208 124 2MB
German Pages 240 Year 2015
Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor
Band 3
2009-09-03 13-29-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0303219878093334|(S.
1
) T00_01 schmutztitel - 1156.p 219878093342
Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.
2009-09-03 13-29-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0303219878093334|(S.
2
) T00_02 seite 2 - 1156.p 219878093350
Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.)
Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss
2009-09-03 13-29-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0303219878093334|(S.
3
) T00_03 titel - 1156.p 219878093406
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Peter Weiss: »Selbstbildnis zwischen Tod und Schwester« (1935), © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Lektorat & Satz: Stefanie Rymarowicz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1156-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
2009-09-03 13-29-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0303219878093334|(S.
4
) T00_04 impressum - 1156.p 219878093414
Inhalt Peter Weiss: Maler, Filmemacher, Schriftsteller, Dramatiker.
7
Dieter Mersch Ästhetik des Widerstands und die Widerständigkeit des Ästhetischen. Peter Weiss’ intermediale Kunst
17
Jost Hermand Arbeiterbilder. Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk und Robert Koehlers Der Streik
38
Gerhard Friedrich Die »Ortschaft« des Peter Weiss. Ortslosigkeit und Raumverlust in der Sprache der frühen Prosa
59
Jochen Vogt Ugolino trifft Medusa. Nochmals über das »Hadesbild« in der Ästhetik des Widerstands
69
Helmut Peitsch 92 »Heilmann an Unbekannt: [...] dies aber ist der Abschiedsbrief«. Die Ästhetik des Widerstands und das Genre des letzten Briefs Thomas Schmidt Begrenzung und Ausschnitt. Zur Problematisierung der Wahrnehmung in Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers und ausgewählten Texten des Nouveau Roman
127
André Fischer Bilder der Konvulsion. Betrachtungen zum filmischen Werk von Peter Weiss
155
Hans-Christian Stillmark 179 Inszenierungen des Körpers in frühen Werken von Peter Weiss Jan Kostka 196 Die Bearbeitung des Vietnam-Problems in Weiss’ Trotzki im Exil Jürgen Schutte Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
215
Zu den Beiträgern
238
Peter Weiss: Maler, Filmemacher, Schriftsteller, Dramatiker.
Zur Einleitung Am 19. Oktober 1965 wird Peter Weiss’ Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen in einer Ringuraufführung an 15 Spielstätten in Westund Ostdeutschland gleichzeitig auf die Bühne gebracht – darunter Berlin, Halle, Essen, Köln, Dresden, Leipzig und München. Es handelt sich um ein einzigartiges Theater- und Medienereignis – nicht allein wegen des bis dahin singulären Aktes kollektiver Erinnerung und Aufarbeitung nationalsozialistischer Monstrosität, auch nicht, weil hier zum ersten Mal in einer Art szenischer Dokumentation die Protokolle der Auschwitz-Ermittlungen fürs Theater öffentlich gemacht wurden, sondern auch wegen des Politikums, eine solche Erinnerungsarbeit gleichermaßen für die damalige BRD wie für die DDR reklamieren zu wollen und damit die Schuldfrage auf beide Systeme zu beziehen. Grundlage bilden zum Teil wörtliche Zitate aus dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess vom Dezember 1963 bis August 1965. In Anlehnung an das Inferno aus Dantes Göttlicher Komödie bringt Weiss das Grauen der Vernichtungslager in Originalzeugnissen zur Sprache und führt das Entsetzliche dramatisch verdichtet vor. Die Mittel dazu sind vor allem die Wiedergabe der Protokolle, das Szenische sowie, auf unterschiedliche Weise realisiert, Musik – an der Berliner Volksbühne unter Erwin Piscator durch Luigi Nono, in der Lesung an der DDR-Volkskammer in Ostberlin durch Paul Dessau. Dem Stück kommt dadurch eine eigene intermediale Kraft zu, die auf verschiedene Weisen inszenatorisch genutzt wurde. Peter Weiss verwendet, unter äußerster Askese, das für sich selbst sprechende Mittel einer Collage, die den Prinzipien des epischen Theaters Bert Brechts folgt, worin sich Texte, Klänge, szenische Bilder, Gesten, Handlungen mischen, um das abwesende
7
Einleitung
8
Grauen auf indirekte Weise dennoch eindringlich zu machen. Weiss hat im Nachhinein seine Arbeit als fast wissenschaftlich bezeichnet. Sie versuche, das Unfassbare gleichsam analytisch fassbar zu machen – wohl wissend um das Unzureichende jeder Form, die infernalische Realität der Lager zur Darstellung bringen zu wollen. Tatsächlich hatten die Aufführungen in West und Ost eine umfangreiche Debatte über das Stück ausgelöst, die in den Tageszeitungen sowie in Radio und Fernsehen hitzig ausgetragen wurde. Vorangegangen war, in seiner improvisierten Rede vor dem Schriftsteller-Kongress in Weimar 1965, das Bekenntnis des Schriftstellers zum Sozialismus. Vor allem die Lesung in der DDR-Volkskammer unter Beteiligung von Schauspielern, Politikern, Bildhauern, Malern und Journalisten und unter Verzicht auf nahezu alle theatralen Mittel wurde als ein Stück Propaganda und als Zurschaustellung moralischer Überlegenheit gebranntmarkt. Gleichzeitig wurden auch ästhetische Bedenken gegen das Stück laut, vor allem, weil es Auschwitz darstellbar und damit konsumierbar mache – insbesondere verändere sich der Stoff durch seine Stilisierung: polemisch wendete sich, stellvertretend für viele, Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung gegen jedes Theater-Auschwitz. 1 Die Diskussion referierte damit auf den Topos der Undarstellbarkeit der Shoah, der im Grunde, ohne es als solches zu bezeichnen, schon die Frage nach der Medialität und ihrer Angemessenheit stellte. Weniger die politischen Ereignisse, die damals die Gemüter erhitzten, standen damit rückblickend auf dem Spiel, als vielmehr das Mediale selber, die Darstellungsmittel des Theaters und seine Möglichkeit, das zur Anschauung zu bringen, was sich der Anschaulichkeit verweigert und dessen bloßer Versuch einer Ausdrückbarkeit an sich schon verharmlosend wirkte. Die äußerste Askese und Zurückhaltung der Mittel, derer sich Peter Weiss bediente, macht allerdings deutlich, dass er sich über die Brisanz der Problematik und ihrer vergeblichen Lösung vollkommen im Klaren war – Weiss stand an der Schwelle medialer Selbstreflexion, und wie kaum ein anderer Dramatiker und Schriftsteller wusste er um die Grenzen des Wortes, wie überhaupt um die Beschränkungen, die den verschiedenen Registern des Ausdrucks auferlegt sind. Eingehend hatte er sich in seiner LaokoonRede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises 1965 mit den Unzulänglichkeiten der Sprache wie des Bildes auseinandergesetzt. Beide versagten vor allem dort schmerzhaft, wo es gelte, wie Erwin Piscator mit Blick auf die Ermittlung formulierte, die erschüttern-
1
Süddeutsche Zeitung, 4./5. September 1965.
Einleitung
ste und sinnloseste Passion in der Geschichte aufzurufen.2 Dem, was sich jeder Gestaltung entzieht, dennoch eine Gestalt zu geben, dazu bietet die intermediale Form des Theaters gleichermaßen ein Forum, wie dieses die Paradoxie der Darstellung des Undarstellbaren immer nur wiederholen kann. Doch betritt es gerade dadurch den kultischen Bereich, der sein Recht und seine Unverzichtbarkeit darin bekundet, dass er, unter Einsatz und Aufwendung aller möglichen Mittel, ans Unvorstellbare zumindest heranreicht. Das bedeutet nicht, sie summarisch, gleich einer Addition, zu verwenden, sondern so, dass Schnittlinien und Reibungsflächen entstehen, an denen das, was ohne Repräsentation und Kontur bleiben muss, sich performativ zu entzünden vermag. Dazu sind allerdings Formen vonnöten, die offen genug erscheinen, die unterschiedlichen Facetten experimentell auszutesten und stets von neuem das zu evozieren, was sich weder sagen noch zeigen lässt. Nicht umsonst machte Weiss dazu Anleihen bei älteren Formaten, historisierte, um das im Grunde vergebliche Unterfangen hinreichend fremd erscheinen zu lassen. Weder die Ermittlung, noch der Marat/Sade oder der Lusitanische Popanz und andere Stücke folgen dabei einem einheitlichen Stil: Stattdessen versuchen sie immer wieder andere Wege zu gehen und Zugänge zu finden, sodass Peter Weiss als Praktiker gewürdigt werden muss, dem es zuletzt um die Darstellung und ihre Auslotung inmitten selbst ihrer Unmöglichkeit ging. Das einmalige Theaterereignis von 1965, die gleichzeitige Inszenierung der Ermittlung in Ost und West nur wenige Monate nach dem Ende des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, bildete deshalb nicht nur ein Stück Kulturgeschichte Nachkriegsdeutschlands, sondern auch ein Exemplum für die unterschiedlichen Realisierungen dessen, was das Theater als kulturelle Institution angesichts einer unbearbeiteten und unbewältigbaren Vergangenheit vermochte. In einer beispiellosen konzertierten Aktion, wie sie für die Kunst der 1960er Jahre charakteristisch war, legte es noch einmal einen Prüfstein seiner Leistungsfähigkeit vor. Gewiss hat man damals alles im Lichte des Systemgegensatzes zwischen Ost und West gesehen und als eine Frage höherer moralischer Legitimität diskutiert – und doch überlebt bis heute der Künstler Peter Weiss, den trotz aller Bekenntnisse nicht so sehr die Frage des Politischen, sondern der Darstellungsmedien, des Horizonts und ihrer Geltung bewegte. In diesem Sinne gilt es, Peter Weiss heute wiederzuentdecken und noch einmal zu lesen, um, den 90. Geburtstag des Malers, Filmemachers, Schriftsteller und Dramatikers im Rücken und 30 Jahren 2
Erwin Piscator, Anmerkungen zu einem großen Theater, in: Ders.: Aufsätze, Reden, Gespräche, Berlin 1968, S. 321-325.
9
Einleitung
10
nach Erscheinen der Ästhetik des Widerstands, seine Arbeiten, allen politischen Veränderungen zum Trotz, erneut auf den Prüfstand künstlerischer Gültigkeit zu heben. Sicherlich geht die Wirkung und Interpretation des Weiss’schen Werkes nicht bruchlos in einem solchen transmedialen Blick auf. Der Untertitel des vorliegenden Bandes, die transmedialen Inszenierungen des Peter Weiss, zielt jedoch auf mindesten zwei Perspektiven und betont einerseits das Gemachte, Hergestellte und ästhetisch Formierte der verwendeten Materialien, die andererseits zugleich als Medien fungieren. Das Mediale betrifft dabei die spezifischen Darstellungs- und Aussageweisen sowie deren Kommunikationsangebote hinsichtlich von Bildlichkeit, Szenik, literarischer Sprache oder filmischem Experiment. Demgegenüber ergibt sich, dass historisch anzusehende psychologische oder psychoanalytische Deutungen (wiewohl sich Peter Weiss intensiv mit Psychoanalyse beschäftigte) als methodischer Rahmen für einen Zugang zu seinen Arbeiten sich heute als unzureichend erweisen. Stattdessen ist es mit Einsicht in die transmedialen Zusammenhänge seiner Herangehensweise möglich, viel stärker deren inszenatorischen und konstruktiven Zuschnitt herauszustellen. Es zeigt sich eben, dass z.B. der Körper bei Peter Weiss nicht einfach im mimetisch-repräsentativen Sinne einen Topos darstellt, vielmehr bildet er eine Operationsfläche von Zeichen, die auf Veranschaulichung bauen und auf die poietische Funktion ihres Gemachtwordenseins verweisen. Sie bringen damit zur Sprache, was sonst nur abstrakt oder anonym und damit auch nicht erinnerlich wäre. So verstehen sich die hier versammelten Beiträge als Erprobungen einer multiperspektivischen Arbeit. Sie thematisieren eher die produktionsästhetischen Bedingungen des Werkes und deren rezeptive Konsequenzen als die gesellschaftskritischen Provokationen oder Schockmomente, die Weiss womöglich selber als wichtiger erschienen. Es ist weitgehend unbekannt geblieben, dass Weiss, der Weltbürger und europäische Intellektuelle, der während der Kriegsjahre die schwedische Staatsbürgerschaft annahm, in Nowawes geboren wurde, einem Ortsteil von Potsdam, der später mit dem Namen Babelsberg arisiert wurde. Die heute gern als Medienstadt apostrophierte Ortschaft hätte als Produktionsstandort des alten und neuen deutschen Films durchaus einen Bezug zu dem multimedial produzierenden Peter Weiss. Allein, weder Ufa noch Defa lassen sich für biographische Hinter- oder Untergründigkeit in den Dienst nehmen; für die vom Autor selbst beschriebene deutsche Kindheit und Jugend stehen vielmehr Bremen und Berlin. Seine filmischen und bildkünstlerischen Bezugspunkte sind, wie der Beitrag von André Fischer in diesem Band nachzeichnet, eher in der Metropole
Einleitung
Paris zu verorten. Obgleich im Laufe der Zeit in der Beschäftigung mit Peter Weiss die Einsicht gewachsen ist, seinen biographischen Verarbeitungen im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt mit Skepsis zu begegnen, soll hier jedoch sogleich betont werden, dass sein Umgang mit Wirklichem, seine besondere Mischung aus Fiktion und Faktischem, zu immer neuem Spurenlesen herausfordert. In der Präsentation des scheinbar konkret-historischen Dokuments, auch in Bezug auf seine eigene Vergangenheit, lässt sich aus heutiger Sicht eher eine Inszenierung von wirklichkeitsinhärentem Material auffassen, die neben der Abbildfunktion auch einen Appell beinhaltet. Weiss’ Wirklichkeitsauffassung ist von einem Zugang über das Zeichen und seine symbolischen Konnotationen zu beurteilen. Sicher anders, aber nicht minder zutreffend, gilt hier Heiner Müllers Diktum auch für Peter Weiss’ Darstellungen: Im Reich der Notwendigkeit sind Realismus und Volkstümlichkeit zwei Dinge. Der Riß geht durch den Autor. In Summe machen sämtliche Beiträge des Bandes von unterschiedlichen Fragestellungen her auf diesen Riss und die Verwandlungen des künstlerischen Materials in Weiss’ Schaffen aufmerksam. In den konzeptionellen Überlegungen, die dem Band zu Grunde liegen, treffen sich dementsprechend Betrachtungen zu Arbeiten aus dem Frühwerk, die auch als Voraussetzungen für die Ästhetik des Widerstands anzusehen sind, wie ebenfalls Beobachtungen, die dem Prosamonolith des späten Werks selbst gelten. Dabei überschneiden sich in den Beiträgen Rückgriffe und Vorausdeutungen, ohne dass kausale Engführungen forciert werden. Zudem sind, einer konzeptionellen Entscheidung der Herausgabe geschuldet, unterschiedliche Generationen am Werke. Sind mit Jost Hermand und Jürgen Schutte verdienstvolle Nestoren der Weiss-Forschung vertreten, gehören Jochen Vogt, Helmut Peitsch, Gerhard Friedrich und Dieter Mersch einer Generation an, die zum erneuten Male und teilweise mit erheblichen Abstand auf die Weiss’schen Texte (zurück-)blickt. Sie gewinnen in der Distanz eine Sensibilität für weiße Stellen, neue Zusammenhänge und schauen mit der Erfahrung aus Inszenierungen nicht mehr unvermittelt auf das Werk. Der mit einem DDRHintergrund ausgestattete Hans-Christian Stillmark liest wiederum den Riß im Autor (Heiner Müller) anders als seine Kollegen und entdeckt in den Zeichen, die aus den Körpern gebildet werden, Medien, die provokativ in Kommunikation mit einer noch zu bildenden Öffentlichkeit in einer anders verfassten Gesellschaft stehen. André Fischer, Jan Kostka und Thomas Schmidt stehen indessen für eine junge Generation von Rezipienten, die ohne eigene Erfahrung der geteilten Welt (Weiss) den umkämpften Segmenten im Weiss’schen Werk neue Seiten abzugewinnen suchen. Viel
11
Einleitung
12
stärker ist ihnen die behauptete Ortlosigkeit und der Riss im Autor als Understatement verdächtig, entdecken sie doch seinen Platz in der Geschichte der Kunst, die der Autor nicht nur beansprucht, sondern sich auch aktiv verschafft, indem er intertextuell seine Herkünfte behauptet und auf seine künstlerische Heimat verweist. Dieter Merschs Bemerkungen zur Widerständigkeit des Ästhetischen treffen dabei zunächst grundsätzliche Überlegungen zum Werk. In seinem Beitrag betont er den im Grunde anachronistischen Entwurf einer totalen Kunst, die dem Weiss’schen Schaffen anfänglich zugrunde liegt und an dem er notwendig irre werden muss. Aus der Not geboren und einem Mangel entsprungen, wohnt ihm die Verknüpfung aller zur Verfügung stehenden Mittel und Darstellungsmöglichkeiten als ein allen Fixierungen widersprechendes, unauflösbares Moment inne. Eine solche integrative Entgrenzung ist konzeptionell im Begriff der Inter-Media zu einer besonders ausgeprägten Zusammenfügung von Visuellem und Poetischem entfaltet. Gerade weil das Haus der Sprache für Weiss unbewohnbar und die entstandene Leere mit Worten zu füllen unmöglich geworden ist, kann das Zeigen im Bild als vermeintlicher Fluchtpunkt taugen. In der Unmöglichkeit des Schreibens nach Auschwitz, wie es Theodor W. Adorno pointierte, berühren sich, wie Mersch weiter ausführt, der Schriftsteller und der Philosoph. Indem Weiss vom Bild wiederum zu einer Rückgewinnung der Sprache ansetzte, gelangt er unter Verzicht auf Rhetorizität und die figurale Stilisierung der Rede zu einem kalten, fast analytischen Stil sprachlicher Askese. Intermedialität wird somit zur fortgesetzten Arbeit an der Widerständigkeit des Medialen selbst, worin sich zugleich die Widerständigkeit des Ästhetischen verkörpert. Sie wendet sich in ihren Verfahren gegen die Vernichtung und Auslöschung des Geschwätzes hin zu einer anderen Sachlichkeit, die dem Verlust mit Konkretion begegnet. Weiss’ Hinwendung zum Film steht dabei unter dem Zwang, der Problemlage zwischen Literatur und Malerei zu entkommen und zu einer anderen Formensprache zu finden. Im Theater schließlich erhält die Konzeption der Intermedialität ihre originäre Gestalt, speziell im Marat/Sade als paradoxe Inszenierung eines Theaters im Theater. In der Tradition des absurden und grausamen Theaters stehend, transformiert sich so das Sprechtheater zu einer performativen Meta-Theatralik. Beispielhaft für das Zusammenspiel von bildkünstlerischen und sprachlichen Medien diskutiert Jost Hermand den kunstinteressierten und zugleich politischen Peter Weiss des Spätwerks, der die großen Werke der Malerei zum Gegenstand ästhetischer und politischer Reflexionen in seinem literarischen Monumentalwerk Die Ästhetik des Widerstands macht. Die Erwägungen zu Adolph
Einleitung
Menzels Eisenwalzwerk und Robert Koehlers Der Streik sind um die Prämisse einer politisch engagierten Kunstpraxis in diesem Roman bewertet. Hermand geht in kulturwissenschaftlicher Perspektive auf die Geschichte beider Arbeiterbilder ein und kritisiert Weiss’ abwertendes Urteil zu Menzel als einseitig und falsch. Interessant ist seine kleine Geschichte des Koehlerschen Bildes, das mit der langjährigen Stätte des eigenen Wirkens in Madison/Wisconsin verbunden ist. Der Funktionswandel von Malerei und deren Inszenierung wird in seinem Beitrag sinnfällig. Gerhard Friedrich untersucht mit Bezug auf die Ästhetik des Widerstands darüber hinaus die besondere Beschaffenheit von Weiss’ prekärem Ausgangs- und Standpunkt, seinem Verlust von Zugehörigkeit und seinem lediglich im Werk behaupteten Ort. Indem Friedrich den Raum als Verlust nachvollziehbar macht, ermöglicht er tiefere Einblicke in Weiss’ Verhältnis zu Wort und Bild. Wie sich diese in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stellen, sich einander ausschließen und doch wieder finden, macht Friedrich anhand der frühen Werke deutlich. Sein Verweis auf die sprunghafte Verwandlung vom Anblick eines Floßes in Paris 1938 ins Gemälde von Theodore Géricaults Das Floß der Medusa (1818-1819) ist ein anschauliches Beispiel dafür, was mit den inszenierten Transfigurationen, denen der Band auf der Spur ist, gemeint ist. An genau diesem Beispiel befestigt auch Jochen Vogt seine Bemerkungen zur Ästhetik des Widerstands. Sein Augenmerk gilt Géricaults Floß der Medusa als Hadesbild, das paradigmatisch für den Umgang mit dem Schrecken in Malerei und Literatur bei Peter Weiss steht. Der Verweis auf die lebenslang produktive Spannung zwischen Wort und Bild im Weiss’schen Schaffen unterstreicht die multimediale Denk- und Arbeitsweise des Künstlers. Vogts Überlegungen zu der Komposition der Géricault-Passage im Roman weisen dabei auf die vielfältige Diegetik des Bildes im Roman. Unter der Hand ereignet sich in Folge der unterschiedlichen Erzählungen eine Verwandlung des Dargestellten. Die drei Geschichten, die Vogt bei Weiss um das Bild gruppiert sieht, erzeugen gleichsam eine Mega-Diegese, die erzähltechnisch von besonderer Qualität und Beschaffenheit ist. Wie spannungsreich der erzählerische Prozess in den einzelnen Passagen auf den Gegenstand des Erzählten bezogen wird, betont zugleich die Engführung von historischen Ereignissen, ästhetischen Sinnkonstruktionen und Lektüren durch die verschiedenen historischen wie aktuellen Betrachter. Im Ergebnis des Vogtschen Befundes werden zudem die ideologischen wie handwerklichen Schwachstellen des Romans plausibel gemacht, wobei der literaturkritische Impetus seinem Gegenstand auf Augenhöhe
13
Einleitung
14
zu begegnen sucht. Schließlich ist Vogts Kommentar zum Umgang von Weiss mit der Ugolino-Gestalt ein äußerst instruktiver Beitrag zur Deutung des Textes. Wie sich auch hier Bildgeschichte in Narration verwandelt, unterstreicht noch einmal Weiss souveränen Rang als Schriftsteller. Auf ganz andere Weise liest Helmut Peitsch die Ästhetik des Widerstands. Er führt in seinem Beitrag die Verwandlung vor, die von einem Dokument zu einer dokumentartigen Fiktion führt. In der Ästhetik des Widerstands, das sich wie viele andere Werke von Peter Weiss im Riss zwischen Fiktionalität und Faktizität verorten lässt, diskutiert Peitsch gleichzeitig eine Genrefrage, die erinnerungstheoretisch einen hohen Stellenwert hat, nämlich die des Abschiedsbriefes. Wenn, wie nicht wenige Kritiker behauptet haben, im Abschiedbrief von Horst Heilmann ein Höhepunkt des Ästhetik des Widerstands gestaltet ist und das Werk generell auf diesen Brief hin konzipiert zu sein scheint, muss auch die heutige Relektüre diese Bewertung bestätigen, die material- und kenntnisreich Peitsch durchführt. Er gibt dabei aufschlussreiche Einblicke in die Konzeption von Erinnerungsarbeit, die sich als Widerstand gegen das Vergessen versteht und im Totengedenken (Walter Benjamin) ihren perspektivischen Zielpunkt erblickt. Jenseits des literarischen Monolithen Die Ästhetik des Widerstands untersucht Thomas Schmidt den frühen Roman von Peter Weiss am Beispiel des Schattens des Körpers des Kutschers. Er zeichnet dabei den Zusammenhang von spezifischer Wahrnehmung und Konstitution von Romanhaftigkeit in der Tradition des Nouveau Roman nach. Nicht nur geht es ihm um die Bewusstmachung einer spezifischen Traditionswahl durch Weiss, sondern es geht ihm darum, die Möglichkeiten eines neuen Schreibens für die Konstitution einer neuen Sicht auf die Wirklichkeit auszuloten. Auffällig ist, wie sich in Weiss‘ Erzähltheorie, die dem Kutscher zugrunde liegt, eine Medialisierung des erzählerischen Subjekts mitteilt. Anders als eben nur ein inhaltliches Moment der Beschreibung zu sein, wird in der Nachfolge des Nouveau Roman das Erzählen selber sinnfällig wahrnehmbar. Die Transformation, die den Erzählvorgang konstitutiert, bildet damit ein organisierendes Zentrum der Weltaneignung und steht nicht mehr in einem unreflektierten Draußen eines von der Beschreibung getrennten Körpers. André Fischer geht dagegen, wie schon erwähnt, den Spuren surrealistischer Programmatik in Weiss’ experimentellem Film nach. Er weist in seinen Betrachtungen insbesondere auf den avancierten Gebrauch der filmischen Mittel hin, die Weiss exemplarisch einsetzte. Eine Filmkunst, die sich der herkömmlichen Narration zu entziehen sucht, die sich gleichzeitig jeglicher naturalistischer
Einleitung
Eindimensionalität verweigern will und auf ihrer künstlerischen Widerständigkeit beharrt, mag zwar der Erfolg vorenthalten worden sein, doch ist das Ausreizen ästhetischer Möglichkeiten als Vorstufe für die vielschichtigen Inszenierungen des späteren Werks zu studieren. Trotz der Abkehr von der Filmkunst als Medium des Ausdrucks tauchen ihre Prinzipien in den Kompositionen der folgenden Werke wieder auf. Verdankt sich der Erfolg des Schattens des Körpers des Kutschers einer besonderen, seltsam objektivistischen Beobachtungssprache, die, wie schon der elliptische Titel unterstreicht, beständig ihre eigene Brüchigkeit inszeniert, analysiert Hans-Christian Stillmark in seinem Beitrag, wie sich die Darstellungen des Körpers im Frühwerk einer Lektüre anbieten, die gleichzeitig provokativ auf die Leserschaft einzuwirken sucht. Wie sich zeigt, sind in der Verkettung von Lust und Schmerz die gestalteten Körper zerrissen. Indem sie an die Grenze ihrer Darstellbarkeit gebracht werden, indem sie die Tabus des Vorführbaren unterlaufen und einer eigenen Grammatik unterliegen, können sie als eigenständige Texte gelesen werden, die sich nicht von der Sprache emanzipieren. Als wichtige Prämisse erscheint dabei, dass der körperliche Text entgegen dem Anschein eben nicht auf biographische Konstellationen reduzierbar ist. Auch hier erfahren die Risse im Autor und die wirkungsästhetischen Intentionen ihre unverwechselbare Originalität. Im Gegenzug dazu zeichnet Jan Kostka die gegenseitigen Verflechtungen, die als Diskurse das Werk Peter Weiss durchlaufen, nach. Weniger werden hier die medialen Transformationen als vielmehr die politischen Übertragungen in eine Zerreißprobe gebracht. Zusammenhänge, wie sie zwischen Vietnam-Krieg, stalinschem Terror und nationalsozialistischem Judenmord aufscheinen, bilden die zentralen Spuren, die von der Komplexität des Weiss’schen Denkens Zeugnis ablegen. Wie sich diese Diskurse in dem seinerzeit von Ost wie West verfemten Trotzki-Stück vernetzen und wie sich diese Vernetzungen wiederum als unzeitgemäße, weil politisch nicht opportun angesehene Gratwanderungen äußern, zeigt Kostka im Ergebnis seiner Studien. Auch hier steht das in sich zerklüftete Werk in seiner Widerständigkeit gegen das politische Material seiner Zeit und pocht auf seine autonome Sicht. Jürgen Schuttes Arbeit scheint am Schluss den Rahmen der bisherigen Fragestellungen zu sprengen, und doch sind die in seinem Beitrag mitgeteilten Erfahrungen aus seiner langjährigen Editionsarbeit für die gesamte weitere Weiss-Rezeption von hohem Wert. Schutte vermittelt Einblicke in sein Projekt einer elektronisch basierten Herausgabe der Notizbücher von Peter Weiss, was nicht nur der haltbaren Bereitstellung von Teilen des Werks dient. Es ist
15
Einleitung
gleichermaßen für die an den neuen Medien geschulten Generationen von besonderem Wert. Wie sieht die Überführung von Texten aus der Gutenberg-Galaxis in die elektronischen Medien konkret aus? Welche Möglichkeiten bieten diese und welche Grenzen werden dabei sichtbar? Aus heutiger Sicht erscheint dies noch unabsehbar und geht mit der Sisyphos-Arbeit der Erschließung der NotizBücher in eine erste Erprobung. Gerade weil diese Arbeit an bisher noch nicht systematisch erschlossenen Quellen ausgeführt wurde, hat sie für die Rekonstruktion des literarischen Nachlasses des Autors unschätzbaren Wert. Schon allein der Stellenwert, den Weiss den autobiographischen Aufzeichnungen und Notizbüchern beimaß, wie der Blick auf die Buchveröffentlichungen seines Werks zeigt, rechtfertigt diese Anstrengung.
Margrid Bircken, Hans-Christian Stillmark, Dieter Mersch Potsdam, im Mai 2009
16
Dieter Mersch Ästhetik des Widerstands und die Widerständigkeit des Ästhetischen. Peter Weiss’ intermediale Kunst
Die Ästhetik des Widerstands – so lautet der Titel des großen Epochenromans von Peter Weiss aus der Spätzeit, jener Trilogie, an der er fast zehn Jahre gearbeitet hatte und die Walter Jens die Epopöe des Autors genannt hatte – ein Epos, das die sozialistische Bewegung im Ganzen, ihre Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Faschismus sowie ihre eigene innere Brüchigkeit, ihr Zerwürfnis und ihre Zerrissenheit zum Thema hatte. Die folgenden Überlegungen suchen den Titel des Romans mit dem Chiasmus einer Widerständigkeit des Ästhetischen zu konfrontieren, um daran einerseits das spezifische ästhetische Projekt, die Kunstauffassung, oder ästhetische Obsession von Peter Weiss auf die Probe zu stellen, andererseits ihn auf das zu beziehen, was jenseits politischer Resistenz im Ästhetischen selbst an Widerstandspotenzial liegen kann. Der Ausgangspunkt alles Schreibens von Peter Weiss bildet zweifellos die Grunderfahrung jüdischer Entwurzelung, die er mit vielen Intellektuellen seines Zeitalters teilte und die ihn in ein doppeltes Exil zwang, nicht nur in die Flucht nach Schweden vor der nationalsozialistischen Verfolgung, sondern gleichzeitig in den Verlust der einst gelernten und ihm zugewachsenen Sprache. Die Sprachvertreibung bedeutete dabei eine besondere Weise von Verwerfung und Entfremdung, weil das, was sagbar, ja überhaupt ausdrückbar erscheint, ihm in seinen Wurzeln verdorben und schändlich vorkam. Ich gehörte nirgendwo hin heißt es denn auch in einer Rede, die Peter Weiss 1966 an der Princeton University hielt, und weiter:
17
Dieter Mersch
18
[ich] machte aus dieser Nichtzugehörigkeit eine Tugend.1 Der Satz gemahnt zugleich an eine Reihe von Passagen aus dem autobiographischen Roman Fluchtpunkt von 1962, der die Jahre zwischen 1940 und 1947 in Gestalt minutiöser Aufzeichnungen eines, wie Peter Weiss selbst schreibt, unendlichen, formlosen Selbstgespräch[s] festzuhalten versucht.2 Beschrieben wird darin die Emigration als Lebensform von einem, dem die kulturelle und politische Heimatlosigkeit schon eingeimpft und selbstverständlich geworden war: Es gab keine verlorene Heimat für mich und keinen Gedanken an eine Rückkehr, denn ich hatte nie einem Land angehört. […] Für mich bedeutete die Emigration keine Stellungnahme. Ich war Fremder, wo ich auch hinkam. Weiter heißt es: Alles, was Literatur war, war verwelkt […]. In der Forderung nach Wahrheit konnten nur noch die intimsten persönlichen Aussagen gelten. Tagebücher, Krankenjournale, Berichte aus Gefängnissen nahmen den Romanen die Kraft.3 Schon einmal war, und zwar um die Jahrhundertwende, bei Hugo von Hofmannsthal, von einem radikalen Sprachverlust die Rede gewesen – die Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze, heißt es in dessen Brief des Lord Chandos; [m]ein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.4 Gleichwohl ist damit eine ganz andere Erfahrung gemeint als die, die Peter Weiss schmerzhaft erlebte, denn Hofmannsthal schrieb im Zustand einer kulturellen Krise, die das Vormalige, die Tradition in Gestalt romantischer Kunst und Literatur, im Zeichen dessen, was Friedrich Nietzsche treffend die Heraufkunft des europäischen Nihilismus genannt hatte, untergehen sah, während Peter Weiss von der weit grundsätzlicheren Vertreibung aus der Heimat der Sprache spricht, die ihm jeden Ausdruck von Authentizität durch die Ungeheuerlichkeit des Geschehens in jeder einzelnen Note radikal entwendete. Dort war es das Erlebnis eines Verfalls, der Entleerung und Umwertung aller Werte, die eine neue Ausdrucksweise erforderte – hier die politische Enteignung und Verrohung der Sprache selber, die eine ganze Kultur infizierte, weil jedes Wort nurmehr von einer Verletzung und Fäulnis kündete. Dieses Ganze […] stellte die Unzulänglichkeit der Mittel dar, drückte aus, daß Sprache und Bild nicht mehr ausreichten und nur noch Abfall waren, setzt Peter Weiss in seinen Erinnerungen hinzu, [d]ie Worte, die sich einstell1
Weiss 1966, 9.
2
Weiss 1965, 41.
3
Ebd., 8, 13, 191 passim.
4
Hofmannsthal 1997, 145, ferner dazu Günther 2004.
Ästhetik des Widerstands
ten, deckten nichts. Ein unartikuliertes Stammeln lag darunter. […] Um zu den Worten zu gelangen […], die mir zum Schreiben noch anwendbar schienen, mußte ich mich erst mit einer Anspannung des Willens von der Sprache entfernen, die mich umgab.5 Wenn Sprechen Denken heißt und umgekehrt Denken ohne Sprache nicht möglich ist, dann entzog solche Entwertung dem Einzelnen nicht nur seine Verständigungsmöglichkeit, sondern seine Welt, seine Wahrnehmungsfähigkeit – Peter Weiss hat diesen Prozess in Fluchtpunkt und seinen anderen autobiographisch gefärbten Texten immer wieder aufs Eindringlichste festzuhalten versucht – auch, um deutlich zu machen, warum an der Stelle der Sprache, der Literatur, für lange Zeit das Bild, die Malerei, trotz allem Ringen mit ihnen, die einzige Zuflucht gewährte: [I]ch konnte keine Ideologie erkennen, die mir das Opfer meines Lebens wert war. […] Ich machte Kunst zu einem Zufluchtsort, während die Welt in Stücke fiel.6 Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass Peter Weiss von Geburt Europäer war; einen Weltbürger nannte er sich selbst, dem die Ausdrücke wie Nation oder Rasse nichts sagten. 7 Bei Potsdam als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten tschechischer Herkunft und einer Schweizer Mutter geboren, ging er zum Studium nach England und frühzeitig nach Schweden in die Emigration, lebte buchstäblich zwischen den Welten in den Stätten der Kunst, denn [i]n der Kunst gab es keine Grenzen, keine Nationen: Meine Sprache war mit keinem Landstrich verbunden […]. Ich war zuhause in Hafengegenden, auf Jahrmärkten und in Zirkuswelten […], wo der Blick ins Weite gerichtet war. 8 Weiss ist darüber hinaus auch als Künstler bezeichnet worden, der in den unterschiedlichsten Gattungen zu Hause war: Schriftsteller, Maler, Graphiker, Dramaturg, Filmemacher – Bildkunst, Schreiben und Film bleiben bei mir eine Einheit einer totalen Kunst, in der man sich jeweils nur verschiedener Instrumente bedient.9 Die Vielfalt, die in beiden Bestimmungen mitschwingt, ist vor allem negativ zu fassen: Als Nichtfeststellbarkeit einer Zugehörigkeit, sowohl in Bezug auf einen Ort als auch auf eine Bestimmung, eine Identität, ein künstlerisches Medium. Allerdings scheint der Ausdruck totale Kunst, den Peter Weiss wählte, insofern irreführend, als er auf die romantische Idee des Gesamtkunstwerks zu verweisen scheint, die ihm fern lag, auch wenn – besonders seine theatralen Formen – zuweilen 5
Weiss 1965, 38, 103, 61 passim.
6
Weiss 1966, 9, 10.
7
Weiss 1965, 15.
8
Ebd., 9, 10 passim.
9
Zit. nach Schmidt-Henkel 1973, 15.
19
Dieter Mersch
20
diesen Anklang nahezulegen scheinen; vielmehr taucht hier etwas auf, was seit Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zur ästhetischen Erfahrung überhaupt gehörte, nämlich der Bruch mit dem geschlossenen Werk, der einheitlichen Gestalt und damit die Zerfaserung der Künste, ihre Fragmentierung in Splitter ohne Zusammenhang, ihr wechselseitiger Übertritt: Es gab keinen festgelegten Stil, kein einheitliches Medium, das Schreiben und Zeichnen hätte auch noch mit der Musik, dem Tanz zusammenfließen können. Der einzige Sinn der Arbeit war die Bewegung, das Umkreisen […] die Möglichkeit einer totalen Kunst.10 Totale Kunst wird das ästhetische Konzept sein, was Peter Weiss fortan verfolgen sollte – in seinen Theaterstücken ebenso wie in seinen Experimentalfilmen und seiner Ästhetik des Widerstands. Es ist ein Konzept des Mangels, der Unmöglichkeit vollständiger oder heiler Kunst, ein Mangel, der die restlose Hingabe an die Arbeit einschließt und sich aller zur Verfügung stehenden Mittel bedient, um jene Annäherung an einen Ausdruck zu finden, der inmitten der Ausdruckslosigkeit allein tauglich scheint. Ihr ist folglich die Auflösung immanent, die gleichzeitig verlangt, auf allen Registern der Darstellung zu spielen, denn wo kein Ganzes mehr existiert, wo keine Einheit möglich ist, wird die Transgression, die Übergänglichkeit zwischen den Medien wesentlich. Theodor W. Adorno hatte diese Tendenz zur Entgrenzung, wie sie sich vor allem in den frühen 1960er Jahren massiv durchsetzte und die Peter Weiss auf seine Weise antizipierte, in seinem Aufsatz über Die Kunst und die Künste unter dem Stichwort einer Verfransung diskutiert. Der Begriff beschwört den Unterschied zwischen der Kunst im Singular und einer Pluralität partikularer Künste, das Prinzip der Durchmischung und Indifferenz, worin z.B. die Musik zur Grafik neige, die serielle Komposition zur modernen Prosa übertrete und die Malerei in Gestalt komplexer Rauminstallationen zur Architektur tendiere: [I]n der Verfransungstechnik handelt es sich um mehr als um Anbiederung oder jene verdächtige Synthese, deren Spuren im Namen des Gesamtkunstwerks schrecken; vielmehr folge sie aus innerer Notwendigkeit. Ihr Vorbild oder Urphänomen besitzt sie nach Adorno in der Montage, die die Fragmente einer brüchig gewordenen Welt wie Scherben eines verlorenen Bildes zusammenfüge: Montage heißt […] soviel wie den Sinn der Kunstwerke durch eine seiner Gesetzlichkeit entzogene Invasion von Bruchstücken der empirischen Realität stören und dadurch Lügen strafen. Die
10
Weiss 1965, 101.
Ästhetik des Widerstands
Verfransung der Kunstgattungen begleitet fast stets einen Griff der Gebilde nach der außerästhetischen Realität. Er ist gerade dem Prinzip von deren Abbildung strikt entgegengesetzt.11 Die Kunst im Zustand der Verfransung, die totale Kunst im Sinne Peter Weiss’ verfährt mithin antimimetisch. Sowohl der Film als auch die dadaistische und surrealistische Kunst montierten Bildoder Sprachfetzen als Reaktion auf eine absurd gewordene Welt, die jenseits eines geschlossenen oder noch verstehbaren Sinns allein auf die Dinge selbst und ihre Unverwertbarkeit abhebe – auf allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache, wie es Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz und seinem Essay über den Sürrealismus ausdrückte. Entsprechend korrespondiert das Verfahren der Montage mit dem Untergang eines gültigen künstlerischen Schemas, das die Totalität der Welt und ihrer Antagonismen widerzuspiegeln vermöchte, wie es Georg Lukacs vom Roman forderte. Entsprechend tauchte für die artistischen Praktiken in den 1960er Jahren ein neues Wort auf, das der amerikanische Happening-Künstler und John Cage-Schüler Dick Higgins in die Diskussion brachte und das seither, wenn auch in anderer Bedeutung, Karriere gemacht hat: Inter-Media. Meine These am Beispiel von Peter Weiss ist, dass die Notwendigkeit zur Intermedialität im Sinne eines ununterscheidbaren Zusammenspiels der Künste, der Zusammenfügung ihrer noch bleibenden Bruchstücke, ihr Korrelat in eben jener Entwertung und Entfremdung der Sprache besitzt, deren Schicksal er am eigenen Leibe erfuhr und das ihn wie kaum einen anderen dazu prädestinierte, mit unterschiedlichen Formaten, besonders mit der Verbindung zwischen dem Visuellen und dem Poetischen zu experimentieren und – vor allem seit dem Marat/Sade und Der Ermittlung – dort zu entfalten, wo diese ihre unmittelbarste Wirkung, ihr performatives Überspringen ins Praktische und Politische vollziehen konnten: im Theater, der Kunst des Dramatischen. Um dies zu zeigen, sei auf die Laokoon-Rede von Peter Weiss zurückgegriffen, die er anlässlich der Entgegennahme des LessingPreises 1965 hielt. Die Rede trug den Untertitel: Über die Grenzen der Sprache. Minutiös und beinahe kalt sezierend schildert Weiss den Prozess der Sprachzerstörung durch den nationalsozialistischen Terror und den Schrecken des Holocaust. Von einer Vertriebenheit spricht der Vortrag, einem Exodus und einer Diaspora aus dem von Martin Heidegger so genannten Haus der Sprache, worin er zu wohnen und zu leben sich eingerichtet hatte; stattdessen wollten ihm nun die Wörter entgleiten, weil die Sprache und
11
Adorno 1967, 169, 189 passim.
21
Dieter Mersch
22
damit die eigentliche Wohnstatt des Menschen plötzlich [zum] Fremdkörper geworden sei: Er ist als Sprecher nicht mehr intakt, heißt es in der für Peter Weiss charakteristischen Manier der dritten Person: Er ist nicht mehr der, von dem er früher beim Sprechen ausging. […] Für die anderen ist er nur noch ein Ding. Ein Kohlkopf. Ein Stück Schlacke. Die Sprache nimmt jetzt eine Gewalt an.12 Kohlkopf und Schlacke spielen auf früh erlebte Szenen an, der gefahrvollen Begegnung mit einem Mann in brauner Uniform im nationalsozialistisch durchtränkten Berlin der 1930er Jahre, der in ihm den Juden erkennt und ihn mit diesen herabwürdigenden Ausdrücken beschimpft.13 Damals, als die Sprachwelt auseinanderbrach, fügt er in seiner Laokoon-Rede hinzu, sei er von der Möglichkeit des Benennens abgeschnitten und zurückversetzt [worden] in sein erstes verdunkeltes Zimmer – das will sagen: in jenen Zustand der Kindheit, wo das Wort noch nicht war, sondern nur der Schrei und die Stille. Die Sprachlosigkeit verurteilte ihn zu einem Niemand, einem Ausgesetzten, was alle Bemühungen um die Dichtung, der er sich eigentlich verschrieben hatte, zunichte machte: Er bemühte sich, setzt Peter Weiss, der Selbst-Beobachter, der das Geschehen wie ein äußeres Verhängnis, das über ihn gekommen war, zu akzeptieren versucht, fort: er bemühte sich, die Leere, die ihn umgab, mit Wörtern zu überspannen, er hielt das Papier über die Leere, er dichtete ein kleines Stück der Leere mit engen Reihen von Buchstaben ab, doch die Leere drang wieder durch, überflutete die Buchstaben, löschte sie aus. […] Es war niemand da, an den er sich mit ihnen wenden konnte.14 In dieser Situation vollständiger Einsamkeit wich er auf die Bilder, die Malerei aus: Er projizierte die inneren Bilder auf Tafeln, heißt es bei Peter Weiss weiter, und diese Tafeln brachen nicht, wie die Blätter mit Wortzeichen, vor der Leere auseinander, sie hielten, sie spiegelten sein Vorhandensein, denn [w]as er in den Bildern von sich mitteilte, lag in einer anderen Dimension als das Geschriebene.15 Die Unmöglichkeit der Sprache, ihre Entwertung als Aufzeichnungsmittel, als Werkzeug der Darstellung und Medium der Dichtung zwang ihn zu einer Metabasis, zum Übergang in ein anderes Medium; doch wie wenig auch dieses zu halten vermochte, erfährt man aus Fluchtpunkt: Auf den Malflächen entstand nur Schmutz und Abfall der leuchtenden Visionen […]. Was ich sagen wollte, war ebenso gestaltlos wie die Bilder, doch hatten diese wenigstens den Vorzug, nicht in gleicher 12
Weiss 1986, 213.
13
Ders., 1965, 12.
14
Ders., 1986, 214, 216 passim.
15
Ebd., 217.
Ästhetik des Widerstands
Weise zu lügen: [E]s genügt, wenn ich mich an das Gegenständliche halte, an das, was sich mir zeigt, an das, was ich greifen kann.16 So erlaubte das Bildliche eine Schwebe, einen Zwischenzustand, der die Erstarrungen des Sagens durch die Berührungen des Zeigens auszugleichen vermochte, denn das Zeigen ist anderes als das Sagen, weil es gestattet, wenigstens durch die Anzeige, durch den Verweis auf die Materialität der Sache selber der Ohnmacht und dem Entsetzen da Zeichen zu verleihen, wo die Stimme versagt. In Anklang an das Diktum Adornos, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben, sei unmöglich weil [n]och das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis […] zum Geschwätz zu entarten [droht]. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber; nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung [...] ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation17 – spricht auch Peter Weiss von einer analogen Dialektik: Es gehört Vermessenheit dazu, jetzt noch ein Bild herzustellen. Selbst wenn das Bild nichts anderes zeigt als einen Schrecken vorm Zerfall, so kann es doch immer noch diesen Schrecken zeigen, und indem es ihn in der Beständigkeit eines Bildes zeigt, spiegelt es eine heile Welt vor.18 Adorno hat daraus keineswegs den Schluss einer Resignation gezogen – die wichtigste Passage lautet vielmehr: solange [der Geist] bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation, denn sie verweist im Gegenzug auf die Unabdingbarkeit der Stellungnahme, das trotzige Dennoch im vollen Bewusstsein seiner Vergeblichkeit. In seiner Vorlesung über Metaphysik, die etwa zeitgleich mit der Negativen Dialektik entstand und die auch ungefähr dem Zeitpunkt entspricht, als Peter Weiss seine Laokoon-Rede hielt, ergänzte Adorno, dass nichts vom Riss des äußersten Inhumanums verschont bleibe; ja der Skandal sei, dass das Inhumane selber zum Teil der Wahrheit des Denkens, der Philosophie und der Kultur geworden sei, und zwar so unausweichlich, dass alle tradierten affirmativen oder positiven Thesen der Metaphysik einfach zur Blasphemie würden.19 Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theo16
Ders. 1965, 38, 39 passim.
17
Adorno 1973a, Bd. 10-1, 30.
18
Weiss 1986, 219.
19
Adorno 1965, 189.
23
Dieter Mersch
logisches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht, 20 heißt es darum in der Negativen Dialektik, und die Metaphysikvorlesung fügt präzisierend hinzu: Die Konsequenz, die daraus zu ziehen wäre, ist die, daß kein sogenanntes hohes, edles Wort – und anders als in Worten sind diese Dinge ja nach Auschwitz nicht zu denken [...] – mehr verwandt werden könne; nicht bloß deshalb, [...] daß nämlich die hohen Worte mit der Erfahrung schlechterdings inkommensurabel geworden sind, sondern aus dem [...] noch viel teuflischeren Grund, daß es zu dem Wesen des Bösen heute geradezu gehört, selber sich der hohen und edlen Worte zu bemächtigen.21
24
Ersichtlich sind die Problemstellungen und Erfahrungen von Adorno und Peter Weiss ähnlich; und ersichtlich führten sie nicht ins Verstummen, sondern dazu, wie es am Ende der Vorlesung heißt und wie es sich fast genauso bei Peter Weiss findet, sich in das Dunkle so tief zu versenk[en], wie man es eben nur vermag, bis schließlich die Unmöglichkeit zu sprechen mit dem, was gleichwohl gesagt und gedacht werden muss, konvergiert.22 Wenn es auch schwer war, an Worte und an Bilder heranzukommen, schließt analog der Roman Fluchtpunkt mit dem unwahrscheinlichen Hoffungsfunken, so war es nicht deshalb, weil ich nirgends hingehörte, und keine Verständigungsmöglichkeiten erkennen konnte, sondern nur deshalb, weil manche Worte und Bilder so tief lagen, daß sie erst lange gesucht, abgetastet und miteinander verglichen werden mußten, ehe sie ein Material hergaben, das sich mitteilen ließ. 23 Doch hat Peter Weiss gegen Adorno statt einer endlosen Verstrickung in Negativität auf dem positiven Engagement bestanden: Wenn einer versucht, in dieser Situation, in der die Geschehnisse sich von keinem Bild, von keinem Wort mehr decken lassen wollen, festzuhalten an der Konvention einer Mitteilung durch Bilder oder Worte, heißt es in der Laokoon-Rede, so tut er das im Bewusstsein, dass die Verwendung dieser kaum mehr tauglichen Mittel besser ist als das Schweigen und die Fassungslosigkeit.24 So wird für ihn, wo die Stimme taub geworden ist, zunächst das Bild zum Mittler, zur Übertragungsfigur, nicht im Sinne eines Ausweichens, sondern als ein Fragment in der Bedeutung Friedrich Schlegels, das das Unverständliche und 20
Ders. 1973b, Bd. 6, 360.
21
Ders. 1965, 192.
22
Ebd., 226.
23
Weiss 1965, 197.
24
Ders. 1986, 219.
Ästhetik des Widerstands
die Fragilität des Sinns festhält – vorläufig, unzulänglich, wie ein Augenblick, eine Spur, denn, so weiter: Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.25 Im Zustand der Sprachzerstörung ermöglicht somit zunächst ein anderes Medium eine andere Darstellungsweise, die gleichzeitig zur Brücke und zum Ansatzpunkt einer schrittweisen Rückeroberung der Sprache avanciert, die trotz aller Erfahrung von Unzugehörigkeit und Fremdheit buchstäblich ihren Ausdruck neu lernen und ihre Wiederaneignung Wort für Wort vollziehen muss. Peter Weiss hat die Mühsal dieser Prozedur aufs Genaueste dokumentiert: die Anstrengungen, wie ein Kind jeden Laut einzeln aufzusuchen, zu prüfen und zu finden; jeder Satz ein Landgewinn, schreibt er im Laokoon, ein Neuanfang, wodurch sich langsam, aber beharrlich der Beginn einer Zuversicht einstellte: Wenn er jetzt mit neuen Wörtern einen Vorgang beschrieb, so war dies die Wiedererweckung einer schon aufgegebenen Welt. […] Es verband ihn nichts mit diesen Wörtern als der Wunsch, sie als topographische Werkzeuge zu benutzen. Die Wörter hatten für ihn keine Geschichte. Die Wörter waren mit keiner Empfindung beladen. Sie waren nur Wegzeichen. Es konnten nur Lagebestimmungen mit ihnen vorgenommen werden. Er befand sich in einer äußerst kargen ausgebrannten Gegend.26 Suchen, Aneignen, Bergen, Erinnern – unterschiedliche Funktionen des Sprechens in Gestalt von Resten, Splittern, Marken, Werkzeugen, Scharnieren, Senkloten oder Maßinstrumenten, die mit Hilfe des Mediums der Bildlichkeit und der Malerei reanimiert werden, wobei die verschiedenen Ausdrücke weniger auf das Technische anspielen, als auf die Vermeidung von Rhetorik, des, im Sinne Adornos, hohen Tons der Metapher. Erst dies ermöglichte eine Wiederfindung von Identität, von Eigensinn, denn Worte besitzen bedeutet nicht nur, etwas darstellen zu können, sondern, wie fragmentarisch auch immer, sich selbst zu sein, zu leben: Die Wurzeln der Wörter waren verwittert, die Wörter standen losgelöst von ihrem Ursprung, oft nur als leere Gehäuse, denen er erst einen Inhalt geben musste. So wie er sich von dieser Sprache entfernt hatte, hatte er sich von sich selbst entfernt. So wie er seiner selbst nicht sicher war, war er auch der alten Sprache nicht mehr sicher. Gleichzeitig mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, musste auch diese Sprache 25
Ebd., 220.
26
Ebd.
25
Dieter Mersch
wieder neu errichtet werden. […] So kommt der Schreibende auf einem Umweg über den Zerfall und die Machtlosigkeit zum Schreiben, und jedes Wort, mit dem er eine Wahrheit gewinnt, ist aus Zweifeln und Widersprüchen hervorgegangen. Einmal wurde er aus allen Bindungen herausgerissen […]. Aber die Möglichkeit entsteht, dass er mit der Sprache, die ihm zur Arbeit dient und die nirgendwo mehr einen festen Wohnsitz hat, überall in dieser Freiheit zu Hause sei. 27
26
Peter Weiss hat aus dieser Freiheit heraus nach dem Kriege eine einzigartige Prosa entwickelt, die tatsächlich der Dichtung, dem Roman und dem Theater neue Möglichkeiten abrang. Es handelte sich dabei von Anfang an um Verfahrensweisen genuiner Intermedialität. Gleichzeitig ist mit jedem Satz, jedem Bild eine Widerständigkeit zu spüren, die aus der definitiven Entfremdung der Darstellungsmittel entspringt, denn, wie es gleich zu Anfang des Laokoon-Textes heißt: Die Sprache erscheint ihm als etwas Unmögliches, das nur aus Trotz gegen diese Unmöglichkeit entstehen kann.28 Nicht der Autor spricht; nicht er wählt für seine Stimme den angemessenen Tonfall und das treffende Wort, vielmehr heißt Schreiben stets, mit der Sprache gegen die Sprache anschreiben, ihre Hindernisse ausloten, Brüche einzutragen, sich ihr zu widersetzen und aus ihrem Untergang Stücke zu reißen und zu retten, die noch sagbar erscheinen – genauso wie ein Bild verwenden oder herstellen bedeutet, ein Unzeigbares zu zeigen und das zur Darstellung bringen, was sich der Darstellbarkeit verwehrt. Peter Weiss’ ganze Ästhetik folgt dieser Maxime der Widerständigkeit; sie ist umgekehrt eine fortgesetzte Arbeit an der Widerständigkeit der Medien, eben weil ihr selbstverständlicher Gebrauch entwendet und zerfallen erscheint und jede Unschuld der Darstellung umso mehr Schuld auf sich lädt und Verrat übt an den unzähligen namenlosen Opfern, die im Namen einer teuflischen Rhetorik auf die bestialischste Weise getötet und deren Andenken vernichtet wurde. Ästhetik gibt es darum nur als negative Praxis – und das heißt auch als Negation ihrer tradierten Mittel und Gestalten, denn – um abermals Adorno als Zeugen aufzurufen, diesmal mit der berühmten Anfangspassage seiner Ästhetischen Theorie: Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.29 Die radikale Unselbstverständlichkeit betrifft nicht nur die Inhalte der künstlerischen Arbeit, vielmehr gerade auch ihre Formen, ihre 27
Ebd., 224.
28
Ebd., 209.
29
Adorno 1973c, 9.
Ästhetik des Widerstands
Praktiken sowie das Mediale, das mit Rissen, Frakturen, Stückwerken, Unzulänglichkeiten und Vorläufigem rechnen muss, das daher nur intermedial verfahren kann, indem, je nach Situation, die unterschiedlichsten Strategien in Stellung gebracht, aufeinander bezogen werden und miteinander reagieren müssen, sich gegenseitig stützen und verstärken oder auch stören und durchkreuzen, um in ihrer ebenso verstörenden wie paradoxalen Opposition die Brüchigkeit der Welt und die Verbannung des Ausdrucks ins Niemandsland der Darstellung zu demonstrieren, dorthin, wo nicht einmal mehr von einer Exilierung gesprochen werden kann. Die Tendenz lässt sich bereits an jenem kurzen Prosastück ablesen, das Peter Weiss zwar Anfang der 1950er Jahre verfasste, mit dem er aber erst 1960 die literarische Bühne betrat und das ihn schlagartig bekannt machte: Der Schatten des Körpers des Kutschers. Schon der Titel verrät die Stockungen der Rede durch den doppelten Genetiv; die Sprache stolpert, sie ist sich nicht sicher, was sie sagen will, was sie noch sagen kann. Der Stil ist reduziert und betont afigurativ unter Vermeidung aller schmückenden Metaphern und Adjektive. Fast sezierend und minutiös bis ins mikroskopische Detail hinein registriert der Schreibfluss elementare Wahrnehmungsbestände; der Text überbordet mit Einzelbeobachtungen, die ohne Gewichtung aneinandergereiht werden; der Blick vermisst Einzelgegenstände ebenso wie Räume, Winkel, Körperteile und Bewegungen; er gleitet entlang ihrer Oberflächen und Fragmente und erzeugt dabei einen grotesken Reigen aus Momentaufnahmen, deren Elemente lediglich auf weitere Elemente verweisen, ohne je ein Ganzes zu enthüllen.30 Sie gleichen darin jenen alten Nachrichten, deren Fetzen der Icherzähler in Form abgerissener Zeitungstücke auf dem Abort vorfindet, von dem aus er ausschnitthaft auf das kleine Universum des Gasthofes blickt: durcheinandergewürfelte Bruchstücke der Zeit, Ereignisse ohne Anfang und Ende, man folgt der Rede des einen und setzt dann mit der Rede eines anderen fort, man liest die Beschreibung des Schauplatzes einer Handlung und gleitet dann zum Schauplatz einer anderen Handlung über, man vernimmt etwas was auf dem nächsten Stückchen widerrufen wird und sich auf dem darauf folgenden doch wieder als vorhanden erweist; und gleichartige Ereignisse findet man immer wieder mit neuen Einzelheiten ausgestattet […].31
30
Vgl. dazu auch Ivanovic 1999, sowie Soboczynki 1999.
31
Weiss 1984, 10.
27
Dieter Mersch
Etwa in der genauen Mitte des Berichts, der kaum eine Erzählung genannt werden kann, vielmehr ein neues Genre kreiert, das aus den traditionellen Formen herausfällt, reflektiert Weiss auf die Besonderheit des Verfahrens: ein Scharnier, das ihm als Therapie gilt und die Überwindung seiner Schreibhemmungen ermöglichte und wofür metonymisch jene Lähmung steht, die sich über das ganze Geschehen ausgebreitet zu haben scheint: Zum ersten Mal in meinen Aufzeichnungen um weiter als einen sich im Nichts verlierenden Anfang hinausgeratend setze ich nun fort, indem ich mich an die Eindrücke halte die sich mir hier in meiner nächsten Umgebung aufdrängen; meine Hand führt den Bleistift über das Papier, von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile, obgleich ich deutlich die Gegenkraft in mir verspüre die mich früher dazu zwang, meine Versuche abzubrechen und die mir auch jetzt bei jeder Wortreihe die ich dem Gesehenen und Gehörten nachforme einflüstert, daß dieses Gesehene und Gehörte allzu nichtig sei um festgehalten zu werden und daß ich auf diese Weise meine Stunden, meine halbe Nacht, ja vielleicht meinen ganzen Tag völlig nutzlos verbringe […]. 32
28
Aus der Sprachlosigkeit führt ein fast filmisch anmutendes Verfahren heraus, das nicht nur nüchtern aufzeichnet, sondern nach dem Prinzip der Montage funktioniert. Durchweg ähneln dabei die elf Stationen des Stückes einem Kaleidoskop aus Hohlformen, die, beobachtet von einem einem erhöhten Sitz aus,33 von einer rätselhaften Abwesenheit künden, wie sie bereits in der ersten Station zu bemerken ist, wenn von einer Nichtankunft die Rede ist: Doch ich habe den Wagen nicht kommen hören, weder das Scheppern der Räder und Riemen, noch das Poltern der Karosserie, weder das Hornsignal des Kutschers das dieser bei seiner Ankunft auszustoßen pflegt, noch das Schnalzen der Zunge und seinen trommelnden Zungenlaut mit dem er das Pferd zum Halten mahnt […].34 Überall ein Zögern, ein Warten, demgegenüber der Schriftsteller als Chronist der Szene in einem seltsam bleiernen Zustand verharrt, die er durch die besagte halboffene Tür nur fragmentarisch zu gewahren vermag und gegen seine eigenen Widerstände so neutral und schonungslos wie möglich zu protokollieren trachtet. Die dabei entste-
32
Ebd., 33.
