesichtet hat: „eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung" (I, 7). Das ist zweifellos eines der antikischsten Momente der Friesdarstellung, das in der tektonischen Bindung am Altar selbst eher noch gesteigert erscheint. In diesem Moment spiegelt sich die Dynamik der immerwährenden sozialen Auseinandersetzungen in der griechisch-hellenistischen Lebenswelt wider, deren dialektische Prozeßhaftigkeit wir aus den historischen Quellen zu erfassen verversuchen. Bild- und Schriftquellen sprechen in diesem Punkte die gleiche Sprache. Peter Weiss mußte diese Qualität um so mehr behagen, als er zu dem Zeitpunkt, den er als fiktiven Museumsbesuch angibt — es ist der 22. September 1937 (I, 12) — die Widerstandsbewegung gegen das „Dritte Reich" nicht nieder- und stillgetrampelt, sondern am Werk und beschrieben wissen will. Die Dreiergruppe, der er sich zusammen mit Coppi und Heilmann zugehörig weiß (I, 8), ist schon eine der potentiellen, sich in der Kleinarbeit profilierenden Widerstandszellen gegen die halsschreierische braune Uniformierung der Leiber und des Geistes, gegen die physische und psychische Bestiefelung der Nazisierten und feigen Mitläufer. Jeder Leser dieser Passage fühlt sich sofort in diese Konspiration einbezogen und ist aufs äußerste gespannt, wie sich diese Lesung des Gigantenfrieses modellhaft als Formierung des Widerstandes weiter vollziehen wird. Zunächst also die Betonung der äußersten, alle Kräfte aufbietenden Anstrengung der in den Götter-Giganten-Kampf verwickelten Kombattanten, „eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung" (I, 7). Unentwirrbar scheint das Geflecht der aufeinanderprallenden Leiber, sei es in Menschen- oder Tiergestalt, der wirbelnden Gewänder, miteinander verstrickten Waffen. Schlachtfeld sind auch die dramatisch aufgeladenen Gesichter, vor allem der Geschlagenen, Getroffenen. Hier setzt für den Autor auch der Prozeß der Unterscheidung von Freund und Feind ein. Das geschieht schon auf der zweiten Seite des Buches, wo eine Entrückung „in olympische Kühle" (I, 8) für die Götter in Anspruch genommen wird. Peter Weiss übersieht dabei absichtlich die in vielen Gesichtern der Götter und ihrer Verbündeten sich abzeichnende Erregung und äußerste Gespanntheit, die nichts mit Glätte und Kühle zu tun haben. So leicht haben es die Griechen ihren Göttern nicht gemacht, zumal nicht denen des hellenistischen Zeitalters. Eine solche Verzeichnung 34

liegt aber im Interesse des Autors, der nun Schritt um Schritt das von den Giganten aus anvisierte Feindbild herauszuarbeiten beginnt. Grundsätzlich findet sich die Lesart des Gigantenfreundes Peter Weiss an dem Fries bestätigt: Götterantlitz wirkt bei aller Anstrengung gesammelter, abgeklärter. Freilich verlangt eine solche Pauschale nach Differenzierung. Das gilt in gleicher Weise auch für die Giganten. Da gibt es äußerst ansehnliche, einschmeichelnde Götterfeinde, etwa den Athenagegner Alkyoneus (Abb. 1) oder den Artemisgegner Otos (Abb. 2), beide am Ostfries befindlich. Für eine eindeutige Entschlüsselung des dargestellten Kampfes, bei dem es um klare Fronten geht, interessierten den Autor Unterschiede dieser Art ebensowenig wie die unlösbare Versippung der Götter mit den Titanen, ihren Verbündeten, aber eben auch mit ihren Gegnern, den Giganten. Sein Schneidemesser hat stets unnachgiebig Freund und Feind getrennt. Dieser Scheideprozeß mußte freilich an einer ganz bestimmten Figur fatale Abstumpfung erfahren, nämlich bei dem Helden Herakles, den der Autor in dieser Konfrontation lieber auf der Seite der Götterfeinde gesehen hätte. Dieser Held läßt sich aber beim besten Willen nicht uminterpretieren. Er steht schon in archaischen Darstellungen dieses Themas auf Seiten der Götter. Das gilt für die Bildkunst, etwa den Siphnierfries von Delphi (Abb. 6), ebenso wie für die Dichtung, etwa bei dem Chorlyriker Pindar in seiner 1. nemeischen oder 6. isthmischen Ode. 8

4. Bevor wir dieses Problem weiterverfolgen, lassen wir uns zunächst einmal vom Autor bei der gewissenhaften Besichtigung des Gigantenparks leiten. Voran steht die „Dämonin der Erde" (I, 8), Gaia oder Ge, die Erdmutter, deren „Gesicht unter den Augenhöhlen weggehackt" (I, 8) erscheint (Abb. 1). Peter Weiss bezieht hier unbedenklich den Erhaltungs- bzw. Zerstörungszustand in die dem Fries abgeforderte Bildaussage mit ein. Die Verstümmelungen, ja Entstellungen, die er an den Giganten wahrnimmt, sind ihm aussageträchtig. Sie werden ganz in seinen Bedeutungszusammenhang hineingenommen. Das ist zweifellos das Recht eines jeden Rezipienten. Mit einer solchen Einstellung bekennt sich der Autor in diesem Falle zu einer Betrachtungsweise, die das Fragmentarische der nur teilweise 3*

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erhaltenen, also beschädigten Denkmäler als Sinnebene betrachtet wissen will: .Nouveau Archéologie* ( = Neue Archäologie) ist der Terminus technicus für eine solche Verstehensweise, die auch in der modernen Kunst Furore gemacht hat. 9 Wir dürfen in solchem Zusammenhang von einem Touch zum Dadaismus sprechen. Das Faszinierende einer solchen Rezeption liegt in ihrer Unmittelbarkeit dem so und so (und nicht anders) überlieferten Kunstwerk gegenüber. Peter Weiss wird die Nichtauthentizität einer solchen Qualifikation des Pergamonfrieses, mit der er seine Helden belastet, gewiß reflektiert haben. Die Erdmutter „hatte die Giganten, Titanen, Kyklopen und Erinnyen geboren" (I, 10). Der Autor weiß das und faßt diese Erdgeborenen als zusammengehörig zusammen: „Dies war unser Geschlecht." (I, 10) Aber damit begibt er sich — ohne daß er es wissen wollte (oder konnte?) — bereits zwischen die Fronten des Götter-GigantenKampfes ; denn die Titanen und ihre Kinder sind bei dieser Auseinandersetzung Verbündete der Götter, also Gegner der Giganten. Da türmt sich also eine Schwierigkeit ähnlich wie bei dem Helden Herakles auf: Er steht auf der falschen Seite. An dieser Stelle sei es aus Gründen besseren Verständnisses unternommen, die bei den Griechen und ihren Nachgeborenen festgeschriebene Mythologie nochmals in Erinnerung zu bringen: 1 0 Am Anfang waren Himmel (Uranos) und Erde (Gaia, Ge). Sie zeugen die Titanen, das erste Göttergeschlecht, unter ihnen Kronos und Rhea. Diese beiden zeugen nun ein weiteres Göttergeschlecht, das Kronos aus Sorgen um die Macht, bis auf einen, nämlich Zeus, verschlingt. Der wird in der Fremde aufgezogen, kehrt zurück, fordert dem Vater die Verschlungenen (nicht Gefressenen ; denn sie müssen ja überleben) ab und eröffnet den Kampf gegen die Titanen. Das ist die erste Runde des Götterkampfes. Die Titanen unterliegen und werden in den Tartarus gesperrt, also gefangengesetzt. Kronos hatte aber seinen Vater schon vorher zeugungsunfähig gemacht, indem er ihm das Glied abgesichelt hatte. Blut tropfte zur Erde, vermischte sich mit ihr: Hervor sprossen die Giganten als weiteres Göttergeschlecht. Und dieses greift nun zur Macht, das heißt, es sagt den Olympiern — wie sie genannt wurden —, also Zeus und den Seinen, den Kampf an. Betrachten wir die Olympier etwas näher, so stellt sich unvermeidlich heraus, daß sie ja sämtlich titanisch versippt sind. Die Mutter Erde läßt sich beim besten Willen nicht aus der Göttersippschaft 36

herausdividieren. Diese Götter bleiben titanisch belastet. So gesehen, muß der klassenkämpferisch motivierte Einschnitt Peter Weiss' gewaltsam anmuten und soll es vermutlich auch. Er will vor allem von der festgeschriebenen Kampfsituation ausgehen. Das ist sein gutes Recht. Das ist der Tribut seines steilen Zugriffs, um die Darstellung des Götter-Giganten-Kampfes zeitgenössisch anzuzeigen. Nur darf bei einer solchen Sichtung des antiken Mythos' nicht dessen gewachsene Zusammengehörigkeit ganz geopfert oder vergessen werden. Gerade an diesem Punkt knotet sich eine unverzichtbare Auskunft antiken Erbes, die wir auch und gerade in der gegenwärtigen Situation als gemeinsam menschheitliches Anliegen hochzuhalten versuchen, nämlich die Bewahrung der physischen Substanz der Erdenbewohner. Darauf wird nochmals zurückzukommen sein.

5. Mit zielsicherem Instinkt hat sich Peter Weiss von den antagonistischen Gegensätzen der Schlachtendarstellung auf dem Pergamonfries leiten lassen. Die Unausweichlichkeit der hier gezeigten Auseinandersetzung ist evident. Die Härte des Kampfes erfährt durch die „Verteufelung" des Feindes seine besondere Zuspitzung. Etliche der Giganten werden nämlich mit tierischen Zügen ausgestattet, also gleichsam zu Bestien abgestempelt. Schlangenfüßigkeit trägt dazu ebenso bei wie Stiernacken (Abb. 3), Löwenhaupt (Abb. 4) und auch Tatzen (Abb. 5). Das sind alles Merkmale, die den Antagonismus der hinter der Friesdarstellung vermuteten historischen Vorgänge signalisieren. Peter Weiss hat das klar erkannt: „. . . andre Kämpfer aber, die über Pergamons Reich hingegangen waren, lagen unter dieser Darstellung verborgen." (I, 9) Der Autor denkt in erster Linie an die aus dem Inneren Kleinasiens angreifenden, das Reich Pergamon bedrängenden Gallier oder Galater. Das waren äußerst kriegerische Keltenstämme, die im Zuge der keltischen Expansion, über den Balkan anrückend, in Anatolien ansässig geworden waren. Darin lag zweifellos einer der außenpolitischen Faktoren begründet, die maßgeblich die Friesaussage mitbestimmt haben. Die pergamenischen Führungskräfte hatten — gestützt auf eine schlagkräftige Armee und gewiß neueste Waffentechnik — vermocht, diese Bedrohung, die auch andere Griechenstädte Kleinasiens betraf, abzuwenden. Diese Errungenschaften wußten sie im Sinne 37

eines Geschichtsverständnisses zu ideologisieren, das sie als Retter der hellenischen Kultur gegenüber den sie in Frage stellenden „Barbaren" herausstrich. Ein solcher Anspruch, der auf hinreichend ökonomische und militärische Voraussetzungen gegründet war, verband sich mit sicher nicht geringen finanziellen Aufwendungen für den Fortbestand und die Mehrung der Wissenschaft und entsprechend aussagefähige Kunstwerke. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Pergamonaltar, der — nach der Qualität der Meißelführung und wohldurchdachten Komposition des Figurenfrieses, aber auch nach den Inschriften zu urteilen — die führenden Meister und Werkstätten der damaligen Griechenwelt vereint haben dürfte. Selbstverständlich ging es dabei vor allem um die adäquate Repräsentation der herrschenden Schichten dieses hellenistischen Flächenstaates, entsprechend dem von ihnen geltend gemachten Führungsanspruch: „Einzig um die Absicherung des Herrschaftsbereiches der Könige ging es in den Kriegen." (I, 9) Peter Weiss hat das minutiös herausgearbeitet. Mit großem Aufwand hat er versucht, auch das innenpolitische Bedingungsgefüge freizulegen, dessen Kenntnis eine unerläßliche Voraussetzung für eine dialektische Interpretation der Götter-Giganten-Schlacht darstellt. Das Hintergrundsgeschehen für das Verständnis der pergamenischen Gigantomachie will also auch im Hinblick auf die sozialen Konflikte innerhalb Pergamons berücksichtigt sein. Wir wissen im allgemeinen recht wenig über die Klassenkämpfe in Pergamon. Ermittlungen dieser Art versuchen vor allem an einem Ereignis festzumachen, das die innenpolitischen Auseinandersetzungen schlaglichthaft erhellt, nämlich am Aristonikos-Aufstand. 11 Es handelt sich dabei um einen der vier großen Sklavenaufstände der griechisch-römischen Antike, in den auch die Zerwürfnisse der herrschenden Gruppierungen in Pergamon hineinspielten. Aristonikos war ein Halbbruder Attalos III., des letzten pergamenischen Königs; dieser war bereit, Pergamon den Römern auszuliefern. E r vermachte kurzerhand testamentarisch die Kapitalien seines Landes dem römischen Imperium. Dieses hatte sich im Laufe des 2. Jhs. v. u. Z. mit zunehmender Intensität und Penetranz in die griechischen Belange eingemischt, Makedonien geschlagen (168 v. u. Z.) und streckte nun seine Hand nach Kleinasien aus. Die Situation schien unrettbar. Der letzte Attalide wollte einer kalkulierbaren Schlappe und Demütigung durch die Römer mit seiner Initiative zuvorkommen. Aristonikos und seine Anhänger waren dagegen der Ansicht, 38

daß um jeden Preis Widerstand geleistet werden müsse. Offenbar fand er mit dieser Auffassung nicht geringen Zulauf und Unterstützung auch bei anderen Griechenstädten, die sich in einer ähnlichen Lage den Römern gegenüber befanden. Vor allem wußte er die Schichten der Ausgebeuteten, auch der Sklaven, zu gewinnen, denen das Engagement für die romfeindliche Fronde die Freiheit bringen sollte. Im einzelnen können wir diese Vorgänge nicht mehr genau rekonstruieren. Doch so viel scheint festzustehen, daß die Massierung der Volkskräfte, die dem Aufstand zunächst einmal, auch gegen römische Kontingente, zum Erfolg verhalfen, ein hohes Maß an innenpolitischem Zündstoff signalisiert. Peter Weiss hat diese Spannungen aus dem Grundverhältnis der Ausbeutung, sowohl der Königsbauern als auch der Sklaven, abgeleitet. Zweifellos lag darin eine der vehement treibenden Kräfte dieses Aufstands. Von daher fällt auch aufschließendes Licht auf die so schroffe Barbarisierung des Feindbilds am Pergamonaltar: „In mythischer Verkleidung erscheinen historische Ereignisse, ungeheuer greifbar, Schrecken, Bewunderung erregend, doch verständlich nicht als von Menschen hervorgerufen, sondern hinnehmbar nur als überpersönliche Macht, die Geknechtete, Versklavte wollte . . ." (I, 9). Allerdings unterschätzt der Autor an diesem Punkt die Allgemeinverständlichkeit der Bildaussage: „ . . . was für die Unkundigen im magischen Dunkel lag, war für die Wissenden ein nüchtern einzuschätzendes Handwerk. Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die anderen aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissenen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eigenen Fleisch." (I, 9) Natürlich verspürten sie die, aber sie wußten eben auch, wer da und wie gemeint war. Wie hätten sie sonst die Pranke verspüren können? Es war eben gerade die mythische Verschlüsselung der historischen Situation, die sie in dieser Form für die „Ungebildeten" greifbar werden ließ. Der Mythos gewährleistete die Allgemeinverständlichkeit, die Öffentlichkeitswirksamkeit der Aussage. Das lag natürlich auch im Sinne der Auftraggeber. Wie hätte sonst der Fries seine Funktion erfüllen können? Das galt besonders für alle die, die nicht des Lesens und Schreibens kundig waren, und das waren ja doch die meisten, eben die Vertreter der unteren Gesellschaftsschichten.

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6. „Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten." (I, 9) Bei ihnen konnte freilich ein differenziertes Verständnis mythischer Rezeption und Variation bis ins kleinste Detail vorausgesetzt werden. Die neuere archäologische Forschung hat es sich angelegen sein lassen, die politische Situation Pergamons als Hintergrundgeschehen, das noch etwas präziser — als bisher erprobt — auf die Friesdarstellung bezogen werden kann, schärfer ins Auge zu fassen. Ausgangspunkt bei Untersuchungen dieser Art war der Telephosfries an den Wänden des inneren Altarhofes. 12 Die Gestalt des Telephos als des sagenhaften Gründers von Pergamon bot einmal die Möglichkeit, aufgrund seiner Geburt und Herkunft die Beziehungen zur Peloponnes, speziell zum Achäischen Bund, dem etliche Poleis dieser Insel angehörten, in Erinnerung zu bringen. Telephos war ja die Frucht einer Begegnung des Helden Herakles und der arkadischen Königstochter Auge. Diese war nach dem Fehltritt, als welcher die Zeugung des Telephos verurteilt wurde, von ihrem Vater auf dem Meere ausgesetzt und an der kleinasiatischen Küste angetrieben worden. Der der Wildnis überlassene Telephos war, von einer Löwin gesäugt, im Walde herangewachsen, am Ende gleichfalls nach Kleinasien gelangt. Indem er dort, nach erfolgreicher Dienstleistung bei dem bithynischen König, seiner Mutter unerkannt als Gatte zugeführt werden sollte, ereilte ihn fast das Geschick eines zweiten Oedipus. Kämpfe gegen die Achäer des 2. Jahrtausends v. u. Z. rückten ihn in die gemeinsame Abwehrfront an der Seite der Trojaner. Während des zeitweilig guten Einvernehmens zwischen Pergamon und Rom wird mythische Versippung des Helden mit dem Trojanersproß Aeneas angestrebt; denn dieser ist als Urahn Roms seit dem 3. Jh. v. u. Z. zu einer Schlüsselfigur der römischen Frühgeschichte geworden. Die guten Beziehungen zu Rom hielten allerdings nur so lange an, als Rom den nächstliegenden Gegner Makedonien noch nicht niedergerungen hatte. Sobald diese Aufgabe mit der siegreichen Schlacht von Pydna 168 v. u. Z. gelöst war, kühlte sich das Verhältnis zu Pergamon schnell ab. J a die Römer begünstigten jetzt sogar eine Koalition gegen Pergamon, die aufgewiegelte Gallierkontingente einschloß. Wir dürfen annehmen, daß diese politische Wende in Pergamon alsbald reflektiert worden ist. Der „barbarische", stiernackige, tierkrallige, schlangenfüßige Feind, der nun auch 40

von Westen kam, könnte durchaus in das Gigantenbild als dem allumfassenden Feindbild mit hineingenommen worden sein und möglicherweise die Brutalisierung desselben eher noch verstärkt haben. Die annähernde Zeitgleiche dieser politischen Entwicklung mit dem Fertigungsprozeß des Altarfrieses in den 60er/50er Jahren des 2. Jhs. v. u. Z. dürfte einer solchen Annahme entgegenkommen. Wenn Peter Weiss dem Friesgeschehen einen „in Selbstzerstörung übergehenden Konservatismus" (I, 49) abgelauscht hat, so weist das grundsätzlich in die gleiche Richtung. Pergamon muß sich in den beiden auf die Mitte des 2. Jhs. v. u. Z. hinführenden Dezennien in einer Weise in die Zange genommen gefühlt haben, daß dieses Moment in dem „Umsichbeißen" der Friesgestalten durchaus seinen Niederschlag gefunden haben könnte. Solche Nuancen freilich dürften tatsächlich nur den Wissenden und tiefer in die Bildaussage Eindringenden zugänglich gewesen sein; denn diese Kreise waren ja auch die am empfindlichsten von der römischen Bedrohung Betroffenen. Daß sie allerdings die Volksmassen für ihre Interessen in dem Maße einzuspannen wußten, wie es der Aristonikos-Aufstand zu erkennen gibt, dürfte aus den materiellen Anreizen und der versprochenen Freiheit für die Sklaven abzuleiten sein.

7. „. . . nicht die Krieger, die Könige trugen den Sieg davon, und wer siegte, durfte den Göttern gleich sein, während die Unterlegenen die von den Göttern Verachteten waren." (I, 10) Peter Weiss legt den Finger auf den alten wunden Punkt der Machtfrage. In den Götterfolgen war der Qualitätsumschlag vormodelliert. Die entmachteten Titanen, vormals Götter, wurden zu Nichtgöttern, ja zu Götterfeinden degradiert. An die Seite der Götter gerückt, im Abwehrkampf gegen die Giganten, erfahren sie jedoch Aufwertung, genießen sie Götternähe und Götterschutz. Hätte der Mythos eine weitere Folgegeneration von Göttern aufgewiesen, die die Olympier aus ihren Sitzen zu verdrängen sich angemaßt hätten, würden die vormals niedergekämpften Giganten vermutlich auch zu Verbündeten der Olympier geworden sein. Aber hier liegt eben der Einschnitt, der sich in der hellenistischen Version des Götter-Giganten-Kampfes zur Irreversibilität verhärtet. Das hängt einfach mit der zunehmend antagonistischen Rezeption dieses Themas zusammen. 41

In den archaischen Jahrhunderten (7./6. Jh. v. u. Z.) war das Thema des Götter-Giganten-Kampfes gleichsam als ein Modell gesellschaftlicher Auseinandersetzungen aufgegriffen und erprobt worden. Das gilt für Dichtung und Bildkunst in gleicher Weise. In Hesiods Theogonie 13 begegnet dieses Thema ebenso wie in der gleichzeitigen Vasenmalerei und Reliefkunst, etwa am Nordfries des Siphnierschatzhauses in Delphi (Abb. 6) 14 . In den Darstellungen dieser Zeit sind die Giganten gleichberechtigte Gegner mit glänzender Rüstung und schönen Waffen. Der Mythos sieht freilich ihren Untergang vor. Aber der Kampf ist ausgewogen und läßt dem Gegner Gerechtigkeit widerfahren. Das entspricht auch dem Kräfteverhältnis zwischen den griechischen Poleis dieser Jahrhunderte. Jeder war potentieller Sieger und Unterlegener zugleich. In der Klassik des 5. und 4. Jhs. v. u. Z. läßt sich deutlich ein Humanisierungsprozeß des Feindbildes erkennen, das den Gegner als Auchmenschen, als Mitmenschen, freilegt. Dieser Durchbruch zu einer neuen Betrachtungsweise läßt sich besonders im attischen Bereich beobachten, vor allem in der phidiasisch geprägten Kunst der Parthenonskulpturen15, aber auch in der gleichzeitigen Tragödiendichtung 16 . Die neue Qualität, die sich auch in den philosophischen Denkansätzen dieser Zeit fassen läßt, ist ohne Frage durch die Demokratisierung der Polis ausgelöst und in geradezu selbstzerstörerischer Konsequenz bis ans Ende gedacht und gestaltet worden, z. B. in der Sophoklestragödie König Oedipus17. Allerdings handelt es sich hier um Erkenntnisse und Einsichten, die aufgrund der Eigentumsverhältnisse innerhalb der Polis und der Interessenwidersprüche zwischen den einzelnen Poleis nicht gesellschaftswirksam werden konnten. In der hellenistischen Phase des 3. bis 1. Jhs. v. u. Z. setzte sich im Zuge der Abwertung des Feindbildes eine Konzeption durch, die den Giganten als Götterfeind verschärfter Denunziation und Disqualifizierung aussetzte. Das hängt mit den Machtkämpfen zwischen den hellenistischen Staaten und Föderationen zusammen, auch mit den sozialen Antagonismen innerhalb dieser Staaten, die sich im Sinne unauflöslicher Widersprüche zuspitzten und die Behauptung der Macht als eines Existenzkampfes auf Gedeih und Verderb mit allen nur verfügbaren Mitteln als Bedingung des Überlebens wünschenswert erscheinen ließen. Dieser Entwicklungsstufe gehört die pergamenische Gigantomachie zu. Um ihre Aussagespezifik im griechischen Sinne hinrei42

chend zu verdeutlichen, ist es ratsam, die in ihr vorgetragenen bildkünstlerischen Auffassungen von Sieg und Niederlage von den noch schärfer brutalisierten römischen Konzepten abzusetzen. Jedermann dürfte der römische Ausspruch „vae victis" ( = Wehe den Besiegten) bekannt sein. In dieser Formel ist römisches Siegesverhalten gegenüber den Besiegten auf die einfachste Formel gebracht. Der Unterlegene wird triumphal zum Attribut der Siegestrophäe degradiert, zum Demonstrationsobjekt für exekutiertes Recht, erwiesenes Unrecht, gemacht. Römische Darstellungskunst hat derartige bildkünstlerische Argumentationen meist an historischen Stoffen, weniger am Mythos, realisiert. 18 Von dorther gesehen, haftet dem Ringen der Götter und Giganten auf dem Pergamonfries noch jene Herausforderung an die Sieger an, die für das dialektische Verständnis jeglichen Kampfgeschehens bei den Griechen typisch war. Dies hat Peter Weiss auch der pergamenischen Gigantomachie zugestehen müssen. In Iwan Turgenews Verherrlichung der Friesdarstellung, die oben zitiert wurde, schwingt dieses Gleichgewicht im Rollenverständnis der „siegenden und fallenden Figuren" 19 implizite mit. Ja, der Dichter scheint versteckt einen Wink geben zu wollen auf die letztendliche Verbundenheit der hier miteinander Ringenden. Ein solches Verständnis käme einerseits griechischer Auffassung insofern entgegen, als der Mythos der unentrinnbaren Versippung von Freund und Feind stets Rechnung getragen hat. Dieses aus einem Leib Hervorgegangensein, dieses letztendlich einander Zugehören schien trotz der schicksalhaften Zerfleischung und Zerstückelung, der Auslöschung und Zerstampfung, wie es der Pergamonfries bildkünstlerisch konkretisiert hat, in Erinnerung bleiben zu müssen.

8. Das ist freilich ein Moment, das Peter Weiss aus guten Gründen tunlichst hat zurücktreten lassen. Im Gegenteil, er hat dem weltgeschichtlich gespeicherten Zorn über jegliche Ausbeutung, jegliches Getretensein menschlicher Kreatur bis in die Jetztzeit, in der Frage von Coppis Mutter ein Ventil geschaffen, nämlich in der Form: „. . . daß sie sich fragen müsse, ob nicht die Last der Peinigungen, mit der das Zustandekommen der Kunstwerke bezahlt worden war, diesen für alle Zeiten etwas Abstoßendes geben müsse. Sie verstände 43

auch die Kalkbrenner, die ihre Öfen neben den A b l a g e r u n g e n der alten Heiligtümer aufgestellt hatten. Die Ruinen v o n Kapitellen, Gesimsen und Statuen waren für sie nur ein M a r m o r b r u c h , und w e n n sie hin und wieder ein Gesicht, einen Leib, ein Tier in die Blöcke geschlagen sahn, so konnte sie dies nicht dran hindern, vor allem an den Kalk zu denken, der hier g e b u n d e n lag. W i e f ü r die Maurer die Quadern Bausteine ausmachten, so w a r e n sie den K a l k b r e n n e r n Rohmaterial zur G e w i n n u n g v o n v e r k ä u f l i c h e m Mörtel. Seit J a h r h u n derten w a r Kalk aus der Fülle der M a r m o r t r ü m m e r hergestellt w o r den, u n d dieses H a n d w e r k w u r d e , wie auch der Transport v o n Steinen in ärmlichen Karren zu den umliegenden Dörfern, durch die A n k u n f t eines archäologisch geschulten Ingenieurs beendet. Coppis Mutter wollte wissen, ob denn die Kalkbrenner entschädigt w u r d e n , nachdem H u m a n n , der im A u f t r a g der türkischen R e g i e r u n g eine Straße durch das westliche Kleinasien baute, bei einem A u s f l u g zur B e r g h ö h e die antiken Fragmente entdeckt u n d die Arbeiter v o n der Fundstelle verwiesen hatte." (I, 50) So kulturrevoluzzerhaft eine solche Auslassung auch anmuten m a g und i m Endeffekt nur auf A b l e h n u n g w i r d stoßen müssen, so drückt sie andererseits in der absurden Überspitzung am b ü n d i g sten den gesammelten U n m u t der g e g e n alle menschliche Unterd r ü c k u n g A u f b e g e h r e n d e n u n d Aufstehenden einprägsam aus. Peter Weiss hat mit seinem Buch das T h e m a des i m m e r w ä h r e n d e n W i d e r s t a n d s aufgegriffen, des Aufstands gegen die organisierte u n d legitimierte Unmenschlichkeit, die im Namen des Menschen Menschen ausbeutet u n d verdirbt. Die pergamenische Gigantomachie w a r der denkbar dramatischste A u f t a k t , mit dem er sein T h e m a eröffnen konnte. Er hat dieses W e l t w u n d e r der A n t i k e seinen Intentionen völlig g e f ü g i g gemacht. Die v o m gewählten Gegenstand her fällige Korrektur korrigiert auch des A u t o r s utopische Biographie, als welche er Die Ästhetik des Widerstands verstanden wissen wollte, k o r r i g i e r t sie in R i c h t u n g auf den g e g e n w ä r t i g real praktizierten H u m a n i s m u s , das heißt, auf den politisch realen Sozialismus als einen Garanten zur Erhaltung des Menschengeschlechts hin.

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Irene Dölling

Frauen im KlassenkampfKlassenkampf und Geschlechterfrage in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands

I. Soziale Revolution — Kulturrevolution Geschlecbterbe^iebungen



Peter Weiss' „Jahrhundertbuch" ist für uns in mancherlei Beziehung ungewöhnlich, neu- und fremdartig, provozierend. Dazu gehört ganz gewiß auch die Art und Weise, wie er sich zur „Geschlechterfrage" äußert. Keineswegs ein Hauptthema, taucht sie als ein Aspekt der analytischen Sicht auf den Epochenumbruch, der unser Jahrhundert prägt, immer wieder auf — im Kontext von sozialer und kultureller Revolution. Auf diesen Zusammenhang soll deshalb zunächst eingegangen werden: Nur von daher ist meines Erachtens zu erschließen, warum und wie Peter Weiss auf das Verhältnis von Mann und Frau zu sprechen kommt. „In uns sei ein neuer Menschentyp angelegt" — so charakterisiert Max Hodann in der Ästhetik des Widerstands (III, 46) eines der Ergebnisse, die das aktive Eingreifen in die Klassenauseinandersetzungen unseres Jahrhunderts für die Kämpfenden auf der Seite der Unterdrückten hervorbringt. Es ist dies ein immer wieder thematisierter Gedanke in Peter Weiss' Trilogie: Die soziale Revolution ist mit der Kulturrevolution untrennbar verbunden, die Beseitigung von ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen über Menschen mit der Beseitigung der „Kluft zwischen verschiedenen Bereichen der Einsicht" (I, 37), mit der Überwindung von Passivität und Sprachlosigkeit, von Autoritätsgläubigkeit und Unterwürfigkeit — den jahrtausendelang erzeugten subjektiven Folgen des Daseins als Unterdrückte. Das „Wesen des Revolutionären" liegt „in der Umwälzung des gesamten Lebens" und muß „in sich und in der Außenwelt" (I, 300) verwirklicht werden. Diese Umwälzung ist ablesbar an einer Kultur, die „aus uns selbst" kommt, die auf dem 45

Irene Dölling

Frauen im KlassenkampfKlassenkampf und Geschlechterfrage in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands

I. Soziale Revolution — Kulturrevolution Geschlecbterbe^iebungen



Peter Weiss' „Jahrhundertbuch" ist für uns in mancherlei Beziehung ungewöhnlich, neu- und fremdartig, provozierend. Dazu gehört ganz gewiß auch die Art und Weise, wie er sich zur „Geschlechterfrage" äußert. Keineswegs ein Hauptthema, taucht sie als ein Aspekt der analytischen Sicht auf den Epochenumbruch, der unser Jahrhundert prägt, immer wieder auf — im Kontext von sozialer und kultureller Revolution. Auf diesen Zusammenhang soll deshalb zunächst eingegangen werden: Nur von daher ist meines Erachtens zu erschließen, warum und wie Peter Weiss auf das Verhältnis von Mann und Frau zu sprechen kommt. „In uns sei ein neuer Menschentyp angelegt" — so charakterisiert Max Hodann in der Ästhetik des Widerstands (III, 46) eines der Ergebnisse, die das aktive Eingreifen in die Klassenauseinandersetzungen unseres Jahrhunderts für die Kämpfenden auf der Seite der Unterdrückten hervorbringt. Es ist dies ein immer wieder thematisierter Gedanke in Peter Weiss' Trilogie: Die soziale Revolution ist mit der Kulturrevolution untrennbar verbunden, die Beseitigung von ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen über Menschen mit der Beseitigung der „Kluft zwischen verschiedenen Bereichen der Einsicht" (I, 37), mit der Überwindung von Passivität und Sprachlosigkeit, von Autoritätsgläubigkeit und Unterwürfigkeit — den jahrtausendelang erzeugten subjektiven Folgen des Daseins als Unterdrückte. Das „Wesen des Revolutionären" liegt „in der Umwälzung des gesamten Lebens" und muß „in sich und in der Außenwelt" (I, 300) verwirklicht werden. Diese Umwälzung ist ablesbar an einer Kultur, die „aus uns selbst" kommt, die auf dem 45