33
Ebd., 34.
34
Ebd., 7, 8.
Ästhetik des Widerstands
henden Protokollsätze35 betreffen sowohl das wartende Leben auf dem Gehöft als auch den Körper des Schreibenden selber, dessen Versicherung im Augenblick des Schreibaktes beständig entgleitet und von dem es ebenfalls schon in der ersten Station heißt: Erst jetzt (eben schreit die Krähe noch einmal Harm) empfinde ich die Kälte an meinem entblößtem Gesäß. Die Niederschrift meiner Beobachtungen hat mich davon abgehalten, die Hosen hinaufzuziehen und zuzuknöpfen; oder das plötzliche Einsetzen meines Beobachtens ließ mich vergessen, die Hose hinaufzuziehen; oder auch war es die herabgezogene Hose, das Frösteln, die Selbstvergessenheit die mich hier auf dem Abtritt überkam, die diese besondere Stimmung des Beobachtens in die Wege leitete.36 Der Schreibakt birgt die chronische Unmöglichkeit seiner Selbstaufzeichnung; er entzieht sich im Schreiben, denn das Schreiben kann sich nicht selbst beschreiben, sowenig wie die Beobachtung die Handlung des Beobachtens und die dabei gefühlte leibliche Befangenheit mit zu beobachten vermag. Entsprechend bleibt der Chronist auf das Nacheinander der sprachlich fixierbaren Ausdrücke beschränkt, die die Ungewissheiten des Erlebten mit sich führen und, durch alle Varianten hindurch, zur äußersten Askese des Stils zwingen. Fast wie zur Erläuterung und Rechtfertigung vermerkte deshalb Weiss in seinen kurz nach dem Kutscher erschienenen autobiographischen Notizen Abschied von den Eltern: Oft ließ mich das Durchdachte kalt, während das Rohe, Ungestaltete mich ergriff […], was ich behielt, lag weniger auf dem Gebiet der allgemeinen Bildung als auf dem Gebiet der Empfindung, mein Wissen setzte sich zusammen aus bildmäßigen Erfahrungen, aus Erinnerungen an Laute, Stimmen, Geräusche, Bewegungen, Gesten, Rhythmen, aus Abgetastetem und Gerochenem, aus Einblicken in Räume, Straßen, Höfe […], aus
35
Ersichtlich handelt es sich um ein ähnliches analytisches Verfahren, wie das, was sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges als philosophische Alternative gegenüber den kompromittierten »Welterklärungssystemen« des frühen 20. Jahrhunderts anbot: der Positivismus. Man könnte von einer positivistischen Schreibweise sprechen, wäre nicht das Anliegen und die schmerzhafte Durcharbeitung eines Traumas bei Peter Weiss ein gänzlich anderes, das vom Problem einer Wiedergewinnung, nicht von Selbstbeschränkung handelt. Sie dient, im Gegenzug zum Positivismus, der Heraufbeschwörung einer Szene der Beunruhigung, des Schreckens und bedrückender Unsicherheit.
36
Weiss 1984, 9.
29
Dieter Mersch
Spielen des Lichts und des Schattens, aus Regungen von Augen, Mündern und Händen.37 Immer wieder umkreist Weiss den wunden Punkt seines eigenen Zerwürfnisses mit der Sprache sowie den der Schrift und ihrer Medialität selbst innewohnender Zerwürfnisse wie sie der Schreibszene angehören und wie sie sich beständig miteinander mischen. In jedem Moment des Sagenwollens wie der Niederschrift kommt es darum zur Kollision zwischen Erfahrung, Schriftlichkeit, Beschreibungsmodus und der Subjektivität des Schreibenden, deren Bild die Leerstelle in Gestalt des titelgebenden Schattens ist, der die Kluft der Absenzen ebenso markiert wie unmarkiert hält, denn der Schatten ist immer Spur und Nichtigkeit, Index und Entzug in einem. Neben der ersten Station, die paradigmatisch den Spalt zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit mittels des versperrten Blicks durch die halboffene Türe, die weniger sehen als hören lässt, inszeniert, wird vor allem in der vierten Station, der Abendmahlzeit, immer wieder auf niemand verwiesen, der, wie es heißt, den leeren Platz neben mir besetzt und dessen Bedeutung das gleichermaßen schattenhafte Warten auf einen neuen Gast ist: ein Gast, der noch nicht angekommen ist, aber im Kommen ist, der kommen muss und auf den, erneut wie eine Höhlung, alles hinzudeuten und sich auszurichten scheint: ein leere[r] Raum für einen neuen, noch unbekannten Mund, er von dem ich nicht weiß wie er kauen wird und von dem offen bleibt womit […] [er] sein Glas füllen [würde].38 Vielleicht am Eindringlichsten jedoch, als Allegorie auf einen unmöglich gewordenen Schreibprozess und seine ihm innewohnenden Undarstellbarkeiten, das in seiner Vagheit konstant bleibende Bild von der Ankunft des Kutschers selbst: In der dichter werdenden Dunkelheit schob sich das Pferd, nicht galoppierend und nicht im Trab, sondern gemächlich trottend, und dahinter der schwankende Wagen mit der Silhouette des Kutschers hoch oben auf dem Bock, zu uns heran, und die Geschwindigkeit oder Langsamkeit der Fahrt stand im genauen Verhältnis zur Verdichtung der Dunkelheit, so daß der Wagen, wäre er stehen geblieben, von der Dunkelheit verschluckt worden wäre, doch da er sich fortbewegte, den Grad der verstärkenden Dunkelheit mit dem Grad der Annäherung aufwog, aber auch, eben durch die sich verstärkende Dunkelheit, stets die gleiche Undeutlichkeit behielt, so daß er, als er endlich dicht vor uns war, nur an Größe gewonnen hatte und
30
37
Ders. 1964, 71f.
38
Ders. 1984, 20.
Ästhetik des Widerstands
sonst, ebenso nebelhaft schwebend die ganze Zeit vorher, in der tiefen Dämmerung ruhte.39 Das literarische Verfahren, das so die Schwebe hält und im Begriff der Undeutlichkeit die Aussichtlosigkeit der Beschreibung wie der Performanz des Schreibens selber evoziert, ähnelt hier tatsächlich dem filmischen; zeitgleich mit der Verfassung des Prosastücks legte Peter Weiss auch eine Reihe von Filmstudien vor, die gleichfalls mit schroffen und harten Kontrasten arbeiteten: kurze Sequenzen, als Experimente deklariert, die in ihrer Struktur zum Teil jenen assoziativen Zeichnungen folgen, die Weiss zur selben Zeit angefertigt hatte.40 Ihre Verbindung hielten sie vornehmlich mit surrealistischen Experimentalfilmen, atmeten deren psychischen Konstruktionalismus, ihr gleichermaßen Konvulsorisches wie Traumhaftes. Die Studien, in Schweden gedreht, umkreisen Themen wie Aufwachen (Uppvaknandet), Halluzination (Hallucinationer) oder Befreiung (Frigörelse), die gleichfalls wie Splitter funktionieren, welche ihm erlaubten, eine andere Formsprache zu entwickeln, eine, die sich buchstäblich zwischen der Malerei und Literatur bewegte, um eine andere, nicht-narrative Ordnung zu finden.41 In einem Interview mit Harun Farocki nannte Peter Weiss ausdrücklich seine Filme Andeutungen und Skizzen mit stark autobiographischem Einschlag, zum Teil nach Zeichnungen angefertigt, die sich jedoch zugleich auf einer Schwelle bewegen und Übergangsfiguren stiften.42 Nicht nur verkörpern sie Situationen einer verschollenen Existenz – das wäre sentimental –, sondern sie ermöglichten im Vorschein die Erfindung und Erprobung jener theatralen Ausdrucksweise, mit der er später die unterschiedlichen medialen Formate in seinem dramatischen Werk auf einzigartige Weise zusammenführen sollte. In diesem Sinne sind die Filme tatsächlich als Vorstufen des Theaters von Peter Weiss rezipiert worden, das die eigentliche Realisation dessen vollbrachte, was er sich als totale Kunst erträumte und das filmisch-poetische Experimentalverfahren der Intermedialität aufs Perfekteste umsetzte. Dieses Konzept einer totalen Kunst bedeutete zugleich die fortschreitende Politisierung des Schriftstellers. Immer wieder ist auf das außerordentliche dramatische Talent von Peter Weiss hingewiesen worden – zum Teil allerdings auch mit kri39
Ebd., 61.
40
Tatsächlich entstanden in der Zeit zwischen 1952 und 1960 sechs Experimental- sowie Dokumentarfilme und zwei Spielfilme. Daneben finden sich eine Anzahl unvollendeter und liegen gebliebener Filmprojekte; vgl. dazu Hiekisch-Picard 1984; Ek 1991.
41
Vgl. dazu vor allem Peter Weiss posthum erschienene Aufzeichnung zum frühen Experimentalfilm: Ders. 1995.
42
Vgl. hierzu Farocki 1986, S. 120ff.
31
Dieter Mersch
32
tischen Untertönen in Bezug auf die politische Aussage und, wie es besonders für den Marat/Sade auffällt, unter Ansehung der dürftigen Sprache seiner Stücke. Doch sei dagegen gehalten, dass sich der Stil der Dramatik nicht nur der Krisis des Sprechens, sondern gerade des virtuosen Gebrauchs der intermedialen Strategien verdankte, die von Anfang an zu den genuinen ästhetischen Mitteln von Weiss gehörten und deren Wirkungen er durch ihre effektive Strukturierung aufs Genaueste einzuschätzen und zu kalkulieren wusste. Bediente sich schon der Schatten des Körpers des Kutschers einer Praktik medialer Chiastik, die die Sprache ins Bildliche und das Bildliche in Sprache übergehen ließ, um zwischen ihnen Schnittflächen und fremde Wahrnehmungsräume entstehen zu lassen, gilt dies für den Marat/Sade mit seinem beinahe hölzernen Titel Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade umso mehr. Das Stück erinnert an barockes Volkstheater in der Manier einer Moritat. Stellvertretend für die Vielzahl der anderen Stücke, die Weiss im Zeichen des politischen Aufbruchs zwischen 1964 und 1971 verfasste, sei es hier näher betrachtet, vor allem auch deshalb, weil es den Aufbruch in eine sich radikalisierende Theaterlandschaft der Revolte und des Protestes mitbegründete. Der Zwiespalt, den das Stück in den Inszenierungen von Konrad Swinarski in Berlin und Peter Brook in London auslöste, lag jedoch darin, dass es für die Konservativen zu provokant erschien, während den Linken die eklatante Weigerung aufstieß, zum Schicksal der Revolution Stellung zu beziehen. Alles werde leider in Frage gestellt und dem Leben kein Sinn zugemutet, urteilte ein Kritiker der FAZ, während auf der anderen Seite der Vorwurf des Konterrevolutionären im Raum stand. In der Tat fügt sich der Marat/Sade weder der damals präferierten Form des epischen Theaters Brechtscher Prägung, noch handelt es sich um einen bloßen Zirkus, einen Schaubuden-Stil, wie Kritiker skandierten, sondern um eine Verbindung unterschiedlichster Theatertraditionen und Stilmittel – von der griechischen Tragödie über das Barocktheater und das historische Drama der Klassik bis zum programmatischen Theater der Belehrung –, um auf paradoxe Weise ein Theater im Theater zu inszenieren, das die selbstreferentiellen Verfahren der Avantgarde aufnahm und weiter trieb. Weiss knüpfte somit ein kontinuierliches Band zwischen zwei scheinbar widerstrebigen Zielen: Die Destabilisierung des Theaters als bürgerliche Institution sowie die Frage an die Adresse der Revolte, die eben begann, ihre eigenen Gewaltformen zu entwickeln. Ihre Verknüpfung mündete dabei ins Absurde, nicht nur, um eine aus den Fugen geratene Welt zu the-
Ästhetik des Widerstands
matisieren – das hieße, Peter Weiss auf die Ebene des Symbolischen zu reduzieren –, sondern ebenfalls, um auf die absurd gewordenen Darstellungsmittel des klassischen Theaters hinzuweisen. Weiss’ dramatische Kunst ist nicht mit der Bert Brechts zu vergleichen, den er am Berliner Ensemble kennenlernte, aber ablehnte, wie die betreffenden Passagen in der Ästhetik des Widerstands deutlich machen, vielmehr wäre sie weit eher mit Antonin Artaud, Eugène Ionesco und Samuel Beckett zu vergleichen. Die Legitimität des Theaters besteht denn auch für Weiss einzig in seiner gleichzeitigen Umstürzung, seiner Transformation. Sie bedeutet auch die Transformation der Dominanz des Textuellen, der Rede. Entsprechend kann es weniger um das Gesagte oder Gezeigte im Einzelnen gehen – schon deshalb ist der Vorwurf der Spracharmut verfehlt – als vielmehr um das Szenische und dessen Performanz, die schließlich, wie das öffentliche Theater des Politischen auch, in allgemeine Raserei mündet. In diesem Sinne verabschiedete sich Peter Weiss entschieden vom Sprechtheater zugunsten einer performativen Theatralik, die sich per se auf die Techniken des Intermedialen stützt, um die Möglichkeiten der Institution ebenso zu entgrenzen wie zu dynamisieren. Dazu zählen auch die Erweiterungen der Mittel in Richtung einer direkten Aktion und Teilnahme, wie sie in der Kunst der 1960er Jahre allenthalben zu finden ist43 – hier wiederum weniger verstanden in Ansehung eines Publikums, das belehrt werden soll oder dem einfache und verständliche Bilder dargeboten werden müssten, was an sich schon einer Bevormundung gleichkäme, sondern mit Bezug auf das Theater selber, seine Auslöschung und Umbesetzung, ja seine Umfunktionierung, die unabdingbar geworden war, weil keine Sprache, kein Bild und keine überlieferte Ausdrucksform mehr trug. Das Theater wandelt sich folglich in einen offenen Prozess, eine indeterminierte Handlung, wie sich im Hinblick auf den ursprünglichen Sinn des Wortes Drama sagen lässt, die etwas in Bewegung zu versetzen versucht und darum ihre Instrumente selber in Bewegung bringen muss.44
43
Vgl. dazu insb. Mersch 2002.
44
Darauf haben in jüngster Zeit gleichermaßen eindringlich Fischer-Lichte 2004 sowie Hans-Thies Lehmann 2001 aufmerksam gemacht. Sie beziehen sich dabei gleichermaßen auf die historische Schwelle der 1960er Jahre, die in Abkehr von den klassischen Avantgarden diesen Umbruch erst ermöglichten und zu dem gleichermaßen die Dramatik Peter Weiss’ beitrug. Allerdings betont Lehmann, dass sich das neo-avantgardistische, politische Theater der 1960 Jahre immer noch traditioneller theatraler Mittel verdankt, die es entgrenzt, aber nicht sprengt: Was zuweilen wie ein Vorschein zum »post-dramatischen« Theater aussieht, verbleibe in den Regeln des zu Überwindenden, vgl. ebd. 87ff.
33
Dieter Mersch
34
Dennoch scheint bei Peter Weiss die Skepsis gegenüber den Chancen einer unmittelbaren Intervention und politischen Einflussnahme durch die Kunst überwogen zu haben. Die Kunst vermag nur anzuregen, zu reflektieren; so mündet der Marat/Sade in eine Art überschießenden Albtraum, der die Frage der Beziehung zwischen Revolution und Gewalt zwar aufwarf, nicht aber beantwortete. In der Tat scheint das Stück ins Leere zu laufen, um die Unabschließbarkeit der Geschichte und die chronische Selbstzerstörung ihrer Versprechung zu demonstrieren – denn, wie De Sade am Schluss des Stücks in ironischer Wendung deklamiert: Es war unsre Absicht in den Dialogen / Antithesen auszuproben / und diese immer wieder gegeneinander zu stellen / um die ständigen Zweifel zu erhellen / Jedoch finde ich wie ichs auch drehe und wende / in unserem Drama zu keinem Ende. […] So sehen Sie mich in der gegenwärtigen Lage immer noch vor einer offenen Frage. 45 Weiss verzichtet auf eine präjudizierte Lösung, hatte Jürgen Habermas seinerzeit über das Stück geschrieben, und enthülle damit einen Verdrängungsprozeß: Weder der Akteur, der die Geschichte mit Willen und Bewußtsein lenken will, noch der Voyeur, der ihn an seine Opfer erinnert, behält recht.46 Deshalb beziehe er auch keine vordergründige Position – und eben dies sei seine Antwort. Denn das Irrenhaus, worin die Handlung verortet ist, bildet selbst schon eine Allegorie auf eine Welt, die in den Wahnsinn getrieben scheint und in der kein Geringerer als der Marquis de Sade selbst die Rollen verteilt. Sie werden von den Anstaltsinsassen auf unberechenbare Weise verkörpert, sodass es immer wieder zu Exzessen kommt, bis zuletzt Marat, der das Volk ebenso bewundert wie zu kontrollieren und beherrschen sucht, das Versagen seiner Politik eingestehen muss: Warum wird alles so undeutlich / alles was ich sagte war doch durchdacht und wahr / jedes Argument stimmte / warum zweifle ich jetzt / warum klingt alles falsch.47 Die Kaskaden von Fragen, die vergeblich auf eine Lösung warten, erweisen sich als paradigmatisch. Sie bedeuten kein Ausweichen vor der Gefahr, sondern sie betreffen das prinzipielle Problem der Gewalt im Politischen, die unabdingbar ist, und zwar für jede mögliche Politik, die darum gleichzeitig immer auch das Paradox einer Selbstzerstörung birgt. Peter Weiss ging es um diese Unabdingbarkeit und die darin eingewobene Dialektik. Er widersprach damit allen Zuordnungen. Politisches Engagement bedeutet eben dies: nicht sich rückhaltlos einer Sache verschreiben, sondern die 45
Weiss 1976, 253.
46
Habermas 1973, 67 passim.
47
Weiss 1976, 236.
Ästhetik des Widerstands
Unabhängigkeit des Urteils zu bewahren und zu erkennen, wie es Marats früherer Freund, der Mönch Roux, in seinem Schlusssatz formuliert: Wann werdet ihr sehen lernen / Wann werdet ihr endlich verstehen.48 Zu urteilen lernen aber heißt, in jenen Abgrund zu blicken, der die Leidenschaft von ihren Folgen trennt. Zwar hatte sich Weiss in der Folge, vor allem seit der Ermittlung von 1965 und dem Viet-Nam-Diskurs von 1968 sowie den ebenfalls 1965 herausgegebenen 10 Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt eindeutig zum Sozialismus bekannt, um sich jedoch nur fünf Jahre später durch Trotzki im Exil wieder davon abzusetzen. So blieb der Zweifel das nährende Element ebenfalls für die Trilogie der Ästhetik des Widerstands, deren Niederschrift Weiss sich seit den 1970er Jahren fast ausschließlich widmete: Kein Standpunkt trägt, keine Ideologie, die nicht vom Unheil zerfressen würde, denn jede radikale Umwälzung bleibt zuletzt von der Macht affiziert, die sie bekämpft. Diese elementare Aporie des Politischen impliziert die Unmöglichkeit jeder schlüssigen Antwort, denn die Freiheit duldet keine Methode, keinen beschreitbaren Weg, dem mühelos zu folgen wäre (meta hodos), sie vollzieht sich vielmehr ereignishaft – ja, sie ist das Ereignis, das weder antizipierbar noch konstruierbar ist, das sich einzig im Widerstand erfüllt. Deswegen verweigerte sich Peter Weiss jeder Gefolgschaft, weil sie im Sinne der Autorität, der Disziplin oder des Diskurses von eben derselben Gewaltsamkeit eingeholt würde, die sie setzt. Die Welt bleibt eine Klinik, worin die Umstürze und Revolten von jenem Mephisto inszeniert werden, dessen eigentlicher Name für Peter Weiss De Sade lautet, der das Blut der Revolution in das Begehren der Leiber schrieb und auf diese Weise deren Gewaltseite nach außen, ins Monströse trieb. Weiss hat das gewusst. Zeitlebens blieb er ein Unbehauster und Unbequemer, dem man zu Recht Unzugehörigkeit bescheinigt hat – und gerade dadurch bewies er sich als Intellektueller, von dem Jean-Paul Sartre bekanntlich gesagt hat, dass er notwendig links stehe, weil seine Methoden und Positionen letztlich immer die der Kritik seien.49
48
Ebd., 255.
49
Vgl. Sartre 1971, 11.
35
Dieter Mersch
Literatur
36
Adorno, Theodor W. (1965) Metaphysik. Begriffe und Probleme. In: Nachgelassene Schriften Bd. 14. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. Adorno, Theodor W. (1967) Die Kunst und die Künste. In: Ders.: Ohne Leitbild. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 168-192. Adorno, Theodor W. (1973a) Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. 10, 1, S. 30. Adorno, Theodor W. (1973b) Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. 6, S. 360. Adorno, Theodor W. (1973c) Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Canaris, Volker (Hrsg.) (1973) Über Peter Weiss. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 3. Auflage. Ek, Sverver (1991) Eine Sprache suchen – Peter Weiss als Filmemacher. In: Peter Weiss – Leben und Werk. Hrsg. v. Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Farocki, Harun (1986) Gespräch mit Peter Weiss. In: Peter Weiss im Gespräch. Hrsg. v. Rainer Gerlach, Matthias Richter. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, S. 120ff. Fischer-Lichte, Erika (2004) Ästhetik des Performativen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Günther, Timo (2004) Hofmannsthal: Ein Brief, München: Fink. Habermas, Jürgen (1973) Ein Verdrängungsprozeß wird enthüllt. In: Canaris 1973, 67 passim. Hiekisch-Picard, Sepp (1984) Der Filmemacher Peter Weiss. In: Peter Weiss. Hrsg. v. Rainer Gerlach. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 129-144. Hofmann, Michael u.a. (Hrsg.) (1999) Peter Weiss, Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. St. Ingbert: Röhrig, Bd. 8. Hofmannsthal, Hugo v. (1997) Ein Brief. In: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. v. Ulrich Karthaus. Stuttgart: Reclam, S. 145. Ivanovic, Christine (1999) Die Sprache der Bilder. Versuch einer Revision von Peter Weiss’ ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers’. In: Hofmann 1999, S. 34-68. Lehmann, Hans Thies (2001) Postdramatisches Theater. Frankfurt/ M.: Verlag der Autoren, 2. Aufl. Mersch, Dieter (2002) Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Sartre, Jean-Paul (1971) Der Intellektuelle und die Revolution. Neuwied und Berlin: Luchterhand.
Ästhetik des Widerstands
Schmidt-Henkel, Gerhard (1973) Die Wortgraphik des Peter Weiss. In: Canaris 1973, S. 15-24. Soboczynki, Adam (1999) Von Schatten oder Schwarz und Weiß. Überlegungen zum Schatten des Körpers des Kutschers von Peter Weiss. In: Hofmann 1999, S. 68-89. Weiss, Peter (1964) Abschied von den Eltern. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1965) Fluchtpunkt. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1966) I Come out of My Hiding Place. Rede in englischer Sprache gehalten an der Princeton University USA am 25. April 1966. In: Canaris 1973,S. 9. Weiss, Peter (1976) Marat/Sade. In: Ders.: Stücke I, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 155- 255. Weiss, Peter (1984) Der Schatten des Körpers des Kutschers. Leipzig / Weimar: Kiepenheuer. Weiss, Peter (1986) Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In: Ders.: In Gegensätzen denken. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 209224. Weiss, Peter (1995) Avantgarde Film. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
37
Jost Hermand Arbeiterbilder. Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk und Robert Koehlers Der Streik Ich sitze nicht zwischen 2 Stühlen, sondern weiterhin auf dem unbequemen Holzstuhl des Sozialismus (Peter Weiss: Notizbücher, 1971-1980).
I
38
In der Ästhetik des Widerstands werden über 100 Künstler und Kunstwerke erwähnt,1 das heißt fast mehr und oft ausführlicher als Schriftsteller oder gar Komponisten.2 All jene Weiss-Forscher und -Forscherinnen, die über diese Disproportioniertheit nachgedacht haben, sind dabei zu folgenden Ergebnissen gekommen: Dieses Faktum lasse sich nur erklären, schrieben sie, wenn man bedenke, dass sich Weiss bis zu seinem 45. Lebensjahr weitgehend als Maler oder Filmemacher betätigt habe und erst dann zur Schriftstellerei übergegangen sei.3 Seine Kenntnis der Kunstgeschichte sei demzufolge wesentlich breiter gewesen als seine Kenntnis der Literatur- und Musikgeschichte. Und zwar zeige sich das selbst in seinen schriftstellerischen Bemühungen, wo er immer wieder auf Bilder oder Bildkomplexe anspiele, um seine Anschauungen so plastisch 1
Vgl. Honold / Schreiber 1995, vor allem den Aufsatz von Nana Badenberg: Kommentiertes Verzeichnis der in der Ästhetik des Widerstands erwähnten Künstler und Kunstwerke, S. 163-230.
2
Vgl. Cohen 1989, 25-60.
3
Vgl. Vogt 1987, 64 ff.
Arbeiterbilder
wie nur möglich hervortreten zu lassen. Schon seine Dramen wirkten daher manchmal wie gestellte Bilder, wobei man gern auf seinen Marat in der Badewanne hingewiesen hat, der wohl kaum ohne das berühmte Bild von Jacques-Louis David in dieser Form konzipiert worden wäre. Ja, in seiner Prosa, wo Weiss auf das Hilfsmittel tableauartig inszenierter Bilder verzichten musste, wurden solche Hinweise auf bekannte Gemälde oder Skulpturen im Laufe der Jahre immer häufiger. Das gilt vor allem für seinen dreiteiligen Roman Die Ästhetik des Widerstands, in dem, wie gesagt, die Zahl solcher Anspielungen auf den ersten Blick kaum übersehbar ist. Und zwar hängt das nicht nur mit Weiss’ genauer Kenntnis der Kunstgeschichte und ihrer Hauptrepräsentanten zusammen, sondern soll zugleich seine weitgespannte Aufarbeitung der revolutionären Tendenzen innerhalb der europäischen Geschichte – vom Pergamonaltar bis zu Pablo Picasso – besonders augenfällig machen. Obwohl es ihm dabei zentral um eine Ästhetik des Widerstands im Kampf gegen den deutschen Faschismus der dreißiger und frühen vierziger Jahre ging, versäumte er es keineswegs, auch auf Kunstwerke zurückzugreifen, die vor diesem Zeitraum entstanden sind und Szenen des Aufruhrs, der Revolution, aber auch der Schrecken des Krieges, der Niederlage oder gar des Untergangs thematisieren. Eine zentrale Rolle spielen hierbei Bilder wie Landschaft mit Ikarussturz (1555) von Pieter Breughel, Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid (1814) von Francisco Goya, Das Floß der Medusa (1818/19) von Théodore Géricault, Die Freiheit auf den Barrikaden (1830) von Eugène Delacroix sowie Guernica (1937) von Pablo Picasso. Die Häufigkeit solcher Erwähnungen wirkt zwangsläufig etwas bildungsüberladen, soll aber zugleich eine der dokumentarischen Hauptabsichten dieses als Roman ausgegebenen Werks unterstützen, nämlich einen verstärkten Sinn für die Geschichtlichkeit aller politischen, sozioökonomischen und kulturellen Vorgänge zu wecken, um sowohl auf zukünftige Katastrophen gefasst zu sein als auch einen möglichen Widerstand gegen sie zu entwickeln.4 Ein besonderer Nachdruck wird dabei auf die Rolle der ausgebeuteten Arbeiterklasse während der Zeit der sogenannten industriellen Revolution und ihrer politischen Konflikte gelegt. Allerdings ging es Weiss in dieser Hinsicht nicht nur um das Verhalten dieser Klasse unterm Faschismus, sondern auch um die Vorgeschichte dieses Verhaltens, in der es neben Phasen der Anpassung, der Resignation, des geduldigen Hinnehmens aller körperlichen und seelischen Müh4
Vgl. meinen Aufsatz: Das Floß der Medusa. Über Versuche, den Untergang zu überleben. In: Götze / Scherpe 1981, 112-120.
39
Jost Hermand
sal sogar Phasen der Arbeitsfreude wie auch Phasen des Unmuts, der Empörung, des Streiks, ja, sogar der Revolution gegeben habe. Während im 1. Band der Ästhetik des Widerstands die Arbeitenden auf den Bildern älterer Maler wie Andrea Mantegna, Tommaso Masaccio, Hans Baldung genannt Grien, Matthias Grünewald, Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch, Pieter Breughel und Francisco Goya eher beiläufig erwähnt werden (I, 86),5 setzte sich Weiss mit den Arbeiterbildern des 19. Jahrhunderts wesentlich genauer und intensiver auseinander. Und zwar fasste er dabei hauptsächlich zwei Gruppen ins Auge: die russischen und die französischen Maler dieser Ära. Die Russen hätten damals auf ihren Bildern vornehmlich die Vorgänger jener Menschen dargestellt, die erst in der Oktoberrevolution stolz und befreit aufgetreten seien. Nur Erniedrigung, Unterdrückung, Gefangensein gab es in den Gemälden der russischen Realisten, heißt es in diesem Zusammenhang, doch in ihrer Verbundenheit mit den Menschen, die sie darstellten, in der Schilderung des Unrechts, das ihnen widerfuhr, standen sie schon auf der Seite derer, die eine Erneuerung planten. Da waren [Ilja Jefimowitsch] Repins in den Riemen hängende Kahnzieher, [Konstantin Apollonowitsch] Sawitzkys Zwangsarbeiter, die Erde beförderten zum Bau des Eisenbahndammes, [Wassili Grigorjewitsch] Perows Kinder, die durch den Schneesturm die Wassertonnen schleppten, da war [Nicolai Alexandrowitsch] Jaroschenkos von roter Glut versengter, in sich zusammengesunkener Heizer, eingesperrt in den niedrigen Ofenraum, das Schüreisen in den geschwollnen dick rotgeäderten Händen haltend.
40
Wenige Sätze später heißt es: In der Öde, der Entwertung ihres Lebens hatten sie nie was erfahren von den Revolutionen in Frankreich, von der Commune, für sie waren mittelalterliche Zeiten noch gegenwärtig. (I, 60) 6 Nicht ganz so niederdrückend empfand Weiss die Arbeiterdarstellungen in der französischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts. Über sie heißt es: Auch den Steineklopfern von [Gustave] Courbet war keine Erleichterung beschieden, doch ihre Arbeit im Geröll war nicht mehr geprägt von Auswegslosigkeit. Ihre Kleidung war ärmlich, zerfetzt, ihre Bewegungen aber vermittelten etwas von der
5
Zitiert wird im Text nach der Erstausgabe der Ästhetik des Widerstands (Weiss 1975, 1978, 1981a)
6
Vgl. dazu auch Weiss 1981b, Bd. I,. 346-350.
Arbeiterbilder
Kraft der Aufstände im Februar und Juni Achtundvierzig, und war die Revolution auch niedergeschlagen worden, so glichen der Ruck, mit dem der junge Arbeiter den mit Steinen gefüllten Korb anhob, und der harte Griff des Älteren um den Hammerschaft schon wieder den Gesten beim Barrikadenbau, bei wütendem Widerstreit. (I, 60 f.) Selbst auf den Bildern von Jean-François Millet, wo es sich weitgehend um in ihrer Arbeit aufgehende Bauern handelt, sah Weiss bereits eine neue Bestimmtheit im Verhalten dieser Menschen (I, 62). Er konnte die Arbeitenden nicht im Besitz einer Macht sehn, die noch utopisch war, lesen wir hier, aber er stellte sie hin in der Würde, die sie sich erkämpft hatten. In seinen Bildern tritt ein Zwischenzustand zutage, der physische Ausdruck der Gestalten mußte den revolutionären Erfahrungen zugeschrieben werden, […] die Gewalt, zu der sie fähig waren, zeigte sich nur im Ansatz, doch indem er solches Leben hineinhob in die Salons der Gesellschaft, indem er die verschwitzten Figuren, mit ihren erdigen Zügen, ihrem lehmigen Gewicht, wegnahm von dort, wo sie bisher anonym ausgeharrt hatten, und hinein versetzte zwischen die gepflegten Porträts, die Nymphen und Schäferinnen, tat er etwas, was dem revolutionären Anliegen gleichkam. Allein das Erscheinen solcher Gestalten mitten in den Revieren des Bürgertums war ein Schlag ins Gesicht der Connaisseure, denn diese Leute hatten draußen zu bleiben, in ihrem Schmutz, dort, wo sie hingehörten. (I, 62) Es bedrückte zwar Weiss, dass diese Arbeiter, wie auch die Grubenarbeiter Constantin Meuniers, selten in der Geste der Gegenwehr, des Angreifens dargestellt wurden, aber dass sie vor den bestürzten Beschauern als neue Klasse auftraten, empfand er dennoch als künstlerische Tat genug (I, 63). Hinter ihnen lag eine Kette von Aufständen und Revolutionen, heißt es dementsprechend, und waren sie auch jedesmal wieder zurückgedrängt worden, so hatten sie jedesmal auch Erfahrungen gewonnen, und es könnte sein, daß sie beim nächsten Ansturm besser gerüstet wären. Daß sich die Maler ihnen näherten, daß sie für ihre Bilder Motive aus der Arbeitswelt suchten, zeigt, daß auch die Kunst sich von alten Verpflichtungen löste, daß sich ihr Kräfte aufdrängten, die aus dem Volk kamen, Kräfte, die artikuliert werden mußten, zunächst wieder von denen, die des vermittelnden Ausdrucks fähig waren. Die Maler verstanden diese Mahnung, sie vermochten noch nicht, sie zu übertragen auf das gesamte
41
Jost Hermand
System, in dem sie lebten, aber sie klagten an, sie hoben die Notlage hervor, sie sahn in den Arbeitenden ihre Auftraggeber, sie protestierten in ihrem Namen, sie identifizierten sich zeitweilig mit ihnen […]. Vorläufig war dies der einzig mögliche Werdegang. (I, 63 f.) Doch trotz all dieser Einschränkungen, erklärt Heilmann, einer der Protagonisten dieses Romans, wäre es falsch, auf diese Bilder lediglich als historisch veraltete zurückzublicken. Ebenso wenig sollten wir uns davon beirren lassen, sekundiert ihn sein Freund und Gesinnungsgenosse Coppi, ob diese Gemälde irgendwelchen modernistischen Kunstvorstellungen entsprächen. Stattdessen sollten wir uns vornehmlich fragen, ob sie uns Einblicke in die Vorgeschichte des Sozialismus gewähren. Und auch Coppis Mutter vertritt die Ansicht, dass wir stets von der Überlegung ausgehen sollten, ob uns derartige Bilder ermutigen. Gerade jetzt, sagt sie, sei dies im Widerstand gegen den Faschismus, wo sich so viele von uns geschlagen geben, dringender denn je zuvor (I, 65). Obwohl also Weiss die verschiedenen Spielarten einer expressionistischen oder surrealistischen Kunst keineswegs ablehnte, wie aus vielen anderen Stellen dieser romanhaften Trilogie hervorgeht, 7 versuchte er damit einem symbolischen Realismus das Wort zu reden, der sich sowohl von einer platten Auslegung des Sozialistischen Realismus als auch von den rein formalistischen Prinzipien einer nichtgegenständlichen Malerei zu distanzieren versucht und Realismus schlechthin mit Widerstandspotential gleichsetzt.
II
42
Doch nun zu den zwei Arbeiterdarstellungen in der deutschen Kunst des späten 19. Jahrhunderts, die Weiss in scharfer Gegenüberstellung – gleichsam als Höhepunkt seiner Beurteilung solcher Bilder – an den Schluss des 1. Bandes seiner Ästhetik des Widerstands stellte: Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk (1875) und Robert Koehlers Der Streik (1886). Unter seiner Perspektive, nämlich eine Ästhetik des Widerstands zu verfassen, beurteilt er dabei das relativ unbekannte Koehlersche Bild wesentlich positiver als das berühmte Menzelsche, was viele Leser dieses Romans bei der ersten Lektüre dieses Werks sicher verstört hat, da es beim Erscheinen dieses Bandes im Jahr 1975 in Deutschland noch keine Abbildungen dieses Gemäldes gab. 7
Vgl. Hermand 1983, 79-103.
Arbeiterbilder
In Menzels Eisenwalzwerk, das als eins der zentralen Bilder im ersten Stockwerk der Berliner Alten Nationalgalerie hängt, können Heilmann und Coppi als junge Linke lediglich eine Apotheose der Arbeit, das heißt ein politisch indifferentes, wenn nicht gar reaktionäres Gemälde sehen (I, 353). Zum Bildzentrum hin, heißt es im Hinblick auf dieses Werk, schob die Gruppe der Schmiede den glühenden Metallblock vom angehobnen Karren unter die Walze, […] rechts rasteten ein paar Männer, löffelten aus Näpfen, hoben eine Flasche zum Mund, und am linken Bildrand, mit nacktem Oberkörper, wuschen sich Leute der abgelösten Schicht Hals und Haare. […] Die Schilderung dieses unaufhörlichen, verschwitzten Ineinandergreifens sagte nichts andres aus, daß hier hart und widerspruchslos gearbeitet wurde. (I, 353) Es handele sich bei dieser Darstellung nicht um Arbeit als Vorgang der Selbstverwirklichung, erklärt der Vater des Erzählers, sondern um Arbeit geleistet, zu niedrigstem Preis und zu höchstem Profit des Arbeitkäufers (I, 353). Letztlich sei auf diesem Bild die Lobpreisung der Arbeit zugleich eine Lobpreisung der Unterordnung, heißt es apodiktisch (I, 354). Was Menzel hier vier Jahre nach der Zerschlagung der Commune dargestellt habe, seien Arbeiter, deren Arbeit sich gegen ihre eigenen Interessen richte. Alles gemahne an etwas Unabwendbares. Bei allem Mitgefühl, das der Künstler für die soziale Lage der Arbeiter gespürt haben mochte, lesen wir im Folgenden, seien dies Männer, die noch keine Kenntnis der damaligen sozialistischen Arbeiterbewegung gehabt hätten. Hier werde der deutsche Arbeitsmann aus Bismarcks und Wilhelms Reich – noch unangefochten vom Kommunistischen Manifest – in seiner einzigen Befugnis, nämlich wacker und treu zu sein, dargestellt (I, 355). Das sind harte Urteile, die zwar gut in Weiss’ Konzept einer Ästhetik des Widerstands passen, das heißt einen effektiven Kontrast dazu bilden, aber letztlich historisch ungerecht sind. Weiss gibt zwar zu, dass ihn diese Lesart des Menzelschen Eisenwalzwerk anfangs nicht ganz überzeugt habe. Aber dann sei er im gleichen Museum, also wiederum in der Berliner Alten Nationalgalerie, auf zwei andere Werke dieses Malers gestoßen: Die Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1871 und Das Ballsouper (1878), in denen er die gleichen affirmativen Züge wahrgenommen habe (I, 355), das heißt auf der einen Seite die begeisterte Begrüßung des Kriegs, die Erziehung zum Bückling, zum Speichellecken, auf der anderen Seite die Verherrlichung schwülstiger Pracht (I, 356). Diese beiden Urteile sind fast noch ungerechter als das Urteil über
43
Jost Hermand
44
das Eisenwalzwerk. Schließlich war Menzel kein wilhelminischer Hofmaler oder bismarckischer Patriot. Im Gegenteil! Schon seine Bilder über Friedrich den II. aus den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, die diesen König weitgehend als Voltaire-Freund, als besorgten Landesvater und als musisch interessierten Flötenspieler darstellen,8 haben weder etwas Militantes noch Serviles an sich und wurden daher von den Hohenzollern lange Zeit als ins Pazifistische tendierende Geschichtsverfälschungen abgelehnt und fast ausschließlich von liberalen Kunstliebhabern angekauft. 9 Ja, als Menzel 1866 ins Feld geschickt wurde, um den Sieg der Preußen über die Österreicher bildlich festzuhalten, kam er lediglich mit Zeichnungen von Verwundeten und Sterbenden auf dem Schlachtfeld von Königgrätz zurück. Noch renitenter verhielt er sich 1870/71, als er sich entschieden weigerte, mit den preußischen Truppen ins Feld zu ziehen, da er als Quasi-Liliputaner zu Pferde nun einmal keine gute Figur mache, wie er die Regierung wissen ließ. Sein Bild Die Abreise König Wilhelms zur Armee ist daher alles andere als affirmativ zu deuten, sondern stellt mit kalter Sachlichkeit die falsche Begeisterung für diesen letztlich ungerechtfertigten Krieg dar. Auch bei der Rückkehr des inzwischen zum deutschen Kaiser aufgestiegenen preußischen Königs, als sich die anderen Berliner Künstler vor lauter Enthusiasmus kaum zu halten wussten, versteckte er sich im Berliner Akademiegebäude und fütterte dort sein Lieblingsmäuschen.10 Nicht einmal seine Verehrung für die belle France ließ er sich ausreden, wie er am 1. April 1871 an seinen Freund Wilhelm Puhlmann schrieb. Und das waren keine leeren Worte. Als die ersten Züge mit französischen Kriegsgefangenen, unter denen sich auch farbige Turkos und Zuaven befanden, in Berlin eintrafen, war Menzel einer der wenigen, der diesen Menschen mit einer unverhohlenen Anteilnahme entgegenkam und sich sogar mit einem gewissen Mohamed-ben-Abdallah anfreundete. Jedenfalls hielt er sich von allen affirmativen Beteuerungen fern. Als man ihm diese Teilnahmslosigkeit zum Vorwurf machte, schrieb er am 9. Dezember 1878 mit geradezu zynischer Gelassenheit an Friedrich Pecht, dass der Bedarf für das patriotische Bedürfnis schließlich von vielen anderen durchaus gedeckt worden sei.11 Ebenso wenig lässt sich sein Ballsouper als eine ideologische Verbeugung vor dem Hohenzollern-Regime interpretieren. Schließlich treten hier die Mitglieder der königlichen Familie, die auch auf 8
Vgl. Forster-Hahn 1977, 242-261, und Hermand 1984.
9
Vgl. Hermand 1986, 79-102.
10
Vgl. ebd., 881.
11
Ebd., 83.
Arbeiterbilder
der Abreise kaum zu sehen sind, überhaupt nicht auf. Doch auch den anderen Figuren, die entweder mit peinlich anmutender Fresslust über die am Kalten Büffet ergatterten Speisen herfallen oder sich mit spöttischen Mienen über die Nichtanwesenden lustig zu machen scheinen, liegen keine historisch feststellbaren Personen zugrunde. Nach den Protesten jener Hofdamen, die sich bei seinem Krönungsbild von 1865 nicht genug geschmeichelt fühlten, verzichtete Menzel in den folgenden Jahren grundsätzlich darauf, auf seinen Gemälden irgendwelche Porträts aus Adelskreisen anzubringen.12 Was er auf diesem Bild darstellen wollte, war eben nicht der illusionäre Schein des schönen Lebens, wie man ihn im Bereich des halb aristokratischen, halb großbürgerlichen Salonidealismus dieses Zeitraums erwartete, bei dem lediglich das Aufgehübschte im Vordergrund stand, sondern die von ihm zutiefst abgelehnte neupreußische Protzeneitelkeit. Sind wir denn wirklich so häßlich?, soll die Kaiserin Augusta damals gesagt haben, als sie einige Menzel-Bilder in Augenschein genommen hatte.13 Schließlich schreckte Menzel vor allem im Bereich der älteren Generation nicht davor zurück, das Gelangweilte, Erschöpfte, Korpulente der Hofkreise in den Vordergrund zu rücken. Als er mit seinem Zeichenstift einige dieser Hofbälle und -empfänge besuchte, soll man sich in diesen Kreisen zugeraunt haben: Vorsicht, der Menzel geht um! Überhaupt ließ sich Menzel gegen Ende seines Lebens kaum noch von anderen in seine Angelegenheiten dreinreden, ja, wurde in seinen Antworten manchmal sogar recht bärbeißig. So schickte er einige seiner Bilder, darunter das Eisenwalzwerk, 1889 ohne die geringsten Skrupel zur großen Gedächtnissausstellung der Französischen Revolution nach Paris, obwohl Bismarck eine Beteiligung deutscher Maler an dieser anrüchigen Jubelfeier ausdrücklich untersagt hatte und auch der Hof bei Menzel vorstellig wurde, seine Bilder wieder zurückzuziehen. Nicht einmal, als die Berliner politischen Nachrichten seine Unterstützung dieser Ausstellung, welche in ihrer Verherrlichung des Revolutionsgedankens wie eine Herausforderung des monarchischen Bewußtseins wirke, als einen Akt bezeichneten, der für alle deutschen Patrioten tief beschämend sei,14 zeigte sich Menzel sonderlich beeindruckt. Im Jahr 1895, als im deutschen Reichstag in Berlin – im Rahmen der sogenannten Umsturzdebatte – Forderungen laut wurden, neue Zensurbeschränkungen einzuführen, unterzeichnete er zum Ärger der gleichen Kreise eine Petition, die sich mit allem Nachdruck gegen eine Behin12
Ebd., 91.
13
Ebd., 91.
14
Kunstchronik, 1889, 506.
45
Jost Hermand
46
derung der künstlerischen Freiheit wandte.15 1898 schlug Menzel mit der gleichen Widersetzlichkeit ausgerechnet Käthe Kollwitz für ihren Weberaufstand als Anwärterin für die kleine Goldene Medaille vor. 1899 stellte er erstmals im Rahmen der Berliner Sezession aus, obwohl ihm vom Hofe aus nahegelegt wurde, sich nicht mit den vom Kaiser gehassten Modernen zu assoziieren. Ja, noch 1904, im Alter von 89 Jahren, protestierte er dagegen, sein Krönungsbild zur Weltausstellung nach St. Louis zu schicken, da dort vielleicht eines Tages, wie er höchst doppeldeutig schrieb, ein freier Mann mit nem Stein in der Tasche die Ausstellung besuchen könnte. 16 Noch despektierlicher äußerte er sich in seinen letzten Jahren über seine Friedrich-Bilder der fünfziger Jahre. So bereute er etwa kurz vor seinem Tode, dass er das bekannte Flötenkonzert in Sanssouci gemalt habe. Dagegen befriedigte es ihn, dass auf seinen Bildern Friedrichs Soldaten keineswegs wie preußische Musterknaben oder gar Idealgestalten eines weltüberwindenden Heroismus aussähen. Ich habe sie so gezeichnet, erklärte Menzel in einem Interview, wie sie gewesen, wie sie gedrillt wurden und wie sie in den Tod gingen.17 Dass ihm dies, wie auf dem Bild Ansprache Friedrich des Großen vor der Schlacht bei Leuthen, manchmal nicht gelungen sei, wurmte ihn sehr. Obwohl ihm bei der Konzeption dieses Bildes das Grauen des Krieges immer vor Augen gestanden habe, seien die Gesichtszüge der Offiziere viel zu hoffnungsvoll oder zumindest unbeteiligt und nicht angstverzerrt genug ausgefallen. Aus diesem Grunde habe er dieses Bild nie zu Ende gemalt und im letzten Jahrzehnt seines Lebens diesen Männern einfach die Augen ausgekratzt. 18 Über Bismarck und die Hofkreise findet sich deshalb bei Menzel kein einziges anerkennendes Wort. Für ihn, den kleinbürgerlichen Altpreußen, waren das alles eitle, auf Ruhm und äußeren Schein bedachte Neupreußen, deren Auftreten ihn völlig kalt ließ. Ja, selbst von seinem Freund Theodor Fontane rückte er in den letzten Jahren merklich ab, da ihm dieser in seinen adelsbetonten Amouren-Geschichten à la Irrungen Wirrungen und Effie Briest viel zu konservativ erschien. Dass Menzel trotz seiner Anteilnahme am Schicksal der Arbeiter, das sich auf vielen seiner Bilder nachweisen ließe, wie Weiss erklärt, letztendlich ein wilhelminischer Hofmaler gewesen sei, ist daher eine arge Fehleinschätzung. Zugegeben, in Menzels Eisenwalzwerk liegt kein Streik in der Luft, um noch ein-
15
Kunstchronik, 1895, 284
16
Zit. in Kirstein 1919, 89.
17
Zit. in Delmar 1905, Nr. 7, 280 f.
18
Ebd., 280.
Arbeiterbilder
mal aus Weiss’ Notizbüchern zu zitieren.19 Aber das bedeutet nicht, dass Menzels Darstellung von Arbeitern und Handwerkern stets etwas Hausbackenes habe. Die von Menzel dargestellten Arbeiter seien lediglich tüchtig und fleißig, wie er an der gleichen Stelle behauptet, das heißt atmeten den gleichen Geist wie seine Abbildungen von Kürassieren und Generälen. Deshalb bezeichnet sie Weiss kurzerhand als suspekt.20 Welch ein Missverständnis! Sobald man sich nämlich unter den vielen Vorzeichnungen zu Menzels Eisenwalzwerk umschaut, stößt man auf eine Reihe höchst eindruckvoller Arbeitergestalten, die denen Gustave Courbets oder Jean-François Millets ideologisch und künstlerisch zumindest gleichartig, wenn nicht gar gleichrangig sind. Ja, eins seiner späteren Bilder, der Besuch im Eisenwalzwerk von 1900, wirkt in seiner Konfrontation eines Industriellen und eines Aufsichtsratsmitglieds mit der im Vordergrund stehenden riesigen Figur eines kohleschaufelnden Arbeiters recht hintergründig, zumal sich das Gesicht des Arbeiters nicht nur als schmerzverzerrt oder arbeitsüberlastet, sondern auch als drohend interpretieren lässt. Im Hinblick auf all diese Fakten, Gesprächsaufzeichnungen und brieflichen Äußerungen Menzels fällt es schwer, sein Eisenwalzwerk, das zu den ersten großen europäischen Industriebildern gehört,21 im Sinne von Peter Weiss als ein rein affirmatives Gemälde zu betrachten. Dass es später Deutschtümler so sahen und dass es noch von nationalsozialistischen Organisationen als Vorbild für alle deutschen Arbeiter hingestellt wurde, welche – von ihren eigenen Parteiführern inspiriert – den Ersten Weltkrieg ins Rollen gebracht und darauf dem Faschismus die Waffen geschmiedet hätten, wie Weiss an der gleichen Stelle schreibt (I, 356), verstößt eindeutig gegen Menzels Intention. Obendrein wäre eine solche Sicht auf das deutsche Proletariat viel zu simplistisch – und wird zudem in der Ästhetik des Widerstands von Weiss selber vielfach widerlegt. Warum versteifte sich also Weiss ausgerechnet bei der Interpretation von Menzels Eisenwalzwerk auf eine so kurzschlüssige Sicht? Letztlich kann dies nur einen Grund haben: Sie sollte den Boden bereiten für seine darauf folgende höchst positive Darstellung des Bildes Der Streik von Robert Koehler, die den sinnvollen Abschluss des ersten Bandes dieses weitgespannten Romans bildet.
19
Weiss 1981b, Bd. I, 197.
20
Ebd., 197.
21
Vgl. Türk 2002, 22.
47
Jost Hermand
III
48
Doch wer war eigentlich dieser Koehler, den beim Erscheinen des ersten Bandes der Ästhetik des Widerstands im Jahr 1975 noch fast niemand kannte? Mit diesen fast niemand sind weitgehend jene Vertreter der New Left gemeint, die seit den späten fünfziger Jahren in Madison im Umkreis der University of Wisconsin aktiv waren. Die meisten von ihnen waren Schüler von Historikern und Soziologen wie William Appleman Williams, Harvey Goldberg, Hans Gehrt und George L. Mosse, die sich in ihrem Hass auf den corporate liberalism gern als socialists of the heart bezeichneten. Ihre Publikationsorgane waren Zeitschriften wie Radical America und Studies on the Left, in denen sie sich seit 1959 von dem hysterischen Kommunistenfresser Joseph McCarthy abzusetzen versuchten, der als Senator von Wisconsin diesen Staat in den frühen fünfziger Jahren politisch in Verruf gebracht hatte. Einer der aktivsten innerhalb dieser Gruppe war Lee Baxandall, der bereits 1961 als Sechsundzwanzigjähriger in Ostberlin am Berliner Ensemble Gespräche mit Helene Weigel geführt hatte, darauf Mitte der sechziger Jahre an meinem Naturalismus-Seminar teilnahm und zu gleicher Zeit ein schnell anwachsendes Interesse für die Geschichte der Arbeiterbewegung im späten 19. Jahrhundert entwickelte.22 Im Rahmen seiner Suche nach Vertretern dieser Bewegung stieß er dabei auf Robert Koehler (1850-1917), einen Naturalisten unter den deutsch-amerikanischen Malern der achtziger und neunziger Jahre, den seine Eltern als vierjährigen Jungen bei ihrer Auswanderung von Hamburg nach Milwaukee, Wisconsin, mitgenommen hatten und der dort, in Pittsburgh und später New York – aufgrund seiner zeichnerischen Begabung – eine Lithographielehre begann, bevor er im Oktober 1873 an die Malakademie in München überwechselte und sich von Lehrern wie Franz von Defregger und Ludwig von Löfftz zum Kunstmaler ausbilden ließ. Koehlers Vater war von Beruf Maschinenschlosser, während seine Mutter als Näherin arbeitete. Daher konnten sie den jungen Robert finanziell kaum unterstützen. Doch aufgrund seiner lithographischen Arbeiten verdiente er offenbar genug, dass er es sich leisten konnte, mehrfach zwischen Milwaukee, New York und München hin- und herzupendeln, ja, sogar Reisen nach England und Belgien zu unternehmen.23 Da sein Vater in Milwaukee, einem der Zentren der deutschen Sozialdemokratie in den USA, offenbar als Freidenker dieser Partei angehörte, kam der junge Koehler schon früh in engen Kontakt mit den damals in all diesen Ländern 22
Vgl. Baxandall 1990, 127-133.
23
Vgl. dazu allgemein Merrill 1988, 3 ff., und Specht 1992, 157 ff.
Arbeiterbilder
höchst aktiven Arbeiterbewegungen, die sowohl sozialistischen als auch anarchistischen Parolen folgten.24 Überhaupt waren die achtziger Jahre eine Zeit höchst dramatischer sozialpolitischer Spannungen und kämpferischer Auseinandersetzungen zwischen den geradezu fürstlich auftretenden Industriellen und den immer stärker werdenden Arbeiterparteien und Gewerkschaften, was zu verbreiteten Aufständen und einer Fülle von Streikwellen führte, mit denen die Arbeiterorganisationen höhere Löhne und die Einführung des Zehn- bzw. Acht-StundenTags durchzusetzen versuchten. Vor allem in den USA, England, Deutschland und Belgien, also jenen Ländern, mit denen Robert Koehler besonders vertraut war, nahmen diese Auseinandersetzungen oft dramatische Formen an und führten zu heftigen, wenn nicht gar blutigen Konfrontationen zwischen Arbeitern und militärischen Einsatzgruppen, zumal während dieser Jahre in mehreren europäischen Ländern eine gravierende wirtschaftliche Depression herrschte, die in Deutschland Hunderttausende von Menschen zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten zwang, so dass in mehreren Städten, wie Milwaukee, St. Louis und Cincinnati, das Deutsche zur vorherrschenden Sprache wurde. Um diese Unruhen zu steuern, wurden staatlicherseits immer neue Sonderverfügungen erlassen, mit denen man – wie mit dem im Zweiten Kaiserreich 1878 verabschiedeten Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie – Herr der Lage zu bleiben versuchte. 25 Dennoch ließen die deutschen Sozialdemokraten in dieser heroischen Phase ihrer Geschichte nicht nach, weiterhin massiv für die Rechte der ausgebeuteten und entrechteten Arbeiter einzutreten, ja, schickten sogar einige ihrer Führer, darunter Wilhelm Liebknecht, in die Vereinigten Staaten, um dort auf mehrwöchigen Vortragsreisen von deutsch-amerikanischen Arbeitern, die oft zu Tausenden herbeiströmten, Geld für ihre notleidenden Genossen in Deutschland einzuwerben.26 Eins der wenigen bildkünstlerischen Dokumente solcher Versammlungen ist das 1885 gemalte Bild Der Sozialist von Koehler, auf dem ein energisch gestikulierender Agitator, möglicherweise ein deutscher Sozialdemokrat oder gar Koehlers Vater,27 dargestellt ist, vor dem auf einem Tisch die Zeitung Sozialist liegt und der sich mit geballter Faust an ein von seiner Rede offenbar beeindrucktes Publikum von politischen Sympathisanten wendet. Dieses Bild ist vermutlich die erste Darstellung eines aus 24
Vgl. Poore 1982.
25
Beutin / Beutin u.a. 2004.
26
Vgl. Hermand 2001, 29-44.
27
Vgl. Baxandall 1976, 4.
49
Jost Hermand
50
der Arbeiterklasse stammenden Agitators, wie Agnete von Specht schreibt,28 und wurde noch im gleichen Jahr in der National Academy of Design in New York mit der Bildunterschrift Ein deutscher Sozialist, der für seine blutrünstigen Ideen agitiert ausgestellt. Höhepunkte solcher Versammlungen und Aktionen waren 1877 der große Eisenbahnarbeiterstreik in Pittsburgh und anderen Städten, 1886 die Haymarket-Revolte in Chicago, der Bergarbeiterstreik im gleichen Jahr in Charleroi in Belgien, die vielen englischen Streiks dieser Jahre, die 1889 durch die Jahrhundertfeier der Französischen Revolution in Paris ausgelösten Unruhen sowie der gleichzeitig im Ruhrgebiet stattfindende Streik der dortigen Grubenarbeiter, welche nicht nur von sozialpolitischer Bedeutung waren, sondern auch in den Künsten dieser Ära jene rebellische Bewegung in Gang setzten, für die sich schnell die Bezeichnung Naturalismus einbürgerte. 29 Von entscheidender Bedeutung war dabei der 1885 erscheinende und nach dem hoffnungsvollen Frühlingsmonat der Französischen Revolution benannte Roman Germinal von Émile Zola, in dem ein Bergarbeiterstreik in Nordfrankreich im Zentrum steht, der zwar scheitert, aber vielen Grubenarbeitern ein neues Selbstwertgefühl verleiht. Und in diesem Zusammenhang muss auch Robert Koehlers großformatiges Gemälde Der Streik (1,81m x 2,75m) gesehen werden, das er nach Besuchen in England und Belgien im Jahr 1885 begann und bereits 1886 in München und dann in der National Academy of Design in New York ausstellte. Doch nicht nur das. Dieses Bild war 1889 sogar auf der Jahrhundertausstellung der Französischen Revolution in Paris und 1893 auf der Weltausstellung in Chicago zu sehen.30 Alle diese Ausstellungen sowie die sie begleitenden Ausstellungsberichte und ersten Abbildungen in Harper’s Weekly wie auch der Illustrierten Zeitung, der Deutschen Illustrierten Zeitung und der Publikationsreihe Moderne Kunst in Meisterholzschnitten machten dieses Bild schon um 1886/87 sowohl in den USA als auch in Deutschland recht bekannt.31 Ja, Koehlers Vater und dann er selber wurden 1889 bzw. 1901 vom Milwaukee Herald und vom Minneapolis Journal in Interviews über die genaue Datierung und Lokalisierung dieses Bildes befragt.32 Beide gaben dabei an, dass es sich bei der dargestellten Szene um einen Streik englischer Arbeiter aus den frühen achtziger Jahren handele, den der junge Koehler 28
Specht 1992, 40.
29
Vgl. Hamann / Hermand 1959, 7 ff.
30
Vgl. Specht 1992, 157.
31
Ebd., 61.
32
Ebd., 163 f.