„Vertrauen in unsre eignen Fähigkeiten" (I, 87) gründet und die sich in „Selbstbewußtsein, Stolz und Vergnügen", in „eignem Urteil" und „Unterscheidungsvermögen" (I, 18) äußert. Im „neuen Menschentyp" ist die bisherige Geschichte im Hegelschen doppelten Sinne aufgehoben. Er ist zum einen die Negation der Einseitigkeiten, psychischen Verkrüppelungen, in denen die Antagonismen der Klassengesellschaft auf Seiten der Individuen (der Beherrschten wie der Herrschenden in je spezifischer Weise) ihren Niederschlag finden. Und in ihm sind zum anderen die menschlichen Eigenschaften bewahrt, die diejenigen, die sich gegen die unterdrükkenden Verhältnisse auflehnten, die Widerstand leisteten und das Bestehende ändern wollten, als subjektiv-treibende Kraft aus sich hervorbrachten. Eigenschaften, deren humane Potenz erst nach einer erfolgreichen sozialen Revolution, die die Klassenherrschaft beseitigt, voll entfaltet und realisiert werden kann. Dieser „neue Menschentyp" ist für Peter Weiss kein moralischer Gegenentwurf zu einer unvollkommenen, von Widersprüchen zerrissenen Gegenwart, so sehr seiner Charakterisierung idealische, utopische Züge anhaften. Diese Utopie gewinnt ihre hoffnunggebende Kraft nicht aus einem gedanklichen Hintersichlassen der irdischen Realität. Das Land Nirgendwo gewinnt Kontur aus der Widerständigkeit gegenüber Verhältnissen, Kräftekonstellationen, Interessen, die übermächtig, unverrückbar festgefügt zu sein scheinen angesichts der Opfer, die der Kampf gegen sie bisher gekostet hat. Für Peter Weiss ist dieser „neue Menschentyp" das Ergebnis von erbitterten, gewaltsamen Kämpfen. Diejenigen, die sich auf diesen Kampf einlassen, sind durch ihn geprägt: durch die notwendige Disziplin, die das Anerkennen von Autoritäten, von Entscheidungen, die „oben" getroffen werden, einschließt, durch die Anwendung von Gewalt gegen einen Feind, der seine Macht mit äußerster Brutalität aufrechterhält, von Gewalt aber auch in den eigenen Reihen. Ein Kampf, der geprägt ist durch Fehler und Irrtümer, die zwangsläufig immer zu Aktionen gehören, die auf etwas Neues zielen. Um dieses Neue wird gerungen in Formen, die noch den Stempel der alten Gesellschaft tragen. Widerständigkeit und immer erneute „bebende, zähe, kühne Hoffnung" (III, 276) setzt, dies ist Peter Weiss' Credo bei seinem Aufarbeiten der politischen Kämpfe unseres Jahrhunderts, Einsicht in diese Widersprüchlichkeit und die Fähigkeit zum Aushalten dieser Widersprüche voraus. Das Streben seiner Figuren, durch die Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst Einsicht in gesell46

schaftliche und politische Zusammenhänge zu gewinnen, aber auch die Zwiespältigkeiten, die dunklen, scheinbar irrationalen Momente ihres individuellen Daseins zu ergründen, dienen diesem Zweck. Dieses Suchen und Fragen ist ein Stück Kulturrevolution während des Kampfes selbst, es ist eine „Gegenkraft" zur zeitweisen „Rücksichtslosigkeit" und „Brutalität" (I, 207) und eine unabdingbare Voraussetzung auch dafür, „am Aufbau des Neuen mitzuwirken" (I, 207). Obwohl Peter Weiss vor allem nach der Funktion von Künsten und Wissenschaft bei der Entwicklung einer subjektiven Kultur der Widerstandsfähigkeit gegenüber erdrückenden Verhältnissen fragt, ist sein Kulturbegriff umfassend: E r meint die Veränderung des „ganzen" Menschen im Zuge der revolutionären Umwälzung. Was notwendig impliziert, das Leben der an diesen Kämpfen Beteiligten als ganzheitlichen Prozeß zu sehen, ihre verschiedenen Lebensbereiche ifnd deren psychische Korrelate in ihren inneren Zusammenhängen wie Brüchen zu fassen. In diesem Kontext thematisiert Peter Weiss auch das Verhältnis von Klassen- und Geschlechterfrage, von kämpferischem politischem Engagement und „patriarchalisch" geprägten Verhaltensweisen. Er spricht damit Probleme an, die in der Arbeiterbewegung keineswegs zu den „erledigten" gehören und die für uns, beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, in spezifischer Weise zur Diskussion stehen, insofern die Beziehungen, die Funktions- und Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern zu den wichtigsten Bewegungsformen gesellschaftlicher Widersprüche im Sozialismus gehören und deshalb auch immer erneut die Ursachen für soziale Unterschiede zwischen Frauen und Männern, für das Fortwirken „patriarchalischer Strukturen" und die Bedingungen für ihren Abbau zu erkunden sind. Die Herausbildung des „neuen Menschentyps" in der Überwindung unterdrückender Klassenverhältnisse schließt für Peter Weiss — entsprechend seinem Verständnis des Zusammenhangs von sozialer und kultureller Revolution — die Beseitigung von „patriarchalischen Unterdrückungsstrukturen" 1 ein, die mit Klassenstrukturen zwar zusammenhängen, in diesen aber nicht aufgehen und mit deren Beseitigung daher auch nicht einfach verschwinden. Peter Weiss ordnet die Geschlechterfrage der Klassenfrage in bestimmter Hinsicht unter. Für ihn bietet die Analyse von „patriarchalischen Strukturen" — im Unterschied zu einigen modernen feministischen Ansätzen — keinen hinreichenden Zugriff auf die Gesellschaft, auf ihre 47

wesentlichen Zusammenhänge in wechselnden historischen Formationen, auf die politischen Formen des Klassenkampfes. Die historisch-materialistische Gesellschaftstheorie, die marxistische Theorie von den Klassen und ihren Kämpfen sind ihm dafür die unbestrittene Methode. Aber aus seinem Anliegen heraus, soziale und kulturelle Revolution als aufeinander bezogene Prozesse zu denken, den Motiven und Beweggründen der kämpferisch engagierten Individuen nachzugehen, wendet sich Weiss unter anderem den Geschlechterbeziehungen, speziell den „patriarchalischen Strukturen", zu. Diese sind der kulturellen Ebene, der Ebene der „abgeleiteten Verhältnisse", wie Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie formulierte, zugehörig. 2 In ihnen erscheinen die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Gestalt von unmittelbaren Beziehungen zwischen den Menschen — „transformiert" und dadurch zugleich in relativ eigenständigen Formen, die formationsübergreifend wirksam sein können, insofern und solange sie eine Funktion im Reproduktionsprozeß einer Gesellschaft (also der Totalität der sie ausmachenden Verhältnisse) haben. Peter Weiss' Bemerkungen zum Verhältnis von Klassen- und Geschlechterfrage verbleiben in dem Rahmen, der durch die Feststellung dieses allgemeinen Zusammenhangs gegeben ist. Obwohl es für ihn keine einfache Identität zwischen diesen beiden Ebenen gibt, ist für ihn andererseits die Frage nach der Entstehung von „patriarchalischen Strukturen" kein Thema — ihm genügt für seine Fragestellung das Konstatieren eines funktionellen Zusammenhangs.3 Schließlich ging es Weiss in seinem Buch nicht darum, dem Ursprung des „Patriarchats" nachzugehen, sondern nach den Bedingungen und Voraussetzungen, nach den Motiven und Zielen zu fragen, die Menschen im 20. Jahrhundert bewegen, Partei für die Unterdrückten zu ergreifen, den Kampf gegen die Klassengesellschaft in ihrer entwickeltsten Gestalt aufzunehmen. Gegen eine Gesellschaft also, in der der funktionale Zusammenhang zwischen Klassenspaltung und Abwertung, Unterdrückung des einen Geschlechts durch das andere in vielfältiger und diffiziler Weise wirksam ist. Gemäß seinem Anliegen thematisiert Weiss das Problem der Abwertung und Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche auf zweifache Weise: zum einen als programmatischen Anspruch auf Herstellung sozialer Gleichheit der Geschlechter im Ergebnis der sozialen Revolution. Und zum zweiten als ein Mittel zur Charakterisierung von kulturellen Formen und von Verhaltens48

strukturen, in denen die Unterdrückten die so2ialen Gegensätze und Hierarchien ihrer Gesellschaft akzeptierend, bestätigend, reproduzierend erleben und psychisch „verarbeiten". Unter anderem die „patriarchalischen Strukturen" dienen ihm zur Erhellung von „Zügen, Eigenschaften", die dem Ich-Erzähler bei der Lektüre von Kafkas Schloß bewußt werden: von Dumpfheit, passiver bzw. rechtfertigender Hinnahme des Gegebenen, „Züge und Eigenschaften meiner selbst und meiner Angehörigen . . . , die ich früher von mir abgeschoben oder mit denen ich mich nur flüchtig befaßt hätte" (I, 175) und die zu bedenken waren bei der Frage, „warum wir denn selber immer noch nicht eingegriffen hatten, um die Mißstände ein für alle Mal zu beseitigen" (I, 176). Auch die Charaktere der Unterdrückten sind von den Widersprüchen der Klassengesellschaft gezeichnet — neben der Fähigkeit zur Solidarität, zur Artikulation ihrer Interessen im ökonomischen und politischen Kampf sind sie nicht frei von den bürgerlichen Normen der Familien- und Partnerbeziehungen, von Konkurrenzverhalten und auch nicht von der Faszination der Macht über andere. Und gerade für diejenigen, die den Kampf um die Beseitigung der Mißstände antreten, ist das Wissen um diese Formen des Gezeichnetseins notwendig: um die eigenen Motive des kämpferischen Einsatzes besser zu erkennen und um den Kampf für die Aufhebung der Klassengesellschaft als einen umfassenden, radikalen, die eigene Subjektivität einschließenden Kampf führen zu können. Das ist keine Revolte gegen „die Männergesellschaft", sondern ein politischer Kampf um die Beseitigung von gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die sozialen Gegensätze und Hierarchien als soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern, als ökonomische, politische oder psychische Privilegien und Vorteile des männlichen Geschlechts gegenüber dem weiblichen erscheinen und praktisch gelebt werden und in dessen Vollzug deshalb auch die lang tradierten, quasi natürlich anmutenden Formen „patriarchalischer Unterdrückung" und Bevormundung der Kritik unterzogen werden müssen. In den folgenden Abschnitten sollen einige Aspekte des Zusammenhangs von Klassenkampf und Geschlechterbeziehungen, die Peter Weiss anspricht, näher beleuchtet werden.

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Krenrfin, P. Weiss

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II. Der interpretierte

Mythos

„Wir brauchen die Mythen nicht, die uns nur verkleinern wollen, wir genügen uns selbst", äußert Coppi in einer Phase der Unsicherheit während der „Hades-Wanderung". Heilmann setzt dagegen — und spricht damit auch die Meinung von Peter Weiss aus —: „Wir können nicht leben, ohne uns ein Bild von uns zu machen, gleichgültig, ob uns ein solches Bild nun aus einer langen Geschichte überbracht oder von eigener Hand, zum gegenwärtigen Bedarf, geschaffen wird." (III, 175) Es gehört zum Anliegen des Buches, selbst zum Hervorbringen eines solchen Bildes beizutragen. Dabei spielt — unter anderem — die Ebene des Mythos, die Deutung seines Symbolgehalts aus der Sicht der Widerstandskämpfer eine wichtige Rolle. Herakles insbesondere ist für Weiss Symbolfigur für alle, „die sich zur Wehr setzen gegen die Mächte des Zerstörerischen" (111,175). Die Deutungen der Herakles-Figur in den verschiedenen Stationen des politischen Kampfes: kurz bevor der Ich-ErzäWer Berlin verläßt, um am spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen, während der verschiedenen Stationen seiner Emigration bis zum Ende des zweiten Weltkrieges und dem Ausblick auf die kommenden Kämpfe, sind Ausdruck des Ringens um Erkenntnis und Selbsterkenntnis, des Bewußtwerdens der Widersprüchlichkeiten, die dem eigenen Widerstand zugrunde liegen. Sie veranschaulichen und kommentieren die aktuelle Befindlichkeit, ermöglichen durch Symbolisierung Distanz zum unmittelbaren Geschehen und vermitteln durch die wechselnde Interpretation ein Bild von den vielfachen Bestimmtheiten des eigenen Tuns und den verschiedenen Wegen analysierend-reflektierender Annäherung an sie. Ist Herakles anfangs noch unmittelbare Identifikationsfigur — „Herakles — der Traum von der Erfüllung alles Phantastischen — der Prolet, der endlich alles besitzt, was ihm früher vorenthalten war" (N II, 671) —, wird „seine Gestalt vielfältiger, auch fragwürdiger" (I, 314) in dem Maße, wie die Entscheidung des Ich-Erzählers und seiner Freunde zum Widerstand in der differenzierten Aufarbeitung der politischen Realität: des Sieges des Faschismus in Deutschland und Spanien, der Situation der Sowjetunion als einzigem sozialistischem Land, der Zersplitterung der Arbeiterbewegung, der Moskauer Prozesse — untermauert und immer erneut getroffen werden muß. Am Ende wird Herakles — nun erschlossen und akzeptiert in seiner Zwiespältigkeit, Fragwürdigkeit, die als Bild für das Unabgeschlossene, Unklare, Widersprüchliche der eigenen Situation 50

angenommen werden kann — noch einmal als „Symbolfigur der vereinten Kraft der unterdrückten Klassen" 4 zitiert. Es ist meines Erachtens lohnend — gerade auch für das in diesem Beitrag zentrale Verhältnis von Klassenkampf und Geschlechterbeziehungen —, sich die Frage zu stellen, warum Weiss Herakles als Symbolfigur wählt. 5 Der Vergleich zu anderen literarischen bzw. wissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre, die sich diesem Zusammenhang zuwenden und für die ebenfalls die Interpretation des Mythos konstituierendes Moment ist, bietet sich an, der Vergleich etwa mit Christa Wolfs Wahl der Kassandra-Figur. In Christa Wolfs Deutung wird Kassandra „sehend" in dem Maße, wie sie erkennt, daß die Interessen des trojanischen Herrscherhauses von denen der Griechen nicht wesentlich unterschieden sind und eine Zustimmung zum Krieg nur ein Akzeptieren von gesellschaftlichen Verhältnissen bedeuten kann, in denen die Herrschaft des Privateigentums in der Beherrschung der Frauen durch die Männer ihre unmittelbar-anschauliche und praktizierte Entsprechung findet. In der Übergangszeit von der „archaischen" zur Klassengesellschaft lebend und geprägt von den überkommenden und zumindest partiell noch wirksamen Normen eines auf dem Prinzip gegenseitiger Achtung beruhenden Zusammenlebens, kann Kassandra die Folgen der Klassengesellschaft für die Beziehungen zwischen Frauen und Männern „vorhersehen" und sich ihnen — um den Preis ihres Lebens — entziehen. Ihre Entscheidung, in die Gefangenschaft und in den Tod zu gehen, ist wesentlich bestimmt durch die Verweigerung einer für sie unannehmbaren „Frauenrolle", die auf der Vorherrschaft des Mannes beruht. Ihr erinnerndes Festhalten an der Möglichkeit eines freundlichen, gleichberechtigten Zusammenlebens der Menschen ist das Bewahren einer Hoffnung 6 angesichts von Verhältnissen, die dafür „keinen realen Lebens-Ort" 7 bieten. In dieser Interpretation der Kassandra-Figur können für die heute Lebenden Impulse liegen, sich die Folgen von einigen Jahrtausenden stattgehabter Geschichte von Klassengesellschaft bewußtzumachen und nach den Bedingungen zu fragen, die in unserer Zeit für ihre Überwindung auf eine produktive und eben nicht tödliche Weise gegeben sind. In vergleichbarer Weise ist für Ernest Bornemann 8 das ausführlich gezeichnete Bild der „archaischen Matriarchate" (genauer: matrilinearer Gesellschaften) das geeignete Mittel, die Analyse des Ursprungs „patriarchalischer Strukturen" im Prozeß der Herausbildung des Privateigentums mit der Vision einer kommunistischen 4»

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Gesellschaft zu verbinden, deren Urbild die „matriarchalischen Lebensformen" zu Beginn der Menschheitsgeschichte sind. Auf das Für und Wider einer solchen Verfahrensweise, auf die Frage, ob die Annahme eines „paradiesischen" macht- und herrschaftsfreien Zustandes wissenschaftlich berechtigt sei, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Auf jeden Fall liegt in der — hypothetischen — Annahme „archaischer Matriarchate" die Möglichkeit, historisierende Distanz zu den seit Jahrtausenden und bis heute wirksamen „patriarchalischen Strukturen" zu gewinnen und ihre Überwindung als notwendig und machbar zu formulieren. Allerdings liegt in der Beschwörung des „Mythos der archaischen Matriarchate" die Gefahr einer Einseitigkeit, von der viele Diskussionen im modernen Feminismus nicht frei sind: die Gefahr, in schlichter Umkehrung bisher vorherrschender Denkweise Weiblichkeit, Mütterlichkeit und Menschlichkeit identisch zu setzen, eine angeblich von den Gegensätzen der Klassengesellschaft und ihren psychischen Folgen weitgehend verschont gebliebene Weiblichkeit als Synonym für Humanität, Wärme, Solidarität zu nehmen und mittels dieser Vorstellung den Kampf gegen „die" Männer bzw. „die" Männergesellschaft zu führen. 9 Bei Peter Weiss' Interpretation des Mythos mit dem Ziel, zu einem Bild von uns Heutigen zu kommen, spielt die Vision der „archaischen Matriarchate" als Gegenbild zur „patriarchalisch" strukturierten Klassengesellschaft keine Rolle. Herakles ist Teil eines Mythos, der die Zerrissenheit der Gesellschaft in oben und unten, in Ausbeuter und Unterdrückte in überhöhter, symbolischer Form zum Ausdruck bringt. Aus dem Wiedererkennen der eigenen Bestimmtheit und Zerrissenheit durch die Wirkungen der Klassengesellschaft gewinnen die Kämpfenden unseres Jahrhunderts in Peter Weiss' Konzept das Bild vom Anderssein, von einer neuen Gesellschaft, auch von den Anstrengungen, die zu ihrer Verwirklichung notwendig sind. Die Wahl der Herakles-Figur ist durch Weiss' Sicht der Klassenkämpfe unserer Zeit bestimmt, wie sie im vorigen Abschnitt umrissen wurde. Die Deutung des Herakles-Mythos kann diese Sicht angemessener symbolisch zum Ausdruck bringen, als das mittels einer verurteilenden Kritik „patriarchalischer Strukturen" aus dem Blickwinkel einer weiblichen „Gegenposition" möglich wäre. Das bestimmende Merkmal des Herakles ist die Zweideutigkeit seiner Lebenssituation: Von Geburt irdisch und göttlich zugleich, sind seine Taten und Handlungsmotive durch seine zwielichtige 52

Herkunft bestimmt. Er schlägt sich auf die Seite der Irdischen, zeigt ihnen, indem er alles „sagenhafte Getier" (I, 25) überwindet, das zur Rechtfertigung irdischer Herrschaft über Menschen ersonnen wurde, war sie als Sterbliche gegenüber den Göttern vermögen. Und er ist für Macht empfänglich, wird nicht zuletzt deshalb von den Göttern am Ende in ihren Himmel aufgenommen. Ruhelos, von Neugier und Entdeckerdrang getrieben, befährt er das Meer. E r macht neue Orte ausfindig, wird zum „Inspirator des Kolonialismus" (I, 316) und beschwört damit „Kriege, umfassender als je z u v o r " (I, 25) herauf, die — entgegen seiner Parteinahme für die Unterdrückten — das „Darben in den Städten" (I, 315) anwachsen lassen. E r ist ganz auf die Tat gestellt, auf Naturbeherrschung und „Veränderung, Verbeßrungen", die „hier, im Diesseitigen" (I, 314) stattfinden mußten, und er ist „geprägt von der Unvollkommenheit, dem Irren und Suchen, den Fehlschlägen und fortwährenden Neuanfängen" (I, 316). E r ist einer, „der sich manchmal weit über sich selbst erhob, dann wieder rettungslos verfangen war in seinen Phantasien" (I, 317), von „Furcht und Schrecken geplagt", getrieben, in seinen Handlungen „die eigne Schwäche und Vereinsamung zu überwinden" (I, 314). Gerade weil seine Handlungen nicht eindeutig sind, können sich Heilmann, Coppi — übrigens auch Lotte Bischoff — in ihm wiedererkennen, liegt es doch auch für sie im „Wesen der Zeit, daß wir uns fortwährend entwerfen, aus den Augen verlieren, auf neue Art wiederfinden" (III, 270). Z u m widersprüchlichen Bild des Herakles gehört auch, daß er zur Liebe unfähig ist. „Die Sinnlichkeit, die ihm angedichtet wurde", heißt es interpretierend bei Peter Weiss, „kann nur den Vorstellungen derer entsprechen, die Liebeskraft mit Besitzergreifung verwechseln, nicht ein einziges Mal läßt sich den zahlreich eingegangenen Verbindungen entnehmen, daß er seiner Partnerin zugetan war, immer nur hatte er entrissen, gezüchtigt, gemordet oder wurde gepeinigt." (I, 318) Herakles ist ein Opfer der Interessengegensätze, der Intrigen und Eifersüchteleien unter den Göttern. Daß es eine Frau der Götterwelt — Hera — ist, die ihn in die „Minderwertigkeit, Zweitrangigkeit" stößt, ist ummittelbare Ursache für seine lebenslange, „panische A n g s t " , für seinen „Abscheu vor der Frau" (I, 318). Dies aber ist die E r s c h e i n u n g s w e i s e einer tieferliegenden Angst, die auf der schicksalhaften Abhängigkeit von den Göttern beruht. Herakles wird mit der Angst, mit seinem Gefühl der Zweitrangigkeit gegenüber den Göttern (der Göttin Hera insbesondere) fertig, indem er sich brutal, 53

besitzergreifend, unterdrückerisch gegenüber anderen, „irdischen" Frauen verhält, „seine Männlichkeit immer unter Beweis stellen will" (I, 317), deren Selbstverständlichkeit von ihm nie angezweifelt wird. Damit bleibt einer seiner charakteristischen Widersprüche unaufgelöst: E r vermag einerseits das Lügengespinst von dem „sagenhaften Getier" zu zerreißen, mit dem die Herrschenden die Unterdrückten in Angst versetzen und so deren Zustimmung zur Aufrechterhaltung ihrer Macht erhalten. Diesen „Zaubertrick" aber, mit dem Machtinteressen auf die Frau transponiert, die Gegensätze zwischen Göttern und Irdischen (Herrschenden und Unterdrückten) zur Feindlichkeit zwischen Mann und Frau verdreht werden, durchschaut er nicht. Mit seiner „letzten Lüge" vom Nessoshemd (I, 318) untermauert er nicht nur seinen Nachruhm, der das Eingeständnis, daß eine Frau ihn besiegt hat, nicht zuläßt, sondern auch die Macht der Götter, indem er ihre Prinzipien zur Verdrehung der Wirklichkeit anerkennt. Daianeira aber, „die Töterin des Mannes", ist — obwohl bemitleidenswertes Opfer — auf ihre Weise geprägt durch die Widersprüche ihrer Welt. Sie kann der „tiefgreifenden psychischen Entstellung" (I, 318) des Herakles nur mit ebenso entstellten, verkrüppelten Verhaltensweisen begegnen: mit Rache, List und Tücke. Mittels der Interpretation und der Psychologisierung des Mythos gelingt es Peter Weiss, auf einer von den aktuellen Erfahrungen abgehobenen Ebene den Zusammenhang von Klassen- und Machtfragen und Geschlechterbeziehungen, von objektiv-gesellschaftlichen Faktoren und psychischen Phänomenen auf eine allgemeine Weise zu fassen. Dies ermöglicht ihm, diese Aspekte in die Analyse von politischen Bewegungen und Ereignissen unseres Jahrhunderts aufzunehmen, ohne jeweils erneut die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens bzw. den inneren Zusammenhang zwischen Klassengesellschaft und „Männergesellschaft" (also einer Gesellschaft, die in ihrer erscheinenden Form der unmittelbaren Beziehungen zwischen den Menschen durch die Dominanz des männlichen Geschlechts, durch Abwertung und Unterdrückung der Frau bestimmt ist) begründen zu müssen. Das „Wiedererkennen" von etwas Allgemeinem schließt allerdings — soll es Selbstverständnis produktiv befördern — die Berücksichtigung der Bedingungen seiner konkreten Existenz ein. Nur dann ist es möglich, daß „Wiedererkennen" sich nicht auf ein resignatives „es ist alles nur Wiederholung des schon Bekannten" beschränkt, sondern das — gedankliche und praktische — Überschreiten des Gegebenen stimuliert. Letzteres — das entspricht seinem

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Verständnis von Geschichte und von sich selbst als parteinehmendem und betroffenem Subjekt eines geschichtlichen Prozesses — ist das Anliegen von Peter Weiss. Dies impliziert, daß der interpretierte Mythos — so sehr er Heilmann, Coppi und den anderen ein Bild von sich zu vermitteln vermag — ihre eigenen Erfahrungen nicht voll decken kann. Und hätten diese auch nur die Gestalt einer „sekundenweisen Erhellung" (I, 211), einer Ahnung vom Anderssein — zu den entscheidenden Erkenntnissen des Spanienkämpfers Ayschmann gehört die notwendige „Einführung der Liebe in die Existenz" (N I, 404), gehört das — wenn auch kurzzeitig nur mögliche — Praktizieren einer Beziehung zu der spanischen Prostituierten, in der „beide aus freiem Willen füreinander vorhanden" (I, 251) sind. Die dabei erfahrene Sinnlichkeit ist von einer Art — anmutend wie ein Traum und doch ein Stück Wirklichkeit (I, 251) —, die im Mythos, in der Herakles-Figur nicht mehr zu fassen ist. Die Konturen eines neuen Bildes zeichnen sich ab. Noch aber ist es Herakles, in dem sich die Heutigen wiedererkennen können. Herakles lebt in der Erinnerung der Späteren durch seine Taten, durch sein Streben, die Welt zu verändern. Die widersprüchlichen Folgen seines Tuns gehören zwangsläufig dazu. Auch die heute gegen Unterdrückung Kämpfenden sind durch äußere und innere Widersprüche in ihrem Tun bestimmt, und ihre Taten zeitigen Folgen, die nicht ihren Zielen entsprechen. Daß sie dennoch den Kampf nicht aufgeben, ist das Entscheidende. Das heißt auch: Nicht daß die Kämpfenden durch die Wirkungen der „Männergesellschaft" gezeichnet sind, ist für Peter Weiss das Eigentliche, sondern wie sie in dem ihnen möglichen Spielraum etwas Neues in die Welt bringen, das über sie und ihre Beschränktheiten hinausweist. Um dieses Neue in seiner zukunftsträchtigen Bedeutung erfassen zu können, ist das Wissen um die historischen Beschränktheiten derjenigen wichtig, aus deren Engagement es hervorwächst. Diese Beschränktheiten und die mit ihnen gegebenen Handlungsmöglichkeiten weisen geschlechtsspezifische Merkmale auf. Für Peter Weiss ist das Verhältnis von Klassen- und Geschlechterfrage in erster Linie interessant als Frage, in welcher Weise sich Frauen und Männer an den Klassenauseinandersetzungen unseres Jahrhunderts beteiligten. Darauf soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden.

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III. Der Mit soldat10, die Gehilfin „Ich benutze die authentischen Namen im Roman als Chiffre" (NI, 117), notiert Peter Weiss. Indem er die authentischen Personen sagen läßt, was sie nach seiner Kenntnis ihrer Biographie gedacht, gefühlt, geliebt und gehaßt haben könnten, sind sie in ihrer individuellen Besonderheit zugleich Personifizierungen, charakteristische Realisierungs- und Erscheinungsweisen der Individualitätsform, die Karl-Heinz Braun im Anschluß an Lucien Sève als „kämpferische Persönlichkeit", als „Paradigma des politischen Individuums", als „den bewußt und organisierten, politisch aktiven Proletarier" H bezeichnet hat. Dementsprechend ist ihnen gemeinsam das politische Engagement, das den Lebenslauf der einzelnen wesentlich bestimmt, ist ihnen gemeinsam auch ihr Streben, die Bedingungen ihres Lebens zu erkunden, die Ereignisse der kleinen und der großen Welt auf sich als Akteure zu beziehen, das aufgehäufte Wissen entsprechend den eigenen Interessen umdeutend anzueignen und dadurch Geschichtslosigkeit und Identitätsschwäche zu überwinden. Ähnlich wie bei der Interpretation des Herakles-Mythos entwickelt Weiss — ausgehend von allgemein-gültigen Bestimmungen — durch das Einbeziehen konkreter, konkretisierender Faktoren ein differenziertes Spektrum von Verhaltenscharakteren, geht deren objektiven wie subjektiv-psychischen Bedingtheiten nach, um sie am Ende (etwa in Heilmanns Brief an Unbekannt) in ihrer konkreten Gestalt wieder auf den gemeinsamen Nenner der sie alle verbindenden Sache zu bringen. Zu diesem Entwicklungsbogen gehört für Peter Weiss die Frage nach der Rolle der Frauen im Klassenkampf, nach ihrer Stellung innerhalb der Partei, nach den besonderen Merkmalen ihrer Verhaltensstrukturen, die aus dem Umstand resultieren, daß sie zum einen „politische Individuen" sind und zum anderen Unterdrückte nicht nur als Klassenangehörige, sondern auch als Frauen. An verschiedenen Frauenfiguren werden unterschiedliche Aspekte dieser Problematik thematisiert, in der Figur der Kommunistin Lotte Bischoff findet dies den Kulminationspunkt. Auf sie sind deshalb die Ausführungen in diesem Abschnitt konzentriert. 12 Am Ende des dritten Bandes schreibt Peter Weiss: „Lange noch würde ich auf ein Wiedersehn mit Bischoff warten müssen, und, ihr zuhörend, würde ich vielleicht in Versuchung kommen, sie mit einer Heiligen zu vergleichen, denn so bescheiden würde sich niemand mehr über seinen zurückgelegten Weg äußern." (III, 276) 56

In diesem Satz ist ihr wesentlicher Charakterzug benannt: ihre überwältigende, fast unglaubliche Bescheidenheit, die doch glaubhaft und stark wirkt, weil sie Ausdruck nicht eines freiwilligen Bescheidens ins Kleine angesichts größerer Möglichkeiten, nicht des Zurechtstutzens von Lebensträumen und -zielen auf das konfliktlos erreichbare Kleinformat ist. Ihre Bescheidenheit resultiert aus der Überzeugung, daß jede Aufgabe in den politischen Kämpfen innerhalb der Partei wichtig ist. Für Lotte Bischoff — wie für Peter Weiss — steht die Notwendigkeit einer hierarchischen Gliederung der Partei außer Zweifel: Soll sie erfolgreich sein, kann das nur in Formen geschehen, die in den bestehenden Strukturen und ihren institutionellen Verankerungen „greifen", was heißt, daß der Kampf um die neue Gesellschaft in Formen vor sich geht, die von den Strukturen und Widersprüchen der alten Gesellschaft gezeichnet sind und deshalb auf den ersten Blick nichts als die schlichte Reproduktion bestehender Hierarchien zu sein scheinen. Aber ebensowenig heißt für Lotte Bischoff Einordnung Unterordnung, heißt für sie Anerkennung von Funktionsteilungen das Denken im Oben-Unten-Schema, Demut und Autoritätsgläubigkeit gegenüber denen „oben". Sie kann „nicht unterscheiden zwischen solchen, die höhre Funktionen innehatten und solchen, die unten das ihre taten. In der Kette waren sie alle gleich." (III, 230) Für sie ist wichtig: jede übernommene Aufgabe und sich selbst dabei ernstzunehmen. Sie hat mit dieser Maxime ein ausgeprägtes Bewußtsein von ihren Fähigkeiten, ihren Stärken und Schwächen entwickelt, sie ist in der Lage, sich mit ihrem subjektiven Vermögen wie auch mit ihrer äußeren Erscheinung zu den Bedingungen ihres jeweiligen Auftrags in Beziehung zu setzen, dabei mit ihren Ängsten und Sehnsüchten umzugehen. Äußere und innere Ordnung korrespondieren bei ihr. Sie hat ein Selbstbewußtsein und eine innere Stärke ausgebildet, die man hinter ihrer unauffälligen, zurückhaltenden Erscheinung zunächst nicht vermutet. Es sind diese charakterlichen Merkmale, die ihr ermöglichen, sich den Anordnungen und Entscheidungen der Genossen aus der Parteiführung zu fügen, die ihr den Auftrag zur illegalen Rückkehr nach Deutschland erteilen, aber auch gängelnde Vorschriften über ihre konkrete Arbeitsweise in der Illegalität zurückzuweisen. Diese Charaktereigenschaften verhindern, daß sie ihr Leben „ganz im Dienst der Partei" (II, 81) bzw. sich selbst als Opfer sieht. „Es gab keine Opfer für sie." (II, 81) Es ist daher ganz sicher kein Zufall, daß Peter Weiss gerade an der Figur der Lotte Bischoff, die in so ausgezeichneter Weise 57

Züge des „neuen Menschentyps" trägt, das Verhältnis von Männern und Frauen in der Partei, die „Transformation" der Hierarchie in der Partei auf die Ebene der Geschlechterbeziehungen thematisiert. In diesem Zusammenhang gelingt es ihm auch, den ersten, allgemeinen Eindruck, man habe es bei Lotte Bischoff mit einer Heiligen zu tun, aufzubrechen. Er macht deutlich, daß die Verhaltensweisen und Charakterzüge der Kommunistin Lotte Bischoff geschlechtsspezifische, „typisch" weibliche Merkmale ausweisen, daß sie durch Stärken und Schwächen gekennzeichnet sind, die nur aus der Situation der Bischoff als Frau faßbar werden. Lotte Bischoff „hatte sich für die Partei entschieden" (III, 80). Zu den Erfahrungen ihres Lebens in der Partei gehört, daß Frauen fast ausnahmslos zu den unzähligen „Namenlosen", „Unscheinbaren" gehören, die „überall anspruchslos und selbstverständlich getan hatten, was getan werden mußte" (III, 83). Sie selbst ist eine von ihnen, und für sie ist das auch ganz in der Ordnung. Zugleich konstatiert sie in ihrer nüchternen Art, daß für die Männer die Arbeit in der Partei eine andere persönliche Bedeutung hat als für sie. Für Lotte Bischoff sind die Aufgaben, die ihr übertragen werden, auszeichnende Anerkennung ihrer Person, ihrer Fähigkeiten. Sie verbindet mit ihrer Ausführung keine Ambitionen aufzusteigen und dabei gegen andere um Vorrechte zu kämpfen. Bei vielen Männern aber — durchaus nicht allen — sind solche Motive im Spiel. „Sie sah den Zwiespalt, hier den Willen der Männer, im Dienst der Partei zu stehn, die die fortschrittlichsten Kräfte sammeln solle, dort das Karrierebedürfnis, die Geltungssucht." (III, 84) Diese unterschiedlichen Verhaltensweisen und Handlungsmotive von Männern und Frauen in der Partei haben ihre Ursachen nicht in der biologischen Geschlechtszugehörigkeit, sie sind kein naturbedingtes, sondern ein gesellschaftlich-historisches Faktum. Sie sind das subjektive Resultat einer individuellen Vergesellschaftung („Sozialisation") in einer von Klassengegensätzen zerrissenen Gesellschaft. Deren unauflösliche Widersprüche werden durch die Funktionsteilung zwischen den Geschlechtern in der gesellschaftlich organisierten Arbeit und in der „privaten" Reproduktionsarbeit, durch ein komplementäres kulturelles Geflecht von geschlechtstypischen Zuweisungen psychosozialer „Charaktere" und Eigenschaften auf die Ebene der individuellen Lebbarkeit „transformiert". Die „Frauenrolle", in der die Frau („das ist etwas, das keine Ansprüche stellen darf" — II, 140) auf die zweitrangige Funktion des Dienens, der Gehilfin praktisch und psychisch 58

reduziert wird, findet ihre Entsprechung in der „Rolle" des bestimmenden, körperlich und geistig überlegenen, immer leistungsfähigen Mannes. Die lautlose, permanente Gewalt von alltäglich praktizierten Funktionsteilungen zwischen den Geschlechtern und von den gängigen normativen, ideologischen Vermittlungen, die sie begleiten und ergänzen, hat von Kindheit an die Verhaltensstrukturen auch der Frauen und Männer beeinflußt, die sich in der Partei zusammenfinden. Mit diesen unterschiedlichen psychischen Bedingungen werden sie politisch aktiv, und die notwendige Hierarchie in der Partei gibt ihnen in gewisser Weise dafür auch den Spielraum. „Die Partei war für die Männer der Boden, um zu wachsen." (III, 83) Die Arbeit als politischer Funktionär ermöglicht ihnen, sich zu entfalten, Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die sie in ihren übrigen Lebensbedingungen kaum in dem Maße hätten entwickeln können. Ihr kämpferischer Einsatz für eine neue, menschliche Gesellschaft ist auch subjektiv ein Gewinn — aber indem diese individuelle Entwicklung im Rahmen der tradierten „Männerrolle", als individuelle Realisierung der mit ihr verbundenen Normen und Werte geschieht, hat dieser subjektive Gewinn auch einen Preis. Er wird erreicht nicht ohne Konkurrenz, „Gier und Mißgunst" (III, 84), nicht ohne Argwohn und eine permanente innere Gespanntheit, die die Gefühle und die Gesichtszüge verhärten läßt. Lotte Bischoff ist dieser innere Zwiespalt, den sie an vielen ihrer Genossen beobachtet, fremd. Von Kindheit an auf die „Frauenrolle" vorbereitet, gehört das Helfen, das Dabeisein, das Ausführen zu ihrem Verhaltensrepertoire auch in der Partei. „Gehilfin war sie gewesen, wie immer, Handlangerin, Reinemachefrau, an den Rand der Ereignisse gestellt, obgleich sie doch hätte behaupten können, daß sie in ihrem Zentrum stehe. Dies hatte sie hingenommen, schon als Kind, als Jugendliche, sie hatte nie etwas andres gewollt, wenn von Bischoff gesprochen wurde, so war Fritz gemeint, der ehemalige Vorsitzende der Kulturverbände, überall war sie dabeigewesen, andre aber planten die Handlungen, ordneten die Ausführung an." (III, 244) Sie hat die traditionellen Verhaltenserwartungen an sie als Frau akzeptiert, in der gegebenen Struktur und Hierarchie der Partei kann sie die Stärken dieses geschlechtsspezifischen Verhaltens einbringen und sich bestätigen. Im Kontext der politischen Zielstellungen der Partei, ihrer Organisationsform und des damit verbundenen Zusammengehörigkeitsgefühls, der gemeinsam praktizierenden Lebensweise, gewinnen bestimmte Aspekte traditionell „weiblicher" 59