Arbeiterbilder
dort beobachtet habe, während das Bild selber erst in München entstanden sei. 33 So gesehen, ist dieses Bild eines der Hauptwerke des deutschen Naturalismus der mittachtziger Jahre, als diese künstlerische Bewegung in Literatur und Malerei ihren ersten Höhepunkt erreichte. Dies ist jene Zeit, in der auch Max Liebermann seine wichtigsten naturalistischen Bilder, wie die Schusterwerkstatt (1881) und die Flachsscheuer in Laren (1887), beide heute in der Alten Nationalgalerie, gemalt hat, auf denen – neben dem Bild Koehlers – in Deutschland erstmals arbeitende Menschen als Einzelpersonen oder als Kollektiv mit einer selbstverständlichen Würde dargestellt wurden, die bisher weitgehend Mitgliedern der Aristokratie oder der Bourgeoisie und dem genrehaft-idyllisch gesehenen Landvolk vorbehalten geblieben war. Aber da ist noch mehr, wesentlich mehr. Auch das Streikthema gibt diesem Bild einen besonderen ideologischen Rang. Arbeitsniederlegungen waren an sich nichts Neues und lassen sich bis zu den Bergarbeiterunruhen des späten Mittelalters, den Handwerkerkrawallen des 18. Jahrhunderts sowie den Hungerrevolten der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen.34 Ein auf Industriearbeiter bezogenes Thema dieser Art taucht jedoch erst im Naturalismus der achtziger Jahre auf, und zwar zum ersten Mal auf dem großen Streikbild Robert Koehlers, an das sich erst später Bilder wie On Strike (1891) von Hubert von Herkomer, Streik der Hammerschmiede (1892) von Theodor Esser,35 Strikers (1893) von Eugène Laermans und Der Menschenstrom (1895) von Giuseppe Pellizza anschlossen.36 Doch nur wenige dieser Bilder haben den gleichen künstlerischen Rang wie das von Koehler. Leider hat er selber diesem Bild keine weiteren bedeutenden Arbeiterdarstellungen folgen lassen. Das mag damit zusammenhängen, dass Koehler 1893 zum Direktor des Minneapolis College of Art and Design ernannt wurde und kurz darauf die Malerei der proletarischen Milieuschilderung, wie man diese Richtung damals abschätzig in bürgerlichen Blättern nannte, aufgrund der sich allmählich verbessernden wirtschaftlichen Situation ohnehin abebbte. Während er in den Achtzigern noch Bilder wie Twenty Minutes for Refreshments, The Carpenter’s Family und Her Only Support gemalt hatte, die alle im Arbeiter- oder Handwerkermilieu angesiedelt waren, wissen wir über die spätere Zeit
33
Ebd.
34
Ebd., 9-26.
35
Vgl. ebd., 70. Wird dort als ›verschollen‹ angegeben, befindet sich jedoch im Chazen-Museum der University of Wisconsin in Madison.
36
Ebd., 66-78.
51
Jost Hermand
52
von Koehlers Tätigkeit als Maler relativ wenig.37 Wir wissen nur, dass sein Bild Der Streik, das offenbar niemand erwerben wollte, schließlich im Magazin des Minneapolis College of Art and Design landete, dessen Direktor Koehler bis 1914 war und das es später der Minneapolis Society of Fine Arts vermachte. Und dort verstaubte es über 50 Jahre, ohne dass sich nach Koehlers Weggang irgendjemand darum kümmerte. Entdeckt wurde es erst wieder, wie bereits gesagt, in den späten sechziger Jahren durch den jungen Lee Baxandall, der dieses Bild von der Minneapolis School of Art, die es offenbar loswerden wollte, 1971 für den Spottpreis von 750 Dollar erwarb und es anschließend in New York restaurieren ließ. Baxandall, nur fünf Jahre jünger als ich, hatte nach meiner Inszenierung von Brechts Mutter Courage und ihre Kinder im Jahr 1959/60 an der University of Wisconsin in Madison dort auf der gleichen Bühne 1970 Brechts Kaukasischen Kreidekreis in Szene gesetzt38 und sich in wenigen Jahren zu einem äußerst aktiven Marxisten entwickelt. Als solcher übersetzte er nicht nur Brechts Die Mutter für Grove Press ins Englische, schrieb über Kuba in konkret, führte Brechts Maßnahme für den Socialist Club in Madison auf und übersetzte eine Schrift von Che Guevara, sondern gab auch die damals vielbeachteten Bände Marxism and Aesthetics (1968), Radical Perspektives in the Arts (1972) sowie mit Stefan Morawski Marx and Engels on Literature and Art (1975) heraus.39 Und in diesem Zusammenhang stieß er auch auf die Publikationen von Peter Weiss. Als bereits erfahrener Übersetzer, der die deutsche Sprache gut beherrschte, übertrug er Mitte der sechziger Jahre das Drama Der Gesang vom Lusitanischen Popanz von Weiss ins Englische. Mit ihm traf er sich erstmals 1966 in New York, nachdem Weiss kurz zuvor an einem Treffen der Gruppe 47 in Princeton teilgenommen hatte und nach New York gekommen war, weil dort gerade sein Marat/Sade-Stück in der Inszenierung von Peter Brooks aufgeführt wurde.40 Ob Peter Weiss damals das Bild von Koehler bereits kannte, wie er in der Ästhetik des Widerstands behauptet (I, 357), oder ob ihm Lee Baxandall einen Druck davon schenkte, den er auf eigene Kosten hatte herstellen lassen, lässt sich heute leider nicht mehr genau ermitteln, da Letzterer an Parkinson’s Disease leidet und sich kaum noch an diese Jahre erinnern kann. Doch eine gewisse Vermittlerrolle in dieser Hinsicht hat Baxandall auf jeden Fall gespielt. 37
Vgl. Merrill 1988 und Specht 1992.
38
Vgl. hierzu auch Baxandall 1970, 150-167.
39
Vgl. Lee Baxandall 1990, 131f.
40
Vgl. dazu Weiss 1982, Bd. II, 493.
Arbeiterbilder
Peter Weiss schreibt in seinem Roman an der Stelle, wo er auf das Koehlersche Gemälde zu sprechen kommt, dass eine Reproduktion dieses Bilds, und zwar aus der Zeitschrift Harper’s Weekly von 1886, bereits in der Wohnung der Eltern seines Erzählers in Bremen gehangen habe (I, 357). Das mag stimmen, da Reproduktionen dieses Gemäldes noch um die Wende zum 20. Jahrhundert weit verbreitet waren, mag aber genauso fiktiv sein wie vieles, was Weiss als authentische Erlebnisse oder Beobachtungen seines als autobiographisch hingestellten Erzählers berichtet. Ich würde eher dazu neigen, an der vorgeblichen Authentizität dieser Behauptung zu zweifeln. Und auch Wolfgang Abendroth hegte in einem Gespräch mit mir im Jahr 1982 – nach einer Gedächtnisveranstaltung für Peter Weiss im Marburger Erwin-Piscator-Theater – ähnliche Zweifel in dieser Hinsicht. Das gleiche tat Robert Cohen, der mir in einem Brief vom 23. August 2006 schrieb, dass er hinter dieser Behauptung ein großes Fragezeichen setzen würde. Doch zurück zu dem Bild selber. Nach einer über zweiseitigen Beschreibung dieses Gemäldes, die höchst präzis formuliert ist, geht Weiss auf Seite 358 seiner Ästhetik des Widerstands schließlich in eine inhaltliche Bewertung dieses Bildes ein, die vor allem seine politische Bedeutsamkeit herausstreichen soll. Der Maler […] stand eindeutig auf der Seite der Arbeitenden, er kannte deren Lebensbedingungen, er hatte seine Gestalten studiert, so wie auch Menzel sie studiert hatte, doch im Gegensatz zu dem preußischen Hofmaler hatte er die Arbeiter, in ihrer schweren Körperlichkeit, nicht im Bann der Warenerzeugung, sondern in ihrem Selbstbewußtsein gezeigt. Sie standen bei ausgebrochener Kampfsituation, dem Ausbeuter gegenüber, der im Eisenwalzwerk noch unbehelligt meditieren konnte. Ihr Einhalten vor der Treppe war von der Vernunft diktiert. Ein vereinzelter Angriff wäre sinnlos gewesen, sofort zusammengeschossen worden. Das wütende Warten, die geschüttelten Fäuste waren Vorboten von Maßnahmen, die auf organisatorischem Wege getroffen werden mußten. (I, 358) All dies wird von Weiss angesichts der historischen Situation – wie in Brechts Maßnahme – als politische Klugheit gewertet. Und zwar bringt er dabei die streikenden Arbeiter irrtümlicherweise mit der rebellischen Kundgebung der Arbeiterschaft in Chicago vom 1. Mai 1886, der Haymarket-Revolte, in Beziehung, die von den Polizeitruppen, wie er schreibt, blutig niedergeschlagen worden sei (I, 359). Auch über Koehler selbst fehlten ihm offenbar bei der Niederschrift dieses Romans noch genauere Angaben. So lässt er ihn etwa 1917, der inzwischen zum Akademiedirektor aufgestiegen
53
Jost Hermand
54
war, verarmt in Minneapolis sterben, um Koehler damit nochmals – im Gegensatz zu dem gesellschaftlichen Aufsteiger Menzel – als einen rebellischen und deshalb verfemten Sympathisanten des Proletariats zu charakterisieren. Während also die meisten Bilder, die Weiss sonst in seiner Ästhetik des Widerstands als Illustrationen seiner Thesen heranzieht, wie etwa das Floß der Medusa von Théodore Géricault oder das Guernica-Bild von Pablo Picasso, eher zu einem symbolischen Realismus neigen,41 lobte er im Hinblick auf Koehlers Der Streik eher den krassen Naturalismus dieses Gemäldes, als wolle er damit beweisen, dass er unter Realismus keine besondere Stilform, sondern eine inhaltliche Verbindlichkeit verstand, der ein rebellisches Engagement zugrunde liegt. Darum erschien ihm der Menzelsche Realismus wegen seiner peniblen Abbildlichkeit als viel zu objektivierend, das heißt zwar anteilnehmend, aber nicht Partei ergreifend, während er das Koehlersche Bild – wegen seiner unleugbar aufmüpfigen Züge – als einen eindrucksvollen Ausdruck der damaligen Arbeiteraufstände interpretierte, um auf die ermutigende Widerstandskraft dieses Gemäldes hinzuweisen. Dass Menzel auf seinem Eisenwalzwerk zwar mit höchster Realistik eine Gruppe von Arbeitern darstellt, beeindruckte ihn daher gar nicht, weil diese Arbeiter lediglich ihren vorgeschriebenen Arbeitsverpflichtungen nachgehen und sich nur beim Waschen und Essen kurze Ruhepausen gönnen. All das erschien Weiss als viel zu passiv, ja, geradezu affirmativ. Was er als vorbildliche Kunstwerke im Kampf der Arbeiterklasse gegen die machtvolle Industriebourgeoisie gelten ließ, waren entweder Bilder, die das Leiden der unteren Klassen ins Bild zu setzen versuchten oder die ihren Unterdrückern mit kollektiver Gewalt entgegentraten. Und darum legte er bei der Niederschrift des ersten Bands seiner Ästhetik des Widerstands einen solchen Nachdruck auf das Bild Der Streik von Robert Koehler, das damals nur in der Erinnerung einiger Arbeiterveteranen weiterlebte sowie von Lee Baxandall und seinen Freunden hochgeschätzt wurde. Dass es kurz vor der ›Wende‹ von 1989 vom Ostberliner Historischen Museum im ehemaligen Zeughaus angekauft wurde, nachdem kein US-amerikanisches Museum daran Interesse gezeigt hatte, geht ebenfalls auf eine Vermittlung von Lee Baxandall zurück, über die Peter Weiss sicher hocherfreut gewesen wäre. Ja, dieses Museum kaufte zum gleichen Zeitpunkt, ebenfalls durch eine Vermittlung von Lee Baxandall, das Koehlersche Bild Der Sozialist an – und zwar damals noch in der Hoffnung, damit einen wichtigen Beitrag zur künstlerischen Vorgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung geleistet 41
Vogt 1987, 54.
Arbeiterbilder
zu haben.42 Möge diese Hoffnung inzwischen nicht ganz erloschen sein und möge auch die Ästhetik des Widerstands nicht den gleichen Staub ansetzen, der sich im Laufe von 50 Jahren auf dem Bild Der Streik angesammelt hatte, bevor es durch den engagierten Einsatz eines Einzelnen wieder seine frühere Eindrucksfülle zurückerhielt.
55
42
Nach dem Ankauf dieses Bildes vom Historischen Museum in Berlin wurde es dort 1992 anlässlich der Ausstellung Streik. Realität und Mythos (vgl. Anm. 23) und 2002 im Berliner Gropius-Bau gezeigt (vgl. http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/01.08.2002/151428
Jost Hermand
Literatur
56
Badenberg, Nana (1995) Die Ästhetik und ihre Kunstwerke. Eine Inventur. In: Honold / Schreiber 1995, S. 114ff. Baxandall, Lee (1970) The Americanization of Bert Brecht. In: Brecht heute – Brecht today. Jahrbuch der Internationalen Brecht-Gesellschaft 1, 1970, S. 150-167. Baxandall, Lee (1990) New York Meets Oshkosh. In: History and the New Left, Madison, Wisconsin 1950-1970. Hrsg. v. Paul Buhle. Philadelphia: Temple, S. 127-133. Baxandall, Lee (1976) The Socialist. Oshkosh. Beutin, Heidi / Beutin, Wolfgang u.a. (Hrsg.) (2004) 125 Jahre Sozialistengesetz. Frankfurt/M.: P. Lang. Cohen, Robert (1989) Bio-Bibliographisches Handbuch zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands. Hamburg: Argument. Delmar, Axel (1905) Die kleine Exzellenz. In: Die Woche, 1905, Nr. 7, S. 280 f. Forster-Hahn, François (1977) Adolph Menzel’s Daguerreotypical Image of Frederic the Great: A Liberal Interpretation of German History. In: Art Bulletin, 1977, S. 242-261. Götze, Karl-Heinz / Scherpe, Klaus R. (Hrsg.) (1981) Die Ästhetik des Widerstands lesen. Über Peter Weiss. Berlin: Argument. Hamann, Richard / Hermand, Jost (1959) Naturalismus. Berlin: Akademie-Verlag. Hermand, Jost (1984) Adolph Menzel: Das Flötenkonzert in Sanssouci. Ein realistisch geträumtes Preußenbild. Frankfurt/M.: Fischer. Hermand, Jost (1981) Das Floß der Medusa. Über Versuche, den Untergang zu überleben. In: Götze / Scherpe 1981. Hermand, Jost (1983) Obwohl. Dennoch. Trotzalledem. Die im Konzept der freien Assoziation der Gleichgesinnten aufgehobene Antinomie von ästhetischem Modernismus und sozialistischer Parteilichkeit in der Ästhetik des Widerstands und den sie begleitenden Notizbüchern. In: Die Ästhetik des Widerstands. Hrsg. v. Alexander Stephan. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 79-103. Hermand, Jost (1986) Adolph Menzel. Reinbek: Rowohlt. Hermand, Jost (2001) Ein Blick in die Neue Welt (1887). Wilhelm Liebknechts Bericht über seine USA-Reise im Jahr 1886. In: Eine Gesellschaft der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit. Beiträge zur Tagung zum 100. Todestag Wilhelm Liebknechts. Hrsg. v. Wolfgang Beutin, Holger Malterer und Friedrich Mülder. Frankfurt/M.: P. Lang, S. 29-44.
Arbeiterbilder
Honold, Alexander / Schreiber, Ulrich (Hrsg.) (1995): Die Bilderwelt des Peter Weiss. Hamburg / Berlin: Argument. Kirstein, Gustav (1919) Das Leben Adolph Menzels. Leipzig: E. A. Seeman. Merrill, Peter C. (1988) Robert Koehler: Artist in Milwaukee. In: Hennepin County Historical Society (Minnesota) 47, Nr. 3, Summer 1988, S. 3 ff. Poore, Carol (1982) German-American Socialist Literature. 18651900. Bern: P. Lang. Specht, Agnete von (1992) Robert Koehlers Gemälde Der Streik als Historienbild. In: Dies. (Hrsg.): Streik. Realität und Mythos. Berlin: Argon. Türk, Klaus (2002) Mensch und Arbeit. 400 Jahre Geschichte der Arbeit in der bildenden Kunst. In: Die Eckehart G. Grohmann Collection an der Milwaukee School of Engineering, Milwaukee, S. 22. Vogt, Jochen (1987) Peter Weiss. Reinbek: Rowohlt. Weiss, Peter (1975) Die Ästhetik des Widerstands. Band 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1978) Die Ästhetik des Widerstands. Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1981a) Die Ästhetik des Widerstands. Band 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1981b) Notizbücher 1971-1980. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1982) Notizbücher 1960-1971. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
57
Adolph Menzel Das Eisenwalzwerk
Robert Koehler Der Streik
Gerhard Friedrich Die »Ortschaft« des Peter Weiss. Ortslosigkeit und Raumverlust in der Sprache der frühen Prosa Der Vater von Peter Weiss – Eugen Weiss – in Ungarn geboren und jüdischer Herkunft, ist zum Protestantismus übergetreten, nachdem er als österreichisch-ungarischer Offizier am ersten Weltkrieg teilgenommen hat. In der Folgezeit wurden die jüdischen Wurzeln des Vaters zum Familientabu. Peter selbst erfuhr von ihnen – nach den Memoiren seiner Schwester Irene – erst 1938, nachdem er von seiner Mutter darüber unterrichtet worden war. Nach der Emigration der Familie hat Weiss diese verdrängte Identität sozusagen als Negativabdruck ihrer selbst annehmen müssen, d.h. in der verfremdet-oktroyierten Gestalt, in der sie nur Anlass von Diskriminierung war. Jüdische Identität wird ihm als von vorneherein negierte zuteil – und zwar als zweifach negierte: sowohl in der Assimilation des Vaters, als durch den die Emigration erzwingenden Antisemitismus der Nazis. Mit anderen Worten: Weiss hat sich nie positiv als Jude wahrnehmen können, sondern erst aus der Perspektive der Negation jüdischer Identität, als einer, dessen Identität darin besteht, kein Existenzrecht zu haben und – sofern dies so zur Identität wird – sich selbst auch kein Existenzrecht zusprechen zu können. Aus dieser im Kern selbstzerstörerischen Identifikation mit der Perspektive des übermächtigen Feindes, aus dieser Identität negierter Identität, ergeben sich – unter Anderem – sowohl Weiss’ Betonung einer Dialektik im Verhältnis von Täter und Opfer, die diese Rollenverteilung im Sinne ihrer potentiellen Umkehrbarkeit relativiert, als auch seine Affinität zu Franz Kafka, dem er sein letztes Stück, Der Neue Prozeß, widmete.
59
Gerhard Friedrich
Das künstlerische Schaffen des Peter Weiss – von der Malerei in den 30-er und 40-er über die Filme der 50-er Jahre bis zum Schreiben in deutscher Sprache – war wesentlich die Anstrengung, dieses auf seiner Existenz lastende Veto zu überwinden, sich im Schreiben, die tatsächliche, negierte kompensierend, eine virtuelle Identität zu schaffen. Noch sein letztes Werk – Die Ästhetik des Widerstands – hat er als seine Wunschautobiografie bezeichnet. Wenn dergestalte Identität Heimstatt hat, kann dies nur die nomadischautonome Schrift als solche sein, deren Sprache auch nur scheinbar national geprägt und gebunden ist. Weiss schrieb seit Beginn der 50-er Jahre auf Deutsch und gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, und doch beharrte er noch 1979 darauf: Ich war nie ein Deutscher. Weiss ist, 18-jährig, mit den Eltern über England und die Tschechei nach Schweden emigriert und – außer zu kurzen Besuchen – nie nach Deutschland zurückgekehrt. Er vollzieht in seinem Text Meine Ortschaft (1964) in Form einer Art von Zugehörigkeitserklärung zu allen dort ermordeten Juden die ihm bis dahin nicht möglich gewesene definitive »Verortung« in einer »Ortschaft«, die er als die wesentlich Seinige, ihm existentiell zugehörige anerkennt, die er aber – rein zufällig – verpasst hat: Auschwitz. Er begreift sich als zufällig Lebender. Die Negativität einer Identität aus der Perspektive der Täter mutiert so in eine im Kern melancholische Identifikation mit den Toten, die ihm sein Noch-Leben als ungebührlichen und uneigentlichen Überhang ohne Mittelpunkt erscheinen lässt. Nur diese eine Ortschaft, von der ich seit langem wusste, doch die ich erst spät sah, liegt gänzlich für sich. Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. [...] Ich habe keine andere Beziehung zu ihr, als dass mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten.1
60
Nachträglich wurde sie ihm von so existentieller Bedeutung, dass kein anderer Ort ihm jemals existentielle Koordinaten liefern und ihm jemals würde konsistent erscheinen können. Er erwähnt verschiedene europäische Orte und Landschaften, um sie aber sofort als mögliche »Lebensorte« zu verwerfen: Es waren Durchgangsstellen, sie boten Eindrücke, deren wesentliches Element das Unhaltbare, schnell Verschwindende war, und wenn ich untersuche, was jetzt daraus hervorgehoben und für wert befunden werden könnte, einen festen Punkt in der 1
Weiss 1968b, 114.
Die »Ortschaft« des Peter Weiss
Topographie meines Lebens zu bilden, so gerate ich nur immer wieder an das Zurückweichende, alle diese Städte werden zu blinden Flecken, und nur eine Ortschaft, in der ich nur einen Tag lang war, bleibt bestehen.2 Alle Orte konnten für Peter Weiss von diesem einem »Un-Ort« absorbiert werden, da sein »Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten«, aber auch, da er schon vor seinem Auschwitz-Besuch jüdische Identität vorrangig als Existenzverbot wahrnahm. Er stirbt in Auschwitz einen inneren Tod aus Empathie und lebt nun bewusst in einem Nirgendwo, jedoch seine Wahrnehmung der Dimension des Raums als im Diesseits und Dasein versicherndes Gerüst konstanter Koordinaten wird schon vor dem Auschwitz-Besuch prekär gewesen sein. Wesentlich mit dem Raum und den konstanten Koordinaten des »Territoriums« verbunden ist für Weiss die Sprache. Er erzählt in seinem Text Laokoon oder über die Grenzen der Sprache (1965), wie er die Vertreibung aus seinem Land zugleich als Vertreibung aus seiner Sprache erfuhr und erlitt. So konnte ihm im Umkehrschluss die Wiedererringung der Sprache im Schreiben als Autonomie verleihende Kompensation des »Heimatverlustes« erscheinen: So kommt der Schreibende auf einem Umweg über den Zerfall und die Machtlosigkeit zum Schreiben, und jedes Wort, mit dem er eine Wahrheit gewinnt, ist aus Zweifeln und Widersprüchen hervorgegangen. Einmal wurde er aus allen Bindungen herausgerissen und in eine Freiheit versetzt, in der er sich selbst aus der Sicht verlor. Aber die Möglichkeit entsteht, dass er mit der Sprache, die ihm zur Arbeit dient und die nirgendwo mehr einen festen Wohnsitz hat, überall in dieser Freiheit zu Hause sei.3 Nach seiner ersten Periode als Maler verknüpft sich – nach den Schreibversuchen auf Schwedisch – in der Wiederaufnahme des Schreibens auf Deutsch zunächst vor allem das Ringen um den Wiedererwerb der Sprache mit dem auf sprachlichen Raumverzicht, mit dem radikalen Experiment einer Sprache ohne Raum, d.h. in lebensgeschichtlicher Perspektive letztlich: der Sprache des Ortslosen, des über eine absolute Sprache verfügenden Weltbürgers oder Nomaden. Der Prosatext Der Schatten des Körpers des Kutschers (1952) nimmt im Werk von Peter Weiss unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Schlüsselrolle ein. Er ist der erste – mit einer Verzöge2
Ebd.
3
Weiss 1968c, 187.
61
Gerhard Friedrich
62
rung von acht Jahren (1960) – auf Deutsch veröffentlichte Text von Weiss.4 Er ist der Text, mit dem Weiss seine Schaffensperiode als Maler abschließt und mit dem er als Schriftsteller im deutschsprachigen Raum bekannt wird. Der Übergang vom Malen zum Schreiben zeichnete sich in der Weiss’schen Perspektive ab als Übergang von der Gestaltung des reinen Raums zum reinen Zeitablauf. Die Raum-Zeit Koordination erscheint ihm in beiden Ausdrucksmodi auf jeweils entgegengesetzte Weise in einer der beiden Dimensionen absorbiert. Noch 1965 verzeichnet er in seinen Notizbüchern: die Zeitfolge ist das Gebiet des Dichtens - der Raum das Gebiet des Malens.5 Die Flucht aus der unbewältigbar erscheinenden Raumbeherrschung – Weiss betrachtete sich aus ebendiesem Grund als Maler gescheitert – in die allerdings nur scheinbar reine Zeitfolge der Sprache erprobt Weiss im Schatten des Körpers des Kutschers. Zunächst erscheinen in der Textstruktur wesentliche Operationen der Repräsentation dreidimensionaler Wirklichkeit im Sprachinnenraum radikal eliminiert: Kontinuum und Konfiguration, Gleichzeitigkeit, Über- und Unter-, Vor- und Nachordnung: Ordnungsprinzipien, die es gestatten, wahrgenommene Einzelphänomene untereinander und zu größeren Raumeinheiten in Beziehungen zu setzen, die als mentale Repräsentation von Räumlichkeit von der »realen« Zeit der Sprache unabhängig sind. All dies hat Weiss seiner Sprache im Schatten des Körpers des Kutschers radikal ausgetrieben. Das Ergebnis ist die Bruchstückhaftigkeit des Ganzen, die sprachliche Anhäufung von Einzelwahrnehmungen, die Konzentration auf kleinste Einheiten, die bestenfalls zur nächstgrößeren in eine mechanische Verbindung gebracht werden, die Auflösung von gleichzeitig – im Raumkontinuum – ablaufenden Handlungen in serielles Nacheinander, die Wiedergabe wahrgenommener – auch gleichzeitiger – sprachlicher Äußerungen einer Konversation als serielles Nacheinander einzelner akustischer Reize. Das wahrnehmende Subjekt erscheint so von seinen Wahrnehmungen überwältigt. Es hat nicht die Möglichkeit, sie zu sichten, unter ihnen auszuwählen und sie zu ordnen. Wenn nicht die völlige Abwesenheit, so kann doch die konstitutionelle Schwäche des wahrnehmenden und schreibenden Subjektes festgestellt werden. Es entsteht eine Textstruktur, die an Schreibweisen und Konzepte
4
Erste Veröffentlichung 1960 als Tausenddruck 3 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. mit sieben Collagen des Autors.
5
Weiss 1972, 323.
Die »Ortschaft« des Peter Weiss
des »extremen« deutschen Naturalismus erinnert, wie zum Beispiel an den »Sekundenstil« eines Arno Holz. Einige kurze Beispiele (obwohl sie, um den seriellen Charakter adäquat wiederzugeben, nur lang sein dürften): [...] auf das rechte Bein stütze ich den Arm mit der schreibenden Hand, [...]6 Die Hände, den Löffel haltend, heben sich jetzt von allen Seiten den Töpfen entgegen, die Hand der Haushälterin [...], die Hand des Hauptmanns [...], die Hand des Doktors [...], die Hand des Hausknechts [...], die Hand des Schneiders [...], meine eigene Hand [...], und dann keine Hand, in einem leeren Raum [! – G.F.] der auf eine Hand wartet.7 Die Gleichzeitigkeit des gemeinsamen Essens dieser Figuren erscheint als Nacheinander isolierter Momente in der Aufzählung der Hände gegen die Töpfe, wie die Personen als von ihren Händen getrennt erscheinen. Dieses Zerfallen des Zeitkontinuums in Einzelmomente, wie auch die Zerstückelung der organischen Einheit der Individuen, ist in letzter Instanz der absoluten Herrschaft des ›Nacheinander‹ geschuldet, das seinerseits aus der Anerkennung der Zeit als einziger Dimension der Sprache resultiert. Von den Worten der Haushälterin [...] verstand ich folgende Bruchstücke, Bohnen lange kochen, Schinken, Speckschwarte, Fett auslassen, gestocktes Fett, Schmalz, Gans (ganz) [...].8 Die Wiederholung von ›Gans‹ als ›(ganz)‹ deutet hier auf die Reduzierung der Wahrnehmung der Worte als bloße akustische Reize hin, denn ›Gans‹ und ›ganz‹ lauten gleich. Eine als völlig autonom begriffene Sprache ist nur akustisches Phänomen; es besteht kein Kriterium zur Distinktion lautgleicher Phoneme, da ihre Zeichenfunktion ausgeblendet wird – so kann sie nur als Lautfolge in der Zeit bestehen. Dies sind die Geräusche; das Schmatzen und Grunzen des Schweinerüssels [nicht des Schweins! G.F.], das Schwappen und Klatschen des Schlammes, das borstige Schmieren des Schweinerückens an den Brettern, das Knirschen der Bretter und lokkeren Pfosten an der Hauswand, [...].9 Hier kann verallgemeinernd bemerkt werden, dass der Erzähler sich in seiner Wirklichkeitswahrnehmung mehr auf akustische Reize als
6
Weiss 1991b, 11.
7
Ebd., 18.
8
Ebd., 41.
9
Ebd., 9.
63
Gerhard Friedrich
auf Gesehenes stützt. Häufig identifiziert Weiss selbst Personen nach den von ihnen hervorgerufenen Geräuschen: [...] und das Schaben einer Säge, vom Schuppen her. Das ruckhafte, zuweilen kurz aussetzende und dann wieder heftig einsetzende Hin und Her der Säge deutet darauf hin, daß sie von der Hand des Hausknechts geführt wird. Auch ohne dieses besondere, oft von mir gehörte und durch Vergewisserung bestätigte Merkmal wäre es nicht schwer zu erraten, daß der Hausknecht die Säge handhabe, [...]; es sei denn, daß eben ein neuer Gast eingetroffen wäre [...]. Doch ich habe den Wagen nicht kommen hören, weder das Scheppern der Räder und Riemen, noch das Poltern der Karosserie, weder das Hornsignal des Kutschers das dieser bei seiner Ankunft auszustoßen pflegt, noch sein Schnalzen mit der Zunge und seinen trommelnden Zungenlaut mit dem er das Pferd zum Halten mahnt, auch das Stampfen des Pferdes habe ich nicht gehört, und auf dem aufgeweichten Feldweg müßte es zu hören gewesen sein. 10
64
Nach einer solchen Textstelle wird verständlich, dass Weiss vereinfachen konnte: die Dimension der Malerei sei der Raum, die der Literatur aber die Zeit.11 Die Wahrnehmung der Realität und ihre sprachliche Wiedergabe vollzieht sich hier als „Symphonie“ von Geräuschen, der Text besteht in der Evokation der Vorstellung akustischer Phänomene und nähert sich – soweit dies einem Text möglich ist – tatsächlich der Musik an; die Dimension der Musik aber ist die Zeit. Sprache ohne Raum wäre in letzter Konsequenz wahrscheinlich eine rein onomatopäische Sprache – und dieser nähert sich Weiss hier an. Den Totalverlust ihrer Fähigkeit, Räumlichkeit und damit auch Körperlichkeit wiederzugeben, erleidet diese Sprache am Ende des Textes, als sie – und das Paradox steigert die Spannung ins Extreme – den Koitus, Körperlichkeit par exellence, von Haushälterin und Kutscher schildert. Er wird wiedergegeben als Schattenspiel. Nicht die Körper, sondern nur die – zweidimensionalen – Schatten der Körper agieren.
10
Ebd., 9 f.
11
Um Missverständnissen vorzubeugen: selbstverständlich vollziehen sich Sprache, Schreiben und Lesen – im Vergleich zur ›Statik‹ des Bildes – wesentlich in der Zeit. Sprache allerdings auf ihre Exekution in realer Zeit zu reduzieren, und folglich in ihrem ›Innenraum‹ auch nur die Zeit gelten zu lassen, bedeutet in letzter Konsequenz, sie als bloß akustisches Phänomen – ähnlich der Musik – wahrzunehmen, sie ihrer spezifischen Zeichenfunktion, Welthaltigkeit in allen Sinnen und Dimensionen repräsentieren zu können, zu berauben.
Die »Ortschaft« des Peter Weiss
Die Schatten der Hände des Kutschers drängten sich in den Schatten des Rockes der Haushälterin ein, der Schatten des Rockes glitt zurück und der Schatten des Unterleibes des Kutschers wühlte sich in den Schatten der entblößten Schenkel der Haushälterin ein.12 Und selbst da, wo Räumliches den Text zu strukturieren scheint, konstituiert sich dieses wesentlich als Übertragung in zeitliches Aufeinanderfolgen, als das Paradoxon einer Art von ›seriellem Raum‹. Den Blick nach links wendend nehme ich den Steinhaufen hinter dem Schuppen wahr, und hinter dem Steinhaufen [...] erhebt sich die Scheune, und hinter der Scheune breiten sich die Äcker aus, und in den Ackerfurchen stampft ein Pferd, und hinter dem Pferd schwankt ein Pflug her, und hinter dem Pflug [...] stampft der Hausknecht, und hinter den Äckern liegen die Waldungen [...]13 Hier erscheint Räumlichkeit als Reihung auf einer Linie. Die Ordnung der wahrgenommenen Objekte oder Personen konstituiert sich als sich in der Zeit vollziehendes Nacheinander. Und zwar geschieht diese Übersetzung von Raum in Zeit in der Wiederholung der ständig gleichen Präposition ›hinter‹. Durch die Wiederholung wird die spezifische Bedeutung der Präposition des Ortes abgeschliffen, sie wird zu einem beliebigen Verbindungsstück, zu einer Art von Konjunktion, die die Reihung in der Zeit herstellt. Allerdings gelingt es dieser Sprache nicht völlig, das Raumproblem zu liquidieren. Gegen Ende des Textes – unter anderem in dem einzigen intakt wiedergegeben Dialog – geht der Erzähler selbst ihm tief beunruhigt nach: [...] wie alle die mit Kohlen angefüllten Säcke in der [...] nicht einmal vollbeladenen Kutsche Platz gefunden hatten, und dies wurde mir, nachdem ich einige Male zwischen der Kutsche und dem Kohlehaufen im Keller hin und hergegangen war, um die Raummenge zu vergleichen, nur noch unverständlicher. [....]; und auch heute, drei Tage und drei Nächte später, habe ich noch keine Erklärung gefunden für den unverhältnismäßig großen Unterschied zwischen der Raumgröße die die Kohlen im Wagen zur Verfügung hatten und der Raumgröße in der sie sich im Keller ausbreiteten.14
12
Ebd., 55.
13
Ebd., 30.
14
Ebd., 53.
65
Gerhard Friedrich
Zweifellos dient das Grübeln über die Unverhältnismäßigkeit der Größen der Räume Keller-Kutsche bezogen auf die Kohlenmenge hier einer Dämonisierung des Kutschers und seiner Kutsche. Dass diese Dämonisierung aber gerade über das unlösbare Rätsel unproportionaler Raumgrößen geschieht, kann nach allem bisher Gesagten auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Raum als solcher und überhaupt alle Orte für Weiss zu Dämonen geworden sind. Denn es gelingt ihm nicht, in der nomadenhaft absoluten orts-, raum- und körperlosen Sprache eines metaphysisch-omnipräsenten Weltbürgers die ihm durch das Bewusstsein seiner »Unzugehörigkeit«, seiner Zugehörigkeit zu dem einen Un-Ort zugefügten Verletzungen zu kompensieren – die Wunde bleibt offen. Noch 1969 – Jahrzehnte nach der Zeit einer Emigration als Überlebensfrage – erkennt er: Die wilden Reisen, die ich immer wieder unternehme, sie sind weiterhin Ausdruck der Emigration. [...] Wenn ich reise, tue ich es mit der Frage, ob ich einen Wohnort finden könnte. Die anderen wissen, sie kehren zurück nachhause. Für mich ist Reisen Fortsetzen der Auswanderung, [...]. Ich sage zwar, ich könnte überall zuhause sein, doch es stimmt nicht. Ich bin es nirgendwo.15 Und auch in seiner ›späten‹ Ästhetik des Widerstands finden sich Spuren einer nur prekären Verankerung im Raum: Der eigentliche Vorstoß ins Fremde begann, als ich die Uferstraße über der Seine erreicht hatte, ich folgte der Mauerbrüstung nach rechts, unter einem Anfall von Schwindel und Umnachtung. Eine Stange war aus dem Boden des Floßes gerissen, als Mast aufgerichtet und mit dem Bugseil befestigt worden, das Klatschen des Segelfetzens war zu hören [...]. 16
66
Der Ich-Erzähler der Ästhetik des Widerstands, während eines kurzen Aufenthaltes in Paris (1938), geht durch die Straßen der Stadt und unmittelbar – Sprung – befindet er sich in dem Gemälde von Géricault, Das Floß der Medusa. Er befindet sich nach bruchlosem Übergang in der Zweidimensionalität des Bildes, wie er sich zuvor auf der Straße befand. Bild und Wirklichkeit gelten ihm gleich – wie dem Phantom, das in den Spiegel hinein und wieder aus ihm heraustritt. Diese ›Sprache ohne Raum‹ des Peter Weiss, als Schreibweise und Textstruktur paradoxe ›Heimstatt‹ des zugleich überall und 15
Weiss 1982, 658.
16
Weiss 1976, 14.
Die »Ortschaft« des Peter Weiss
nirgendwo Beheimateten, kann in letzter Instanz als Versprachlichung der Erfahrungen von ›Ortslosigkeit‹ und ›Unzugehörigkeit‹ begriffen werden, den existentiellen Konstanten im Leben und im Tod der europäischen Juden im Zeichen von Auschwitz. Ich möchte abschließend die Zeile aus Paul Celans Todesfuge erinnern: … er schenkt uns ein Grab in der Luft.
67
Gerhard Friedrich
Literatur Weiss, Peter (1968a) Rapporte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1968b) Meine Ortschaft. In: Weiss 1968a. Weiss, Peter (1968c) Laokoon oder über die Grenzen der Sprache. In Weiss 1968a. Weiss, Peter (1972) Notizbücher 1960-1971, Erster Band. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1976) Ästhetik des Widerstands II. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1982) Notizbücher 1960-1971, Zweiter Band. Frankfurt/M.: Suhrkamp Weiss, Peter (1991a) Werke in sechs Bänden. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1991b) Der Schatten des Körpers des Kutschers. In: Weiss 1991, 2. Band
68
Jochen Vogt Ugolino trifft Medusa. Nochmals über das »Hadesbild« in der Ästhetik des Widerstands Gut, ich erreiche ein Extrem. Ein Schiffbrüchiger, der auf einem Wrack treibt, indem er auf die Spitze des Mastbaums klettert, der schon zermürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 17.4.1931
Bilder und Beschreibungen des Schreckens und des Schmerzes, der Ausübung von Gewalt und der Deformation leidender Körper durchziehen das bildkünstlerische und literarische Werk von Peter Weiss von Anfang bis Ende. Sie sind mehr als ein roter Faden, sie bilden seine grundlegende Textur. Ein anfangs besonders glühender – und später umso tiefer enttäuschter Verehrer des Künstlers, Karlheinz Bohrer, hat dies als erster im Begriff der Tortur festgehalten. Fast ebenso früh, vor fast vierzig Jahren, hat Reinhold Grimm auf das unverwechselbare Bilderdenken des Autors Weiss hingewiesen.1 An beide Beobachtungen möchte ich, im Blick auf ein besonders herausragendes Schreckens-Bild, das ominöse Floß der Medusa, anknüpfen. Nicht weiter eingehen will ich hingegen auf die kontroverse Diskussion über das Verhältnis von Wort und Bild, oder von Literatur und Malerei (bzw. Film), bei Weiss, die er mit ebenso apodiktischen wie ambivalenten Formulierungen in seiner Laokoon-Rede von 1965 selbst provoziert hatte. Mir scheint es ausreichend, das Unstrittige festzuhalten: dass es bei Weiss – erstens – eine lebenslang produktive Spannung zwischen Bild- und Sprachmedium gibt: Das Bild liegt tiefer als die Worte […] Worte bezweifeln die Bilder […] Und dass – zweitens – aller Medienkonkurrenz 1
Bohrer 1970, 182ff.; Grimm 1971, 234ff.
69
Jochen Vogt
70
ein anthropologisches factum brutum vorausgeht: Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.2 Wir dürfen also im Weiteren von Alexander Honolds Annahme ausgehen, daß die beiden Medien Schrift und Bild für Weiss eine gemeinsame Grundlage haben, die in der Körperlichkeit, vor allem in der Erfahrung des schmerzverzerrten, angespannten und aufbegehrenden Leibes zu suchen ist.3 Bilder erscheinen in Weiss’ literarischen Werken mindestens in zweifacher Gestalt: als elementare visuelle Vorstellungsbilder, also Traum- oder Erinnerungsbilder, die dann in sprachlichen Bildern (Metaphern) oder auch bildkünstlerisch, beispielsweise in Weiss’ Collagen, materialisiert werden; denken wir nur an das erwähnte, durchgängige Bildfeld der körperlichen Tortur. Bilder spielen aber auch als historisch überlieferte Artefakte eine wichtige Rolle: als Grafiken, Gemälde, Foto- oder Filmaufnahmen, Skulpturen, die Weiss im Rahmen essayistischer oder narrativer Prosa beschreibt, erörtert und erzählt. Dieses Verfahren ist, wie bekannt, besonders für die Ästhetik des Widerstands stilbildend, ja werkkonstitutiv; und ich will exemplarisch zeigen, wie vielschichtig und anspielungsreich Weiss – auf der Höhe seiner Prosakunst – ein kunsthistorisch ebenso skandalöses wie (inzwischen) kanonisches Gemälde in sein Erzählwerk integriert – und wie intensiv und kenntnisreich er sich dafür in den Schreckenskammern der europäischen Kultur ausgerüstet hat. Dass die Bilder der gefährlichen Seefahrt und des Schiffbruchs seit der Antike zum elementar-literarischen Fundus unserer Kultur gehören, haben wir von Dolf Sternberger, Ernst Robert Curtius und vor allem Hans Blumenberg gelernt.4 Solche Bilder finden sich, analog zu den häufigen Flugphantasien,5 auch schon im Frühwerk von Peter Weiss. Nicht nur unter dem sprechenden Titel Von Insel zu Insel gibt es da immer wieder Szenen des Ausgesetztseins, aber auch des wohligen Dahingleitens, die zwischen Verlorenheitsangst und Auflösungsphantasien oszillieren und bisweilen idyllischen Charakter annehmen. In Abschied von den Eltern wird der Schiffbruch hingegen, als Sprach-Bild im engeren Sinne, zur metaphorischen Deutung des Geschehens, also zur Leserlenkung, verwendet. In einer Berliner Klinik ist die geliebte Schwester des Ich-Erzählers, wenige Tage vor der Emigration der Familie 1934, an den Folgen 2
Weiss 1968, 182. Vgl. zur Diskussion u.a. Rector 1992, 24ff. sowie Hofmann 1992, 42ff.
3
Honold, 1995, 106.
4
Sternberger, 1935, Bd. II, 185ff.; Curtius 1965, 138ff.; Blumenberg 1979. Kunstgeschichtlich weiterhin Hüttinger 1970, 211ff.
5
Vgl. Honold, 1995.
Ugolino trifft Medusa
eines Unfalls verstorben: In völliger Erschöpfung lag meine Mutter zurückgelehnt im offenen Auto, als wir langsam durch die Straßen nachhause fuhren. Nachhause. Es gab kein nachhause mehr. Die Fahrt ins Ungewisse hatte begonnen. Wie Schiffbrüchige in einem Boot trieben wir durch das sanft rauschende Meer der Stadt. … Dies war der Anfang von der Auflösung unserer Familie. Die unverkennbar allegorische Funktion des sprachlichen Bildes wird noch überboten durch die entsprechende Illustration, die sich fast ganz von der eigentlichen Handlungsebene (Autofahrt) löst und – in surrealistischer Tradition – exklusiv die übertragene, sinnstiftende Ebene (Schiffbruch) ausgestaltet.6 Dies sei erwähnt, weil im Kontrast leicht zu sehen ist, um wie viel komplexer nun die Verarbeitung des Schreckensbildes vom Schiffbruch in der Ästhetik des Widerstands ausfällt. Es geht dabei um zwei – in der Forschung häufig kommentierte 7 – Passagen, die den ersten und den zweiten Band des dreiteiligen Werkes narrativ und thematisch verklammern und schon dadurch, aber auch durch ihren Umfang und die Intensität der Darstellung aus dem Fluss der Erzählung herausragen.8 Am Ende des ersten Bandes, 1938 während des endgültigen Rückzugs der Internationalen Brigaden aus dem Spanischen Bürgerkrieg und kurz vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in die Tschechoslowakei, betrachten die Ich-Figur und sein verwundeter Freund Ayschman Reproduktionen von Picassos Guernica, verschiedener Gemälde von Goya, Delacroix und anderen, – und eben das Floß der Medusa von Théodore Géricault. Überdeutlich ist diese Episode im Handlungsverlauf als Zäsur, als Zwischen-Zeit angelegt, als erste Gelegenheit zur reflexiven und affektiven Bearbeitung des Erfahrenen, also der politischen, militärischen und persönlichen Katastrophe. Die Ich-Figur wird diese Betrachtung wenig später, nach der Ankunft in Paris, in tiefster persönlicher und politischer 6
Weiss 1979, 81. Die Collage ist u.a. abgedruckt bei Vogt 1987, 24f.
7
Ich nenne hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige methodisch divergierende Arbeiten, die in den achtziger Jahren entstanden sind: Hermand 1981, 112ff; Herding 1983, 246ff.; Schulz 1986, bes. 64ff.; Hofmann 1990, 79ff.; Rizzi, 1990, 211ff.; Rother 1990, bes. 125ff.
8
Es scheint, als wäre die Géricault-Passage ursprünglich als Abschluss des Romanprojekts, dann als Mittelachse einer zweibändigen Konzeption geplant gewesen. Aber auch in der jetzigen Komposition steht sie noch sehr herausgehoben zwischen der geschichtshermeneutischen Entzifferung des Pergamon-Frieses am Romanbeginn und der produktionsästhetischen Diskussion von Brechts Engelbrekt-Projekt im zweiten Band. Wir absolvieren also, fast wie in Hegels Ästhetik, einen geschichts- und kunstphilosophischen Kursus, der von Architektur und Skulptur über die Malerei bis zur Literatur führt, ehe dann im dritten Band die Kunst an ihr Ende gelangt…
71
Jochen Vogt
Abb. 1: Théodore Gericault: Das Floß der Medusa, 1819
Desorientierung, für sich allein fortsetzen und dabei auch vor das Original von Géricaults Bild treten, das hundertzwanzig Jahre zuvor, im Pariser Salon von 1819, zum Skandalon geworden war. Was war damals geschehen? Das Gemälde hatte seine Betrachter nicht nur durch sein gigantisches Format (7 mal 5 Meter) und seine düstere Expressivität verstört, sondern vor allem das politische Establishment provoziert – und zwar durch seinen Gegenstand, der unmittelbar die politischen Konflikte und Frontstellungen in der restaurierten Monarchie der Bourbonen betraf. Ich referiere mit den Worten von Weiss, der sich seinerseits auf die historischen Quellen stützt:9 Am zweiten Juli Achtzehnhundert Sechzehn war, durch Unfähigkeit des Kommandanten und Fahrlässigkeit der Marinebehörden, die Medusa, das Flagschiff eines französischen Flottenverbandes auf dem Weg nach Senegal, in der Nähe von Cap Blanc auf Grund gelaufen. Von den etwa dreihundert Kolonialsoldaten und Siedlern an Bord konnten die Rettungsboote kaum die Hälfte fassen. Der Kapitän, die höheren Offiziere und einflußreiche Passagiere nahmen mit Gewalt Besitz von den Booten. Auf einem Floß, notdürftig aus Bohlen und Maststükken erbaut, drängten sich die übrigen Schiffbrüchigen zusammen. Die Rettungsboote sollten das Floß ziehen, beim aufkom-
72
9
Hauptquelle ist der buchstarke Bericht der beiden Überlebenden A. Corréard und H. Savigny, Relation complète du naufrage de la frégate la Méduse faisant partie de l’expedition du Sénégal en 1816 der 1968 neu editiert und von Weiss offensichtlich benutzt wurde. (Correard / Savigny 1968). Ein Reprint der »zeitgenössischen Übersetzung« (II, 9), die der Autor Weiss seiner Ich-Figur in die Hände spielt, erschien hingegen erst nach Abschluss der Ästhetik des Widerstands ( Correard / Savigny 1997).
Ugolino trifft Medusa
menden Sturm aber wurden die Taue gekappt, das Floß trieb ab, und von den hundertfünfzig Menschen, die dort, verhungernd, verdurstend gegeneinander kämpften, waren nach zwölf Tagen noch fünfzehn am Leben. […] Der vom Maler geschilderte Augenblick, da der Mast der rettenden Fregatte am Horizont auftauchte, […] weckte eine Empfindung von Schwindel. Nicht auf das ferne Schiff zu, sondern an ihm vorbei glitt das Floß, und diese Wahrnehmung erfuhr eine weitere Beunruhigung durch den Anblick der Woge, die, von niemandem auf dem Fahrzeug beachtet, sich turmhoch vor dem leeren Bug erhob, um auf die Übriggebliebnen niederzuschlagen. (I, 334) Wie hier schon angedeutet, wird im Verlauf von Géricaults langwierigem Arbeitsprozess aus dem aktuell motivierten Historiengemälde ein Drama der Elemente, eine Art Allegorie (die übrigens auch formgeschichtlich mit barocken Zügen arbeitet und den tonangebenden Klassizismus subversiv unterläuft.) Die allegorische Gestaltung, sagt der maßgebliche Géricault-Experte Lorenz Eitner, ermöglicht ihrerseits immer neue Annäherungen und Aktualisierungen, bietet wechselnden Ideologien und Weltsichten einen Halt und überdauert sie alle.10 Die erzählerische Transformation und Integration des Bildes durch Peter Weiss, diese These möchte ich belegen, vollzieht nun die allegorische Applikation nach, aber sie überwindet sie auch. Mit spezifisch erzählerischen Mitteln wird das Bedeutungspotential des Gemäldes nicht dupliziert oder gar reduziert, sondern entfaltet und potenziert. Um dies zu zeigen, will ich zunächst eine im engeren Sinne narratologische Analyse vornehmen und sodann, gewissermaßen quer dazu, einige ikonographische Hinweise aufgreifen und illustrieren. Zunächst also: Wie übersetzt Weiss das Gemälde in seinen Roman? Ganz banal, aber auch ganz grundsätzlich: indem er es in mehrfacher Hinsicht narrativisiert. Er beschreibt es nicht, er erzählt es.11 Und zwar mit sprachlichen Verfahren, die wir – grob gesagt – dem Repertoire der klassischen Moderne zurechnen dürfen. Entscheidend für seine Erzählweise hier wie in der gesamten Ästhetik erweist sich, dass ein relativ starker, quasi-auktorialer Ich-Erzähler im Rückblick mehrere Handlungsebenen oder Diegesen verknüpft oder sogar verschmilzt. Damit wird eine assoziative Schreibweise ermöglicht, aber niemals völlig freigesetzt, sondern immer 10
Eitner 1983, 197. Die Géricault-Adaption von Weiss würdigt Eitner als »a word-picture of the ›Raft‹ and its human cargo, ›Versprengte einer verlorenen Generation‹, that so excites one of the novel’s characters as to bring on a faint« (Eitner 1983, 347, Anm. 178).
11
Vgl. das aufschlussreiche Kapitel über Géricault und Weiss in Dieterle 1988 141ff., dem ich einige Anregungen verdanke.
73
Jochen Vogt
74
auch kontrolliert, an den konventionellen Erzählplan oder das ideologische Projekt (Genia Schulz) der Ästhetik des Widerstands rückgebunden. Möglicherweise liegt hier, neben den beträchtlichen erzählerischen Möglichkeiten, auch eine der ernsthaften konzeptionellen Schwächen des Werkes. Wie auch immer: Ereignisse und Handlungen, die innerhalb des Romans auf unterschiedlichen logischen und historischen Ebenen liegen, werden bei Weiss nicht, wie in vielen konventionellen oder auch postmodernen Erzählwerken als Meta-Diegesen ineinander geschachtelt, sondern zu einer einzigen Mega-Diegese verschmolzen.12 In der Episode vom Floß der Medusa sind grundsätzlich drei Ebenen zu unterscheiden, die teilweise in sich noch differenziert werden könnten: Erstens der historische Schiffbruch 1816 samt Vor- und Nachgeschichte, der sozusagen aus dem im Gemälde stillgestellten ‚letzten Augenblick’ heraus entwickelt oder re-diegetisiert wird; zweitens die Rezeption des Gemäldes durch verschiedene Betrachter zu verschiedenen Zeiten (von denen die Salonbesucher 1819 und die Ich-Figur 1938 am wichtigsten sind); und drittens die Produktionsgeschichte des Werkes bzw. die Lebensgeschichte seines Schöpfers 1816 bis 1819 (mit Vor- und Rückgriffen), die von der Ich-Figur recherchiert wurde und vom Ich-Erzähler dokumentiert wird. Diese verschiedenen Ebenen (oder Diegesen) werden durch einige narrative Techniken miteinander verknüpft, die zumeist syntaktischer, teilweise auch semantischer Art sind und ihrer Wirkung nach als Montage- oder Überblendungseffekte charakterisiert werden können. Es entsteht also eine in sich sehr variable, syntagmatisch oft in Phasen gegliederte und vom Ich-Erzähler stets gut kontrollierte Mega-Diegese. Ihr wird schließlich ein Erfahrungs- und Lernprozess der Ich-Figur unterlegt, der sie über kurz oder lang in den politischen Kampf zurückkehren lässt. Inwiefern dieser Prozess wirklich Resultat der am Schreckensbild gemachten ästhetischen Erfahrung ist oder sich konzeptionellen Zwängen der Romankomposition bzw. jenes ideologischen Projekts von Weiss verdankt, wäre noch gesondert zu überprüfen. Aber werfen wir jetzt einen genaueren Blick auf die beiden Textpassagen (I, 330-360, besonders 343ff.; II, 7-33). Die erste lässt sich nach den dominierenden Zeitebenen und erkennbaren Erzählphasen in ihrem Ablauf etwa so schematisieren: Erstens die historische Rezeption des Gemäldes im Salon von 1819, zweitens die Ereignisse um den Schiffbruch 1816, drittens wieder Rezeption 1819, viertens
12
Mein terminologischer Vorschlag in Anlehnung an Gérard Genette, Die Erzählung (Genette 1994, S. 162ff.) Für eine narratologische Expertise danke ich Steffen Richter.
Ugolino trifft Medusa
eigentliche Bildbeschreibung und, davon recht gut abtrennbar, fünftens die Deutung durch die Betrachter 1938, wobei der Bildinhalt quasi aus dem Jahr 1816 in deren Gegenwart gehoben wird. All dies, auch die vergleichsweise konventionelle Beschreibung im vierten Abschnitt, steht nun aber im historischen Präteritum, nicht im referierenden Präsens. Dies ist als erstes spezifisches Erzählverfahren festzuhalten. Das Bild scheint genauso zu geschehen wie die Geschichte, die es darstellt, seine Ausstellung in Paris und seine Betrachtung durch die Freunde. Dieses assimilierende Präteritum bringt alles auf die gleiche Ebene; dies aber ist Voraussetzung für die ständige Engführung von historischen Ereignissen, ästhetischen Sinnkonstruktionen und aktueller, politisch oder persönlich geprägter Befindlichkeit. Die Kunst gewinnt bei ernsthafter Auseinandersetzung Leben, weil die Nöte, die sie zum Ausdruck bringt, alles andere als abgegolten sind. Verstärkt wird diese Wirkung durch ein zweites Verfahren, die mehr oder weniger explizite Metaphorisierung des Erzählertexts; beispielsweise schon in der ersten Erwähnung von Géricaults Bild. Da werden die revolutionären Ereignisse von 1830/31 erwähnt, und dann heißt es: Zwölf Jahre früher war das Floß der Medusa in die akademischen Kunsträume eingebrochen (I, 343). Das oszilliert zwischen eigentlichem und metaphorischen Sprachgebrauch (beim Verbum eingebrochen), sowie zwischen dem Titel des Gemäldes und dem Realgegenstand, den es abbildet (Floß der Medusa) und suggeriert damit ein ähnliches Überschwemmungsbild, wie es die alte Collage zu Abschied von den Eltern zeigt. Man sieht die Flutwelle buchstäblich in den Museumssaal hineinstürzen… Zwei Seiten später gipfelt dann die Betrachtung des Bildes selbst in einer allegorischen Doppel-Übertragung: Aus der vereinzelten Katastrophe war das Sinnbild eines Lebenszustandes geworden. Voller Verachtung den Angepaßten den Rücken zukehrend, stellten die auf dem Floß Treibenden Versprengte dar einer ausgelieferten Generation, die von ihrer Jugend her noch den Sturz der Bastille kannte. Sie lehnten und hingen aneinander, alles Widerstreitende, das sie auf dem Schiff zusammengeführt haben mochte, war vergangen, vergessen war das Ringen, der Hunger, der Durst, das Sterben auf hoher See, zwischen ihnen war eine Einheit entstanden, gestützt von der Hand eines jeden, gemeinsam würden sie jetzt untergehn oder gemeinsam überleben, und daß der Wirkende, der Stärkste von ihnen, ein Afrikaner war, vielleicht zum Verkauf als Sklave auf die Medusa verladen, ließ den Gedanken aufkommen an die Befreiung aller Unterdrückten. (I, 345)
75
Jochen Vogt
76
Die allegorische Auslegung des Schiffsbruchs auf die politische Situation von 1819 wird explizit durchgeführt und vom Erzähler ausdrücklich – und mit dem barocken terminus technicus – als solche deklariert: Aus der vereinzelten Katastrophe war das Sinnbild eines Lebenszustandes geworden (ebd., meine Hervorhebung). Zugleich aber drängt sich eine – sprachlich nicht realisierte, sozusagen elliptische – Auslegung auf die Situation der Betrachter und ihrer Genossen im Jahr 1938 auf. Viele Befunde können ohne weiteres auf sie übertragen werden: auch sie sind Versprengte einer ausgelieferten Generation, verbunden in einer von Widerstreit stets gefährdeten Einheit, in historischer Perspektive kämpfend für die Befreiung aller Unterdrückten. Andere termini müssten lediglich metaphorisch verstanden (Spanien als eine Art Floß) oder historisch supponiert werden (statt Sturz der Bastille vielleicht Sturm aufs Winterpalais), um auf die aktuelle Situation der Betrachter applizierbar zu sein. Die Betrachtung des Schreckensbildes mündet jedenfalls in eine dem Verfahren nach allegorische, dem Inhalt nach kollektiv-politische Aktualisierung. Dass die jungen Männer sich in diesem Sinnbild selbst erkennen, wird an dieser Stelle nicht gesagt; es wird in einem Erkenntnisschock mit existenzieller Wucht erfahren: Ayschmann war plötzlich blaß geworden, er sank vornüber, das Buch fiel ihm aus der Hand (ebd.). Und es wird den Lesern intertextuell signalisiert, weil ja hier unüberhörbar aus einem anderen, dem Schreckensbuch schlechthin zitiert wird, und zwar aus eben der Episode, die das erzählende Ich zwei Jahre zuvor auf einem Berliner Friedhof mit Coppi und Heilmann gelesen und diskutiert hatte; also aus der Paolo-und-Francesca-Episode im Fünften Gesang von Dantes Inferno: Quel giorno più non vi leggemo avante (An diesem Tage lasen wir nicht weiter); und E caddi come corpo morto cade (Und ich fiel nieder wie ein toter Körper).13 Die zweite Medusa-Passage, zu Beginn des Zweiten Bandes, ist umfangreicher, auch diegetisch noch komplizierter und in syntagmatischer Hinsicht auffällig gegliedert. Ich unterscheide, unterhalb der Narrationsebene, vier diegetische Niveaus: – erstens Aktionen der Ich-Figur, 1939 in Paris, dabei besonders seine Lektüre des Dokumentarberichts von Savigny und Corréard und seine Besuche im Louvre; – zweitens die historische Rezeption um 1819; – drittens Géricaults Lebens- und Werkgeschichte vor und nach 1816/19, darin besonders seine Lektüre des Berichts von 1818; 13
Inferno V, vol. 138, p. 142. Vgl. Alighieri 1988, Bd. I, 68f.
Ugolino trifft Medusa
– viertens wieder die historischen Ereignisse um den Schiffbruch von 1816. Die primäre Diegese mit den Handlungen der Ich-Figur ist ihrerseits in fünf Phasen gegliedert. Man könnte sie fast, in Abwandlung der konventionellen Dramentheorie, als fünf Akte verstehen. Exposition: die nächtliche Lektüre in Paris; Steigerung: der Gang zum Louvre am nächsten Morgen; Antiklimax: die Besichtigung des sich verschließenden Bildes; erneuter Spannungsaufbau: die Recherche nach den Lebensspuren Géricaults beim erneuten Gang durch Paris; (nichtkatastrophische) Auflösung: die erneute Besichtigung des Bildes und Abwendung von ihm. Zunächst wird dabei die allegorisch-aktualisierende Rezeption aus der ersten Passage noch weitergeführt. In der ersten Nacht in Paris stößt die Ich-Figur zufällig auf den auch von Géricault benutzten Bericht der Überlebenden Corréard und Savigny, der ihn buchstäblich bis in den Schlaf verfolgt: Noch wollten sich die Versammelten nicht für verlassen halten. Die Küste war zu sehn, und […] die Schiffbrüchigen nahmen an, daß die Boote zu ihnen zurückkehren […] würden. Doch die Nacht brach ein, ohne daß sie Hilfe erhalten hätten. Mächtige Fluten überrollten uns. Bald vor, bald zurückgeschleudert, um jeden Atemzug ringend, die Schreie der über Bord gespülten vernehmend, ersehnten wir den Anbruch des Tags. (II, 13 – meine Hervorhebungen) Der abrupte und unkommentierte Pronominalwechsel (das dritte spezifische Erzählverfahren, das Weiss verwendet) – dieser Wechsel vom sie zum uns/wir montiert gewissermaßen zwei Diegesen in eine und darf als syntaktisch-technisches Pendant zu der halluzinatorischen Identifikation gesehen werden, die nun mehr und mehr zum Charakteristikum der Ich-Figur wie auch der GéricaultFigur wird. Die allegorisch-politische, die applizierende Deutung wird also zunächst affektiv intensiviert, dann aber dadurch relativiert, ja überholt, dass die lesende Ich-Figur sich zunehmend in den – hundertzwanzig Jahre zuvor den gleichen Bericht lesenden – Maler Géricault einfühlt, der sich seinerseits in die Diegese dieses Berichts hineinphantasiert: Mehr und mehr wurde das Floß zu seiner eignen Welt (II, 16). Es gibt also ein Dreieck von imaginären Identifikationen, die vom Erzähler aber auch weiterhin koordiniert und überwacht werden; das strukturell und konzeptionell neue Moment ist dabei der Bezug des Ich auf die Subjektivität Géricaults.
77
Jochen Vogt
78
Die Bild-Rezeption des Protagonisten vertieft sich also einerseits, einer alten hermeneutischen Maxime gemäß, als Nachkonstruktion des Produktionsprozesses, und das heißt auch: durch Einbezug immer neuer Kontexte. Das bedeutet aber andererseits, im Blick auf das in der Ästhetik des Widerstands bisher entwickelte Konzept von Kunst und Kunstdeutung, eine erhebliche Akzentverschiebung. Bei der Behandlung des Pergamon-Frieses, um das wichtigste Gegenstück zu nennen, steht die kollektive Deutungsarbeit, die mimetische und formsemantische Funktion des Kunstwerks, und allenfalls die Abhängigkeit der Produktion von historisch-materiellen Faktoren im Vordergrund. Beim Floß der Medusa hingegen erschließen sich in der individuellen Betrachtung eines bürgerlichen Kunstwerks die künstlerische Subjektivität, die Privatmythologie und die Beziehungsdramen des Künstlers, ja die kranken und depressiven Aspekte seines Schaffens als Wurzelgrund seiner Kreativität.14 Das erfährt die Ich-Figur zunächst negativ, als ihr Weg zum Louvre und vor das Hadesbild – so heißt es in den Notizbüchern von Weiss15 – mit einer Enttäuschung über das Erloschensein des Gemäldes endet, das nur noch ein Gefühl der Ausweglosigkeit zu vermitteln scheint (II, 21). Notgedrungen macht der Betrachter sich auf zur Erkundung der Lebensspuren und –räume des Malers in Paris. Und erst nachdem er dabei dessen persönliche Katastrophe, seine Obsessionen und selbstzerstörerischen Phantasien ausgelotet und projektiv nachvollzogen, fast möchte ich sagen: kathartisch ausgeschwitzt hat, da wagt er es, einen Tag später (und auf den Tag genau ein Jahr nach der ersten Betrachtung des PergamonFrieses!), sich dem Original und seiner düsteren Aura nochmals zu stellen. Diese Aura liegt ja nicht zuletzt darin begründet, dass das Gemälde aufgrund seiner Düsternis (chemisch gesprochen: des ungewöhnlich hohen Bitumen-Anteils in seinen Farben), einem ständigen Verdunkelungs- und letztlich Auslöschungsprozess ausgesetzt war und ist: Ein kunsthistorisches Kurosium, dessen allegorisches Potential Peter Weiss sich ebenso wenig entgehen ließ wie sein postmoderner Konkurrent Julian Barnes.16 An dieser Stelle erlischt dann aber auch das Interesse des Betrachters an Géricault und seinem Hadesbild, und zwar ziemlich plötzlich bzw. nicht ohne narrative Gewaltsamkeit. Ohne größere Umstände lässt der Erzähler es in der imaginären Asservatenkammer der euro14
Schulz, 1986, 76ff.
15
Weiss, 1981, Bd. I, 236.
16
Barnes 1996, Kapitel 5: Schiffbruch. Die Lektüre sei allen WeissLeser(inne)n zur gelegentlichen Entkrampfung empfohlen. Weitere, mehr oder weniger postmoderne Verarbeitungen des Stoffes: Weyergans, 1983; Baricco 1993.
Ugolino trifft Medusa
päischen Kunst verschwinden, irgendwo zwischen Caravaggio und van Gogh, und wendet sich wieder der Politik zu. Dazu muß er die Sphäre der bürgerlichen Kunst verlassen, in der die persönliche Katastrophe jenseits des Formwillens konstitutiv ist. Der Zweck der Kunstbetrachtung ist erfüllt, indem sie eine politische Identitätskrise aufhebt: parallel zur Beschäftigung mit Géricaults Floß der Medusa entsteht beim Ich der Wunsch, in die kommunistische Partei gerade zu einem Zeitpunkt einzutreten, in dem diese – auch für das Ich ersichtlich – moralisch und politisch diskreditiert ist und die Austritte sich häufen.17 In dieser Schlusswendung sehe ich in handwerklicher Hinsicht ähnlich wie Genia Schulz in ideologischer, eine Schwachstelle des Werks bzw. eine konzeptionelle Verlegenheit des Autors. Nach der sehr exponierten Stellung des Géricault-Blocks, nach seiner inneren Dramatik, auch nach dem halluzinatorischen Spiel der Identifikationen, das er freigesetzt hat, ist im Grunde nur noch erzählerische Deeskalation möglich. Und schließlich ist es, wie schon erwähnt, nach dem Gesamtplan der Ästhetik unabdingbar, dass der Zögling auf den rechten bzw. linken Bildungsweg zurückgeführt wird. Man stelle sich vor, er wäre, wie der eine oder andere bewunderte Kollege aus der lost generation, in Clichy gelandet…18 Anders als der Maler, der sich der endgültigen Fassung seines Bildes auf dem Weg der Konzentration und thematischen Reduktion nähert, arbeitet der Erzähler nach dem Prinzip der auktorialen Supplementierung. Er erzählt eben nicht nur die historischen Abläufe und das chef d’oeuvre selbst, er diegetisiert auch die Skizzen, Entwürfe und thematisch verwandten Nebenwerke, die den psychischen und kreativen Prozess des Malers in seiner Komplexität und Radikalität erst nachvollziehbar machen. Dies will ich zum Schluss an einem thematisch zentralen Bild- und Textdetail verdeutlichen, auf das schon verschiedentlich, besonders von Waltraud Wiethölter, hingewiesen wurde.19 Wir wissen, dass Géricault die bezeugten Szenen der niedergeschlagenen Meuterei, aber auch des späteren Kannibalismus zunächst skizziert, im Laufe seines Arbeitsprozesses aber aus der Werkkonzeption getilgt hat. Die Überlebenden Corréard und Savigny berichten ja recht detailgenau über abgenagte Knochen und 17
Schulz 1986, 88.
18
Von Henry Miller ist bekanntlich am Ende von Fluchtpunkt die Rede (und wie!).
19
Ihrer detailreichen, insgesamt zu wenig beachteten Studie verdanke ich entscheidende Hinweise: Wiethölter 1992 217ff.
79
Jochen Vogt
80
zum Dörren aufgehängte Fleischportionen. Géricault dürfte aber sowohl mit seinem einschlägigen Entwurf unzufrieden gewesen sein als auch gewusst haben, dass einem solchen Bild der Salon definitiv verschlossen bleiben würde. Und letztlich passte das auch nicht zu seiner gestalterischen Absicht der unterschwelligen (und insofern auch klassizistischen) Heroisierung. – Dieser Intention hat Géricault letztlich eine ganze Abb. 2: Das Floß der Medusa Menge Realismus geopfert, Ausschnitt: ›Vater und Sohn‹ so dass man mit einigem Recht und common sense gefragt hat: Warum sind diese Menschen nach zwei Wochen Hunger und Schrecken so wohlgenährt? Und die Männer so frisch rasiert?20 Was also malt Géricault statt der Kannibalismus-Szene? Er rückt, an kompositorisch zentraler Stelle, da, wo der Fuß des Betrachters das Floß zu berühren scheint (wie Delacroix gesagt hat), die so genannte Vater-und-Sohn-Szene in den Blick, die er zwar in einer ganzen Serie von Skizzen vorbereitet hatte, für die es aber (anders als für die meisten Figuren), keine realhistorischen Vorbilder gibt. Sie scheinen aus einer ganz anderen horror story auf das Floß verschlagen; tatsächlich kommen sie diesmal aus dem neunten Kreis von Dantes Hölle, wenn auch auf einem kleinen Umweg. Der Maler Johann Heinrich Füssli, ein Generationsgenosse Goethes, hatte trotz seines eidgenössisch-gemütlichen Namens ein ausgeprägtes faible für die dunklen Seiten der Weltliteratur und hat Homer, die Nibelungen, Dante, Shakespeare und manch anderes illustriert, was gut und gruselig war. In England, wo er unter dem Namen Henry Fuseli Karriere machte, erklärte er seinem jungen Kollegen William Blake die Divina Commedia (so wie sie ihm selbst einst der alte Johann Jacob Bodmer erklärt hatte) und malte 1806, zehn Jahre vor dem Schiffbruch der Medusa, den toskanischen Grafen Ugolino. Im 33. Canto von Dantes Inferno, also ganz unten, muss dieser seine Sünden- und Leidensgeschichte offenbaren: Als Verräter im Labyrinth der italienischen Innenpolitik wird er mit vier Söhnen und Enkeln 20
Vgl. Barnes 1996, 162, sowie Bazin 1987-1994, hier Bd. VI, 55. Vgl. schließlich Eitners Charakteristik: »The Raft of the Medusa combined two sides of Géricault’s art, its realist tendencies ans its monumental, heroic aspirations. … It remains one of the very few works in modern art which raises an actual event to the level of grand style and timeless significance.« In: Eitner 1971, 23.
Ugolino trifft Medusa
im März 1289 im Hungerturm von Pisa zu Tode gebracht; über ihm, der als allerletzter stirbt, schwebt der massive Verdacht der Anthropophagie: Poscia, più che il dolor, potè il digiuno (dann war der Hunger stärker als die Trauer).21 Dem europäischen Lesepublikum außerhalb Italiens war Anfang des 19. Jahrhunderts die UgolinoEpisode so bekannt wie sonst nur noch die von Paolo und Francesca. Relativ bekannt und in Moses Haughtons Druck von 1809 verbreitet war auch Abb. 3: Johann Heinrich Füssli: Ugolino im Kerker, 1806 Füsslis Bild22 – so dass, um es kurz zu machen, das Sensationsbedürfnis von Géricaults Pariser Zeitgenossen, die ja von der Presse über das Geschehen auf dem Floß gut informiert waren, durch seine metonymische Zitation auf recht subtile Weise zugleich enttäuscht und befriedigt wurde. Aber was hat Peter Weiss damit zu tun? Die entsprechende Passage aus der Ästhetik des Widerstands lautet so: Je geringer die Anzahl der Menschen auf dem Floß wurde, desto näher kam der Maler der Konzentration, die er für die endgültige Fassung seines Bildes benötigte. Nach der Entladung des Kampfs erfuhr der Wunsch, das Leben so lange wie möglich auszuhalten, eine fremdartige Verwandlung. Die ersten begannen damit, die umherliegenden Leichname mit ihren Messern zu zerteilen. Einige verschlangen das rohe Fleisch auf der Stelle, andere ließen es in der Sonne dörren, um es auf diese Art schmackhafter zu machen, und wer es jetzt noch nicht über sich brachte, die neue Kost zu sich zu nehmen, der wurde am folgenden Tag doch vom Hunger dazu gezwungen. Auf die Turbulenz folgte die Zeitspanne der völligen Abgeschiedenheit. In dem 21
Inferno XXXIII, 74. Vgl. Aligheri 1988, Bd. I: 394f.
22
Leicht auffindbare Abbildung bei Badenberg 1995, 114ff. Grundlegend: Schiff 1973, Bd. I, 100ff., bes. 102f.; Abb. In Bd. II: S. 1200. Zum Stand der Füssli-Forschung jetzt Vogel 1998, 54.
81
Jochen Vogt
Herausgerissensein aus allen Zusammenhängen erkannte der Maler seine eigene Situation wieder. Er versuchte, sich vorzustellen, wie dies war, das Hineinschlagen der Zähne in den Hals, den Schenkel eines verendeten Menschen, und während er den Biß des Ugolino in das Fleisch seiner Söhne zeichnete, lernte er, sich damit abzufinden, so wie sie es auf dem Floß, nach einem Stoßgebet, getan hatten. Die nackten, auf dem Floß zusammengekauerten Gestalten befanden sich in einer Welt, die von Fieber und Wahn deformiert war, die noch Lebenden wuchsen mit den Toten zusammen, indem sie diese sich einverleibten. Dahintreibend auf dem Plankengefüge, im wolkengleichen Gewässer, fühlte Géricault das Eindringen der Hand in die aufgeschnittene Brust, den Griff um das Herz desjenigen, den er am Tag zuvor zum Abschied umarmt hatte. Nach einer Woche waren ihrer noch dreißig Abb. 4:Théodore Géricault: Ugolino und seine Kinder im Kerker, 1815/16 auf dem Floß. (II, 15f.)
82
Es war Weiss also wichtig, die ikonographische Anspielung, das Bildzitat, in seine Erzählung hinüberzuretten. Dies leistet der Name Ugolino als Signal und Symbol für the unpaintable horror of cannibalism.23 Weiss stellt die Verbindung aber nicht, wie Géricault, über Füssli her, sondern über Géricault selbst. Erzählerisch handelt es sich hier um die Überblendung von drei Diegesen. Der Ich-Erzähler fühlt sich (1) in den arbeitenden Géricault ein, der die Ugolino-Episode zeichnet (2) und dabei in halluzinatorischer Identifikation (3) den Kannibalismus auf dem Floß miterlebt. Damit ist die Grenze aller Hermeneutik erreicht: Einfühlung und Einverleibung sind nicht mehr zu unterscheiden. Dass dies nur mit kaum legitimierbarer erzählerischer Auktorialität geht, wollen
23
Eitner 1972, 45: »Some years earlier as Füssli, Géricault himself had drawn an ›Ugolino in Prison‹, of rather similar appearance, and there can be little doubt that to his mind the image of the brooding Count did not simply represent starvation, but symbolized the unpaintable horror of cannibalism.«
Ugolino trifft Medusa
wir großzügig übergehen. Interessanter ist schon, dass die beiden Ugolino-Zeichnungen Géricaults bisher fast ganz unbeachtet geblieben sind. Die eine, mit dem Titel Ugolino ist eine eher untypische Umrisszeichnung einer männlichen Figur; die andere – Ugolino und seine Kinder im Kerker – eine mit Öl lavierte Federzeichnung, die sich schon eher der Inspiration durch Füsslis Bild verdanken könnte. Entstanden sind sie nach Eitner 1815/16, nach Bazin während Géricaults Italienreise 1816/17, in jedem Fall aber, bevor das Medusa-Projekt Kontur gewann. Welche Schlüsse dürfen wir daraus ziehen? Erstens, dass Peter Weiss für die Ästhetik genau recherchiert hat (denn die beiden Ugolino-Zeichnungen sind, wie gesagt, wenig bekannt); aber vielleicht doch nicht genau genug. Denn Ugolino beißt auf dem Blatt, das ihn mit seinen Söhnen zeigt, keineswegs in deren Fleisch, sondern allenfalls in den eigenen Unterarm; auf dem anderen knabbert er gewissermaßen autophagisch, an seinem Daumen. Im Übrigen scheint es fraglich, ob Weiss den Ugolino mit seinen Kindern im Kerker gesehen hat.24 Zweitens: Weiss baut die Ugolino-Anspielung also gegen die Chronologie und mit imaginiertem bzw. retuschiertem Bildinhalt hier ein, wo und weil er sie thematisch benötigt, um nicht nur die Kannibalismus-Thematik, sondern drittens wieder Abb. 5:Théodore Géricault: einen intertextuellen Verweis Ugolino, 1815/16 auf Dantes Inferno anzubringen. Denn die Divina Commedia, und besonders ihr erster Teil, das
24
Reproduktionen in Bazin 1990, 187f., Katalognummer 1334 und 1335. Ugolino und seine Kinder im Kerker ist eine atmosphärisch dichte, mit Öl lavierte Federzeichnung auf einem herausgetrennten Albumblatt, dessen Rückseite Skizzen einer Koitusszene trägt (vgl. Katalognummern 1318, S. 181, und 1035, S. 176). Die Kerkerszene kommentiert Bazin: »En voyant la belle composition de Bayonne, on peut regretter que l’artiste n’en ait fait un tableau. C’eût été une oeuvre puissante et pathétique. Mais le destin de Géricault était de rêver son oeuvre plutôt que de la réaliser« (Bd. IV: S. 30). Das Blatt befindet sich seit langem im Musée Bonnat in Bayonne (Inv. 735 ro); 1979 war es im Louvre ausgestellt; der zweite Band der Ästhetik erschien 1978.
83
Jochen Vogt
84
zeigen solche Details und das ist in den letzten Jahren in der WeissForschung immer deutlicher geworden, ist der wichtigste – sowohl punktuell wie strukturell herbeigezogene – Prätext für die meisten Projekte von Weiss seit 1965 (gerade auch die nicht abgeschlossenen), und eben – mit ganz besonderem Gewicht, auch für die Ästhetik des Widerstands.25 In unserem engeren Kontext darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Ich-Figur der Ästhetik erst nach einem langen, ausführlich geschilderten Weg durch Paris vor dem Floß der Medusa, dem HadesBild einfindet, – nach einem Weg, der durch allerlei danteske Konnotationen als Abstieg ins Inferno modelliert ist (eine Struktur übrigens, die sich später in Stockholm und in radikalisierter Form in Berlin wiederholt). Daran lässt sich ein letzter Hinweis anschließen, der uns zeigen kann, wie Peter Weiss bemüht ist, seinen Abb. 6: Medusa Rondanini 440 v. Chr. Roman nach Dantes Vorbild als Raum der memoria, als eine literarische Gedächtnisarchitektur auszugestalten26 – und welche Rolle dabei die Bilder, in der ganzen Vieldeutigkeit des Wortes, spielen. Vielleicht sollte man sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass das Floß der Medusa nur zufällig und ohne alle semantische Relevanz Floß der Medusa hieß. Jenes Schiff hätte ja ebenso gut Antigone oder Marie Antoinette (oder auch La douceur de vivre) heißen können – aber da es nun einmal Medusa heißt, ist eine unterschwellige Semantisierung unvermeidlich. Medusa ist jedenfalls in all ihren mythologischen oder künstlerischen Varianten – als hideous monster oder als beautiful femme fatale, wie die antike Medusa Rondanini,27 eine Kopie des Schmucks von Athenas Schild bzw. Schuppenpanzer (vgl. I, 10), oder auch als Caravaggios berühmtes Medusenhaupt – sie ist konnotiert mit tödlicher Bedrohung, 25
Scherpe 1987, 88ff.; Oesterle 1991, 45ff.; Birkmeyer 1994. Weiterhin die Aufsätze von Peter Kuon, Christine Ivanovic, Michael Hofmann, und Martin Rector in Rector / Vogt 1997.
26
Vgl. Wiethölter 1992, 218, vgl. 228 u. 256.
27
Robertson 1975, Bd. I, 313.
Ugolino trifft Medusa
Geschlechterkampf, (Selbst-) Zerstörung, Schrecken und Untergang. Insofern ist Medusa ein passender Name für das Todesschiff (so wie auch hundert Jahre später die Titanic einen hat). Das hat den Religionsphilosophen Klaus Heinrich 1981 zu der Frage geführt: Was hat das ‚Floß der Medusa’ mit der Medusa zu tun? Auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten und dritten und vierten dann doch etwas… Heinrich liest das Gemälde von Géricault (ohne jeden Bezug auf Weiss) als Dokument einer Faszinationsgeschichte: In dem, was fasziniert durch die reale Geschichte hindurch, sind unerledigte Konflikte, nicht ausgetragene Spannungen, ist das nichtgelöste Problem jeweils präsent. Heinrich analysiert weiterhin die berühmte Doppeldiagonale der Bildkomposition, die auch Weiss zitiert; sie baut nach rechts einen Hoffnungs-Turm auf, eine dynamisch aufwärts sterbende demonstrative Männerwelt; und nach links unten eine Verzweiflungsgruppe, die auf verschlüsselte Weise auch in dieses Floß Geschlechterspannung hineinträgt, nämlich: eine weibliche Welt.28 Diese zunächst überraschende These stützt Heinrich, wie nach ihm ausführlicher Waltraud Wiethölter,29mit der ikonographischen Affinität dieser Gruppe zur Mutter-Sohn-Konstellation der Pietà, zur mittelalterlichen Fortuna, und zu Dürers Melencolia I. Besonderes Gewicht kommt dabei der Rätselfigur zu, die wir bisher Ugolino nannten und der ein wildes Haargekräusel den Kopf umfangen läßt; das ist ein richtiger Medusenkopf in antiker oder Renaissance-Gestaltung.30 Heinrich spricht, wohlgemerkt, über Géricaults Bild, nicht über Weiss und seinen Roman.31 (Er scheint die 1981 vorliegenden beiden ersten Bände der Ästhetik des Widerstands nicht zur Kenntnis genommen zu haben.) Uns aber drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass der Erzähler Weiss sich bemüht, die ikonographischen Anspielungen und Verknüpfungen aus Géricaults Bild in seinen narrativen Text hinüberzuretten.32 Die Melencolia-Figur wird im dritten Band des Romans von Hodann (also einer Ersatz-Vaterfigur) beschrieben und mit dem Schicksal der Mutter des Erzählers verknüpft: So habe meine Mutter verharrt, wie von Dürer gezeichnet, unter der Waage, der Sanduhr, der Tafel mit den unverständlichen Ziffern, mit aufge28
Heinrich 1995, 15f.
29
Vgl. Wiethölter 1992, 247ff. und Abbildungsteil.
30
Heinrich 1995, 16.
31
Jenseits der Werkgrenze, aber im Gedächtnisraum der Weiss-Leserschaft drängt sich natürlich auch das Schreckensbild der collagierten MedusenMaschinen-Mutter aus Abschied von den Eltern auf (Abdruck u.a. bei Vogt 1987, 72).
32
Zu den Varianten und der Verknüpfung der Mutterfigur(en) vgl. auch den frühen, nach wie vor lesenswerten Aufsatz von Poore 1985, 68ff.
85
Jochen Vogt
stütztem Haupt, vor sich hindämmernd, unnahbar (III, 132). Der Medusa-Mythos wird auf den ersten Seiten des Romans erwähnt, in Zusammenhang mit Picassos Guernica diskutiert (I, 339) und, wenn auch indirekt, in Verbindung gebracht mit der Erdgöttin Ge (Gäa), deren Haupt von Wellen des aufgelösten Haars umflossen ist (II, 10). Die Mutterfigur am Pergamonfries wiederum wird vom Erzähler später, ebenso ausdrücklich wie halluzinatorisch, mit seiner todesnahen Mutter identifiziert: Einige Augenblicke lang war das Erinnerungsgewebe, das uns umgab, wahrzunehmen, doch gleich verlor es sich wieder, nichts im Gesicht meiner Mutter deutete darauf hin, daß sie auch nur ein einziges meiner Worte in sich aufgenommen hätte. Im Zug, während der Rückfahrt nach Stockholm, sah ich, aus dem Fenster blickend, dieses Gesicht, groß, grau, abgenutzt von den Bildern, die sich darüber hergemacht hatten, eine steinerne Maske, die Augen blind in der Bruchfläche. Es war das Gesicht der Ge, der Dämonin der Erde, ihre linke Hand, mit den zerborstenen Fingern, ragte auf, die abendlichen Landschaften flogen vorbei, Alkyoneus fiel, von der Schlange in die Brust gebissen, schräg von ihr weg. (III, 20)
86
Abb. 7: Pergamonfries: Athena 2. Jh. v. Chr.
Ich breche den Hinweis auf diese, auch im dritten Band noch weiterführenden Figuren- und Bild-Verknüpfungen ab und komme zu einem minimalistischen Fazit: Die Rätselfigur alias Ugolino alias Medusa erweist sich bereits im Gemälde als Schnittpunkt, in dem sich eine paternalistische und eine maternalistische Linie kreuzen: auf analoge Weise sucht Weiss im Roman ein Erinnerungsgewebe
Ugolino trifft Medusa
(III, 20) aufzuziehen, das den politisch-diskursiven Roman faszinationsgeschichtlich bzw. mythologisch fundiert (und uns auch davor schützen sollte, ihn eindimensional allegorisch oder aktualisierend zu lesen). Im Zentrum dieser faszinationsgeschichtlichen Schicht, als unausgetragener Konflikt, wie Heinrich sagt, ist zweifellos die Geschlechterspannung zu sehen. Peter Weiss (ich neige ein wenig zu altmodisch-biographischen Erklärungen) bringt sie, und zwar sehr massiv, aus seiner eigenen Psychohistorie und Werkgeschichte mit, aber (was wichtiger ist), er hat sie ja auch in der Oberflächenhandlung der Ästhetik solide verankert. Die Spannung zwischen der Vaterfigur des Erzählers (dem rationale Erklärungen, artikulierter Protest und politischer Widerstand zugerechnet werden) und der Mutter (die für Einfühlung in die Opfer, überwältigtes Verstummen und mitleidenden Untergang steht) ist vielfach bemerkt und als Kontrast von maskulinem und femininem Diskurs kommentiert worden. Auf vielschichtige und subtile Weise spiegelt die narrative Verarbeitung des Bildes vom Floß der Medusa auch diese Problemschicht des Romans, – spiegelt sie gewissermaßen in verschiedene Partien des Romans zurück. Um dieses Spiegelkabinett, das Arsenal der Bilder (II, 19) in all seinen Facetten wahrnehmen zu können, dies bleibt die rezeptionsästhetische – und typisch Weiss’sche – Zumutung der Ästhetik des Widerstands, müssen wir nicht nur den Roman, sondern (ganz wie dessen Figuren) auch die Bilder lesen, von denen er handelt.
87
Jochen Vogt
Abb. 8: Albrecht Dürer: Melencolia I, 1514
88
Ugolino trifft Medusa
Literatur Aus der Ästhetik des Widerstands zitiere ich nach der Erstausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, 1978, 1981) mit den üblichen Bandziffern I, II und III. Alighieri, Dante (1988) Die Göttliche Komödie italienisch und deutsch. Übersetzt und kommentiert v. Hermann Gmelin. München: dtv, Bd. I. Badenberg, Nana (1995) Die Ästhetik und ihre Kunstwerke. Eine Inventur. In: Die Bilderwelt des Peter Weiss. Hrsg. v. Alexander Honold und Ulrich Schreiber. Hamburg / Berlin: Argument Verlag. Barnes, Julian (1996) Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, 5. Aufl. München: Heyne. Baricco, Alessandro (1993) Oceano mare Mailand: RCS Libri. Bazin, Germain (1987-1994) Théodore Géricault. Etude critique, documents et catalogue raisonné, 6 Bde, hier Bd. VI. Génie et folie. Le radeau de la Méduse et les Monomanes. Paris: Bibliothèque des Arts. Birkmeyer, Jens (1994) Bilder des Schreckens. Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands .Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Blumenberg, Hans (1979) Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bohrer, Karl Heinz (1970) Die Tortur – Peter Weiss’ Weg ins Engagement – Die Geschichte des Individualisten. In: Peter Weiss. Hrsg. v. Rainer Gerlach (1984). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Corréard, A. / Savigny, H. (1968) Relation complète du naufrage de la frégate la Méduse faisant partie de l’expedition du Sénégal en 1816. Editions Jean de Bonnot. Corréard, Alexander / Savigny, J. B. Heinrich (1987) Der Schiffbruch der Fregatte Medusa: Ein dokumentarischer Roman aus dem Jahr 1818. Nördlingen: Greno. Curtius, Ernst Robert (1965) Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 5. Aufl.. Bern und München. Dieterle, Bernard (1988) Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg: Hitzeroth. Eitner, Lorenz (1971) In: Géricault. Ausstellungskatalog. Los Angeles, Detroit, Philadelphia. Eitner, Lorenz (1983) Géricault. His Life and Work. London: Orbis Publishing.
89
Jochen Vogt
90
Eitner, Lorenz (1972) Géricaults Raft of the Medusa. London: Phaidon. Genette, Gérard (1994) Die Erzählung. Hrsg. und mit einem Nachwort v. Jochen Vogt. München: Fink. Grimm, Reinhold (1971) Blanckenburgs Fluchtpunkt oder Peter Weiss und der deutsche Bildungsroman. In: Basis 2, S. 234ff. Heinrich, Klaus (1995) Das Floß der Medusa. In: Ders.: Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang. Basel und Frankfurt/M.: Stroemfeld, S. 15f. Hermand, Jost (1981) Das Floß der Medusa. Über Versuche, den Untergang zu überleben. In: Die Ästhetik des Widerstands lesen. Über Peter Weiss. Hrsg. v. Karl-Heinz Götze und Klaus R. Scherpe. Berlin: Argument, S. 112ff. Herding, Klaus (1983) Arbeit am Bild als Widerstandsleistung. In: Die Ästhetik des Widerstands. Hrsg. v. Alexander Stephan. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 246ff. Hofmann, Michael (1990) Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise. Eine Untersuchung zum Kunst- und Literaturverständnis in Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands. Bonn: Bouvier, S. 79ff. Hofmann, Michael (1992) Der ältere Sohn des Laokoon. Bilder und Worte in Peter Weiss’ Lessingpreisrede und in der Ästhetik des Widerstands In: Peter-Weiss-Jahrbuch 1. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 42ff. Honold, Alexander (1995) Das Gedächtnis der Bilder. Zur Ästhetik der Memoria bei Peter Weiss. In: Die Bilderwelt des Peter Weiss. Hrsg. v. Alexander Honold und Ulrich Schreiber. Hamburg: Argument Verlag, S. 106. Hüttinger, Eduard (1970) Der Schiffbruch. In: Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts. München: Prestel, S. 211ff. Inferno V, vgl. Aligheri, Dante . Oesterle, Kurt (1991) Dante und das Mega-ich. Literarische Formen politischer und ästhetischer Subjektivität bei Peter Weiss. In: Literaturmagazin 27: Widerstand der Ästhetik? Im Anschluß an Peter Weiss, S. 45ff. Poore, Carol (1985) Mother Earth, Melancolia, and Mnemosyne: Women in Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. In: The German Quarterly 85.1, S. 68ff. Rector, Martin (1992) Laokoon oder der vergebliche Kampf gegen die Bilder. Medienwechsel und Politisierung bei Peter Weiss. In: PeterWeiss-Jahrbuch 1. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 24ff. Rector, Martin / Vogt, Jochen (Hrsg.) (1997) Peter Weiss Jahrbuch 6. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Ugolino trifft Medusa
Rizzi, Roberto (1990) Ihr, die ihr vor diesem Bild steht … Géricault und Das Floß der Medusa. In: Ästhetik-Revolte-Widerstand. Ergänzungsband. Hrsg. von Internationale Peter Weiss Gesellschaft. Luzern und Mannenberg, S. 211ff. Robertson, Martin (1975) A History of Greek Art. Cambridge: Cambridge University Press. Rother, Rainer (1990) Die Gegenwart der Geschichte. Ein Versuch über Film und zeitgenössische Literatur. Stuttgart: Metzler. Scherpe, Klaus R (1987) Die Ästhetik des Widerstands als Divina Commedia. Peter Weiss’ künstlerische Vergegenständlichung der Geschichte. In: Peter Weiss. Werk und Wirkung. Hrsg. v. Rudolf Wolff. Bonn: Bouvier, S. 88ff. Schiff, Gert (1973) Johann Heinrich Füssli 1741-1825. 2 Bde. Zürich: Berichtshaus / München: Prestel. Schulz, Genia (1986) Die Ästhetik des Widerstands. Versionen des Indirekten in Peter Weiss’ Roman. Stuttgart: Metzler. Sternberger, Dolf (1935) Hohe See und Schiffbruch. Verwandlungen einer Allegorie. In: Die Neue Rundschau Bd. II, S. 185ff. Vogel, Matthias (1998) Der Maler als Feuergeist und kühler Stratege. Neue Forschungsergebnisse zu Johann Heinrich Füssli. In: Neue Züricher Zeitung, Nr. 19 (1998), S. 54. Vogt, Jochen (1987) Peter Weiss mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt. Weiss, Peter (1962) Fluchtpunkt. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1964) Abschied von den Eltern. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1968) Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1975) Die Ästhetik des Widerstands. Band 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1978) Die Ästhetik des Widerstands. Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1979) Abschied von den Eltern. 13. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1981) Notizbücher 1971-1980. Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. I. Weiss, Peter (1981b) Die Ästhetik des Widerstands. Band 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weyergans, Francois (1983) Le redeau de la Méduse. Paris: Gallimard. Wiethölter, Waltraud (1992) Mnemosyne oder Die Höllenfahrt der Erinnerung. Zur Ikono-Graphie von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands. In: Zur Ästhetik der Moderne. Hrsg. v. Gerhart v. Graevenitz u.a. Tübingen: Niemeyer, S. 217ff.
91
Helmut Peitsch »Heilmann an Unbekannt: [...] dies aber ist der Abschiedsbrief«. Die Ästhetik des Widerstands und das Genre des letzten Briefs
92
Selten finden sich in den von Peter Weiss publizierten Notizbüchern 1971-1980 präzise Angaben zur Zeit des Schreibens einzelner Abschnitte des Texts der Ästhetik des Widerstands, aber nur zu den S.199-210 des dritten Bands werden sowohl der Beginn wie das Ende verzeichnet: »ab 27/3 Heilmanns Brief geschrieben«1, »2 April Heilmanns Brief abgeschlossen« 2, und auf derselben Seite der Notizbücher wird für die unmittelbar folgenden Seiten des Textes (S.210220) festgestellt: »10 April Passage über Hinrichtung abgeschlossen –«3 Die Besonderheit der öffentlichen Präsentation der Entstehung des Abschnitts, der hier als Heilmanns Brief erscheint, wird noch auffälliger, wenn das unveröffentlichte Notizbuch 45 zum Vergleich herangezogen wird: Ursprünglich war die Eintragung eine über das Ende des Schreibens von Heilmanns Brief gewesen, auf den 29.3.1980 datiert. »Heilmanns Brief geschrieben, [durchgestrichen: in wenigen Tagen 29/3]«; nachträglich änderte der Notizbuchschreiber sie in eine über den Beginn: »ab 27/3«4. Über Gründe, weshalb Weiss noch vier weitere Tage an dem Abschnitt arbeitet, bis er notiert: »2 April Brief von Heilmann
1
Weiss 1981a, 878.
2
Ebd., 880.
3
Ebd.
4
AdK, Bestand Peter Weiss, 2128, Notizbuch 45 8.11.1979-23.4.1980, 170.
Heilmann an Unbekannt
abgeschlossen«5, geben die vier Seiten zwischen beiden Notizen Aufschluss, die keinen Eingang in die veröffentlichten Notizbücher gefunden haben. Vor allem an zwei Einträge möchte ich anknüpfen, um den von der Forschung unter dem Namen Heilmanns Abschiedsbrief6 kanonisierten Abschnitt der Ästhetik des Widerstands einer Relektüre in genregeschichtlicher Perspektive zu unterziehen. Denn über diesen Abschnitt heißt es z.B. bei Robert Cohen, dass »der Roman [mit ihm] seinen Höhepunkt erreicht«7, für Kurt Oesterle enthält er »die Summe aller ästhetischen Erfahrung«8, für Alexander Honold die schon im Romantitel annoncierte Polarität von beschreibendem Sensorium und Widerstandskraft9 und für Anja Schnabel »modellhaft« »Weiss’ Todesaffinität«10. Unmittelbar nach der Korrektur des Abschlusses in den Beginn des Schreibens geht es weiter in so großer Druckschrift, dass der erste folgende Satz eine halbe Oktavseite füllt: »Sah ihr Geschick vom falschen Hintergrund her«11, worauf in der üblichen Schreibschrift ein vielfach korrigierter Satz folgt, der in leicht veränderter Form in den Romantext aufgenommen wurde, er betrifft das Genre des letzten Briefs: auch das Reglement, dass Abschiedsbriefe geschrieben werden dürfen, wollte den Eindruck wecken, dass Menschlichkeit bestehe [in Kasten eingefügt:] als sollte gezeigt werden [durchgestrichen: zeigte] deutet an, dass nicht einmal uns der Rest [durchgestrichen: jener] Menschlichkeit verwehrt werden sollte, die doch längst durch blutige Verhöhnung zum Gespenst ihrer selbst geworden war.12 Die Veränderung, die Weiss für den Text des Romans vornahm, macht die Abgrenzung vom letzten Brief als einer Form, die vom ›Reglement‹ als Praxis von ›Menschlichkeit‹ institutionalisiert ist, explizit. Am Schluss des Romanabschnitts, der mit der Adressierung beginnt: »Heilmann an Unbekannt: [...]«13, heißt es: »und daß es uns gewährt ist zu schreiben, gehört auch zu dem Reglement, das den Eindruck erwecken will, es gäbe hier bei uns noch einen Rest
5
Ebd., 174.
6
Leonhardy 1994, 111.
7
Cohen 1991, 203.
8
Oesterle 1993, 38.
9
Honold 1992, 75.
10
Schnabel 2005, 134/135.
11
AdK, Bestand Peter Weiss, 2128, Notizbuch 45, 171.
12
Ebd.
13
Weiss: 1981b, 199.
93
Helmut Peitsch
94
von Menschlichkeit. So habe ich denn an meine Eltern geschrieben, dies aber ist der Abschiedsbrief.«14 Die ausdrückliche Distanzierung trifft ein Dokument, das überliefert ist: Was der historische Horst Heilmann am 22. Dezember 1942 seinen Eltern schrieb, ist im Original und vielen Abschriften im Nachlass Günther Weisenborns im Archiv der Akademie der Künste erhalten und, worauf es ankommt, zwischen 1946 und dem Jahr, in dem Weiss seiner Romanfigur Heilmann ›den Abschiedsbrief‹ erfand, vielfach gedruckt worden. Wenn der Heilmann des Romans dem dokumentierten Brief des historischen Heilmann einen dem Reglement entsprechenden Effekt von Menschlichkeit zuschreibt, wird die Lesart problematisch, die der einzige Forschungsbeitrag bietet, der bisher dieses Nebeneinander bemerkenswert gefunden hat: »Nicht Ideologeme [...] werden [...] angerufen, vielmehr hält sich der erdachte Brief ans Allzumenschliche, Vertraute und Natürliche.«15 Ausgerechnet der von der Romanfigur in Frage gestellte Begriff der Menschlichkeit wird als selbstverständlich aus dem des Ideologischen nicht nur ausgenommen, sondern ihm sogar entgegengesetzt, indem Ideologeme so weit gefasst werden, dass alle Sinngebungen des Sterbens, ob durch Widerstandskämpfer vor der Hinrichtung oder Soldaten im Krieg, gleichgesetzt werden als »durch Tradition und Erziehung überkommene« »Bildwelten und Leitideen«, die »Zeichen von Sprachlosigkeit in Todesnähe und Ohnmacht gegenüber der sinnzerstörenden Gewalt« seien16. Aus zwei Gründen scheint es mir nötig, stärker zu differenzieren, also die Leistung »[der] literarische[n] Alternative«17 nicht schlicht in einer Spezifik von Literatur als Durchbrechung der Konventionalität der (Widerstandskämpfern und Soldaten) gemeinsamen Sprache vorauszusetzen: der erste Grund liegt in der Veränderung der Stelle von Heilmanns Brief in der Romanhandlung, der zweite in der Einfügung der Reflexion des Genres ›letzter Brief‹ aus mehreren Perspektiven, die mit der Rezeptionsgeschichte des dokumentarisch überlieferten letzten Briefs von Horst Heilmanns zu brechen sucht. Erst im Schreiben des Romantextes wurde aus einem Brief Heilmanns ein letzter Brief, mit der vom Autor im Schreiben dieses Abschnitts des Romans erkannten Gefahr, einen ›falschen Hin14
Ebd., S.210.
15
Bennholdt-Thomsen / Heukenkamp 1992, 238; der Begriff ›erdachter Brief‹ zitiert ein sehr erfolgreiches Buch, das Ernst Wilhelm Eschmann 1938 herausbrachte; es enthält nur die Antwort auf einen letzten Brief von 1793, die zynische Kritik eines aristokratischen Konterrevolutionärs an den Illusionen eines Girondisten, vgl. Eschmann 1962, S.57.
16
Bennholdt-Thomsen / Heukenkamp 1992, S.235.
17
Ebd., S.236.
Heilmann an Unbekannt
tergrund‹ zu liefern. ›Der‹ Abschiedsbrief wird ergänzt durch den Erzählerbericht sowohl aus Perspektive der beteiligten Zuschauer der Hinrichtung Heilmanns, des Geistlichen Poelchau und des Wärters Schwarz, als auch von Lotte Bischoffs Überlegungen zur zukünftigen Rezeptionsgeschichte letzter Briefe. Zugespitzt gesagt: Indem Peter Weiss die bisherige Rezeptionsgeschichte von Heilmanns letztem Brief verwarf, knüpfte er im Bruch an eine Tradition an, in der »das menschliche Antlitz und letzte Briefe«18 verbunden waren. Noch in den publizierten Notizbüchern 1971-1980 ist an mehreren Eintragungen erkennbar, dass Heilmanns Brief zunächst als einer geplant war, der, wie der Autor als Erzähler des Romans notiert, »mir auf dem Weg der diplomatischen Post vermittelt [werde] – über die schwed. Botschaft (Berlin) – mit Hilfe der Douglas Familie/Schulze-Boysens schwed. Freundin« unter »äußerste[r] Absicherung«19. Während der Überarbeitung des zweiten Bandes hätte dieser Brief im ersten Teil in, was Cohen Kapitel ›XV‹ nennt, seinen Ort gefunden: »über den Widerstand in Deutschland«20, im Zusammenhang von Hodanns mit Münzenbergs und Mewis’ verglichenen Gedanken im Frühsommer 193921. Auch die Notiz über die Aufgabe dieses Plans zu einem Brief Heilmanns als Verbindung des inneren und äußeren Widerstandskampfes wurde gedruckt: »Kein Briefkontakt mit Heilmann, nichts riskieren. Wie ich auch selten jemanden der Illegalen traf, außer dem einen, dem ich zugeteilt war. Dies war in das Muster meines Verhaltens eingegangen. Alles abweisen, was nicht unmittelbar mit meinem Auftrag zu tun hatte. Nicht einmal Mewis hätte ich Rosners Adresse mitgeteilt.«22 Was in den veröffentlichten Notizbüchern fehlt, ist die Beschreibung von Heilmanns Brief, die erklärt, weshalb dieser Brief zunächst als Antwort auf Heilmanns Frage konzipiert werden konnte, am 4.6.1977: »Und was wäre nun der Herakles heute für uns [...] Wie könnte eine solche Gestalt sich in unserer Zeit verwirklichen, und auf welche Weise, mit was für Taten«23. Die Beschreibung des Briefs von Heilmann aus Berlin an den Erzähler in Stockholm lautet:
18
Kamnitzer 1958, 74.
19
Weiss 1981a, 587; vgl. AdK, Bestand Peter Weiss, 2121, Notizbuch 38 3.5.1977-31.10.1977, 52.
20
Cohen 1989, 19.
21
Weiss 1981a, 87.
22
Ebd., 696/697.
23
Ebd., 587, vgl. Notizbuch 38, 52.
95
Helmut Peitsch
Der Brief, den ich von Heilmann erhielt, [durchgestrichen: war verbunden] hatte eine Vielfalt von ineinandergreifenden Handlungen [durchgestrichen: u Aktionsbereichen] durchlaufen, dieses kleine Schriftstück hing, wie jede abweichende Äusserung heute, hing [durchgestrichen: von] mit einem riesigen versteckten Aktionsbereich zusammen, in dem der geringste Schritt nicht zu denken war ohne Konspiration, ohne Bereitschaft, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Diese dahinterliegende Gefährdung bei jedem Atemzug, dieses unaufhörliche Wagnis gab dem Brief eine besondere Bedeutung.24 Während die disziplinierte Vermeidung des Briefkontakts zwischen Heilmann und Erzähler von Weiss in die Notizbücher 1971-1980 aufgenommen wurde, blieb die Charakterisierung des ›kleinen Schriftstücks‹ ungedruckt. Zwei Momente seiner Beschreibung legen es nahe, auf den letzten Brief bezogen zu werden: das übereinstimmende Moment ist das der ›dahinterliegenden Gefährdung‹, auch wenn sich im letzten Brief das ›aufs Spiel gesetzte Leben‹ zum unmittelbar bevorstehenden Tod verschärft; das unterscheidende Moment liegt im ›Zusammenhang‹: Während die Ankunft von Heilmanns Brief aus dem illegalen Kampf im Stockholmer Exil des Erzählers das Ergebnis des erfolgreichen ›Ineinandergreifens einer Vielfalt von Handlungen‹ gewesen wäre, steht der Adressat von Heilmanns Abschiedsbrief im Roman für das Abreißen von Zusammenhang, aber vielleicht auch für die Herstellung eines neuen: »Heilmann an Unbekannt«25. »Meine lieben Eltern!« sind der Adressat des Briefs, den der historische Horst Heilmann am 22.12.1942 in Plötzensee schrieb: Noch einen Abschiedsbrief in der letzten Stunde. Seit kurzer Zeit weiß ich, daß ich den Abend nicht überleben werde. Die letzten Zeilen und die allerletzten Gedanken und Wünsche gelten Euch. Ich habe ganz und gar abgeschlossen und bin nur noch in Sorge um den Schmerz, den ich Euch gerade vor Weihnachten bereiten muß. Wenn ich wüßte, daß Ihr mir verzeihen könnt und vielleicht sogar ein wenig stolz auf mich seid, würde ich vollkommen glücklich sterben.26
96
24
Ebd., 54/55.
25
Weiss 1981b, 199; vgl. hierzu Loureiro-Weiler, 153.
26
…besonders jetzt tu Deine Pflicht! Briefe von Antifaschisten geschrieben vor ihrer Hinrichtung. Red. V. Eva Lippold, Richard Bauerschläfer, Luise Kraushaar, Karl Schirdewan, ferner Harald Poelchau, Friedrich Wolf, Ottomar Geschke, Karl Raddatz. Berlin, Potsdam: VVN 1948, 47.
Heilmann an Unbekannt
Nach zwei Absätzen über sein Leben und die Bestattung seiner Leiche schließt Heilmann wieder in der Anrede: »Für alles Liebe und Gute bin ich Euch so dankbar. Behaltet mich in der Erinnerung lieb, so lieb, wie ich Euch immer gehabt habe. Ich sterbe stark und sicher. In Liebe Euer Horst.«27 Der private Charakter des Briefs des Sohns, der den Eltern Liebe und Dankbarkeit versichert, schließt nicht aus, dass die Beunruhigung durch die politischen Meinungsverschiedenheiten zur Sprache kommt: die Beschuldigung durch Eltern, die keineswegs stolz auf das politische Handeln ihres Kindes sind. Im Mittelteil des Briefs bietet Heilmann den Eltern eine Deutung seines Lebens an, die um nachträgliches Einverständnis wirbt, aber nur, um ihnen dann einen Wunsch mitzuteilen, der ihn in größerer Nähe zu seinen Freunden als zu den Eltern zeigt: Ich sehe nichts Tragisches in meinem Ende. Die ganze Entwicklung ist so schicksalhaft verlaufen, sie hing so völlig an Zufälligkeiten und Kleinigkeiten, daß ich sie gar nicht anders als naturhaft über Euch und mich verhängt ansehen kann. Ich habe den erhabenen Trost, daß es nicht schlecht enden kann, weil wir den Zusammenhang des Ganzen nicht kennen. Mein Leben ist so schön gewesen, daß ich die Einheit der göttlichen Harmonie auch durch meinen Tod hindurchklingen höre. Ich habe den Antrag gestellt, meine Leiche auszuliefern, und ich möchte gern mit meinen Freunden bestattet werden.28 Die Muster, mit denen Heilmann den Eltern seinen Tod als ›nichts Tragisches‹ deutet, kollidieren miteinander: der unbekannte Zusammenhang und die hörbare Harmonie, der Zufall und das Schicksal, die Entwicklung und das Verhängnis, die Kleinigkeiten und das Ganze. Denn der Briefschreiber versucht, seinen eigenen Trost, dass sein Tod kein ›schlechtes Ende‹ sei, auf die Eltern zu übertragen. In Peter Weiss’ Bibliothek befindet sich ein Buch, aus dem er diesen Brief kennen konnte, das 1970 vom Institut für MarxismusLeninismus herausgegebene zweibändige Werk Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945. Biographien und Briefe29. Das Vorwort geht zweimal auf das Genre des letzten Briefes ein, wobei der Unterschied, den die Verfasser machen, auf das Problem der Umadressierung verweist, das sich bei der Veröffentlichung von privaten Briefen einstellt. An der ersten Stelle heißt es zunächst über die Briefschreiber: »Sie dachten nicht an die Rettung ihres Lebens um den Preis des Verzichts auf ihre Überzeugungen und auf die Ver27
Ebd.
28
Ebd.
29
Institut für Marxismus-Leninismus 1970, 381.
97
Helmut Peitsch
wirklichung ihrer Ideale. Wie sie gelebt hatten, starben sie: aufrecht und mutig, Herz und Gedanken auf die Zukunft, unsere Gegenwart in der Deutschen Demokratischen Republik, gerichtet«, dann über das Geschriebene: »Die Briefe, meist kurz vor der Hinrichtung mit gefesselten Händen geschrieben, sind von diesem Glauben durchdrungen und erfüllt von der Überzeugung, daß die Wahrheit, die Gerechtigkeit und der Fortschritt auch in Deutschland siegen werden.«30 Während zunächst der letzte Brief schlechthin als in der Gegenwart erfülltes politisches Vermächtnis eines Toten, der sich für den Sieg von inzwischen verwirklichten Idealen geopfert habe, erscheint, werden an der zweiten Stelle Unterschiede gemacht: Die meisten Opfer der faschistischen Blutjustiz schrieben ihre Briefe in der Hoffnung, daß der letzte Gruß an ihre Lieben die Gestapozensur passieren möge. Sie kleideten deshalb ihre Gewißheit vom kommenden Sieg über die faschistische Barbarei in harmlos klingende persönliche Worte, die die Angehörigen sehr wohl zu deuten wußten. Viele dieser Briefe [...] wurden nicht an die Angehörigen und Freunde der Antifaschisten weitergeleitet. Sie verschwanden in den Akten der faschistischen Justiz [...]. Manche Briefe aber reden eine offene Sprache. Es sind jene, die auf heimlichen Wegen in die Hände der Angehörigen gelangten.31
98
Die Unterscheidung von eingekleidet und offen unterstellt letztlich eine allen letzten Briefen gemeinsame Siegesgewissheit, indem den privaten Adressaten die Fähigkeit zugeschrieben wird, ›persönliche Worte sehr wohl zu deuten‹. Horst Heilmanns Brief an seine Eltern zählt zu den am häufigsten nachgedruckten letzten Briefen von Widerstandskämpfern. In den Paratexten der Sammlungen, die ihn seit 1946 enthielten, zeichnet sich damit auch eine Rezeptionsgeschichte der SchulzeBoysen/Harnack-Gruppe ab, die das seit den 90er Jahren vorherrschende Bild in Zweifel zieht, es habe »eine Art ›feindlicher Verwandtschaft‹«32 zwischen Ost und West existiert, die die Gruppe als sowjetische Kundschafter bzw. Agenten entweder tabuisiert oder verherrlicht bzw. dämonisiert habe33. Die Vor-, Geleit- und Nachworte machen aber vor allem deutlich, wie sich der Empfänger veränderte, an den der letzte Brief Heilmanns durch die Publikation umadressiert wurde. 30
Ebd., 7.
31
Ebd., 13/14.
32
Stefan / Vigl 2004, 339.
33
Vgl. Danyel 1994, 19; Steinbach 1994, 56; Coppi / Andresen 2002, 19.
Heilmann an Unbekannt
Letzte Briefe ist der Titel einer Mappe in Weisenborns Nachlass, in der Fotokopien und Abschriften von letzten Briefen Hingerichteter zusammen mit einem Vorwort aufbewahrt sind, das, handschriftlich, einen alternativen Titel trägt: 24 Helden34 – alle bis auf Anton Saefkow sind Mitglieder der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe. Heilmanns letzter Brief ist mit acht Kopien oder Abschriften der am häufigsten vertretene Text. Das 1946 im Auftrag des Hauptausschusses der Opfer des Faschismus geschriebene Vorwort appelliert zunächst in der 2. Person Plural: Bedenkt dass in diesem geheimnisvollen Dokument der Herzschlag der Toten nicht aufhören wird zu schlagen, solange der Mensch lebt, denn hier schlägt das Herz eines Volkes in seinen Opfern. Hier schlägt das Herz der schweigsamsten aller Helden, die ihr eigenes Leben dahingaben, um die Menschen in ihrem Vaterland zu verändern. Dies ist das kostbarste Buch unserer Zeit.35 Folgendermaßen wird dann der Adressat der Publikation bestimmt: »Möge dieses Buch [...] jeder Mensch in Deutschland, der trotzig glaubt, er sei nicht schuld, in heiliger Ergriffenheit lesen und möge es ihn verändern. [...] die Tore des Trotzes, der Engherzigkeit, der Verhärtung in ihm öffnen.«36 Als Weisenborn in den Jahren 1946/47 zusammen mit Greta Kuckhoff, Marta Husemann und Werner Krauss am Sammelbericht der Überlebenden – Schulze-Boysen/Harnack – 37 arbeitete, nahm er in seine Typoskripte nur letzte Briefe auf. Seine zweite Fassung des Sammelberichts schließt sehr nachdrücklich mit zwei ›Abschiedsbrief[en]‹38, zunächst dem von Hilde Coppi (S.30/31), dann heißt es: »Und zum Abschluss den Abschiedsbrief des 21-jährigen Studenten Horst Heilmann«39. Unmittelbar auf Arvid Harnacks und Harro Schulze-Boysens letzte Briefe folgt der Heilmanns in dem 1948 von dem VVN-Verlag unter der Redaktion von Eva Lippold und der Beratung Harald Poelchaus herausgebrachten Band »... besonders jetzt tu Deine Pflicht!« Briefe von Antifaschisten geschrieben vor ihrer Hinrichtung. Die Anthologie ordnete die Briefe chronologisch, so dass sieben Briefe von Angehörigen der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe mit 34
AdK, Bestand Weisenborn, 366 VII.
35
AdK, Bestand Weisenborn, 366 VII
36
Ebd.
37
AdK, Bestand Weisenborn, 366 V.
38
Ebd., 30.
39
Ebd., 31.
99
Helmut Peitsch
mehr als einem Zehntel der Seiten die Jahreswende 1942/43 deutlich markierten. Wenn das von der VVN als Organisation gezeichnete Vorwort die Briefe »Dokumente von einer ergreifenden Schönheit und Menschlichkeit« nennt, gibt es deren privater Adressierung eine spezifische Bedeutung: Die Faschisten versuchten, unserem Volke einzureden, daß ihre Gegner Untermenschen waren, die vertilgt werden müßten. Aber aus ihren Briefen spricht die Sprache der selbstlosen und liebeerfüllten Menschen, die nie ihr eigenes Glück als den Mittelpunkt ihres Daseins betrachteten, sondern an das Glück und den Frieden des ganzen Volkes dachten und danach handelten. Manche der Briefe, aus der Qual heraus entstanden, nicht das sagen zu dürfen, was das ganze Herz erfüllte, sind darum kurz. Sie sagen nur weniges Privates. Aber auch in ihnen klingt der Bekennermut des zu seiner Überzeugung Stehenden. [...] Sie waren keine Ausnahmemenschen. Sie waren, wie jeder andere Mensch, erfüllt von der Freude am Leben. Wie jeder andere Mensch liebten sie ihre Familie, ihre Kinder. Aber sie unterschieden sich von den anderen durch ihre handelnde, tatkräftige Liebe zu ihrem Volk, dem sie Krieg und Vernichtung und die fürchterlichen Folgen, die unvermeidlich jeden Krieg begleiten, durch ihren Kampf ersparen wollten.40 Während die chronologische Anordnung letzter Briefe in späteren Anthologien im Osten wie im Westen meist durch eine alphabetische oder thematische, nach Widerstandsgruppen oder Motiven, ersetzt wurde, erwies sich die Zuordnung einer kurzen Biographie zum Brief als vorbildlich für fast alle folgenden. Das in … besonders jetzt tu Deine Pflicht!« gegebene biographische Formular wurde in den DDR-Anthologien von 1958/1959, 1961, 1970 nur detaillierter ausgefüllt: Der begabte 17jährige Student entschied sich trotz seiner Zugehörigkeit zur Hitlerjugend für den antifaschistischen Kampf. 1939 lernte er auf einer Studienreise in Paris durch französische Freunde sozialistisches Gedankengut kennen. Nach Berlin zurückgekehrt wird er Hörer von Harro Schulze-Boysen und bald sein enger Mitarbeiter. Er übersetzte ausländische Berichte, hörte Funksendungen ab und erwies sich bei aller Jugend von großer Umsicht und Disziplin. Vor der Gestapo zeigte er eine mutige unbeugsame Haltung. So tapfer und aufrecht wie seine gereiften und älteren Freunde nahm er das Todesurteil auf sich
100
40
… » besonders jetzt tu Deine Pflicht! « a. a. O., 6, 8.
Heilmann an Unbekannt
und wurde am 22. Dezember 1942 im Alter von 19 Jahren hingerichtet.41 Ausführlicher wurden in beiden Büchern des IML aus dem Jahr 1970 – im Wortlaut ist Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im antifaschistischen Kampf fast identisch mit Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945 – insbesondere Heilmanns soziale Herkunft, die Begegnung mit Schulze-Boysen im Studium an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, die Tätigkeit im OKH und der Versuch dargestellt, Libertas Schulze-Boysen nach der Verhaftung ihres Mannes zu warnen42. Die 1958 vom IML herausgegebene Anthologie Erkämpft das Menschenrecht war die erste, die über die Zuordnung von Biographie und Brief hinaus die weitere eines Fotos als obligatorisch einführte. Diese Verbindung von Foto, Biographie und Brief war schon kurz nach Erscheinen der VVN-Anthologie in der Zeitschrift der VVN in die Form einer festen Rubrik gebracht worden. Hieß sie Blätter der Erinnerung in dem 1947/48 für alle Besatzungszonen herausgegebenen Organ Unser Appell, so seit dem Erscheinen einer westdeutschen Ausgabe in Frankfurt/Main – parallel zu der Die Tat genannten Ostberliner Wochenzeitung – Unser Porträt: Die Tat. Von Horst Heilmann erschien zuerst 1949 in der Berliner Tat ein solches dreiteiliges Porträt, zum Gedenktag der OdF, zusammen mit neunzehn anderen hingerichteten Widerstandskämpfern, von denen fünfzehn gleichfalls in der Anthologie vertreten gewesen waren; neu hinzugekommen waren zwei Sozialdemokraten, ein katholischer Geistlicher und ein Kommunist (Julius Leber, Wilhelm Leuschner, Hermann Lange und Franz Jacob)43. Von den zwanzig Porträts enthielten zwölf ein längeres Zitat aus dem letzten Brief; in den anderen Fällen wurde er durch ein letztes Wort, z.B. vor Gericht oder zum Geistlichen ersetzt. Die Zusammenstellung der aus Heilmanns Brief zitierten Sätze brachte den ersten, die Beziehung zu den Eltern betreffenden Absatz ganz, um aus dem Mittelteil nur das Muster der Harmonie und aus der Schlussanrede die Versicherung der Sicherheit und Stärke zu wählen. Auffällig ist, dass fast alle Fotos das Gesicht frontal zeigen, wobei der Blick auf den Betrachter gerichtet ist. Alle anderen Fotos zeigen das Gesicht im Halbprofil von rechts. Das Foto Horst Heilmanns ist dasselbe, das 1970 in dem Band des IML verwendet wurde und das als allererstes obenauf in Peter Weiss’ ›Sammlung‹ mit dem Titel 41
Ebd., 46.