Verhaltensweisen eine veränderte Bedeutung. Hilfsbereitschaft, tätige Solidarität, ein unmittelbares Gefühl für Gleichheit, das Zurücktreten hinter die gemeinsame Sache oder anders: das fehlende Bedürfnis, den Einsatz für die gemeinsame Sache zu nutzen, um sich persönlich zur Geltung zu bringen, sich von anderen abzuheben — das sind Verhaltenseigenschaften, die Frauen traditionell stärker ausbilden können und die als Aspekt praktizierter Beziehungen unter Genossen zugleich ein perspektivisches, auch utopisches Moment künftiger menschlicher Beziehungen enthalten. Das weitgehende Fehlen von Geltungsdrang und Machtstreben — resultierend aus den geschlechtsspezifischen Besonderheiten weiblicher Vergesellschaftung — gewinnt hier eine die aktuelle Situation überschreitende, transzendierende Dimension. Zugleich hat das Verhalten in der Partei auf der Basis der tradierten „Frauenrolle" nicht nur positive Momente, es offenbart auch Schwächen und Widersprüchlichkeiten, die mit der „Rolle" des Dienens, des Ausführens zusammenhängen. Sich mit der Funktion als Mitsoldat, als Gehilfin zufriedenzugeben, hat auch ein konservatives Moment: hinsichtlich einer Fort- und Festschreibung hierarchischer Strukturen und einer Rangfolge der Geschlechter, hinsichtlich aber auch eines individuellen Fixiertseins auf den traditionell gewährten und anerkannten Handlungsspielraums. Die Fähigkeiten auszuweiten von der Ausführung in Richtung auf Beteiligung an Entscheidungsfindung und Planung oder allgemeiner: die Verhältnisse und Bedingungen des eigenen und gemeinsamen Tuns unter die individuelle Kontrolle zu bringen, sie zu beherrschen (was ja nicht zwangsläufig Herrschaft über Menschen heißen muß), gerät so kaum — oder eben nur aus dem Blickwinkel der Gehilfin — als Anspruch ins Blickfeld. Und die verinnerlichte Funktion des Dienens birgt die Gefahr, daß aus dem insgeheim akzeptierten, gängigen Urteil von der Minderwertigkeit der Frau eine — der Überzeugung von der Gleichheit aller und der Gleichrangigkeit aller Aufgaben gleichsam entgegenlaufende — psychische Tendenz erwächst, sich für den überlegenen, wichtigeren Mann zu opfern. Auf der „privaten" Ebene zeigt sich diese Gefahr bei Lotte Bischoff in ihrer selbstverleugnenden, auch gegenüber physischer Gewalt duldsamen Haltung zum Maler Tombrock. Auf der politischen Ebene der Parteiarbeit deutet sich dies an in ihrer Meinung, ihr Verlust würde geringer wiegen, es gäbe viele Männer, die unersetzlicher wären als sie. Diese Meinung allerdings ändert sie mit ihren Erfahrungen bei der illegalen Arbeit in Deutschland. Das Sterben fast aller Menschen, mit 60

denen sie zusammengearbeitet hat, die psychisch kaum verkraftbare Situation, von Toten und von Feinden umgeben zu sein, bringen sie zu der Einsicht, daß „jeder Verlust von gleicher Schwere" (III, 230) ist. Der Tod von so vielen, die zu ihrem Leben gehörten, schärft ihr Bewußtsein davon, daß im Schicksal Einzelner das millionenfache Sterben und der „gemeinsame Schmerz" (II, 117) für die Nachkommenden zu einem sie persönlich betreffenden Geschehnis werden kann. Bei dem Versuch, für die Späteren etwas „vom Dasein und Sterben ihrer Gefährten" (III, 231) festzuhalten, wird ihr klar, wie wenig sie von ihnen weiß und daß das gegenseitige Kennenlernen im gemeinsamen Kampf auf wenige Lebensbereiche und individuelle Eigenschaften beschränkt war. „Woher waren sie gekommen, wie zu denen geworden, die sie waren, als sie starben. Auch diejenigen, neben denen sie schon zehn, zwanzig Jahre gestanden hatte, kannte sie nur von der gemeinsamen Arbeit her, selten hatte sie Einblick erhalten in die Hintergründe, in denen es ein persönliches Leben, die Beziehungen zu Angehörigen, den Werdegang in der Schulzeit, den Studienjahren gab . . ." (III, 231) Diese Einsicht ist für Lotte Bischoff ein subjektiver Gewinn: Sie räumt dem persönlichen Leben ihrer Freunde und ihren eigenen persönlichen Gefühlen (etwa ihrem Bedürfnis, ihrem Mann näher zu sein, als Motiv für ihre Bereitschaft, illegal nach Deutschland zu gehen) den gebührenden Platz ein und macht so eine der starken Seiten traditionell „weiblichen" Verhaltens — die Menschen als Ganze zu sehen, Verstand und Gefühl nicht zu trennen, Gefühle nicht abzuwerten — für sich, für die Bewältigung ihrer Lebenssituation fruchtbar. Zugleich sind ihre Einsichten ein Vorgriff auf Verhältnisse, in denen die Menschen als Ganze füreinander sind und sich verwirklichen. Verhaltenseigenschaften, Charaktermerkmale sind nicht für sich genommen positiv oder negativ, stark oder schwach — ihre Bedeutung, ihre Wertigkeit erhalten sie immer in bezug auf konkrete Verhältnisse, Situationen, Aufgaben. Die historisch-dialektische Sicht von Peter Weiss ermöglicht es ihm, dies deutlich herauszuarbeiten. Lotte Bischoffs weitgehendes Akzeptieren der „Frauenrolle" hat ihr in ihrer Zeit ermöglicht, subjektive Kräfte im kämpferischen Einsatz für eine welthistorisch bedeutsame Sache aus sich hervorzubringen, die tendenziell-perspektivisch den Rahmen dieser „Frauenrolle" zu sprengen vermögen. Die Disziplin, die sie sich auferlegt, die Härte, die sie gegen sich, ihre Gefühle, mitunter zeigt, sind von 61

„allgemeiner" Warte aus sicher Beschränkungen, Vereinseitigungen menschlichen Potentials. In ihrer konkreten Situation retten sie Lotte Bischoff physisch und psychisch das Leben. Ihre Unauffälligkeit und ihre Kontrolliertheit begünstigen, daß sie der Verhaftung und der physischen Vernichtung entgeht. Ihre Art, sich als kleines Teilchen in einer weltweiten Organisation, in einem langwierigen Kampf zu sehen und diesen Notwendigkeiten alles Persönliche unterzuordnen, ihre damit verbundene Unfähigkeit, die Widersprüche und Rückschläge in diesem Kampf auf sich zu beziehen, bewahren sie vor dem Schicksal Marcauers, davor, auf Niederlagen mit Verzweiflung und Mutlosigkeit zu reagieren und auf Widersprüche und Konflikte in den eigenen Reihen mit einer Umkehrung ihrer Denkweise. Gesellschaft als „Männerwelt", „die Stellung der Männer als etwas Naturbedingtes" (I, 295) zu sehen und daraus die Struktur aktueller politischer Klassenkämpfe zu erklären, ist für die Bischoff undenkbar. Verhindert ihr Akzeptieren der „Frauenrolle", daß sie die unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Partei zum alles andere überschattenden Gegensatz umdeutet, kommt sie andererseits durch ihre Weise, Geschehnisse auf ihre wesentlichen politischen und ökonomischen Ursachen zurückzuführen, nicht in die Gefahr, daß dieses Weltgeschehen allzusehr zu einem unmittelbaren persönlichen Erlebnis wird. Frauen konnten in der bisherigen Geschichte auf Grund ihrer spezifischen Lebensbedingungen stärker als Männer die Fähigkeit bewahren und ausbilden, Ereignisse als ganzheitliche Subjekte, mit ihrem Verstand, ihren Sinnen und ihrem Körper wahrzunehmen und zu „verarbeiten". Sie mußten weniger als Männer an Emotionen und Sinnlichkeit, an Ängsten und Sehnsüchten verdrängen, um der geforderten Leistungsfähigkeit zu entsprechen. In bestimmten Situationen kann dies für Frauen zu einer unmittelbaren existentiellen Bedrohung werden. Für Karin Boye etwa oder die Mutter des Ich-Erzählers führt die mangelnde Distanzierungsfähigkeit, führt ihre Disposition, die die ungeheuerlichen Geschehnisse des Faschismus „für sie bis in die innersten Fasern lebendig" (III, 25) werden läßt, zu einer Hellsichtigkeit gegenüber den dunklen, „irrationalen", unbewußten, sprachlich nicht faßbaren Seelenkräften der Menschen, die diese Greuel menschenmöglich machen, also auch gegenüber der eigenen Mitschuld. Auszuhalten ist dieses Erschauen „einer Welt der Verzweiflung" (III, 26) nicht. Für Karin Boye ist der Preis das Wegsinken „in die völlige persönliche Entmachtung" (III, 26), die sich im Selbstmord vollendet. Für die Mutter 62

liegt die Rettung vor dem Wahnsinn darin, „nie mehr zurückzukehren zu dem, was als Vernunft galt", alles auszuschalten, „was mit menschlichen Emotionen zusammenhing" (N II, 792), sich selbst auszuschalten . Das Insistieren des Vaters auf „Eindeutigkeit auf Unwiderlegbarkeit" (III, 129), mit dem er „die Erfahrungen, die meine Mutter gemacht hatte, in ein noch größeres Dunkel" (III, 129) trieb, ist die extreme Gegenposition, die zwar das Überleben, aber nicht größere Handlungsfähigkeit ermöglicht. Peter Weiss hat ein Spektrum von Verhaltensweisen der Frauen und Männer im Widerstand aufgezeigt, das selbst ein Beispiel dafür ist, wie ein Geschehen zum persönlich betreffenden Erlebnis werden kann. 13 Ohne zu moralisieren, ohne den Blick desjenigen, der darüber steht, macht er die verschiedenen Verhaltenscharaktere in ihrer Widersprüchlichkeit und Begrenztheit plastisch und zeigt vor allem, daß sie nicht für sich genommen, sondern nur in ihrem Ineinandergreifen in der gemeinsamen Aktion ihre geschichtliche Bedeutsamkeit gewinnen. „Wir so gut es gelang, haben das Unsre getan", heißt es — Hölderlin zitierend — in Hanns Eislers 'Ernsten Gesängen, und dies ist die Haltung auch von Peter Weiss gegenüber denen, die die Kraft zum Widerstand aufbrachten. Im offenen Aussprechen von bislang unauflösbaren Widersprüchen liegt Trauer, klingt auch Verzweiflung über die „Gestehungskosten" an, aber Resignation gewiß nicht. Peter Weiss gehört zu denjenigen, für die aus der Trauer, die mit dem Aufarbeiten einer Sache verbunden ist, der Anstoß zum Weiter- und Bessermachen erwächst. Dieses Heraufarbeiten zu einem wirklichen Verständnis von Geschichte macht dann z. B. überflüssig, „weibliche" gegen „männliche" Verhaltensweisen auszuspielen oder „die" Männer gegen „die" Frauen. Geschlechtstypische Charaktere können so als historisch veränderbar und aufhebbar gedacht werden. Im Roman selbst ist es der Ich-Erzähler, der prototypisch für eine Synthese von „typisch" weiblichen bzw. männlichen Eigenschaften, für ein Durchbrechen der Geschlechterstereotype in historisch neuartigen Verhaltensweisen der „kämpfenden Persönlichkeit" steht. Und dieses Geschichtsverständnis verleiht den langen Atem, die oft langsam vor sich gehenden Veränderungen im Geschichtsprozeß wahrzunehmen und an die geschichtlich Früheren nicht Ansprüche und Erwartungen zu formulieren, für deren Verwirklichung sie mit ihren Taten erst den Boden bereiten mußten. Lotte Bischoff hat die ungleiche Rolle als Gehilfin nicht in Frage gestellt. Dies zu tun ist Späteren, unter anderen Bedingungen lebend, aufgegeben. 63

Karl-Heinz Mauß

Die Psychologie des Widerstands Gedanken zum Handlungskonzept von Peter Weiss

Unbestritten ist die historische Dimension der Ästhetik des Widerstands, der Versuch von Peter Weiss, sich mit der jüngeren Geschichte der Arbeiterbewegung, ihren Widersprüchen und Entwicklungen künstlerisch auseinanderzusetzen. Wenn er „die tragischen Folgen der Spaltung der Arbeiterklasse, der Fraktions- und Richtungskämpfe innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung sowie des Personenkults" 1 ebenso wie den Widerstandskampf gegen den Faschismus in seiner Bedeutung für die damit verbundenen Individuen darstellt, greift er eine Thematik auf, die von der Geschichtswissenschaft bisher noch nicht befriedigend behandelt wurde. Ebenso unbestritten ist, daß hier ein ästhetisches Konzept entworfen wird. Weiss führt ein ästhetisches Programm vor, indem er einen politischen Umgang mit Kunst und Kulturgut verschiedener Epochen, vom Pergamonaltar und dem Herakles-Mythos bis zum „Floß der Medusa" von Gericault, dem „Eisenwalzwerk" von Menzel, Kafkas Schloß oder Picassos „Guernica" praktiziert. Etwas anders verhält es sich, wenn die Frage nach dem psychologischen Gehalt des Romans gestellt wird. Die Ästhetik des Widerstands kann sicherlich nicht als psychologischer Roman bezeichnet werden. Es gibt keine vordergründig psychologisierenden Passagen im Sinne von Persönlichkeitsanalysen, von Zergliedern persönlicher Motivstrukturen der erlebten Konflikte. Klaus Scherpe ist sogar der Ansicht, daß die unbedingte Entpsychologisierung des Geschehens eine Voraussetzung für Weiss' Ästhetik überhaupt ist.2 Auf „Seelenkäse und Innerlichkeit" 3 hat Weiss radikal und bewußt verzichtet, er will keine seelische Nabelschau betreiben oder die psychischen Eigenheiten der Protagonisten analysieren. Dies hängt mit der Auffassung von Widerstand zusammen, die in der Ästhetik des Widerstands vertreten wird: Widerstand ist hier die tätige Aus64

Karl-Heinz Mauß

Die Psychologie des Widerstands Gedanken zum Handlungskonzept von Peter Weiss

Unbestritten ist die historische Dimension der Ästhetik des Widerstands, der Versuch von Peter Weiss, sich mit der jüngeren Geschichte der Arbeiterbewegung, ihren Widersprüchen und Entwicklungen künstlerisch auseinanderzusetzen. Wenn er „die tragischen Folgen der Spaltung der Arbeiterklasse, der Fraktions- und Richtungskämpfe innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung sowie des Personenkults" 1 ebenso wie den Widerstandskampf gegen den Faschismus in seiner Bedeutung für die damit verbundenen Individuen darstellt, greift er eine Thematik auf, die von der Geschichtswissenschaft bisher noch nicht befriedigend behandelt wurde. Ebenso unbestritten ist, daß hier ein ästhetisches Konzept entworfen wird. Weiss führt ein ästhetisches Programm vor, indem er einen politischen Umgang mit Kunst und Kulturgut verschiedener Epochen, vom Pergamonaltar und dem Herakles-Mythos bis zum „Floß der Medusa" von Gericault, dem „Eisenwalzwerk" von Menzel, Kafkas Schloß oder Picassos „Guernica" praktiziert. Etwas anders verhält es sich, wenn die Frage nach dem psychologischen Gehalt des Romans gestellt wird. Die Ästhetik des Widerstands kann sicherlich nicht als psychologischer Roman bezeichnet werden. Es gibt keine vordergründig psychologisierenden Passagen im Sinne von Persönlichkeitsanalysen, von Zergliedern persönlicher Motivstrukturen der erlebten Konflikte. Klaus Scherpe ist sogar der Ansicht, daß die unbedingte Entpsychologisierung des Geschehens eine Voraussetzung für Weiss' Ästhetik überhaupt ist.2 Auf „Seelenkäse und Innerlichkeit" 3 hat Weiss radikal und bewußt verzichtet, er will keine seelische Nabelschau betreiben oder die psychischen Eigenheiten der Protagonisten analysieren. Dies hängt mit der Auffassung von Widerstand zusammen, die in der Ästhetik des Widerstands vertreten wird: Widerstand ist hier die tätige Aus64

einandersetzung mit unmenschlichen gesellschaftlichen Zuständen, er ist auf reale Veränderungen zielende Handlung und gibt sich nicht zufrieden mit Beobachten, Analysieren und Abwarten. Ungeachtet der Tatsache, daß Peter Weiss auf vordergründige Psychologisierungen verzichtet, regt Die Ästhetik des Widerstands zu psychologischen Betrachtungen, zum Nachdenken über die mit der Darstellung des Widerstands verbundenen Handlungskonzepte an. Es werden viele psychologische Inhalte berührt, die zwar nicht direkt zur Sprache gebracht werden, unterschwellig aber immer spürbar sind/1 In dem Roman wird eine Methode der Weltaneignung praktiziert, die sich nach Krenzlin „auch in der Hinsicht als produktiv erweist, wenn es darum geht, Geschichte sich so anzueignen, daß sie zur lebendigen Erfahrung und das heißt eben: impulsgebend für unsere Gegenwart wird". 5 Deshalb kann nicht nur von der allgemeinen politischen Geschichte die Rede sein, sondern es muß auch nach der Befähigung der Individuen zur Selbständigkeit, zur Orientierung und zur Handlungsfähigkeit innerhalb ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit gefragt werden. Es werden die Bedingungen beschrieben, unter denen der Widerstand geleistet wurde, die Belastungen, die aasgehalten werden mußten, es wird nach den Gründen gefragt, aus denen die Befähigung zum Widerstand erwächst und nach der Art der Handlungsantriebe, die ein Widerstehen auch in ausweglosen Situationen ermöglichen. Bei den Schilderungen des Widerstands kann vom einzelnen Menschen nicht abstrahiert werden, im Gegenteil, gerade um den Einzelnen, seine Position im Widerstand, seinen Versuch, ein eigenes kritisches Bewußtsein und Verhalten entgegen allen Unterdrückungsmechanismen zu entwickeln, geht es Weiss. Als ein durchgängiges Thema der Ästhetik des Widerstands kann das individuelle Bemühen um Handlungsfähigkeit angesehen werden. Indem dieses Bemühen, sein Erfolg wie sein Scheitern, an einzelnen Personen dargestellt wird und die Umstände ihres Handelns konkretisiert werden, wird vielleicht mehr Psychologie betrieben als mit der „Mode der neuen Subjektivität" . 6 Wenn nach den psychologischen Aspekten des Widerstands gefragt wird, sollte vielleicht zunächst geklärt werden, wer hier versucht, zu widerstehen, welche Formen der Widerstand annimmt und gegen welche Verhältnisse er gerichtet ist. Widerstand wird auf mehreren Ebenen geleistet. Am offensichtlichsten ist der Widerstand gegen die Macht des Faschismus. Er wird geleistet durch den bewaffneten 5

Krenzlin, P. Weiss

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Kampf in Spanien, durch die illegale Arbeit in Deutschland und durch die politische Tätigkeit im Exil. Dies ist der konkrete historische Bezug, in den alle Handlungen eingeordnet werden und an dem sie sich brechen. Eingeschlossen in diesen Widerstand sind die verschiedensten Personengruppen — Funktionäre und einfache Mitglieder kommunistischer und sozialdemokratischer Parteien, Parteilose, Arbeiter und Intellektuelle, Künstler, Frauen und Männer. Aber auch von einem anderen Widerstand, der den Kampf gegen den Faschismus einschließt und weit darüber hinausgeht, ist die Rede. Das ist der Widerstand gegen die politische Unmündigkeit, gegen die geistige Unterdrückung, gegen die Bevormundung durch Institutionen und Personen. Es ist der Widerstand der Individuen gegen die Herrschaftsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, der Widerstand gegen die klassenbedingte Aussperrung aus den Bereichen der Kultur, Kunst und Wissenschaft, gegen die Negation der individuellen Urteilsfähigkeit und Handlungsmöglichkeit, wie sie zur Zeit des Personenkults auch innerhalb der politischen Organisationen der Arbeiterklasse noch nicht überwunden war. Dieser Widerstand ist vorrangig die Problematik der jungen männlichen Hauptfiguren des Romans, des Ich-Erzählers und Coppis aus der Arbeiterklasse, und des aus intellektuellen Kreisen kommenden Heilmann, die in ihren weltanschaulichen, politischen Positionen dem Kommunismus nahestehen bzw. zugehörig sind. Für sie findet er seine Form in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arbeiterklasse, mit den Kämpfen innerhalb der Parteiführung, in dem Mühen um die Aneignung der kulturellen Güter. Aus etwas anderer Sicht stehen in diesem Widerstand auch die Frauengestalten des Romans sowie die im Exil und der Illegalität in kämpfenden Kommunisten und Antifaschisten. Gemeinsam ist ihr Streben nach Einsicht in die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge ihrer Zeit und nach einem verändernden Eingreifen in die Ereignisse. Trotzdem gibt es für sie wesentliche Unterschiede im Widerstand gegen die überkommenen Strukturen und unmenschlichen Zustände. Die Unterschiede liegen aus psychologischer Sicht vor allem in ihrer Befähigung, mit der physischen und psychischen Belastung des Widerstands fertig zu werden, sowie in der Art und Weise, wie sie ihren Widerstand ausüben und äußern. Dies ist nicht zu trennen von ihrer bisherigen Stellung in der Gesellschaft, ihren gesellschaftlichen Erfahrungen, den angeeigneten Werten, aber auch ganz individuellen Veranlagungen. Im Folgenden soll aber weniger auf die Spezifik eingegangen 66

werden, die der Widerstand für einzelne Personen oder Personengruppen besitzt 7 , es wird vielmehr versucht, einige allgemeingültige psychologische Bedingungen zu charakterisieren, die ein Bestehen im Widerstand ermöglichen oder erschweren. Indem Weiss das Bemühen von Personen gestaltet, sich zu selbstbewußten Subjekten zu entwickeln, Einblick in gesellschaftliche Prozesse zu erlangen und verändernd auf ihre konkreten Lebensumstände einzuwirken, greift er in seinem Roman eine Thematik auf, die in der marxistischen Persönlichkeitstheorie in den letzten Jahren ebenfalls immer mehr in den Vordergrund gerückt ist. Es handelt sich um das Verhältnis zwischen Individuen und Umwelt und die Position des Individuums in diesem Verhältnis, die Entwicklung des Individuums zum Subjekt. Das in diesem Rahmen entwickelte Subjektverständnis ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß vom aktiv gerichteten Verhalten auf der Basis eines über die eigenen Reflexionen erfaßten Begreifens der Stellung innerhalb der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt sowie eines Erkennens der eigenen Handlungspotenzen gegenüber der Umwelt ausgegangen wird. Damit verbunden ist, daß innerhalb der sozialen Handlungsdetermination eine weitgehend eigenständige Entscheidung des Subjekts für oder gegen bestimmte Handlungsziele sowie über die Wege zum Erreichen der Ziele getroffen wird und daß die Handlungsausführung vom Subjekt kontrolliert und korrigiert wird. 8 In diesem Sinne ist Weiss zu verstehen, wenn er immer wieder die Behauptung des Individuums gegenüber Institutionen unterschiedlichster Art, seine Emanzipation gegen die Bevormundung, gegen die Erklärung der Unmündigkeit thematisiert. Es wird kein Individualismus gepriesen, das Individuum wird in seine Zeit, seine Gesellschaft und seine Klassenkampfsituation gestellt. Aber es soll seine (kommunistische) Position durch eigene Erkenntnis, durch eigene Entscheidung sich erobern und nicht durch die Entscheidung anderer an bestimmte Punkte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gestellt werden. Für das Recht und die Pflicht jedes Einzelnen zur bewußten Stellungnahme zu den Ereignissen seiner Zeit setzt sich Weiss ein; sein Ideal scheint mir „die Vorstellung des freien, selbstbewußt eingreifenden Proletariats" (I, 125) zu sein. Weiss benennt in der Ästhetik des Widerstands eine Reihe von Hindernissen, die dem Bemühen um Subjektentwicklung und Handlungsfähigkeit entgegenstehen und die es zu überwinden gilt: äußere, 5*

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vor allem in der bürgerlichen Gesellschaft liegende und innere, Konflikte, Zweifel, bleibende Schäden der individuellen Entwicklung. Betrogen wurden die Arbeiter vom Schulwesen, von Presse und Diplomatie, begrenzter Einblick wurde nur gewährt, von ständigem Zwang zur Genügsamkeit, zur Unterordnung ist die Rede. „Die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft waren es, die den Arbeitenden zum Untertanen machten, nur ihnen war dran gelegen, eine verhunzte Gefolgschaft zu erzeugen" (I, 139), die über lange Jahre praktizierte „Deformierung durch Autorität, die Zerstörung der Selbständigkeit" (I, 139) zeigt sich in immer wieder genannten Symptomen von Sprachlosigkeit, fehlender Artikulationsfähigkeit, Gedankennot, anerzogener Schüchternheit. So ist auch der Zugang zu den Gütern der Kultur erschwert. „Als Eigentumslose näherten wir uns dem Angesammelten zuerst beängstigt, voller Ehrfurcht, bis uns klar wurde, daß wir dies alles mit unsern eignen Bewertungen zu füllen hatten, daß der Gesamtbegriff erst nutzbar werden konnte, wenn er etwas über unsre Lebensbedingungen sowie die Schwierigkeiten und Eigentümlichkeiten unsrer Denkprozesse aussagte." (I, 54). Aber nicht nur in der herrschenden, bürgerlichen Ordnung, sondern auch innerhalb der Partei wurde durch das Verhalten mancher Funktionäre die Entwicklung einer eigenen Urteilsfähigkeit behindert. Parteidisziplin nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam, überkommene autoritäre Muster wurden gegen die Initiativkraft und Erfindungsgabe des Einzelnen gesetzt. Umfassende Informationen über politische Ereignisse und ihre Hintergründe wurden nicht gegeben. Die bürgerlichen Herrschaftsstrukturen waren innerhalb der Arbeiterbewegung nicht überwunden, sie wirkten im alltäglichen Verhalten weiter und prägten die Persönlichkeiten derjenigen, die sich gegen die Verhältnisse zur Wehr setzten. Fleißig, tüchtig, gehorsam — das waren die Eigenschaften, aus denen das Proletariat einerseits seine Stärke, Disziplin und Geschlossenheit, andererseits aber auch seine Schwierigkeiten bei der individuellen bewußten Orientierung bezog. Gewöhnlich wird als Kriterium der Subjektentwicklung eines Individuums der Grad seines aktiven Verhältnisses zur Umwelt, vor allem der gesellschaftlichen, angesehen. Subjektsein ausschließlich mit in die Umwelt wirkender und sie verändernder Aktivität von Seiten des Individuums gleichzusetzen, wäre allerdings kurzschlüssig. Der einzelne Mensch kann in der Gesellschaft niemals allein verändernde

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Wirkungen hervorbringen. Er ist in die gesellschaftliche Arbeitsund Funktionsteilung integriert, muß im Bemühen um veränderndes Eingreifen kooperieren, sich einordnen und anpassen. Für den Grad des Subjektseins ist deshalb nicht nur der Charakter des Verhaltens (aktiv verändernd oder reaktiv, sich anpassend), sondern auch der Grad der Reflexivität des Verhaltens von Bedeutung. Auf dieser Basis lassen sich drei verschiedene Stufen des Verhaltens unterscheiden: reaktiv-emotionales Verhalten (als unreflektiertes Reagieren auf Umweltereignisse), reaktiv-motiviertes Verhalten (als reflektierte Anpassung an die Umwelt durch gegenständliche Handlungen) und aktiv-motiviertes Verhalten (als 2ielorientiertes, veränderndes Eingreifen auf der Grundlage subjektiver Reflexionen). 9 Reaktives Verhalten als Anpassung an die Umwelt, als Erfüllen von Anforderungen, darf keineswegs nur negativ bewertet werden. Es ist dann zweckmäßig, wenn es verbunden ist mit einem Erkunden der Umweltbedingungen und ein veränderndes Eingreifen z. B. aus mangelnder Sachkenntnis vorerst nicht als sinnvoll erscheint. Subjektsein bedeutet vor allem ein uneingeschränktes Beachten der Lebensbedingungen in ihren Wirkungen — Anpassung unter dem Aspekt der bewußten Eingliederung. „Eine Person kann die gesellschaftliche Subjektfunktion auch dadurch fördern, daß sie sich in gegebenen Verhältnissen angepaßt verhält, ohne diese Verhältnisse direkt zu ändern. Diese Art des reaktiven Verhaltens muß, wenn es reflektiert und bewußt geschieht, von demjenigen unterschieden werden, das blinde Abhängigkeit ist." 1 0 Weiss gestaltet den Unterschied zwischen dem Widerstand in einfachen, direkten, unreflektierten Handlungen und dem kompetenten Handeln, beruhend auf der Kenntnis und der Beurteilung aller Umstände und Faktoren, anhand der Ereignisse im Spanischen Bürgerkrieg. „Drei Frontlinien gab es in diesem Krieg, die militärische, die politische, die kulturelle Front. Obgleich sie eine untrennbare Gesamtheit bildeten, war die militärische Front die greifbarste, hier führten die Handlungen zum unmittelbaren Ergebnis, wurden ganz durch die eigne Person und an ihr selbst vollstreckt. Diese Front war einfach, eindeutig." (I, 220) Verständlich deshalb, daß die Freiwilligen darauf drängten, „so bald wie möglich in ihre Verbände zu kommen, weg aus dem Kessel der Polemik, in dem Eifersüchte und Feindseligkeiten gärten und die Brüderlichkeit Gefahr lief, in Vergessenheit zu geraten".(I, 203) Im Lazarett jedoch, aus dem Bereich der direkten Aktionen herausgerissen, können sie dem Nach69

denken über die eigene Lage, über die politische Situation nicht entrinnen. Diejenigen, die an der Front gekämpft und ihr Leben riskiert hatten, gerieten im Lazarett, beim Nachdenken, in Hilflosigkeit. „Aus den einfachen, direkten Handlungen waren sie hineingeraten in verwickelte Diplomatie. Ohnmacht überkam sie." (I, 242) In einer Situation des Wartens, des Zusammengepferchtseins, der Funktionslosigkeit entwickelt sich Disziplinlosigkeit, Denunziation und auch Kriminalität. Hodann, der väterliche Freund des Ich-Erzählers und als Arzt und Sexualforscher Leiter eines Lazaretts, hat fast ebenso viele psychisch gestörte Patienten zu behandeln wie solche mit körperlichen Verletzungen. Für die Handlungen, auf die es ankam, hatte sich das Proletariat herangebildet. Ideale der Disziplin und der Parteitreue, der Unterordnung unter eine Führung waren maßgebend, aber „jetzt haben wir das Recht und wir haben die Zeit, über diese Handlungen nachzudenken". (I, 226) Ein Nachdenken wird erforderlich, das unbequem ist, aber das zu einem bewußteren Begreifen der Situation und damit zu einem bewußteren Handeln, auch unter den schwierigen Bedingungen des Lazaretts, führt. „Manche wehrten sich noch dagegen, sich mit ihrer Lage zu befassen, das Nachdenken konnte verunsichernd wirken." (I, 223) Vorn, an der Front, unter dem ständigen Druck zum direkten, augenblicklichen Handeln ohne langes Abwägen, gab es nur ein absolutes Vertrauen, hier aber, im Lazarett kommt Mißtrauen auf, Rechtfertigungen werden verlangt. Dazu kommt der innere Widerstreit zwischen der erkannten Notwendigkeit einheitlichen und geschlossenen Handelns, der Einordnung und Disziplin einerseits und dem Bemühen um eine eigene Meinung, ein eigenes Urteil, das vielleicht nicht mit dem vorgegebenen Muster übereinstimmt. „Man konnte noch so sehr von seiner eignen Treue überzeugt sein, die Furcht, verdächtig zu wirken, wollte einen manchmal fast zerreißen." (I, 224) In den Handlungen liegt eine gewisse Klarheit und Eindeutigkeit für den Handelnden, solange er nicht genötigt ist, seine Handlungen zu erklären, zu rechtfertigen bzw. die Handlungen anderer auszudeuten. Weiss benutzt die Lazarettsituation, um zu verdeutlichen, wie sich die Einfachheit der unreflektierten Handlungen beim Nachdenken auflöst. Die Handlungen und die Tatsachen erscheinen nur dem klar und einfach, der nicht über sie nachdenkt. Nicht die Gedanken sind es, die kompliziert sind, die Ereignisse selbst sind es, denen die Mehrdeutigkeit, die Auslegbarkeit zukommt, auch wenn dies manchmal nicht wahrgenommen und bewußt reflektiert wird. 1 1 70

Die Entwicklung von Handlungsfähigkeit, d. h. das Streben nach einer selbständigen und bewußten Analyse aller die Handlungen beeinflussenden Umstände und Faktoren, wird beim Ich-Erzähler, bei Coppi und Heilmann als ein Prozeß dargestellt, bei dem im Vordergrund das Aneignen von Kenntnissen, das Erwerben von Bildung steht. Darum geht es beim Besuch der Abendschule, bei der autodidaktischen Auseinandersetzung mit Kunstwerken, bei den Diskussionen im Familienkreis und mit Gleichgesinnten über Kunst, Geschichte und Politik der Gegenwart. Programmatisch heißt es: „Ehe wir uns Einblick in die Verhältnisse verschafft und grundlegende Kenntnisse gewonnen hatten, konnten die Privilegien der Herrschenden nicht aufgehoben werden. Immer wieder wurden wir zurückgeworfen, weil unser Vermögen des Denkens, des Kombinierens und des Folgerns noch nicht genügend entwickelt war. Der Beginn einer Verändrung dieses Zustands lag in der Einsicht, daß sich die Hauptkraft der oberen Klassen gegen unsern Wissensdrang richtete." (I, 53) Zwar gab es gelegentlich Perioden, in denen die Vernunft in den Hintergrund gedrängt wurde, „in denen das Gehirn aus Blei war, und nur noch Raserei, blindes Wüten mobilisiert werden konnte gegen die Kräfte, die uns durch und durch verstörten" (I, 170), aber diese Phasen wurden überwunden, und es folgte die Rückkehr zum genau Erwogenen, zum Durchdachten. Immer wieder werden Erklärungsversuche unternommen, Argumente überprüft. Die durchgängige Maxime des Handelns ist: „Doch nie durfte das Vernunftmäßige zurücktreten, nie durften sich metaphysische Ansprüche geltend machen." (1,297) Weiss' Handlungskonzept ist ein ausgeprägt rationalistisches, er mißtraut den Emotionen. Nur in einer Hinsicht werden Emotionen akzeptiert, als erster Antrieb, der das Bemühen um Handlungsfähigkeit begründet, im weiteren Handeln und Denken jedoch zu unterdrücken ist. Wer sich von seinen Emotionen überwältigen läßt, scheitert bei Weiss im Widerstand. Weiss stellt neben einer betont rationalen Handlungssteuerung, einem bewußten Verhalten auf der Basis von Wissen und Erkennen ein gewisses Maß an emotionaler Distanz, an Empfindungslosigkeit in der Erlebnisverarbeitung als eine wesentliche Voraussetzung für ein Bestehen im Widerstand dar. Zu denjenigen, die versuchen zu widerstehen, letztlich aber auch an ihrer Emotionalität scheitern, gehören z. B. Marcauer, Boye und die Mutter des Ich-Erzählers. Am Beispiel Marcauers, einer Mitarbeiterin Hodanns im spanischen Lazarett, wird gezeigt, wie 71

emotional bestimmtes Verhalten durch die damit zusammenhängenden Fehleinschätzungen der Folgen zum Verlust der Handlungsmöglichkeit durch äußere Kräfte führt. Sie hat ihre Gefühle angesichts der immer angespannteren politischen Situation nicht in der Gewalt, sie ist nicht bereit, die intellektuell distanzierte Art der Diskussion mitzumachen, und läßt sich in einer Phase starker emotionaler Erregung zu kritischen Äußerungen gegen die Moskauer Prozesse und die Politik der Kommunistischen Partei hinreißen, die ihr zum Verhängnis werden und zu ihrer Verhaftung führen. Ihr Verhalten ist das Ergebnis des ungeheuren Drucks der Ereignisse, der drohenden militärischen Niederlage der Spanischen Republik, der Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Bewegung und des unaufhaltsam scheinenden Vormarschs des Faschismus in Europa. Die im Widerstand nicht geübte Mutter des Ich-Erzählers versucht, sich wenigstens aus dem Mitläufertum des Faschismus bewußt auszugliedern. Sie wehrt sich gegen die selbstverständliche Vereinnahmung in die faschistische Geisteshaltung, indem sie sich selbst den gesellschaftlich Verfolgten, den Juden, zuordnet und sich damit den für diese Gruppe bestimmten Repressalien aussetzt. Während der Wanderung der Eltern durch die Tschechoslowakei und Polen zu Beginn des zweiten Weltkrieges begibt sie sich immer wieder unter die Vertriebenen und Flüchtenden, erlebt ihr Leiden und ihre Verzweiflung mit. Unter dem Eindruck dieser emotionalen Erfahrungen kann sie zum normalen Weiterleben nicht mehr zurückfinden, sie bricht den Kontakt mit ihrer Umwelt praktisch ab, verfällt in Sprachlosigkeit, und selbst für die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse wie Essen und Trinken bedarf sie des ständigen äußeren Anstoßes. Nachdem sie eine ganze Welt der Verzweiflung erschaut und durchlebt hat, verliert sie jede Handlungsinitiative. Auf Grund ihrer nicht entwickelten Fähigkeit zum tätigen Widerstand bleibt ihr nur die völlige Verweigerung, sie begibt sich in eine Traumwelt, in eine Welt schrecklicher Erinnerungen. Zu den an ihrer emotionalen Beteiligung Zerbrochenen gehört auch die Schriftstellerin Boye. Sie, die ihr Schreiben gefühlsbetont als etwas Hymnisches, als fast religiöse Aufgabe begreift und darin ihre eigenen Konflikte und Ängste gestaltet, kann sich, konfrontiert mit den politischen Entwicklungen, nur auf ihr persönlichstes Denken und Fühlen zurückziehen. Ohne Vertrauen in die positive Kraft der politischen Organisationen nimmt sie sich angesichts der von ihr empfundenen Ausweglosigkeit das Leben. Wir, die wir gelernt haben, 72

nach praktischen Überlegungen zu handeln, sagt Hodann im Zusammenhang mit dem T o d Boyes, können dennoch nicht umhin, plötzlich in gänzlich fremden, gesetzlosen Regionen aufeinanderzustoßen, W i r wollen von diesen Abgründen nichts wissen, wir müssen uns schnell absprechen über aktuelle Probleme, die Tagesfragen notdürftig regeln, in den emotionalen Jagdgründen bleiben wir allein. „Sie [Boye] wollte dieses zur heillosen Vernunft verfälschte Leben nicht mitmachen, der Preis, den sie dafür zahlte, war der Untergang in der Ausweglosigkeit." ( I I I , 40) Andere, ähnlich belastenden Bedingungen im illegalen K a m p f im schwedischen Exil und im faschistischen Deutschland ausgesetzt, vermögen zu widerstehen. E i n e Voraussetzung dafür ist bei Weiss ihre Befähigung zum Beherrschen der emotionalen Regungen, zur betont rationalen Handlungssteuerung. Ihre Emotionalität äußert sich nur in kleinen, nebensächlichen Gesten, ohne daß sie wesentlich ihr Verhalten bestimmt. Das Durchhalten im Widerstand ist aber nur sehr begrenzt zu erklären mit dem Rückgriff auf individuelle E i g e n arten, etwa eine entwickelte Sensibilität gegenüber den Ereignissen, eine besondere Fähigkeit zum Verdrängen oder Bewältigen von außerordentlichen Belastungen. Sicherlich sind solche individuellen Faktoren nicht ohne Bedeutung, sie haben aber nur eine modifizierende Wirkung. Das Entscheidende scheint in der Darstellung v o n Weiss zu sein, daß sie nicht allein kämpfen, sondern in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter eingebunden und an einer übergreifenden Aufgabe beteiligt sind. Das Exil, so wird gezeigt, entkräftete nur diejenigen, die nicht wußten, wo sie hingehörten. Für die anderen, die ihre Zugehörigkeit nie vergessen hatten, bedeutete es nur einen Zwischenzustand. Bei allem gegenseitigen Mißtrauen, den Differenzen und Rivalitäten wird deshalb an der lebenserhaltenden Gemeinschaft der Partei festgehalten. Für Weiss ist Widerstand etwas, das in einer hoffnungslos erscheinenden Situation, auch ohne direkt erkennbare Möglichkeit auf einen endgültigen E r f o l g , als eine harte, mühselige Arbeit geleistet wird. Mißerfolge und Niederlagen sind die Kennzeichen, selbst in scheinbaren Erfolgen steckt schon der Keim für weitere notwendige Anstrengungen. Zwar wird das Handeln von einem tief verwurzelten Haß gegen bestehende unmenschliche Zustände ausgelöst, aber dieser Haß wird niedergehalten zugunsten einer überlegten, durchdachten Handlungsweise auf der Basis von Erkenntnissen und Wissen. Dies ist insofern kaum zu verwirklichen, als Handlungen

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auf Dauer nicht nur aus einer rationalen Begründung heraus möglich sind, sie besitzen immer auch eine emotional-motivationale Komponente. Die Richtung der Handlung, ihre Intensität sowie die konkrete Organisation und Handlungsausführung entstehen als das gemeinsame Ergebnis kognitiv-rationaler Analysen und aktueller wie zeitlich relativ überdauernder Antriebs- und Aktivierungszustände. Für den Handlungserfolg ist die Relation zwischen diesen beiden Komponenten wesentlich. Überwiegt die emotional-motivierende Komponente, so scheitern die Handlungen meistens daran, daß die objektiv realen Handlungsbedingungen zu wenig berücksichtigt oder auf Grund unzureichender Situationsanalysen falsch eingeschätzt werden. Diese Art zu handeln findet sich in Weiss' Roman häufig bei Figuren mit Tendenzen zum Anarchismus, unter Extrembedingungen aber auch bei sonst sehr überlegt Handelnden. Das emotional gesteuerte Verhalten führt im Roman stets zu Fehlhandlungen, verbunden mit negativen, nicht beabsichtigten Folgen wie Verhaftung, Verrat u. ä. Insofern entspricht ein dominant rationales Handlungskonzept der Situation des Widerstands und den damit verbundenen Risiken für den Einzelnen wie für die gesamte Bewegung. Das heißt jedoch nicht, daß die Romanfiguren emotionslos handeln. Einem ausschließlich rational gesteuerten Verhalten würde bei aller Einsicht in die Notwendigkeiten, bei allem Überblick über die Umstände, die notwendige innere Energie zur Überwindung der eigenen Trägheit wie der äußeren Bedingungen fehlen. Im Widerstand bestehen kann bei Weiss aber letztlich nur, wer seine Emotionen beherrschen kann, sich gegebenenfalls auch gegen sie verhält. Dies wird besonders deutlich an Lotte Bischoff, die in jeder noch so schwierigen Situation des Kampfes, bei der Verhaftung im schwedischen Exil, im Gespräch mit den Genossen, bei der illegalen Arbeit in Deutschland, ihre eigenen Gefühle stets kontrolliert, ihre Handlungen abwägt und die Übersicht behält. Sie gehört dann auch zu den wenigen, die ohne physische oder psychische Schädigungen überleben. Wenn man von der möglichen Unterscheidung innerhalb der emotional-motivationalen Basis in eine positive und eine negative Richtung ausgeht, kann für Die Ästhetik des Widerstands festgestellt werden, daß die Romanfiguren überwiegend durch eine negativ ausgerichtete emotional-motivationale Handlungsgrundlage gekennzeichnet sind. Ihr Handlungsantrieb resultiert in erster Linie aus der Ablehnung von Zuständen, aus negativen Einstellungen und Emotionen. Begeisternde Ideale kommen hier kaum zum Tragen; 74

wenn überhaupt von Emotionen gesprochen wird, dann von Haß, Angst, Wut und ähnlichem. 12 Die wesentlichste emotionale Grundlage des Widerstands ist ein unaufhörlicher Haß, „ein Haß gegen Habgier und Eigennutz, gegen Ausbeutung, Unterjochung und Folter. Anfangs hatte sich dieser Haß auf subjektive Art geäußert, er hatte sich gegen eine diffuse, totale Übermacht gerichtet, gegen eine Gesellschaft, die uns unser Studieren, unser Weiterkommen verwehren wollte. Später, als wir zu politischen Einsichten gelangt waren, erfuhr der Haß noch eine Steigerung, wir begannen, gezielt zu kämpfen, um das, was uns niederhalten wollte, zu vernichten. Ein kalter, mörderischer Abscheu leitete uns." (I, 169) Die negativen Emotionen können ein sehr starker Handlungsantrieb sein, sie haben jedoch in der Tendenz eine nur destruktive Orientierung, d. h., sie sind auf die Negation, auf die Zerstörung des Abgelehnten ausgerichtet. Wenn das destruktive Handlungsziel erreicht ist, fehlt erst einmal die weitere Orientierung. Ausschließlich negativ motiviertes Handeln hat den Nachteil, daß es relativ leicht für die verschiedensten positiven Zielvorgaben genutzt werden kann, da in dieser Richtung eben kein Konzept vorhanden ist. 13 Die positiven Emotionen — Freude, Begeisterung, Liebe — spielen bei Weiss als handlungsstimulierende und handlungsorientierende Faktoren im Widerstand eine untergeordnete Rolle. Von einer ebenso rückhaltlosen Begeisterung für die angestrebten Ideale, als Gegenpol zu der ungeheuren Wut und dem Haß, ist kaum die Rede. Die als positiv empfundenen Emotionen klingen manchmal an bei den historisch Gescheiterten, so z. B. bei den Anarchisten. Wenn sie in diesem Zusammenhang genannt werden, dann allerdings nur mit einer negativen Attributierung, als „blinder Enthusiasmus", „atavistischer Heroismus" und „Begeistrung für das Undurchdachte". Eine grundsätzlich positive emotional-motivationale Basis wäre als Handlungsgrundlage für den Widerstand jedoch in verschiedener Hinsicht günstiger. Sie würde zwangsläufig auch die Ablehnung bestimmter Zustände einschließen, ohne allerdings darauf beschränkt zu sein. Sie gäbe gleichzeitig eine positive Zielstellung vor, wäre damit in konstruktiver Hinsicht weniger beliebig und würde sich auf die psychische und physische Widerstandskraft förderlich auswirken. Die Voraussetzung dafür würden freilich Ideale bilden, die glaubwürdig sind und Chancen der Realisierung besitzen. Diese Ideale aber haben bei Weiss keine so konkrete Form erhalten, daß eine Begeisterung für sie glaubhaft sein könnte. Es bleibt nur ein 75

Trotzdem-Weitermachen in einem K a m p f ohne erkennbares Ende. „Mit dem Anbruch der neuen Epoche würden unsre ethischen und moralischen Vorstellungen ständigen Prüfungen ausgesetzt werden, indem wir, als Einzelne, in Widerspruch gerieten zu den Auswüchsen der Machtvollkommenheit, die den Zustand unsrer Welt prägten. Was wir überwunden glaubten, würde uns noch einmal entsetzen . . ." (III, 272 f.) E s drängt sich die Frage auf, woraus Weiss die K r a f t zum Widerstand ableitet, worin das Trotzdem entgegen allen Niederlagen und Rückschlägen, in denen der Roman die geschichtliche Entwicklung erfaßt, begründet ist. E r greift auf das Prinzip H o f f n u n g zurück, das in den Zukunftsvisionen am Ende des dritten Bandes eine zentrale Bedeutung erlangt. „ N o c h wollten wir festhalten an unsern Hoffnungen, denn ohne sie hätten wir nicht weitergehn können, und ich würde sehn, wie wir danach immer wieder zu diesen H o f f nungen griffen, sie nie wahnwitzig nannten, obgleich alle Zeichen stets gegen sie sprachen, so wie die H o f f n u n g jedesmal stärker war als das Scheitern, denn nichts andres war diese H o f f n u n g ja, als die Lebenskraft selbst." (III, 271) „ U n d wenn es auch nicht so werden würde, wie wir es erhofft hatten, so änderte dies doch an den Hoffnungen nichts. Die Hoffnungen würden bleiben. Die Utopie würde notwendig sein. Auch später würden die Hoffnungen unzählige Male aufflammen, vom überlegnen Feind erstickt und wieder neu erweckt werden. . . . und bei jedem Schritt, durch diese neue, und sich schon wieder mit Raserei aufladende Welt, würde ich mich fragen, woher sie die Kraft genommen hatten zu ihrem Mut und zu ihrer Ausdauer, und die einzige Erklärung würde nur diese bebende, zähe, kühne H o f f n u n g sein, wie es sie auch weiterhin in allen Kerkern gibt." (II, 274ff.) Dieses Prinzip Hoffnung, sosehr es sich mit dem Verweis auf Sartre auch anbieten mag, besitzt, wenn es so allgemein gebraucht wird, eine idealistische und etwas romantischverklärende Tendenz. E s hat geringen Erklärungswert, unverständlich bleibt, woraus die Hoffnungen entstehen, warum sie bleiben und nicht erstickt werden können. Schließlich ist die H o f f n u n g keineswegs so unveränderlich konstant; auch Weiss hat in seinem Roman genügend Beispiele für Menschen geliefert, die im Widerstand zerbrochen sind, die keine H o f f n u n g mehr hatten. Z u diesen ihre H o f f n u n g Verlierenden würde ich neben der Mutter und der Schriftstellerin Boye letztlich auch Hodann zählen. H o f f n u n g ist kein abstraktes, immerwährendes Prinzip, H o f f n u n g erfüllt ganz konkrete 76

Menschen, sie entwickelt sich unter bestimmten Voraussetzungen, kann erhalten werden, oder sie bricht wieder zusammen. Psychologisch läuft die Frage nach der Hoffnung darauf hinaus, wodurch es Menschen möglich ist, sich nicht nur aktuell-reaktiv auf die äußeren Gegebenheiten hin zu verhalten, sondern aus sich heraus weiterreichende Handlungsinitiativen zu entwickeln. Die theoretischen Modelle bzw. empirisch überprüfbaren Hypothesen, die für die Beantwortung dieser Frage von der Psychologie erarbeitet werden müßten, fehlen leider weitgehend. 15 Ansätze für Erklärungen können in drei verschiedenen Aspekten gesehen werden: in der Spezifik der menschlichen Bedürfnisse 16 , in dem Verhältnis von objektiver Zeitstrukturund der psychischen Zeitdimension sowie in der Funktion sozialer Gemeinschaften. In der Ästhetik des Widerstands sind es weniger die individuellen psychischen Eigenarten als vielmehr die Einbindung in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, die die Hoffnungen am Leben erhält und die Kraft zum Widerstand gibt. Für den Bestand dieser Gemeinschaft bildet der gemeinsame Gegner, das für alle verbindliche Ziel des Kampfes gegen den Faschismus, eine wesentliche Voraussetzung. Über Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gruppierungen wird im Interesse dieses Zieles hinweggesehen. Die Fähigkeiten zum Entwerfen von „besseren Welten", das Abschätzen ihrer Realisierungsmöglichkeiten und das Planen der Schritte für ihre Verwirklichung sind eine wesentliche Grundlage der Hoffnungen. Aber diese Hoffnungen sind verletzbar, sie können sich nicht immer behaupten. Damit der Einzelne die Hoffnung über eine längere Zeit und entgegen widersprechenden aktuellen Erfahrungen bewahren und weitergeben kann, braucht er die Gemeinschaft anderer, die seine Hoffnung teilen. Wer diese Gemeinschaft verliert, so wird in der Ästhetik des Widerstands vor Augen geführt, verliert auch seine Hoffnungen. „Widerstand, so lautet durchgehend die Lehre dieses Buches, ist aus der Isolation heraus nicht möglich, weil er dann in Resignation umschlägt." 17 Mit der sich abzeichnenden Niederlage des deutschen Faschismus läßt der äußere Druck zur Gemeinschaft, zur Verständigung über alle Differenzen hinweg, nach, es gewinnen die sehr verschiedenen Zukunftsvorstellungen an Bedeutung. Das Ergebnis ist, wie Weiss anhand der Gründung des Kulturbundes verdeutlicht, eine erbitterte Auseinandersetzung der ehemals gemeinsam Kämpfenden. „Der Terror hatte den Grund zur Einheit gegeben, verschont geblieben, hatte sie der Kampf um die Einheit zerrissen. Im Untergrund hatten 77

sie zueinandergefunden, in der Offenheit hatten sie einander getäuscht und hintergangen. Es war, als bedurfte es der unmittelbaren Gefahr, um zur Verständigung und Einigung zu kommen, und als könne es in Zeiten geringerer Gefahren nur Mißgunst und Zwiespalt geben." (III, 248) Der Rückhalt durch eine Gemeinschaft verliert aber durch diese Entwicklung nicht an Bedeutung, im Gegenteil: „Wer jetzt nicht wußte, auf welcher Seite er zu stehn hatte, wurde zerrieben,. . ." (III, 270)

Norbert Krenzlin

Ästhetik im Epochenumbruch Zur Stellung der Ästhetik des Widerstands in den Ästhetik-Debatten der Gegenwart 1

Inden Ästhetik-Diskussionen der Gegenwart, die zunehmend kontrovers verlaufen und deren Grundsätzlichkeit und Schärfe durch m. E. die Frage nach dem Stellenwert von Kunst fürs Begreifen des Ästhetischen wie auch für die Konstituierung von Ästhetik als Wissenschaft verursacht wird, bezieht Peter Weiss mit seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands, wie es auf den ersten Blick scheint, eindeutig Stellung. Läßt sich die Verdrängung der Kunst aus dem Zentrum ästhetischer Reflexion als eine Grundtendenz der jüngsten ÄsthetikEntwicklung ausmachen, wobei die ideologischen Motive und theoretischen Begründungen dafür im einzelnen höchst unterschiedlich sind, so erfährt die Kunst in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands eine lang nicht vernommene Apotheose. Peter Weiss' Roman liegt so gesehen quer zum herrschenden Trend; und seine Charakterisierung durch Heinrich Vormweg als „großer Entwurf gegen den Zeitgeist" 2 gilt auch für die Gegenwartsästhetik. Im folgenden soll versucht werden, die Position, die Peter Weiss mit der Ästhetik des Widerstands im zeitgenössischen ästhetischen Denken einnimmt, etwas genauer zu fixieren. Unsere entsprechenden Bemühungen bewegen sich dabei in zwei Richtungen: Es geht zum einen um die Bestimmung des h i s t o r i s c h e n O r t s einer Ästhetik des Widerstands; zum anderen — und davon nicht zu trennen, aber doch zu unterscheiden — um ihre e m p h a t i s c h e B e d e u t u n g im Epochenzusammenhang. Den Beitrag beschließen einige Überlegungen, die die spezifisch ästhetische Fragestellung übersteigen. Drittens und letztens nämlich geht es um Peter Weiss' Konzept „proletarischer Vernunft" (I, 33) und um seine Bedeutung für die Aufgabe der Friedenssicherung hier und heute.

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Norbert Krenzlin

Ästhetik im Epochenumbruch Zur Stellung der Ästhetik des Widerstands in den Ästhetik-Debatten der Gegenwart 1

Inden Ästhetik-Diskussionen der Gegenwart, die zunehmend kontrovers verlaufen und deren Grundsätzlichkeit und Schärfe durch m. E. die Frage nach dem Stellenwert von Kunst fürs Begreifen des Ästhetischen wie auch für die Konstituierung von Ästhetik als Wissenschaft verursacht wird, bezieht Peter Weiss mit seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands, wie es auf den ersten Blick scheint, eindeutig Stellung. Läßt sich die Verdrängung der Kunst aus dem Zentrum ästhetischer Reflexion als eine Grundtendenz der jüngsten ÄsthetikEntwicklung ausmachen, wobei die ideologischen Motive und theoretischen Begründungen dafür im einzelnen höchst unterschiedlich sind, so erfährt die Kunst in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands eine lang nicht vernommene Apotheose. Peter Weiss' Roman liegt so gesehen quer zum herrschenden Trend; und seine Charakterisierung durch Heinrich Vormweg als „großer Entwurf gegen den Zeitgeist" 2 gilt auch für die Gegenwartsästhetik. Im folgenden soll versucht werden, die Position, die Peter Weiss mit der Ästhetik des Widerstands im zeitgenössischen ästhetischen Denken einnimmt, etwas genauer zu fixieren. Unsere entsprechenden Bemühungen bewegen sich dabei in zwei Richtungen: Es geht zum einen um die Bestimmung des h i s t o r i s c h e n O r t s einer Ästhetik des Widerstands; zum anderen — und davon nicht zu trennen, aber doch zu unterscheiden — um ihre e m p h a t i s c h e B e d e u t u n g im Epochenzusammenhang. Den Beitrag beschließen einige Überlegungen, die die spezifisch ästhetische Fragestellung übersteigen. Drittens und letztens nämlich geht es um Peter Weiss' Konzept „proletarischer Vernunft" (I, 33) und um seine Bedeutung für die Aufgabe der Friedenssicherung hier und heute.

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1. Was die Bestimmung des historischen Orts der Ästhetik des Widerstands betrifft, so verdient ein Vorschlag Werner Mittenzweis besondere Beachtung, den er mit seinem Versuch unterbreitet hat, „den Begriff Ästhetik des Widerstands als eine ästhetische Kategorie für die fortschrittliche deutsche Literatur und Kunst in der Phase von 1933 bis 1945 zu etablieren. Die Bemühungen richten sich auf ein genaueres Erfassen und Verallgemeinern der vielfältigen Bemühungen von Menschen im Exil und im Lande selbst, mit den Mitteln der Kunst Widerstand gegen den Faschismus zu leisten oder die Kunst im Sinne des Widerstehens zu gebrauchen." 3 D a s Herzund Kernstück der Kategorie erblickt Mittenzwei im „Zusammenführen von Realismus, Avantgarde und Tradition"' 1 und führt dazu im einzelnen folgendes aus: „ Z u den wesentlichen Leistungen der Ästhetik des Widerstands gehört das Zusammenführen von Avantgardekunst mit den realistischen Kunstströmungen, das Bündnis von Tradition und Moderne. Im Zusammenführen der Ismen be steht das Herzstück der Kategorie. Dieses Zusammenführen, hervorgerufen durch die gesellschaftlichen Bedingungen, gibt der Ästhetik des Widerspruchs (sie!) ihr charakteristisches Profil. Die vom Geist der Volksfront geprägte Auffassung von Gemeinsamkeit führte dazu, daß das Kriterium des Widerstands, des Widerstehens gegenüber allen Erscheinungsformen des Faschismus, sich zu einer praktikablen Grundhaltung auf dem Gebiet der Kunst herausbildete." 5 Mittenzwei konstatiert, daß diese Ästhetik des Widerstands im wesentlichen nur „als künstlerische Praxis" existierte und „die eigentliche ästhetische Theorie . . . ohne weitreichende Verallgemeinerung, ohne theoretische Grundlagen, ohne W o r t f ü h r e r " 0 blieb. Die historische Phase, die sich mit Hilfe der Kategorie Ästhetik des Widerstands politisch-ästhetisch verallgemeinern läßt, endet mit der „Zerschlagung des Faschismus in Deutschland". „Der Streit um den Realismus wurde nunmehr zum entscheidenden Entwicklungsfeld." 7 Peter Weiss' Verdienst, seinen Roman betreffend, sieht Mittenzwei in folgendem: „Weiss versucht die Gemeinsamkeit der künstlerischen Anstrengungen zu erfassen, die gegen den Faschismus mobilisiert werden konnten. In Romanform zeigt er die Produktionsbedingungen und die Möglichkeiten einer solchen Ästhetik. Ihm geht es um den Zusammenschluß, um das Zusammenfinden aller künstlerischen Bemühungen, die darauf gerichtet und in dem Sinne verwendbar sind, 80

sich von einem unmenschlichen System zu befreien. Sein Verdienst ist es, aus der Vereinseitigung der Ismen und künstlerischen Richtungskämpfe herausgefunden zu haben, ohne eine parteilich wertende Haltung preiszugeben." 8 Die antifaschistische Kunst und Literatur der Jahre 1933 bis 1945 wirft Probleme auf, die über diese bestimmte historische Phase hinausgehen und von allgemeinerer theoretischer Bedeutung sind. Mittenzwei selbst weist zum Beispiel auf das Verhältnis von Politik und Kunst hin und darauf, daß dieser Zeitraum dazu auffordert, „die Dialektik von Politik und Kunst in der Kunst selbst" genauer zu untersuchen. E s heißt dazu: „Bisher ist der Zusammenhang der von dem Kollektiv der kommunistischen Parteien entwickelten Volksfrontpolitik und der Literatur- und Kunstentwicklung in vielfältiger Weise analysiert worden. Dadurch ist es zu interessanten Aufschlüssen über politische Bewußtseinsentwicklung und literarisch-künstlerische Arbeit, über Bündnispolitik und Kunstfortschritt gekommen. Nunmehr muß die Dialektik von Politik und Kunst in der Kunst selbst genauer untersucht werden, um ihre wesentlichen Eigenschaften und Beziehungen in diesem Zeitraum zu markieren." 9 In diesem Sinne läßt sich der Abschnitt 1933 bis 1945 durchaus als ein Modell begreifen, das in verschiedener Hinsicht weitergehende Überlegungen und Verallgemeinerungen gestattet. Anders dagegen sieht es aus — nach Mittenzwei —, wenn es um die Verwendung der von ihm entwickelten K a t e g o r i e Ästhetik des Widerstands geht. E r wirft die Frage auf, „ob in der antagonistischen Klassengesellschaft nicht jeder Versuch, gegen die etablierten Ästhetiken des herrschenden Überbaus aufzutreten, als eine Ästhetik des Widerstands bezeichnet werden müsse". Mittenzwei verneint die Frage: „ S q wesentlich das Element des Widerstands in einer revolutionären Ästhetik auch ist, würde ich es dennoch als unzureichend ansehen, eine solche Ästhetik nur auf diesen Punkt ausrichten zu w o l l e n . " 1 0 Vieles spricht — unter den Gesichtspunkten der Kunst- und Literaturgeschichte betrachtet — für die Entscheidung Werner Mittenzweis, die Ästhetik des Widerstands als politisch-ästhetische Kategorie für die antifaschistische Kunst und Literatur des Zeitraums 1933 bis 1945 zu reklamieren — auch wenn dies nicht ganz die außerordentliche Wirkung erklärt, die der Roman Peter Weiss' international hervorgerufen hat und weiterhin hervorruft. Aber das muß Werner Mittenzwei nicht anfechten, weil nämlich seine Kategorie der Ästhetik des Widerstands sich „als politisch-ästhetische Verallgemeinerung 6

Krenzlin, p. Weiss

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einer historischen Phase unabhängig von diesem Buch" 11 versteht. Wir möchten daher die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, daß die Ästhetik des Widerstands nicht nur die Kunst- und Literaturgeschichte angeht, sondern auch die Geschichte der Ästhetik — als philosophischer Wissenschaft — und speziell die Geschichte der marxistisch-leninistischen Ästhetik. Und unter deren Gesichtspunkten betrachtet, bekommt die Ästhetik des Widerstands ein Gewicht, das sie über den von Mittenzwei gesteckten Rahmen hinaushebt. Das deutet sich bereits an, wenn man sich nur vergegenwärtigt, daß die Produktion antifaschistischer Kunst und Literatur, also die Produktion von Widerstandskunst, für Peter Weiss nur ein Aspekt der Ästhetik des Widerstands ist — für Werner Mittenzwei dagegen der ausschließliche; daß in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss vielmehr ebenso intensiv nach dem Nutzen vergangener Kunst und Literatur für antifaschistische Widerstandskämpfer gefragt wird. Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss beinhaltet also auch eine Erbetheorie, und zwar eine exorbitante, wie die Kritik ziemlich einhellig bescheinigt hat. Und die Aneignung von Kunstwerken wird bei ihm als ein elementarer Bestandteil der Widerstandstätigkeit dargestellt. Zu bedenken wäre in diesem Zusammenhang auch die Forderung, Die Ästhetik des Widerstands als Roman einer Epoche zu lesen. 12 Zur Hauptsache jedoch: Die emphatische, über den fixierten historischen Anlaß und Abschnitt hinausgehende, zugleich epochale wie bleibend aktuelle Bedeutung einer Ästhetik des Widerstands besteht unseres Erachtens darin, daß sich Peter Weiss mit seinem Konzept in einer Tradition der Hochschätzung von Kunst bewegt, die tief ins Philosophische reicht. Die Ästhetik d f s Widerstands ist Peter Weiss' letzte und umfassendste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Kunst. Um welche Politik handelt es sich dabei, und was für eine Kunst ist gemeint? Diese Fragen müssen wir mit im Auge behalten, wenn wir uns nunmehr der, wie wir es nannten, emphatischen Bedeutung der Ästhetik des Widerstands im Epochenzusammenhang zuwenden wollen. 2. Die Ästhetik des Widerstands ist von einem bemerkenswerten Widerspruch gezeichnet. 13 Auf der einen Seite gehört sie der Tendenz nach in jene Linie — oftmals neulinker — Ästhetik, die der Emanzi82

pation des Ästhetischen von der Kunst das Wort redete und in Herbert Marcuses Essay Die neue Sensibilität (1969) ihre Programmschrift fand.14 Dieser Richtung lag die Ansicht zugrunde, Kunst und Literatur als bürgerliche Scheinwelt zu denunzieren und als vermeintlich affirmative abzuschaffen. Das emanzipatorische Potential des Ästhetischen sollte aus der Exklusivität seines Daseins als Kunstwerk befreit und zum praktischen Motiv gesellschaftlichen Handelns, zum Prinzip der Wahrnehmung und des Verhaltens werden. 13 Im Zuge dieser Entwicklung haben sich diverse Ästhetiken herausgebildet beziehungsweise wurden wiederentdeckt, 16 deren gemeinsames Merkmal darin besteht, die philosophische Ästhetik für neue Gegenstände und Fragestellungen zu öffnen, oder anders formuliert, mit der Reduzierung des Gegenstandes der Ästhetik auf „Kunst" — verstanden im Sinne „autonomer Kunst" 17 — Schluß zu machen. Außer auf die Ästhetik des Widerstands, ihren möglichen Gegensatz, die „Ästhetik der Anpassung", und die schon lange üblichen Gattungsästhetiken wie Ästhetik der Musik, Ästhetik der Umwelt usw. läßt sich hier auf neuere Beispiele verweisen: Warenästhetik (Wolfgang Fritz Haug, 1971), Sexualästhetik (Peter Gorsen, 1972), Ästhetik des Schreckens (Karl-Heinz Bohrer, 1978) und Ästhetik des Sports (Günter Witt, 1982).18 Auch der immer häufiger verwendete Begriff „Kunstästhetik" verdankt seine Entstehung dieser Tendenz. Er bringt indirekt zum Ausdruck, daß „Kunst" aufgehört hat, der selbstverständliche, geschweige denn einzige Gegenstand der Ästhetik zu sein; daß also Ästhetik, wenn sie von Kunst zu handeln gedenkt, dies mitzuteilen hat. 19 Peter Weiss entspricht dieser hier skizzierten Tendenz mit seinem bereits im Titel des Werks anklingenden Verständnis von Ästhetik, das über das Konzept einer Widerstand leistenden K u n s t hinausgeht. Er bestätigt, „daß der Widerstand auch seine eigene Ästhetik hat", und betont, „die ganze Lebenshaltung ist gemeint". 20 Auf der anderen Seite jedoch, und dies zum zweiten, hat die Verbindung der Ästhetik mit dem politischen Widerstand bei Peter Weiss eben nicht die Diffamierung der Kunst als gesellschaftlich folgenlos und ohnmächtig zur Voraussetzung. Im Gegenteil! Es dürfte schwerfallen, in unserer Zeit ein Werk zu finden, in dem die emanzipatorische Funktion aller großen Kunst ebenso eindringlich beschworen, demonstriert und verteidigt wird wie in Peter Weiss' Die Ästhetik des Widerstands. Ja mehr noch. Aufmerksamen Lesern ist aufgefallen, daß Peter Weiss einer Kunstgeschichte das Wort redet, „deren Kriterien Größe, 6*

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Harmonie, Pathos, Einzigartigkeit, Verselbständigung, Freiheit waren. Da war häufig von höheren Ebenen der Gestaltung die Rede; es wurde behauptet, daß die einzige Freiheit, die es gäbe, die der Kunst sei; die höchste Realität wurde der Kunst zugesprochen, und es wurde gesagt, daß sie seit jeher das Prinzip der Klassenlosigkeit repräsentiere. Überrascht war man auch darüber, daß hier nicht eine andere Kunstsprache erforscht und vorgestellt wurde, etwa die, welche man sich angewöhnt hat, die Kunst und die Kultur der Arbeiterklasse zu nennen. Dagegen wurde geradezu Partei ergriffen und die Parteilichkeit in den Werken gefunden, die das Bürgertum für hoch und heilig hält. — Doch wurden die Werke anders als von der bürgerlichen Kunstkritik und -Wissenschaft nicht als Gebilde für sich genommen und dargestellt. Sie waren eingebunden in die Geschichte der Menschheit, wenn auch diese Bindung im Laufe der Zeit immer mehr einer Zerreißprobe glich. Bilder, Skulpturen und Architekturen wie Epen, Dramen, Gedichte und Romane wurden nicht als Produkte gesehen, sondern als Produktionsmittel gebraucht, die nach und nach in der Ästhetik des Widerstands aufgingen ja aufgehoben wurden." 21 Wie wird nun das, was in jüngster Zeit als gegensätzliche Tendenz in der Entwicklung der Ästhetik auftrat, von Peter Weiss zur Synthese gebracht? Wie wird dem Zweifel an der Legitimität großer Kunst begegnet, 22 der seit Hegels These vom „Ende der Kunst" am kunstphilosophischen Denken nagt und sich in unserem Jahrhundert zum Zweifel an Existenz und Sinn von Kunst krisenhaft zuspitzte? Peter Weiss schafft es, indem er die Einheit von Proletariat und Kunst, und zwar auch und gerade der avantgardistischen, beschwört und die kulturrevolutionäre Programmatik der Arbeiterklasse bei einigen Helden des Romans als realisiert vorstellt. In Anlehnung an ein berühmtes Marx-Wort ließe sich Peter Weiss' Überzeugung so formulieren: Das emanzipatorische, widerständige Potential der Kunst wird zur materiellen Gewalt, wenn sich das Proletariat, also die politisch fortschrittlichste Kraft der Gesellschaft, seiner annimmt. Schauen wir uns an, wo Gewinn und Verlust dieser Synthese liegen. Wenn es — mit Berufung auf Lenins Artikel Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905) und Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Keprodu^ierbarkeit (1936) — gestattet ist, von einer Lenin-Benjaminschen Linie in Ästhetik und Kunstpolitik des 20. Jahrhunderts zu sprechen, dann stellt Die Ästhetik 84

des Widerstands eine souveräne Realisierung dieses sozialistischen Programms der „Politisierung der Kunst" dar. Und wenn es eines Beweises dafür bedarf, dann liefert ihn die bürgerliche Kritik, der dieser Vorgang ebenfalls nicht entgangen ist.23 Peter Weiss zeigt nämlich, daß unsere Ästhetik — begriffen als historische Gesellschaftswissenschaft philosophischen Charakters — sich nur dann auf der Höhe der Zeit befindet, wenn sie sich umfassend und konsequent als Wissenschaft in der Praxis politisch situiert. Das schließt das Bewußtsein von der Geschichtlichkeit und den Widersprüchen unserer eigenen politischen und kulturellen Bewegung ein und betrifft alle Aspekte der Ästhetik: systematische wie historische und ebenso programmatisch-kritische. „Politisierung der Kunst" heute heißt allerdings nicht nur Produktion von sozialistischer Kunst, etwa sozialistisch-realistischer, sondern Politisierung des U m g a n g s mit Kunst, und zwar aller Kunst: der Gegenwart wie Vergangenheit, „hoher" wie „niederer".24 Nach dem Erscheinen des dritten Bandes der Ästhetik des Widerstands sowie der Notizbücher 1971—1980 machte Burkhardt Lindner im Mai 1981 ein umfangreiches Interview mit dem Autor: Zwischen Pergamon und Plattensee oder Die andere Darstellung der Verläufe,25 Dieses Gespräch ist vor allem deshalb interessant, weil es zeigt, daß Peter Weiss' grundsätzlich sozialistisches Verständnis der Epoche und der sie bewegenden Kräfte von seiner Tätigkeit als Künstler und seiner Auffassung vom P r i n z i p der K u n s t geleitet ist. Er hat dazu folgendes ausgeführt: „Das ist das Prinzip der Kunst, etwas zu tun, obgleich die Umstände dagegen sind. Wir wußten überhaupt nicht, wo es hingeht, weil eine Überlegenheit der Gewalt da ist, die so schrecklich ist: alle wissen, daß sie beim nächsten Schritt zu Tode gefoltert werden, was sie ja dann auch fast ausnahmslos wurden. Und dann dieses ,trotzdem', das ja auch Sartre in seiner Philosophie übernimmt. ,Es ist hoffnungslos, aber wir müssen trotzdem weitermachen.'" 26 Und an anderer Stelle: „Es gibt kaum Produzenten von Kunstwerken, die nicht am eigenen Leib die äußeren Niederlagen erfahren hätten und trotzdem weitermachen. Das scheint fast ein Prinzip von Kunst zu sein." 27 Das von Peter Weiss formulierte „Prinzip von Kunst" wirft ein Bündel von Problemen auf, mehr als von der Ästhetik behandelt werden können. So fordert das „Trotzdem" z. B. dazu auf, nach den Motiven des Weitermachens zu fragen. Was bewegt Menschen, in aussichtsloser Situation nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen. Das sind Fragen, denen Peter Weiss am 85

Schicksal antifaschistischer Widerstandskämpfer in seinem Roman nachgeht.28 Zur Hauptsache jedoch. Kunst als Modell des Widerstands, des Trotzdem-Weitermachens, setzt eine Tradition der Hochschätzung von Kunst fort, die in der deutschen Klassik ihren Ursprung nimmt (ästhetische Erziehung), von der Romantik und von Nietzsche fortgeführt wird (die künstlerische als die eigentliche metaphysische Tätigkeit), auch im Marxismus nicht unbekannt ist (Kunst als Modell freier, nicht-entfremdeter Arbeit) und die darin besteht, sich eines menschlichen „Wesens" durch Kunst — künstlerische Produktion — zu versichern. Das heißt, was der Mensch ist beziehungsweise sein kann, ist aus der Produktion von und dem Umgang mit Kunst zu entnehmen, bei wechselnden Akzenten (Erziehung, Arbeit, Widerstand). Aber auch die Umkehrung gilt. Die Hochschätzung der Kunst ist durch die historische Notwendigkeit des Widerstands legitimiert: Widerstand wird zum Vorwurf von Kunst. — Die Affinität von Künstler und Widerstandskämpfer liegt auf der Hand. Der Schriftsteller hat sich die Moral der Helden des antifaschistischen Widerstands zu eigen und zum Prinzip seiner Kunst gemacht. Und zwar einer Kunst, die sich im Widerstand befindet. Wie sehen nun Zeit und Menschen aus, die solcher Kunst bedürfen? An Peter Weiss' Einschätzung der Epoche als der einer „umfassenden Veränderung" 29 , wie sie seinem öffentlichen Bekenntnis zum Sozialismus vom Jahre 1965 zugrunde lag, hat sich grundsätzlich nichts geändert; es sind jedoch einige Akzente anders, im Sinne einer Zuspitzung der Probleme, gesetzt worden. Erinnern wir uns. In 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt hatte es dazu geheißen: Den „Besitzenden der Erde, eine(r) verhältnismäßig klein e ^ ) Gruppe, . . . gegenüber setzt sich eine Macht langsam durch, die davon ausgeht, daß die Güter der Welt jedem Menschen im gleichen Maß gehören sollen. Noch befinden wir uns im Anfangsstadium dieser umfassenden Veränderung. Einige Länder haben weitgehend die von der Teilung der Welt bedingten ökonomischen Schwierigkeiten überwunden und eine kommunistische und sozialistische Ordnung hergestellt, andere bemühen sich um diese Ordnung zunächst unter den Vorzeichen eines nationalen Befreiungskampfes." 30 In dem Interview hebt Peter Weiss das „Bild vom ewigen Klassenkampf" 3 ! hervor, wozu er vom Fries des Pergamon-Altars angeregt worden ist und das ihn beim Schreiben des Romans geleitet hat. „Es ist der ständige Kampf, in dem wir uns auch heute befinden." 32 86