42
Biernat / Kraushaar 1970, 99/100; Institut für Marxismus-Leninismus 1970, 380/382.
43
Die Tat, Berlin, 10.9.1949, 3, 6.
101
Helmut Peitsch
Personenporträts liegt44. Außer Charlotte Bischoff, Karen Boye und Willi Münzenberg sind alle anderen fünfzehn Personen, von denen Weiss Fotos für die Arbeit an der Ästhetik des Widerstands sammelte, hingerichtete WiderstandskämpferInnen. Von Heilmann gibt es – ebenso wie von Hans Coppi und von Adam Kuckhoff – noch ein zweites Foto: neben dem privaten im Anzug eins in Uniform. Nur von Hans Coppi besaß Weiss außer einem privaten den Streifen mit den drei Fotos aus dem Gestapo-Album: frontal, im linken und rechten Vollprofil. Die Tendenz zur Zuordnung von letztem Brief, Biographie und Foto ist auch in einigen Büchern zum Widerstand aus der SBZ und DDR erkennbar, die nicht als Anthologien, sondern als Dokumentationen oder historische Darstellungen angelegt waren. Als erster Band einer 1949 abgebrochenen Reihe Widerstand im Dritten Reich. Männer und Frauen des illegalen antifaschistischen Kampfes. Herausgegeben von der Zentralen Forschungsstelle der VVN kam 1948 Klaus Lehmanns Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack heraus. Drei Viertel des Texts bestehen aus letzten Briefen; außer zwölf Porträts von Hingerichteten, die letzten Brief, Biographie und Foto verbinden, bringt die Darstellung aber auch in denjenigen Fällen, wo kein letzter Brief abgedruckt wird, wenigstens ein Foto zur Ergänzung der Kurzbiographie. Lehmann begründet sein Verfahren: »Die Toten haben uns nur wenige Zeugen ihres Wirkens hinterlassen. [...] Nicht einmal von allen ist ein Bild vorhanden. Aber aus den wenigen Abschiedsbriefen, Äußerungen und Berichten ihrer engsten Freunde formt sich ein Bild [...] wie eine leuchtende Fackel [...]. Und jetzt haben sie das Wort: [...]«45. Für Heilmann ist allerdings der Brief durch einen Bericht Arnold Bauers ersetzt46, ein Zitat aus der ›3.Fassung‹ des Sammelberichts der Überlebenden mit »Beiträge[n] von [u.a. ...] Arnold Bauer, Familie Schulze, Heinrich Scheel, Harald Poelchau«47, so dass unter dem Foto in Zivil und einer auf Lebensdaten und Studium gekürzten biographischen Notiz steht:
102
Horst war ein ungewöhnlich aufgeweckter Junge und sein geistiger Betätigungsdrang war durch Vorurteile seines bürgerlichen und Hitler treu ergebenen Elternhauses stark gehemmt. [...] Als Student gelangte Horst dann in die Arbeitsgemeinschaft 44
AdK, Bestand Peter Weiss, 3207, Notizbücher/Ästhetik des Widerstands, Personenporträts; dies ist übrigens der einzige Verweis im ›Personenindex‹ des Peter Weiss-Findbuchs des AdK-Archivs auf Horst Heilmann, S.203.
45
Lehmann 1948, 27.
46
Ebd., 70.
47
AdK, Bestand Weisenborn, 366, Mappe V.
Heilmann an Unbekannt
Harro Schulze-Boysens, die dieser damals im Auslandswissenschaftlichen Institut der Universität Berlin leitete. Horst wurde einer der anhänglichsten Schüler und Bewunderer von Harro Schulze-Boysen. Horst stand mit Harro zusammen vor Gericht. Als seinen einzigen Wunsch äußerte er, nach Harro erschossen zu werden. Am 22. Dezember 1942 starben sie gemeinsam.48 Diesem Bericht entspricht das Zitat aus Heilmanns letztem Brief, das Lehmann folgenreich in seine historische Darstellung aufnahm. Nur der Satz über die Bestattung ›mit meinen Freunden‹ wird in der Schlusspassage über den Prozess zitiert, gerahmt von jeweils zwei Sätzen Schulze-Boysens und Harnacks, und diese drei Absätze aus Lehmanns Darstellung wurden 1958 sowohl für das Quellenwerk über den deutschen antifaschistischen Widerstandskampf 1933-1945 Damit Deutschland lebe von Walter A. Schmidt49 ausgewählt als auch von Käthe Haferkorn, Gerhard Nitzsche, Hans Otto 50, die im Auftrag des MNV, des IML und des KAW Eine Auswahl aus Materialien, Berichten und Dokumenten unter dem Titel Zur Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung 1933-1945 herausgaben. Lehmanns in beiden Dokumentationen nachgedruckte Passage mit der zentralen Stellung von Heilmanns Satz über die Freunde lautete: »In den kalten Todeszellen in Plötzensee entstanden in diesen Stunden erschütternde Dokumente menschlicher Größe: Die Abschiedsbriefe. ›Vor allem denke ich daran, daß die Menschheit sich im Aufstieg befindet‹, schrieb Harnack. Schulze-Boysen: ›Wenn wir auch sterben sollen, so wissen wir: Die Saat geht auf!‹ Noch näher waren sich die Schicksalsgefährten gekommen, gegenseitig versuchten sie, sich, wenn auch durch Zellenwände getrennt, das Los zu erleichtern. Keine Disharmonie, sondern echte und tiefe Kameradschaft verband diese Widerstandskämpfer. Die letzte Bitte des jungen Horst Heilmann: ›Ich habe den Antrag gestellt, meine Leiche auszuliefern, ich möchte gern mit meinen Freunden bestattet werden.‹ Um 20 Uhr starben diese wahrhaften Helden am Galgen, weil sie für ein freies, demokratisches Deutschland, für den Frieden und die Völkerverständigung gekämpft hatten. ›Ich bereue
48
Lehmann 1948, 70.
49
Schmidt 1958, 385.
50
Ebd, 353.
103
Helmut Peitsch
nichts. Ich sterbe als ein überzeugter Kommunist‹, waren die letzten Worte Arvid Harnacks.« 51 Günther Weisenborn, der im zitierten ›Sammelbericht‹ Heilmanns letzten Brief hervorgehoben hatte, zitierte in seiner Rede über die deutsche Widerstandsbewegung, gehalten im Berliner Hebbel-Theater vor den politischen Häftlingen des Konzentrationslagers Sachsenhausen anlässlich der einjährigen Wiederkehr ihres Befreiungstages den letzten Brief von Schulze-Boysen, um die Frage nach dem deutschen Widerstand zu beantworten: »Ihr, die Ihr hier versammelt sitzt, Ihr wisst es, und für die Welt draussen verlese ich statt einer Antwort den herrlichen Brief Harro Schulze-Boysens, [...] in dem der bitterdunkle Satz vorkommt: ›In Europa ist es nun einmal üblich, daß geistig gesät wird mit Blut,‹ den er mit der Fassung des Vollendeten niederschrieb.«52 Als Weisenborn 1953 bei Rowohlt seinen Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945 Der lautlose Aufstand herausbrachte, bildeten beide letzten Briefe einen Teil des Anhang[s] II – Zeugnisse der letzten Stunde53, aber weder Fotos noch Biographien begleiteten die letzten Briefe. Im Falle Heilmanns ist sogar die Altersangabe in der Überschrift falsch: Letzter Brief des 21jährigen Studenten Horst Heilmann54, im Hauptteil, dem eigentlichen Bericht, wird er nicht erwähnt. Das Kapitel Die Wahrheit über die ›Rote Kapelle‹55 zitiert vor allem Akten der Gestapo und der Justiz sowie in der Nachkriegszeit publizierte Berichte von Überlebenden und Angehörigen – darin entspricht es der in der Einleitung von Weisenborn beschriebenen Anlage des Buchs insgesamt: der vorliegende Bericht [ist] im Grunde bereits eine Gemeinschaftsarbeit vieler Menschen. Es handelt sich um ein Panorama von Originalberichten, Zitationen und Eigendarstellungen. Es ist eine Gesamtdarstellung in Selbstzeugnissen. – Mit diesem Bericht hier sollte das gewaltige Relief des gesamten Freiheitskampfes aus der dunklen Mauer der Vergeßlichkeit herausgehauen werden.56
104
Weisenborns Metaphern des Panoramas und des Reliefs akzentuieren – wie schon der Untertitel – den Vorrang des Gesamtbilds vor dem Porträt. In der Abfolge von religiösem, bürgerlichem, mili51
Lehmann 1948, 24.
52
AdK, Bestand Weisenborn, 366 VII, Ihr, die Ihr hier versammelt, 1.
53
Weisenborn 1974, 391, 397/398.
54
Ebd., 397.
55
Ebd., 242-259.
56
Ebd., 23.
Heilmann an Unbekannt
tärischem, Arbeiter- und intellektuellem Widerstand entwirft der Bericht ›die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes‹, was die äußerst positive Rezeption erklärt: Weisenborns Bericht habe »das erlösende Wort der Rechtfertigung für uns alle gesprochen«, schrieben die Aachener Nachrichten, er sei die »unzweideutige, endgültige Widerlegung der Kollektivschuldlüge« (Darmstädter Echo), weil er zeige, wie »viel umfangreicher und ausgedehnter als meist im Ausland angenommen Deutsche der Tyrannei getrotzt« (Heidelberger Tageblatt)57. Für das Kapitel über die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe war Weisenborns meistzitierte Quelle ein anderer am »Sammelbericht« der Gruppe beteiligter Autor, Harald Poelchau. An einer Stelle der von Alexander Stenbock-Fermor aufgezeichneten Erinnerungen des Gefängnisgeistlichen58 nennt er sich »subjektiv befangen, da ich selbst zum Kreisauer Kreis gehörte«59. Aber das Kapitel Die Rote Kapelle macht mehr als ein Fünftel des Berichts aus60. Auch wenn die Hinrichtungen vom 22.12.1942 nur auf einer halben Seite dargestellt und nur Schulze-Boysen und Harnack namentlich genannt werden, erhält ihre Gruppe in Poelchaus Buch dadurch erhebliches Gewicht, dass die letzten Briefe von sechs Mitgliedern der Gruppe zitiert werden, mehr als von jeder anderen Richtung des Widerstands, ob 20. Juli oder aus den Kirchen: Kurt Schumacher61, Arvid Harnack62, Harro Schulze-Boysen63, Walter Husemann 64, John Rittmeister65, Adam Kuckhoff66. Bis auf Rittmeister ist in allen Fällen mit dem letzten Brief ein Foto des Schreibers abgedruckt, in Schumachers und Harnacks Fall auch ein Foto der Adressatin, der Ehefrau Elisabeth bzw. Mildred. Heilmann ist nicht erwähnt, obwohl Poelchau am Tage seiner Hinrichtung Dienst hatte. Als Teil seines Dienstes beschreibt er in einem der nicht nach Widerstandsgruppen oder Zeitangaben, sondern nach Arbeitsgebieten gebildeten Kapitel, Die Todeszelle, den letzten Brief:
105 57
Zitiert nach den undatierten Ausschnitten in: AdK, Bestand Weisenborn, 1410, Mappe 2, mit 95 Rezensionen.
58
Vgl. als einen früheren Text Poelchau 1947, 5/6; zur Zusammenarbeit siehe Stenbock-Fermor 1973, 474-476.
59
Poelchau 1949b, 99.
60
Ebd., 55-86.
61
Ebd., 63/64.
62
Ebd., 66/67.
63
Ebd., 71/72.
64
Ebd., 75/76.
65
Ebd., 78/79.
66
Ebd., 84/85.
Helmut Peitsch
Was geschah in den langen Stunden der letzten Nacht? Ich mußte mich vor allem um die Abschiedsbriefe kümmern. Primitive Menschen konnten sich oft in ihrer starken Aufregung nicht mehr geistig konzentrieren. Ich mußte daher häufig die Briefe diktieren. Selbstverständlich bemühte ich mich, das auszudrücken, was der Schreiber noch sagen wollte, aber nicht sagen konnte. [...] die mehr geistigen Menschen [...] waren dankbar, wenn es mir gelang, die Beamten zu entfernen, um die letzte Nacht mit ihnen allein zu verbringen. Es gab Menschen, die kaum ein Wort sprachen und in tiefe Gedanken versanken. Es gab andere, die mir ihre persönlichsten Geheimnisse anvertrauten. [...] Hier lag meine wahre Aufgabe. Denn kaum jemand wird mit gleicher Verschwiegenheit und Offenheit die Beichte eines Menschen entgegennehmen wie ein Seelsorger. Mancher Gefangene fand in solchen Nachtstunden die Gelassenheit für den letzten Gang... [...] Und wenn der Morgen in die Todeszelle graute, kam die Krise für den Gefangenen. Niemand wurde von ihr verschont [...] Es galt nun, in den letzten zwei Stunden alle Kräfte zusammenzunehmen. [...] Die Abschiedsbriefe mußten um diese Zeit fertig sein. Der Gefangene hatte nicht mehr die Nerven dazu.67 Poelchaus Auffassung des Diensts als Hilfe zur ›Gelassenheit‹ durch ›Straffung‹ der »geistige[n...] Haltung des Verurteilten«68 bestimmt in den späteren westdeutschen, bearbeiteten Teilnachdrucken seines Berichts von 1949 deutlich die Bewertung von letzten Briefen: Der Tod entband von aller politischen Verantwortung. Ich habe bei vielen, auch bei Kommunisten, besonders bei Angehörigen der Roten Kapelle, [...] Leute angetroffen, die nach Gott fragten und ihn suchten [...] und, daß die Hinwendung zur Innerlichkeit, die Hinwendung zu Gott [...] doch den entscheidenden Abschied vom Leben darstellte. 69
106
In der Version von 1963 enthält Poelchaus Bericht deshalb nur noch Hinweise auf letzte Briefe, und zwar nur von einem Angehörigen des 20. Juli, einem katholischen und einem evangelischen Geistlichen,70 aber kein einziges Zitat aus irgendeinem letzten Brief.
67
Ebd., 47-49; vgl. Poelchau 1963, 54-56.
68
Poelchau 1949b, 48; vgl. Poelchau 1947, 5: »ich konnte ... dafür sorgen, daß wenigstens für die Abschiedsbriefe innere Ruhe und Zeit blieb. Aus manchen dieser Briefe werdet ihr gespürt haben, wieviel Gefaßtheit aus ihnen spricht«.
69
Maser / Poelchau 1982, 62.
70
Moltke, Delp, Bonhoeffer, vgl. Poelchau 1963, 72, 78.
Heilmann an Unbekannt
Poelchaus Bewertungstendenz entsprach 1963 der Umadressierung, die der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer 1954 vornahm, als er dem privaten Charakter der letzten Briefe auch von Atheisten eine religiöse Bedeutung zuschrieb; in seine einflussreiche Anthologie Du hast mich heimgesucht bei Nacht nahm Gollwitzer auch die letzten Briefe von drei Angehörigen der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe auf: John Rittmeister, Kurt Schumacher und Libertas Schulze-Boysen; die der beiden Männer stellte er unter ein Motto von Simone Weil: »Wenn einer denkt, Gott existiere nicht und liebt Ihn doch, dann wird Er Seine Existenz kundtun.« 71 Dieselbe Figur bestimmt im Vorwort die Bestimmung der Adresse letzter Briefe: Wie überall [...hat] die böse Gewalt [...] das Gegenteil des Erstrebten erreicht. Sie erlaubte keine politische Kritik und zwang damit ihre Opfer in die ihnen eigene Freiheit – eine Aussprache, die sich nur noch mit dem Wesentlichen beschäftigt: mit Gott und dem eigenen Heil [...]. Aber in diesem Verschweigen des Politischen wird der Sinn des Widerstandes nicht verhüllt, sondern in Reinheit ausgesprochen. Denn um [... die Menschlichkeit des Menschen] zu schützen gegen die politische Organisation des Hasses, haben sich jene Männer und Frauen geopfert.72 Poelchaus und Gollwitzers Bewertung widersprach 1956 Margret Boveri im ›Rote Kapelle‹-Kapitel ihrer Studie über Verrat im 20. Jahrhundert73. Obwohl sie sich teilweise bis in die Formulierungen an Weisenborn über die Organisation und an Poelchau über einzelne Mitglieder anschließt, deutet sich eine veränderte Wertung an, wenn sie zu Kuckhoffs Brief an seinen Sohn bemerkt, er »gehört zum Bewegendsten, was ich kenne«: »Wer sich ein Bild von [...] Kuckhoff macht, wird entgegen der heutigen Zeitströmung sagen müssen, daß unter diesen Kommunisten [genauer etwas später: »kommunistischen und liberalen ›Sozialisten‹ der ›Roten Kapelle‹«] wunderbare Menschen waren.«74 Unter Aufnahme der Worte dreht sie Poelchaus Bewertung um, wenn sie rühmt, dass Schulze-Boysens »Abschiedsbrief an seine Eltern [...] sich so grundlegend von den letzten Briefen seiner Altersgenossen unter den Kreisauern unterscheidet [..., denen] in den letzten Stunden [...] die Auseinandersetzung der eigenen Person mit dem eigenen Tod und mit Gott 71
Gollwitzer / Kuhn / Schneider 1956, 323.
72
Ebd., 13/14.
73
Boveri 1956, 56-63.
74
Ebd., 61.
107
Helmut Peitsch
doch ihr oberstes Anliegen [war]«; Schulze-Boysens Brief sei hingegen »leidenschaftlich erbittert«75. Während in den westdeutschen Anthologien der fünfziger Jahre nicht nur Heilmann fehlte, sondern auch die Verbindung von letztem Brief, Biographie und Foto, führte Heilmanns Präsenz in der DDR-Anthologie Erkämpft das Menschenrecht dazu, dass sein letzter Brief auch in den beiden auf dieser basierenden Büchern gedruckt wurde, in der DDR- und in der BRD-Ausgabe An die Lebenden. Der Titel griff zurück auf ein Gedicht Ferdinand Freiligraths, das häufig zitiert worden war in Publikationen der frühen Nachkriegszeit, die Kundgebungen zu den sich herausbildenden Gedenktagen dokumentiert hatten, so am 9. September 1945 die erste Großkundgebung der OdF Die Toten den Lebenden76. Zum SeptemberGedenktag des Jahres 1946 beschloss der HA der OdF nicht nur die »Losung: Den Toten zu Ehren Den Lebenden zur Pflicht« 77, sondern für eine Broschüre Die letzten Briefe Hingerichteter die »Herstellung der Reproduktion von Bildern Ermordeter und Hingerichteter«78. Freiligraths Gedicht war zur Demonstration am 14. Juni 1848 geschrieben, die die Anerkennung der Revolution erzwingen sollte; es bezog sich zurück auf die anklagende öffentliche Präsentation der Toten im März, als der preußische König gezwungen worden war, die Toten zu ehren, die Freiligrath dann drei Monate später appellieren lässt: »es thäte Noth, daß ihr uns aus der Erde grübet«, »uns zu zeigen« »auf dem Markt... Hinaus ins Land, so weit es reicht«79. Die Forderung der Toten an die Lebenden: »der Grimm [...] er wird und muß erwachen!«80, wurde, wie Rüdiger Hachtmann gezeigt hat, Teil eines – auf die Arbeiterbewegung als Träger beschränkten – revolutionären Totenkults um die Märzgefallenen, der die Nation spaltete81, zumal als er sich seit 1873 mit dem Gedenken an die Pariser Kommune verband. Indem ›Revolutionsverlierer‹ als »Repräsentanten alternativer Entwicklungsoptionen nationaler Geschichte erinnert werden sollten«82, aktualisierten diese ›Märtyrer‹ eine
108
75
Ebd., 59; vgl. dagegen Boveris früheres Lob von Poelchau/Stenbock-Fermors Berichts 1949 als »nüchtern und sachlich«, Stenbock-Fermor 1973, 476.
76
BA, DY54/V 277/1/45, Brief Hellmut Bocks an Jung vom 18.12.1946.
77
BA, DY54/V 277/1/45, Bericht HA Juni 1946.
78
BA, DY54/V 277/1/45, Bericht HA Oktober 1946, 5.
79
Freiligrath 1953, 136.
80
Ebd., 137.
81
Hachtmann 2004, 44.
82
Rausch 2004, 25.
Heilmann an Unbekannt
»dichotomische Erinnerungsfigur von Opfern und [...]mächtigen Revolutionsgegnern«83. Auf die anklagende öffentliche Präsentation des Bildes eines Toten zusammen mit seinem letzten Wort bezog sich der Schreiber des Vorworts zu der DDR-Anthologie An die Lebenden: Wilhelm Pieck zitierte einleitend den letzten Artikel, den Karl Liebknecht vor seiner Ermordung publiziert hatte und der in der kommunistischen Presse der zwanziger Jahre84 häufig zusammen mit dem Foto von Liebknechts Totenmaske gedruckt worden war: »Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht ... [...] Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!«85 Dasselbe Zitat stand schon 1950 in der 2. Januarnummer der Berliner VVN-Wochenzeitung Die Tat neben dem Foto von Liebknechts Totenmaske, um zu belegen: »Von [Liebknechts und Luxemburgs...] Tode bis zum Tode Ernst Thälmanns und Rudolf Breitscheids, des aufrechten Pfarrers Schneider, der Geschwister Scholl und der vielen hunderttausende Märtyrer, die im Kampf gegen Faschismus und Krieg ihr Leben einsetzten, führt ein gerader Weg«86. Das Zitat aus Liebknechts letztem Artikel diente zur Begründung – gewissermaßen als das, was der Totenmaske abgelesen werden konnte als letzter Brief: »In den Zellen der Zuchthäuser und in den Konzentrationslagern [...] waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg lebendig, und die Worte Liebknechts [...] ließen unsere tapferen Gefährten aufrechten Hauptes zum Schafott schreiten«87. Die Festigkeit, mit der das Zitat aus dem letzten Artikel mit dem Bild des Toten – wobei etwa in der Berliner Tat das Foto der Totenmaske durch die Zeichnung von Lovis Corinth (1951) oder das Foto der Leiche (1952) ersetzt werden konnte – verbunden war, spiegelt sich in der Rezension der Anthologie in der Neuen Deutschen Literatur: »Es gibt viele Bücher, die das menschliche Antlitz und letzte Briefe wiedergeben. Sie sollen durch Gesicht und Wort die Würde des Menschen beweisen.«88. Wenn Heinz Kamnitzer die Widerstandskämpfer in die Reihe von Liebknecht und Luxemburg89 – als
83
Ebd., 36.
84
Soden 1995, 133.
85
Schumann / Werner 1959, 3.
86
Die Tat, Berlin, 14.1.1950, 6.
87
Ebd.
88
Kamnitzer 1958, 74.
89
Ebd., 75.
109
Helmut Peitsch
den Vorbildern der Märtyrer90 – stellt, wird deutlich, dass er sich auf eine spezifische Tradition bezieht, die – im Vergleich zu den Märzgefallenen – überdies nicht nur die Nation, sondern vor allem die Arbeiterbewegung spaltete. Entgegen Kamnitzers Behauptung gibt es keineswegs viele Bücher, die Antlitz und letzten Brief wiedergeben. Im Gegenteil, Max Picard war nicht der einzige Herausgeber eines Fotobuchs von Totenmasken, der von dem versöhnenden Gesicht des Toten verlangte: »nichts ist in ihm vom Gedanken des letzten Augenblicks«91, denn der »Augenblick herrlichster Vollendung«92 sei, so Georg Kolbe, im schweigenden »Lächeln des Erlösten«93, und nur in einer Anthologie letzter Briefe wurde ein Vergleich zwischen Totenmaske und letztem Brief gezogen. Friedrich Percyval Reck-Malleczewen bestimmte das Genre in einer Weise, die den letzten Brief Hingerichteter marginalisierte, so dass sich die Ähnlichkeit mit einer Totenmaske versöhnlicher Gelassenheit ergeben konnte: beide[...] Dokumente, die [das Sterben...] in unserer Hand beläßt: [...] de[r] letzte[...] Brief und [... die] Totenmaske, […] beide sind in ihrer Entstehung so abhängig voneinander, daß man den letzten Brief getrost eine ‚geschriebene Totenmaske’ nennen darf. In beiden Fällen (im Brief gerade auch dort, wo der Briefschreiber nichts von seiner bevorstehenden Auflösung ahnte!) stehn wir vor der gleichen, fast ironischen Abkehr vom Leben [...]. In beiden Fällen kommt, von den Schriftzügen wie von dem gegossenen Abbild des Totenantlitzes, eine marmorne Gelassenheit, in beiden Fällen erscheint uns der Dahingegangene, wäre er selbst noch ein Kind gewesen, plötzlich als unser erhabener Vorgesetzter.94
110
Aufschlussreich für die Nachkriegszeit scheint mir Reck-Malleczewens vereinzelter Vergleich von Totenmaske und letztem Brief vor allem, weil sich nach 1945 ein Ende der bildungsbürgerlichen alltagskulturellen Praxis des Umgangs mit Totenmasken abzeichnet95. Die Überzeugung vom Weiterleben des Individuums im Gedächtnis der Freunde scheint erschüttert, wenn Karl Jaspers in der Totenmaske nur noch den Beginn der Verwesung zu erkennen vermag 96, 90
Ebd., 76.
91
Picard 1959, 9.
92
Benkard 1926, XLIII.
93
Ebd., XLIV.
94
Reck-Malleczewen 1949, 8/9.
95
Vgl. Schmölders 1993, 30.
96
Ebd., 29.
Heilmann an Unbekannt
während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »die Abnahme einer Totenmaske fast zum selbstverständlichen Abschiedsritual der sogenannten gebildeten Kreise gehörte« 97. In den Nachkriegsjahren waren auf den Straßen ganz andere als die gewohnten Totenmasken zu sehen und zugleich letzte Briefe zu hören gewesen. 1950 wurden auf der zentralen Demonstration zum Befreiungstag in Dortmund Gegen den Tod, für das Leben!98 zehn Totenmasken getragen, darunter die »Hermann Fischer[s], drei Minuten nach der Hinrichtung durch das Anat. [sic] Institut auf Befehl der Gestapo hergestellt« 99. Zwei Jahre später wurden in Hamburg bei der Einweihung des Ehrenmals »auch die Totenmasken unvergessener antifaschistischer Widerstandskämpfer mitgeführt«100. Gelesen werden konnte aus Fischers letztem Brief an seine Frau und Kinder: »Möge für Euch einst das Glück kommen, für das ich kämpfte und jetzt sterbe. [...] Eine Idee, welche die Einigkeit und die höchsten Ziele der gesamten Arbeiterklasse mit ihrem Blut erkämpft, wird Verwirklichung finden auf dem gesamten Erdball. Euch allen ein letztes Lebewohl!« 101 In Heidelberg las die Mutter Arvid Harnacks seinen auch an sie gerichteten ›Abschiedsbrief‹102: »Vor allem aber denke ich daran, daß die Menschheit sich im Aufstieg befindet. Das [...ist eine der] Wurzeln meiner Kraft.«103 Clara Harnack schrieb dann das Vorwort, als 1961 ein Teil der im DDR-Sammelband Erkämpft das Menschenrecht publizierten letzten Briefe, Fotos und Kurzbiographien unter dem Titel An die Lebenden gedruckt wurde; ihr Text ersetzte den Piecks mit dem Liebknecht-Zitat: Heute bin ich eine sehr alte Frau, eine der vielen Mütter, denen die grauenvolle Hitlerzeit das Liebste genommen hat. Das Vermächtnis der teuren Toten des großen Kampfes gegen Tyrannei und Krieg gilt auch für mich. In mütterlicher Liebe zur Jugend rufe ich ihr [...] zu: [...] ›Ihr jungen Menschen [...] denkt daran, daß Deutschlands Schicksal einmal in Eurer Hand liegen wird! Vielleicht findet dieser oder jener Abschiedsbrief Zugang zu
97
Hertl 2002, 174.
98
Die Tat, Frankfurt/M., 22.4.1950.
99
Die Tat, Frankfurt/M., 20.5.1950.
100 Die Tat, Frankfurt/M., 26.4.1952. 101 Schumann, / Werner 1959, 75. 102 Die Tat, Frankfurt/M., 20.9.1952, S.4. 103 Schumann, / Werner 1959, 112.
111
Helmut Peitsch
Eurem Herzen! Über Jahrzehnte hinweg spricht ein Chor von Stimmen zu Euch, die [...] mahnen!‹104
112
Eine Totenmaske, die für die revolutionäre Tradition der anklagenden öffentlichen Präsentation des gewaltsamen Todes die Verbindung mit dem letzten Brief, von Antlitz und Wort, prägte, wurde von den Theoretikern des bildungsbürgerlichen Kults um die Totenmaske mit auffälliger Einmütigkeit ausgeschlossen, weil sie kein »versöhnendes Abbild des Lebenden«, so Ernst Benkard105, wäre: Jean Paul Marats Totenmaske, die Jacques-Louis David abgenommen hatte, um sie zunächst für die Trauerfeier zu nutzen, dann nach ihr das Gemälde zu schaffen. Wenn Picard von dem versöhnenden Gesicht des Toten verlangte, dass in ihm nichts vom Gedanken des letzten Augenblicks sein dürfe106, dann war es, geradezu im Gegenteil, Davids Überraschung über die Lage der Leiche, die seinen Wunsch motivierte, was vom toten Marat festzuhalten wäre: »seine Hand notierte [...] seine letzten Gedanken für das Glück des Volkes«107. Peter Weiss setzte vor den Text seines Marat/Sade 1964 den Kupferstich Davids, der die Totenmaske Marats mit nicht geschlossenen, sondern offenen gebrochenen Augen zeigt108, und zu seinen letzten vier Worten in Szene 30: An die französische Nation heißt die Bühnenanweisung: »In der rechten Hand hält er die Schreibfeder.«109 In der Ästhetik des Widerstands erfindet Weiss in Distanzierung vom überlieferten als reglementiert-menschlichen letzten Brief Horst Heilmanns ›den Abschiedsbrief‹ der Figur Heilmann an den Erzähler. Weniger die zahlreichen Anreden des Adressaten als die expliziten Bezugnahmen auf die Schreibsituation bereiten die am Schluss stehende Abgrenzung vom Brief an die Eltern vor, wenn es zu Libertas heißt: »auch sie hat Gerät erhalten zum Schreiben des letzten Briefs, und so sind wir alle vereint in unserer Nachricht, die, wie die christliche Seele, die körperliche Hülle, alles, was sie umschließt, verläßt.«110 Der folgenden scharfen Absage an die religiöse Metaphorisierung des letzten Briefs: »Ich bin kein Christ, ich lebe im Diesseits«111, scheint die spätere Gewissheit zu wider104 An die Lebenden. Lebensbilder und letzte Briefe deutscher Widerstandskämpfer. 1961, S.5. 105 Benkard 1926, XX. 106 Picard 1959, 9. 107 Hertl 2002, 126. 108 Weiss 1964, 5. 109 Ebd., 126. 110 Weiss 1981b, 207. 111 Ebd.
Heilmann an Unbekannt
sprechen: »Auch wenn wir gestorben wären, ohne der Außenwelt eine Mitteilung hinterlassen zu dürfen, würden wir uns doch nicht vergessen gewähnt haben.«112 Für die Auflösung des Widerspruchs beruft sich der Briefschreiber auf eine Einigkeit mit dem Adressaten: »Ich bin immer für die Beziehungen gewesen zu denen, die vor uns gelebt und gewirkt haben, und ich glaube, darin waren wir uns einig. Indem wir offen sind für die vergangnen, würdigen wir auch die, die nach uns kommen.«113 Gegen die ausschließliche Fokussierung der bisherigen Interpretationen des Abschiedsbriefs auf das Thema Traum und Wachen (und damit auf eine autopoetologische Lesart114) ist festzuhalten, dass es ausdrücklich als Abschweifung eingeführt wird: »Ehe ich wieder auf das andere zurückkomme, das noch zu sagen ist, will ich mich kurz mit diesem spröden und zugleich ausdruckskräftigsten Stoff befassen, der uns gehört.« 115 Das ›andere‹, von dem vorher schon die Rede gewesen ist und nachher wieder sein wird, ist das ›Gesicht‹ von Libertas Schulze-Boysen: »Kann dir ihr Gesicht noch nicht beschreiben.«116 So beginnt der Bericht über den Besuch bei ihr am 30. August; wie an allen anderen Stellen wird der Adressat einbezogen. Zwei Seiten später leitet der Satz: »Ihr Gesicht, ich will versuchen, es dir zu schildern« 117, eine ausführliche Beschreibung ein, die zusammengefasst wird mit dem Vergleich: »Ihr Gesicht war ein Scherenschnitt in Filz vor dem Fenster.«118 Die zwischen beiden Sätzen gegebene Beschreibung schließt die ›Wahrnehmung‹ kurz mit der Berufung auf den – wieder als gemeinsam mit dem Adressaten betonten – »andren Zeitbegriff [...], der alles Vorherige und Folgende umfaßt« und deshalb die Wahrnehmungen des Gesichts ›nichts besagen‹ lasse: »Es war voll, ebenmäßig, der Mund breit, füllig, ihre Augen waren strahlend, und hatten zugleich etwas Lauerndes im Blick, ihr gewelltes blondes Haar fiel weich herab zu den Seiten, eine Locke in die Stirn gekämmt.«119 Das letzte Detail der Beschreibung von Libertas’ Gesicht hat nur in einem der überlieferten Fotos eine Entsprechung; dieses Porträt
113
112 Ebd., 210. 113 Ebd., 206. 114 Siehe Honold 1992, 75;Oesterle 1993, 38; Leonhardy 1994, 121; Götze 1995, 203; vgl. die grundsätzlichen Prämissen hierfür bei Scherpe 1981, 65. 115 Weiss 1981b, 204. 116 Ebd., 200. 117 Ebd., 202. 118 Ebd. 119 Ebd.
Helmut Peitsch
findet sich zwar in Peter Weiss’ Sammlung 120, wurde aber in keinem der bisher erwähnten Bücher gedruckt,121 von denen die meisten sie überhaupt – also auch ihren letzten Brief oder ihre biographischen Daten – wegen ihres angeblichen Verrats ausgeschlossen haben122 : »Wie oft ist ihr Gesicht scheinheilig geworden, vor einem Monat vor allem, als wir hörten, daß sie uns verraten«123. Wenn der Briefschreiber im folgenden berichtet, wie sich der Schein verändert, bis »ich ihr nichts mehr vor[warf ]«: »und auch kein andrer, glaube ich, verachtete sie, wir verstanden« 124, so wird der Schluss des ›Abschiedsbriefs‹ eingeleitet mit der Erinnerung an Libertas’ Vorlesen aus Luxemburgs Schriften: »mit der Freude dessen, der etwas zum ersten Mal sieht und seine Entdeckung verkündet, und vielleicht hätten wir in ihr eine jener erkennen müssen, für die gilt, daß es Freiheit nicht gebe ohne die Freiheit der anders Denkenden«125. An dieses Gesicht von Libertas schließt der Briefschreiber auf die Gruppe vor der Hinrichtung verallgemeinernd an, was er sieht: »Wenn ich uns so sehe, uns elf des ersten Schubs, in den Zellen der Wirklichkeit, verliert sich die Isolation, in die wir gepfercht worden sind.«126 Die Passage über [die] Hinrichtung127 führt das Thema des Briefs und des Gesichts fort, so dass gegen ihre Interpretation als »halluzinatorische« Beschreibung (die von der Eingrenzung des Abschiedsbriefs auf das Traum/Wachen-Thema ausgeht128) vor allem auf dem Wechsel in der Erzählperspektive zu bestehen ist 129. Mit der Übergabe des Abschiedsbriefs wechselt die Perspektive zunächst zu dem
120 AdK, Bestand Peter Weiss, 3207, Notizbücher/Ästhetik des Widerstands, Personenporträts; vgl. Oesterle 1989, 257, allgemein zu den Figurenporträts »von quasi photographischer Direktheit« auch im dritten Band des Romans, der damit der These von Schulz 1986, 139 widerspricht, der letzte Band verzichte auf ›Bildbeschreibungen‹ und »konzentriert sich [...] auf die Bedingungen der Schrift«.
114
121 Erst in der Ausgabe der Briefe Harro Schulze-Boysens von Coppi / Andresen 2002, zwischen S.220 und 221. 122 Vgl. aber die Ausnahmen, allerdings mit anderen Fotos: Lehmann 1948, 32; Biernat / Kraushaar 1970, 153-155, ein Foto mit Harro zwischen S.112 und 113; Institut für Marxismus-Leninismus 1970, 224-229. 123 Weiss 1981b, 206. 124 Ebd. 125 Ebd., 210. 126 Ebd. 127 Weiss 1981a, 880. 128 So zuerst Lindner 1983, 183. 129 Vgl. dagegen Hofmann 1990, 279, der von einem ›allwissende[n] Erzähler‹ spricht, während Engel 1997, 270, meint: »Die emotional distanzierte Darstellung nimmt dabei die Perspektive Poelchaus ein.«
Heilmann an Unbekannt
Geistlichen Poelchau130, dann mit dem Abholen der Männer nach der Hinrichtung der Frauen wechselt die Perspektive zu dem Aufseher Schwarz131: »Schwarz sah die Hilflosigkeit des Geistlichen.«132 Gegen die autopoetologischen Lesarten der Hinrichtungsszene, die um Empfindungslosigkeit als Voraussetzung von Beschreibungsgenauigkeit kreisen, ist nicht nur auf der Perspektivierung der Wahrnehmungen zu bestehen, die sowohl von Poelchau als auch Schwarz mit Gefühlen und Gedanken gedeutet vermittelt werden, sondern auch auf der Zuordnung des Themas ›Brief‹ zu Poelchau und des Themas ›Gesicht‹ zu Schwarz. Auch der auf der letzten Seite der Szene nochmals erfolgende Wechsel der Perspektive zunächst von Schwarz zu Poelchau133, dann wieder zu Schwarz134 unterstreicht die thematische Zuordnung: Poelchau empfängt nach Heilmanns Erhängung Hans Coppis Grüße an Hilde135, Schwarz blickt auf die Gesichter der Gehängten: »zu erkennen waren sie nicht mehr, nur ihrer Reihenfolge nach hätte Schwarz ihre Namen noch nennen können«136. Die beiden Perspektiven sind nicht die von empfindungslosen Zuschauern, sondern von durch ihren Dienst an der Hinrichtung Beteiligten, die hierauf mit unterschiedlichen Gefühlen und Gedanken als Wahrnehmende reagieren und ihrer jeweiligen Aufmerksamkeit entweder auf die Briefe oder die Gesichter Bedeutung geben. Poelchaus Schuldgefühl, insbesondere wenn er gegen Libertas’ Schreien mit dem Beten nicht nachkommt137, ist auch Scham angesichts seiner Schande138, der vor dem Henker Knieenden »etwas vorzubeten«: »was bin ich für ein Christ, hätte er rufen wollen, daß ich euch hier in eurem Elend lasse, daß ich den Wärter nicht überwältige, daß ich nicht kämpfend an eurer Seite sterbe, doch er beschrieb nur die Geste des Segnens, ging rückwärts hinaus, seine Sprüche murmelnd.«139 Sein Schuldgefühl motiviert ihn, »Heilmann den letzten Wunsch zu erfüllen, auch wenn er sich selber damit in Lebensgefahr brachte«140. In der Unterscheidung derjenigen Briefe, für deren 130 Weiss 1981b, 210. 131 Ebd., 215. 132 Ebd., 216. 133 Ebd., 219. 134 Ebd., 220. 135 Ebd., 219. 136 Ebd., 220. 137 Ebd., 215. 138 Ebd., 214. 139 Ebd., 213. 140 Ebd., 211.
115
Helmut Peitsch
›Schreiben‹ wie »auch zur Einnahme der [letzten] Mahlzeit die Handschellen abgenommen«141 wurden, von dem Heilmanns, dem er auf dem letzten Weg zur Erhängung »noch einmal« sagt, »daß sein Schreiben wohl verwahrt sei bei ihm, und einmal dem, an den es gerichtet sei, zukommen werde« 142, wird dieser Adressat auch zu dem einer eigenen Hoffnung: dass nämlich »seine[...] Handlungen irgendwo noch als eine Art Sühne erkannt werden müßten«143. Auf diese Weise relativiert sich ihm der vom Briefschreiber Heilmann so stark betonte Unterschied zwischen reglementierten und nichtreglementierten letzten Briefen: Die dicht beschriebnen Blätter [Heilmanns] hatte er unter seine Soutane gesteckt, und die Briefe, die, um dem deutschen Sinn für Ordnung bis hinein in die Vernichtung nachzukommen, als letzter Gruß genehmigt worden waren, hatte er gebündelt dem Aufseher übergeben, und auch diese Briefe sprachen von einer Unbeugsamkeit, die sich fremdartig ausnehmen müßte im Bereich der Prüfer und Richter.144 Dieser Aufseher ist Schwarz, in dessen Perspektive Unschuldsbewusstsein als vorweggenommene Rechtfertigung den dienstlichen Blick auf Gesichter lenkt:
116
Er betrachtete die Männer, die nun vor den Zellentüren standen. Ihre Gesichter waren kaum zu erkennen. [...] Sie hatten noch Namen für ihn. Zwar keine Namen, die er als bekannt hätte bezeichnen können, nur Namen, die ihm gestern hingereicht worden waren, auf dem Papierwisch. [...] Nach jedem genannten Namen hatte der Angerufne mit einem Hier zu antworten. Es verlief alles ordnungsgemäß. Würde er einmal Rechenschaft ablegen müssen für seine Handlungen, dann könnte er sagen, daß er ihnen, mit der Nennung der Namen, ihr Leben noch einmal bestätigt hatte. Er hatte sie nicht zum Tode verurteilt. Vielmehr hatte er sich um sie gekümmert, als sie noch am Leben waren [... er zählt verschiedene seiner Tätigkeiten auf ] Er war nicht schuldig [...] an [ihrem] Tod. Er könnte von sich sagen, daß er, mehr als dieser schweigende Pfaffe, den Männern bis zuletzt zur Seite gestanden habe. 145
141 Ebd., 212. 142 Ebd., 214. 143 Ebd., 211. 144 Ebd., 211/212. 145 Ebd., 216/217.
Heilmann an Unbekannt
Für Schwarz löst sich auf der einen Seite ein Name aus den vielen bei der wiederholten »Prozedur des Namenlesens und Antwortens«, auf der anderen Seite werden ihm die vielen Gesichter, auf denen »im starken Licht« der »Hinrichtungsstätte /.../ jede Falte«146 sichtbar geworden war, ähnlich. Coppis Vorname haftet zunächst wegen des Kinds147, dann der Frau – einer der »Köpfe, mit den aufgerißnen gebrochnen Augen, dem blutig klaffenden Mund«148, die Schwarz im Weidenkorb sieht – und schließlich des Familienfests Weihnachten: Er sah sich schon am Heiligen Abend im Kreis der Familie, in Weißensee, in der Langhansstraße hundertdreiundvierzig. Langhans. Das schlug in ihn ein. Der lange Hans. Immer wenn er nun durch die Langhansstraße ginge, würde er an den langen Hans denken müssen. Er starrte hinauf in Coppis Gesicht. Versuchte, sich vorzustellen, wie das war, da zu warten, daß die Gardine sich öffne.149 Wenn in Coppis Fall Schwarz’ Wahrnehmung vom Namen aufs Gesicht geführt wird, als Einfühlung, die sich vorstellt, was er denkt und fühlt, so sind es die Geburtsdaten der – im Unterschied zu den Frauen nicht in der ›Ordnung‹ des Alters – hingerichteten Männer, die den Aufseher Schwarz an den Gesichtern eine positiv gewertete Ähnlichkeit wahrnehmen lassen: Bei den Frauen war die jüngste als erste dran gekommen. Auch Heilmann und Coppi waren die jüngsten. Heilmann war noch nicht einmal volljährig. Doch beim Lesen der Geburtsdaten sah er, daß Schulze der älteste war, geboren Achtzehnhundert Vierundneunzig [...], und der mit dem schwierigen Namen war Neunzehnhundert Neun geboren, und Harnack Neunzehnhundert Eins, niemand mehr hatte sich drum gekümmert, zwischen ihnen zu unterscheiden, sie wurden alle der gleichen Generation zugerechnet, und sie glichen einander auch alle, es waren fertige Gesichter, Gesichter von Menschen, die abgeschlossen hatten mit ihrem Leben, da kam es nicht mehr drauf an, ob sie gegen fünfzig oder gegen vierzig Jahre alt waren, es war dieser sonderbare Ausdruck von Stolz, von Gewißheit, der sie einander so ähnlich machte.150
146 Ebd., 217 passim. 147 Ebd. 148 Ebd., 218. 149 Ebd. 150 Ebd., 218/219.
117
Helmut Peitsch
Die Briefe, die für Poelchaus, und die Gesichter, die für Schwarz’ Wahrnehmung, zusammen mit Namen und Daten, in der Plötzensee-Passage zentral sind, erscheinen wieder, aber in einer anderen Perspektive, auf den anschließenden Seiten 220 bis 239. Aus der Perspektive Lotte Bischoffs wird erzählt, wie sie an einem Septemberabend des Jahres 1944 am Ostrand Berlins in »ihr kleines Heft«151 »dürre Notizen und Daten«152 einträgt, u.a. den 30. August153 und den 22. Dezember 1942154, und dabei »zum ersten Mal« daran »zweifelt«, »ob die Kraft in der Kette noch halten könnte« 155. Das Bild der Kette, das Robert Cohen in seiner Interpretation des ›Kapitels‹ XVII156 als ›Hadeswanderung‹ des »weiblichen Dante«157 Bischoff hervorgehoben hat, ist auch für die Zuordnung von Brief und Gesicht, Namen und Daten bedeutsam. Bischoff erinnert ein Gespräch, geführt mit Ilse Stöbe am Tag von Heilmanns Besuch bei Libertas, über das »Schwachwerden in der Hand des Feinds«, und sie geht über das damalige ›Verständnis‹; »daß einzig die Teilnahme am Kampf entscheidend sei, und daß der Tod [...] ihnen die Niederlage verzeihe«, insofern nun hinaus, als sie »die, die dem Verrat erlegen sind«, ausdrücklich ins Bild der »Kette« einbezieht, »in die auch ihr Leben eingefügt« sei 158. Cohens Deutung: »die Kraft dieser Kette kann sich [...] erst in der Zukunft erweisen. Diese Kraft geht dem Verhalten der Menschen nicht voraus, sondern ist dessen Ergebnis. Sie ist ein Projekt«159, spricht gegen eine Beschränkung des Abschnitts über Bischoffs Septemberabend 1944 auf eine ›Vergegenwärtigung‹ des »Geschehens der vergangenen beiden Jahre in Deutschland (und Schweden) und die Vernichtung all ihrer Mitkämpferinnen und Mitkämpfer«160. Der Abschnitt ist »mit Toten erfüllt«161‚ wie es über die Figur heißt, aus deren Perspektive erzählt wird, mit »Erinnerung«162 an die Gesichter der Toten und ihre Briefe: »Seit jener Nacht, in der sie Ilse verlassen hatte, hatten sich die Leichen rings um sie gehäuft«163,
118
151 Ebd., 223, vgl. ebd., 232. 152 Ebd., 223. 153 Ebd., 228. 154 Ebd., 230. 155 Ebd., 239. 156 Cohen 1989, 24. 157 Cohen 1991, 204. 158 Weiss 1981b, 228. 159 Cohen 1991, 202/203. 160 Cohen 1989, 24. 161 Weiss 1981b, 232. 162 Ebd., 222. 163 Ebd.
Heilmann an Unbekannt
zugleich stellt sie immer wieder die Frage nach der Zukunft der Erinnerung: »Sie wußte, wie schnell das Vergessen immer wieder zusammenschlug über denen, die kämpfend umgekommen waren. So war es den Revolutionären nach dem vorigen Krieg gegangen« 164. Mit der Frage nach der Zukunft der Erinnerung antwortet Bischoff auf ihre »Scham darüber, daß sie [...] überdauern sollte. Die Schatten umgaben sie. [...] Wie sollte sie je ihre Stimme noch erheben können, da sie, die dunkel rings um sie her standen, schweigen mußten.«165 Die Vergegenwärtigung – an zwei Stellen Heilmanns 166 und an drei Stellen Libertas’167 – wird zum Weitertragen, in sich (»einen jeden, der ihr entrissen wurde, trug sie weiter in sich«168) und im kleinen Heft: »so sicherte es ihr doch etwas von ihrer Unvergänglichkeit«169. Hervorgehoben werden sowohl die Briefe als auch die Gesichter als Antwort auf die »Frage«, »ob der Tod zur Gemeinsamkeit gehören könne«170; so heißt es auf der einen Seite zu einem letzten Brief: »bekanntgeworden war [...] der Brief, den Husemann an seinen Vater geschrieben hat, dieser Brief über den Tod als die letzte Bewährungsprobe. Solche Zeugnisse gab es, voll haßerfülltem Stolz, heroischem Idealismus, neben andern Überliefrungen, die von stiller Zurückhaltung sprachen«171. Dieselbe Verbindung von Gemeinsamkeit und Verschiedenheit bestimmt das Bild der am 5. August 1943 Hingerichteten, das sich Bischoff nach Poelchaus Bericht macht: »Wie verschieden voneinander waren sie, die Gesichter noch einige Augenblicke lang dem durchsichtigen Grün des Himmels entgegenhoben, und wie sehr doch im gleichen Geschick verbunden.«172 Wenn es zu Poelchaus Berichten heißt: »So oft hatte sie an die letzten Stunden ihrer Gefährten gedacht, daß sie die Worte des Pfarrers wie eine Bestätigung vernahm, und es ihr war, als sei sie dabeigewesen«173, so wird durch den Vergleich zwischen Plötzensee und Brandenburg deutlich, dass Bischoffs vorstellungsweise Vergegenwärtigung die Berichte keineswegs für überflüssig erklärt, denn sogar die Wahrnehmungsweise des Aufsehers Schwarz wird in
164 Ebd., 222/223. 165 Ebd., 238. 166 Ebd., 224, 227. 167 Ebd., 227, 230, 235. 168 Ebd., 232. 169 Ebd., 223. 170 Ebd., 227. 171 Ebd., 228. 172 Ebd., 233. 173 Ebd., 232.
119
Helmut Peitsch
120
Brandenburg ausgeschlossen; über den verhafteten Bernhard Bästlein heißt es: »Man hatte ihn ins Zuchthaus Brandenburg gebracht, wo es niemanden gab, der, wie in Plötzensee, sich der Gefolterten annehmen und über ihr Sterben berichten konnte, und wo die Henker nicht einmal mehr auf die Verlesung des Todesurteils, sondern nur auf den an die Wand geschmierten Richtspruch hin die nicht mehr Kenntlichen unters Beil warfen.«174 Bischoff trägt nicht nur Notizen und Daten zu den durch Briefe und als Gesichter erinnerten Toten in ihr Heft ein, sondern sie beantwortet die Frage nach der Zukunft der Erinnerung mit Überlegungen zur Nachkriegszeit, wenn sie zum Heft bemerkt: »Vielleicht könnte sie es einmal ergänzen, denn die große Grabplatte mit allen eingemeißelten und vergoldeten Namen würde nicht genügen.«175 Das Ungenügen einer »großen Gedenktafel aus Marmor« »mit goldenen Namen« motiviert Bischoff, Lehrerin werden zu wollen, »um den Schülern zu erklären, wie das damals gewesen war«176. Durch »sachliche Beschreibungen« wolle sie »Voraussetzungen« des Handeln so darlegen, dass »Anteilnahme« entstehe: Sie würde »die Schüler vielleicht dazu anleiten, den Versuch zu unternehmen, sich, in einem Aufsatz, in eine solche Situation hineinzuversetzen«177. Auf diese Weise hofft Bischoff, »ihnen etwas von dem deutlich zu machen, was sich hinter den goldenen Namen verbarg«: »Die Gestalt, das Gesicht, die Taten jedes einzelnen müßten so greifbar hervortreten, daß die Schüler sich die Namen merken konnten.«178 Auch wenn Bischoffs Gedanken die Frage, »was darüber stehn sollte« – »Deutschland«, »eine beßre Welt«179, scheinbar offen lassen, enthalten sie in dem Bild der Totenmaske eines Geköpften die Antwort: das Land hat mit dem Tod derer, die ihm »ein neues Gesicht hätten geben können«180, »sein Haupt verloren«181. Im Notizbuch 45 hatte Weiss für Bischoffs Gedanken formuliert: »dass sie, die jeder eines Lebensbuchs würdig gewesen wäre Namen im Totenbuch«182; im Text des Romans: »Doch was ließ sich aussagen über sie, von denen ein jeder eines ganzen Lebensbuchs würdig
174 Ebd., 238. 175 Ebd., 223. 176 Ebd., 236. 177 Ebd., 237. 178 Ebd., 236. 179 Ebd., 223. 180 Ebd., 239. 181 Ebd., 233. 182 AdK, Bestand Peter Weiss, 2128, Notizbuch 45, 181.
Heilmann an Unbekannt
wäre«183, lässt er den Begriff ›Totenbuch‹ weg. Unter diesem Titel jedoch findet sich ein nicht ausgeführtes Projekt in den Korrespondenzen exilierter SchriftstellerInnen, insbesondere von Anna Seghers; zusammen mit Lion Feuchtwanger schrieb sie am 24.12.1935 an Arnold Zweig: Die Staatsanwälte der deutschen Gerichte schließen im Namen Hitlers bei der Urteilsverkündigung die zu Tode Verurteilten aus der Volksgemeinschaft aus. Ihre Namen sollen so für ewig ausgelöscht werden. Um die Namen dieser Männer und Frauen unseren Mitkämpfern in allen Ländern und vor allem unseren Kindern für immer einzuprägen, haben wir beschlossen, ihr Leben und Sterben in einem Gedenkbuch festzuhalten.184 Seghers gewann nicht nur Zweig, sondern auch Romain Rolland, Jean-Richard Bloch, Upton Sinclair, Leonhard Frank und Heinrich Mann185 für einen »Sammelband mit Porträts von etwa ›40-50 Toten aus Hitler-Deutschland‹«186. An Willi Bredel, von dem sie »Biographien«187 der ersten vier hingerichteten Hamburger Widerstandskämpfer – »über Fiete Schulze, über [Edgar] Andree [sic], über [Rudolf ] Schwarz, über John Scheer«188 – erwartete, schrieb Seghers am 12.5.1936: Ich habe inzwischen, was Dich interessieren wird, die Briefe von Fiete Schulze von seiner Verhaftung bis zu seinem Tod in die Hände bekommen. Die Briefe [...] sind [...] ein Dokument, das etwa den Liebknecht- und Luxemburg-Briefen ebenbürtig ist. Man hat sie mir auch nur zur Verwertung für dieses Totenbuch vertraulich zur Verfügung gestellt. Wir sind gerade eben am Kopieren. So habe ich einige davon ausgesucht, um sie in diesem Totenbuch abzudrucken.189 Das Buch über die antifaschistischen Toten190 scheiterte 1937 an der ›Indolenz‹191 der von Seghers vorgesehenen kommunistischen Autoren.
183 Weiss 1981b, 223. 184 Feuchtwanger / Zweig 1984, 102/103. 185 Zehl-Romero 2000, 495. 186 Stephan 1997, 20. 187 Krenzlin / Schiller 200, 276. 188 Ebd., 282. 189 Ebd., 276. 190 Ebd., 282, so der Rundbrief vom 2.11.1936. 191 Ebd., 282, wie Seghers Bredel schrieb.
121
Helmut Peitsch
1975 ergänzte Seghers für Peter Weiss eine gedruckte Postkarte, die für Glückwünsche zum Geburtstag dankte, um die handschriftliche Zeile: »Besonderen Dank für das Buch.«192
122
192 AdK, Bestand Peter Weiss, 996, Brief Seghers’ an Peter Weiss, o.D.
Heilmann an Unbekannt
Literatur An die Lebenden. Lebensbilder und letzte Briefe deutscher Widerstandskämpfer. Ludwigsburg: o.V. 1961. Barck, Simone Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre. Köln u.a.: Böhlau 2003. Benkard, Ernst (1926) Das ewige Antlitz. Eine Sammlung von Totenmasken. M. e. Geleitw. v. Georg Kolbe. Frankfurt/M.: Societät. Bennholdt-Thomsen, Anke / Heukenkamp, Ursula (1992) Abschiedsbriefe deutscher Soldaten und deutscher Widerstandskämpfer 1939-1945 im Vergleich. In: Weimarer Beiträge 39. Wien: Passagen, S.223-241. »...besonders jetzt tu Deine Pflicht!«. Briefe von Antifaschisten geschrieben vor ihrer Hinrichtung. Red.v. Eva Lippold, Richard Bauerschäfer, Luise Kraushaar, Karl Schirdewan, ferner Harald Poelchau, Friedrich Wolf, Ottomar Geschke, Karl Raddatz. Berlin, Potsdam: VVN 1948. Biernat, Karl Heinz / Kraushaar, Luise (1970) Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im antifaschistischen Kampf. Berlin: Dietz. Bock, Hellmut (Verantw.) (1946) Das heimliche Deutschland. Blätter der Widerstandsbewegung. Zur Jahreskundgebung der Opfer des Faschismus am 22.September 1946 im Lustgarten Berlin. Berlin: Hauptausschuß OdF. Boveri, Margret (1956) Der Verrat im 20. Jahrhundert. Bd.2: Für und gegen die Nation. Das unsichtbare Geschehen. Reinbek: Rowohlt. Coburger, Marlies (1994) Die Frauen der Berliner Roten Kapelle. In: Coppi 1994, S.91-103. Cohen, Robert (1989) Bio-Bibliographisches Handbuch zu Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands«. Hamburg: Argument. Cohen, Robert (1991) »Der Gesang von Plötzensee«. Zur Darstellung des antifaschistischen Widerstands in Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands«. In: Der zweite Weltkrieg und die Exilanten. Eine literarische Antwort. Hrsg. v. Helmut Pfanner. Bonn: Bouvier, S.197-208. Cohen, Robert (1992) Peter Weiss in seiner Zeit. Leben und Werk. Stuttgart, Weimar: Metzler. Coppi, Hans u.a. (Hrsg.) (1994) Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin: Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Coppi, Hans / Andresen, Geertje (Hrsg.) (2002) [zuerst 1999] Dieser Tod paßt zu mir. Harro Schulze-Boysen – Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915 bis 1942. Berlin: Aufbau.
123
Helmut Peitsch
124
Danyel, Jürgen (1994) Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. In: Coppi 1994, S.12-38. Der letzte Brief. Deutsche Opfer des politischen Kampfes 1933-1945 vor ihrer Hinrichtung. Berlin, Leipzig: Volk und Wissen 1949. Engel, Ulrich (1997) Umgrenzte Leere. Zur Praxis einer politischtheologischen Ästhetik im Anschluß an Peter Weiss’ Romantrilogie »Die Ästhetik des Widerstands«. Münster: LIT. Eschmann, Ernst Wilhelm (1962) Von Babylon bis heute. Erdachte Briefe. München: List. Feuchtwanger, Lion / Zweig, Arnold (1984) Briefwechsel 1933-1958. Bd.1.2. Berlin, Weimar: Aufbau. Freiligrath, Ferdinand (1953) Die Todten an die Lebenden. In: Neue Deutsche Literatur 1, H.7, S.135-137. Götze, Karl Heinz (1995) Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands. Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss. Opladen: Westdeutscher Verlag. Gollwitzer, Helmut / Kuhn, Käthe / Schneider, Reinhold (Hrsg.) (1956) [zuerst 1954] Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 19331945. 4.Aufl. München: Kaiser. Griebel, Regina / Stillmark, Alexander (1987) Rote Kapelle. Dokumente aus dem antifaschistischen Widerstand. 2 Platten. Berlin: VEB Deutsche Schallplatten. Hachtmann, Rüdiger (2004) Die Revolution von 1848 – Kulte um die Toten und die Lebenden. In: zeitenblicke 3, Nr.1. Haferkorn, Käthe / Nitzsche, Gerhard / Otto, Hans (1958) Zur Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung 1933-1945. Eine Auswahl aus Materialien, Berichten und Dokumenten. Hrsg.v. MNV. 2.Aufl. Berlin: MNV 1958. Harpprecht, Klaus (2004) Harald Poelchau. Ein Leben im Widerstand. Reinbek: Rowohlt 2004. Hertl, Michael (2002) Totenmasken. Was vom Leben und Sterben bleibt. Stuttgart: Thorbecke. Hofmann, Michael (1990) Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise. Eine Untersuchung zum Kunst- und Literaturverständnis in Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands«. Bonn: Bouvier. Honold, Alexander (1992) Trümmer und Allegorie. Konstruktion historischer Bedeutung bei Walter Benjamin und Peter Weiss. In: Peter Weiss Jahrbuch 1. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.59-85. Institut für Marxismus-Leninismus (1970): Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945. Biographien und Briefe. Bd.1.2. Berlin: Dietz.