Diese weltgeschichtliche Sicht zieht Konsequenzen für das Verständnis der Antagonisten und des Inhalts des Kampfes nach sich. Der Klas" senbegriff verschiebt sich von sozial-ökonomischer zu mehr pcflitischmoralischer Bestimmtheit im Sinne von „Kräften, die unten sind, und die, die oben sind" 33 , von „Unterdrückten und Unterdrückern". Der Kampf gegen den Faschismus „war eine Klassensituation, aber ein Klassenkampf im Sinne des Kampfes von Unterdrückten und Unterdrückern" 3 ' 1 . Aus dem Bild vom „ewigen Klassenkampf" resultiert die Vorstellung von der Permanenz des Widerstands, seine zentrale Stellung im ideologisch-künstlerischen System des Peter Weiss und seine Apotheose. 35 Widerstand zu leisten wird zum Prüfstein der Menschlichkeit und zum Kriterium des Kampfwertes von Kunst. Für Peter Weiss spitzt sich alles auf die Frage zu: „Wie kann man sich überhaupt unter einer totalen Unterdrückung noch mit künstlerischen Medien helfen?" 36 Halten wir fest: Für die Helden des antifaschistischen Widerstands wie auch für die großen Künstler gilt die Devise des „Trotzdem-Weitermachens" — auch, wenn die Umstände dagegen oder — zugespitzter noch — hoffnungslos sind. Dieses Weitermachen, dem kein Lohn winkt, diese Haltung des Widerstands, kann sich auf Kunst stützen, weil es nämlich vor allem Kunstwerke sind, in denen Ideen und Haltungen weiterleben, die von der gesellschaftlichen Realität vorerst widerlegt beziehungsweise als lebensfremd oder utopisch verworfen worden sind. Doch „Ästhetik des Widerstands" meint bekanntlich ein Doppeltes: Nicht nur, daß Kunst Widerstand leisten kann, auch der Widerstand hat seine eigene Ästhetik. „Es genügt ja nicht, einen politischen Feind anzugreifen und möglicherweise zu überwinden, sondern die ganze Lebenshaltung ist gemeint, alles, worin man verfilzt ist, worin man lebt." 37 Anders gesagt, die Befreiung von politischer Unterdrückung ist erst gelungen, wenn sie durch die kulturelle Befreiung ergänzt wird." Es ging um einen Kampf in viel weiterem Sinne: nicht allein Befreiung von politischer Unterdrückung, sondern ebenso um die Befreiung von den kulturellen Hindernissen, die Menschen um sich herum haben." 3 8 Für seine Kunstauffassung zieht Peter Weiss daraus folgende Schlußfolgerungen:" . . . ich versuche an Beispielen von Kunstwerken zu zeigen, wie Kunst und Literatur, wenn sie lebendig, immer im Streit gegen etwas stehen. Eine angepaßte große Kunst hat es, soweit ich weiß, nie gegeben. Kunst, die mich engagiert, ist eine Kunst, die es sich zur Aufgabe macht, eine erdrückende und schwierige Situation zu lösen. Die Figuren

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von Künstlern — ob es nun Maler oder Schriftsteller sind — stehen hier im Widerstreit gegen die Zeit und bieten einen Widerstand; die Ästhetik, die sie realisieren, ist eine Ästhetik des Widerstands." 3 9 Damit schließt sich der Kreis. Der Zusammenhang von Kunst und Politik wird durch den Widerstand vermittelt und konstituiert eine politische Ästhetik par excellence. Zugleich determiniert dieser Zusammenhang sowohl den Charakter der Kunst als auch den der Politik, die hier gemeint sind. „Kunst ihrer Natur nach progressiv" (N II, 892), das heißt, der Kunstprozeß wird als Widerstandshandlung interpretiert. Politik meint sozialistische Politik — „immer . . . aus der Perspektive derer, die sich ganz unten befinden" (N I, 85) —, die ihr einheitliches Ziel in der Befreiung von politischer Unterdrückung und von kulturellen Hindernissen findet. Wird der Zusammenhang von Kunst und Politik bei Peter Weiss durch den Widerstand vermittelt, so der zwischen Kunst und Individuen durch die Phantasie. Wobei diese verschiedenen Momente künstlerischer Weltaneignung — und das verdient herausgehoben zu werden — nicht einfach nebeneinander existieren oder gar einander ausschließen, sondern einen psychologisch-politisch-künstlerischen Zusammenhang bilden, der durch Menschen vermittelt wird, die Widerstand leisten. Ein Werk wie Die Ästhetik des Widerstands verlangt, daß sein Titel wörtlich genommen wird. Das heißt, daß alle wesentlichen Fragestellungen des Romans auf ihren Zusammenhang mit dem „Widerstand" und dessen „Ästhetik" analysiert werden müssen. Im Rahmen der hier nur anzudeutenden Psychologie der Kunst bedeutet dies, die Aufmerksamkeit auf den Vorgang zu richten, daß Peter Weiss die tiefsten, bis ins Unbewußte reichenden Schichten des Widerstands auslotet. Das ist der Fall, wenn er den „Grund der Fantasie, der Kunst" einerseits in der Kreativität des Traums entdeckt (N II 819), zum anderen im Widerstand: „Die Phantasie lebte, so lange der Mensch lebte, der sich zur Wehr setzte". (1,339) Wir finden in dieser These den Schlüsselsatz für Peter Weiss' historische Psychologie der Kunst als eines der Fundamente, auf denen Die Ästhetik des Widerstands ruht. Ihr anderes Fundament ist die Geschichte der Klassenkämpfe, speziell der Kampf der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Wir haben zu zeigen versucht, daß Die Ästhetik des Widerstands von einem Widerspruch gezeichnet ist, der seinen Ursprung darin hat, daß in ihr zwei gegensätzliche Tendenzen zeitgenössischer Ästhetik 88

am Werk sind: zum einen die grundsätzliche Kritik am Konzept autonomer Kunst, wie sie im Titel und in seinen Implikationen anklingt, zum anderen deren glühende Verteidigung durch den Nachweis ihres emanzipatorischen Potentials, bezogen auf den K a m p f der Arbeiterklasse. Dieser Widerspruch setzt sich fort, wenn wir uns die von Peter Weiss vorgenommenen Differenzierungen der K u n s t vergegenwärtigen. Seine Auseinandersetzung mit der deutschen Klassik, mit dem von G e o r g Lukâcs und anderen so hochgeschätzten bürgerlichen Realismus und mit dogmatischen Erscheinungsformen des sozialistischen Realismus, seine Favorisierung der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts lassen leicht übersehen, daß Weiss selber nur einen eingeschränkten Begriff von ihr hat. Als Beispiel avantgardistischer Kunst und Künstler erscheinen nämlich nur jene, die heute bereits zu den „Klassikern der Moderne" zählen — wie zum Beispiel Joyce, Feininger, K a f k a , Klee, Léger, Picasso, Rimbaud, Schönberg, Strawinski —, und nicht jene, die auf die eine oder andere Weise das autonome Kunstwerk und seine Funktion, d. h. seine bürgerlich-kapitalistische Institutionalisierung, in Frage stellten. 40 Damit aber fehlt zum Beispiel die von den Ideen der „Produktionsästhetik" inspirierte sowjetische Avantgarde. 4 1 Und nolens volens setzt sich Peter Weiss dem „Dilemma jenes Anspruchs" aus, „der Kunst in Leben oder Leben in K u n s t verwandeln will, jedoch den Rahmen der Idee von autonomer K u n s t nicht sprengt"/' 2 D a s bleibt nicht ohne Folgen für die Perspektiven des Zusammenschlusses von politischer und künstlerischer Avantgarde. J e nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man das Zusammengehen beider betrachtet, stellen sich die Probleme und Perspektiven des Zusammenschlusses von politischer und künstlerischer Avantgarde höchst unterschiedlich dar. D a wäre als erstes die Ebene der R e z e p t i o n zu nennen, bei der es um die Frage geht, wozu und wie revolutionäre Arbeiter avantgardistische Kunst, also die Werke der „Pioniere des zwanzigsten Jahrhunderts" (I, 79) überhaupt brauchen. An der positiven Beantwortung der Frage arbeiten sich Autor und Roman hauptsächlich ab. Die historische und spätestens seit unserem Jahrhundert höchst anstößig gewordene Arbeitsteilung zwischen Künstler und Publikum 4 3 bleibt stillschweigende, nicht-problematisierte Voraussetzung des literarischen Experimentierfeldes, das heißt des Romans. D i e kulturpolitische Utopie entfaltet sich daher auch nicht in der Überwindung der geschichtlichen Arbeitsteilung von künstlerischer Pro89

duktion und Rezeption und ihren kulturellen Folgen, wenn man vom Drang des Ich-Erzählers zu eigenem literarischem Ausdruck absieht, sondern darin, daß es Arbeitern gelingt, entgegen den ihnen diktierten Arbeits- und Lebensbedingungen Ansprüche auf große Kunst zu entwickeln und zu realisieren. Die Aneignung der großen Werke der Weltkunst und -literatur durch Vertreter der revolutionären Arbeiterbewegung ist eine individuelle, den Lebensumständen abgetrotzte Leistung, einzeln und zufällig, die unter dem Gesichtspunkt kulturrevolutionärer Programmatik — und das macht den utopischen Charakter dieses Vorgangs aus — den Anspruch auf Typik erhebt. Exemplarisch hierfür ist neben dem Verhalten des Ich-Erzählers und Hans Coppis das ihrer Eltern. — Auf einer anderen Ebene geht es um die P r o d u k t i o n von Kunst, und zwar solcher Kunst, die direkt für den Kampf der Arbeiterklasse gemacht wird und die den fortgeschrittensten politischen und künstlerischen Ansprüchen genügen soll. Ein Merkmal dieser arbeitsteilig hochspezialisierten Produktion besteht darin, daß sie nicht einfach von Arbeitern, von „Laien", sondern nur von „Überläufern" aus der Bourgeoisie betrieben werden kann. Dieser V o r g a n g birgt Widersprüche in sich, zum Beispiel den zwischen öffentlichem Werk und privatem Leben. Brecht, über den sich Peter Weiss folgendermaßen äußerte, hat hierfür das Modell abgegeben: „Brecht selber war ja auch im Grunde genommen, im privaten Leben ein autoritärer Mensch, von einem Patriarchalismus geleitet. Aber ich wollte zugleich deutlich machen, wie jemand, der seiner ganzen männlichen Herkunft nach in Konventionen gefangen ist, doch Vorstellungen von Veränderungen wie kaum ein anderer hatte." Auf den beiden bisher betrachteten Ebenen der B e g e g n u n g von politischem und künstlerischem Avantgardismus spielte das Moment der individuellen Entscheidung eine hervorragende Rolle — da ging eben nichts seinen Gang, sondern alles wollte ganz persönlich erobert sein. Und so muß denn noch eine weitere Ebene in Betracht gezogen werden: die der p o l i t i s c h e n P r o g r a m m a t i k der Partei, und zwar hinsichtlich ihres Verhältnisses zur künstlerischen Avantgarde. Die Alternative lautet hier: Bündnis oder Gegnerschaft. Und die politische Bestimmung und Konzipierung dieses Verhältnisses ist geschichtlicher Ausdruck einer grundsätzlichen Haltung zur Kultur — verstanden als Medium und Agens der Befähigung der Individuen zur Selbstbestimmung. Kunst wird hierbei nicht idealistisch-fälschlich mit Kultur identifiziert beziehungsweise Kultur

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auf Kunst reduziert; K u n s t erscheint vielmehr als kulturelles Übungsfeld, auf dem „selbständiges Denken" (III, 48) geschult werden kann. Modell der möglichen Synthese von politischem und künstlerischem Avantgardismus ist die Züricher Spiegelgasse des Jahres 1916: „Die Spiegelgasse wurde zum Sinnbild der gewaltsamen, doppelten, der wachen und geträumten Revolution." (II, 60) Ihre Protagonisten im Roman sind Willi Münzenberg43 und Max Hodann. Beide scheitern. Ist die Forderung des Zusammengehens von politischer und künstlerischer Avantgarde utopisch? Sie wäre illusionär in dem Sinne, den bereits Alfred Andersch abgelehnt hatte: „ D e n Optimismus Weiss', seine Hoffnung, es werde nachgeholt werden, was im Verhältnis zwischen Kommunistischer Partei und moderner Kunst versäumt worden ist, teile ich nicht. Ein versäumter historischer Augenblick kann niemals nachgeholt werden."'^ Auch sind die utopischen Z ü g e nicht zu übersehen, die das Verhältnis der jungen Antifaschisten zu den großen Werken vergangener und zeitgenössischer Weltkunst charakterisieren. Absolut nicht utopisch, sondern sehr rational und gegenwärtig ist dagegen die Forderung, zu der alle Überlegungen Peter Weiss' drängen : d i e F o r d e r u n g n a c h p o l i t i s c h e m U m g a n g m i t K u n s t , und zwar aller K u n s t : hoher wie niederer, vergangener wie gegenwärtiger, traditioneller wie auch avantgardistischer. Mit Kunst politisch umgehen heißt, sie an dem Beitrag zu messen, den sie zur Verwirklichung der komplexen Ziele des Kampfes der Arbeiterklasse leistet — oder eben auch nicht leistet; sie aber nicht nur zu verwerfen oder zu akzeptieren, sondern von jedwedem Werk solchen Gebrauch zu machen, daß er politischen Nutzen abwirft. Bezogen auf das Thema und Problem dieses Abschnitts heißt d a s : Die politische Avantgarde müßte lernen, mit der künstlerischen Avantgarde politisch umzugehen, nicht ästhetisch, geschmäcklerisch. Die naheliegende Deutung des Ich-Erzählers als „ K u n s t g r i f f " , nämlich daß Peter Weiss in die Rolle des Proletariers schlüpft, um Kunst zu machen, wird durch die eben skizzierten Umstände bestätigt. Peter Weiss auserwählt Vertreter der Arbeiterklasse zu Partnern autonomer Kunst und lädt ihnen damit die Bürde auf, Kunst zu legitimieren. E r zeigt, daß die politische Revolution erst in der Kulturrevolution ihre Vollendung findet, das heißt, daß die wirkliche Emanzipation der Arbeiterklasse der K u n s t bedarf. Der Gedanke könnte aufkommen, daß das Proletariat gar nicht so sehr in seiner historischen Eigenständigkeit zählt, vielmehr dem 91

Interesse dient, das alte bürgerliche Konzept autonomer Kunst zu perpetuieren. Peter Weiss' Entwurf einer Snythese von politischer und künstlerischer Avantgarde hat ihr Z e n t r u m in der Veränderung der Konsumgewohnheiten des Proletariats — nicht in der Veränderung der Produktion von Kunst. Denn: „Kunst [ist] ihrer Natur nach progressiv". (N II, 892). Das Proletariat erscheint auch hier, wie schon so oft in seiner Geschichte, zum Beispiel auch bei Georg Lukäcs, als Retter, Bewahrer bürgerlicher Werte und Wertvorstellungen, die — von der Bourgeoisie verraten, im Stich gelassen — in der revolutionären Arbeiterbewegung eine neue Heimat finden. Umgekehrt verweist das Utopische dieses Konzepts auf die Realität der sozialistischen Bewegung, die eben in vielen Punkten anders verlaufen ist, als von Marx prognostiziert. Und so ist es denn auch kein Zufall, sondern nur Konsequenz des gesetzmäßigen Zusammenhangs von künstlerischer Form und künstlerischem Inhalt, wenn dieser Roman als Hohelied auf das kämpfende Proletariat seine begeistertsten Leser unter Intellektuellen findet. 47 Das ist aber nur die eine Seite der Sache. Denn Die Ästhetik des Widerstands ist nach unserer Auffassung nicht nur Symptom der Krise des Konzepts autonomer Kunst, sondern auch der Versuch ihrer Überwindung. Peter Weiss' entsprechende Bemühungen bewegen sich in zwei Richtungen: Sie tendieren zum einen zur Fundierung des Kunstwerks auf dem „Dokumentarischen" — damit „Kunst" im traditionellen Sinne übersteigend — und geben zum anderen eine „Anleitung zum subversiven Gebrauch der bürgerlichen Kunstgeschichte und ihrer emanzipatorischen Potentiale" i8 . Er begnügt sich eben nicht — und dies im Gegensatz zu einschlägigen linksradikalen Unternehmungen — mit einer bloßen Um-Interpretation des als bürgerlich denunzierten Kunstbegriffs, sondern dringt auf eine reale Veränderung und Anpassung der Kunst an die Bedürfnisse der sozialistischen Bewegung an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert. Unter diesem Gesichtspunkt lohnte es sich, den Roman auf seine Widersprüche und Brüche zu analysieren. Zur Diskussion stünde dabei die ganze Form-InhaltDialektik des Kunstwerks. Peter Weiss' Roman bilanziert die Ergebnisse einer Epoche, zu der der heroische Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten vor allem gegen den Faschismus ebenso gehört wie die Erfahrung der Vergeblichkeit, des bitteren Umsonst. Und so finden sich denn in ihm sowohl Zeichen der Erneuerung als auch des Finales; er ent92

hält ein programmatisches Angebot an unsere Gegenwart ebenso wie das Resümee einer vergangenen Epoche." . . . nun ist Peter Weiss an den Punkt gelangt", schreibt Zbigniew Swiatlowski mit Blick auf Die Ästhetik des Widerstands, „wo seine Subjektivität mühelos in der Subjektivität eines kommunistischen Proletariers aufgehen kann."/l9 Im Hinblick auf die individuelle Entwicklung von Peter Weiss und moralisch betrachtet ist das ein Höhepunkt, und zwar ein mühevoll errungener, ein erkämpfter. Auf den Verlauf der Geschichte bezogen, erscheint der Vorgang, wie gesagt, als Kunstgriff, 50 der vom Autor in dem Moment fallengelassen wird beziehungsweise keine Rolle mehr spielt, wo der Stoff sich selber trägt: bei der Darstellung des opferreichen Kampfes deutscher Kommunisten gegen den Faschismus. Die Geschichte gewinnt dabei eine welthistorische, geradezu mythische Dimension. Oder anders gesagt: Die Lehre von der historischen Mission der Arbeiterklasse findet im dritten Band der Trilogie ihre überzeugendste, adäquateste Realität und gerät dort auch am schönsten. Und weiter. Gilt nicht vielleicht überhaupt, daß Epochen, Gesellschaften oder Klassen, die historisch am Ende sind, ihre unendlichen menschheitlichen Gehalte, das heißt sowohl ihren realen geschichtlichen Beitrag zur Entwicklung der Gattung als auch ihre Ideen, die sich vor der Geschichte als utopisch erwiesen haben, noch einmal im Kunstwerk aufleuchten lassen? Was die Literaturgeschichte betrifft, so scheint es eine solche Tradition — optimistischer — Endzeitwerke durchaus zu geben: Homers Odyssee als Reflex auf das Heroenzeitalter; Dante am Ende des Mittelalters; 51 Cervantes, der dem alten Spanien heimleuchtet; Peter Weiss schließlich in einer Zeit, in der das Jahrhundert sich neigt und die progressiven gesellschaftlichen Kräfte vor der Aufgabe der Neubesinnung stehen. Ihnen übergibt Peter Weiss, wie schon die Großen vor ihm, ein Erbe, ein Bleibendes, unter dessen historisch erreichtem Niveau anstehende und künftige Probleme nicht zu lösen sind. Die Summe der Epoche, wie Die Ästhetik des Widerstands sie präsentiert, ist eine Hoffnung: die Hoffnung auf das „Aufkommen proletarischer Vernunft", die in der Vergangenheit als Bereitschaft der „tragenden Kräfte der beiden großen Parteien . . . zum Zusammengehen" im Kampf gegen den Faschismus gefordert war und die allein in der Lage gewesen wäre, „in letzter Stunde das Verderben der Arbeiterklasse ab(zu)wenden". (I, 33) — „Vernunft", und damit kommen wir zu unserem nächsten und letzten Abschnitt, ist aber auch das 93

Losungswort, die Ultima ratio einer Menschheit, die am Rande des Abgrunds einer atomaren Katastrophe steht. Mit Blick auf die weltweite Friedensbewegung führte Peter Weiss im September 1981 dazu aus: „Hier zwischen denen, die noch längst nicht genügend Einfluß haben, denen noch die umfassenden Verbindungen fehlen, ist etwas im Entstehen begriffen, das sich vielleicht menschliche Vernunft nennen ließe: Vernunft, Besinnung — im Gegensatz zum Gigantismus der Rüstungsrivalen. Wollen wir festhalten an diesem Optimismus, der sich, zugegeben, stets am Rand der Utopie bewegt, so können wir nur Geduld, Ausdauer verlangen, können wir nur alles tun, was möglich ist, um den Wahnsinn der Kriegshetzer aufzuhalten." 52 3. Von Peter Weiss sind öffentliche Bekundungen darüber bekannt, „daß gegenwärtig nichts so wichtig für alle Menschen ist, als die Erhaltung des Friedens" (NU, 589). Eine — wahrscheinlich letzte — Stellungnahme zum Thema Krieg-Frieden ist dem Telegramm zu entnehmen, das der damals bereits kranke Schriftsteller ein halbes Jahr vor seinem Tode an die „Berliner Begegnung zur Friedensförderung" (13./14. 12.1981) sandte. Er telegrafierte: „Daß zu einem Zeitpunkt, da das Wettrüsten der Politiker das Stadium des Wahnsinns erreicht hat, eine Massenbewegung entsteht, welche die menschliche Vernunft und Besinnung vertritt, läßt mich festhalten an meinem Optimismus. Laßt uns alles tun, um diese Bewegung zu stärken . . ," 53 Dennoch ist Peter Weiss fast zur gleichen Zeit und im Hinblick auf Die Ästhetik des Widerstands der Vorwurf gemacht worden zu verkennen, „daß das erste Ziel der internationalen sozialistischen Bewegung heute die Erhaltung des Friedens ist. Ein Bild der Gegenwart, eine Beschäftigung mit der Zukunft, die diese politische und kulturelle Wirksamkeit der sozialistischen Länder nicht aufnehmen, werden der Zeit nicht gerecht." M Sind wir also erneut mit Widersprüchen konfrontiert, die uns im Umgang mit der Ästhetik des Widerstands und ihrem Autor nun schon geläufig sind? Oder handelt es sich um ein Mißverständnis? Wie dem auch sei, wir sind wieder einmal angehalten, genauer hinzusehen. Denn der Vorwurf, Peter Weiss würde die Anstrengungen unterschätzen, die seitens der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft unternommen werden, um der Menschheit den Frieden — genauer genommen, die 94

Existenz — zu bewahren, und damit die ganze Systemauseinandersetzung verzeichnen, wiegt schwer. Dies um so mehr, als es scheint, daß sich der Vorwurf so leicht nicht von der Hand weisen ließe: Weder findet man im Roman Ausführungen über die friedenserhaltende Funktion der sozialistischen Staaten, noch läßt sich ein besonderer Ehrgeiz Peter Weiss' ausmachen, Manifestationen für den Frieden zu unterstützen. Im Gegenteil. Etwas lax notiert er 1977: „Ich bin kein Freund von Kongressen, zumeist stören sie mich nur bei der Arbeit - . " ( N U , 574) Sollte dies nun tatsächlich das letzte Wort in Sachen Frieden über einen Schriftsteller sein, der einen der politischsten Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geschrieben hat? Und über ein Buch, das im Verlaufe der zehn Jahre seines Bestehens bei einem hochpolitisierten Publikum — und nur ein solches hat sich auf den Roman überhaupt eingelassen — eine unvergleichlich große Resonanz gefunden hat? Über die Rezeption von Peter Weiss' Roman wurde bereits Anfang 1984 festgestellt: „Es entspringt keineswegs der Regel, wenn neun Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes eines dreibändigen Romans — der letzte Band kam vor drei Jahren heraus — schon drei Sammelwerke mit Aufsätzen von Literaturwissenschaftlern vorliegen und wenn auf drei wissenschaftlichen Konferenzen, in Bremen, Essen und New York, mit jeweils einem Jahr Abstand Hunderte von Germanisten und anderen berufsmäßig mitLiteratur Befaßten sich ausschließlich versammeln, um den Roman zu untersuchen. Auch der Umstand, daß der Verfasser in diesem Zeitraum starb und den wichtigsten Literaturpreis der Bundesrepublik Deutschland verspätet und deshalb posthum erhielt, erklärt keineswegs dieses wohl seit Jahrzehnten einzigartige Echo eines Werkes der Gegenwartsliteratur in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft." 55 Angesichts dieser Umstände schien es unbegreiflich, daß Peter Weiss' Roman irrelevant für die Friedensproblematik sein sollte. Und es drängt sich die Frage auf, ob nicht vielleicht unsere Vorstellungen darüber, was von einem Schriftsteller bzw. von einem Roman als Beitrag zur Friedenssicherung zu erwarten sei, einer Präzisierung bedürfen. Selbstverständlich finden wir im Roman wie auch in den Notizbüchern 1971—1980 explizite Verurteilungen des Krieges wie auch eindringliche Appelle zur Wahrung des Friedens. Vom „Wahn des Kriegs" (I, 258) ist in der Ästhetik des Widerstands nicht nur gesprächsweise die Rede, vielmehr wird der Leser mit seinen Folgen in ein95

dringlichen und anklagenden Schilderungen konfrontiert. Und auch der Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945 wird tiefschürfend historisch analysiert und parteilich gewertet: „Noch würden die Arbeitersoldaten des Westens nicht gegen die sowjetischen Soldaten geschickt werden, die, wie sie, den Krieg zur Befreiung Europas geführt hatten. Noch würden sie an der neugezogenen Grenzlinie stehn, wartend auf den Befehl. Vorläufig genügte der gewaltige Knall. Es tat nichts, daß dabei Hunderttausende von Gelben, die schon besiegt waren, im Bruchteil einer Sekunde ausgelöscht wurden, denn diese Detonation war als Warnung gemeint an den ausgebluteten Giganten im Osten, daß er wisse, mit wem er es zu tun habe, sollte es ihm einfallen, sich über die ihm zugemeßnen Einflußgebiete ausstrecken zu wollen. Mit diesem neuen Urknall errichteten die Vereinigten Staaten von Amerika ihr Weltreich. Unendliche Entbehrungen würde es den Sozialismus kosten, den militärischen Vorsprung des Kapitals einzuholen. Obwohl er den Frieden benötigte, um die lange Zeit der Leiden zu überwinden, würde er doch daran gehn müssen, seine Anstrengungen auf die Hervorbringung der gleichen, irrsinnigen Explosionen zu richten." (III, 273) — „Daß Schwerindustrie und Hochfinanz mitverantwortlich waren für Nazismus und Krieg" (N II, 687), muß Peter Weiss nicht erklärt werden; daß der Roman allerdings fertig war, als die Friedensbewegung der achtziger Jahre ihren Anfang nahm, sollte auch nicht übersehen werden. Die Ästhetik des Widerstands, geschrieben zwischen 1971 und 1980, ist in dieser Hinsicht ein Werk des Übergangs: von der politischen Bewegung der sechziger Jahre, die ihren Höhepunkt und Abschluß im Jahre 1968 fand, zur Friedensbewegung, die zu Beginn der achtziger Jahre in Westeuropa entstanden war und ihren Aufschwung aus dem Protest gegen die Verwirklichung des Brüsseler NATO-Beschlusses über die Stationierung neuer strategischer USA-Mittelstreckenraketen in Westeuropa empfing, des sog. NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979, sowie der von den USA verfolgten Strategie eines Atomkrieges auf dem europäischen Kontinent. Der Roman, der die Friedensbewegung noch nicht reflektiert, 56 ist gegen das Abflauen des linken Prozesses geschrieben worden : gegen eine politische Lethargie der Linken ebenso wiegegen die Verinnerlichung von Kunst und Literatur. Neben dieser generellen Tendenz der Politisierung, von der selbstverständlich auch die Friedensbewegung profitiert, weist der Roman Peter Weiss' noch zwei besondere Momente auf, die als unmittelbarer 96

und spezifischer Beitrag der Literatur zur Sicherung des Friedens verstanden werden müssen. Es geht hierbei erstens um die Beschreibungswut und Detailbesessenheit Peter Weiss', für die Alfred Andersch in seiner Besprechung des Romans Motive entdeckt hat, die Peter Weiss' grundpositives bejahendes Wirklichkeitsverhältnis bloßlegen: Die Sprache des Buches selbst „enthüllt die wahre, die erotische Natur dessen, der es schreibt. Sie ist so stark, sie durchdringt es mit so intensivem Leben, daß ihr allein es gelingt, den Essay zum Roman zu machen." 57 Und — so möchten wir hinzufügen — es gelingt ihr ebenfalls, das Bekenntnis zum Frieden in Haltungen für den Frieden umzusetzen: als Lust am Leben und als Ermutigung dazu. Hinter alledem steht Peter Weiss' in der Ästhetik des Widerstands vorgetragenes und praktiziertes Konzept von der „Wahrnehmung des am Leben Seins". Darüber führt der Ich-Erzähler folgendes aus: „Ein besondrer Sinn ließ sich nicht darin sehn, daß mein Gehirn jeden Grashalm, jedes Blatt am Efeuspalier des Stücks Garten in sich aufgenommen hatte, es sei denn, daß sich die Intensität der Wahrnehmung des am Leben Seins in der Leuchtkraft des Bilds äußerte . . ." (III, 154) Zweitens geht es darum, daß das von Peter Weiss entwickelte und verfochtene Konzept der Volksfront als Modell und Angebot für die gegenwärtige Friedensbewegung verstanden werden kann. Die Ästhetik des Widerstands schlägt einen Bogen vom heroischen, aber vergeblichen Kampf der kommunistischen und Arbeiterparteien und ihrer Verbündeten zur Abwehr des Faschismus zu den Aufgaben der internationalen Friedensbewegung zur Abwendung der Gefahr des Untergangs der Menschheit in einer atomaren Katastrophe. Peter Weiss vermittelt in seinem Roman Erfahrungen des antifaschistischen Widerstands, in dessen Zentrum kommunistische Arbeiter und Intellektuelle standen, die Erfahrungen der Chancen und des Scheiterns der deutschen Volksfront, an die Kräfte des Friedens heute. Dabei geht es zum einen um die besondere historische Verantwortung der Arbeiterklasse für die Einigung und Mobilisierung aller progressiven gesellschaftlichen Kräfte zur Lösung der Hauptaufgabe, vor denen die Menschheit jeweils steht (Ausbeutung, Faschismus, Untergang). Hier setzt Peter Weiss auf das „Aufkommen proletarischer Vernunft", zu der die „tragenden Kräfte der beiden großen Parteien" (I, 33) fähig seien: „Die sozialdemokratisch-kommunistische Front/Das Vernunftbündnis/Als 1933 die deutsche Arbeiterbewegung zerschlagen worden war, und Sozialdemokraten wie 7

K r e n z l i n , P. W e i s s

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Kommunisten die schrecklichen Folgen ihrer Fehleinschätzung des Faschismus zu tragen hatten, begannen die besten unter ihnen, den Weg zu einer neuen Einheit zu suchen." ( N i l , 654) — Zum anderen, und von ersterem nicht zu trennen, verdient die Tatsache 'Anerkennung, daß es gerade die kommunistischen und Arbeiterparteien, also die Linken sind, die in unserem Jahrhundert über die meisten Erfahrungen — im Guten wie im Schlechten — in Sachen Volksfront und Bündnispolitik verfügen. Die Erschließung und Auswertung dieses Erbes, wozu Die Ästhetik des Widerstands einen entscheidenden Beitrag geleistet hat, ist für die gegenwärtige Friedensbewegung von existentieller Bedeutung. Für Oskar Neumann, den antifaschistischen Widerstandskämpfer und prominenten Kommunisten der BRD, versteht sich das von selbst. Gefragt, was seine und seiner sozialdemokratischen Mitkämpfer „Widerstandserfahrungen von damals nun hergeben für den aktuellen Widerstand gegen diese heute wieder treibenden Kräfte der Weltraumrüstung, Raketenstationierung und Rechtswende in der Bundesrepublik", verweist er auf die „Praxis der Volksfront": „. . . als einer Bewegung ohne Alleinvertretungsanspruch der einen Gruppe und ohne Ausgrenzung von anderen, in der ich als junger Naturwissenschaftler, zunächst noch durchaus kenntnislos in Sachen Paris 1935, VII. Weltkongreß oder Brüsseler Konferenz, unter der Anleitung proletarischer Kampfgefährten im Land Widerstandsarbeit gelernt habe." 58 Peter Weiss' Konzept „proletarischer Vernunft", das sich an der Einheit der Arbeiterklasse, am „Vernunftsbündnis" von Kommunisten und Sozialdemokraten, zu beweisen hat — als Fundament der in einer Volksfront vereinigten Arbeiter, Wissenschaftler und Künstler —, weist verschiedene Merkmale auf, z. B. die scharfe Unterscheidung von „Führung" und „tragenden Kräften", von „oben" und „unten". Zwei Aspekte „proletarischer Vernunft", die für die Friedensproblematik von besonderer Bedeutung sind, seien hier hervorgehoben. Das sind erstens die Umgangsformen von Gleichgesinnten untereinander in puncto Differenzen, wie sie zwischen Ich-Erzähler und Vater praktiziert werden. Das Ziel ihrer Gespräche und Diskussionen ist stets Erkenntnis, nie Rechthaberei. Dazu gehören Offenheit, also Tabufreiheit; die Fähigkeit, dem anderen zuhören zu können, Probleme von Mißverständnissen zu unterscheiden und auszuräumen usw. Auf diese Weise wird eine Kultur des politischen Dialogs, der Diskussion entwickelt, die nicht nur Maßstäbe setzt, sondern im Hinblick auf die Heterogenität der Friedensbewegung 98

geradezu überlebenswichtig ist: „Das Ausfechten von Gegensätzen, Widersprüchen war es gewesen, was zum Gemeinsamen zwischen uns geführt hatte. Ablehnungen, Schwierigkeiten hatte es gegeben, und immer wieder das Bestreben, mit These und Antithese einen für beide gültigen Zustand zu erreichen. So wie Divergenzen, Konflikte neue Vorstellungen entstehen ließen, so entstand jede Handlung aus dem Zusammenprall von Antagonismen. Die Einsicht und Artikulation dieser Vorgänge machte das Zusammenleben, die gegenseitige Würdigung möglich." (I, 126) Das Konzept „proletarischer Vernunft" ist noch eines weiteren Moments wegen heute aktueller denn je. Von der „proletarischen Vernunft" nämlich nicht zu trennen ist die Dialektik; aber Dialektik nicht nur als gewußte, sondern — wie bereits obigem Zitat zu entnehmen — als gelebte, und das heißt: Zur „proletarischen Vernunft" gehört das Aushalten von Widersprüchen ebenso wie das energische Betreiben ihrer Lösung — ohne darüber zu resignieren. Im Gegenteil I So, wie nur der Chancen hat, politische Bündnisse produktiv zu machen, der bereit ist, sich auf das „Ausfechten von Gegensätzen, Widersprüchen" einzulassen, so wird auch nur der nicht resignieren, dem die Erfahrung individueller Selbständigkeit nicht verwehrt ist. Oder anders formuliert: der bereit und in der Lage ist, Eigenverantwortung zu übernehmen, selbst tätig zu werden. Am 11. 11. 1979 notiert Peter Weiss eine Maxime, in der er die Erfahrungen des Romans zusammenfaßt und für die Gegenwart aktualisiert: „Notwendig, alles zu tun, um der winzigen Chance einer Verständigung zu folgen — Volksfrontlinie — ablehnen die fatalistische, passiv machende Theorie, daß es zur Konfrontation kommen muß."(N II, 638) 59 Jost Hermand ist daher zuzustimmen, wenn er schreibt, daß genau dies der Aspekt sei, „der diesem Roman eine so große Wirkung beschieden hat. In ihm wird man nämlich aufgefordert, selbst nach Niederlagen und dem Auseinanderlaufen der Kämpfenden an dem ,Trotzalledem' des Widerstands festzuhalten und nicht einem hilflosen Defätismus anheimzufallen." Im Gegenzug dazu „hält Peter Weiss hier an einer ,Volksfrontlinie' fest, die in vielem den progressiven Konzepten der gegenwärtigen Alternativ- und Friedensbewegung entspricht . . ." 60



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Ursula Heukenkamp

Angelus novus oder der Erzähler in der Ästhetik des Widerstands

I. Peter Weiss ist mehrfach nach dem Verhältnis zwischen dem Autot und dem Ich-Erzähler in seinem Roman Ästhetik des Widerstands gefragt worden. Er zögerte meist mit eindeutigen Auskünften, wohl weil das Wort von der „Wunschautobiographie", das er in einem Zeitungsinterview gebraucht hatte, den Umgang mit dem Roman in unerwünschter Weise zu steuern begann. 1 Der Ich-Erzähler und sein Gang durch das Zeitkontinuum des Geschehens konnten unter Bezug auf die Äußerung von Weiss als Korrektiv von dessen Lebensgeschichte unter einem proletarischen Vorzeichen aufgefaßt werden. Daraus folgen aber offenbar beträchtliche Unstimmigkeiten gegenüber dem ästhetischen Niveau des gesamten Romans. Die Gestalt des Ich-Erzählers mußte in das merkwürdige Licht geraten, einem sentimentalischen Wunschdenken zu entstammen, das ein Ideal von proletarischem Wesen gleichsam transzendiert. Außerdem war damit unausgesprochen unterstellt, daß der Autor diese Transformation seiner Lebensgeschichte in eine andere soziale Identität gleichsam halbbewußt vollzogen habe, unbewältigte Erfahrungen, gelegentlich ist von schlechtem Gewissen die Rede, auf sie ladend. Das Erklärungsmodell, das dabei zugrunde zu liegen scheint, erinnert an das des romantischen, von der Sehnsucht nach dem Anderssein getriebenen Dichters. In der Ästhetik des Widerstands handelt es sich aber um bewußte, sich ästhetisch formulierende Parteilichkeit. Es gibt viele Hinweise, daß Peter Weiss den Ich-Erzähler als eine grundsätzlich verschiedene, nämlich als eine Kunstfigur angelegt hat, um auf diese Weise das Fazit eigener Erfahrungen zum Vorschein zu bringen. 2 Die Ästhetik des Widerstands ist ein Roman. Der Bezug zwischen 100