Heilmann an Unbekannt
Jameson, Fredric (2003) Foreword: A Monument to Radical Instants. In: Peter Weiss: The Aesthetics of Resistance. Vol.1. Trans. Joachim Neugroschel. Durham, London: Duke UP, S.VII-XLIX. Kamnitzer, Heinz (Rez.) (1958) Erkämpft das Menschenrecht. In: Neue Deutsche Literatur 6, H.12, S.74-79. Krenzlin, Leonore / Schiller, Dieter (2002) Anna Seghers: Briefwechsel mit Moskau 1933-1945. In: Argonautenschiff 11, S.261-302. Lehmann, Klaus (1948) Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack. Männer und Frauen des illegalen antifaschistischen Kampfes. Berlin, Potsdam: VVN 1948. (=Widerstand im Dritten Reich. 1.) Leonhardy, Ernst (1994) Das Sterben der Mutter und Heilmanns Abschiedsbrief. In: Peter Weiss – Neue Fragen und alte Texte. Hrsg. v. Irene Heidelberger-Leonhard. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.111-123. Lindner, Burkhardt (1983) Halluzinatorischer Realismus. »Die Ästhetik des Widerstands«, die »Notizbücher« und die Todeszonen der Kunst. In: Die Ästhetik des Widerstands. Hrsg. v. Alexander Stephan. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.164-204. Loureiro-Weiler, Katja (1993) »Heilmann an Unbekannt«. In: Widerstand wahrnehmen. Dokumente eines Dialogs mit Peter Weiss. Hrsg. v. Jens-Fietje Dwars, Dieter Strützel, Mathias Mieth. Köln: GNN, S.152-160. Maser, Werner / Poelchau, Harald (1982) Pfarrer am Schafott der Nazis. Rastatt: Moewig. Oesterle, Kurt (1989) Das mythische Muster. Untersuchungen zu Peter Weiss’ Gründung einer »Ästhetik des Widerstands«. Phil. Diss. Tübingen. Oesterle, Kurt (1993) Tübingen, Paris, Plötzensee ... Peter Weiss’ europäische Topographie des Widerstands, der Selbstbefreiung und des Todes. In: Peter Weiss Jahrbuch 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.21-40. Paul, Elfriede (1982) Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle. Berlin: Militärverlag der DDR. Picard, Max ( 1959) Das letzte Antlitz. Totenmasken von Shakespeare bis Nietzsche. München: Knorr und Hirth. Poelchau, Harald (1947) Die letzten Stunden. In: Unser Appell 1, Nr.8/9, S.5/6. Poelchau, Harald / Stenbock-Fermor, Alexander (1949a) Von Henkern und Henkersknechten. In: Aufbau 5, H.1, S.28-31. Poelchau, Harald (1949b) Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers aufgez. v. Alexander Stenbock-Fermor. Berlin: Volk und Welt.
125
Helmut Peitsch
126
Poelchau, Harald (1963) Die Ordnung der Bedrängten. Autobiographisches und Zeitgeschichtliches seit den zwanziger Jahren. Berlin: Käthe Vogt. Rausch, Helke (2004) Kultdissens und umstrittene »Nation«: Der Totenkult um die Kommunarden von Paris aus vergleichender Perspektive. In: zeitenblicke 3, Nr.1. Reck-Malleczewen, Friedrich Percyval (1949) Der letzte Brief. Neue Aufl. Frankfurt/M.: Lutzeyer. Roloff, Stefan / Vigl, Mario (2004) [zuerst 2002] Die Rote Kapelle. Die Widerstandsgruppe im Dritten Reich und die Geschichte Helmut Roloffs. München. Scheel, Heinrich (1994) Die Rote Kapelle – Widerstand, Verfolgung, Haft. In: Coppi 1994, S.39-53. Scherpe, Klaus R (1981) Kampf gegen die Selbstaufgabe. Ästhetischer Widerstand und künstlerische Authentizität in Peter Weiss’ Roman.- In: Karl-Heinz Götze, ders. (Hrsg.): Die »Ästhetik des Widerstands« lesen. Über Peter Weiss. Berlin: Argument, S.5773. Schmidt, Walter A. (1958) Damit Deutschland lebe. Ein Quellenwerk über den deutschen antifaschistischen Widerstandskampf 19331945. Berlin: Kongreß. Schmölders Claudia (1993) Das Gesicht der Toten. Eine Erinnerung.In: Kursbuch, H.114, S.19-32. Schnabel, Anja (2005) Stillgestellte Todes-Augenblicke bei Peter Weiss. In: Peter Weiss Jahrbuch 14. St. Ingbert: Röhrig, S.123-137. Schulz, Genia (1986) »Die Ästhetik des Widerstands«. Versionen des Indirekten in Peter Weiss’ Roman. Stuttgart: Metzler. Schumann, Heinz / Werner, Gerda (1958) Erkämpft das Menschenrecht. Lebensberichte und letzte Briefe antifaschistischer Widerstandskämpfer. Berlin: Dietz. Schumann, Heinz / Werner, Gerda (Hrsg.) (1959) An die Lebenden. Letzte Briefe deutscher Widerstandskämpfer. Leipzig: Reclam. Soden, Kristine von (Hrsg.) (1995) Rosa Luxemburg. Berlin: Elefanten Press. Steinbach, Peter (1994) Die Rote Kapelle 50 Jahre danach. In: Coppi 1994, S.54-67. Stenbock-Fermor, Alexander (1973) Der rote Graf. Autobiographie. M. e. Epilog v. Joachim Barckhausen.- Berlin: Verlag der Nation. Stephan, Alexander (1997) Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin: Aufbau. Voigtländer, Annie (1949) Die letzten Stunden. In: Aufbau 5 (1949) H.11, S.1049/1050.
Thomas Schmidt Begrenzung und Ausschnitt. Zur Problematisierung der Wahrnehmung in Peter Weiss‘ Der Schatten des Körpers des Kutschers und ausgewählten Texten des Nouveau Roman
Vorbemerkungen Über Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers ist viel geschrieben worden. Obwohl die einzelnen Interpretationen durch die individuelle Wahl des Analyseschwerpunktes oft weit auseinander liegen, scheinen sich einige Motive des ›Mikroromans‹ in allen Besprechungen zu finden. Zu ihnen gehören, neben der Problematisierung von Handlung und Geschichte, die Rolle von Sprache und Kommunikation sowie die Sicht eines Erzählers, dessen Aufzeichnungen, wie Christine Ivanovic schreibt, als eine Reflexion auf das Sehen selbst und die Möglichkeiten seiner sprachlichen Vermittlung1 gedeutet werden können. Scheint es zunächst so, als könnten diese disparaten Untersuchungsgegenstände jeweils unabhängige Teilbereiche des Textes darstellen, soll die folgende Analyse zeigen, wie sehr sie sich in einem zusammenhängenden Ganzen verschränken. Diese Verschränkung hat ihren Ort in der individuellen Wahrnehmung eines Subjektes, die zum ausschlaggebenden Faktor einer individuellen Weltbeschreibung wird. Die Wahrnehmung ist dabei nicht nur die Grundlage eines Schreibaktes, sondern gleichzeitig 1
Ivanovic 1999, 36.
127
Thomas Schmidt
auch die Grundlage einer Weltvermittlung, wie sie von den folgenden Bemerkungen nachgezeichnet werden soll. Auch die Texte des Nouveau Roman befassen sich intensiv mit der Frage, inwiefern die Wahrnehmung eines Subjekts bereits Konstruktion und Vermittlung ist. Immer wieder wird auf die Konstitution einer Realität durch den Akt des Sehens hingewiesen. Die formalen Besonderheiten dieser Texte lassen sich teilweise auch im Roman von Peter Weiss entdecken und entsprechend vergleichen. Als Begrenzungen des Blicks sichtbar, enthalten sie Absagen an traditionelle Erzählkategorien, die zugleich die Subjektivität des Sehens thematisieren und damit erneut Welterfassung sichtbar machen. Das Phänomen des Nouveau Roman, dessen Höhepunkt in den 1950er bis 70er Jahren in der literarischen Landschaft Frankreichs zu suchen ist, ebenso wie die Texte Peter Weiss’, sollen mit Blick auf diese Duplizität von Sicht und Sichtbarmachung der Sicht und deren Begrenzungen betrachtet werden, die insofern von besonderem Interesse sind, als sich in ihnen eine Erfahrung spiegelt, die Wirklichkeit als immer schon vermittelt betrachtet und den fiktionalen Text als Ort solcher Vermittlung ausweist.
1. Der Schatten des Körpers des Kutschers
128
Dinge genau so zu beschreiben, wie sie sind. Das Gewöhnliche, Alltägliche, Abgegriffene. Ihnen keine andere Bedeutung zumessen als die ihnen eigene. Nichts Überhöhtes, nichts Fremdes, Überraschendes.2 Eines der auffälligsten Merkmale des Kutschers ist die Fülle an detaillierten Beschreibungen. Von Beginn an sieht sich der Leser einer Romanwelt gegenüber, die ihm minutiös und kleinteilig aufgedeckt wird. Die Instanz, die diese Welt für einen rezipierenden Blick öffnet, ist ein sprechendes Ich, das sich dadurch auszeichnet, Erzähler und Hauptfigur in einer Person zu sein3. Darüber hinaus aber ist das Erzähler-Ich auch noch ein Autor und zwar der Autor seiner eigenen Geschichte. Dieser Umstand wird gleich zu Beginn des Textes thematisch – Die Niederschrift meiner Beobachtungen hat mich davon abgehalten, die Hose hinaufzuziehen und zuzuknöpfen4 – und wird im Verlauf der Geschichte immer wieder zum Gegenstand der Erzählung. Die Verschmelzung der drei Erzählinstanzen hat weitreichende Folgen. Zum einen hat 2
Weiss 1982, Bd. 1, 42.
3
Gérard Genette bezeichnet dieses Erzählertypus als ›autodiegetisch‹, Vgl. Genette 1998, 176.
4
Weiss 1965, 9. Abgekürzt mit »Kutscher«.
Begrenzung und Ausschnitt
jede Beschreibung und damit auch jedes in den Blick der Betrachtung rückende Element der Romanwelt nicht nur den Weg durch die Wahrnehmung des Subjekts (das Ich), sondern auch durch die schreibende Hand des Erzählers/Autors nehmen müssen. Damit bündeln sich die Instanzen der Weltvermittlung in einer Figur. Während es in einer heterodiegetischen Erzählung, welche die Trennung von Erzähler und Figur aufrecht erhält, zu Verschiebungen innerhalb dieser Vermittlung kommen kann (eine Figur wertet das Geschehen anders als eine andere), überlagern sich diese Ebenen im Kutscher, was dazu führt, dass die Sicht des Lesers auf die Welt der Erzählung immer an die subjektive Sicht des Ichs/Autors gekoppelt ist. Ausschlaggebend dafür ist die perspektivische Gestaltung des Textes in Form eines autonomen inneren Monologs,5 der sich durch eine unmittelbare Darstellung des Geschehens auszeichnet (der Leser ›sieht‹ direkt ins Bewusstsein des Sprechenden). Matias Martinez und Martin Scheffel verstehen unter dem Begriff ›Unmittelbarkeit‹, dass die Distanz zum erzählten Geschehen vollkommen reduziert und jede Vermittlungsinstanz ausgeschaltet zu sein [scheint]:6 Die Figuren kommen hier scheinbar ungefiltert zu Wort,7 und der Abstand zum Geschehen ist gering. So lässt sich sagen, dass das Sprechen im Kutscher sich selbst präsentiert und ohne die Vermittlung einer narrativen Instanz8 auskommt: Durch die halboffene Tür sehe ich den lehmigen, aufgestampften Weg […]. (Kutscher, 7) Mit dem ›Ausschalten‹ des Erzählers verbleibt der Leser vollkommen im Blick des erzählenden Ichs, ohne dass eine Regulierung der Information durch eine andere Figur erfolgen könnte. Dass diese Regulierung auch als Begrenzung erlebt werden kann, soll im Verlauf dieser Analyse geklärt werden. Fakt ist, dass der Leser die Welt nur mit den Augen des Autor-Ichs sieht.9 Gerade aber die weitere Gestaltung dieses Sehens deutet auf einen Punkt, welcher der modalen Anlage des Textes zu widersprechen scheint. Denn die unmittelbare Welterfahrung durch das Ich ist, so
129 5
Vgl. Martinez / Scheffel 2005, 61f. Hier wird ein »autonomer innerer Monolog« als eine, in direkter Rede wiedergegebene »Darstellungsform des dramatischen Modus« definiert, der »jegliche Mittelbarkeit nicht nur phasenweise, sondern durchgängig fehlt [...].«
6
Ebd., 51.
7
Ebd.
8
Genette 1998, 124.
9
Diesen Aspekt der Erzählung fasst Genette unter dem Begriff ›Fokalisierung‹. Im Kutscher liegt die ›extreme‹ Form der internen Fokalisierung vor (der Erzähler kann nicht mehr sagen, als die Figur weiß): »Restlos verwirklicht wird die interne Fokalisierung nur im ›inneren Monolog‹ und – eine Extremfall – in La jalousie von Robbe-Grillet, wo die zentrale Figur absolut auf ihre fokale Position reduziert wird [...].« (Genette 1998, 136.)
Thomas Schmidt
130
auch Adam Soboczynski, oftmals beengt, eingeschränkt10, sie ist durch und durch verfasst. Hat der Leser die Möglichkeit, distanzlos auf eine Romanwelt zu blicken, wird er auf andere Weise von dieser Welt entfernt. Die Aufzeichnungen des Ichs sind verzerrt und subjektiv gefärbt und verweisen letztlich auf die Konstruktion einer Wirklichkeit, die als eine bestimmte Sichtweise auf die Welt und nicht als eine a priori gegebene Realität erlebt werden soll. Das wird besonders dadurch deutlich, dass diese Sehweise des Subjekts im Verlauf des Textes immer deutlicher zutage tritt und sich schließlich als ein Ausschnitt der zu erfahrenden Welt erweist. Zunächst ist die Wahrnehmung des Ichs räumlich fixiert. Sein Blick umfasst den Hof des Hauses samt einigen Zimmern im Inneren. Es scheint in der Folge seiner Beschreibungen konkret an diesen Ort gebunden und pendelt zwischen den Räumen des Hauses umher. Allerdings ist es dabei nicht umfassend in der Lage, das gesamte Haus deskriptiv einzufangen. Auch wenn es die Küche samt Diele, das Zimmer der Haushälterin, der Familie, des Doktors, sein eigenes Zimmer sowie den Innenhof des Hauses mit seinen Blicken zu vermessen scheint, sind diese detaillierten Bezüge nur selektiv; wir erfahren nichts über das Zimmer Schnees, des Hauptmanns, des Hauswirts und des Schneiders. Einige Räume verharren damit als blinde Flecken in den Aufzeichnungen, während der Blick des Protagonisten nur ein ganz bestimmtes Raumverhältnis nachzeichnet. Gleichzeitig sind die einzelnen Beschreibungsblöcke (sie sind durch Leerzeilen im Text voneinander getrennt) aber auch in ihren zeitlichen Ausdehnungen eng bemessen. Die Geschichte umfasst dabei drei Tage11 und wird auf eine Erzählung verteilt, die sich über sechs Tage erstreckt. Das Ich bezeichnet die Dauer seines Schreibens beinahe akribisch, indem es mit der Verzeichnung des letzten Tags der Geschichte auch den Zeitpunkt der Erzählung benennt: Der Augenblick, in dem der Fuhrmann die Zügel straffte und mit trommelndem Zungenlaut das Pferd zum Halten mahnte, liegt drei Tage und drei Nächte zurück, […]. (Kutscher, 92) Ebenso gering wie die gesamte Länge der Geschichte (drei Tage) sind dabei die zeitlichen Ausschnitte, die beschrieben werden. Jede der elf Szenen umfasst nur einen geringen Teil erzählter Zeit. Auch wenn die zeitliche Erstreckung der Ereignisse nie explizit benannt wird, nehmen sie doch nur eine punktuelle Stellung im Tagesablauf des Ichs ein (Frühstück, Abendessen etc.). Trotz dieses Ausschnittcharakters der Beschreibungen und ihrer geringen zeitlichen Entfaltung wer10
Soboczynski 1999, 69.
11
1. Tag (S.8-47): Abortszene, Abendessen, Streit der Familie. 2. Tag (S.4756): der Arbeitstag des Sohnes. 3. Tag (S.56-100): Morgen nach dem Arbeitstag, Frühstück, Abendessen, Ankunft des Kutschers.
Begrenzung und Ausschnitt
den sie auf bis zu zwanzig Seiten des Textes ausgearbeitet. So stellt besonders der Abend im Zimmer der Haushälterin (Kutscher, 6787) ein augenfälliges Beispiel für dieses Verhältnis dar. Obwohl die Ereignisse, von denen berichtet wird, nicht länger als eine Stunde gedauert haben können (die Hektik der sich zum Ende der Szene beschleunigenden Ereignisse wird durch die elliptische Sprechweise des Erzählers noch unterstrichen, der, in der Kürze der Zeit, so wenig Information wie möglich verlieren möchte und das Geschehen simultan zu schildern versucht), umfassen sie gut ein Fünftel der gesamten Textlänge. Im Text steht also einem kleinen Teil erzählter Zeit ein großer Umfang an Erzählzeit gegenüber; der Blick des Erzählers ›verharrt‹ im Akt der Beschreibung auf bestimmten Objekten und verlängert damit die Dauer der Erzählung. So weicht im Kutscher die zeitliche Entfaltung der Geschichte einer intensiv bearbeiteten Wirklichkeitswahrnehmung, die durch ein Übermaß an beschreibender Information das Geschehen streckt. Neben diesen räumlichen und zeitlichen Einschränkungen (Soboczynski sieht sie unter anderem dadurch symbolisiert, dass Die Tür des Abtritts am Anfang des Textes nur halb geöffnet [ist] und der Blick durchs Schlüsselloch ins Familienzimmer12 ebenfalls behindert wird), lässt sich die Sicht des Protagonisten noch in anderer Hinsicht als eingeengt charakterisieren, denn seine festgehaltenen Wahrnehmungen sind allesamt äußerlich und bleiben an die Oberflächen der Dinge geheftet. Die mikroskopisch genaue Wiedergabe der Räume 13 verdeutlicht dies ebenso wie die Beschreibungen der Hausbewohner. Der Erzähler stellt sie weniger als lebendige Personen dar (was sich bis zur typisierenden Namensgebung auswirkt), als dass er sie in die Dingwelt der Räume einordnet. Er beschreibt die Mund- und Kaubewegungen der einzelnen Personen – die Münder öffnen sich, der Mund der Haushälterin wie zu einem saugenden Kuß, […], der Mund des Hauptmanns vorsichtig am künstlichen Gebiß manövrierend, Schnees Mund […] (Kutscher, 25f.) – ebenso genau wie das Auf und Ab der Hände beim Löffeln der Speisen. So erscheint es, als entfielen diese Teile dem körperlichen Zusammenhang, weil die Intensität der Beschreibung nur ihnen und nicht der gesamten Erscheinung des jeweiligen Menschen gewidmet ist. Man könnte also sagen, dass der Blick des Ichs fast klinisch agiert und in der Fokussierung des Gegebenen nur die Einzelheiten eines zu betrachtenden Ganzen erkennen kann: Die 12
Sobocynski 1999, 69.
13
Bspw. das Zimmer des Doktors: »[...], wobei man dann, das Fenster links neben sich, an einem kleinen, hohen, runden, mit Pinzetten, Messern, Nadeln, Gläsern, Flaschen, Näpfen und Schachteln angefüllten Tisch vorüberkommt an den sich unmittelbar [...].« (Kutscher, 62)
131
Thomas Schmidt
132
menschlichen Körper entpuppen sich als zerstückelte, deformierte Fragmente.14 Auch hier erweist sich die Wahrnehmung des Subjekts als eingeengt, der Zugriff auf eine umfassende Welterfahrung bleibt aus. Denn wenn das Sehen des Ichs das Äußerliche bevorzugt, vernachlässigt es das Innere der Figuren. Es kümmert sich wenig um Zusammenhänge, um motivierende Ursachen oder psychologische Beweggründe, die das Geschehen aus einer anderen Perspektive fassen würden. Auf das Visuelle beschränkt (Bewegungsabläufe, Positionsgefüge zu Tisch und im Raum) blendet die Wahrnehmung des Protagonisten vieles aus und macht sich damit als selektive Welterkenntnis deutlich. Das Nichtgenannte trägt dabei einerseits zur Irritation des Lesers bei wie es andererseits nur durch eine Inversion aus dem Text entschlüsselt werden kann. So vermeidet das Ich jeglichen Kommentar, der auf das Innenleben einer Figur schließen ließe. Selbst dort, wo eine Bedeutung selbst für den unbeteiligsten Beobachter auf der Hand zu liegen scheint (die Gewalt des Vaters gegen den Sohn, Macht, Hierarchie und Strafe innerhalb der Familie; die tragische Erkrankung des Arztes) übergeht das Ich jegliche Interpretation und haftet an den (ver-)dinglich(t)en Oberflächen, die, statt einer psychologisierenden Figurencharakterisierung oder einer klar erkennbaren Handlung, gerade die Dinge und die ihrem Wesen nach dinghaften Vorgänge in den Vordergrund rücken. Der Mensch fügt sich deshalb so gut in diese Dingwelt ein, weil die subjektiven Beschreibungen des Ichs etwas ausblenden, was für den Roman und fiktionale Texte an sich wesentlich ist: die Möglichkeit einer erzählenden Figur, das Bewusstsein einer anderen Figur zu schildern.15 Das Ich im Kutscher ergreift aber nie die Möglichkeit, ein anderes Individuum als aus Körper und Geist bestehende Persönlichkeit zu begreifen, denn das würde bedeuten, über das individuelle Denken der Personen (Haushälterin, Arzt etc.) und die Gründe, die ihr Handeln motivieren (warum schlägt der Vater den Sohn), zu spekulieren oder nachzudenken. Gerade diesem Weg der Welterfassung entzieht sich der Protagonist. Er verweigert sich dem Geschehen aber auch durch die Ablehnung einer Deutung des Erlebten und verbleibt die meiste Zeit in einer passiven Beobachterposition, die auch durch die fast vollständige Kommunikationsverweigerung unterstrichen wird (denn einerseits sind die Aufzeichnungen des Ichs detailliert und eloquent und lassen auf das Beherrschen der Sprache schließen, andererseits aber scheint er die Bewohner des Hauses nur ansatzweise zu ver14
Sobocynski 1999,70.
15
Vgl. Martinez / Scheffel 2005, 64.
Begrenzung und Ausschnitt
stehen). An keiner Stelle des Kutschers werden die Ereignisse einer Interpretation unterzogen, sie erscheinen zunächst nur als das, was sie sind. Christine Ivanovic bezeichnet dieses narrative Verfahren als einen Rückzug in die Äußerlichkeit,16 und tatsächlich determiniert die deskriptive Praxis den gesamten Roman, wird aber an einer bestimmten Stelle brüchig. Denn die Beschreibung versagt immer dort, wo das Ich auf sich selbst stößt: […] die Hand des Hausknechts fleckig von Dung und Lehm, die Hand des Schneiders, dürr, pergamenten, meine eigene Hand, meine eigene Hand, und dann keine Hand, […] (Kutscher, 24f.). Ist das Ich in der Lage, den Händen der Bewohner individuelle Attribute zuzuschreiben, verstummt es immer dann, wenn es sich selbst zum Objekt der eigenen Wahrnehmung macht. Dann bleiben die Merkmale plötzlich aus oder hinterlassen eine indifferente Hülle, die die Hülle des Anonymen ist. 17 Auch wenn er im Laufe des Berichts die eigene Tätigkeit näher zu charakterisieren versucht, die neben den alltäglichen Handhabungen des An- und Auskleidens, des Waschens, des Zubettgehens und Aufstehens, und den Versuchen des Schreibens vor allem aus einem Erdenken von Bildern (Kutscher, 17f.) besteht, besitzt das Ich weder Geschichte noch Erinnerung. Es versucht, sich selbst zu verschweigen und sich dabei ganz in den anonymen, eng begrenzten Blick der Erzählung zu verwandeln, der nur das wiedergibt, was das Ich gewillt ist zu schildern, dabei aber das unterschlägt, was gleichermaßen in der Wirklichkeit des Romans existiert: der andere Raum, das Denken der anderen Figuren, der Schmerz der anderen usw.. Die Beschreibungen betreffen also lediglich Wirklichkeitsausschnitte, sie berichten von einem Geschehen, das sich kaum schlüssig rekonstruieren lässt, und ihr Bericht stammt von einem Anonymen.
2. Alain Robbe-Grillet und Peter Weiss / der Nouveau Roman Alain Robbe-Grillet proklamierte 1957: Der Roman mit Helden gehört der Vergangenheit an, er kennzeichnet eine Epoche: jene,
16
Ivanovic 1999, 43.
17
Nur der Doktor bezeichnet das namenlose Ich als ›der Kranke‹: »Ich stützte ihn am Arm, [...] leitete ihn aus meinem Zimmer heraus, [...], auf die Tür zu, und auf diesem Weg sang er weiter, wohin, wohin leitet er mich, der Kranke, mich den Arzt, wohin, [...].« (Kutscher, 60)
133
Thomas Schmidt
134
die das Individuum auf dem Höhepunkt seiner Macht sah18 und berührte damit einen Aspekt, der sich bei vielen Autoren des Nouveau Roman finden lässt.19 Der überholte Held gehört einer literarischen Tradition an, die Robbe-Grillet im 19. Jahrhundert verortet: Die einzige heute noch gültige Romankonzeption ist im Grunde die Balzacs. (Argumente, 15). Denn ein im Sinne Balzacs konzipierter Akteur ist nicht ein beliebiger, anonymer, gestaltloser ‚Er’, bloßes Subjekt der durch das Verb ausgedrückten Handlung. Ein Held muß einen Namen haben, wenn möglich einen doppelten, einen Vor- und Zunamen. Er muß Verwandte haben sowie Erbanlagen, und er muß einen Beruf ausüben. Wenn er Besitz hat, umso besser. Schließlich muß er einen ›Charakter‹ besitzen, ein Gesicht, das diesen widerspiegelt, eine Vergangenheit, die den einen und das andere geformt hat. (Argumente, 27) In einer Art Gegenbewegung vollziehen demgegenüber die ›Helden‹ Robbe-Grillets eine Kehrtwende. In seinem ersten Roman Ein Tag zu viel (Les Gommes, 1953) löscht er die Identität und Geschichte des Detektivs Wallas, indem er jede persönliche Erinnerung des Protagonisten vernachlässigt und ihn ausschließlich im Hier und Jetzt der Romanwelt situiert. Wallas einzige Funktion in dieser Welt ist die ›Re-Konstruktion‹ eines Mordes. Dabei bleibt sein Denken, seine Psychologie völlig ausgeblendet, es gibt keine Introspektion, die den Leser ›in‹ die Figur schauen ließe. Diese Absage an eine traditionelle Charakterisierung wird noch durch die äußere Erscheinung des Detektivs verstärkt, der in der Folge des Romans dem eigentlichen Mörder immer mehr angeglichen wird, bis beide Figuren miteinander verschwimmen und dadurch, wie Horst Dieter Hayer schreibt, die Identität einzelner Figuren aufgehoben [wird], die nicht mehr als individuelle Charaktere, sondern als optisch erfasste Komponenten bestimmter Bewegungssysteme fungieren.20 Die nächsten Romane Robbe-Grillets radikalisieren diesen Ansatz. Besonders Die Jalousie oder die Eifersucht (La Jalousie, 1957) lässt den Helden soweit hinter seiner Erzählung verschwinden, dass er sich nur noch als Blick zu erkennen gibt und selbst auf das Rudiment eines ihn selbst bezeichnen-
18
Robbe-Grillet 1965, 29. Abgekürzt mit ›Argumente‹. Robbe-Grillet macht zwar immer wieder deutlich, dass er seine ›Argumente‹ nicht als das Manifest einer Schule begriffen wissen will, aber viele Merkmale die er in seiner Theorie erläutert, lassen sich auch bei anderen Nouveau Romanciers finden. Aus diesem Grund werden seine Essays in die Untersuchung mit einbezogen.
19
Ich richte mich im Folgenden nach der Kanonisierung Brigitta CoenenMennemeiers, die die wichtigsten Vertreter der Richtung in ihrer Monografie Nouveau Roman (Coenen-Mennemeier 1996) untersucht.
20
Hayer 1975, 179
Begrenzung und Ausschnitt
den Personalpronomens verzichten kann. 21 Diese Blickwerdung des Helden reduziert seinen Charakter auf eine Leerstelle. Dass aber nicht nur die Persönlichkeit des Helden im Unbestimmten verschwimmt, sondern der generelle Zugriff auf die Psychologie der Romanfiguren ausbleiben kann, zeigt auch Claude Simons Roman Das Gras (L’Herbe, 1958). Der Hauptfigur Louise wird von einer im Sterben liegenden Schwester ihres ehemaligen Ehemanns ein Kästchen vermacht, das neben einigen Habseligkeiten auch eine Reihe Notizbücher enthält. Nimmt der Leser an dieser Stelle des Romans an, dass sich durch den Blick in die Aufzeichnungen der alten Frau auch ihre bis dahin im Unbestimmten verbliebene Persönlichkeit klärt, wird er schnell enttäuscht, weil die Notizbücher keine traditionelle Lebensgeschichte enthalten. Louise findet eine über dreißig Jahre geführte Auflistung von finanziellen Ausgaben und Einnahmen vor, die das Denken und Fühlen des Menschen vollkommen ausklammern: die belanglosen Ereignisse (und nicht einmal Ereignisse: Fakten, Vorgänge – und nicht einmal Vorgänge: Alltägliches, was sich gerade zuträgt – und nicht einmal Belangloses, sondern Nichtiges, völlig Unbedeutendes) tauchten aus der Zeit, aus der Vergangenheit empor [...] und ihre Bedeutungslosigkeit, ihre Winzigkeit stand in gar keinem Verhältnis zu dem Rahmen, in dem sie erschienen […].22 Versperrt erscheint der Zugriff auf das Leben des Menschen selbst dort, wo sich ein Blick in sein Inneres abzuzeichnen beginnt. Zwar verrät die eigenwillige Form der Aufzeichnungen einiges über die Person der Schwester, die nur als Leerstelle im Text erscheint und über sich selbst nur Oberflächliches zu berichten weiß, aber dem traditionellen Charakter einer Figur scheint hier die Gestaltlosigkeit eines Individuums gegenübergestellt zu werden. Simon demonstriert das Verlöschen einer individuellen Persönlichkeit in der Bedeutungsarmut alltäglicher Handhabungen, die keine Kriterien für die Beschreibung eines einzigartigen Subjekts mehr darstellen können. Das Misstrauen den individuellen Romanfiguren gegenüber speist sich aus der Sorge der Nouveau Romanciers vor der Ein21
Seine Anwesenheit wird letztlich nur durch Objektkonstellationen verraten: »A... hat selbst die Getränke geholt, Mineralwasser und Kognak. Sie setzt ein schweres Tablett mit den beiden Flaschen und drei großen Gläsern auf dem Tisch ab.« (Robbe-Grillet 2002, 23) Die folgende Textstelle berichtet von zwei Personen, A... und Franck, das dritte Glas hingegen lässt auf den Erzähler schließen, der die Szene nur deshalb so genau beschreiben kann, weil er selbst anwesend ist.
22
Simon 1985, 128.
135
Thomas Schmidt
fühlung des Lesers in die fiktiven Figuren und die Romanwelt. Sie bezweifeln ein tradiertes Mimesiskonzept und negieren jede Wirklichkeitssuggestion sowie eine daran anschließende Ineinssetzung von Roman und Leben. Dennoch verschwindet nicht der Mensch im Nouveau Roman, wie oftmals von Seiten der Kritik behauptet wurde: Da in unseren Büchern keine ‚Personen’ im herkömmlichen Sinn vorkommen, hat man daraus ein wenig voreilig geschlossen, man treffe darin überhaupt keine Menschen an. Das hieße jedoch, sie aber sehr schlecht zu lesen. Der Mensch ist darin auf jeder Seite, in jeder Zeile, in jedem Wort gegenwärtig. Selbst wenn man sehr viele Gegenstände darin findet, die mit strenger Genauigkeit beschrieben sind, so ist es doch immer und zuerst der Blick, der sie sieht, […]. (Argumente, 85)
136
Tatsächlich ist es der Blick eines Menschen, der dem Leser zuerst begegnet und das Geschehen des Romans an das Sprechen des wahrnehmenden Subjekts bindet. Auch in Robbe-Grillets Die Jalousie oder die Eifersucht ist der Rezipient, wie bereits für Weiss’ Kutscher beschrieben, immer und zuerst an die Aussagen eines anonymen Subjekts gebunden, das die exakte Beschreibung der Außenwelt vorgibt und schließlich die Ordnung der abgebildeten Wirklichkeit und der im Roman überhaupt erscheinenden Welt prägt.23 Auch hier sind die Beschreibungen veräußert, vor allem durch die Privilegierung sichtbarer Oberflächen charakterisiert24 und dabei der wesentlichste Bestandteil der Romanwirklichkeit. Die Betonung der Deskription vor der Narration wird im Nouveau Roman ebenso deutlich wie in Peter Weiss’ Schreibweise. Wurde zu Beginn festgestellt, dass die Beschreibungen dem Blick des Ichs unterworfen sind, der im Hier und Jetzt der Romanwelt existiert und einer Einengung des Sichtfelds unterliegt (raum-zeitliche Grenzen, perspektivische Verzerrungen), kann nun festgestellt werden, dass sich diese Einengung bis in die Struktur der Erzählung fortsetzt. Die Abfolge der szenischen Ausschnitte vermittelt hier nämlich weniger eine narrative Handlung, als dass sie eine Folge von Momentaufnahmen darstellt. In diesem Sinn stellt Mireille Tabah mit Bezug auf den Kutscher fest: Wahrgenommen werden immer nur einzelne, kleine Realitätsfragmente, die sich nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen,25 und Christine Ivanovic ergänzt: Der Inhalt des Kutschers lässt sich nur als Folge einzelner szenisch gestalteter Bilder erfassen; 23
Esselborn 1992, 30.
24
Coenen-Mennemeier 1996, 26.
25
Tabah 1994, 41.
Begrenzung und Ausschnitt
er bildet keine kontinuierlich ablaufende Geschichte.26 Gerade aber die Geschichte ist ein traditionelles Merkmal des Romans und aus diesem Grund zieht sie auch Robbe-Grillet in seine Betrachtungen ein: Ein Roman ist für die meisten Leser – und Kritiker – vor allem eine ›Geschichte‹. Ein echter Romancier ist jener, der es versteht, ›eine Geschichte zu erzählen‹. (Argumente, 30) Besonders die Entfaltung einer traditionellen Erzählung27 wird sowohl im Kutscher als auch im Nouveau Roman zurückgedrängt. Sie weicht der ›Aufzählung‹ bzw. der deskriptiven Erläuterung einzelner Elemente. Bei Robbe-Grillet und Peter Weiss sind es vor allem die Dinge (und die verdinglichten Individuen 28), die ins Visier des beschreibenden Blicks rücken und durch ihre Überbetonung die Handlung bzw. die Fabel (eben [das,] was man das Romaneske nennt)29 verdrängen. Robbe-Grillets Der Augenzeuge (Le voyeur, 1953) weist, wie der Kutscher, lange Gegenstandsbeschreibungen auf, deren Anwesenheit in der Erzählung zunächst als Selbstzweck erscheint, sich spätestens dann aber, wenn sie das traditionelle Ausmaß durchbrechen, welches die Deskription der Narration unterstellte, sich als bestimmende Elemente des Romans erweisen. Wie in Peter Weiss’ Text vernachlässigen diese Beschreibungen das Innenleben der Figuren, sie beschränken sich auf die Gegebenheit visuell wahrnehmbarer Objekte: Die rein optische Welt der Gegenstände und die menschliche Innenwelt treten also miteinander in Konflikt, 30 wie es Roland Barthes ausdrückt, wobei die Welt der Gegenstände die Oberhand gewinnt und die Erzählung konditioniert. Weite Teile
26
Ivanovic 1999, 35.
27
Im Sinne einer »grundlegenden, zeitlich und kausal-logisch verbundenen Abfolge von Ereignissen [Hervorhebung – T.S.]« (Biti 2001, 304).
28
Vgl. auch hierzu Goldmann 1980. Goldmann verweist explizit auf die soziale Komponente des Nouveau Roman der, weit entfernt bloßes l’art pour l’art zu sein, eine direkte Stellung zur Gesellschaft bezieht: »Die zwei späteren Perioden der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft, die imperialistische [...] und die gegenwärtige Periode des Organisationskapitalismus lassen sich strukturell definieren, die erste durch das allmähliche Verschwinden des Individuums als wesentliche menschliche und soziale Wirklichkeit [...], die zweite durch die Entwicklung der Verdinglichung zu einer autonomen Welt, in der das Menschliche als solches, [...], alle wesentliche Wirklichkeit verloren hat, [...]. Mir scheint, daß den beiden letzten Perioden der Geschichte der Wirtschaft und der Verdinglichung in den abendländischen Gesellschaften in der Tat zwei große Perioden in der Geschichte der Romanformen entsprechen: diejenige, die ich mit dem Verschwinden des individuellen Helden charakterisieren möchte,[...]; die zweite, die erst beginnt, ihren literarischen Ausdruck zu finden, und unter deren Vertretern Robbe-Grillet einer der echtesten und brillantesten ist.« (59f.)
29
Barthes 1980, 38
30
Ebd., 39.
137
Thomas Schmidt
138
des Augenzeugen bestehen aus solchen Gegenstandsbeschreibungen: Der Steinrand – eine scharfe, schräge Kante an der Schnittlinie zweier, einen rechten Winkel bildender Ebenen: der senkrechten, glatt dem Kai zustrebenden Wand und der zur Molenhöhe ansteigenden Rampe – geht an seinem oberen Ende, an dem Molenrükken, in eine waagerechte, schnurgerade dem Kai zustrebende Linie über.31 Man fühlt sich unweigerlich an die Beschreibungen des Ichs im Kutscher erinnert, das den Hof vom Abtritt aus zu erfassen sucht: Außerdem sehe ich noch ein Stück der Hauswand, mit zersprungenem, teilweise abgebröckeltem gelblichen Putz, ein paar Pfähle mit Querstangen für die Wäscheleinen, und dahinter, bis zum Horizont, feuchte, schwarze Ackererde. (Kutscher, 7) Aber auch bei RobbeGrillet sind die Beschreibungen, trotz ihrer geometrischen Genauigkeit, subjektiv gefärbt. So verzerrt sich der Blick etwa in Die Jalousie oder die Eifersucht durch die eifersüchtigen Verdächtigungen des wahrnehmenden Subjekts, der A... unterstellt, mit Franck eine Liebesbeziehung einzugehen; er schnürt sich förmlich auf einen einzigen Weltaspekt – die Beziehung von A... zu Franck – zusammen. Aber Robbe-Grillets Der Augenzeuge besitzt auch ein Moment, welches die einzelnen Beschreibungen wieder zu einer Art Sequenz verbindet und damit die gelöschte Geschichte in die Oberflächenwelt aus Fragmenten und Ausschnitten zurückholt. Denn aus der detaillierten Objektwelt tauchen immer wieder Gegenstände auf, die schon einmal im Blick des wahrnehmenden Subjekts verweilten und durch ihre Wiederholung innerhalb der Erzählung an Bedeutung für die Geschichte gewinnen. Roland Barthes weist darauf hin, dass die Wiederkehr bestimmter Objekte, bestimmter Raumfragmente, die eben durch ihre Wiederholung privilegiert sind, für sich allein schon so etwas wie einen Linsenfehler darstellt, eine erste unreine Stelle im optischen System des Romanciers […] 32 und deshalb trotz allem eine Handlung zu erkennen gibt. Erst aufgrund der wiederholten Beschreibung einer Acht, einer Kordelschnur und einer Tüte Bonbons ist es dem Leser des Augenzeugen möglich, einen Mord zu rekonstruieren, den der Protagonist des Romans begangen, aber im Verlauf seiner Erzählung verschwiegen hat. Die scheinbar willkürlich in den Blick gefassten Objekte, die im Denken von Matthias immer erneut erscheinen, fungieren hier als Anhaltspunkte für die Tat, die er zu verschweigen sucht. Er benennt sein Verbrechen nicht direkt, doch verraten ihn Indizien. So finden sich am Ort des Verbrechens Zigarettenstummel, die nur aus seiner Schachtel stammen können. Gleich zu Beginn des Romans wird 31
Robbe-Grillet 1963, 7.
32
Barthes 1980, 40.
Begrenzung und Ausschnitt
diese Schachtel beschrieben (S.10) und taucht in der Folge an verschiedenen Stellen immer wieder auf, fast so, als verharre sein Denken während der Konstruktion des Alibis (das die vom Leser erlebte Erzählung darstellt) genau auf den Objekten, die seine Anwesenheit am Platz des Verbrechens verrieten. So entpuppt sich das wiederholte Auftauchen dieser Objekte als die panische Sorge des Protagonisten, sich selbst verraten zu haben und damit den Mord ›öffentlich‹ einzugestehen. Das wird offensichtlich, als Matthias zum Ort des Verbrechens zurückkehrt, ohne dass der Leser sicher wüsste, ob er tatsächlich der Mörder ist. Er beseitigt hier ein Kleidungsstück, das dem ermordeten Opfer, einem jungen Mädchen, gehörte; der Grund für dieses Handeln wird für den Leser von nun an immer offenkundiger und wird vollends klar, als sich ein Beobachter dieser Szene zu erkennen gibt. Während Matthias von der Vernichtung des Beweisstücks ablenken will, lässt sich der ›Augenzeuge‹ nicht täuschen: ›Sie glaubten, ich hätte ihnen einen Fisch zugeworfen‹, sagte der Reisende, indem er auf die Möwen zeigte, die einander durchkreuzende Achterkurven über ihren Köpfen zogen. Und er fügte schließlich des beharrlichen Schweigens wegen hinzu: ›Es war ein alter Wollfetzen.‹ […] ›Ein Trikot.‹33 Der letzte Satz stammt von Julien, dem Beobachter des Geschehens. Er scheint genau zu wissen, was Matthias an der Stelle des Verbrechens zu suchen hat und identifiziert den ›alten Wollfetzen‹ augenblicklich als die Bekleidung des getöteten Mädchens. Er überführt Matthias schließlich anhand eines Bonbonpapiers, das für den Leser längst bekannt ist, weil es im Laufe der Erzählung genauso häufig beschrieben wurde wie die Zigarettenstummel. Die Wiederholung der Objekte gleicht dabei einer ›Besetzung‹ des Blicks, die gestattet, die ausgesparten Teile der Geschichte zu erkennen und das Geschehene für den Leser zu rekonstruieren. Auch im Kutscher gibt es solche wiederholt in den Aufzeichnungen des Ichs auftauchenden Motive. Besonders der Sohn der Familie und die Wahrnehmungsexperimente des Protagonisten, der sich Salz in die Augen streut, um eine andere Realität sichtbar zu machen, treten mehrmals in den Blick des Lesers. Sie können zwar durchaus als konstitutive Motivsequenzen gelesen werden, die eine Handlung bilden, der Text selbst aber subversiert diese eindeutigen Bedeutungszuweisungen. So verschwindet der Sohn nach dem Zerbrechen der Spieldose einfach, ohne dass sich das Ich weiter um dessen Abwesenheit kümmern würde (der Handlungsfaden reißt an dieser Stelle) und auch das Erdenken von Bildern (Kutscher, 18) bildet nicht das imaginäre Zentrum, das, wie der Mord im 33
Robbe-Grillet 1963, 154.
139
Thomas Schmidt
140
Augenzeugen, den gesamten Text zusammenhält und seine Bedeutung determiniert. Eher verhält es sich so, dass im Kutscher viele disparate Eindrücke organisiert werden, die aber weder auf eine traditionelle Handlung verweisen, noch mehr sind als organisierte Eindrücke. Was der Augenzeuge durch die Struktur der Erzählung verdecken möchte (der Mord) und was auch im Weiss’schen Text auf den ersten Blick fehlt, ist gerade dieser explizit benannte Ort, der die Abfolge an Ereignissen (im Kutscher die Folge der Szenen) zu einer motivierten Handlung (die Fabel im Sinne Barthes) zu verknüpfen erlaubt. Die Ereignisse im Mikroroman erscheinen zwar in ihrer zeitlichen Abfolge verbunden (eine Szene folgt zeitlich auf die nächste), lassen aber zunächst nicht erkennen, warum ausgerechnet diese Wirklichkeitsausschnitte präsentiert werden. Ganz anders verhält es sich dagegen im stereotypen Roman des 19. Jahrhunderts. Hier erscheinen die einzelnen Ereignisse in jener kausalen Verknüpfung, die Martinez und Scheffel unter dem Begriff der Motivierung gefasst haben: Unter Motivierung verstehen wir den Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählenden oder dramatischen Text dargestellte Geschehen.34 Und ein paar Zeilen weiter heißt es: Die Motivierung integriert die Ereignisse in einen Erklärungszusammenhang.35 Solche Motivierungen fehlen im Kutscher. Einerseits ordnen sich die Szenen in kein sinnvolles Ganzes, also in keinen motivierten Erklärungszusammenhang, andererseits mangelt ihnen ein narratives Gewicht, das die Alltäglichkeit des Beschriebenen (Abendessen, Gemeinschaftlichkeit in der Diele usw.) zu etwas Besonderem im Sinne einer traditionellen Erzählung verhelfen würde. Obwohl es auch hier immer wieder Motive gibt, die im Text wiederholt aufgegriffen werden (der Sohn der Familie, die Sexualität), sind sie doch stets gleichwertig angeordnet. Es gibt keine Präferenz des einen Motivs vor dem anderen und auch keine hierarchische Organisation des Geschehens, welche einem Ereignis der beschriebenen Welt mehr Wert oder Gewicht verleihen würde, sondern gleichsam eine punktuelle Neutralität, die sich akribisch jedes Werturteils zu enthalten sucht. So wie man es mit einem Nebeneinander der elf Szenen zu tun hat, entsprechen auch die darin enthaltenen Ereignisse einer synchronen Reihe, in der jedes Element einen Platz besitzt, aber nicht aufgrund einer kausalen Motivierung an einer bestimmten Stelle des Systems zu finden ist. Es erscheint eher so, als gäbe es im Kutscher nur Kleinteiliges, ein Aufeinander-, nicht aber Auseinanderfolgendes, keine Determination. Das besondere Verfahren ist allerdings der spezi34
Martinez / Scheffel 2005, 110.
35
Ebd.
Begrenzung und Ausschnitt
fischen Schreibweise (Écriture) geschuldet: Sie folgt den Auszeichnungen des Ich im Prozess seines Schreibens, denn der einzige Ort, der für die Organisation des Textgeschehens geltend werden kann, der einzige Ort also, der einen Erklärungszusammenhang im Sinne Martinez’ und Scheffels stiftet, kann nicht in den Ereignissen selbst gefunden werden, sondern in der Wahrnehmung des schreibenden Subjekts und seines ganz persönlichen Schreibakts. In diesem Sinn versucht das Ich des Kutschers weniger eine außergewöhnliche Geschichte wiederzugeben, als die genaue Rekonstruktion des Visuellen zu erproben und die Möglichkeit seiner Versprachlichung vorzuführen. Die Erzählung, die im buchstäblichen Sinne einer ›Zählung‹ gleicht, kippt damit von der Betonung eines Inhalts – das, was erzählt wird – zur Frage des Erzählbaren, d.h. wie erzählt werden kann.
3. Durchbrochene Kategorien Die Irritation des Lesers, der auf Texte wie die von Peter Weiss oder des Nouveau Roman stößt, ergibt sich aus je unterschiedlichen Absagen an die traditionelle Erzählweise. Die Realität des Romans verschwimmt in der Kleinteiligkeit von Schreibversuchen: der Raum sowie die menschlichen Körper werden nur als Ausschnitte wahrgenommen, das Sichtfeld des Subjekts ist eingeschränkt und anonym, die Geschichte rückt in den Hintergrund und verweigert sich der traditionellen Handlung – vielmehr wird das Erzählen selbst thematisch. Was hier geschieht, ist der Bruch mit einer Erzählform, die Robbe-Grillet als Tradition der ›Tiefe‹ bezeichnete: […] die alten Mythen der ›Tiefe‹ haben abgedankt. Bekanntlich ruhte die ganze Romankunst auf diesen Mythen und auf ihnen allein. Nach der Tradition bestand die Rolle des Schriftstellers darin, der Natur nachzuforschen, sich in sie zu vertiefen, um die untersten Schichten zu erreichen und Fragmente und Bruchstücke eines verwirrenden Geheimnisses ans Tagelicht zu bringen. Von dem Abgrund der menschlichen Leidenschaften aus sandte er der scheinbar ruhigen Welt, der Welt der Oberfläche, Siegesbotschaften, die über die von ihm berührten Geheimnisse berichteten. Und die heiligen Schauer, die dann den Leser ergriffen, stattdaß sie Angst oder Ekel in ihm erweckt hätten, gaben ihm die Bestätigung seiner Macht über die Welt: es gab Abgründe, gewiß, aber dank den tapferen Höhlenforschern konnte man ihren Grund ermessen. (Argumente, 22f.) Jeder Schriftsteller und jeder Leser ist in ein Traditionsnetz eingebunden, von dem sie ebenso abhängen, wie sie sich mit ihm aus-
141
Thomas Schmidt
einanderzusetzen und ein Stück weit zu lösen suchen. Robbe-Grillet reagiert auf diese Einbindung des Menschen in eine Welt, die immer schon kulturell vorgeprägt ist und bestimmte Sichtweisen festlegt, die zugleich definieren, was ein Roman zu leisten hat. Immer wieder weist er darauf hin, dass diese Sichtweisen kulturelle Setzungen sind und auch als solche behandelt werden müssen, damit ihnen nicht der Status der Unabänderlichkeit und des Naturgegebenen verliehen wird. Denn schon der am wenigsten vorbelastete Beobachter bringt es nicht fertig, die ihn umgebende Welt unvoreingenommen zu sehen. […] Immer haftet ein Gran Kultur (Psychologie, Moral, Metaphysik usw.) den Dingen an und verleiht ihnen ein vertrauteres, verständlicheres, beruhigenderes Gesicht. (Argumente, 18) Die Einwände also richten sich vor allem gegen die traditionellen Darstellungs- und d.h. Sehweisen […]36 des Romans. Die Beschreibungen der Oberfläche ergeben sich direkt aus diesem Misstrauen der Tiefe gegenüber, die letztlich vorgibt, eine feststehende Wahrheit über die Wirklichkeit oder die verborgene Seele (Argumente, 22) der Dinge und Menschen ans Tageslicht zu fördern. Damit eng verknüpft ist die Betonung einer Wiedergabe von Wirklichkeit im traditionellen Roman so wie sie ist. Dieses Problem bezeichnet Robbe-Grillet anhand der Stellung der Beschreibung im Roman des 19. Jahrhunderts: Wir müssen uns zunächst einmal darüber klar werden, daß die Beschreibung keine moderne Erfindung ist. Die großen französischen Romane des XIX. Jahrhunderts insbesondere, allen voran die Romane Balzacs, sind angefüllt mit langen und minutiösen Beschreibungen von Häusern, Möbeln, Kleidern, ohne die Gesichter, die Körper usw. zu rechnen. Sicher ist, daß es das Ziel dieser Beschreibungen war, etwas zu zeigen, und daß ihnen dies gelang. Es handelte sich meistens darum, ein Dekor aufzubauen, einen Rahmen festzulegen, in dem die Handlung sich abspielte, und das Äußere der Protagonisten vorzuführen. (Argumente, 95f.)
142
War die Beschreibung bei Balzac also bloßes Mittel, um die Realität des Dargestellten zu fingieren und eine mimetische Illusion zu erzeugen, hat sich die Rolle der Beschreibung im Nouveau Roman grundlegend verändert. […] Früher erhob sie den Anspruch, eine schon vorher existierende Wirklichkeit zu reproduzieren; jetzt bekräftigt sie ihre eigene schöpferische Funktion (Argumente, 97). Die Beschreibung im traditionellen Roman besaß also ihren spezifischen Ort in der Wiedergabe von Details, die die Abbildung 36
Wehle 1980a, 5.
Begrenzung und Ausschnitt
einer vorgegebenen, konsistenten Wirklichkeit suggerieren sollten. Gérard Genette beschreibt dieses Problem folgendermaßen: Das tosende Ufer [oder der minutiös beschriebene Raum im Roman Balzacs – T.S.] dient zu nichts, die Erzählung erwähnt es scheinbar nur, weil es da ist; damit gibt sie allerdings zu verstehen, daß der Erzähler – der hier darauf verzichtet, auszuwählen und der Erzählung ihren Gang vorzuschreiben – sich von der ›Wirklichkeit‹ leiten läßt, von der Gegenwart dessen, was einfach da ist und ›gezeigt‹ werden will. Als überflüssiges und kontingentes Detail ist es das Medium par excellence der referentiellen Illusion und damit des Mimesiseffekts: es konnotiert Mimesis.37 Beschränkt sich also die realistische Beschreibung im Roman des 19. Jahrhunderts auf die Widerspiegelung einer gegebenen Realität, emanzipiert sie sich im Nouveau Roman durch ein Übermaß an Beschreibungen, das anzeigt, dass hier kein ›Dekor‹ mehr aufgebaut werden will, welches einen ›realistischen‹ Rahmen zu stiften sucht. Vielmehr erhält das von Genette skizzierte Mimesiskonzept eine Absage, denn die Dinge treten aus ihrer gewöhnlichen Funktion heraus und referieren auf sich selbst. Sie geraten in den Blick der Protagonisten und fesseln ihre ganze Aufmerksamkeit, nicht, weil sie auf einen äußeren Raum verweisen, sondern sich gleichsam in sich selbst genügen: Im ursprünglichen Roman waren die den Erzählungsstoff bildenden Gegenstände und Gebärden gänzlich verschwunden, um der einzigen Bedeutung Platz einzuräumen; der leere Stuhl war nur noch Abwesenheit oder Warten, die die Schulter drükkende Hand war nur noch Sympathiezeichen, das Fenstergitter war nur noch die Unmöglichkeit zu entfliehen […]. Und jetzt, plötzlich, sieht man den Stuhl, die Handbewegung, das Gittergebilde. Ihre Bedeutung bleibt offensichtlich, aber statt unsere Aufmerksamkeit gänzlich auf sich zu ziehen, erweist sie sich als das uns dazu Gegebene […]. [Hervorhebung von mir] (Argumente, 20) Offen gelegt wird damit gleichzeitig die kulturelle Verfasstheit der Wahrnehmung. Robbe-Grillet verweist auf kulturelle Deutungsmuster, die uns die Objekte unseres Sehens einordnen lassen, sie helfen uns, sie zu kontextuieren und mit ihnen umzugehen. Die Bedeutung kommt den Dingen nicht unmittelbar zu, sondern erweist sich als das uns dazu Gegebene, und gerade dieses Gegebene, diese arbi37
Genette 1998, 118.
143
Thomas Schmidt
träre Bedeutungszuweisung, verfestigt sich im Laufe ihrer Verwendung bis zu einem Punkt, an dem sie als das Eigentliche erfahren wird und nicht mehr als die Konstruktion von Bedeutungen oder Sinn erlebt werden kann; sie kaschiert gewissermaßen ihre Teilhabe an einer kulturellen Praxis. Dagegen schreiben die Nouveau Romanciers und, wie wir noch sehen werden, auch Peter Weiss’ im Kutscher an. Es scheint, als impliziere der Autor nun, dass keine Erzählung ihre Geschichte ›zeigen‹ oder ›nachahmen‹ kann, wie Genette sagt, weil alle Narration, mündliche sowohl wie schriftliche, sprachlicher Natur ist und weil die Sprache bezeichnet ohne nachzuahmen.38 Kurz, die ›Nachahmung‹ der Wirklichkeit im Roman [ist] im Grunde nur als Fiktion möglich, Mimesis somit stets unverzichtbar der Bedingung der Poiesis verpflichtet,39 oder wie es Roland Barthes ausdrückte: [D]as Wirkliche ist immer nur eine Interferenz. Wenn man behauptet, man kopiere das Wirkliche, heißt das, dass man eine ganz bestimmte Interferenz wählt.40 Der Text selbst, das Schreiben, bedeutet eine Produktion von Sichtweisen, die, neben vielen anderen Produktionsarten, mitbestimmt, wie Welt betrachtet werden kann: Darauf berufen sich Dichter und Romanciers, wenn sie ihre Arbeiten als ›création‹, sich selbst als Genie, Demiurg, Alchimist, ›traducteur‹ oder auch nur als ›transformateur‹ verstanden wissen wollen.41
4. Das Schreiben und der fiktionale Text
144
Denn schreiben heißt ja wohl, die Welt auf eine bestimmte Weise zu ordnen, heißt bereits denken (eine Sprache erlernen heißt, lernen, wie man in dieser Sprache denkt).42 Wir wüssten nichts über die Welt des Kutschers, wenn das wahrnehmende Subjekt nicht in der Lage gewesen wäre, seine Sicht auf die Dinge niederzuschreiben. Die Bedrohung dieses Schreibaktes ist offensichtlich: auch jetzt kann ich nur mit Mühe, bereit, sie jeden Augenblick abzubrechen und für immer aufzugeben, die Beschreibung der Ankunft des Wagens, und des darauf Folgenden fortsetzen. (Kutscher, 92) Wie zu Beginn angedeutet, bündelt sich in der Figur des Schreibenden sowohl die Struktur des Textes als auch die Vermittlung der Wirk38
Genette 1998, 117.
39
Wehle 1980a, 4.
40
Barthes 2006, 133.
41
Wehle 1980a, 4.
42
Barthes 2006, 199.
Begrenzung und Ausschnitt
lichkeit. Was der Protagonist sieht und aufschreibt, bestimmt nicht nur den vorliegenden Text, es ist der Text. Peter Weiss thematisiert also neben dem Problem der Aufzeichnung von Wirklichkeit ihre überbordende Detailfülle, gleichzeitig auch den Schreibakt, der eine (fiktionale) Welt ebenso erfahrbar macht, wie er diese gestaltet. Dieser Schreibakt, der den Text (des Romans) hervorbringt, kann mit Wolfgang Isers Fiktionsbegriff, wie er ihn in Der Akt des Lesens vorschlägt, als Konstituierung eines Austauschverhältnisses charakterisiert werden, denn nach Iser beruht die Leistung der Fiktion auf ihrer Funktion. […] Fiktion und Wirklichkeit können daher nicht mehr als Seinsverhältnis, sondern müssen als ein Mitteilungsverhältnis begriffen werden. Dadurch löst sich zunächst die polare Entgegensetzung von Fiktion und Wirklichkeit auf: Statt deren bloßes Gegenteil zu sein, teilt uns Fiktion etwas über Wirklichkeit mit. 43 Der fiktionale Text gründet also für Iser in einem illokutionären Sprachakt, der seine Realisierung wiederum durch den Akt des Lesens erfährt und damit der Mithilfe eines Lesers bedarf. Allerdings ist die Anlage eines fiktionalen Textes von der performativen Sprechsituation im Sinne John L. Austins verschieden: Die Gemeinsamkeit des Sprachhabitus von fiktionaler und gebrauchssprachlicher Rede findet an einem entscheidenden Punkt ihre Grenze. Der fiktionalen Rede fehlt der Situationsbezug, dessen hohe Definiertheit im Sprechaktmodell vorausgesetzt ist, wenn die Sprachhandlung gelingen soll. (Iser, 104) Trotzdem, so Iser weiter, muss dieser offensichtliche Mangel indes nicht zwangsläufig das Scheitern fiktionaler Rede beinhalten (Iser, 104), denn das Fehlen des Situationsbezugs wird auf andere Weise ausgeglichen. Mit Hilfe des Symbolbegriffs44 Ernst Cassirers stellt Iser fest, dass sich die fiktionale Rede nicht auf die Präsenz eines Gegebenen beziehen läßt, […] sie [kann] sich nur auf die Rede selbst beziehen. Fiktionale Rede wäre demnach autoreflexiv und ließe sich als Repräsentation von sprachlicher Äußerung bezeichnen, denn mit dieser hat sie die Symbolverwendung, jedoch nicht den empirischen Objektbezug gemeinsam. (Iser, 105) Daraus folgt,
43
Iser 1976, 88. Abgekürzt durch ›Iser‹.