Ursula Heukenkamp

Angelus novus oder der Erzähler in der Ästhetik des Widerstands

I. Peter Weiss ist mehrfach nach dem Verhältnis zwischen dem Autot und dem Ich-Erzähler in seinem Roman Ästhetik des Widerstands gefragt worden. Er zögerte meist mit eindeutigen Auskünften, wohl weil das Wort von der „Wunschautobiographie", das er in einem Zeitungsinterview gebraucht hatte, den Umgang mit dem Roman in unerwünschter Weise zu steuern begann. 1 Der Ich-Erzähler und sein Gang durch das Zeitkontinuum des Geschehens konnten unter Bezug auf die Äußerung von Weiss als Korrektiv von dessen Lebensgeschichte unter einem proletarischen Vorzeichen aufgefaßt werden. Daraus folgen aber offenbar beträchtliche Unstimmigkeiten gegenüber dem ästhetischen Niveau des gesamten Romans. Die Gestalt des Ich-Erzählers mußte in das merkwürdige Licht geraten, einem sentimentalischen Wunschdenken zu entstammen, das ein Ideal von proletarischem Wesen gleichsam transzendiert. Außerdem war damit unausgesprochen unterstellt, daß der Autor diese Transformation seiner Lebensgeschichte in eine andere soziale Identität gleichsam halbbewußt vollzogen habe, unbewältigte Erfahrungen, gelegentlich ist von schlechtem Gewissen die Rede, auf sie ladend. Das Erklärungsmodell, das dabei zugrunde zu liegen scheint, erinnert an das des romantischen, von der Sehnsucht nach dem Anderssein getriebenen Dichters. In der Ästhetik des Widerstands handelt es sich aber um bewußte, sich ästhetisch formulierende Parteilichkeit. Es gibt viele Hinweise, daß Peter Weiss den Ich-Erzähler als eine grundsätzlich verschiedene, nämlich als eine Kunstfigur angelegt hat, um auf diese Weise das Fazit eigener Erfahrungen zum Vorschein zu bringen. 2 Die Ästhetik des Widerstands ist ein Roman. Der Bezug zwischen 100

Realvorgängen und Darstellung ist damit als fiktiv qualifiziert. Die Verarbeitung von Biographien, belegten Sachverhalten und das Auftreten konkreter Personen als handelnde und behandelte widersprechen jedoch einem fiktiven Status des Geschehens. D i e Darstellung bewegt sich immer derart an der Grenze zwischen Fiktivem und Faktischem, daß daraus eine Spannung entsteht, die die Rezeption nachhaltig beeinflußt. D a s Darstellungsverfahren ist das Beschreiben und nicht das Erzählen; der Leser soll sich nicht von seiner Wirklichkeit suspendiert fühlen. 3 D a der Vorsatz, Zeitgeschichte zu dokumentieren, so offenkundig die Darstellung prägt, ja den Roman konstituiert, lag es auch von dieser Seite nahe, das Resultat an die Autobiographie heranzurücken. E s entspricht einem spontanen Leseeindruck, wenn man den Erzähler als dokumentierte Figur ansieht und ihn dadurch den übrigen Figuren und konkreten Personen angleicht. 4 Denn das Genre der Autobiographie steht traditionell zwischen D o k u m e n t und Fiktion. Aber der Realitätsbezug in traditionellen Genres, zu denen hier auch der Schlüsselroman zu zählen wäre, ist denn doch ein zu grobes Raster für dieses kühne und zugleich streng funktional geplante Konzept der Verarbeitung einer zumeist schlimmen Wirklichkeit in einem ästhetischen Raum, der die produktive Seite der Erfahrungen mit ihr heraustreibt. So wirkt das Ästhetische auf die K r a f t zurück, der Unterdrückung Widerstand zu leisten. Für das Zustandekommen des ästhetischen R a u m s ist die Verschiedenheit des Ich-Erzählers besonders von den historischen Personen des Romans unentbehrlich. Seine Funktion erweist sich als innerhalb des Romans liegend, und zwar in der Vermittlung zwischen den fiktiven Figuren und jenen konkreten Personen. Die notwendige Bedingung für die Funktion des Ich-Erzählers ist, wie hier gezeigt werden soll, daß der Autor mit ihm in allerdings genau bezeichneten Grenzen frei umgehen konnte. E r mußte den Ich-Erzähler, der eine Figur auf der Geschehnisebene des Romans ist, gleichzeitig d avon abheben können. E s war außerdem wohl nötig, ihm die schrecklich sten Erfahrungen, die Höllenwanderungen zu ersparen, so daß der Erzähler niemals der Realität völlig ausgesetzt oder von ihrem Dru ck überwältigt ist. So erhielt er den unabdingbaren Spielraum, um das Schicksal der ganzen Bewegungen im A u g e zu behalten, dem die einzelnen O p f e r und Leistungen eingefügt sind. Der Autor sorgte aber auch dafür, daß zwischen dem Ich-Erzähler und den V o r g ä n g e n und Menschen, über die zu berichten ist, dennoch nirgends jene

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Distanz entsteht, die Überlegenheit und Überschau in der Regel hervorbringen. Die Beziehung des Ich-Erzählers zur Realität liegt vor allem in den Befugnissen, mit denen der Autor diesen ausstattet. Über große Teile des Romans ist der Ich-Erzähler die Instanz der Darbietung des Geschehens und zugleich seiner Bewertung. Auf der Geschehensebene nimmt er als Figur praktisch am antifaschistischen Widerstand teil, dies sowohl durch Aktionen im Spanienkrieg als auch in der schwedischen Emigration. Dort ist er Pfleger in einem Lazarett, jedoch nicht an der Front; hier arbeitet er in der illegalen KPD-Leitung mit. Seine Anteilnahme ist aber ebenso die einer geistigen Haltung. Er ist von unbeirrbarer Parteilichkeit; alles, was der Bewegung geschieht, betrifft ihn tief. Weder Gleichmut noch ironische Distanz des auktorialen Erzählers, aber auch nicht die Absicht, eine Totalität der Gesellschaft abzubilden, können aus einem derartigen Fundus an Erfahrungen hervorgehen. Der Ich-Erzähler bezieht seine Perspektive aus der Einstellung und Erkenntnis der sozialen Lage, die ihm als Figur des Romans auf dessen Geschehensebene vom Autor zugewiesen ist. Diese Perspektive ist die der proletarischen Avantgarde, also einseitig, nämlich beschränkt auf die Seite des proletarischen und sozialistischen Widerstands in der Konfrontation der Klassen, die der R o man darstellt. Sie schließt nicht nur Verständnis für die anderen, die Angepaßten, Gleichgültigen, Übergelaufenen aus, sie schließt sogar diese selbst weitgehend aus der Darstellung aus. Die Anteilnahme des Ich-Erzählers an den großen Kämpfen und internationalen Klassenauseinandersetzungen von 1933 an begründet seine Wertungskompetenz und zugleich die Perspektive des Erzählens. Es handelt sich dabei jedoch um eine untergeordnete Teilnahme, die vorwiegend in den Formen von Reflexionen, Nachvollzug, Mittun und Hilfeleistung verläuft. Der Ich-Erzähler ist selten Akteur, als Figur auf der Geschehensebene zwar unbedingt bereit zur politischen Aktion, aber doch befreit von den äußersten Prüfungen, der direkten physischen Bedrohung, der nackten Angst vor dem Tod. E s gelingt ihm, dem Terror im faschistischen Deutschland zu entkommen, den Spanienkrieg und die Flucht nach Frankreich unverletzt zu überstehen. Er wird durch das den Antifaschisten feindliche Paris geschleust und kann in Schweden in der Illegalität arbeiten, ohne entdeckt zu werden. Diese offenbare Unangreifbarkeit des Ich-Erzählers ist nicht nur notwendig, um zu jener geistigen Bilanz des antifaschistischen Widerstands zu gelangen, welche den Roman ausmacht. 102

Sie ist auch als ein Element von Hoffnung gegen die Tatsachen auf der Ebene der realgeschichtlichen Ereignisse gestellt, welche den Niederlagen, den Verletzungen und dem Sterben der Kämpfenden viel Platz einzuräumen hat. Seine Unangreifbarkeit wirkt dennoch nicht so, als sei er privilegiert. Denn der Ich-Erzähler ist, obwohl Figur auf der Geschehensebene, eben doch von dieser durch sein Amt, die Welt erzählend zu begreifen, durch die Überzeugungskraft des ästhetischen Arguments abgehoben. Daß dieses Begreifen möglich sei, steht für den Ich-Erzähler bis fast zum Ende der erzählten Zeit außer Frage. Dies freilich nicht, weil die Welt klar und übersichtlich vor ihm zu liegen schiene. Vielmehr bedrängen ihn schon früh Zweifel an der Kapazität des menschlichen Bewußtseins. Dessen Vermögen, die Dimensionen der Macht und ihrer Ausbreitung zu fassen und jene unsichtbaren Fäden und Kanäle freizulegen, durch die sie ihre Absichten in die ganze Gesellschaft einfließen läßt und anscheinend mit dieser verwächst, erweist sich als unentwickelt. Aber jederzeit bleibt deutlich, daß es ein erkennbares Gesetz in den Kämpfen gibt, auch dann, wenn sie in jener gespenstischen Sphäre geführt werden müssen, vor welcher die Vernunft zurückschreckt. Zu den Gewißheiten des Ich-Erzählers gehört gleichfalls, daß der eigene Platz auf der Seite des Widerstands gegen die weltumfassende Herrschaft der Gewalt ist. So verfügt er zwar nicht über eine allwissende Überschau, d. h. über den Ablauf des Ganzen, hat jedoch die Aussicht, sich seines Zieles im weiteren Verlauf des Geschehens ständig zu vergewissem, und zwar durch Lernen ebenso wie durch Handeln. Auf der Ebene des Handlungsgeschehens ist der Ich-Erzähler eine suchende, sich ausbildende Figur. Dieses Heranwachsen und Bewußtwerden erinnert an die Hauptfigur des traditionellen Bildungsromans. Doch auch diese Ähnlichkeit bleibt undeutlich, weil die Urteilskompetenz des Ich-Erzählers im voraus feststeht. Sie liegt in der oben beschriebenen Gewißheit, die sich freilich ständig zu behaupten hat, und zwar gegen das Chaos der auf den Erzähler einstürmenden Wirklichkeit. Gestalt und Ungestalt liegen miteinander im Kampf: „ E s hieß ja lange, es sei diesen Dingen mit Worten nicht beizukommen. Diese Dinge waren ebenso unfaßbar, wie es für Dante damals die Abgründe der Hölle waren. Und dann kommen wir doch wieder dazu, daß gerade dieses scheinbar Unfaßbare beschrieben werden muß, so genau wie möglich." 5 Diese Absicht erhält im Ich-Erzähler Gestalt; sie ist sein ästhetisches Energiepotential. 103

Der erste Raum- und Zeitabschnitt des äußerlich abschnittlosen Romans endet mit dem Abend des 22. Septembers 1937, in der ausgeräumten Wohnung der Eltern in der Pflugstraße am Berliner Wedding. An diesem Abend gerät, bedingt durch die Trennung von den Freunden Heilmann und Coppi und die bevorstehende Flucht aus Deutschland, die bis dahin eindeutige Welt der Fakten für den Erzähler zum ersten Mal in das verwirrende Licht der Vieldeutigkeit. Beim Versuch, diesen Tag für die Erinnerung zu fixieren und ihn im Koordinatenfeld der politischen Ereignisse zu beschreiben, gerät sein Realitätssinn außer Kontrolle. Eine andere, unsichtbare Schicht wirklichen Geschehens fordert ihn zur Bewußtseins- und Kompetenzerweiterung heraus. Der Fußboden der Küche öffnet sich; der inzwischen im tschechischen Warnsdorf lebende Vater kommt unter den Dielen hervor. Sein Sohn in der Küche ist vor ihm ohne Sprache: „Zwischen solch ungeheuren Vereinfachungen lebten wir, während sich die Gedanken unaufhörlich in einer Überfülle bewegten . . . Die Tatsachen standen im Gegensatz zu unserer Auffassung, daß alle Vorgänge durchschaubar, erklärbar waren." (I, 90) Des Vaters Welt, dessen Entscheidungen und Haltungen sogar sind mit der von ihm vertretenen rationalen Weltsicht nicht mehr zu greifen. Daher sucht der Sohn nach Erweiterung seines Fassungs- und Ausdrucksvermögens. Fliegend verläßt der Ich-Erzähler das Zimmer, fliegend gewinnt er den Blick von oben auf das Quartier rings um den Stettiner Bahnhof. So lernt er, jene Gegebenheiten außer Kraft zu setzen, die das Denken in der Bahn des Wenn-Dann, der linearen Schlüsse und verfügbaren Register halten. Er öffnet sich für die Erfahrung der Simultaneität der Vorgänge. Im selben Augenblick dringt nun auch in sein Bewußtsein, daß Zeit eine „einzige unteilbare Kontinuität" sei (I, 90). Der Augenblick enthält nicht nur das gleichzeitig Geschehene, sondern umschließt die Folgen des Gewesenen und Anzeichen des Kommenden. Der Ich-Erzähler muß sich selbst, das Gehäuse seiner bisherigen geistigen Welt, die Bahnen des traditionell klaren und geraden Denkens verlassen, um nicht überwältigt und zerstört zu werden durch Prozesse außer jeder Vernunft. Später wird der Ich-Erzähler mehrfach zu überdenken haben, ob die Menschlichkeit des gemeinsamen Vorstellungsvermögens den Widerstand nicht insofern geschwächt habe, als man nicht in der Lage gewesen sei, die keinesfalls verheimlichten brutalen Absichten des deutschen Faschismus als eine mögliche, geplante und damit künftige Realität in die eigene Vorstellung aufzunehmen (II, 121). 104

Der Ich-Erzähler muß jedoch seine Grenzen nicht nur überschreiten, um die Logik der Inhumanität immerhin begreifen zu können, da sie auf schreckliche Weise in Gestalt von Völkermord und Terror Wirklichkeit geworden ist. In der Küche am Wedding, vor seinem Aufbruch zu neuen Fronten des tätigen Widerstands hat er sich noch einer anderen Selbstbefragung auszusetzen. Sie betrifft die ihm aufliegende Identität und den Zweifel, ob seine Parteilichkeit, das gleichsam väterliche Weltbild, ihm nur durch die sozialen Gegebenheiten seiner Kindheit und durch die Gewohnheit ans Vorgefundene zugewachsen ist oder ob er in der Lage sein wird, das „Ererbte" für sich erneut zu wählen. Es ist das die Frage nach der Zuverlässigkeit der eigenen Erkenntnis und nach dem Grunde des Vertrauens zu sich selbst. Der Ich-Erzähler wird an dieser Stelle von der Rivalität aller Einsichten und Vorgänge regelrecht überwältigt: „daß das Eindeutige und Gegenständliche umgeben war von einem Gewühl, von einem Lauern und Würgen, und unmittelbar darunter war von Namen und Bezeichnungen nur noch ein Lallen zu finden." (I, 93) Die Entgrenzung kommt einem zeitweiligen Selbstverlust des Erzählers gleich. Sie wirkt als Hexenküche und Katharsis in einem. Er muß durch diesen Zweifel an seinen Gewißheiten hindurch und hat den Stimmen und Zeichen Raum zu geben, die aus der der Vernunft abgewandten Seite der Realität zu ihm dringen. Das heißt auch, daß er als Erzähler aus der traditionellen Welt des realistischen Erzählens des 19. Jahrhunderts ausbrechen muß. Aus dieser ersten Feuerprobe geht der Erzähler heil hervor. Ihm wachsen Flügel, und der Durchbruch zu einer vierten Dimension, wie sie etwa Christa Wolf in Lesen und Schreiben einfordert, 6 gelingt ihm. Nach dem Rundflug über die fremde, bekannte Stadt müssen die Gewißheiten neu erfaßt werden. Aber sie erweisen sich auch danach als beständig. In der phantastischen Dimension, in welcher die Blockade zum Unbewußten aufgehoben und die Bindung an das lineare Raum- und Zeitkontinuum außer Kraft gesetzt ist, bleibt das Verhältnis von Zugehörigkeit und Gegnerschaft, bleiben die Moralität und Stellung auf der immer schon eingenommenen Seite der geschichtlichen Bewegung eindeutig und fest. Ernsthafte Verunsicherungen der Kompetenz des Ich-Erzählers treten erst wieder gegen Ende des Romans zur Zeit der nahen Niederlage des Faschismus in Deutschland auf. Im Bericht über den Spätherbst des Jahres 1944 findet sich zum Beispiel der folgende Satz: „Da schon im Spätherbst nicht mehr gesagt werden 105

konnte, daß die Alliierten ein gemeinsames Ziel verband, mußte Hodann, mit seiner Neigung zu einer Lösung nach britischamerikanischen Interessen, in den Augen derer, die einen Staat wollten, in dem der Faschismus beseitigt und der Sozialismus aufgebaut werden würde, als Verteidiger eines Deutschlands erscheinen, in dem die faschistische Vergangenheit sich übertünchen ließe und die Eigentumsverhältnisse unberührt blieben." (III, 266) Der Point of view ist hier schwer auszumachen. Referiert werden diejenigen Gesichtspunkte, welche die Einstellung der deutschen Kommunisten im schwedischen Exil gegenüber Hodann, dem Arzt, Antifaschisten und Freund des Ich-Erzählers, bedingen. Der Ort des Satzes im Erzählablauf ergibt jedoch, daß die referierte Auffassung Hodanns Motiven nicht gerecht wird. Aber der Erzähler, obwohl bei ihm ein anderes Urteil über die Absichten seines Freundes und Mentors vorausgesetzt werden muß, tadelt und korrigiert nicht, was er zu berichten und zu beschreiben hat. Unterschiede der Auffassungen bleiben zwar ohne Vermittlung zusammenstehen. Sie werden aber vor dem Hintergrund des objektiven Prozesses gesetzt, der mit dem Zerfall der Anti-Hitler-Koalition im Zeichen des sich wiederbelebenden Antikommunismus abläuft. Dieser Prozeß macht aus den gegensätzlichen Auffassungen über die Gestaltung Deutschlands nach dem Sieg, also über die Ergebnisse des Kampfes, Konflikte zwischen den Bündnispartnern. Der Gebrauch des Verbs „mußte" betont an dieser Stelle, daß die Situation zu zeigen ist, welche die Verständigung erschwerte oder unmöglich machte, und nur dies. Der Erzähler unterläßt Schuldzuweisungen, weil sie der Erkenntnis dieser Situation hinderlich wären und die Leistungen aller Kampfgefährten herabmindern könnten. Aber er sieht sich hier nun auch darauf beschränkt, das Wirken von Zwängen darzustellen, das von den Handelnden selbst nicht aufgehoben werden kann. Im dritten Band der Ästhetik des Widerstands mehren sich die Situationen, in denen die Freiheit des Ich-Erzählers, sich als wertendes Subjekt gegenüber der Geschichte zu verhalten, nicht aufrechterhalten werden kann. Solche Irritationen treten dort auf, wo der Spielraum für das geschichtliche Handeln in die Perspektive der Nachkriegszeit hinein verlängert werden muß. In dieser Perspektive ergibt sich für den Ich-Erzähler kein Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten mehr. Der Roman wird mit jener umfänglichen Konjunktiv-Sequenz abgeschlossen, die die nach dem Krieg eintretende Konfrontation zwi106

sehen den beiden Weltsystemen und eine weitere Steigerung imperialistischer Herrschaft durch strukturelle Gewalt vorhersagt. In dieser großen Konjunktiv-Passage sieht der Erzähler voraus, was der Autor als bitteres Fazit der Jahre zwischen Sieg über den Faschismus und Schreibzeit des Romans abzurechnen hat. Hier stellt sich Geschichte zunächst als so unabänderlich über das Wollen der Individuen hinweggehend dar wie nirgends sonst in dem Roman. Diese Tendenz ihrer Mitteilung ändert sich jedoch mitten in der Sequenz der Konjunktivsätze. Der Erzähler spricht dann doch von Hoffnung, die auch in der Zukunft, welche aber von der Schreibzeit des Romans her Vergangenheit ist, vor der Fatalität der Verläufe nicht zurückweichen dürfe. Die Rede besinnt sich auf die nie erlahmende Gegenwehr und den Platz, den der Ich-Erzähler nun entschieden als Künstler aufs neue für sich ausmachen müsse, aber finden werde. Von seiner Arbeit soll es abhängen, daß das bittere Fazit nicht zutrifft. Er hat auf dem Sinn des Widerstands zu bestehen, damit dessen Opfer nicht vergeblich gewesen seien und die Toten nicht ein zweites Mal durch das Verschweigen oder Entstellen ihres Teils der Geschichte getötet werden. Denn die Geschichte so anzunehmen, wie die Herrschenden sie machen und deuten, hieße die zugedachte Rolle des Objekts zu akzeptieren. Hoffnung ist danach selbst Widerstand; Utopie würde, wie es im Roman heißt, „notwendig sein" (III, 274). Im Roman wird mehrfach darüber nachgedacht, wie die Erfahrungen und Leistungen des Widerstandes angemessen weitergegeben werden können. Dabei handelt es sich auch für den Ich-Erzähler nicht um bloße Kunst-Reflexion. Vielmehr bestimmt sich aus der Sicht des Erzählers und auch des Autors das Resultat schließlich im Aufdecken des Sinns, im Akt seiner Aneignung für die Überlebenden und Nachkommenden. Nicht das Ziel, das sich mit Worten aus Brechts Elegie A.n die Nachgeborenen als deutlich sichtbar, wenn auch in großer Ferne 7 beschreiben ließe, bildet das Maß, an dem der Ich-Erzähler die geschichtliche Bedeutung des Widerstands zu messen hat. Der Inhalt des Kampfes legitimiert sich vor allem durch das, wozu er die Kämpfer befähigt. Ihre Selbstbehauptung als Subjekte der Geschichte ist praktische Emanzipation des Menschen aus Verhältnissen, die ihn erniedrigen, beleidigen und entwürdigen. Die Kämpfer des Widerstands sind daher nicht dadurch widerlegt, daß sie der Macht unterlagen. Erst dann würde ihr Handeln als geschichtliches folgenlos werden, wenn es gelänge, die Alternative vergessen 107

zu machen, die sie aufgestellt haben. Erzähler und Autor setzten auf die Aneignung des geschichtlichen Augenblicks, die dort gelingt, wo Menschen im Widerstand sich den Handlungskonzepten derer entgegensetzen, welche andernfalls die Geschichte nach ihren Absichten und ihren Strategien zu lenken gedenken. „Die Herrschenden selbst glauben an keine objektive Notwendigkeit... Nur die Beherrschten nehmen die Entwicklung, die sie mit jeder dekretierten Steigerung der Lebenshaltung um einen Grad ohnmächtiger macht, als unantastbar notwendig hin." 8 Dieser Kritik Adornos an einer vorausgesetzten Unbeeinflußbarkeit der Geschichte steht Peter Weiss nahe. Doch zieht er daraus die Folgerung, daß die wirkliche Emanzipation ans politische Handeln im Raum der Gegenwart gebunden werden müsse. Die Freiheit des Erzählers ist für die Übermittlung dieser Bedeutung des Widerstandes unerläßlich. Sie besteht in seiner Offenheit für alle Alternativen zu einem Dasein in Abhängigkeit und Unterwerfung. Es müssen jedoch praktische Alternativen sein, die wirklich gelebt werden. Der antifaschistische Widerstand, wie ihn Peter Weiss aus der Perspektive seines Ich-Erzählers beschreiben läßt, ist der historische Ort solcher Alternativen gewesen. Der düstere Ausblick auf die Zeit nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, welcher größtenteils in der Konjunktiv-Passage des Romanschlusses vorherrscht, drückt Furcht vor dem eintretenden Verlust an Handlungsmöglichkeiten in der Nachkriegswelt aus. Die Sachverhalte, die zu dieser Einschätzung führen, entspringen der politischen Erfahrung von Peter Weiss. Sie heißen — in Stichworten benannt — atomare Bedrohung, heißen auch Wohlstand und Entpolitisierung der Massen in den Industrieländern und zunehmende Verelendung der Menschen in der dritten Welt. So global gesehen beschreibt sich das Fortschreiten der menschlichen Emanzipation in den letzten vierzig Jahren in der Tat als mühsamer Prozeß, in dessen Verlauf jeder Gewinn schwer erkämpft sein wollte und jeder Verlust denkbar größte Gefahr für den Bestand des Ganzen nach sich zieht.

II. Die Bedeutung der Kunst für den Roman entsteht aus den ihr zugesprochenen Möglichkeiten, solche Alternativen zu einer machtbestimmten Geschichte hervorzubringen und weiterzureichen. Kunst vermag außerdem produktive Unterstützung für die Erkenntnis 108

sinngebender Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln. D a s unter anderem leistet sie für den Ich-Erzähler; es ereignet sich vor dem Pergamonaltar, wo die Freunde den leeren Platz im Fries unter der Löwenpranke als einen solchen Raum für ihre geistige Aktivität entdecken; ebenso aber unterstützt Kunst den Spanienflüchtling in Paris, durch sie faßt er Fuß in dieser ihm feindlichen Stadt, die ihn dennoch für die kurze Zeit seines Aufenthaltes in Berührung mit einem der Zentren der revolutionären Bewegung bringt. Der Ich-Erzähler ist wiederum selbst zum Produzenten von geschichtlichem Selbstbewußtsein bestimmt, und zwar als Kunstfigur. Soweit er auf der Handlungsebene des Romans agiert, unterscheidet er sich von anderen Figuren dadurch, daß nicht Unbewußtes, Unentschiedenes, Fremdbestimmtes in seinen Handlungen, Reden und Urteilen zutage tritt. Der Autor entwirft mit dieser Figur ein Bewußtsein, das die Welt ständig mit dem Ziele verarbeitet, bei seinen eigenen Inhalten anzukommen. Die A u f g a b e dieses Ich als Erzähler, aber auch als agierende Figur gegenüber allem Wirklichen besteht darin, es anzueignen, 9 zu durchdringen und nicht auf sich beruhen zu lassen. Wie die höchste Bewußtheit, auf die der Erzähler immer hinarbeitet, sich selbst keine Vorurteile gestattet, so läßt sie auch keine jener Reaktionen zu, die von schwer durchschaubaren Antipathien oder Vorlieben bestimmt sind. V o n den Folgen solcher Auswirkungen unkontrollierten Verhaltens, das jedem der Gefährten im schwedischen Exil zuzeiten unterläuft, hat der Ich-Erzähler zu berichten. E r tut auch das mit Verständnis. Bei ihm selbst jedoch bleibt nichts im Dunkel des Halbbewußten, Unverarbeiteten oder Verdrängten. So verfügt er über ein Maß an Übereinstimmung von Einsicht und Verhalten, das selbst Enttäuschungen und Rückschläge zu bewältigen erlaubt, ohne daß die Klarsicht des Erzählens gefährdet würde. Peter Weiss versieht den Ich-Erzähler mit einer eigentümlichen Reinheit, die ihn zum Medium einer moralischen Gerechtigkeit prädestiniert. Sein Bericht wirft keine Schatten auf die, über die er zu berichten hat. Der Ich-Erzähler ist auch als Figur auf der Handlungsebene frei von allen selbstsicheren Interessen; die trüben E m o tionen und unberechenbaren Entscheidungen, die aus Ehrgeiz, Angst und Berechnung hervorgehen, sind ihm fremd. Seine Gerechtigkeit setzt ihn aber nicht zum Richter über die Gefährten des Widerstands. Vielmehr erscheint er als sehr sanft und von fast unbegrenztem Verständnis für die Widersprüche, in denen die anderen sich 109

zurechtfinden müssen. Eine wiederkehrende Konstellation des Romans zeigt den Ich-Erzähler als Begleiter anderer. Er läuft neben ihnen her, hört ihnen zu, fragt auch nach ihren Angelegenheiten, ihrer Vorgeschichte; er nimmt auch ihre Begründungen und Selbstentschuldigungen, die Erklärung ihrer Positionen, ihre gerechten und ungerechten Vorwürfe, die Mitteilungen über ihre Schmerzen und Skrupel entgegen. So tritt er oft hinter der Beschreibung von Meinungen anderer, besonders historischer Personen, zurück. Er verkehrt mit Brecht und Hodann, wohnt den Debatten zwischen Coppi und Heilmann über proletarische Kultur bei, muß die Gefährdung der Schriftstellerin Boye mit ansehen und kennt die hartnäckige Arbeit der Leitungsgruppe der KPD in Stockholm bis ins Detail. Da er mit authentischen Gestalten umgeht, wirken die Begegnungen und Gespräche, von denen er zu berichten hat, durchaus nicht fiktiv. Sie sind wie der gesamte Entwicklungsgang des Ich-Erzählers mit Erfahrungen besetzt, die auf genauer Kenntnis der historischen Sachverhalte beruhen. Aus den Tagebüchern ist zu ersehen, daß Peter Weiss ausgiebige Forschungen angestellt hat. So konnte dem IchErzähler ein Werdegang auf der Geschehensebene des Romans zugewiesen werden, der zwar keine Wiedergabe eines wirklichen ist, der jedoch möglich im Sinne zu erlangender Erfahrungen ist. Der Erzähler wird dadurch zu einer hypothetischen Gestalt gemacht. Ihr Status widerspricht dem Fiktiven insofern, als kein Zug beliebig erfunden werden durfte. Dafür mußte das empirische Material möglicher Erfahrungen zu einer idealischen Gestalt verarbeitet werden. Der Ich-Erzähler ist vertraut mit den geschichtlichen Vorgängen, die er übermittelt. Dieses namenlose Ich kann folglich nicht als naiver oder unwissender Erzähler angesehen werden. Dennoch lassen ihn sein unerschöpfliches Mitgefühl und die grenzenlose Aufnahmebereitschaft für die Erfahrungen anderer ein wenig fremd unter den Menschen und Umständen erscheinen. Der ständige Begleiter, Geselle und Bote gleicht einem Engel. Diese Assoziation ist aus verschiedenen Quellen gespeist. Der Erzähler erinnert an einen Schutzengel, freilich ohne die schützen zu können, deren Untergang er mit ansieht. Man denkt auch an den Engel des Tobias, der diesen unerkannt als Reisegefährte begleitet, aber auch an den schwebenden Engel Barlachs vom Güstrower Antikriegs-Ehrenmal. Vor allem aber stellt sich das Bild des Engels der Geschichte ein, der bei Walter Benjamin zu einer Allegorie der Verschlungenheit von Geist und Sinn der 110

Geschichte, von objektivem Prozeß und Deutungsarbeit geschichtlicher Subjektivität wird: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken, das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst." 10 Peter Weiss braucht diesen engelhaften Erzähler auch als Instanz jener fast übermenschlichen Moralität, welche man als äußerste Anstrengung zur historischen Gerechtigkeit beschreiben könnte und die den unerhörten Leistungen des Widerstandes angemessen sein kann. Überlegungen, daß sich solche Haltungen, wie der Widerstand sie fordere und hervorbringe, nicht im Felde einer Moral entfalten könnten, das durch überlieferte, patriarchalische Grundsätze abgesteckt ist, bleiben anderen Figuren im Roman überlassen. Der Ich-Erzähler reflektiert kaum moralische Probleme. Aber er praktiziert erzählend und wertend seine „freie, von Vorurteilen unbestochene Liebe". Diese Moralität ist der Kern seiner Kompetenz. Sie ist eine praktische Folgerung aus den Widersprüchen und Auseinandersetzungen, die die Aktionseinheit der Arbeiterklasse verzögerten, so daß diese der Machtergreifung des Faschismus den ungeteilten Widerstand nicht entgegenzusetzen vermochte. Der Ich-Erzähler bildet die notwendige Einsicht in die Gemeinsamkeit von Zielen und Interessen der Klasse in praktisches, allerdings individuelles Verhalten um. Er nimmt die Einheit des Proletariats in seinem Urteil über die geschichtlichen Vorgänge und ihre Repräsentanten vorweg und geht von ihrer Möglichkeit auch dort aus, wo sie tatsächlich nicht bestanden hat. So erzählt der Autor Peter Weiss die Geschichte des sozialistischen Widerstands als eine einheitliche, denn auch aus dem Rückblick des Autors ist diese Einheit eine seiner wichtigsten inneren Bedingungen. Die Moralität des Ich-Erzählers hat außer dieser praktisch politischen Seite auch eine weitreichende weltanschauliche. Sie entstammt jener Haltung mitmenschlicher Solidarität, die bei Brecht „Freundlichkeit" heißt. Peter Weiss bringt den Erzähler in die Lage, freundlich sein zu können, und zwar innerhalb der Gemeinschaft, die der Widerstand bildet. Es wird weit ausgeholt, das als Programm und als einen Vorgriff erkennbar werden zu lassen, damit Moralität nicht als kraftloser Imperativ vor einer, um sie unbekümmert ihre moralischen Praktiken fortsetzenden Wirklichkeit stehenbleibt. Der Ich-

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Erzähler schöpft sein moralisches Maß aus dem Bewußtsein einer kulturellen Identität, die der bürgerlichen, herrschenden strikt abgesagt hat. Von den Kunstgesprächen vor dem Pergamonaltar in der faschistischen Reichshauptstadt an wird die Aneignung der gesamten Kultur unter den Aspekten einer proletarischen Kulturrevolutionvollzogen. Sie betrifft nicht nur das Verhältnis zur Kunst, obwohl der Autor dort beginnt, ihre Umrisse zu entwerfen. In den Gesprächen vor dem Altar und in der Küche mit dem grünen Linoleum und den nassen Fußspuren vergewissern sich Heilmann, Coppi und der Erzähler ihrer eigenen kulturellen Bedürfnisse und der Methode der parteilichen Aneignung der künstlerischen Überlieferung, durch welche diese selbst umgeformt wird. Daß sie dabei die Botschaften des Altars verändern, ihm, der den Triumph der Herrschenden feiert, einen Gebrauch abringen, der dieser Tendenz gerade zuwiderläuft, stärkt ihre Widerstandskraft inmitten Berlins im Jahre 1937, w o die Gewaltherrschaft ebenfalls triumphiert. Die geistige Freiheit und das Niveau ihrer Kenntnisse, die in dem Entwurf einer proletarischen Gegenkultur zutage treten, müssen jedoch wirklich als Vorgriff angesehen werden. D a s zeigt sich spätestens dann, wenn Charlotte Bischoff, wiederum in Berlin als Illegale lebend, überlegt, daß ihr die proletarische Kulturbewegung vor 1933 nicht in vollem Maße zugänglich war. A m meisten habe sie daran teilgehabt, sobald es sonntags mit dem Rad ins Freie ging. D e m ist hinzuzufügen, daß Brecht, als er die Lieder zum Film „ K u h l e W a m p e " schrieb, diesen für Bischoff zugänglichen Teil als kleinbürgerlich und ablenkend von den eigentlichen Aufgaben angesehen hat. 1 1 Beide Stellungnahmen, die der stillen Botin des Widerstands im Roman und die zeitgenössische des Dichters, der zur Avantgarde gehört, unterstreichen, daß das Selbsterlebnis des proletarischen Ich-Erzählers vor dem Pergamonaltar ungemein viel an analytischer und ästhetischer Schulung voraussetzt. D a s aber bedeutet, daß dieser Teil der Bewegung doch vorwiegend von Intellektuellen vorangetragen werden mußte. Dadurch ändert sich nichts an dem engen Zusammenhang zwischen Widerstandskraft und kultureller Emanzipation, der den ganzen Roman hindurch gegenwärtig ist. Die Antizipation einer proletarischen Kulturrevolution durch Coppi, Heilmann und den IchErzähler geschieht für alle anderen. Und Charlotte Bischoff tritt im letzten Kunstgespräch mit Heilmann und Coppi in der Berliner Marienkirche, kurz bevor ihre Widerstandsgruppe enttarnt wird, 112

an die Stelle des Erzählers, teilnehmend, zuhörend und erwägend. Nicht nur dadurch ist das Zeichen gesetzt, daß die drei nicht als Sinnbild einer Elite zu verstehen sind. Auch die Richtung ihrer Gedanken widerspricht dem. Denn sie haben der Gegenwart der faschistischen Aufmärsche vor dem Museum und zugleich der affirmativen Strategie des Frieses entgegenzuarbeiten, um zu sehen, daß die Unterliegenden, in den Boden Gestampften und Vernichteten die Bedingungen für die Existenz der Werke geschaffen haben, auf denen sie höchstens im Zustande ihrer Unterwerfung vorkommen. Es ist dieser Widerspruch in der Kultur jeder arbeitsteiligen, auf Unterdrückung beruhenden Gesellschaft, aus welchem der Ich-Erzähler fortan in der gesamten kulturellen Überlieferung Hoffnung ziehen wird. Ihn bedenkt er, wenn er in Fortführung des Gesprächs mit den Freunden sein bisheriges Wissen gleichsam umwälzt und etwa die Erfindung von Geometrie und Astronomie im alten Ägypten, den freien Blick des Denkers in die Runde und zum Horizont auf die gebeugten Rücken der Ruderer, Bauern und Unfreien zurückführt. Seine historische Gerechtigkeit wird eingeübt, wenn er nach den versunkenen Spuren jener anderen sucht, welche die Kultur getragen haben, aber von ihrem Genuß ausgeschlossen wurden. Peter Weiss stellt die Ausbildung des Ich-Erzählers unter den Einfluß der Denktradition, die, von Brecht, Benjamin, aber auch von Adorno kommend, die überlieferte Kultur mit dem Siegel der Unterdrückung behaftet sieht. Funktion und Aneignung von Kunst werden hier in wesentlichen Punkten anders bestimmt als etwa bei Georg Lukäcs, dessen Kunstbegriff im Kulturprozeß der ersten Jahre der DDR wesentlich stärker und prägender gewirkt hat. Indem der Ich-Erzähler sich das Bewußtsein seiner kulturellen Identität erwirbt, jene Haltung also zum Überlieferten, die das Werk als Träger eines Widerspruchs aufnimmt, hat er eine Art archimedischen Punkt seiner Weltaneignung gefunden. Von diesem aus kann er das Sosein der herrschenden Kultur als scheinbar erkennen, die Einheit von sozialer Repräsentation und Wahrheit des geschlossenen Kunstwerks auseinanderbrechen und die jeweilige Gegenwahrheit finden. Damit vermag er das „Element der Klassenlosigkeit" in den Kunstwerken anzuzeigen. (I, 86) Wiederum nimmt der Ich-Erzähler Fähigkeiten vorweg, die die Perspektive der Aneignung der Kultur durch das Proletariat bezeichnen, nicht aber das Stadium seiner Gegenwart. Er kann den Prozeß geistig durchdringen, dessen Objekte die arbeitenden Menschen in der Klassengesellschaft sind. Auf diese 8

K r e n z l i n , P. W e i s s

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Weise entgeht er allen asketischen, unfreien und einseitigen Haltungen zur herrschenden Kultur, welche allen tatsächlichen Gegenkulturen, auch der proletarischen, am Anfang zu eigen sind. Die drei Freunde sind in ihrem Gespräch vor dem Pergamon-Fries bereits auf der Höhe des Anspruches, den ihr Gegenstand als ganzer stellt. Ihr kundiges Verständnis kennt weder die Einschüchterung durch Tradition noch die ungeschickte Kritik des Autodidakten. Sie müssen sich nicht erst auf dem Umwege des radikalen Zerwürfnisses mit der Kultur über sich selbst verständigen, und so versperrt die kritische Aneignung ihnen auch nicht den Weg zum persönlichen, die Wesenskräfte des Subjekts bereichernden Umgang mit Kunst.

III. Die Moralität des Ich-Erzählers wurzelt auch in jener Kultur der zwischenmenschlichen Beziehungen, die in der proletarischen Familie des Erzählers gelebt wird. Die diversen Gespräche in Küchen sind ein Muster, nach dem sich seine Anschauung der Welt bildet. An dieser Nabelschnur zu saugen hört der Ich-Erzähler im ganzen Roman nicht auf. Die proletarische Familie, die der Autor ihm beigibt, ist keine solche, von der man sich gewaltsam losmachen muß, um sich als Persönlichkeit überhaupt zu finden. Sie unterdrückt keines ihrer Glieder, sondern läßt jedes gelten. Fällt dieses gleichberechtigte Miteinander in den Gesprächen mit dem Vater in der Warnsdorfer Küche als erster deutlicher Gegensatz zu der Beschreibung der bürgerlichen Familie auf, die Peter Weiss in Abschied von den B,ltern gibt, so stellen sich bald weitere Kennzeichen einer regelrecht kontrapunktisch entwickelten Beziehung zwischen bürgerlicher und proletarischer Familie heraus. Das Elternhaus des Erzählers ist die Küche, zu der noch eine Stube gehören kann. Alles, was es an Gegenständen in diesen Räumen gibt, wird gebraucht. Die größte Kostbarkeit darin sind die Bücher, sie wurden gelesen, und man sprach gemeinsam über sie. So entsteht eine tiefe Gemeinschaftlichkeit zwischen den Generationen, die in der Küche der Coppis ebenso anzutreffen ist. Man spricht miteinander und gibt sich dadurch Halt, um der organisierten Feindschaft außerhalb der Küche, außerhalb ihrer Gemeinschaft standzuhalten. Der Inhalt der Familienbeziehungen in Abschied von den Ultern ist Angst der Kinder vor den Eltern und Abrichtung der Heranwach114

senden für eine Funktion in der Gesellschaft. Eigenschaften, die diesem Werdegang hemmend entgegenstehen, hat die Familie zu beseitigen und tut es mit Nachdruck, wie die Rede des Vaters an den nicht sonderlich geratenen Sohn über dessen Berufsaussichten zeigt. Gerade das Fehlen einer beruflichen Perspektive und der künftigen Aussicht auf Eingliederung in die Gesellschaft bezeichnet der Ich-Erzähler in der Ästhetik des Widerstands als den natürlichen Werdegang für sich und seine Gefährten. Heilmann, Coppi und der Erzähler benutzten, soweit möglich, die Bildungseinrichtungen der Gesellschaft, aber sie suchen Bildung, nicht Ausbildung. Die soziale Ungebundenheit, Gleichgültigkeit hinsichtlich eines sozialen oder beruflichen Aufstiegs sowie Interessenlosigkeit gegenüber der gesamten Sphäre des Konsums sind offensichtlich Sigeln eines kulturellen Wertsystems, das unvereinbar mit dem der bürgerlichen Gesellschaft ist. Die Familie des Ich-Erzählers bildet eine Gemeinschaft, die auch Meinungsverschiedenheiten aushält. Der Vater ist Sozialdemokrat; der Sohn wird zu den Kommunisten gehen. Der Vater läßt nicht davon ab, seiner täglichen Arbeit einen Sinn beizumessen, den er von der privaten Aneignung des Arbeitsproduktes und der Verfügung des Besitzers über ihn und seine Arbeitsmittel abtrennen will; der Sohn teilt diese ethische Hilfskonstruktion nicht und betrachtet die Fabrikarbeit als ein Mittel, um zu seinem Lebensunterhalt zu kommen. Beide können aber erwarten, daß der jeweils andere den Argumenten zuhört und Meinungen toleriert, die er nicht teilt. Diese Familie versteht sich nicht als Zusammenschluß gegen das öffentliche Leben; ihre Angelegenheiten sind nicht privat, die Gesprächsthemen grenzen die Öffentlichkeit nicht aus, auch wenn unter den Bedingungen der Verfolgung und des Terrors das Eindringen des bürgerlichen Staatsapparates nach Kräften abgewehrt werden muß. Doch können Heilmann und Coppi durch ein „Wir", das der Ich-Erzähler gebraucht, umstandslos in die Familie aufgenommen werden, so wie er selbst in der Küche der Coppis zu Hause ist. Die Familie des Ich-Erzählers hat zweifellos Züge einer Alternative zur Institution und Funktion der bürgerlichen Familie. Sie ist nicht ausschließlich als Abbild schon bestehender soziokultureller Differenzen anzusehen, sondern stellt ebenso einen Entwurf von Generationsbeziehungen dar, die frei von Unterdrückung sind. Erziehung stärkt hier das persönliche Wertgefühl des Heranwachsenden, macht ihn entscheidungsfähig und lehrt ihn zugleich die soziale Verantwortung, die dann in der Moralität des Erzählers hervortritt. Es fällt nicht schwer, 8*

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hier im Vergleich mit Abschied von den Eltern eine systematische Korrektur der bürgerlichen Erziehungspraxis zu erkennen. Über eine solche einfache Verneinung geübter Praxis hinaus reicht jedoch die Berührung mit jener frühbürgerlichen Affektenlehre, welche für die Überwindung egoistischer Affekte durch Einübung altruistischer plädierte. Das bürgerlich humanistische Denken des 18. Jahrhunderts band die altruistischen Tugenden und seinen eigenen Entwurf von echter Mitmenschlichkeit an den Kreis der Familie, an die Kreise, die Liebe und Freundschaft zusammenhält. Was dort selbst als Utopie in der Regel auf diese voraus existierende Gemeinschaft angewiesen war, um überhaupt denkbar zu sein, und daher das Fremde nur in Ausnahmefällen integrierte — wie an den Schwierigkeiten Iphigenies zu sehen ist, die Achtung des landesfremden Königs gegen den Bruder und seinen Freund durchzusetzen, oder an der Allegorie der Menschheit als Familie inLessings Nathan —, wird hier, bei Peter Weiss, auch gedanklich nicht an die Grenzen der vertrauten Gemeinschaft Familie gebunden. Die humanen Tugenden bleiben nicht in der Familie. Das Mitgefühl des Ich-Erzählers schließt andere Dimensionen von Leiden auf und nimmt niemanden aus, der zu den Opfern der Politik des Kapitals gehört. Der Erzähler hat nicht nur die Unabänderlichkeit des Geschehens durch seinen Bericht über die Geschichte aufzuheben, indem er den Widerstand als das Geleistete und als wirkliche Kraft erweist. Er hat auch alle Züge des menschlichen Zusammenlebens zu sammeln und jene Verhältnisse und Verhaltensweisen zu entdecken, die die Emanzipation praktisch befördern. Mitleid, das bei Adorno als die Tugend der Schwäche apostrophiert und bei Brecht bald als gefährlich, bald als unnütz bezeichnet wird, ersteht hier als produktive und soziale Tugend wieder auf, sobald es nicht als Zuwendung einzelner zu einzelnen geübt wird, sondern, der Herrschaft entzogen, die Gemeinschaft der ihr Widerstehenden stärken kann. Radikale Formen nimmt das Mitleid bei der Figur der Mutter an. Ihre Verstörtheit und ihr Tod werden im dritten Band des Romans ausführlich dargestellt. Dieses Mitleid ist überwältigend und führt zu einer so weitgehenden Entgrenzung der Persönlichkeit, daß diese schließlich zerstört wird. Dieses Schicksal ist ein Sinnbild für die Unmöglichkeit, unter bestehenden Verhältnissen vollkommen moralisch zu sein. Da sie nicht gewillt ist, die Vorstellung des grauenhaften Leidens der namenlosen Opfer der Massenvernichtung abzuweisen, muß sie deren Qual an sich selbst ermessen. Die drei 116

Personen der Familie des Erzählers wählen drei Arten des Protestes der humanen Vernunft gegen eine inhumane Praxis. Da diese der Vernunft im Grunde unfaßbar bleibt, also nicht anders als mit Verletzungen verarbeitet werden kann, gilt hier kein Richten. Nur die Anstrengung, die es kostet, nicht durch Verdrängung mitschuldig zu werden, war an den Tag zu bringen. Der Vater weist auf Namen und Zahlen, will die Täter dingfest machen und sucht sich durch solches Tun vor dem Gefühl der Ohnmacht der Vernunft zu bewahren. Aber die ungeheuerliche Dimension des Leidens wird dabei endlich doch ausgegrenzt. Der Sohn dagegen ist sich dieses Ausmaßes bewußt, er selbst ist der Empfänger der ersten aus Deutschland nach Schweden dringenden Informationen über die konkreten Planungen zur Judenvernichtung, die 1942 auf der sogenannten Wannsee-Konferenz in allen Einzelheiten zwischen den Führungsgruppen des faschistischen Staates abgesprochen worden waren. Aber der Ich-Erzähler bewältigt dieses Wissen nicht als Erfahrung, die er selbst zu durchleben hat. Die Mutter schließlich verzweifelt vor der unbeschönigten Wahrheit, die sie vorausahnt, noch ehe die Tatbestände selbst aus Deutschland herausdringen. Die Verzweiflung ist nicht produktiv, aber auch nicht unzulässig. Sie verzehrt zwar die Kraft zum Widerstand, ist aber als Entsetzen vor der Gewohnheit und lebhaftes Empfinden der Unvereinbarkeit die Quelle allen Widerstands. Diese Quelle heißt Nächstenliebe. Intuitiv sucht die Mutter die Nähe der Gezeichneten und Armen; die Gemeinschaft der Verfolgten ist für sie tröstlich; sie möchte bei denen bleiben, die zum Sterben getrieben werden, weil inmitten ihrer Angst und Verlorenheit die einzige Art der Geborgenheit für sie zu finden ist. Ihre Mütterlichkeit und Liebe gelten hier allen Menschen, vor allem den Hilfsbedürftigen. Die eigene Familie war der Mutter nur der ihrer Sorge zukommende Teil davon. Daher kann sie sich auch nicht an diesem Kreise festhalten, wie der Vater irrtümlich glaubt. Die harmonische oder heile Familienbeziehung in einer feindlichen Welt muß für sie sofort unwahr werden, wenn sie sich darin dem Leid der anderen entzieht. Der Abschied von dieser Familie und damit ihre Aufhebung findet in einer letzten gemeinsamen Mahlzeit statt, zu der die Mutter lädt, ehe sie sich zum Sterben legt, aber auch nachdem der Bericht des Sohnes über die industrielle Organisation des Mordens in Deutschland an ihr Ohr gedrungen ist. Die feierliche Form, die an das A b e n d m a h l erinnert, gibt dem Abschied eine durchaus symbolische Bedeutung. 117

Unwiderruflich wird die Hoffnung verlorengegeben, daß mit Liebe und Verständigung etwas auszurichten sei. Der Widerstand gegen einen schrecklichen Gegner ist Kampf, braucht den Willen zur Selbstbehauptung und zur Unversöhnlichkeit. Mit diesen Begebenheiten des Romans entfernt sich Peter Weiss vom Erbe der bürgerlich-humanistischen Utopie, an die er sich mit dem Entwurf einer Harmonie zwischen sozialer Verantwortung und individueller Emanzipation in der Familie und als Produkt ihrer Beziehung so sehr angenähert hatte. Der Abschied von der Hoffnung auf einen sanften Sieg der Güte, ja auch nur auf deren Bestehen vollzieht sich in der Ästhetik des Widerstands in großer Trauer. In das Sterben der Mutter ist ein Moment der Resignation des Autors gelegt. Lange vor ihrem Tod hat die Mutter aufgehört zu sprechen. Ihr Inneres, den Menschen um sie herum unzugänglich, öffnet sich jedoch der Erzählung, so daß es für den Roman nicht stumm ist. In diesem Falle ist die Erzählperspektive von der Bindung an die Figur des Ich-Erzählers zu einem personalen Erzählen hin verschoben worden. So werden die Vorstellungen, die die Mutter bedrängen, erzählbar. Verschiebungen der Erzählperspektive sind häufig. Wenn die schwedische Polizistin Charlotte Bischoff zu einem Spaziergang auf Ehrenwort durch Stockholm führt, um ihr vor der bevorstehenden Auslieferung an die Gestapo die Schönheiten der Stadt noch zu zeigen, so wird dies aus scheinbarer Überschau erzählt, die Wertungen dieser widersinnigen Situation rücken die Perspektive aber dicht an die Figur Bischoffs heran. Es ist dies übrigens eine der wenigen Stellen, wo das Innere einer Unbeteiligten oder auf der Gegenseite Stehenden mitbedacht wird. Bischoff übernimmt für beträchtliche Teile des dritten Bandes die Instanz des Erzählens, ist aber nicht als Ich-Erzähler eingeführt. Nicht selten wird, wie auch in diesen Passagen, eine Art personengebundenen Erzählens in der dritten Person verwendet, das für die subjektive Reflexion und Emotion einzelner Figuren Raum hat und diese direkt neben dem Bericht über die Begebenheiten plaziert. In einer großräumigen Erzählperspektive finden Briefe und Bericht von Figuren Platz, wie der Brief Heilmanns oder die Erinnerungen von Familienangehörigen an Verhaftungen, Verhöre und Hinrichtungen von Widerstandskämpfern, die als Personen im Roman auftreten. Es sind aber auch Äußerungen dritter wie der vorher bereits publizierte Bericht des Gefängnispfarrers Pölchau verarbeitet worden. 118

In allen diesen Fällen wechselt die Erzähl-Instanz; der Ich-Erzähler verschwindet aus dem Blickfeld. Die Figuren, die außer ihm das Erzählen übernehmen, gleichen ihm oft wesensmäßig nicht; es sind keine Kunstfiguren, sondern gelegentlich sogar konkrete historische Personen. Durch das Hinzutreten ihrer Erzählpassagen ist das Gesichtsfeld des Ich-Erzählers überschritten worden. Sein Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum setzt der Erzählung keinerlei Grenzen. Wenn auf diese Weise eine große Mannigfaltigkeit der Erzählverhältnisse im Roman herrscht, so setzt sich doch eigentlich ununterbrochen die Wertungskompetenz des Ich-Erzählers durch. Im personalen Erzählen wie auch in der Sichtweise anderer, ihn vertretender Figuren äußert sich die gleiche Moralität, das gleiche Verständnis, die gleiche Überzeugung von der Notwendigkeit des Widerstands. Mühelos tritt Bischoff in das Gespräch von Heilmann und Coppi vor der Marienkirche ein. Ihre Erlebnisse auf der Schiffsreise nach Bremen und ihre Begegnungen mit den Mitgliedern der R o t e n K a p e l l e sind aus dem Geiste des Ich-Erzählers aufgezeichnet. Wenn Bischoff, den Verfolgungen durch ihre Unauffälligkeit entgangen, wie im Roman gesagt wird, über die Umstände nachdenkt, die zur Enttarnung der Gruppe führten, dann erkennt sie wie der Erzähler jeden Fehler und jede Schwäche, aber sie bricht über niemanden den Stab. Kann Bischoff beinahe als ein alter ego des IchErzählers gelten, so ist auch diese Übereinstimmung seiner Wesenszüge mit den Verhaltensweisen einer Frau nicht nebensächlich. Wer immer die Kompetenz des Erzählens in der Ästhetik des Widerstands innehat, ist durch Selbstlosigkeit und unbedingte Ergebenheit an die Sache charakterisiert. Und er verfolgte als Individuum keine abgesonderten Interessen, die ihn selbst zeitweilig dem gemeinschaftlichen Ziele entfremden oder ihn reizen könnten, diesem seinen Stempel aufzudrücken. Den Frauen wird aber mehrfach im Roman das Zeugnis ausgestellt, daß sie zu dieser bedingungslosen Hingabe in besonderem Maße fähig seien. Die Kompetenz des Ich-Erzählers erfährt durch den Wechsel der Träger der Erzählperspektive keine Einbuße. Wenn das Erzählen, oft sogar in Form erlebter Rede, an andere Figuren übergeht, so werden damit die Räume erweitert und die einbezogenen Erfahrungen vervielfältigt. Am Auftrag des Ich-Erzählers, dem Widerstand ein Denkmal zu setzen, und an seiner Haltung der vorbehaltlosen Zuwendung zu jedem Mitkämpfer ändert sich nichts; jene zeitweiligen Erzählfiguren nehmen vielmehr daran teil. Jedoch 119

können mit der Raumerweiterung Einblicke in den Abgrund eröffnet werden, die dem Ich-Erzähler nicht zustehen, weil man sie kaum je überlebt. So treibt der Autor die Kunst hin zur Darstellung des Unvorstellbaren und setzt die Grenzen dessen hinaus, was ästhetische Aneignung leisten kann. Bereits sein Dokumentarstück Die Ermittlung war ein Werk auf diesem Wege. Kunst verzeichnete die Untaten, die die Menschheit als ganze und die Produktivität jedes einzelnen auszulöschen drohen. Für Peter Weiss bestünde eine unverzeihliche Schwäche des Humanismus weiter, wenn er fortführe, die grenzenlose Amoralität und zynische Vernunft seiner Gegner nicht wahrzunehmen. Vorstellungskraft soll in den Dienst dieser Aufgabe gestellt werden. Der Romi ii arbeitet gegen das Erschrecken vor dem Blick in den Abgrund der Barbarei oder Machtfülle des faschistischen Staatsapparates, indem er die Beschreibung der Foltern, Hinrichtungen, seelischen und körperlichen Leiden der Verhafteten nicht ausspart. Das nicht allein, weil sie aus der Geschichte des Widerstands nicht verschwinden dürfen. Es geht vielmehr auch, so paradox das klingen mag, um die Entwicklung von sozialer Phantasie. Die Ausmaße der Bedrohung sollen ins Bewußtsein treten, damit der Widerstand dagegen sich zur rechten Zeit aufbauen kann. Der Ich-Erzähler versagt sich dem Grauenhaften nicht, aber er zieht die Kraft dazu nicht aus dem Blick auf die kommenden Zeiten. Nicht aus ihnen nimmt er jene Hoffnung, von der seine Aneignung der Geschichte durchdrungen wird. Es ist die Geschichte des Ausbruchs, der Ausweitung und Verhärtung der Barbarei in Europa. Die furchtbaren Schläge, die das deutsche Proletariat, die europäische Linke und der Sozialismus durch den Sieg des Faschismus erfuhren, sind nicht abgemildert, und das Ausmaß der Opfer ist nicht verkleinert. Trotzdem wird alle Zukunft in dieser Geschichte selbst aufgesucht. Zukunft liegt auch aus dieser Perspektive nicht an der Oberfläche der „finsteren Zeiten". Der Ich-Erzähler muß sie zu Tage fördern, indem er selbst geringe Spuren jener Kräfte und Wirkungen aufdeckt, welche den Widerstand zu ermutigen und dem Leben eine Sinnhaftigkeit zu eröffnen vermochten, die im bestimmten Handeln der Menschen selbst verwirklicht wurde. Wie sich erweist, ist keine davon seither überflüssig geworden oder erloschen. Die Absicht, die Vergangenheit nicht verlorenzugeben, sondern an die in sie eingegangenen Strukturen sinnvollen Handelns ständig zu erinnern, ist so zugleich eine Verarbeitung der Anforderungen der Zukunft. Anfänge von Zukunft in diesem Sinne reichen wiederum weit über 120

das Zeitkontinuum des Romans hinaus. Sie werden im U m g a n g mit den ältesten Kunstwerken gefunden. Spuren der Z u k u n f t findet der Erzähler gleichermaßen in den Werken der europäischen Moderne, in der „Klassenlosigkeit" großer K u n s t überhaupt, zeigt sie in den Ergebnissen einer Ästhetik des Schönen, aber auch in der künstlerischen Arbeit am Grauenhaften. Sie tritt aus den Situationen echter Gemeinschaftlichkeit hervor; aber auch aus jenem unerhörten Sieg, den Heilmann in der Todeszelle davonträgt, wenn er einer übermächtigen Welt von Feinden zum Trotz einen B r i e f an U n b e k a n n t schreibt, in dem über das Träumen als Erweiterung des menschlichen Bewußtseins nachgedacht wird. Der diese Spuren freilegt und der Vergangenheit entreißt, der Benjamins Forderung folgend, „sich einer Erinnerung bemächtigt, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt", 1 2 verfährt äußerst parteilich. E r wendet wenig, vielleicht zu wenig analytische Mühe auf die Beschreibung des Gegners, der im Roman als Sammelbewegung aller Kräfte der Zerstörung und auf eine fast metaphysische Weise erscheint. Aber er weist genau aus, auf welche soziale Bewegung sich die H o f f n u n g des Chronisten stützt. Peter Weiss hat einen jungen Arbeiter und Kommunisten zum Erzähler berufen, nicht allein um die zu ehren, die den Kern des antifaschistischen Widerstands bildeten. Die Figur des Erzählers bezeichnet auch, welcher Klasse das letzte Wort über die Geschichte unseres Jahrhunderts zukommt.

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Harald Olbrich

Die Ästhetik des Widerstands als Herausforderung: Zum Umgang mit bildender Kunst

Die Zurückhaltung der kunsthistorischen „Zunft" (Peter Schmandt) in den westlichen Ländern ist schon 1979 angesprochen worden. 1 Sieht man aber von einzelnen Bezugnahmen in kunstkritisch-kunsttheoretischen Diskussionen unseres Landes ab-', bleiben einige wenige Aufsätze linker Kunsthistoriker in der BRD und aus den USA übrig. So gering ihre Zahl, so aufschlußreich sind ihre Ansätze zum Verstehen der Werkauswahl und des Werkumgangs von Peter Weiss, insofern zum Nutzen einer dialektisch und historisch materialistischen Kunstforschung. Die Ästhetik des Widerstands und die Reflexionen auf sie treffen in wesentlichen Punkten zusammen, an denen ein Diskurs über die Leistungsfähigkeit von Kunstgeschichtsforschung und ihr Erzählen von Kunstgeschichte für uns heute anzusetzen hat. Die bisherigen kunstgeschichtlichen Rezeptionen schieben sich daher nicht über die Vorschläge von Peter Weiss oder verdunkeln sie gar. Sie orientieren sich vielmehr an zentralen Punkten seiner Vorgehensweise, im Interesse der Sinngebung von Kunstgeschichtsschreibung und ihrer Fragerichtungen. Insofern beziehe ich bisherige Reaktionen von Kunsthistorikern in meine Überlegungen ein. Ob dabei schon jetzt die Herausforderung von Weiss praktisch angenommen werden kann, „daß gerade im Bereich der Gesellschaftswissenschaften und der Künste die traditionell getrennten Mittel eines Tages aufgehoben sein werden" 3, mag noch offen bleiben. „Geschichte erzählen" wird zwar unter Historikern und Kunsthistorikern mitunter diskutiert, von einigen als Problem und Auftrag erkannt, der Zugriff erscheint noch fern, so sehr es verlockt, den „kontrollierten Traum des Historikers" 4 sprachlich adäquat zu vermitteln. Die autoritären Normen der „seriösen" Wissenschaft haben, darin ist Heinrich Dillg zuzustimmen, Grenzpfähle gesteckt, die immer noch das emotionale Engagement beeinträchtigen. 122

Harald Olbrich

Die Ästhetik des Widerstands als Herausforderung: Zum Umgang mit bildender Kunst

Die Zurückhaltung der kunsthistorischen „Zunft" (Peter Schmandt) in den westlichen Ländern ist schon 1979 angesprochen worden. 1 Sieht man aber von einzelnen Bezugnahmen in kunstkritisch-kunsttheoretischen Diskussionen unseres Landes ab-', bleiben einige wenige Aufsätze linker Kunsthistoriker in der BRD und aus den USA übrig. So gering ihre Zahl, so aufschlußreich sind ihre Ansätze zum Verstehen der Werkauswahl und des Werkumgangs von Peter Weiss, insofern zum Nutzen einer dialektisch und historisch materialistischen Kunstforschung. Die Ästhetik des Widerstands und die Reflexionen auf sie treffen in wesentlichen Punkten zusammen, an denen ein Diskurs über die Leistungsfähigkeit von Kunstgeschichtsforschung und ihr Erzählen von Kunstgeschichte für uns heute anzusetzen hat. Die bisherigen kunstgeschichtlichen Rezeptionen schieben sich daher nicht über die Vorschläge von Peter Weiss oder verdunkeln sie gar. Sie orientieren sich vielmehr an zentralen Punkten seiner Vorgehensweise, im Interesse der Sinngebung von Kunstgeschichtsschreibung und ihrer Fragerichtungen. Insofern beziehe ich bisherige Reaktionen von Kunsthistorikern in meine Überlegungen ein. Ob dabei schon jetzt die Herausforderung von Weiss praktisch angenommen werden kann, „daß gerade im Bereich der Gesellschaftswissenschaften und der Künste die traditionell getrennten Mittel eines Tages aufgehoben sein werden" 3, mag noch offen bleiben. „Geschichte erzählen" wird zwar unter Historikern und Kunsthistorikern mitunter diskutiert, von einigen als Problem und Auftrag erkannt, der Zugriff erscheint noch fern, so sehr es verlockt, den „kontrollierten Traum des Historikers" 4 sprachlich adäquat zu vermitteln. Die autoritären Normen der „seriösen" Wissenschaft haben, darin ist Heinrich Dillg zuzustimmen, Grenzpfähle gesteckt, die immer noch das emotionale Engagement beeinträchtigen. 122

Inmitten der vielschichtigen Reflexionen über Pablo Picassos „Guernica" im Apfelsinenhain vor Valencia und im Anschluß an das Kapitel um den Kastellberg von Denia — dem metaphorischen, Geschichte umgreifenden „Hemeroskopeion" (I, 319) des Ich-Erzählers — notiert Peter Weiss: „ D i e antagonistischen, zur Synthese gebundenen Kräfte im Bild entfesselten einen heftigen Streit, ehe die Lehre, die Picasso erteilte, dem Nachdenkenden verständlich wurde. Die äußere Schicht der Wirklichkeit war abgehoben worden. Unterdrückung und Gewalt, Klassenbewußtsein und Parteilichkeit, T o d e s schrecken und heroischer Mut zeigten sich in ihren elementaren dynamischen Funktionen. Indem das Zerfetzte sich zu einer neuen Ganzheit zusammenschloß, wurde dem Feind eine Abwehr entgegengestellt, die unbesiegbar war. Auch wenn das Bild, mit seinem schauerlichen Wundmal, mitten im Angriff auf alles Lebendige noch eine Frage nach dem Verbleib der K u n s t stellte, wurde seine Wirkung dadurch nicht verringert." (1,334) Realismusvorstellung und Bündnisverständnis in den großen Entscheidungen unseres Jahrhunderts sind hier wie an anderen Stellen des Romans in ihren Widerspruchsbewegungen angesprochen: Parteiergreifen und Parteilichkeit kann sich in den Künsten verschieden äußern. Auch die Avantgarden sind in all ihrer Widersprüchlichkeit in diese Diskussion hineingeholt. 5 Die folgenden Sätze von Peter Weiss kehren folgerichtig das einschränkende „auch wenn" zum „gerade weil". Die Diskutierenden behandeln Grundmöglichkeiten realistischer künstlerischer Einwirkung zwischen der unmittelbaren Agitation und einer komplexen bildgewordenen Epochensicht, die vom Einzelfall zur Allgemeinheit vorahnend vorstößt und, wie am Beispiel Picasso, die „Wucht der Destruktion" (I, 334) durch Faschismus und K r i e g aufnimmt und aushält eben durch die „elementaren dynamischen Funktionen" und Strukturen der Werke, durch die Verteidigung und Weiterentwicklung der Sprachfähigkeit der K u n s t gegen ihre Unterdrückung durch die faschistische Barbarei. Die Abhebungen der Kunst von der diffusen Wirklichkeit zu verdichteten Bildern thematisierte Weiss auch an anderen Stellen. „Was sollten wir anfangen mit diesen Zeichen der Einmaligkeit, was half uns das vollendet komponierte Massaker, wenn alles um uns ungelöst blieb", heißt es einige Seiten weiter. (I, 349) Eine erste Antwort folgt einige Zeilen später. Weiss besteht darauf, daß „ K u n s t und Literatur . . . Produktionsmittel [sind], wie es die Werkzeuge und Maschinen waren" (I, 349/50). Was es damit auf sich hat, wird 123

uns zu beschäftigen haben, zumal die zitierte Passage zum „Guernica"Bild direkt und indirekt wesentliche Stichworte enthält: Von der Arbeit der Kunst, der Arbeit an der Kunst, der Arbeit mit der Kunst geht die Rede. Aber auch von Todeserfahrung und was wie Widerstand mobilisiert, wird geschrieben, wie für Krisen, Zweifel und Prüfungen vergangene Erfahrungen heraufgeholt werden, nicht zuletzt mittels Kunst, um die Parteilichkeit zu stärken. Es ist aufschlußreich, wie Weiss dies in der Bilanz einer Station des antifaschistischen Widerstands entwickelt. Die Schlußteile des ersten Bandes ziehen sie im diskursiven und mimetischen Umgang mit bestimmten Bildern. 0 Das Plädoyer von Weiss für „überraschende Darstellungen . . . einer Vieldeutigkeit", die „tieferen Aufschluß über die Mechanismen [gaben], zwischen denen wir lebten", gilt der Erweiterung der ästhetischen und politischen „Aufnahmefähigkeit" als beständiger Herausforderung. Sie ist nicht zu umgehen, soll Kunst auch fürderhin „die Phantasie dazu anleiten, nachBeziehungen und Gleichnissen zu suchen" (I, 336). Diesen ungeheuren Anspruch verwirklicht Weiss ausschließlich an Werken der „Hochkunst". In einem Interview knüpfte er sein Anliegen an die Frage der „pädagogischen Bezirke, dort, wo die Menschen aufwachsen. Mit welchen Gütern, mit welchen Vorstellungen kommen sie in Berührung? . . . daß sie eingreifen können, daß sich Werte erringen lassen". 7 Um handeln zu können, sind „Güter" zu ergreifen, „die uns befähigen, Ausdruck zu geben von unserer Situation", ausdrücklich gebunden an die politische Verantwortung des Einzelnen. Unter Berufung auf Brecht wendet sich Weiss an Menschen, „die dieses wissenschaftliche Zeitalter in sich vorbereitet haben und nach Begriffen dieses wissenschaftlichen Zeitalters leben". 8 Eine immense Herausforderung, die auf dem Erbe und der Gegenwärtigkeit von Hochkunst besteht, einem unerledigten universellen Bildungsanspruch einverleibt. Demzufolge sind die angezogenen Werke für Weiss Elemente und Träger „sozialer Erinnerungsarbeit" 9 , und sie ermöglichen sie in der fortschreitenden Gegenwart. Schon im Anfang des ersten Bandes wird Mnemosyne eingeführt: „Sie, die Mutter der Künste, heißt Erinnerung. Sie schützt das, was in den Gesamtleistungen unser eignes Erkennen enthält. Sie flüstert uns zu, wonach unsre Regungen verlangen." (I, 77) Was kann Kunstwissenschaft mit all dem anfangen? Die Schlüsselstellung von Bildkunstwerken in zentralen Teilen des Romandiskurses, zumal die erweiternde und verändernde Wieder124

aufnähme von Géricaults „Floß der Medusa" am Anfang des zweiten Bandes und indirekt noch einmal im schwedischen E x i l 1 0 , führten rasch zur Frage, worauf sich Weiss vor allem bezieht: „ E s sind die Gemälde, die Stiche, die Skulpturen, die Architekturen, die Filme aus den Zeiten des Bruchs, der Revolution, der Parteilichkeit, des Widerstands." 1 1 Auch wenn darin nicht alle kunstgeschichtlichen Bezugnahmen unterzubringen sind, so betonen Heinrich Dilly und auch Klaus Herding zu Recht den Schwerpunkt in der französischen Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der die „Bruchlinien" der modernen bürgerlichen Gesellschaft unversöhnlich zutage treten. Verweist Dilly nachdrücklich darauf, daß „die patriarchalischen Gemälde und D r u c k e der Niederländer des 17. Jahrhunderts . . . nicht präsent sind 1 2 , ebensowenig wie, müßte man hinzufügen, andere idealische, utopisch ausgleichende Kunstwerke anderer Zeiten, akzentuiert Herding die dominante Auswahl der „Hadeswanderung" 1 3 als „eine bewußt »schwarze« Auswahl" i'1: die im Bild fixierten Niederlagen, Opfer in den Kämpfen vergangener Zeiten auch dort, wo Aufbegehren schon im Zusammenbrechen und wenig Hoffnung ist, „ein musée imaginaire aus Martyrien, Niederlagen und Leichen" 1 5 . Herding arbeitet gleichzeitig heraus, daß es Weiss nicht um diese Untergangsvisionen um ihrer selbst willen ging. Sie werden im Gespräch aufgerufen, befragt für den Widerstandswillen, dem Chaos zu wehren, um dem Umgang mit dem Bild ein neues politisiertes und „humanisiertes Territorium abzugewinnen" 1 6 . Gewiß läßt sich dieser Zuspitzung das eine oder andere, von Weiss auch angeführte Bild entgegenhalten, das in gewissen Momenten des Diskursverlaufes zum Bezugspunkt der Erfahrungsbewältigung und auf andere Weise zum Hoffnungszeichen wird. So schließt der erste Band mit dem Abschied von Spanien in die „einbrechende Dunkelheit" — die letzten W o r t e — mit Edvard Münchs magistralen „Arbeitern auf dem Heimweg von der Arbeit" von 1915. D i e Erinnerungsarbeit des Erzählers ruft dabei Stationen des Zusichselbstkommens der Arbeiterklasse heraus : Adolph Menzels produzierende und an die Ausbeutungsverhältnisse gefesselten Arbeiter im „Eisenwalzw e r k " von 1 8 7 5 " , Robert Koehlers „Der Streik" von 1886 als Bildstruktur und Sprache der „schweren Körperlichkeit, nicht im Banne der Warenerzeugung, sondern in ihrem Selbstbewußtsein" (I, 358), genauer, den verschiedenen Stadien und Graden des individuellen und kollektiven Selbstbewußtwerdens in einem bestimmten historischen Moment. Münchs Bild nimmt den Widerspruch zwischen 125

Menzels Utopie des in der technischen Arbeit Bei-sich-selbst-Seins und Koehlers kämpferische Parteilichkeit als treibende Kräfte der historischen und der künstlerischen Bewegung auf. Der eindringliche Habitus der Gestalten und ihr Bewegungsrhythmus treibt „diese Darstellung eines Lebenswegs" zur noch unaufgelösten Spannung zwischen „Vereinsamung", der „ewigen Wiederholung", der „Niedergeschlagenheit" und der Potenz des „Zusammengehns" als „Erinnerung an die ungenutzte Stärke . . . die den Strom . . . , unaufhaltsam machte". (I, 359/60) Fügen wir hinzu, was Weiss am „Fall Münch" nicht thematisierte, jenes Parteiergreifen eines Avantgarde-Künstlers, den großartigen Ansatz der Transformation aus dem Symbolismus des Fin de siècle zu einer kämpferischen Kunst 18 , ohne die einstige psychologische und ästhetische Sensibilität fallenzulassen. Die hier vollzogene Einschränkung der Dominanz „schwarzer Bilder" führt uns auf die andere Seite des Problemfeldes, zu Wolfgang Fritz Haugs These von 1982, daß man bei Weiss „Kunstwerke als eingeschrieben in die Klassenkämpfe erfährt". 19 Das ist wichtig, zumal die Aneignung „wider den Strich", die Weiss betreibt, offenkundig der programmatischen siebten geschichtsphilosophischen These von Walter Benjamin nahe und vergleichbar ist, die die bürgerliche historische Einfühlung in das kulturelle Beutegut der jeweiligen Sieger der Geschichte verweigert. 20 Weiss besteht darauf, das Schicksal der „unteren", ihre Belastung durch Gewalt, Kampf, Unterwerfung ernst zu nehmen. Die Frage, bei wem die Arbeitenden, volkhafte Gestalten zumindest, in den Vordergrund zu treten begannen, Körper und Antlitz erhielten, darf nicht untergehen. Auch wenn sie nur in mythologischen Mustern erschienen, „Leidenschaften aus(trugen), wie sie in klassischen Tragödien beschrieben worden waren" 21 . Andererseits, so schon der Diskurs um den Pergamonfries, die Beschränkung darauf reicht nicht aus. Es ist wichtig für das Geschichts- und Klassenbewußtsein nachzuforschen, wie auch in den Bildern der Herrschenden und für sie — und sei es indirekt, die Ansprüche, das Andrängen „von unten" zu Recht und Ausdruck gelangten. Die Reduktion darauf aber, so stellt Weiss letztlich im Namen seiner Helden und des Epochenauftrags heraus, würde Sektierertum sein und unverzichtbare Seiten menschheitlicher Erfahrungen beiseite schieben. „Unsere eigenen Ansprüche" (I, 41) in die Kunstgeschichte zu projizieren, kann, so verstehe ich Weiss, gegenwärtig und zukünftig nicht nur in der puren Negation des bürgerlichen affirmativen Blicks steckenbleiben. Sie liefe auch Gefahr, an der 126