44
Iser schreibt in Anlehnung an Cassirer: »Symbole also werden gerade dadurch zu Konstitutionsbedingungen für das Erfassen gegebener Welt, dass sie [sic] weder die Eigenschaften noch Merkmale des Gegebenen verkörpern, da erst durch diese Andersheit die empirische Welt verfügbar gemacht werden kann.« (Iser, 105)
145
Thomas Schmidt
und hier kehrt Iser zum fehlenden Situationsbezug der fiktionalen Äußerung zurück: Wenn sie [die fiktionale Rede – T.S.] aber Repräsentation von sprachlicher Äußerung ist, so vermag sie das zur Darstellung zu bringen, was sprachliche Äußerung ist bzw. leistet. Das heißt zum einen, sie repräsentiert durch ihre Symbolorganisation den Erfassungsakt sprachlicher Äußerung, und da dieser in fiktionaler Rede nicht einer identifizierbaren empirischen Gegebenheit gilt, zeigt ihre sprachliche Struktur an, wie das zu produzieren ist, was sie vermeint. Es heißt zum anderen, sie repräsentiert einen illokutionären Sprechakt, der allerdings nicht mit einem gegebenen Situationskontext rechnen kann und folglich alle die Anweisungen mit sich führen muß, die für den Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts erlauben. (Iser, 105f.) Isers Fiktionsbegriff besitzt also zwei wesentliche Merkmale. Zum einen referiert der fiktionale Text auf keine empirische Wirklichkeit. Er organisiert Wahrnehmungen in einem neuen Zusammenhang, kommuniziert eine Sehweise und ist damit nicht wirklich: Wenn Fiktion nicht Wirklichkeit ist, so weniger deshalb, weil ihr die notwendigen Realitätsprädikate fehlen, sondern eher deshalb, weil sie Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein kann. (Iser, 88)
146
Zum anderen führt er Konventionsbestände und Auffassungsbedingungen mit sich, die es einem Leser ermöglichen sollen, einen imaginären Gegenstand zu erzeugen (Iser, 106), also das Signifikat eines Textes zu konstruieren, seinen ›Sinn‹ herzustellen, überhaupt die kommunizierte Äußerung zu verstehen. Die Konventionsbestände, die für das Erstellen einer Situation (Iser, 105) notwendig sind, werden in der Folge der Untersuchung als das ›Repertoire‹ des Textes bezeichnet: Im Repertoire präsentieren sich insofern Konventionen, als hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt. Diese Bekanntheit bezieht sich nicht nur auf vorangegangene Texte, sondern ebenso, [...], auf soziale und historische Normen, auf den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne, […] – kurz auf das, was die Prager Strukturalisten als die außerästhetische Realität bezeichnet haben. (Iser, 115) Im Text werden also Bruchstücke der Lebenswirklichkeit, ›Normen‹ und ›Kontexte‹ aufgerufen (bspw. eine ganz bestimmte (historische)
Begrenzung und Ausschnitt
Sprache, ein Verständnis dafür, was ein ›Roman‹ ist usw.), die die Verständigung zwischen Text und Leser gewährleisten sollen. Entscheidend ist hier, dass diese ›Bruchstücke‹ nicht, wie es der realistische Roman behauptete, so wie sie sind, in den fiktionalen Text übernommen werden: Doch das Hineinziehen außertextueller Normen heißt nicht, daß sie abgebildet würden, sondern daß ihnen durch die Wiederkehr im Text etwas geschieht, […]. (Iser, 115) Sie werden ausgewählt, transformiert, neu kontextualisiert und sind schon dadurch nicht mehr an demselben Platz, den sie in ihrer originalen Beziehung innerhalb der Lebenswirklichkeit einnahmen. Die Fiktion arrangiert sie in einem anderen Verhältnis, das ihnen teilweise ihre ursprüngliche Funktion nimmt.45 Wichtig ist, dass die so ›selektierten‹ Normen nicht selbst schon ›Wirklichkeit‹ sind, sondern kulturelle Setzungen. Für Iser ist deshalb klar, daß sich der Text nicht auf Wirklichkeit schlechthin, sondern nur auf ›Wirklichkeitsmodelle‹ beziehen kann. Wirklichkeit als pure Kontingenz scheidet für den fiktionalen Text als Bezugsfeld aus. Vielmehr beziehen sich solche Texte bereits auf Systeme, in denen Kontingenz und Weltkomplexität reduziert und ein je spezifischer Sinnaufbau der Welt geleistet ist. (Iser, 118) Fiktionen entspringen Sehweisen, wie sie sich in ›Schemata‹ verdichten; die Welt, so Iser, wird nicht in ihrer ›Gesamtheit‹ wahrgenommen, sondern durch besondere Wahrnehmungsmuster ›beschnitten‹. Wir blenden Aspekte an ihr aus, vernachlässigen ganze Sinnsysteme: Ich bin in meinem Zimmer, ich sehe mein Zimmer, aber ist mein Zimmer sehen nicht schon es mir ›sprechen‹?, heißt es bei Barthes. Und selbst wenn es nicht so ist, was werde ich sagen von dem, was ich sehe? Ein Bett? Ein Fenster? Eine Farbe? Schon zerschneide ich wütend das sich vor mir befindende Kontinuum.46 Jeder Text ist die Artikulation einer Wahrnehmung; er schafft, wie ein Schema, eine Wahrnehmungsweise von Welt. Es scheint darum, dass das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, jeweils das Resultat dessen ist, wie es wahrgenommen und dargestellt wird.47
45
Iser macht das an Laurence Sternes Tristram Shandy deutlich. In diesem Roman sieht er den »Empirismus Lockescher Prägung« (Iser, 124) als kulturelle Norm im Repertoire des Textes erscheinen, wobei sie diese gerade deshalb nicht abbildet, weil »sie virtualisiert [wird], um das hervorkehren zu können, was im Lockeschen System entweder abgewiesen oder dunkler Hintergrund geblieben ist.« (Iser, 125). Das Repertoire bezieht aus den ›Ideengebäuden‹ der Wirklichkeit sein Material, aber arbeitet damit, wandelt es um, ›verfälscht‹ es, usw.
46
Barthes 2006, 134.
47
Wehle 1980a, 9.
147
Thomas Schmidt
5. Das Schreiben des Schreibens Überträgt man nun Isers Begriff der literarischen Fiktion auf Peter Weiss’ Kutscher, wird eine wichtige Eigenschaft des Romans deutlich. Man hat es hier nicht mit einem Text zu tun, der als ein Wahrnehmungsmuster (Schema) gelesen werden kann, sondern der dezidiert offen legt, dass er ein solches ist. Das Ich, sein Blick und Schreiben, nimmt die vorgegebene Wirklichkeit nur selektiv wahr. Das wurde an den Einschränkungen, denen seine Wahrnehmung unterliegt, deutlich. Die Grenzen des Blicks konturieren dabei gleichzeitig die Sichtweise auf die Romanwirklichkeit. Im Gegensatz zur klassischen Konzeption der Mimesis, die vorgab, ein Gegebenes abbilden zu können, ohne es zu verändern, legt der Kutscher dar, dass die Kommunikation, die sich auf Wirklichkeit bezieht, immer auf Selektionsentscheidungen im Sinne Isers fußt: Mit dem Bleistift die Geschehnisse vor meinen Augen nachzeichnend, um damit dem Gesehenen eine Kontur zu geben und das Gesehene zu verdeutlichen, also das Sehen zu einer Beschäftigung machend, sitze ich neben dem Schuppen auf dem Holzstoß, […]. (Kutscher, 48)
148
Das Ich des Romans gibt deutlich zu erkennen, dass er derjenige ist, der den Dingen erst einen bestimmten Sinn verleiht, indem er dem Geschehen eine Kontur gibt. Erst der Schreibakt verhilft dem Geschehen zu seiner Existenz. In diesem Sinn ist das Schreiben im Kutscher die Darstellung des Schreibens selbst. Der Zugriff auf das Visuelle, die Vernachlässigung der Kommunikation und der Psychologie der Figuren implizieren hier nicht nur den Bruch mit einer traditionellen Erzählform, sondern auch die Sichtbarmachung jener Selektionsentscheidungen, die einen Aspekt der Wirklichkeit fokussieren, um einen anderen zu vernachlässigen. Dabei gelingt diese Offenlegung durch den Bruch mit einer romanesken Illusion, die den Roman als gegebene Realität erscheinen lassen will. Sie verfremdet diesen bestimmenden Blick des traditionellen Romans im Sinne Robbe-Grillets, indem sie die Dinge und Gesten verfügbar macht, ohne sie auf etwas anderes verweisen zu lassen: Sie sind in einem gewissen Sinne nur sie selbst, sie sind Orte oder Lokalisierungen einer Wahrnehmung und darum nicht selbst schon bedeutend. In der Zurückweisung jeder Deutung des Geschehens und seiner Auflösung in Fragmente wird der Zugriff auf die Mythen der Tiefe, wie Robbe-Grillet formulierte, konsequent ausgeblendet. Entsprechend ist die ›Kontur‹, von der das Ich des Romans spricht, die generelle Konturiertheit jeden Blicks, der im Kutscher nicht län-
Begrenzung und Ausschnitt
ger versucht, den Anschein eines objektiven Standpunkts zu suggerieren (und damit eine vorgegebene Wirklichkeit wiederzugeben), sondern den Leser auf seine eigene Wahrnehmung zurückwirft, um ihre je spezifische Kontingenzreduktion oder kulturelle Codierung zu hinterfragen. Der Kutscher veranschaulicht damit einen Mechanismus, der für Iser die generelle Funktion der Fiktion darstellt: Den Grund der bestrittenen Welt dem Leser zur Formulierung anzubieten heißt, die Welt zu transzendieren, weil sie nur so gesehen werden kann. Damit kommt das zum Vorschein, was Fiktion als Kommunikation leistet. Was immer im einzelnen als Inhalt durch sie in die Welt kommt, das wirklich im Leben Nicht-Gegebene, was folglich nur sie anzubieten vermag, besteht darin, das sie uns das zu transzendieren erlaubt, woran wir so unverrückbar gebunden sind: unser Mittendrinsein im Leben. (Iser, 354) Die Fiktion kann so als eine Möglichkeit angesehen werden, den eigenen Standort als kulturell bestimmt zu erfahren. Folglich liegt die poetische Kraft des Kutschers im Akt eines Schreibens, der sich als Akt unterschiedlicher Selektionen entpuppt und damit die Verfasstheit jeden Schreibens wie auch jeden Sehens, dem die Versprachlichung folgt, in den Blick rückt. Es ist also nicht so, dass beim angestrengten Versuch, durch Konzentration auf unmittelbare Sinneseindrücke der Realität habhaft zu werden, der Ich-Erzähler immer wieder auf eine chaotische, undurchsichtige, zweifelhafte Wirklichkeit zurückgeworfen [wird],48 vielmehr wird der Ich-Erzähler auf sein eigenes Sehen und dessen Konstruktionen zurückgeworfen. Ein analoges Beispiel bietet Michel Butors Der Zeitplan (L’Emploi du Temps, 1956). Die perspektivische Anlage des Romans entspricht insofern dem Text von Peter Weiss, als auch hier ein autodiegetischer Erzähler, der gleichzeitig der Autor seiner eigenen Geschichte ist, spricht. Mit einem ähnlichen Anspruch, wie ihn das Ich des Kutschers vertritt, gibt Jacques Revel (der Name des Protagonisten) den Sinn seiner Aufzeichnungen wieder: Jetzt beginnt die wirkliche Suche; denn ich werde mich nicht mit dieser ungenauen Abkürzung begnügen, ich werde mich nicht um diese Vergangenheit bringen lassen, von der ich wohl spüre, daß sie nicht leer ist, denn ich ermesse den Abstand, der mich von jenem trennt, der ich bei meiner Ankunft war, […]; denn ich muß wieder Besitz ergreifen von all den Ereignissen, die ich durch die Wolke hindurch, die sie auszulöschen versucht, durcheinanderwimmeln und sich gruppieren fühle, muß 48
Tabah 1994, 43.
149
Thomas Schmidt
sie eines nach dem anderen in ihrer Ordnung beschwören, um sie zu retten, bevor sie in dem großen Sumpfe klebrigen Staubes völlig versinken […]49 Als Franzose fremd in die britische Stadt Bleston kommend, um dort für ein Jahr zu arbeiten, häufen sich innerhalb von sechs Monaten so viele Ereignisse und persönliche Krisen, dass Jacques schließlich durch die laufende Rekonstruktion in einem Tagebuch versucht, dieser Vergangenheit habhaft zu werden. Sein Schreiben soll, wie auch im Kutscher, den Dingen ›eine Kontur‹ verleihen. Mit diesem Schreibversuch, der, durch laufende Analepsen im Text auf Vergangenes referiert und dabei die Ereignisse der aktuellen Gegenwart des Schreibers immer wieder aus der rückwärtigen Perspektive zu deuten versucht, wird das Geschehene aber keinesfalls geklärt. Im Laufe seiner Aufzeichnungen verwirren sich vielmehr die Deutungen der Realität immer mehr, so dass schließlich das Schreiben selbst nicht mehr als die Klärung fungiert, sondern als Verkomplizierung. Immer wieder stellt Jacques Revel fest, dass ihm durch seine Aufzeichnungen Aspekte des Realen auffallen, die für ihn zum Zeitpunkt des Erlebens kaum von Belang waren. Gleichzeitig aber verschwimmen andere Elemente der Erinnerung, die Klarheit versprachen, und erscheinen für die Vergangenheitsrekonstruktion substanzlos. So beschäftigen sich die Aufzeichnungen Revels über weite Strecken mit der Motivsuche für einen Mordversuch, dem ein Romanschriftsteller fast zum Opfer gefallen wäre. Perspektivisch verdichtet sich die Wahrnehmung auf diesen Punkt, der einer obsessiven Fixierung gleicht: Wegen der Schlaflosigkeit, […], habe ich in der vergangenen Nacht die Lektüre dieses bereits umfangreichen Textes, den ich heute Abend weiter vermehre, wieder aufgenommen bei dem Bericht von der Unterhaltung am Sonntag, dem 1. Juni, bei den Baileys, in der wahrscheinlich der Ursprung des Mordanschlags auf George William Burton zu suchen ist, von der Unterhaltung, in deren Verlauf ich zum zweiten Male, obwohl gewarnt vor den Folgen meines Tuns, den wirklichen Namen von J. C. Hamilton ausgeliefert habe, diesen Namen, der seither an allen Ecken Blestons ausgeschrieen worden ist. All das hat mich blind gemacht, und von mir unbemerkt haben Rose und Lucien sich einander angenähert.50
150
In der Konzentration des Blicks auf das Mordgeschehen ist der Erzähler nicht mehr in der Lage, diejenigen vernachlässigten Tatbe49
Butor 1964, 35f.
50
Butor 1964, 193.
Begrenzung und Ausschnitt
stände der Wirklichkeit zu erblicken, die ihn doch direkt betreffen. Denn die von ihm geliebte Rose verlobt sich schließlich mit Lucien, einem Freund Revels. Die auf den Mord beschränkten Schreibversuche offenbaren sich als Fokussierungen, die nurmehr Wirklichkeitsfragmente zum Gegenstand haben und dabei anderes ausblenden. Letztlich verliert sich Revel in seiner ›Suche‹, und was Klarheit zu schaffen versprach, verunklart sich zusehends. Revels Ausgangspunkt also, die als monoton und vereinfachend erkannte Wahrnehmung der Welt zu durchstoßen und zu einem ›neuen Sehen‹ zu gelangen, wird während des Romans immer weiter aufgegeben, weil der Leser erkennt, dass auch dieses ›neue Sehen‹ nur einen weiteren Konstruktionsversuch darstellt, der den gleichen strukturellen Bedingungen unterliegt wie das ›alte‹ Sehen. Schließlich reist Jacques Revel nach einem Jahr Arbeit aus der englischen Stadt ab, ohne dass sich etwas geklärt hätte. Nur die Restriktionen seines Blicks bleiben für den gesamten Roman im Sichtfeld des Lesers: Auf diese Weise verändert jeder Tag, indem er neue mitklingende Tage auferstehen lässt, das Bild der Vergangenheit, und diese zum Licht aufsteigenden Zeiten der Vergangenheit verdunkeln andere, die vormals erhellt waren, jetzt aber fremd und stumm für uns werden, bis ein anderer Widerhall sie abermals weckt.51 Besitzt das Schreiben keinen Zugriff mehr auf die ›Tiefe‹ der Bedeutung, verbleibt es in der Formulierung eines subjektiven Sehens, das sich neben andere Sehweisen stellt und nicht mehr verlangt, ein Ganzes in Augenschein nehmen zu können. Entsprechend spricht das Schreiben zugleich über seine Möglichkeiten, Konstruktion zu sein. Robert Pinget hat dies in seinem Roman Ohne Antwort (Le Fiston, 1959) besonders deutlich gemacht. Monsieur Levert trauert seinem Sohn nach, der vor mehr als zehn Jahren das Haus des Vaters fluchtartig verließ, weil dessen übermäßige Liebe eine schroffe Abwehrhaltung des Sohnes erzeugte. Im Akt des Schreibens (er verfasst einen Brief ) versucht Levert nun diesen Sohn zurück zu holen, der sich seit seinem Fortgehen nicht mehr meldet. Der Leser erfährt in diesen fragmentarischen Abrissen, Schreibanfängen und Abbrüchen von dem verzweifelten Versuch des Vaters (er sucht in den Lieblingscafés des Sohnes nach einem Anzeichen seiner Anwesenheit), den geliebten Sohn ausfindig zu machen. Der Brief, den Levert immer wieder beginnt, ist dabei von vornherein dazu verurteilt, nie abgeschickt zu werden, denn der Vater kennt den Aufenthaltsort des Sohnes nicht: Ich fange noch einmal an. Ich muß mich 51
Butor 1964, 289.
151
Thomas Schmidt
am Anfang geirrt haben […]. Ich fange noch einmal an. Dieser Brief geht nie mehr ab.52 Warum also schreibt der Vater? Weil er nur so den Sohn am Leben halten kann. Die Fiktion verweist hier nicht auf die Realität des Sohnes, sondern auf die Möglichkeiten, wie sich der Sohn im Verlauf der Jahre entwickelt haben könnte: Mein Sohn verdient ehrlich sein Brot unter ehrlichen Leuten, er wird damit kein Millionär, aber es ist etwas Solides, Festes. Er ist pünktlich, er hält sich an die Arbeitszeit, und abends besucht er Kurse um seine Kenntnisse zu erweitern. […] Erster Verkäufer, Abteilungsleiter. […] Seine Frau stammt aus bescheidenen Verhältnissen, sie ist eine sparsame, tüchtige Hausfrau. Sie haben zwei Töchter, die nicht wie Prinzessinnen erzogen werden, […].53
152
Mit diesem fiktiven Entwurf wird das Schreiben sich selbst als Fiktionalisierung bewusst. Es ist eine Produktion, es stellt Sichtweisen und Entwürfe her, es kanalisiert die Wirklichkeit, mag es auch ein ›Austauschverhältnis‹ im Sinne Wolfgang Isers begründen. Monsieur Levert erkennt am Ende des Romans, dass sein Anschreiben gegen den Verlust des Sohnes nicht eine Realität meint, sondern diese verwandelt. Die Fiktion ist die Möglichkeit, das Leben des Sohnes zu erhalten, das Schreiben spricht über die Fähigkeit des Schreibens, das Leben zu gestalten, denn [a]ußerhalb des Geschriebenen ist der Tod.54 Im Schreiben also liegt die Kraft der Vermittlung sowie die Produktion eines subjektiven Schemas, das auf eine kulturell vorgeprägte Wirklichkeit Bezug nimmt, ohne sie abzubilden. Diese Vermittlung und die daraus resultierende Einsicht in das Wesen des Schreibens als Konstruktion von Sehweisen, ist der eigentliche Fokus von Peter Weiss’ Kutscher, der dem Nouveau Roman analog ist: Das Geschriebene, die Bilder, heißt es in Weiss’ Notizbüchern, enthalten die Zeichen einer ständigen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Die Zeichen werden im Werk begraben, die Auseinandersetzung läuft weiter. Die Zeichen rühren etwas an vom Ganzen, sie sind aber mangelhaft, zeigen nur: hier war jemand an der Arbeit.55
52
Pinget 1994, 59.
53
Ebd., 104.
54
Ebd., 107.
55
Weiss 1982, 43.
Begrenzung und Ausschnitt
Literatur Barthes, Roland (1980) Literatur buchstäblich. In: Wehle 1980, S.3746. Barthes, Roland (2006) Am Nullpunkt der Literatur / Literatur und Geschichte / Kritik und Wahrheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Biti, Vladimir (2001) Literatur- und Kulturtheorie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Butor, Michel (1964) Der Zeitplan. München: dtv. Coenen-Mennemeier, Brigitta (1996) Nouveau Roman. Stuttgart und Weimar: Metzler. Esselborn, Hans (1992) Die experimentelle Prosa Peter Weiss’ und der nouveau roman Robbe-Grillets. In: Literatur, Ästhetik , Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. Hrsg. v. Michael Hofmann. St. Ingbert: Röhrig, S.29-49. Genette, Gérard (1998) Die Erzählung. München: UTB. Goldmann, Lucien (1980) Nouveau Roman und soziale Wirklichkeit. In: Wehle 1980, S.51-76. Hayer, Horst Dieter (1975) Zwei Erzählsysteme des nouveau roman. In: Vom Ästhetizismus zum Nouveau Roman. Hrsg. v. Peter Bürger. Frankfurt/M.: Athenäum Fischer, S.163-192. Hofmann, Michael / Rector, Martin / Vogt, Jochen (Hrsg.) (1999): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 8. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag. Ivanovic, Christine (1999) Die Sprache der Bilder. Versuch einer Revision von Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers. In : Hofmann / Rector / Vogt 1999, S.34-68. Iser, Wolfgang (1976) Der Akt des Lesens. München: Fink. Abgekürzt durch Iser. Martinez, Matias / Scheffel, Michael (2005) Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck. Pinget, Robert (1994) Ohne Antwort. Berlin: Wagenbach. Robbe-Grillet, Alain (1963) Der Augenzeuge. München: Hanser. Robbe-Grillet, Alain (1965): Argumente für einen neuen Roman. München : Hanser. Abgekürzt durch Argumente. Robbe-Grillet, Alain (2002) Die Jalousie oder die Eifersucht. Stuttgart :Reclam. Simon, Claude (1985) Das Gras. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand. Soboczynski, Adam (1999) Von Schatten oder Schwarz auf Weiß. Überlegungen zum Schatten des Körpers des Kutschers von Peter Weiss. In: Hofmann / Rector / Vogt 1999, S.68-89.
153
Thomas Schmidt
Tabah, Mireille (1994) Modernität in Der Schatten des Körpers des Kutschers. In: Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte. Hrsg. v. Irene Heidelberger-Leonard. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 39-51. Wehle, Winfried (Hrsg.) (1980) Nouveau Roman. Darmstadt :Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Wehle, Winfried (1980a) Proteus im Spiegel. Zum ‚reflexiven Realismus’ des Nouveau Roman. In: Wehle 1980, S.1-28. Weiss, Peter (1982) Notizbücher. 1960-1971. Frankfurt/M.; Suhrkamp. Weiss, Peter (1965) Der Schatten des Körpers des Kutschers. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Abgekürzt durch Kutscher.
154
André Fischer Bilder der Konvulsion. %HWUDFKWXQJHQ]XP¿OPLVFKHQ Werk von Peter Weiss
1. Vorbemerkungen Ich wurde Breton vorgestellt, ein paar Worte wurden gewechselt, ich stellte jemanden dar, der irgendetwas vollbracht hatte, vielleicht die Ausführung von etwas Geschriebenem, Bildmäßigem, er vernahm davon mit freundlichem Nicken, doch damit war nichts anzufangen, es war völlig gleichgültig, es verflüchtigte sich sofort, denn die Welt, die wir alle als einen gemeinsamen Grund für unsere Vorstellungen, unsere Untersuchungen hinstellten, existierte nicht, sie war ein Hirngespinst, dem jeder allein nachhing.1
Der Surrealismus war für Peter Weiss einmal mehr gewesen, als dieser bittere Nachgeschmack einer gescheiterten Avantgarde, der ihm bei diesem Treffen anlässlich einer Surrealismus-Ausstellung in Paris 1962 auf der Zunge lag. In den 1950er Jahren, als sich für seine Stücke und Erzählungen noch kein Verlag interessierte und die Malerei seine verschwommenen Vorstellungen nicht mehr abbilden konnte, machte Peter Weiss vor allem Filme. Kurze Experimentalfilme, die von Träumen und Halluzinationen, vom Schrecken und von der Selbstbefreiung handeln. Wobei von Handlungen selten die Rede sein kann. Es sind vielmehr seelische und psychische Konstruktionen, die bloßgelegt werden. In sechs filmischen Studien,
1
Weiss 1968b, 85.
155
André Fischer
wie er sie selbst nennt, werden verschiedene psychologische Motive zu sechs- bis zwölfminütigen Bildfolgen arrangiert, in denen karge Abgründigkeit in spielerischen Szenen gefasst wird. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit diese Filme, die etwa dreißig Jahre nach dem ersten surrealistischen Manifest gedreht wurden, mit dessen Postulaten überein zu bringen sind, inwieweit sie im Sinne Bretons als konvulsiv zu beschreiben sind,2 und was die kineastischen Vorbilder und Einflüsse von Peter Weiss sind, über die er in seinem Buch Avantgarde Film Auskunft gibt. Der Enttäuschung über den Ausgang des surrealistischen Unternehmens ging nämlich eine Begeisterung voraus, die im eben genannten Text nachzulesen ist, und von der die frühen filmischen Arbeiten von Weiss ein deutliches Zeugnis ablegen.
2. Surrealismus. Eine theoretische Annäherung SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft. 3
156
Oder in ein Bild gefasst: Ein Mann wetzt im Mondschein ein Rasiermesser, um damit anschließend sorgfältig durch einen Augapfel zu fahren, wie im Chien andalou (1929) von Louis Buñuel und Salvator Dali. Ein Schock, der die Vernunft aushebelt und es dem anderen Auge ermöglicht, einen direkten, ungetrübten Blick in das zerstükkelte Bewusstsein zu werfen. Der Schrecken tritt ins Leben, und er ist da ohne Absicht. Er ist nicht anwesend, um durch seine Präsenz ein Urteil einer transzendenten oder profanen Macht auszuführen. An dieser Stelle ist der Schrecken in gleichem Maße erschütternd wie hässlich, lächerlich oder schön. Die Wahrnehmung hat sich an eben diesem Punkt von einer Moral gelöst. Der Schnitt durch das Auge ist ein surrealistisches Postulat. Es wiederholt sich in unzähligen weiteren Äußerungen in Malerei, Literatur und Film, wobei man die Gesamtheit dieser Selbstbehauptungen den Surrealismus nennen kann. In gewisser Weise hat der Surrealismus eine Geschichte wie jede andere Strömung oder Zeiterscheinung auch. Sein großer Taktgeber jedoch, André Breton, sähe in einer Geschichtsschreibung, die 2
»Die Schönheit wird KONVULSIV sein oder nicht sein«, In: Breton 2002, 139.
3
Breton 1968, 26.
Bilder der Konvulsion
bei Guillaume Apollinaires erster Verwendung des Begriffs im Jahre 1917 beginnt und bei der großen Zäsur des zwanzigsten Jahrhunderts, dem Zweiten Weltkrieg, endet, einen räsonierenden Affront. Für ihn gibt es weder einen konkreten Anfang, noch ein abzusehendes Ende. Er findet dieses vernunftlose Denken bei Dante wie bei Arthur Rimbaud, und ist auch nach dem Krieg, als von einer Bewegung im eigentlichen Sinne keine Rede mehr sein kann, nicht bereit, seinen Surrealismus ad acta zu legen: Worum also ging es? Um nichts Geringeres als das Geheimnis einer Sprache wiederzufinden, deren Elemente nicht mehr wie Treibgut an der Oberfläche eines toten Meeres schwömmen.4 Die Oberfläche sollte durchbrochen werden, um das darunter Liegende zu Tage zu fördern. Die Psychoanalyse übte einen starken Einfluss auf die Ideen der Surrealisten aus ebenso, wie der Surrealismus wiederum auf den Strukturalismus einwirkte. Insbesondere die Freudsche Traumdeutung, wie überhaupt die ästhetische Wahrnehmung von Träumen spielten eine nachhaltige Rolle, wie sich an den gemalten Traumlandschaften von Giorgio di Chirico, Salvador Dali und Max Ernst ablesen lässt. Doch anders als bei Sigmund Freud hatten die Surrealisten keineswegs therapeutische Ziele, und es ging ihnen auch nie um eine Versöhnung zwischen Es, Ich und Über-Ich. Und nun ein Geständnis, das Sie tolerant aufnehmen wollen! schrieb Freud an Breton. Ich erhalte soviel Zeugnisse dafür, daß Sie und Ihre Freunde meine Forschungen schätzen, aber ich selbst bin nicht im Stande, mir klarzumachen, was Ihr Surréalisme ist und will. Vielleicht brauche ich, der ich der Kunst so fern stehe, es gar nicht zu begreifen.5 Der Schöpfer der Psychoanalyse fasste seine Methode wissenschaftlich-medizinisch, und wo er Symptome beschrieb und Neurosen oder Pathologien entdeckte, erkannten die Surrealisten einen ästhetischen Mehrwert. Die Psychoanalyse bot sich bestenfalls als ein Vokabular an, das ebenso sehr eine intensive Beschreibung mit psychischen Phänomenen ermöglichte, wie ihr Diskurs poetische Zugänge erlaubte. Und dieser Eindruck entstand natürlich nicht ohne Zutun Freuds, der sich, neben konkreten Fallbeschreibungen, gleichermaßen auf Sophokles, Shakespeare oder Dostojewski bezog. So sehr er sich aus diesem kulturgeschichtlichen Material bediente, so sehr stieß er sich auch an den Versuchen der literarischen Moderne, seine theoretischen Überlegungen für ihre Konzeptionen zu benutzen: Die Verwissenschaftlichung des literarisch modernen Diskurses korrespondierte, zumindest was die Psychoanalyse angeht, um 1900 mit einer Literarisierung der Wissen4
Ebd., 127.
5
Sigmund Freud in einem Brief an André Breton. In: Starobinski 1973, 143.
157
André Fischer
schaft, heißt es bei Thomas Anz, denn Freud illustrierte und legitimierte […] seine Theorien permanent mit literarischen Texten. Sie sind zum Teil in seine Terminologie eingegangen. Der ›ÖdipusKomplex‹ ist dafür nur das prominenteste Beispiel.6 Wo die Wiener Moderne noch bemüht war, der Freud’schen Lehre zu folgen, zogen die Surrealisten ihre eigenen Schlüsse. So war Breton stark daran gelegen, das Unbewusste, das Es, gegenüber dem bewusstrationalen Denken aufzuwerten. Dabei stützte er sich auf die spiritistische Parapsychologie (Myers, Richet etc.), da diese vor allem dem Automatischen eine äußerst bedeutsame Position zuschrieb. Und mit der Methode der écriture automatique führte er einen Schreibvorgang ein, der ohne Gedankenzensur durch die Vernunft oder praktische Umstände sich gleichsam aus dem Gedankenstrom des Unbewussten selbst schöpfte und einen autonomen, assoziativen Denkraum schuf, der die Regime der Orthografie, Grammatik oder Genrekonzeptionen umgehen sollte. Für Jean Starobinski bedeutet hingegen, das Denken einem Automatismus auszuliefern, einen Rückfall in ein atavistisches Stadium. Ein Bewusstseinszerfall, der den Geist seiner eigentlichen Möglichkeiten beraubt. Allerdings plädierte Breton nicht starrsinnig für die strikte Ausschaltung des bewussten Ichs, da ein solches Verfahren der surrealistischen Gesamtkonzeption, welche eine Revolutionierung des gesamten Lebens vorsah, nie hätte gerecht werden können. Freuds Theorie des Unbewussten wurde vielmehr vom großen Collageur Breton in dessen synkretisches System aufgenommen, in dem unter anderem auch Marquis de Sade oder Karl Marx ihren Platz fanden. Beim Versuch, das Primat der Logik und der Vernunft zu subversieren, war Breton jeder Zugang recht: Die Surrealisten glaubten wahrhaftig, kollektiven Zugang zu der immanenten Gnade der Wunderbaren zu erlangen: das war die Atmosphäre, in welcher Poesie und die menschliche Begegnung nicht mehr [als] voneinander unterschiedene Erlebnisse erfahren werden konnten.7
158
So sehr denn auch Breton daran gelegen war, große Denker und Poeten in seine Konzeption mit einzubeziehen, so scharf und vernichtend war sein Urteil über Ideen und deren Protagonisten, die darin keinen Platz fanden. Besonders im zweiten surrealistischen Manifest von 1929 geht er mit einstigen Vorbildern aus der Literaturgeschichte (Spucken wir, en passant, auf Edgar Poe! 8) hart 6
Anz 2007.
7
Starobinski 1973, 147.
8
Breton 1968, 58.
Bilder der Konvulsion
ins Gericht. Dissidenten wie Antonin Artaud, Philippe Soupault, Robert Desnos und sogar Bretons engster Freund Louis Aragon wandten sich von der Bewegung ab, in welcher Breton wie ein autoritärer Großmogul auftrat und Kritik an seinen Ansichten nicht zuließ. Selbst Baudelaire und Rimbaud, einst gefeiert, fielen in Ungnade, trotzdem sie gegen Breton nie hätten das Wort ergreifen können: Ich möchte betonen, daß man meiner Meinung nach dem Kult, den man mit den großen Männern treibt, mißtrauen muß, so groß sie auch scheinen mögen. Einen einzigen – Lautreamont – ausgenommen, sehe ich keinen, dessen Spuren nicht irgendwelche Zweideutigkeit verrieten. Unnötig, noch über Rimbaud zu streiten. Rimbaud hat sich getäuscht, Rimbaud hat uns täuschen wollen.9 Die Krise von 1929 hatte zur Auflösung der Gruppe geführt. Ihre Gründe waren vielfältig wie die Widersprüche innerhalb der surrealistischen Bewegung. Dazu gehörten die Uneinigkeit über die politische Ausrichtung der Gruppe, was die Frage nach einem Beitritt zur KPF beinhaltete, sowie die unzähligen Streitigkeiten Bretons mit nahezu allen Mitgliedern; ebenso wenig ließen sich die verschiedenen Ansichten darüber, wie Kunst und Realität zu einer neuen Über-Realität verschmolzen werden könnten, nicht kollektivieren, so dass ab 1930 die Mitglieder eigene Pfade beschritten. Inmitten dieser physischen Zersetzung der Surrealisten um 1929 hat sich Walter Benjamin an eine Beschreibung gewagt. Er schreibt: Hier wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt, indem ein Kreis von engverbundenen Menschen ›Dichterisches Leben‹ bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb.10 Bereits 1929 blickte er auf die inspirierende Traumwelle zurück, in der Bild und Sprache den Vortritt vor dem Sinn und vor dem Ich gehabt hätten. Anders als Drogenrausch und Religion hatte der Sürrealismus eine profane Erleuchtung versprochen. Diese vermittele sich nicht durch Substanzen oder göttliche Erscheinungen, sondern durch die Inspiration der Dingwelt: Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, sürrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich niemals aneignen wird. Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das 9
Ebd., 57.
10
Benjamin 1966, 201.
159
André Fischer
Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt.11
160
Durch eine veränderte Wahrnehmung und Reflexion, und eben nicht nur des bewusst Erlebten, verändere der Surrealismus die Position des Individuums zu seiner Umwelt, die nicht mehr als eine starre, leblose Welt von Objekten erscheinen sollte, sondern als ein delirierendes Konglomerat. Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, hält darum Benjamin für die eigenste Aufgabe des Surrealismus, und meint damit nicht, dass sich der Surrealismus in den politischen Dienst einer Partei stellen sollte, wie es seit dem Marokkokrieg und der daraus resultierenden, zunehmenden Politisierung der Pariser Gruppe der Fall war. Es geht ihm vielmehr um einen Gewinn an Misstrauen und Pessimismus, welche er als politische Instrumente für wesentlich nützlicher hält, als den Schein von idealistischer Moral: Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben. Die Sürrealisten haben ihn.12 Tatsächlich ist mit dieser Freiheit, mit der die Wirklichkeit sich selbst übertreffen soll, die doppelte menschliche Existenz gemeint, die physische wie die psychische, die sich im neu geschaffenen Raum versöhnen und im Kollektiven ermöglichen sollte, eine revolutionäre Entladung in Aussicht zu stellen, wie das kommunistische Manifest es fordert. Benjamin hat hier, mehr als Breton selbst, erkannt, dass es die Voraussetzung einer revolutionären Situation sein müsse, die menschliche Existenz und das alltägliche Leben zusammenzuführen, und dass jede andere politische Forderung nichts weiter ist, als ein schlechtes Frühlingsgedicht. Das Urteil stellt klar heraus, wie weitreichend die surrealistischen Forderungen einerseits waren und wie utopisch entfernt sie andererseits von einer praktischen Umgestaltung des Humanen waren. Bekanntlich war der Surrealismus jedoch nicht die einzige Erscheinungsform der Avantgarde. Mit Manifesten hatten bereits die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti oder die Dadaisten versucht, das bürgerliche Kunstverständnis anzugreifen. Mit Attributen des Progressiven und der militärischen Metapher der voranschreitenden Garde bezeichneten sich viele Gruppen, die heute unter Begriffen der ›klassischen Moderne‹ zusammengefasst werden. Unter Bezugnahme auf den Surrealismus stellte insbesondere Hans Magnus Enzensberger in seinen Aporien der Avantgarde heraus, dass sich die Proklamationen von jugendlicher Revolte gegenüber 11
Ebd., 212.
12
Ebd., 212.
Bilder der Konvulsion
der Entrüstung der Alten, von neuer Radikalität gegenüber arrivierter Reaktion in erster Linie durch ahistorische Widersprüchlichkeiten auszeichnen: Nicht sowohl, weil der Wortwechsel zwischen den Parteigängern des Alten und des Neuen unerträglich, sondern weil dessen Schema selbst nichts taugt. Die Wahl, zu der es einlädt, ist nicht bloß banal; sie ist von vornherein verfälscht. Den Schein einer zeitlosen Symmetrie, mit dem sie sich umgibt, macht die Geschichte zunichte, die noch jede ahistorische Position überholt und Lügen gestraft hat.13 Die damals kühnste künstlerische Ausformung mit avantgardistischer Aura, die Enzensberger 1962 vor seinen empörten Augen hatte, war die beat generation. In den Postulaten ihres Rädelsführers Jack Kerouac sieht Enzensberger nichts weiter als Schlagworte aus dem Ausverkauf der Bewusstseins-Industrie. Als Bestseller hat er das ›Experiment‹ bzw. das ›Experimentelle‹ ausgemacht – ein Begriff, der sowohl für den Surrealismus zentral war, als er ebenfalls zur Bezeichnung der filmischen Arbeiten von Peter Weiss diente. Nach dessen etymologischer Herleitung stellt er fest, dass ein echtes Experiment mit Kühnheit nichts zu tun hat. Es ist ein sehr einfaches und unentbehrliches Verfahren zur Erforschung von Gesetzmäßigkeiten. Es erfordert vor allem Geduld, Scharfsinn, Umsicht und Fleiß.14 Diese, ersichtlich dem Modell der Wissenschaften entnommene Eigenschaften, kann er keinem der selbsternannten Avantgardisten zuschreiben, bis auf Breton und seinen surrealistischen Mitstreitern, denen er das vollkommene Modell aller avantgardistischen Bewegungen15 bescheinigt, doch gesellt sich zum Lob der Konsequenz die Anklage auf doktrinäre und dogmatische Züge der Bewegung hinzu. Das Päpstliche in Position und Habitus Bretons und dessen stalinistisch anmutenden Säuberungsversuche hätten dem Surrealismus zu einer lächerlichen und zugleich tragischen Entwicklung verholfen: Dem Surrealismus war eine enorme Wirkung beschieden, aber er ist nur in denen produktiv geworden, die sich von seiner Doktrin befreit haben.16 Für das unscheinbare, grenzenlose Risiko, von dem die Zukunft der Künste lebt, befin-
13
Enzensberger 1962, 291.
14
Ebd., 309.
15
Ebd., 313.
16
Ebd., 314.
161
André Fischer
det deshalb Enzensberger den anachronistischen Avantgardebegriff letztendlich für unbrauchbar. Einige Jahre später hält dem wiederum Karl Heinz Bohrer entgegen, dass die westdeutschen Ideologiekritiker im Schatten Adornos keinen Zugang hätten zum schmerzhaften Widerspruch von Subjektivismus und Politik, von Ästhetik und sozialer Solidarität.17 Denn nur durch die Ansprüche und Forderungen im Raum des Politischen habe sich der Surrealismus von einer romantischen, lediglich auf Innerlichkeit gerichteten Tendenz abgegrenzt. Und diese Entscheidung war im politisierten Klima der 1920er und 30er Jahre, nach Bohrer, eben nicht beliebig und hätte eben nicht genauso gut eine Entscheidung für den Faschismus sein können. Was Bohrer dann als Explosion des Hermetischen ins Nicht-Literarische apostrophiert, hat er mit dem Titel seines Buches als Surrealismus und Terror bereits auf den Punkt gebracht und damit die Ambivalenz jenes Aktes herausgestellt, der die Positionen von Marx (die Welt zu verändern) und Rimbaud (das Leben zu verändern) überein zu bringen versucht. Bohrer stimmt Benjamin im Punkt des ›radikalen Freiheitsbegriffs‹ zu, auch wenn zwischen den beiden Autoren, wie zwischen den Texten, das historische Scheitern der Überwindung des Menschen durch den Menschen in Faschismus und Stalinismus steht. Doch auch nach den gescheiterten Revolutionen hält Bohrer eine Kunst, die nicht aus moralischen Bedenken vor einer Ästhetik des Schreckens und der alltäglichen Mythen zurückschreckt, für unumgänglich.
3. Der surrealistische Film
162
Wichtig für das Verständnis der Experimentalfilme von Peter Weiss ist neben seinem Anschluss an die theoretische Konzeption des Surrealismus vor allem ihre praktische Umsetzung im Medium des Films. Weiss selbst hat die wichtigsten Vertreter des surrealistischen Films in seiner Geschichte des Avantgarde Films behandelt. Was in der surrealistischen Literatur Bretons Nadja war, das sah er im Film bei Luis Buñuel und Salvador Dali: In Un chien andalou und L’age d’or machte Buñuel die Sprache des Traumes zu einer Sprache der Wirklichkeit, er arbeitete mit unterschwelligen, verdrängten Kräften ebenso wie mit greifbaren, schmerzenden Realitäten.18 17
Bohrer 1970, 43.
18
Weiss 1995, 54.
Bilder der Konvulsion
Weiss beschreibt den Versuch einer Zusammenführung von Traumwirklichkeit und Realität zu einem Amalgam, dessen Bestandteile nicht mehr auf ihren logischen Ursprung zurückgeführt werden können, sondern die sich ausschließlich in diesem ›neuen‹ Zusammenhang wahrnehmen lassen. Die wichtigen Momente, welche die frühen Filme Buñuels nicht als ›fantastische‹ Traumverfilmungen erscheinen lassen, sind dabei die Schockmomente. Ein solches Moment lässt sich als ein Durchdringen des Reizschutzes des Individuums verstehen, wie es mit dem Schnitt eines Rasiermessers durch ein Auge19 oder einem Gewehrschuss in den ebenso unschuldigen wie wehrlosen Kinderkopf20 zu sehen ist. Wo bei Freud Traumata sind, die verdrängt werden müssen, wird hier der Betrachter mit etwas konfrontiert, dem er sich nicht entziehen kann. Was bei der Therapie behutsam wieder ins Bewusstsein gerufen wird, rückt der surrealistische Film unkommentiert ins Bild. Die Rationalisierung der Schockbilder, wie es die Psychoanalyse vorsah, wird entsprechend von den Surrealisten abgelehnt. Der Film war nach den Prinzipien der Traumarbeit aufgebaut. Doch der Traum wurde nicht als ein unwirklicher Zustand hingestellt, als ein Kontrast zur äußeren Wirklichkeit, sondern Traum und Wirklichkeit waren eins. Der Film erzeugte Wirklichkeit mit den Mitteln des Traums.21 Neben diesen Schockmomenten zeichnet sich Un chien andalou durch seinen diskurshaften Aufbau aus. Es ist ein Assoziationsraum, der Szenen nebeneinander stellt, die sich einer stringenten Deutung verweigern. Man könnte lediglich behaupten, es handle sich um die Konflikte zwischen Mann und Frau, da in den unterschiedlichen Szenen ein Mann und eine Frau zu sehen sind. Es gibt keine Fabel, keinen Spannungsbogen und die Figuren arbeiten jedem identifikatorischen Moment entgegen. Zudem ist der Film durch absurde Zwischentitel unterteilt. Es beginnt mit der märchenhaften Verheißung Es war einmal…, dann die erste, wahrhaft einschneidende Szene, worauf die Texttafel folgt: Acht Jahre später. Die beiden einprägsamsten Bilder: eine Wolke zerschneidet den Mond, wie das Rasiermesser das Auge / unzählige Ameisen krabbeln aus einem Loch in der Handfläche – folgen angeblich tatsächlichen22 Traumbildern Buñuels und Dalis. Ausgehend von Bildern, die sie beschäftigten, da sie sich quasi aufdrängten, gruppierten sie um diese ähnliche 19
Siehe: Un chien andalou.
20
Siehe: L’age d’or.
21
Weiss 1995, 40.
22
Wobei von Tatsachen eigentlich nicht die Rede sein kann.
163
André Fischer
Bilder und Szenen, die sich in ihrer Kombination jeder logischen Deutung widersetzen. Eine weitere Auffälligkeit ist die Tatsache, dass die Schockbilder nicht etwa vor schwarzen Tafeln abgefilmt werden, sondern sich eines realistischen Sujets als Folie bedienen. Dadurch, dass eine abgetrennte Hand nicht in einem fantastischen Zauberkabinett liegt, von dem der Zuschauer weiß, dass es in seiner Realität nicht existiert, sondern auf einer Straße inmitten einer Menschenmenge, prallt das buchstäblich surreale Moment auf das reale. So destabilisiert der Schock die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.
4. Die Experimentalfilme von Peter Weiss: Fünf Studien und ein Versuch Peter Weiss’ filmisches Schaffen wird oft als Schwellen- oder Übergangswerk betrachtet. Zwischen seinen Anfängen als Maler und Graphiker und dem erfolg- und umfangreichen Werk als Erzähler und Dramatiker stehen die Filme als sogenannte Studien, Experimente oder Versuche. Weiss selbst hat diese Sicht auf seine Filme in vielen Interviews bestätigt: Für mich waren die Filme immer nur Andeutungen, Skizzen zu etwas, das mir vorgeschwebt hat, und das hat mich auf die Dauer natürlich nicht befriedigt, weil ich damals wußte, daß ich keine Aussicht hatte, meine ökonomischen Möglichkeiten so zu verbessern, daß ich absehen konnte, irgendetwas zu verwirklichen.23
164
Insgesamt kann von sechs Experimentalfilmen, sechs Dokumentarfilmen und zwei Spielfilmen die Rede sein,24 die zwischen 1952 und 1960 entstanden.25 Es soll hier allerdings nur um die Experimentalfilme gehen, da sich allein in diesen eine Parallele zum frühen surrealistischen Film der zwanziger und dreißiger Jahre ausmachen lässt. 23
Farocki 1986, 120.
24
Neben Häringen (Le Mirage/ Der Verschollene), einer visuellen Umsetzung der Erzählung Der Fremde, die unter dem Pseudonym Sinclair veröffentlicht wurde, zeichnet Weiss die Bildregie und den Schnitt im Film Svenska flickor i Paris (Verlockung) als verantwortlich; Weiss hat sich wegen angeblicher pornographischer Szenen von diesem Film ausdrücklich distanziert.
25
Die komplette Filmographie, allerdings nicht mit allen unvollendeten Filmprojekten Anfang der 60er Jahre, findet sich in: Hiekisch-Picard 1984, 129-144.
Bilder der Konvulsion
Seit 1948 war Weiss Dozent an der Freien Volksuniversität Stockholm und gab Kurse in Kunst, Kunstgeschichte sowie Filmtheorie und -praxis. Über diese Tätigkeit kam er in Kontakt mit schwedischen Amateurfilmern, die sich in der Gruppe Schwedische Experimentalfilm Studio und später in den Arbeitsgruppen för film für einen kommerziell unabhängigen Film einsetzten. Es handelte sich dabei sowohl um ein kritisches Diskussionsforum zu filmtheoretischen Fragen als auch um einen solidarischen Zusammenschluss junger Filmemacher abseits der kommerziellen Filmproduktion. Zeugnisse aus dieser Zeit sind neben den Filmen auch der Text Avantgarde Film, worin Peter Weiss eine Theorie des avantgardistischen europäischen und amerikanischen Films entwirft, deren Darstellung er selber als subjektiv und in keiner Weise erschöpfend26 bezeichnet. Die Bezüge zwischen Weiss’ Experimentalfilmen und der filmischen Avantgarde, allen voran der surrealistischen, sollen im folgenden, jedoch nicht ausschließlich auf der filmtechnischen Ebene, sondern vor allem in Bezug auf den Surrealismus und seine Mittel untersucht werden.
4.1 Studie I (Uppvaknandet / Das Aufwachen) Die erste Studie [d.i. Studie I, Hrsg.] hatte ich 1952 gemacht, die zeigt ein Erlebnis des frühen Morgens: Herauskriechen aus dem Bett, Zähneputzen und Waschen und Auf-die-Toilette-Gehen, so eine Cinéma-pur-Sache, die ganz kurz war, sieben oder acht Minuten.27 Nach der der Titeltafel (Ein schwarzes Laken auf dem der Titel Studie I aus kleinen Holzstückchen gelegt ist; ein nacktes Paar Füße läuft darüber) sehen wir ein Bett mit weißen Laken in einem kleinen Zimmer. Im Bett befindet sich ein Mann (Peter Weiss), neben dem Bett liegt eine Frau (Eva-Lisa Lennartsson). Im Gegensatz zum Mann, der mit einem Unterhemd und einer langen schwarzen Hose bekleidet ist, ist die Frau nackt. Die Szene ist trist und kontrastarm; es dominiert ein schmutziges Grau, das alles überzieht. Der Mann erhebt sich mühsam aus dem Bett. Er geht langsam und mechanisch aus dem kleinen Zimmer. In einem Türrahmen bleibt er stehen. Als ob er in diesem Moment nicht weitergehen könne, bleibt er wie angewurzelt stehen. In dem Zimmer, in das er jetzt blickt, und sich nicht 26
Weiss 1995, 7.
27
Farocki 1984, 255.
165
André Fischer
hineinzugehen getraut, stehen die Lebensbeweise des Protagonisten aus Kunst und Alltag: Ein abstrakt-expressionistisches Gemälde an der Wand, ein zur Reparatur auf Sattel und Lenker gestelltes Fahrrad, viele unfertige Gemälde, Zeichnungen und Skizzen lehnen an der Wand, liegen auf dem Boden oder auf dem Schreibtisch am Fenster zur Linken des Mannes, auf welchem sich zudem noch einige Bücher befinden. In diesem Zimmer wird üblicherweise gearbeitet, gelesen, geschraubt und viel vegetiert. Aber dann gibt es so einen Film wie Studie I: dieses morgendliche Erwachen in einem Zimmer. Das ist ein Film, der ziemlich nahe ist, und ein bißchen unheimlich, weil er so eine direkte Situation wiedergibt, die tatsächlich völlig weg ist; er ist von 1951, 1952, also dreißig Jahre her, und zeigt eine Situation der Existenz, die ich mal geführt habe.28
166
Das Interieur stellt, viel eher als dass es ein Leben darstellte, was einer realistischen Darstellung gleichkäme, die Existenz des Künstlers dar. Die Existenz eines erfolglosen Künstlers, dessen Bilder nicht in Galerien hängen, sondern zu Hause in der Ecke stehen. Ein Ausbruch ist hier nicht zu erwarten. Nach dieser Impression, dem Zurechtfinden im Üblichen, schreitet der Protagonist nun weiter seines Weges zur ersten Tat des Tages. Er geht durch den Raum auf die Kamera zu, so weit, bis er das Bild vollkommen einschwärzt. Es folgt eine kurze Einstellung des nunmehr menschenleeren Zimmers. Die Silhouette des Mannes ist bereits auf dem Weg in die Küche, die ebenfalls vom beschädigten Leben erzählt. Sie beherbergt viel Unordnung und leere Flaschen. Nun steht er vor einem Wandspiegel -, er blickt sich ins Gesicht und beginnt, stark grimassierend, sich die Zähne zu putzen. Die Bilder sind immer wieder durch kurze Schnitte durchbrochen und vermitteln so den Eindruck einer Diskontinuität oder Fehlerhaftigkeit. Es ist ein Mittel, das Bewegung, Brüchigkeit vorstellt, in einer Szene, die nicht erstarrter sein könnte. Inzwischen hat der Protagonist den Kopf in den Nacken gelegt und gurgelt heftig. Unter kurzen wiederholenden Bildschleifen zündet er sich eine Zigarette an und befindet sich nun in der Diele/ Kammer, wo er sitzt und raucht. Nachdem er das morgendliche Erwachen und Aufstehen vorexerziert hat, erscheint nun auch die unbekleidete Frau, die sich in somnambuler Haltung durch die Szene bewegt. Die Frequenz von Gegenschnittsequenzen, die die bereits gesehenen Bilder wiederholen und zwischen den ‚normalen’ Ablauf der Szene geschnitten sind, steigt zum Ende des Films an. Die geisterhafte Gestalt der Frau, deren Anwesenheit nicht eindeu28
Farocki 1986, 127.
Bilder der Konvulsion
tig ist, beendet das traurige Morgenspiel, das gerade durch seine Redundanz auf nichts Gutes hoffen lässt. Gerade in dem Film Studie I sind Sachen drin, die man nur im Film ausdrücken kann; das zerknautschte Bettlaken, schmutzige Füße, die aus dem Bett aufstehen, das Zähneputzen in der Küche, schmutzige Fensterscheiben – das sind visuelle Eindrücke, die mir sehr deutlich bleiben und die ich beim Schreiben tatsächlich nie ausdrücken könnte, die sich auch kaum malen oder zeichnen lassen: das ist es eben. Da ist es sinnvoll, Filme zu machen. Das ist eine Welt, die sich nicht übertragen läßt, die muß also Film bleiben.29 In dieser sechsminütigen Skizze ist ein erstarrtes Innenleben zu sehen, das den Kontakt zu den Dingen, zur Wirklichkeit verloren hat. Die Elemente der angeblichen Realität scheinen wie Fremdkörper, wie auch die Figuren selbst als unbelebt erscheinen. Einem Traum gleich bewegen sich die Scheinhandlungen auf ein Ziel zu, das im Unklaren bleibt und letztlich in unendlichen Wiederholungen besteht. Die Nacktheit der Frau, die mit Sexualität konnotiert ist, deutet zugleich Beziehungslosigkeit an. Eine Interaktion zwischen den Figuren findet nicht statt. Die Geschlechter können sich nicht aufeinanderzubewegen, sie sind gewissermaßen blockiert und erschöpfen sich in monotonen, redundanten Scheinhandlungen. Die Bilder hinterlassen jedoch Ratlosigkeit: Jede Interpretation muss an der Beliebigkeit der ausdeutbaren Elemente scheitern.
4.2 Studie II (Hallucinationer / Halluzinationen) Die zweite Studie [d.i. Studie II, Hrsg.] ist von 1952, als ich noch als Maler arbeitete und anfing, Collagen zu machen. Der Film ist erst mit Zeichnungen entworfen worden, und dann haben wir die Einstellungen genau nach den Zeichnungen konstruiert. Weil da ja sehr viele Personen in einer Szene zusammenwirken, um mit ihren verschiedenen Gliedmaßen eine Figur zu bilden.30 Im Vergleich zum ersten Kurzfilm bildet in Halluzinationen keine realistische Szene den Hintergrund für surrealistische Befremdlichkeiten. Es handelt sich vielmehr um zwölf Tableaus auf schwar29
Farocki 1986, 128.
30
Farocki 1984, 255.
167
André Fischer
zem Untergrund, auf denen hell erleuchtete Leiber in Ausschnitten zu sehen sind. Innerhalb der Tableaus gibt es keine Schnitte oder Kamerabewegungen wie Schwenks oder Fahrten, es wird lediglich auf- und abgeblendet. Eine Besonderheit ist die Tonspur, die Peter Weiss aus verschiedenen Aufnahmen und selbst erzeugten Geräuschen zusammengefügt hat. Zu hören sind verschiedene metallische, kratzende Geräusche, tinnitusartige Piep- und Summtöne, undeutliche Radiowellen und Gesprächsfetzen. Diese Toncollage wirkt zusätzlich zu den Köperteilen entfremdend: Ein ziemlich abstrakter Raum erscheint, vorne stark beleuchtet, und hinten geht er in Schwarz über. Von einer oder mehreren Personen ist da der Oberkörper und der Kopf zu sehen, dann ragen da Gliedmaßen ins Bild und ergänzen die Person zu einer organisch nicht möglichen Weise. Also da, wo ein Mensch Arme haben könnte, ragen vielleicht Füße herein, die Beine müssten dem Menschen da aus der Hüfte wachsen, wie man das bei animierten Collagen kennt. Es gibt keine Schnitte und in den einzelnen Bildern keinen Vorgang, es sind Bildideen.31
168
In der ersten Einstellung, die hier als Beispiel genommen wird, ist ein nackter, bärtiger Mann zu sehen, der am Boden liegt. Mit den Beinen ist er in einen anderen Körper verknotet, der am linken Bildrand ins Bild ragt. Der Mann hält mit seinem ausgestreckten rechten Arm eine Glaskugel in die Höhe und betrachtet diese. Aus dem rechten Bildrand ragt ein Arm, der nach der Kugel greift; eine angedeutete Geste, die öfter wiederholt wird. Im Hintergrund sitzt eine nackte Frau vor einem Spiegel und betrachtet ihr Gesicht, sie fährt sich mit der rechten Hand durchs Haar. Die weißen Körper leuchten aus dem schwarzen Hintergrund hervor; die einzigen Linien im Bild bilden die Köperumrisse und die Konturen des Spiegels und der Glaskugel, welche das Zentrum der Szene ausmacht. Die Darstellung ruft zunächst symbolische Assoziationen hervor. Doch fehlt jede Lesbarkeit der Bilder. Gleichfalls fällt es schwer, einen Zusammenhang zwischen der Selbstbespiegelung im Hintergrund und dem angedeuteten Sündenfall herzustellen. Aufgrund der Hermetik lassen sich keine Parallelen zur surrealistischen Schreckens- oder Schockästhetik aufweisen; es findet keine Explosion des Hermetischen ins Reale statt, wie es Breton gefordert hatte, vielmehr hat die Szene eine Spiegelzelt-Atmosphäre, in der dem Betrachter klar wird, dass der Ausbruch der Kunst in die Realität nicht stattfinden wird. Am ehesten noch weckt der Titel Hallucinationer Anklänge an den psychoanalytischen Aspekt des Surrealismus. Er gibt zugleich 31
Ebd.
Bilder der Konvulsion
die Tendenz an, die diesem Formexperiment zu Grunde liegt. Weiss selbst thematisiert sie in seinem Buch Avantgarde Film zusammen mit der Studie IV: Durchgehend wurde die Absicht verfolgt, Körperteile von verschiedenen Personen derart in einem Bild zu arrangieren, daß sie zusammen neue, mehr oder weniger deformierte Gestalten bildeten.32 Für Weiss liegt das Geschehen vollständig auf einer emotionalen Ebene.33 Gefühlsräume der Erotik, der Lächerlichkeit oder emotionalen Gewalt wechseln einander ab und bilden zusammen ein Geschehen jenseits von Handlungen. Allein im Bezug auf das szenische Arrangement kann hier von surrealistischen Anleihen gesprochen werden – man fühlt sich an die desorientierte Leiblichkeit aus frühen Cocteau-Filmen erinnert (z.B. Le Sang d‘ un poète), an die monotonen Sprünge der Balletttänzerin aus René Clairs Entr`acte oder an die Formexperimente des frühen Man Ray (z.B. Emak Bakia).34 Die Konzeption des Films beruht allein auf der abstrakt-pathetischen Darstellung von Gefühlsmomenten, die zusammengenommen eher einer Aneinanderreihung als einer Dramaturgie entsprechen. Hier scheint, wie man ergänzen könnte, der Maler Peter Weiss durch, sowohl hinsichtlich des Aufbaus der Bilder als auch hinsichtlich der starren Kamera. Zwar nähert sich das Bedeutungsspiel dieses psychologischen Schaukastens einer surrealistischen Ästhetik an, zielt aber eher auf das Fragmentarische, das sich der Herstellung jedes Zusammenhangs verweigert: Studie II (Halluzinationen) transportiert seine gleichzeitig auch literarisch bearbeitete Thematik von Kommunikationslosigkeit und Befangensein in lähmenden Normen in eine äußerst artifizielle Bilderwelt. In zwölf sehr genau vorgezeichneten Szenen werden Versuche von Kommunikation, Ansätze zu Handlungen vorgeführt; der undurchdringliche, schwarze Hintergrund und das Fragmentarische, ballettartig Komponierte der Bilder zerstören jeden traditionellen Handlungsverlauf, die Szenen ordnen sich nach assoziativen, nicht restlos auflösbaren Prinzipien.35
32
Weiss 1995, 41.