MarxschenDialektik „links" vorbeizugehen, an den Notwendigkeiten und Resultatendet Arbeitsteilungen und der Ausbildung von Klassengesellschaften, in denen die natürlich durch die Volksbewegungen bedrängten und in Frage gestellten Herrschenden dennoch den sozialen Prozeß aufrecht erhielten, indem sie ihn gemäß ihrer Interessen, Einsichten und gemäß den objektiven Notwendigkeiten organisierten. Auswahl der Werke und Umgang mit ihnen durch Weiss führen zwangsläufig zu einer differenzierten Perspektive, die Folgerungen für die kunstwissenschaftliche Methodik erlaubt. Indem Weiss sich und andere vom affirmativen Blick befreit, verhilft er dazu, Kunstwerke als Experimentierfeld für Selbständigkeit, für die Schärfung des Wahrnehmungs- und Urteilsvermögens zu handhaben. Gerade seine Auswahl, ihre Dominanzen erlauben dieses Verständnis, auch wenn die Selektion nicht auf die „schwarzen Bilder" allein beschränkt ist, wie anzudeuten war. Für Auswahl und Umgang von Weiss ist entscheidend, daß er, im Diskurs immer wieder neu ansetzend, die Probleme so formuliert, daß sie sich nicht in glättende Harmonie auflösen, nicht stillgelegt werden. Sie bleiben allenthalben, nicht nur im Kontext von Picassos „Guernica", als ein Widerspruchsfeld bestehen, das stets neu auszuschreiten ist, in dem es kaum eine einmalige, ewig gültige Entscheidung gibt. Wenige Seiten vor dem Picasso-Teil betont Weiss nicht zufällig die Universalität der Kunst und ihre alt-neue Verschiedenheit im Bild der Spirale, „in deren Verlauf wir immer in der Nähe des Früheren waren und alle Bestandteile ständig aufs neue moduliert und variiert sahn" (I, 75). Weiss zielt hier auf einen Aspekt, daß es stets „das Wirklichkeitsnahe und das Abstrakte, das Rituelle und das Phantastische gegeben" habe, immer ging es nur um eine „veränderte Mitteilungsart"(I, 75). Im weiteren Sinn aber meint er, „daß alles in der Kunst neu und gegenwärtig" (I, 75) für die bedürftigen Aneigner sei, die ihren Erfahrungen und Interessen gemäß notwendig und souverän Bezugspunkte suchen. . Warum aber vor allem setzte Weiss bildende Kunst so zentral? „Während wesentlich das bewegte Bild die Phantasie fesselt, fordert und entfesselt sie das unbewegte. Während dort im Prozeß, von retardierten Momenten gestaut, die Handlung vorwärtstreibt, die Distanz zwischen Vorgang und Betrachtung gemindert wird, ist diese hier konstitutiv." 22 Wolfgang Heise beschreibt, sicher zugespitzt, in wenigen Sätzen, wie der Betrachter etwas mit dem „stummen" Bild anfangen muß, mit dem Gezeigten und der Art des Zeigens, um 127

für sich sukzessive das Ganze in seinen Verzweigungen und Beziehungen überhaupt entfalten zu können. Damit aber nähern wir uns dem Verfahren sozialer Erinnerungsarbeit von Weiss. Seine Tragfähigkeit vor allem steht zur Erörterung an und in diesem Zusammenhang auf andere Weise seine Selektion. Unser Gegenstand ist nicht die Frage nach dem vorgeführten poetologischen Prinzip, Erinnerung an die Stelle der Antizipation zu setzen, was so rigoros behauptet, wiederum den Ansatz und das Ziel von Weiss einengen dürfte. 2 3 Die Bilder sind der eigenen Erfahrung der handelnden und reflektierenden Subjekte übergeben, genauer, diese greifen zu. Daraus entsteht ein um sich selbst und die eigene historische Situation wissendes und sich vergewisserndes Sicheinbringen in die Geschichte und Kunstgeschichte: ein Strom des Aufrufens des Diskurses, in dem das statische Bildkunstwerk in einen Prozeß versetzt wird. Sein Kern ist die Motivation des Ich, des Handelns, der Selbstprüfung: „Während der Zeit in Paris brachte allein die Nennung eines Namens, das Anrühren eines Themas weitläufige Zusammenhänge zum Mitschwingen, alle Motive meines Daseins waren gegenwärtig, gleich einem Register, das einmal zum vollen Auftönen kommen würde." (II, 69) Peter Weiss macht in seinem U m g a n g mit Bildkunstwerken Ernst mit der sozialen Erinnerungsarbeit. Ihre Durchführung wirkt wie eine Frage auf Leben und T o d . Sie ist ein Kern des Widerstands, der weit über Exil, Faschismus und K r i e g der dreißiger und vierziger Jahre hinausreicht und unsere Gegenwart unmittelbar betrifft. Nicht zuletzt weil Werkauswahl und Umgangsweisen zunächst einmal einander bedingen im herausfordernden „Vertrauen in die kathartische Wirkung der K u n s t " 2 4 . Bilder wie das „Floß der Medusa" sind folglich programmatisch gesetzt, den dramatischen Kollisionen und Widersprüchen der dreißiger Jahre angemessen, den Hauptwerken der internationalen antifaschistischen Kunst adäquat, für die Picassos „Guernica" einsteht und sich einreiht in jene Bilderflut gesteigerter Leiderfahrung und umkehrender Leidbewältigung, es sind Bilder von Grenzsituationen, wie mehrfach bereits herausgestellt worden ist, teils der Schlußpunkt einer Katastrophe oder der Moment vor der „Schlußwirkung des D r a m a s " 2 5 : „ E s ist der Moment, in dem tödliche Bedrohung und verzweifeltes Widerstehen einander in einer Sekunde die Waage halten." 2 6 Eine fast unerträgliche Spannung, ein höchster Widerspruch wird ausgehalten, durch den 128

Produzenten, durch das Werk und als Auftrag an die Rezipienten. Aus dieser Einsicht wurden in den bisherigen wissenschaftlichen Analysen zum Vorgehen von Weiss einige Folgerungen gezogen, die die möglichen Unterstellungen einer Ästhetik des Schreckens und des Alptraumes beiseite räumen. An der Behandlung von Gericaults „Floß der Medusa" am Ende des ersten und am Anfang des zweiten Bandes machten vor allem Klaus Herding und Ruth M. Capelle dies deutlich. Fassen wir zunächst einmal die Argumentation von Herding zusammen. Er geht davon aus, daß Weiss nicht zufällig der französischen Kunst zwischen der Großen Französischen Revolution und der Pariser Kommune eine Schlüsselstellung einräumt. Weiss verknüpft mehrere Ebenen der Betrachtung: die historische Erkundung zur Genesis des Bildes, zu seinen historischen Kontexten, in denen es wirkte, zur individuellen Erfahrung des Malers und seiner sozialen und existentiellen Befindlichkeit, mit der strukturellen Analyse und mit der sich selbst reflektierenden Aneignung durch den Rezipienten. Darin steckt der Kunst- und der Bildbegriff von Weiss. Das Bildgefüge, die bedeutete und bedeutende Struktur als Sinnstruktur ist zentral gesetzt. So ist beispielsweise auch anläßlich Piero della Francescas Fresken in Arezzo vom „Flechtwerk visueller Beziehungen", in die alles distanzierend eingeschlossen sei, die Rede. (I, 84) Nur die Arbeit an der ganzheitlichen Struktur jeweils ermöglichte das Bild als Bild. Die Bewältigung der Erfahrung in diesem Gefüge ist die Herausforderung an eine angemessene Rezeption, die das Verhalten der Betrachter prägen kann. Weiss reflektiert, so Herding, auf drei Realitätsebenen: den Gedanken, Kämpfen, Handeln der Schiffbrüchigen der Medusa 2 7 ; „er sucht das Bildnetz des Malers durch alle Ablagerungen hindurch zu erfassen." 28 Und schließlich erörtert Weiss die „Fülle von Ablagerungen, die sich so dicht ineinander verschoben und versponnen hatten, daß jede Bewegung gleichsam ein Knirschen und Bersten hervorrief" (II, 15). Diese Arbeit der Rezipienten im Roman, ihre Arbeit mit dem Bild, ist geistig und körperlich, politisch und existentiell, ist für Weiss Widerstand per se. Indem bei Weiss diese Ebenen beständig ineinander umschlagen, wird programmatisch das Bild aus seiner Statik befreit zu einem dynamischen Werkbegriff. Alle bisherigen Untersuchungen stimmen überein, daß der „Prozeß der Wiederbelebung von Formen" 29 entscheidend ist, das Zurückversetzen der Werke in den historischen Prozeß als „Verzeitlichung des Bildgeschehens" 30 , auf den Ebenen der

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Krenzlin, P. Weiss

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Produktion und der jeweiligen Rezeption. Gegenstand einer zeitgemäßen Kunstgeschichtsschreibung kann, so die indirekte Forderung von Weiss an die Kunstwissenschaft, nicht mehr die Beschreibung des Kunstwerkes als stillgelegtes Objekt einer neutralisierten Stilgegeschichte an sich sein. Sinnvoll kann künftig nur eine Kunstgeschichtsschreibung sein, die diese Wirkungsstrategien der Werke, die vielfältig verflochtenen Wechselbeziehungen von Künstler, Kunstwerk, Adressaten und Auftraggeber innerhalb eines komplexen historischen Prozesses behandelt. Kunstwerke verdienen als wirkende Faktoren im Lebensprozeß der „wirklich tätigen Individuen" (Marx), der Klassen und Schichten ernst genommen zu werden. Folgen wir Weiss, so setzt das Verstehen und Erklären der Werkstrukturen als Arbeit mit dem Bild menschliche Fähigkeiten frei, es erweitert die Wahrnehmungsfähigkeit in einem universellen Sinn. „In den Kunstwerken erkennt er als Individuum Strukturen der Situation, in der er sich jeweils befindet, und gewinnt Kraft, sich auf die historisch »richtige« Seite zu stellen."31 Weiss verbindet, so scheint es, das in den Avantgarden unseres Jahrhunderts erneuernd ausgeprägte „struktive Denken" 32 mit der unausgesprochenen Einsicht, daß dieses aus verschiedenen Gründen im Alltag verlustig ist. Er schlägt vor, dies zu bedenken und mit allen Mitteln wiederherzustellen, um heute bestehen zu können. Auch auf der Produzentenseite erfolgt eine derartige Zuspitzung. Nicht nur ist für Gericault „seine Malerei Selbsttherapie", wie es in den Notizbüchern heißt.33 Er besaß in der Endkonsequenz — in der Darstellung von Weiss — nichts anderes als sein Metier, „nichts als seine künstlerische Sprache" (II, 23). Künstlerische Sprache erscheint als Mittel, das Leben, die Konflikte zu bewältigen, allem einen Sinn zu verleihen und anderen bei der Sinnfindung zu helfen. Natürlich schwingt hier die eigene Situation von Weiss mit, die eigene Selbsttherapie, die eigene Bewältigung der Widersprüche, denen er sich ausgesetzt sah, um die Widersprüche produktiv zu machen. Insofern entfaltet Weiss im Romaneine großartige Sel'bstdarstellung künstlerischer Arbeit. Diese formiert sich zwischen identifizierender Einfühlung und dem Ringen um Distanz, als Spannung zwischen Engagement und Distanzschaffen, um überhaupt künstlerisch produzieren zu können. Im Gespräch über Dante notierte Weiss nicht zufällig: „Er führt uns alle Leiden vor, er katalogisiert alle Sünden, er zitiert auch und vergießt Tränen bei ihrem Anblick, doch stets behält er den Abstand und die Fähigkeit, weiterzuschreiben" um eingreifen zu können. 130

Das Einlassen auf die Strukturen der Werke konstituiert zugleich die mitreißende Sinnlichkeit der Beschreibungen in der Ästhetik des Widerstands als unauflösliche, beständig ineinander umschlagende Darstellung von sinnlicher Anschauung, symbolischer Sinnvermittlung und sozialer Erkundung. Um diesen lebensnotwendigen produktiven Umgang mit Bildern heraus- und sicherzustellen auch, durchbrach Weiss die Normen wissenschaftlicher Distanz. Peter Bürger verwies darauf, daß der „emphatische Werkbegriff" des Romans die Intention der historischen Avantgarden einschließt, Kunst und Leben zu vereinen, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. 35 Herding unterstrich als ein zentrales Anliegen von Weiss „die emotionale Durchdringung des vergangenen Ereignisses und der historisch gewordenen Kunstform" 36 . Der Künstler wie der Betrachter seines Werkes müssen mühsam und konflikthaft die Einheit von Denken und Empfinden erringen. Die von Weiss entworfene „ästhetische Arbeit am Bild" 37 , die stets zugleich eine politische istj geht genau besehen über das klassische Katharsismodell hinaus. In jedem Fall aber konstituiert die Arbeit am Bild die Befähigung zum Handeln, zum Widerstehen, in ihrer Geschichtlichkeit, in der Gegenwärtigkeit des Romans, heute. Sie kann helfen, menschliche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsfähigkeit nicht nur in extremen Situationen gegen Gewöhnung, Abstumpfung, Ausweichen, Resignation, Anpassung, d. h. für soziale Produktivität und Solidarität zu sichern: als Bewältigung von Anspannung und Druck überhaupt; als bannend vorzeigendes Gegenüberstellen der Interessenkonflikte und Widersprüche, um sie so bewußtzumachen und bewältigen zu helfen; als die Widersprüche im Zukunftsentwurf bestärkend vorbildendes oder utopisches Überschreiten; als die bildliche Entfaltung des real Möglichen; aber auch als elementare, existentielle Behauptung, um nicht sprachlos zu werden. Wie wichtig letzteres für Weiss ist, zeigt der Satz im Zusammenhang mit Picassos „Guernica" an, daß der Faschismus, „das Zerstörerische, das sich über Spanien hermachte, . .. nicht nur Menschen und Städte, sondern auch die Ausdrucksfähigkeit vernichten" (I, 335) wollte. Das macht die Frage von Weiss nach der Kunst, die den Unterdrückten und dem realen Sozialismus beistehen kann, um sich von Krieg und Imperialismus zu befreien, so dringlich: überall nach den Spuren der Unterdrückten zu suchen, nach den Ausdrücken von Entsetzen, Aufbegehren und Hoffnung. Das aber heißt, alle Werke neu zu lesen, auch jene, die unmittelbar im Dienst der Herrschenden entstanden, 38 um alles her9*

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beizuholen, was hilft, Kraft zu mobilisieren. D a f ü r kann K u n s t „den Gegenentwurf der Harmonie bieten oder den Widerspruch im Bild so zuspitzen, daß im Rezipienten Widerstand entsteht" 3 9 . An dieser Stelle ist der Mnemosyne-Begriff wieder aufzunehmen. Weiss führt heutiger Künstwissenschaft exemplarisch ihre Verantwortung für die kunstwissenschaftliche Rekonstruktion vergegenständlichter Erfahrung vor, um sie heutigen Rezipienten zur Verf ü g u n g zu stellen. E r demonstriert dies an der künstlerischen Erinnerung, an Kunstwerken als Erinnerungspotentialen, in ihrer Politisierung, auch gegen die Beharrlichkeit des Verdrängens und Vergessens. Damit ist ein ernster und hoher Kunstbegriff verknüpft. Ihn aufzunehmen heißt: Der erinnernde, die Topoi, Strukturen und Pathosformeln der Werke aktivierende und erschließende U m g a n g versetzt die ästhetischen Vergegenständlichungen in den historischen Prozeß. Wir folgen den visuellen Spuren vergangenen Lebens nach, vergangener Erfahrungen, vergangener Kämpfe, entziffern den Sinn der Werke für die historischen Menschen, versuchen uns „vorzustellen, was es bedeutete, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Art von Person gewesen zu sein" 4 0 , Teil einer bestimmten sozialen Gruppe. Auf diese Weise, indem wir im Vergleich der Erfahrungen aus unseren Interessen heraus uns selbst in den historischen Prozeß einbringen, begreifen wir in diesem uns selbst, Seiten unseres Gewordenseins. Dieser Kunstbegriff von Weiss begünstigt eine kunsthistorische Sozialpsychologie der Formen visueller Wahrnehmung, Erkenntnis und Deutung in einem zweifachen Sinn. Daß Geschichts- und Kunstgeschichtsschreibung eine Gedächtnis- und Erinnerungsleistung sei, ist ja nicht neu. U m diese Vorstellung wußten im 19. Jahrhundert etwa Droysen oder Burckhardt. Wilhelm Dilthey aktualisierte dies gegen die Geschichtsschreibung des Historismus. Wenig später kennzeichnete Aby Warburg den Kunstgeschichtsschreiber als „soziales Erinnerungsorgan". Aber die Arbeit des Kunsthistorikers ist an wichtigen Punkten von der des Historikers verschieden. E r hat es mit Gegenständen zu tun, die sinnlich erregen. Die wiedererweckte ästhetische Form ist an die menschlichen Sinne adressiert, über sie wird die Erkenntnisleistung vermittelt. Dabei verstand Warburg diese nicht als primär individuelle, psychologische Eigenschaft, sondern eher als kollektives Vermögen, als „Kollektivbewußtsein" 4 1 . Diese Erinnerungsarbeit geht nicht unreflektiert in Lebenspraxis ein. Ihre Wirkung, die Wirkung der Werke ist, Warburg hat das nachdrücklich betont, auf132

klärend, polarisierend, Kunstwerke gleichen aus oder stacheln an, gerade weil sie „aus paradoxalen Situationen, aus Konflikten" entstehen. 42 Herding und vor ihm schon Peter Schmandt verwiesen auf Analogien im Kunstverständnis von Warburg und Weiss. 1928 notierte Warburg für einen Vortrag den Satz „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz" 43 . In älterer Kunst sah Warburg derartige menschheitliche Erfahrungen in einem hohen Maße verdichtet, gebannt. Sie sind verfügbar als „Pathosformeln", vergegenwärtigend, aufrufbar in einem Aufhebungsprozeß, um eigene Interessen, Hoffnungen, Konflikt- und Leiderfahrung — in einem sehr weiten Sinn gefaßt — bewältigen oder umkehren zu können. Insofern handhabt Weiss die wiedererweckten Bilder umkehrend als „Mittel emphatischer Selbstbefreiung" 44 . Auf eigentümliche Weise, so Herding, lassen sich bestimmte Grundvorstellungen von Warburg und Weiss in eine augenfällige Parallele bringen. Spricht Warburg von „Sprengung der mittelalterlichen Ausdrucksfesseln" in der italienischen Renaissance, 45 von „bewußter Energieentfaltung" 46 , so Weiss von „Entfeßlung der Leidenschaften" (II, 10). Beide verbinden damit ein aufklärerisches, rationalisierendes und objektivierendes Pathos der Bewältigung. Beide zielen auf einen Kunstbegriff, der die Spannungen der vergangenen und der eigenen Zeit in sich austrägt, aushält, nicht nivelliert oder verdrängt. Tendierte allerdings Warburg eher zum sozialen Ausgleich hin, so Weiss aus seiner anderen gesellschaftlichen Stellung und Parteilichkeit zu den aufbrechenden und aufgebrochenen Konflikten, zu den unerledigten und andauernden Kämpfen, in die die ganze Menschheitsgeschichte eingeschrieben ist. Zur Orientierung in diesen Kämpfen besteht er auf seinem Begriff von Kunst, der „das Widerspruchsvolle" nicht genommen werden dürfe, der Kunst nicht „ihre Schwankungen, Brüche und Gegensätzlichkeiten", solle nicht „ein lebloser Stumpf übrig" bleiben (I, 74). Im mitschwingenden Vorbehalt gegen die apollinisch abgeklärte, harmonisch beruhigte, ausgleichende Kunst werden wir Weiss jedoch kaum folgen können. Auch sie vermag eine künstlerische ethische und emotionale Potenz im richtigen, nicht ablenkenden Gebrauch glaubwürdig zu entfalten. Ihr Pathos ist genau zu befragen wie das Pathos der „antiklassischen Bilder", ist ein anderes Experimentierfeld für Selbstbetätigung und Selbständigkeit der Rezipienten, für ihre Sinnvergewisserungen. Auch diese apollinischen

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Werke sind in den historischen Prozeß zurückzuversetzen, auf die Erfahrungen und Interessen zu befragen, die sie zum Ausgleich oder zu Utopie und vor allem durch welche bestimmte Form bringen. Diese Alternative kann nicht ausgeschlossen werden, wie sie etwa Peter Handke an Paul Cézanne beschrieb nach dessen Abkehr von den frühen „Schreckensbildern . . . [zur] Verwirklichung (» réalisation «) des reinen, schuldlosen Irdischen . . . Das Wirkliche war dann die erreichte Form, die nicht das Vergehen in den Wechselfällen der Geschichte beklagt, sondern ein Sein im Frieden weitergibt."« Damit ist kein Widerspruch zu Weiss gemeint. Es geht vielmehr um zwei grundsätzliche Seiten von Kunst, die in ihrem tiefsten Inneren verbunden sind. Beide Grundmöglichkeiten können die historischen Subjekte zum Handeln befähigen, vorausgesetzt, sie lassen sich auf einen Umgang mit Bildern ein, wie ihn Weiss exemplarisch vorgeführt hat. Beide Seiten von Kunst muß der gesellschaftlich verantwortungsbewußte Kunstwissenschaftler im Blick haben, will er visuell vergegenständlichte Erfahrungsschätze der Menschheit aktivierend rekonstruieren oder an heutigen Bildern, die sie ihrerseits aufnehmen und umbilden, bewußtmachen.

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Gudrun Klatt

Korrespondenz und Widerspruch Brecht bei Peter Weiss

Der zweite Band von Ästhetik des Widerstands, in welchem Brecht als Romanfigur auftaucht, erschien 1978. Peter Weiss' BrechtRezeption kam somit in eine Zeit politischer Umbrüche, die sich E n d e der siebziger Jahre in verschiedenen westeuropäischen Ländern vollzogen. In Stichworten wie „linke Melancholie"!, „neuer Subjektivismus" 2 , „neuer Konservatismus" artikulierten sich damals Veränderungen in Lebensgefühl und Stimmungen der Intellektuellen. Nach einem Zustand der Lähmung, der aus der Enttäuschung über die gescheiterten Aufbrüche von 1968 resultierte, ging es nun, am E n d e des Dezenniums, um ein neues Wertebewußtsein, neue Sinnfindung in der „geistigen Situation der Z e i t " 3 . Diese war geprägt von einer nach rechts driftenden gesellschaftlichen Praxis. Solche Entwicklungen hinterließen ihre Spuren auch im U m g a n g mit dem politischen Autor Brecht. Umgekehrt kann die Tatsache, daß E n d e der siebziger Jahre bisherige Brecht-Rezeption problematisiert und nach neuen Zugängen gesucht wurde, als Symptom für Verschiebungen im politischen und ästhetischen Denken verstanden werden. 1978, das Jahr von Brechts 80. Geburtstag, stand im Zeichen einer grassierenden „Brecht-Müdigkeit" 4 . Wer daraus jedoch — wie Helmut Karasek — den Schluß zog, „Brecht ist tot", hatte zumindest vorschnell geurteilt. Z u m 85. Geburtstag, 1983, nahm Karasek dann auch vor der großen Öffentlichkeit des Fernsehens 5 seine früher verkündete These zurück. A u s heutiger Sicht läßt sich die vorgebliche „Brecht-Müdigkeit", die es in dieser Ausschließlichkeit auch 1978 nicht gab, eher als eine Einkehr, als eine kurze Phase des Nachdenkens bestimmen. Sehr wach und energisch nämlich wird seit Beginn der achtziger Jahre um Brecht, seine Positionen und Haltungen, sein E r b e und Vermächtnis an die Nachgeborenen gestritten. Dieser Streit ist ein zutiefst politischer. Impulse erhielt er

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Gudrun Klatt

Korrespondenz und Widerspruch Brecht bei Peter Weiss

Der zweite Band von Ästhetik des Widerstands, in welchem Brecht als Romanfigur auftaucht, erschien 1978. Peter Weiss' BrechtRezeption kam somit in eine Zeit politischer Umbrüche, die sich E n d e der siebziger Jahre in verschiedenen westeuropäischen Ländern vollzogen. In Stichworten wie „linke Melancholie"!, „neuer Subjektivismus" 2 , „neuer Konservatismus" artikulierten sich damals Veränderungen in Lebensgefühl und Stimmungen der Intellektuellen. Nach einem Zustand der Lähmung, der aus der Enttäuschung über die gescheiterten Aufbrüche von 1968 resultierte, ging es nun, am E n d e des Dezenniums, um ein neues Wertebewußtsein, neue Sinnfindung in der „geistigen Situation der Z e i t " 3 . Diese war geprägt von einer nach rechts driftenden gesellschaftlichen Praxis. Solche Entwicklungen hinterließen ihre Spuren auch im U m g a n g mit dem politischen Autor Brecht. Umgekehrt kann die Tatsache, daß E n d e der siebziger Jahre bisherige Brecht-Rezeption problematisiert und nach neuen Zugängen gesucht wurde, als Symptom für Verschiebungen im politischen und ästhetischen Denken verstanden werden. 1978, das Jahr von Brechts 80. Geburtstag, stand im Zeichen einer grassierenden „Brecht-Müdigkeit" 4 . Wer daraus jedoch — wie Helmut Karasek — den Schluß zog, „Brecht ist tot", hatte zumindest vorschnell geurteilt. Z u m 85. Geburtstag, 1983, nahm Karasek dann auch vor der großen Öffentlichkeit des Fernsehens 5 seine früher verkündete These zurück. A u s heutiger Sicht läßt sich die vorgebliche „Brecht-Müdigkeit", die es in dieser Ausschließlichkeit auch 1978 nicht gab, eher als eine Einkehr, als eine kurze Phase des Nachdenkens bestimmen. Sehr wach und energisch nämlich wird seit Beginn der achtziger Jahre um Brecht, seine Positionen und Haltungen, sein E r b e und Vermächtnis an die Nachgeborenen gestritten. Dieser Streit ist ein zutiefst politischer. Impulse erhielt er

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weniger von der etablierten Brecht-Forschung, sondern eher von philosophisch, geschichtlich und künstlerisch intendierten Arbeiten. Von den unterschiedlichsten Standorten aus wird mit Brecht in den politischen Kämpfen der Zeit Stellung bezogen. Eine resolute Absage an aktiv-eingreifendes Verhalten kam 1983 von Peter Sloterdijk, Autor des „Kultbuchs" Kritik der zynischen Vernunft. Sloterdijk wendet sich gegen die „linke Melancholie" der Intellektuellen: „Die kritische .Stimmung' geht nostalgisch nach innen. . ." 6 Sich davon absetzend, will er eine der Zeit angemessene Lebenshaltung, eine — am Modell des antiken Kynikers orientierte — Überlebensstrategie entwickeln. Er beruft sich bei diesem Bemühen auch auf den frühen Brecht, bei dem „In-der-Zeit-Sein" gelernt werden könne: „Nicht nachhinken, keine Ressentiments wachsen lassen, keine alten Werte pflegen, sondern zusehen, was jetzt der Fall und zu tun ist." 7 Den kynischen Typ verkörpere bei Brecht die Figur des Galy Gay aus Mann ist Mann. Seine Haltung unterstützt Sloterdijk: „Sie widersteht nicht dem Wirklichen durch Einbildungen', sondern übt Widerstand in der Form der widerstandslosen Anpassung." 8 SloterdijksBuch wurde sehr kontrovers diskutiert. Dabei war auch zu beobachten, daß mit Brecht gegen Sloterdijk argumentiert wurde. Karl-Heinz Götze schrieb im Argument, die Reaktivierung der plebejischen Tradition verbinde Sloterdijk durchaus mit Brecht. Die Linie von Galy Gay führe schließlich bis zum Schweyk. Brecht aber habe sehr genau zwischen den Überlebensstrategien der „kleinen Leute" und dem Opportunismus der Intellektuellen unterschieden, was bei Sloterdijk nicht geschehe. Wenn Sloterdijk zu der Gleichung Unterlassen = Überleben gelange, so würden bei Brecht die Chancen solidarischen Handelns diskutiert. Abschließend hieß es bei Götze: „Nun ist es mit dem Verweis auf Brecht gewiß nicht getan, aber immerhin ist bei ihm eine Haltung zu studieren, die das Überlebensfähige bzw. zum Überleben Befähigende in Sloterdijks Buch nicht preisgibt, sich aber auch seinen fesselnden Elementen entzieht, wo sie auf Fesselung hinauslaufen." Und gefesselt würden bei Sloterdijk gerade „die Kräfte der Gesellschaftsveränderung"9. In ganz anderem Zusammenhang diskutieren Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem Buch Geschichte und Eigensinn (1981) die Möglichkeit, mit Brecht spontane Ideologiebildungsprozesse zu unterlaufen. Sie reflektieren dieses Problem unter dem Begriff der Identitätsfindung. Dabei kennzeichnen sie als Nicht-Identität bzw. 136

Verlust von Identität gerade eine Haltung, wie Sloterdijk sie anempfiehlt, nämlich „die Tendenz, sich im Unglückszusammenhang eine Ecke zu suchen und sich einzurichten"10. Identitätsfindung dagegen wird definiert als „Wahrnehmung erweiterter Erfahrung, nämlich einer Erfahrung, die mit den katastrophalen Prozessen der Geschichte umgegangen ist". Die Autoren untersuchen die Voraussetzungen für den Vorgang von Identitätsfindung und greifen dabei Brechts Überlegungen aus dem Dreigrosckenpro^eß über die „in die Funktionale" 11 gerutschte Realität auf. Sie setzen die „Kategorie des Funktionalen" als eine bestimmende Koordinate und interpretieren den damit verbundenen gesellschaftlich-geschichtlichen Prozeß: „. . . die Menschen geraten unter den Abstraktionen des kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesses und der politischen Verplanung in die Funktionale." 12 Die Schwierigkeit, so weisen sie nach, besteht darin, unter den in höchstem Maße arbeitsteilig verlaufenden rigorosen Vergesellschaftungsprozessen mittels empirischer Alltagserfahrung zur Identitätsfindung zu gelangen. Sie nehmen also die Brechtsche These auf und bilden sie zu einer Kategorie, um die Empirie des Alltags verdächtig zu machen: „In die F u n k t i o n a l e gerutscht, täuschen dagegen alle Sinne und auch eine große Reihe von Arbeitsmitteln der mittelbaren, zum selbstverständlichen kulturellen Erbe gehörenden Orientierungsverfahren, die hier unbrauchbar werden, weil die Kultur, die sie hervorgebracht hat, mit der Funktionalen nicht rechnete. Ich muß hier me s sen, um mich zu orientieren; kein wesentlicher Zusammenhang existiert mehr unmittelbar, wenn es nicht gelingt, ihn zunächst zu produzieren. Es geht also um eine Dominanz synthetischen Verhaltens bei der Orientierung. Die unmittelbaren Eindrücke und die Direktheit des herrschenden Denkens täuschen." 13 Brechts Position im Kampf gegen Faschismus und Krieg als unverzichtbare Erfahrung für die Gegenwart stand im Mittelpunkt einer Untersuchung von Hans-Wilhelm Grote. Der Beitrag erschien im thematischen Heft Antifaschismus oder Niederlagen beweisen nichts, als daß wir wenige sind der Zeitschrift "Dialektik (1983). Ziel dieses Heftes war es, den Begriff Antifaschismus „mit Leben zu erfüllen. Gegen Faschismus und Krieg müssen die Perspektiven konkret sein, um Antifaschismus lebenswert mit positiver Zukunft zu machen." 14 In einem solchen Konzept wurde Brechts Antifaschismus als Versuch gewertet, „nach Maßgabe der .Vernunft' im Antagonismus der Klassen ein konkretes gesellschaftliches Subjekt vom Objekt zum geschichts137

mächtigen S u b j e k t der Politik zu qualifizieren. A n dieser V e r ä n d e r u n g beteiligt sich B r e c h t ; sein L e b e n u n d W e r k haben teil an der U m g e staltung der Wirklichkeit. F ü r ihn sind . D e n k f o r m e n ' , . L e b e n s f o r m e n ' und .Mitarbeit', Weitergeben, , L e b e n ' ist als ,kritische H a l t u n g die einzige p r o d u k t i v e , m e n s c h e n w ü r d i g e . ' " 1 5 D a s gleiche H e f t v o n Dialektik enthielt auch einen Beitrag zur Ästhetik des Widerstands. Geschrieben hat ihn der französische G e r m a n i s t A n d r é Gisselbrecht. E r las die T r i l o g i e als ein W e r k , in welchem es u m „Widerstand u n d V o r a u s s e t z u n g e n zur Widerstandsfähigkeit gestern und h e u t e " geht. D a h e r arbeitete er eine G r u n d i d e e b e s o n d e r s h e r a u s : E r nannte sie die Ästhetik des Antifas c h i s m u s bei Peter Weiss, die sich aus d e m Z u s a m m e n h a n g v o n praktizierter „ S i c h t v o n u n t e n " auf die Geschichte und „ E r w e i t e r u n g des B e w u ß t s e i n s " durch K u n s t b e t r a c h t u n g ergibt. G e r a d e diesen zweiten A s p e k t akzentuierte Gisselbrecht und h o b die politische D i m e n s i o n der B e s c h ä f t i g u n g mit K u n s t h e r v o r : „ K u n s t b e t r a c h t u n g . . . b e k o m m t die A u f g a b e , die S c h r e c k e n s l ä h m u n g in den politischen E f f e k t des Widerstandsaktes u m z u w a n d e l n ; denn K u n s t ist . M n e m o s y n e ' , vergessene, wieder ins G e d ä c h t n i s g e r u f e n e Widerstandsgeschichte der . U n t e r e n ' . " 1 6 Mit diesen Ü b e r l e g u n g e n Gisselbrechts ist eigentlich genau jener P u n k t benannt, w o unser T h e m a , Brecht in der Ästhetik des Widerstands, b e g i n n t . W e n n der Ich-Erzähler im zweiten Teil des zweiten B a n d e s der R o m a n f i g u r Brecht b e g e g n e t , geht es nicht mehr allein u m K u n s t b e t r a c h t u n g als rezeptiven V o r g a n g . Z u r D e b a t t e steht dann die F r a g e , wie politische Aktivität und ästhetische Kreativität unter den B e d i n g u n g e n des antifaschistischen W i d e r s t a n d s z u s a m m e n k o m m e n . D i e T a t s a c h e aber, daß dieses H e f t v o n Dialektik zum Thema A n t i f a s c h i s m u s Brechts u n d W e i s s ' Arbeiten mit anderen politischen zeit- u n d literaturgeschichtlichen U n t e r s u c h u n g e n vereinte, macht auch A p o r i e n sichtbar, die Literaturwissenschaft und BrechtF o r s c h u n g v e r s ä u m t haben. W ä h r e n d nämlich der zweite B a n d v o n Ästhetik des Widerstands bei seinem Erscheinen k a u m R e s o n a n z seitens der B r e c h t - F o r s c h u n g f a n d , änderte sich d a s , n a c h d e m die Notizbücher u n d d a s Interview, d a s B u r k h a r d t L i n d n e r 1 7 mit W e i s s führte, publiziert waren. D e l i k a t e D e t a i l s aus B r e c h t s Privatleben, v o n Weiss in den Notizbüchern akribisch festgehalten, ließen sich s ü f f i sant zitieren u n d dienten d a z u , n u n m e h r den Schriftsteller Peter Weiss einer Psychoanalyse zu unterziehen. Sie e r g a b , wie J o s t H e r m a n d 1 8 auf den B r e c h t - T a g e n '83 mitteilte, daß Brecht in Peter W e i s s '

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Leben als „Über-Vater" agierte. Gefühle von Unterlegenheit und Minderwertigkeitskomplexe hätten sich dadurch ständig reproduziert; zugleich aber habe der „Über-Vater" wie ein Korrektiv gewirkt, indem er der Befangenheit des Ich-Erzählers Weiss' im Irrationalen seinen praktischen Rationalismus entgegengesetzt habe. Solcherart Interpretation bleibt zumindest dürftig. Entschieden seriöser ist dagegen die kleine Studie von Herbert Claas zum gleichen Thema, der den m. E. einzig wirklich berechtigten konzeptionellen Grund für das Erscheinen von Brecht als Romanfigur bestimmte: „Vom Auftauchen der Brecht-Figur an datiert der Impuls für den Übergang der Ästhetik des Widerstands von der rezeptiven Aneignung der Kunst zur produktiven Aneignung der Wirklichkeit im Medium der Dichtung." Wenn Claas allerdings als Thema des Brecht-Komplexes angibt, abgehandelt werde der „intellektuelle Klassenverrat, de(r) parteiliche Zugriff des sozialistischen Künstlers auf die fortgeschrittenen Produktionsmittel der Kultur seiner bürgerlichen Herkunftsklasse"