33
Ebd., 141.
34
Auch die abstrakten Arbeiten des absoluten Films (u.a. Hans Richter, Viking Eggeling ) haben für Weiss eine wichtige Vorbildfunktion gehabt.
35
Hiekisch-Picard 1984, 131.
169
André Fischer
4.3 Studie III (Vorstufe zu: Frigörelse / Befreiung) A man moves through the world, his alter ego on his back. He encounters surroundings and places that remind him of the prejudice he is trying to shed. His goal is to liberate himself, within art, from conventional and the clichés expression and language,36
170
schreibt Ilmar Laaban in Swedish Experimental Film after World War II über die Studie III. Weiss’ drittes Filmexperiment spielt gleichsam in der realen Außenwelt, wobei auch diese wieder mit symbolträchtigen Sujets und psychologischen Mustern durchsetzt ist. Es gibt im Vergleich zur Tafelbildästhetik der zweiten Studie Schnitte, Schwenks und natürliches Licht. Das erste Bild zeigt eine lange Außentreppe, die Peter Weiss, der wieder den Protagonisten37 spielt, schwungvoll hinunterläuft. Im nächsten Bild zieht derselbe einen Mann aus einem Geröllhaufen. Es handelt sich um ein altes, verbrauchtes Ich38, welches der Protagonist nun auf seinem Rücken durch die Szene trägt. Wie im ersten Film sind die Bildfolgen mehrfach unterbrochen und zerstückelt. Eine Methode, die viele kurze Wiederholungsschleifen erzeugt; das Stilmittel der Redundanz ist […] durch ökonomische Notwendigkeit begründet.39 Bereits hier wird deutlich, dass es sich eben doch nicht um eine Darstellung der Außenwelt handelt, sondern dass diese bereits durch das Subjekt und dessen Wahrnehmung bearbeitet ist. Die Hauptfigur könnte man ›das Ich‹ nennen, das sein ›Gegen-Ich‹ aus einem Haufen von Ausschuss- und Abfallmaterialien der künstlerischen Produktion zieht. In einer Halle stehen verschiedene Skulpturen und Kunstobjekte, die möglicherweise einen ›gelingenden‹ Produktionsprozess andeuten sollen. Das Künstlerbild sowie die Künstlerproblematik referieren hier auf den Maler Peter Weiss. Welcher Teil der Psyche ist für welchen künstlerischen Ausdruck verantwortlich? Und bedeutet die therapeutische Überwindung von Traumata unter Umständen eine Selbstbeschneidung des Künstlers?
36
Laaban 1991, 20.
37
Vielmehr das Ich des in sich gespaltenen Protagonisten. Das Es, wenn man so will, wird von einem anderen Schauspieler (Lennart Rudström) verkörpert.
38
Weiss 1995, 143.
39
Eine Feststellung Beat Mazenauers im Bezug auf Studie I, der ja wie erwähnt, mit den gleichen Wiederholungsschleifen arbeitet. Siehe: Mazenauer 1996, 88.
Bilder der Konvulsion
Der beschwerliche Weg des ›Ich‹ zu seiner möglichen Selbstbefreiung führt in der nächsten Szene in ein dunkles Haus mit dunklen Wänden und dunklem Mobiliar. Immer noch trägt das ›Ich‹ sein ›alter ego‹ auf dem Rücken durch die bedrückenden Räume. Eine blonde Frau (Gunilla Palmstierna-Weiss) sitzt am Klavier und spielt darauf ohne Beachtung der Prozession, die an ihr vorbeizieht. In einem weiteren Zimmer sitzt ein Rentnerehepaar an einem Tisch, der Mann liest Zeitung, die Frau strickt. Es ist ein erdrückend-ruhiges, familiäres Bild mit Frau, den Eltern und den schizophrenen Abspaltungen des ›Ich‹ unter einem Dach. Doch auch die Eltern interessieren sich nicht für das psychologische Selbstmitleid des Sohnes, der in ihrem Wohnzimmer seine eigenen Reste umher trägt, ablegt, um in Papieren und Zetteln herumzukramen.40 Nach dieser vermeintlichen Arbeit hebt er seinen ›Leichnam‹ wieder auf und trägt ihn aus dem Haus. Er ist nun draußen, auf einem schlammigen Acker, auf dem er sich seines ›Anderen‹ entledigt. Er legt ihn ab, geht zunächst und läuft dann immer schneller auf den Horizont zu, läuft beschwingt wie zu Beginn der Treppenszene, die damit Anfang und Ende des psychologischen Prozesses zusammenschließt und in einer Wiederholungsschleife gefangen hält.
4.4 Studie IV (Frigörelse / Befreiung) In Studie IV (1954) von Peter Weiss wird ein Befreiungsprozess geschildert. Der Protagonist bewegt sich durch verschiedene, für ihn bedeutungsvolle Räume, etwas mit sich schleppend, das ständig seine Form verändert, sich zum Schluss jedoch als er selbst erweist. Es ist ein altes, verbrauchtes Ich, das von ihm abgefallen ist.41 Hier spricht Peter Weiss in der dritten Person über seinen eigenen Film, der eine alternative Umsetzung des Stoffes aus der vorherigen Studie III darstellt. Gleichzeitig kehrt er zur ästhetischen Form des zweiten Films (Hallucinationer) zurück, wobei die starre Tafelästhetik durch eine schleppende Dynamik ersetzt wird. Auffallend sind, neben den starken Schwarz-weiß Kontrasten, erneut die akustischen 40
Wenn zuvor der Maler, mit seinen unzureichenden künstlerischen Leistungen thematisiert war, so könnte dies hier die schriftstellerische Arbeit sein, wobei diese biographischen Bezüge sehr grob und einfach erscheinen. Weiss selbst beschreibt dies in Avantgarde Film so, dass er in den Papieren wühlt, »als ob diese eine Erklärung [für die traumhafte Wirklichkeit] beinhalten könnten.« (Weiss 1995, 143.)
41
Weiss 1995, 142.
171
André Fischer
Collagen, deren entrückte Geräuschwelten der bildästhetischen Form ein Pendant zur Seite stellen. Beide, Studie II und Studie IV, experimentieren auch mit den Möglichkeiten einer neuen akustischen Welt. Die Filme werden begleitet von kreischenden, kratzenden, klirrenden Halluzinationsgeräuschen. 42
172
Ein wichtiger Aspekt dieser Toncollagen ist die Verweigerung jeglicher dramatischer Effekte. Die industriell anmutenden Klangteppiche nehmen keinen Bezug auf die dramatische Handlung, geben keine Auslegung oder Deutung des visuellen Geschehens vor, wie es klassische Filmmusik tut. Musik und Lärm greifen in surrealistischer Manier ineinander. Weiss, der den Tonfilm wenig schätzte, versuchte so, neue Möglichkeiten des Umgangs mit Ton im Film experimentell zu erproben und den Eindruck eines Vorübergehenden, Fragmentarischen und Unfertigen zu wecken. Mit der Technik der visuellen Überblendung werden zudem Gliedmaßen auf ihre groben physischen Eigenschaften reduziert. In der ersten Einstellung ragt eine Hand vom rechten oberen Bildrand ins Bild. Diese wird überblendet durch eine Zange, die die aggressiven, zupackenden und abklemmenden Kräfte der Hand betont. Das Maschinelle am menschlichen Körper, seine Funktionalität scheint auf. Die Hand wird dabei ebenso zum Fremdkörper, wie die Zange ein Innenleben bekommt. Die bloße Hand, welche die unbelebten Dinge der Physis zu formen und zu bearbeiten vermag oder die Zange, welche dem besten Freund als ›Hand‹ gereicht wird. Tatsächlich ist in der Studie IV die surrealistische Formsprache am konsequentesten umgesetzt, indem die Außenwelt ein Eigenleben gewinnt und die Innenwelt sich in ein lebloses Fremdes verkehrt. Die Gleichnisreihe setzt sich mit einem Arm fort, der sich zu einem Holzscheit verwandelt, sowie einem Handrücken, der zu einem Hammer wird. Dann erkennt man Elemente der Studie III wieder, wenn das ›alte, verbrauchte Ich‹ aus einem Geröllhaufen gezogen wird. Die Darstellung ist allerdings zu kurzen Schlüsselbildern verdichtet: Der Griff beim Handgelenk (wieder mit der Hammersymbolik eines Gewaltaktes), die zwei Gesichter, die eine Psyche darstellen, oder das Aufbuckeln des leblosen Ichs, welches sich in einen Packen Holz verwandelt. Die Szene aus dem verdunkelten Haus spielt nun in lakenbehangenen Atelierräumen. Die Steinstatuen sind hier aus Holz und Papier. Aus dem Klavier ist jetzt ein Webstuhl geworden, an dem eine dunkel-
42
Ebd., 143.
Bilder der Konvulsion
haarige Frau spielerisch tätig ist.43 Die ganze Szenerie erinnert an eine Brecht’sche Theaterbühne, auf der Darstellende und Darstellungsmittel durch eine Barriere von dem getrennt sind, was sie darstellen.
4.5 Studie V (Växelspel / Wechselspiel) …Växelspel/ Wechselspiel, zeugt von Weiss’ avancierter künstlerischer Beherrschung der Filmsprache. Schönheit wie Grausamkeit der Phasen des Liebesaktes markiert der Film u.a. dadurch, daß verschiedene geometrische Figuren, wie Kuben, Kreise etc., durch Doppelbelichtung ins Bild komponiert und mit den stilisierten Bewegungen des menschlichen Körpers parallelisiert werden. So entsteht eine ausdrucksstarke Wechselwirkung zwischen abstrakten und organischen Formen,44 schreibt Sverver Ek über den Filmemacher Peter Weiss. Hatte er zuvor mit Techniken der Toncollage oder Bildmontage experimentiert, bedient er sich hier des abstrakten Zeichentricks in Anlehnung an Viking Eggeling und den absoluten Film. Jedoch manieriert der Trickfilm nicht zu abstrakten Formspielen, vielmehr kombiniert Weiss dessen graphische Elemente mit dem klassisch fotografischen Film. Die Charaktere, Mann und Frau, die auch hier eher psychische Zustände verkörpern, lösen sich in geometrische Linien, Flächen und Körper auf. Wieder ist eine Musik unterlegt, deren Trommeln allerdings eher mystisch-esoterisch als halluzinatorisch wirken. Erneut bilden, wie in allen anderen Filmen, die Hände ein zentrales Motiv, das zwischen Handreichung und abweisender oder gewaltsamer Geste changiert. Das andere Versatzstück aus der Welt der Leiber ist das Gesicht. Die Gesichter und Hände werden in unterschiedlichen Positionen und Proportionen montiert. Wir haben es mit ähnlichen Eindrücken wie in Hallucinationer zu tun, mit zerstückelter und neu zusammengesetzter Körperlichkeit, zu der die geometrischen Figuren hinzukommen und dem Ganzen den Eindruck einer dynamischen Malerei verleihen: Weiss näherte sich seinem neuen künstlerischen Experimentierfeld also mit klarer ästhetischer Bewußtheit und hohen 43
Dieses Bild lässt an Peter Weiss’ Gemälde Der Webstuhl I (1947) denken, auf dem ein Mann mit anscheinend abgezogener Haut und mit drei Armen ausgestattet an einem expressionistischen Webstuhl sitzt.
44
Ek 1991, 141.
173
André Fischer
Ambitionen. Er glaubte in ihm ein neues Medium gefunden zu haben, das in seiner Wirklichkeitsgestaltung ausdrucksstärker und flexibler war als das Statisch-Räumliche der Malerei. Das vitale Konkretionsvermögen des Films lag für ihn in der Möglichkeit ‚der Erweiterung unseres Vermögens, das Dasein zu erfassen’. Effektiver als jede noch so ereignisreiche Handlung mußte es sein, wenn die Struktur des Films durch die ‚emotionale Substanz des Bildflusses’ konstituiert wurde.45 Momente des Schreckens und des Abgrunds bleiben jedoch aus. Es ist der vorletzte Experimentalfilm Peter Weiss’, an dem die durchgehende Tendenz einer Auflösung der Wirklichkeit in abstrakte Formen zu beobachten ist (Entwicklung von Studie I zu Studie II und von Studie III zu Studie IV), um schließlich mit der Auflösung der Formen in einen visuellen Nullpunkt zu münden.
4.6 Ateljéinteriör (The Studio of Dr. Faust / Atelierinterieur) An den Grenzen des Mediums Film, nahe an der audio-visuellen Installation, spielt der Versuch Ateljéinteriör. Zentral für die vorhergehenden Filme war die Auseinandersetzung mit dem Arbeitsund Denkraum des Künstlers, dem Atelier. Nun verflüchtigt sich der Raum zu einem lärmenden, flirrenden und farbigen46 Kompendium aus lauter Bildern. Der einzige Farbfilm unter den vierzehn Arbeiten, Atelierinterieur (Das Studio des Dr. Faust) aus dem Jahr 1956, bildet den Höhepunkt und gleichzeitigen Abschluss der surrealistischen Phase in Peter Weiss’ Filmschaffen. In diesem zehnminütigen Film verbindet Weiss die Problematik seiner späten bildnerischen Arbeiten, besonders der Webstuhl-Bilder, mit einem Rückgriff auf die Tradition des Avantgarde-Films. Peter Weiss inszeniert in Atelierinterieur mit den Mitteln moderner Filmtechnik ein ›Faust-Laboratorium‹, in dem die Welt sich auflöst in einen ›Hexensabbat aus Linien, Flächen, Strukturen und Farben‹, in welchem sich eine männliche Gestalt (gespielt von Carlo Derkert) verliert und am Ende resigniert zurückbleibt, die Augen mit der Hand bedeckend. Die Entfremdung von
174
45
Ebd, 143.
46
Es ist der einzige Farbfilm in dieser Reihe. Auch die späteren Dokumentarfilme und der Spielfilm Häringen sind allesamt in Schwarz-Weiß.
Bilder der Konvulsion
einer als unerkennbar postulierten Realität ist in diesem Film am weitesten fortgeschritten.47 Wieder sind Gesichter zu sehen, allerdings blitzen sie nur schemenhaft und verzerrt auf. Ein Zahnrad symbolisiert den industriellen Aspekt der Kunstproduktion. Es taucht, wie die Hände, Gesichter oder ein Augenpaar, nur kurz zwischen der schrillen Oberfläche aus Glas und Kunststofffolien auf. Abermals ist eine industrielle Geräuschkulisse zu hören, die durch dumpfe, männliche Stimmen und tierisches Geschrei bereichert wird. Die Kamera fährt unruhig durch dieses künstliche Gestrüpp. Mit dem Faust-Bezug im Titel und durch die wilde Konstruktion der Bilderfolge entsteht der Eindruck einer wahnsinnigen Verzweiflung über das notwendige Scheitern des Versuchs der Erweiterung unseres Vermögens, das Dasein zu erfassen. Das Faust-Motiv pointiert einen Künstler, dessen (filmische) Werke spätestens hier jede Darstellungs- und Verweisungsfunktion verweigern, der versucht hat, das Medium Film an seine Grenzen zu bringen. Er hat ihm nahezu alle abbildenden, narrativen und dramaturgischen Mittel entzogen, um auf experimentelle Weise auszustellen, was noch übrig bleibt, um wahrgenommen zu werden und durch die Krise der Repräsentation die Krise der Wirklichkeit zu repräsentieren. In seiner Selbstbeschreibung in Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache schildert Peter Weiss die buchstäbliche Verzweiflung dieses Grenzgangs: Dann geriet er in die Regionen, in denen die Wörter zu Chiffren wurden, zu Rebuszeichen, in denen sie sich zurück verwandelten in die Bilder, aus denen sie einmal hervorgegangen waren. Am Anfang waren die Bilder. Im Traum waren die Gegenstände und Ereignisse, die sich in ihm regten, losgelöst von der Tätigkeit des Benennens.[…] In diesem Zustand lag es nah, daß er sich nur noch an die Bilder hielt. Er projizierte die inneren Bilder auf Tafeln, und diese Tafeln brachen nicht, wie die Blätter mit Wortzeichen, von der Leere auseinander, sie hielten, sie spiegelten sein Vorhandensein.48
5. Konvulsive Schönheit Die Serie von Filmexperimenten hat sich konsequent von Splittern einer Darstellung alltäglicher Beziehungslosigkeit zu den Grenzen der Darstellbarkeit entwickelt. Die Bilder, die dabei auf Zellu47
Hiekisch-Picard 1984, 132.
48
Weiss 1968c, 178.
175
André Fischer
loid gebannt wurden, gleichen psychologischen Scherenschnitten, die sich Genrezuordnungen verweigern, um möglichst radikal einen Seeleninhalt zu gestalten. Wie in den frühen Erzählungen, die zur selben Zeit entstanden, arbeitete Weiss hier an den Grenzen des Mediums. Fernab von kanonisierten Kunstinhalten hat er in einer eigenständigen Bildsprache seine Form des zufällige[n] Zusammentreffen[s] einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!49 realisiert. Der Regisseur Peter Weiss hat sich danach Filmprojekten konkreteren Inhalts zugewandt und Dokumentarfilme gedreht, die andere ästhetische Ziele verfolgten als die Suche nach einer ›konvulsiven‹ Schönheit. Betrachtet man seine Experimentalfilme heute, lassen sich unterschiedliche Einflüsse und ästhetische Vorstellungen erkennen. Von diesen ist, wie ich zu zeigen versucht habe, der Einfluss des Surrealismus sicher der präsenteste wie auch relevanteste, wie auch in den Erzählungen und manchen Passagen der Ästhetik des Widerstands deutlich wird. Obwohl Weiss zu Beginn der 1960er Jahre den Begriff der Konvulsion gegen den des Engagements eintauscht, bleibt er zumindest für Karl Heinz Bohrer der einzige deutsche Nachkriegsschriftsteller, der sich als Erbe und Schüler des klassischen französischen Surrealismus empfinden kann.50 Mehr als durch seine literarischen Zeugnisse wird dieses Erbe durch sei Filme markiert.
176
49
Lautréamont 1963, 223.
50
Bohrer 1970, 79.
Bilder der Konvulsion
Literatur Anz, Thomas (2007) Lesen und Schreiben nach Freud, Informationen zum Projekt Psychoanalyse in der literarischen Moderne. In: Marburger UniJournal Nr. 28, Februar 2007. Zu finden unter: http://www.uni-marburg.de/aktuelles/unijournal/feb2007/ freud Benjamin, Walter (1966) Der Sürrealismus – Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: Ders.: Angelus Novus – Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bohrer, Karl Heinz (1970) Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror. München: Hanser. Breton, André (1968) Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Breton, André (2002) Nadja. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ek, Sverver (1991) Eine Sprache suchen – Peter Weiss als Filmemacher. In: Peter Weiss – Leben und Werk. Hrsg. v. Gunilla Palmstierna-Weiss u. Jürgen Schutte Frankfurt/M.: Suhrkamp. Enzensberger, Hans Magnus (1962) Aporien der Avantgarde. In: Ders.: Einzelheiten. Frankfurt/M.:Suhrkamp. Farocki, Harun (1984) Gespräch mit Peter Weiss. In: Gerlach 1984. Farocki, Harun (1986) Gespräch mit Peter Weiss. In: Gerlach / Richter 1986, Gerlach, Rainer / Richter, Matthias (Hrsg.) (1986) Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gerlach, Rainer (Hrsg.) (1984) Peter Weiss. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hiekisch-Picard, Sepp (1984) Der Filmemacher Peter Weiss. In: Gerlach. 1984, S. 129-144. Laaban, Ilmar (1991) Swedish Experimental Film after World War II. In: Swedish Avantgarde Film 1924-1990. Hrsg. v. Anthology Film Archives. New York 1991. Aus: AdK, Berlin, Peter-Weiss-Archiv, Nr. 2652. Lautréamont (1963) Die Gesänge des Maldoror, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Mazenauer, Beat (1996) Staunen und Erschrecken. Peter Weiss’ filmische Ästhetik. In: Peter Weiss Jahrbuch Band 5. Hrsg. v. Rainer Koch, Martin Rector, Rainer Rother, Jochen Vogt. Opladen: Westdeutscher Verlag. Starobinski, Jean (1973) Psychoanalyse und Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1968a) Rapporte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1968b) Aus dem Pariser Journal. In Weiss 1968a.
177
André Fischer
Weiss, Peter (1968c) Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In Weiss 1968a. Weiss, Peter (1995) Avantgarde Film. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
178
Hans-Christian Stillmark Inszenierungen des Körpers in frühen Werken von Peter Weiss
In einer neueren Auffassung, die der Komplexität des menschlichen Körpers unter ästhetischem Aspekt gerecht werden möchte, heißt es bei Dietmar Kamper: Nach der einen Seite ist der Körper sterblich, vergänglich und verwesend, nach der anderen Seite ist er als Geschlecht bestimmt, im doppelten Sinne von gender und sex. Er ist produktiv und reproduktiv, er erzeugt und empfängt, er handelt und leidet unter der Prämisse, dass er selbst zugrunde gehen muss. Erst eine solche Prämisse hält Anschluss an die Geschichte der menschlichen Souveränität. Alles andere beschleunigt die Disziplinargesellschaft, die im panoptischen Zustand das zerstört, was sie zu beherrschen vorgibt. Am Körper und seinen Sinnen kann eine spezifische Leidensgeschichte nachgelesen werden, die eine der Folien der Geschichte des europäischen Nihilismus abgibt, als jener geistigen Grundrichtung, die beim kleingeschriebenen ›nichts‹ endet. Tod und Sexualität gelten noch immer als die beiden fundamentalen Schwächen des Körpers und sind mit Urängsten besetzt. Um beiden historisch Genüge zu tun, gab es eine einzige zivilisatorische Strategie: Transformation des (vergänglichen) Körpers ins (ewige) Bild […] Bilder sind Denkmäler gewesenen Lebens. Erst in der Dimension des zerstückten Körpers gäbe es Leben, mit dem man etwas anfangen kann. Deshalb bleibt für eine historische Anthropologie des Körpers die Kategorie des Schmerzes unabdingbar. 1
1
Kamper 2001, 427ff.
179
Hans-Christian Stillmark
180
Kampers Begriffsbestimmung verfügt den Körper in eine Bewegung zwischen die Dichotomien von Leben und Tod, Bild und Tabu, Vergänglichkeit und Dauer, Ganzheit und Fragment. Der Körper ist so lesbar als ein Zeichen von Veränderung und Wandel. Die Transformation in Richtung des Werdens und Vergehens ist ihm inhärent. Nicht zuletzt aus diesem Grund bilden Körper seit je Reibungspunkte des Zeigens und des Verstehens. Mit den Vorführungen des Körpers werden Sinnbildungen des Lebens zentriert. Sie teilen in kulturwissenschaftlicher Perspektive auch ein soziofaktisches Statut mit. In den Darstellungen des Körpers sind Diskurse lesbar, die über die Lebensmöglichkeiten und seine Grenzüberschreitungen Zeugnis geben. Gerade Peter Weiss hat in seinem bildkünstlerischen Werk eine Vielzahl dieser Diskurse zur Darstellung gebracht. Wenn ich mich hier vorrangig auf die literarischen Diskurse beziehe, will ich die bildkünstlerischen Prämissen im Weiss’schen Werk keineswegs ausblenden. Eine erschöpfende und hinreichende Zusammenschau, die beiden Medien und Modi gerecht werden könnte, ist hier jedoch nicht zu erwarten. Allenfalls kann die angestrebte Bestandsaufnahme des literarisch verfassten Körpers als eine Vorausleistung für die Beziehungen zu den anderen Künsten angesehen werden. Ich werde mich daher im Folgenden auf die hier angesprochenen Kategorien des Lebens, des Todes, der Sexualität, des Schmerzes und über Kamper hinausgehend auf die der Lust vorrangig in Medium des Literarischen beziehen. Der Körper, der Leib des Menschen ist bereits seit den frühesten Arbeiten des Schriftstellers Peter Weiss ein Gegenstand des Interesses und ein bevorzugtes Sujet der Darstellung gewesen. Bereits in den Phasen seines Lebens, als Weiss sich am ehesten noch als bildender Künstler verstand, ist die Darstellung des Leibes unübersehbar zentral. Die Körper der Menschen inmitten ihrer (zumeist städtischen) Umwelt sehen wir in dem überlieferten bildkünstlerischen Werk seit Mitte der 30er Jahre immer erneut gestaltet. Von der Aktmalerei bis zu den Menschen in der Straßenbahn, den Inszenierungen im Großen Welttheater oder dem Fundamentalentwurf Die Maschinen greifen die Menschen an bis zu den von Caspar David Friedrich beeinflussten Menschen in Gartenlandschaften – der menschliche Körper bildet in dem ihn umgebenden Raum ein Problemfeld und erweist sich geradezu als eine Konstante in Weiss’ Schaffen. Auffallend ist dabei, dass die figürlichen Gestalten häufig von den zumeist städtischen Landschaften erdrückt werden und damit auf ein eklatantes Missverhältnis zwischen Mensch und (sozialer) Umwelt hinweisen. In einem der frühesten erhaltenen literarischen Versuche, dem Traktat von der ausgestorbenen Welt (1938/39) ist die Einsamkeit und Isolation des Menschen als umfas-
Inszenierungen des Körpers
sende Dystopie gestaltet. Die Menschen haben sich nach einer unerklärt gebliebenen Katastrophe restlos aufgelöst und in Luft verwandelt2. Auflösung und Abwesenheit bilden das eine Extrem, das das körperliche Verschwinden bezeichnet. Robert Cohen hat die biographischen Entstehungsbedingungen dieser extremen Sichtweise eindringlich beschrieben, er spricht in diesen frühen Jahren von den Jahren des Mangels: Mangel an familiärer Zuwendung, an Freundschaft, an Heimat, an Sprache, an Erfolg, an Zukunft, an Menschen und Welt. Exiliert und isoliert in London und Warnsdorf. Dachkammerexistenz.3 In einem etwa 5 Jahre später entstandenen Text Von Insel zu Insel4, der aus dreißig Prosaminiaturen besteht, schildert eine sensible erzählerische Ich-Instanz Stationen ihrer eigenen Entwicklung. Es sind hier vor allem Szenen des Schreckens und der Qual gestaltet, die in einer unerhörten Dichte folgen und die zumeist in eine tödliche Perspektive münden. Neben der Verarbeitung biographischer Erlebnisse und Erfahrungen, so ist in einer Passage z.B. der Tod der Schwester mitgeteilt, stehen erste Verarbeitungen des Massenmords unter dem Faschismus. Die Vernichtung des Menschen geschieht hier mit einer nach Kafkas Strafkolonie gefassten Hinrichtungsmaschine, die der Idee der humanen Hinrichtung zu dienen habe. Robert Cohen macht auf die Kontinuität der Körper-Arbeit im Weiss’schen Schaffen aufmerksam: Identifikation mit den Opfern von Folter und Gewalt (und oft auch mit den Tätern) bis zu kaum mehr ertragbarem Mit-leiden, gleichzeitig dokumentarisch-übergenaue Schilderung des Vorgangs und der Geräte dieser Qualen: hier entfaltet sich zum ersten Mal Weiss’ Methode der künstlerischen Wahrheitsfindung. Sie wird in diesem literarischen Werk zur Gestaltung einiger der großen Passagen des Jahrhunderts führen: den Folterszenen in der Ermittlung, dem Untergang der Roten Kapelle in der Ästhetik des Widerstands.5 Auch in dem wenig später, also 1948 entstandenen, erstmals auf deutsch geschriebenen literarischen Text Der Vogelfreie (auch in schwedisch als Dokument I bzw. später wiederum in deutsch als Der Fremde veröffentlicht)6 ist ein Ich in einer vergleichbar aussichtlo2
Weiss 1938/39, 54.
3
Cohen 1992, 54.
4
Weiss 1944.
5
Cohen 1992, 60.
6
Ausführliche Angaben zur Textgeschichte siehe bei Cohen 1992, 65 f. Peter Weiss gab den Text unter dem Pseudonym Sinclair erst relativ spät heraus: Sinclair 1980.
181
Hans-Christian Stillmark
182
sen Lage. Auf Arbeitssuche und auch auf der Suche nach menschlichem Kontakt durchstreift der Erzähler eine Stadt und gerät an unterschiedlichste Stationen, die ihm seine Fremdheit und Andersartigkeit vor Augen führen. Dabei verliert das Ich seine eigene Realität, es verliert gleichsam seinen Körper und wird zum Nichts. Namenlos. Eine Art Seismograph7. Dass hier ein nihilistischer Vorgang inszeniert ist, muss hier mit dem Verweis auf Kamper nicht noch einmal ausdrücklich betont werden. Die Auslöschung, die hier vorgeführt wird, lehnt sich aber stark an die Programmatik der Gruppe der Fyrtiotalister (Generation der vierziger Jahre) an. Wie Wiebke Ankersen in ihrem Nachwort zum erst posthum veröffentlichen Text Situationen (auf deutsch: Die Situation) schreibt, hatte diese Gruppe intensiv verschiedene Strömungen der europäischen Moderne, besonders Psychoanalyse, Surrealismus und Existentialismus verarbeitet. Die existentielle Erfahrung einer chaotischen und destruktiven Realität, in der alle Werte und Ideologien ihre Gültigkeit verloren hatten, prägte das Bewusstsein dieser Intellektuellen um die Leitfiguren Karl Venneberg und Erik Lindgren.8 Weiss verabschiedete sich im Umfeld der Fyrtiotalister von seinen romantisch inspirierten Anfängen. Das Erfassen der existentiellen Situation des Menschen war für Weiss auch und gerade für sein weiteres Schaffen zu einem unabdingbaren Arbeitsgegenstand geworden. Um noch einmal zu dem Text Der Fremde zurückzukommen: ›Niente‹ also ›Nichts‹ heißt auch die Hauptgestalt, die Peter Weiss in seinem Drama Der Turm9 auftreten lässt. Die Kontexte verweisen auf die literarische Tradition von Calderons Das Leben ein Traum, Hugo von Hofmannsthals gleichnamiges Drama und die Texte um die Gestalt des historischen Findlings Kaspar Hauser. Im Gegensatz zu den gestalteten geschichts-historischen Ansprüchen, die bei Calderon und bei Hofmannsthal mit dem isolierten Gefangenen verbunden sind, bleibt die Figur des Niente ganz der Sphäre unmittelbarer Familie und engstem Lebenszirkel verhaftet. In Analogie allerdings zu den Vorbildern wird im Turm auch ein Befreiungsprozess dargestellt, der ›Niente‹ schließlich zu seinem Namen finden lässt. Pablo – eine Gestalt benannt vielleicht nach dem Antipoden in Hesses Steppenwolf – befreit sich am Ende des Stückes von einer traumatischen Kindheit. Als Entfesselungskünstler gelingt ihm der Ausbruch aus den Zurichtungen, die sein bisheriges Leben bestimmten. Die elterlichen Instanzen, die in den Figuren des ›Direktors‹ und der ›Verwalterin› über ihn verfügten und ihn im Turm gefangen 7
Sinclair 1980, 82.
8
Ankersen 2000, 254.
9
Weiss 1948.
Inszenierungen des Körpers
hielten, vermag er in einem Akt äußerster Anstrengung zu überwinden. Er überlebt den Untergang des Zirkus mit dem Strick um den Leib, der der Nabelschnur gleicht, der er sich entwand. Das Gefühl, dass das eigene Sein ausgelöscht wird, dass sich der Körper selbst abhanden kommt, gewinnt in den Texten am Beginn der 50er Jahre immer stärker an Macht und so sucht der Erzähler im Fremden auf sich selbst einzuschlagen, um sich noch seiner selbst zu vergewissern. Schließlich führt er einen befreienden und nicht enden wollenden Tanz auf, aber auch diese Selbstberauschung führt nicht aus der Isolation. Wie stark die literarischen Texte des Frühwerks von der biographischen Seite her unterfüttert sind, unterstreichen beispielsweise die im Nachlass-Typoskript November 1950 aufgeschriebenen Notizen: Ich bin der funktionslose Emigrant, aus allen Städten, Ländern und Gemeinschaften ausgewandert, […] ich radebreche in allen möglichen Idiomen, verstehe meine eigenen Worte nicht, widerspreche mir ständig.10 Das hier angesprochene Sprachproblem ist nur Teil einer allgemeinen Entwurzelung, welche tiefgreifend und allumfassend in Weiss’ reflektierendes Fühlen, Empfinden und Denken eingegangen ist. Nicht zuletzt geben die Versuche, mit Hilfe der Psychoanalyse sich selbst auf den Scheitel zu schauen, Zeugnis von der Gebrochenheit der Weiss’schen Existenz dieser Jahre. Wiebke Ankersens Hinweis auf das Abklingen der fruchtbaren, weltoffenen Atmosphäre11 in den 50er Jahren ist als weitere Ergänzung zum Umfeld von Weiss hinzuzuziehen. Es dominierten in der schwedischen Kultur nunmehr Restauration und Provinzialismus. Die Künstler, die gegen die Weltflucht und Verdrängung, sich dem Zug nach Idyllen verweigerten, wurden kaum wahrgenommen. Aber auch in der deutschen Nachkriegsentwicklung war trotz des allgemeinen Hungers nach Weltbezug beim intellektuellen Publikum in der Masse wenig Interesse für die Aufarbeitung des Vergangenen. Peter Suhrkamp, dem Weiss das Manuskript des späteren Der Fremde 1948 zukommen ließ, konnte mit der ›Erzählung‹, in der eigentlich kein Vorgang erzählt wird, nichts anfangen. Zu verstörend werden Identitätslosigkeit, Unangepasstheit und Handlungsverlust gewirkt haben, als dass sich damit Bücher verkaufen ließen. Das konsequente Beharren auf Fremdheit, Unzugehörigkeit und Beziehungslosigkeit musste seinerzeit trotz der existentialistischen Anfänge in Westeuropa tiefgreifendes Unverständnis und Verstö10
Zit. nach Schütz 2004, 81f.
11
Ankersen 2000, 255.
183
Hans-Christian Stillmark
rung ausgelöst haben. Künstlerisch hatte Wolfgang Borchert in Draußen vor der Tür das gesellschaftliche Desinteresse und das Verdrängen von Verantwortung am Beispiel seiner Beckmann-Figur gestaltet. Wie lang diese unbefriedigende Situation anhielt, ist an der Resonanz des auf dem Szenarium des Fremden basierenden Film Hägringen abzulesen. Der Film erhielt zwar zur Uraufführung 1959 eine freundliche Kritik12, verschwand aber schon nach einer Woche wegen fehlenden Zuschauerzuspruchs aus den Kinos. Auch hier war das Avantgardistische in Bild und Beschreibung spürbar, für ein Publikum erschienen aber derart gesteigerte Überschneidungen des Innen ins Außen (und umgekehrt) nicht als annehmbar. Zur Metapher der Gefangenschaft, Entfremdung und Entkörperlichung ist im Text Der Fremde erstmals ein weiteres strukturbildendes Element hinzugetreten. Es ist dies das Eindringen des männlichen Protagonisten in die Stadt als sexueller Vorgang. Die Stadt, die auch als riesige Gebärmutter aus Stein13 bezeichnet wird, bekommt durch die Metapher weibliche Züge, und wird vom männlichen Protagonisten mit obsessiver Energie begehrt und bedrängt. Bestandteile dieser erotisch aufgeladenen Stadt sind unter anderem die Dirnenstraße, die Vergnügungen im Palast der Nacht, eine Welt des Zirkus bestehend aus Pappe, Gips und Tingeltangel14. Ähnlich wie auch im späteren Abschied von den Eltern findet der Erzähler keinen wirklichen Zugang zum Weiblichen und erlebt vielmehr eine Frustration seines Verlangens. Es ist ihm nicht möglich, ähnliche Empfindungen wie die Stadtbewohner sie erleben, zu teilen. Gemäß den Provokationen des von Weiss geschätzten Surrealismus sind die präsentierten Objekte der Lust zu einer schockierenden Demonstration gegen die erotischen und sexuellen Tabus des bürgerlichen Doppellebens verarbeitet. Der Biograph Robert Cohen befindet: Man kann jedoch annehmen, dass in Der Fremde nicht nur die sexuellen Tabus der Gesellschaft, sondern auch Weiss’ eigene sexuelle und emotionelle Befreiung vorangetrieben werden sollten. Ein Prozess der Selbstbefreiung, der erst ein dutzend Jahre später abgeschlossen werden wird, mit den autobiographischen Texten Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt.15
184
12
Die Bewertungen des Films durch die damalige Filmkritik schwanken. Nach Cohen 1992, 51 f. gingen die Urteile der Kritik weit auseinander, während Dwars von einer »fast enthusiastischen« Kritikerreaktion sprach. Vgl. Dwars 2007, 108.
13
Sinclair 1980, 103.
14
Ebd., 129.
15
Cohen 1992, 68.
Inszenierungen des Körpers
Wie kompliziert dieser Prozess verläuft, ist besonders an der Erzählung Das Duell von 1951 nachzuvollziehen. Es wäre hier ein Scheitern zu konstatieren und eine Sackgasse, die in einem Pandämonium scheußlicher Brutalitäten, Vergewaltigungen, Inzest, Abtreibungen, Selbstmord- und Mordversuchen16 schließlich zu männlichem Sadismus und unerträglicher Misogynie führt. Literatur fungiert hier scheinbar als Selbsttherapie und ist über eine Entgrenzung ins Extrem verschoben. Weiss schießt in der Verbindung von Folter, Qual und sadistischer Sexualität weit über das Ziel erotischer Befreiung hinaus. Lebensgeschichtlich mag Das Duell eine wichtige Station bezeichnen, für den Autor bedeutete diese Zuspitzung jedoch einen Irrweg. Verweisen möchte ich hier auch auf das frühe Stück Die Versicherung von 1952, wo in den 19 Szenen unter anderem ein anarchischer Revoluzzer namens Leo dem Polizeipräsidenten, dem Arzt und anderen Stützen der Gesellschaft während einer Festgesellschaft die Frauen ausspannt und verführt. Zugleich gerät diese Gesellschaft in das Kabinett eines größenwahnsinnigen Dr. Kübel, der seine sadistischen Phantasien an den Gästen auslässt. Fast zeitgleich mit diesen Martern vergnügt sich Leo mit der Frau des Polizeipräsidenten, die er anschließend in einen Mülleimer verfrachtet. Was bei Beckett 1957 im Endspiel zur theatergeschichtlich folgenreichen Provokation gereichte, ist bei Weiss nahezu folgenlos geblieben. Die Verlage und die Theater umgingen das Stück. Fragt man nach den Ursachen dieser Abstinenz, wird man schnell auf die Unverhülltheit und Drastik der textuellen Bilder des Körperlichen kommen. Der Zustand des sadistisch zugerichteten Körpers ist in der Öffentlichkeit unaussprechlich. Die Inszenierung des widerständigen körperlichen Materials greift in die tabuisierten Zonen ein, die gesellschaftlich im Allgemeinen umgangen werden. Weiss bewegte sich in einer Tradition, die von der Prüderie der deutschen Nachkriegskultur ausgeschlossen wurde. Die autobiographisch stark geprägten Figuren der Erzählung Die Situation diskutieren Koordinaten einer Kunst, die ganz auf die Außenseiterposition setzt. Nicht zufällig wendet sich dabei der Dramatiker Paul gegen die Langeweile, das Vage und Romantische in der zeitgenössischen Kunst. Er beschwört geradezu eine Position konsequenter Besessenheit, wie sie im Theater Antonin Artauds präfiguriert war. Es war ein solches Theater, von dem er träumte. Ich sehe es vor mir, dieses ›innersekretorische‹ Theater, ein Theater der Beschwörungen, voller magischer Riten, Schreie, Flüstern, aku-
16
Ebd., 72.
185
Hans-Christian Stillmark
stischer Phänomene, phantastischer Bewegungen und Lichtspiele. Ein Theater, das den Zuschauer mitten in den Solar Plexus trifft, ein Theater der Nerven und Emotionen.17 Entsprechend stark sind in Die Situation auch die Zeichen gesetzt. Ob es gemalte Bilder des Geschlechtsaktes sind, oder imaginierte Vorstellungen desselben, ob es sich um die Beschreibungen von rasenden Umarmungen zwischen den Protagonisten oder um Metaphern handelt, die ein Seinsverhältnis zu artikulieren versuchen, die im Text beschriebenen körperlichen Sensationen haben die Tendenz, die Grenzen der Sprache zu übersteigen und selbst zum Faktischen zu werden. Schwer liegt Knuts Körper auf Sonja, gewaltsam wälzt sich Ossians nackter Körper mit dem festgebissenen wimmernden Frauentier auf dem Eisenbett und registriert die weiteren Möglichkeiten der Steigerung des Wollustschmerzes; Worte, Worte stehen aufgereiht auf Tausenden von Seiten in den Mappen ringsum, Worte, die versuchen, die Ganzheit des Lebens abzudecken, und die doch nur ein kaum sichtbares mikroskopischen Gebiet berühren. […] Im Augenblick der Verschmelzung versinken alle anderen Gedanken. Einsame Irrwege, labyrinthische Versuche, nach dem Unerreichbaren zu greifen, versinken, zusammen mit der düstren und unwichtigen Geschichte der Jahre des Aufwachsens.18
186
Dass Die Situation zu Lebzeiten Peter Weiss’ unveröffentlicht blieb, ist nicht zuletzt ihrem gesteigerten Realismus zuzuschreiben. Während noch in den 40er Jahren die Figuren in einer existentiellen Unbestimmtheit agierten, sind die Protagonisten gesellschaftliche Außenseiter in der bestimmten, klar umrissenen gesellschaftlichen und historischen Situation. Wiebke Ankersen macht auf die Analogie der Filmarbeit zu Gesichter im Schatten aufmerksam und liest den Titel des Romans als die Übersetzung der in Schweden vieldiskutierte[n], existentialistische[n] Forderung nach Situationsanalyse, bewußtem Lebensentwurf und Verantwortung des Einzelnen.19 Zu der Drastik und der Körperlichkeit der Sprache sei bemerkt: Seitdem in der Zeit der Nazidiktatur reform- und sexualpädagogische Bestrebungen sowie ihre Befürworter verfolgt, verjagt und ›ausgemerzt‹ worden waren, blieb die deutsche Kultur von den Modernisierungsbestrebungen abgeschnitten. Eine erotische Systematik 17
Weiss 2000, 26.
18
Ebd., 250f.
19
Ankersen 2000, 257.
Inszenierungen des Körpers
war ohnehin in der deutschen Entwicklung verhindert worden, vielmehr waren die sexuellen Strebungen dem Verdikt des Sündhaften unterworfen. Dietmar Kampers Feststellung ist hier zu unterstreichen: Luthers und anderer abfälliges Diktum vom Madensack, der faulendes, verwesendes Fleisch enthält, hat die Vorstellungen vom Körper seit dem späten Mittelalter geradezu obsessiv besetzt gehalten.20 De Sade, Bataille oder Henry Miller etwa waren für die deutsche Hochkultur der frühen 50er Jahre nicht einmal diskutabel. In der deutschen Literatur waren die Sensationen des Körpers, insbesondere Lust und Schmerz, nur in schamvollen Anspielungen, Auslassungen und ironischen Brechungen á la Thomas Mann zu haben. Noch immer empfand man Benns Morgue-Gedichte über den toten und kranken Leib als ein Skandal. Die Reifung und Entwicklung eines Törleß ließen sich nur als ›Verwirrungen‹ kennzeichnen, worin bereits die Spur einer auktorialen Distanzierung mitschwang. Selbst der listige Augsburger Brecht versuchte das eigene Frühwerk zu verbergen, das einstmals thematisch Wedekinds Befreiungsarbeit von Repression fortzusetzen gedachte. Bekanntlich wurde in der Erinnerung an die Marie A. nur noch eine gewisse ›Wolke‹ erinnert und nicht mehr das, was unter den Pflaumenbäumen sich ereignet hatte… Dieser Zustand des Verhüllens, Verbergens und Verdrängens von ausschweifender Sexualität und lustvollem Genuss von Erotik wurde, wie man weiß, erst in den 60er Jahren aufgebrochen, woran, wie man sieht, Weiss selbst einen erheblichen Anteil hatte. Wie sehr Deutschlands Zuchtmeister wirksam gewesen waren, mag auch ein Kollege von Peter Weiss belegen. Die Sprache der Sexualität, so beklagte noch Franz Fühmann in den späten 70er Jahren, als er die inzestuösen Verhältnisse Georg Trakls mitzuteilen sich mühte, sei in Deutschland entweder durch die Medizin und Hygiene nur in aseptischer Unterkühlung möglich oder versinke in einem zotenhaften Landserjargon.21 Gerade dies suchte Weiss zu attackieren und zugleich zu korrigieren. Mit dem Ansatz einer rückhaltlosen Aussprache versuchte er, den Nöten des isolierten und dressierten Körpers einen Ausdruck zu geben. Möglicherweise machte sich wohl auch die in seiner schwedischen Umwelt offenere Diskursivität des Körperlichen bemerkbar. Der Transfer dieser Diskurse ins Deutsche misslang, weil die Grenzüberschreitungen und Tabubrüche mit außerordentlicher Rigorosität vorangetrieben wurden und die bei Weiss anzutreffenden surrealistischen Züge für eine deutsche Leserschaft abschreckende Wirkungen hervorriefen. Eine kulturkritische Debatte entlang der Grenzen der Pornographie, 20
Kamper 2001.
21
Vgl. Fühmann 1975, 147ff.
187
Hans-Christian Stillmark
188
wie sie heute geführt werden kann, war seinerzeit ausgeschlossen. Wer sich wie Weiss rückhaltlos den vielfältigen Bedrängungen und Gefährdungen körperlicher Reifung und jugendlicher sexueller Orientierung zu stellen suchte, war schließlich wiederum auf sich selbst verwiesen. Insofern ist auch der Transfer der psychoanalytischen Therapie in das eigene künstlerische Werk eine einsame Arbeit geblieben. Wichtig für den hier zu betrachtenden Zusammenhang ist, dass sich Peter Weiss in dieser Frühphase des Ringens um künstlerische Artikulation ein Repertoire an Problemstellungen und Reibungspunkten erarbeitet hatte, um eigene Bedrängungen zu formulieren und davon ausgehend dann gesellschaftliche Kollisionen und Interventionen zu inszenieren. Zu beobachten sind unterschiedliche Semantiken des Körpers, die zum einen in einer Perspektive der Auslöschung und des Verschwindens bestehen. Eine Tendenz der Ver-Nichtung und Entkörperlichung kennzeichnet eine Position des Unterworfenen, Dressierten und Überwältigten, der zu empfindsam, zu sensibel mit den Brutalitäten der unmenschlichen Umwelt konfrontiert ist. Gemäß den erzieherischen Dressurakten versucht der jugendliche Körper sich den eigenen Bedürfnissen und Strebungen zu verweigern, worin sich eine zweite Perspektive einstellte, die der körperlichen Zerstückelung, wie sie in den Motiven der Qual, der Marter und der Folter zum Ausdruck gebracht wird. Beide Tendenzen sind erstmals mit Aussicht auf Wirkung in der deutschen Öffentlichkeit in der Erzählung Der Schatten des Körpers des Kutschers von 1952 synthetisiert worden. Der detailversessene und scheinbar beziehungslose Blick des Erzählers auf die Oberflächen der Menschen und ihrer Umwelt steht im Kontrast zu dem Vater-Sohn-Konflikt oder dem sexuellen Akt von Haushälterin und Kutscher. Dass in der Figur des in Verbände eingewickelten Doktors die körperliche Pein des Marat eine erste Gestaltung erfährt, verweist auf die Beharrlichkeit, mit der Weiss bestimmte Konstellationen immer erneut variierend beibehält. Seit den Schreibversuchen und ersten Texten hatte sich in den 40er Jahren für Weiss die Frage nach dem Medium der Kunst immer dringlicher gestellt. Deutlich wird gerade in der Malerei ein Übergang vollzogen, der in den Bildern Das Atelier und Der Schreiber zum Ausdruck kommt. War im Atelier noch der Maler abgebildet, so nimmt diese Position nunmehr der Schriftsteller ein. Gleichzeitig beginnt aber auch der Film angeregt unter anderem durch die surrealistischen und dokumentarischen Arbeiten Louis Bunuels für Weiss sich als neues künstlerisches Medium anzubieten. Die 50er Jahre sind dementsprechend mit den Arbeiten zum Film gefüllt. Dass bestimmte Konstellationen wie eben Der Fremde in der Film-
Inszenierungen des Körpers
arbeit (Hägringen) erneut aufgenommen werden, hat nicht nur mit dem zur Verfügung stehenden biographischen Material zu tun. Es sind dabei auch bestimmte (Welt-)Anschauungsweisen, zu Komplexen verdichtete Wertsetzungen und prozessual aufgefasste Gestaltungsweisen erneut variiert und praktiziert. Man könnte, obgleich dies zu Missverständnissen einlädt, in diesem Zusammenhang von einem strukturalistischen Vorgehen sprechen. Bestimmte prozessuale Auffassungen und Gestalten sind zu ›Vorgangsfiguren‹22 verdichtet. In ihnen ist ein etwa ähnlicher Gestus gegenüber dem Rezipienten eingenommen, ein Gestus, der zwischen scheinbar sachlichem Zeigen und dem drastischen Demonstrieren changiert. Lebensumstände des jungen Künstlers, die mit den Attributen von Gefangenschaft, Isolation und Fremdheit versehen sind. Ausbruchsversuche und Entfesselungen, die in eine Freiwerdung wahrhaftig empfundenen Daseins münden. Wichtig wird am Ende der 50er /Anfang der 60er Jahre, ausgelöst durch den Tod der Eltern, die erneute Selbsterkundung, die nunmehr mit einem gewissen Abstand vom Frühwerk sich dem eigenen Gewordensein mit veränderten Maßstäben erneut zuwendet. Ich übergehe hier die in den veröffentlichten Notizbüchern gehäuften Miniaturen, Einfälle, Notate, Streiflichter, Erwägungen und Traumfetzen, die dem Projekt eines Geheimbuches in gewisser Weise Realität verleihen und konzentriere mich auf das Werk im engeren Sinne. Gegenläufig verbinden sich hier die schriftstellerische Arbeit und das Interesse für den menschlichen Leib in mehrfacher Weise wieder mit der Arbeit am Bild. Hier sind im bildnerischen Werk die Collagen, insbesondere die zu Der Schatten des Körpers des Kutschers und zu Abschied von den Eltern zu nennen. In ihnen veranschaulichen sich an Max Ernst geschulte Anordnungen menschlicher Körperlichkeit, die in ihrem Verhältnis zum literarischen Text keineswegs mehr illustrativ zu bezeichnen wären. Es sind vielmehr neue Dimensionen und kommentierende Erweiterungen erkennbar, die beispielsweise im Zyklus Abschied von den Eltern die sachlich referierende Ebene des Textes mit expressiver Bildkraft erweitern und übermalen. Gleichermaßen ist aber auch in den literarischtextuellen Visualisierungen der menschliche Körper in eine inhaltlich-strukturelle Kategorie erhoben. Der Abschied von den Eltern, der den Vorgang der Befreiung von autoritären Überwachungs- und Strafinstanzen der 40er und 50er Jahre erneut aufgreift, ist bekanntlich zugleich auch als Reifungs- und Entwicklungsgeschichte verfasst, worin sich viele Problemstellungen des bisherigen Lebenswegs bündeln. Es ist wiederum auch die Geschichte einer Bemächtigung 22
Vgl. Schlenstedt 1979.
189
Hans-Christian Stillmark
über den eigenen Körper, der bedingt durch die traumatischen Erlebnisse von Kindheit und Jugend sich seiner geschlechtlichen Funktion buchstäblich verweigert. Ich bin der Ansicht, dass in den Bezugnahmen auf den Körper ein weitaus höheres Maß an inszenierter und überaus genau kalkulierter Verdichtung innewohnt, als man gemeinhin annehmen möchte. Ich gehe dabei von einem Modell aus, das ich der jüngeren neurophysiologischen Forschung entnehme und das mit den Worten Ernst Pöppels recht gut zu beschreiben ist. Pöppels These hinsichtlich der körperlichen Empfindung von Lust und Schmerz ist, dass in unserem Erleben stets beide Dimensionen gleichzeitig, Lust und Schmerz also zusammen, enthalten sind. Jedes Erlebnis ist eingebettet in beides, enthält sowohl Lustvolles als auch Schmerzhaftes. Lust und Schmerz schließen sich also nicht unbedingt aus.23 Gleichzeitig widerspricht Pöppel energisch der Vorstellung eines ausgeglichenen Gemütszustandes, den man sozusagen in der ausgewogenen Mitte zwischen den Extremen Lust und Schmerz verortet. Er hält dagegen, dass wir von Natur aus nicht ›ausgeglichen‹ sind und dass das Streben danach uns nicht zum ›natürlichen‹ Zustand zurückführt, sondern etwas schafft, das nicht in unserem Wesen liegt.24 An den Grenzen des Erlebens nun, so kann Pöppel belegen, ereignen sich bei einem entsprechenden quantitativen Höchstmaß Umschläge in eine neue Erlebnisqualität Eine solches Höchstmaß an Lust erleben wir beispielsweise im sexuellen Kontakt als Wollust.25 Bei entsprechender Intensität erfährt der Schmerz ebenso einen Umschlag und wird zur Qual. Die Grenzerlebnisse, also etwa das Außersichsein in der Ekstase des Schmerzes oder der Lust sind nun auch jene Erlebnisse, die uns an die Grenzen unserer Identität führen – und sie manchmal überschreiten lassen […] Und ohne solche extremen Erlebnisse, ohne an die Grenzen des Erlebens herangeführt worden zu sein, kann sich kein Gefühl der eigenen Identität entwikkeln.26
190
Wenn wir diesen Standpunkt der modernen Psychophysiologie auf die geschilderten Situationen aus Abschied von den Eltern übertragen, so zeigen sich überraschende Übereinstimmungen, die gewisse Ambivalenzen in den Empfindungen und der Beschreibung plausi-
23
Ernst Pöppel: Vgl. Pöppel 1994, 104.
24
Ebd., 105.
25
Ebd.
26
Ebd.
Inszenierungen des Körpers
bel machen. Ich erinnere hier beispielsweise an das Ritual der vollzogenen Züchtigungen des Vaters. In besonders schweren Fällen (kindlichen Vergehens – d. V.) erwartete die Mutter den Vater schon am Gartentor, ich konnte sie dort vom Zimmer aus, in dem ich zur Strafe eingesperrt war, sehen. […] Ich drückte mein Gesicht an die Scheibe und verfolgte mit meinen Blicken ihre heftigen Gesten. Die Spannung in meiner Magengrube war einem Lachkitzel ähnlich. […] Endlich kam er ins Zimmer gestürzt, lief auf mich zu, packte mich, und legte mich über sein Knie. Da er nicht stark war, taten seine Schläge nicht weh. Qualvoll bis zum Brechreiz war nur die demütigende Gemeinschaft in der wir uns befanden. Er auf mich einschlagend, ich jammernd, lagen wir in einer schreckhaften Umarmung übereinander […] Atemlos, schweißbedeckt, saß mein Vater da, nachdem er seine Kräfte verausgabt hatte, und nun mußte er getröstet und gehegt werden, er hatte seine Schuldigkeit getan, nun kam die Versöhnung, nun kam der kranke Familienfrieden, auch die Mutter eilte hinzu, und wie ein einziger Block lagen wir ineinander verschlungen, weinend in den Tränen der Erleichterung. Gemeinsam gingen wir jetzt hinab in das Haus, das wir gemeinsam bewohnten und wir aßen Kuchen und tranken Schokolade mit Schlagsahne.27 Es ist eigenartig, wie hier die Strafe und die Züchtigung in eine Liebkosung umschlagen. Dem Vater, der merkwürdigerweise in der Erzählung eher weiblich konnotiert ist, gelingt es nicht, die Rolle der patriarchalischen Autorität durchzustehen. Dagegen fällt die Mutter, wie schon in den frühesten Kindheitsbildern festgehalten wird, aus den sonst üblichen mütterlichen Charakterisierungen heraus. Sie wird in ihrer Übermacht auch zu einem gefährlichen Tier, das Angst verbreitet. Wie ein böser Geist war ich in dieses Heim gekommen, in einer Blechbüchse liegend, von meiner Mutter getragen, empfangen von wilden Kesselschlägen, vom beschwörenden Geschrei meiner Stiefbrüder. Am Rande eines Teichs hatte meine Mutter mich gefunden, zwischen Schilf und Störchen.28 Erneut ist hier die Geschichte von einem mosaischen Findling erzählt -, der autobiographische Rahmen, der scheinbar mit dokumentarischer Wahrhaftigkeit ausgestattet ist, wird brüchig. Erkennbar wird, wie so oft, jedoch in der Rezeption von Weiss’ Texten 27
Weiss 1964a, 88f.
28
Ebd., 14.
191
Hans-Christian Stillmark
relativ spät bemerkt, das Statut eines Hybrids zwischen Fiktion und Faktizität des Erzählten. Die mythische Aufladung der familiären Chronik zeigt sich auch in der kindlichen Wahrnehmung der Mutter: Da ist das Gesicht meiner Mutter. Ich flog zu diesem Gesicht empor, gehoben von ihren Armen, die alle Räume durchmessen konnten. Das Gesicht nahm mich auf und stieß mich von sich. Aus der großen, warmen Masse des Gesichts, mit den dunklen Augen, wurde plötzlich eine Wolfsfratze mit drohenden Zähnen. Aus den heißen, weißen Brüsten züngelten, wo eben noch tropfende Milchdrüsen waren, Schlangenköpfchen hervor.29
192
Zu beobachten sind hier die für Weiss charakteristischen und eigentümlichen Prinzipien der künstlerischen Gestaltung, die in einer Kombination von Faktischem, Fiktivem und den Zwängen des Mimetisch-Enthobenen strukturiert sind. Während man Letzteres häufig mit dem Attribut ›surrealistisch‹ kennzeichnete, war die Weiss’sche Kombination von Faktischem und Fiktivem in späterer Zeit zum Ausgangspunkt einer intensiven literaturwissenschaftlichen Genre-Diskussion geworden. Nur stichwortartig sei hier auf die Debatte um das sogenannte ›Dokumentartheater‹ verwiesen. Wichtiger für den Zusammenhang von Identität und der Schmerz/Lust-Dialektik: In der Eindringlichkeit der Bilder, die Weiss hier bemüht, wird evident, wie sich die Identität der Erzählerfigur gegen die sie umgebenden Eltern und deren Welt vor allem unter den Kategorien des lustvollen Schmerzes bildet, ein Schmerz, der in der Schulzeit durchaus auch schon in Quälerei durch die Mitschüler und Lehrer umschlägt. Erziehung zwischen Schlägen und Schokolade variiert die bekannte Formel deutscher Politik zwischen ›Zuckerbrot und Peitsche‹. Auf der Mikroebene der Familie ist damit die gesellschaftliche Makrostruktur beinahe spiegelbildlich verinnerlicht. Sie erfährt insofern aber noch eine Zuspitzung, indem die arische Mutter die traditionelle Rolle des männlichen Familienvorstandes, der in diesem Fall den rassischen Favorisierungen nicht entspricht, nahezu vollständig übernimmt. Die Mutter (›Schlangenköpfchen‹ und ›Wolfsfratze‹) regiert als die oberste Straf- und Begütigungsinstanz sowohl den Sohn als auch den eher schwach gezeigten Vater. Schlange und Wolf in einem zu sein, bildet freilich unter den bevorzugten Mythologemen deutscher Abkunft eine besonders ausgezeichnete Variante. Bemerkenswert ist in diesem Prosatext, dass die Identitätsbildung nicht allein aus der Richtung eines heranwachsenden Opfers 29
Ebd., 17.
Inszenierungen des Körpers
von elterlicher Repression heraus erfolgt. Wichtig scheint mir der Hinweis auf das eigene Gewaltpotential zu sein, das unter bestimmten sozialen Möglichkeiten scheinbar nur darauf wartet, selbst entfaltet zu werden. In Marat / Sade, dem Theaterstück, das den Welterfolg des Dramatikers Peter Weiss begründen sollte, finden sich eine Reihe von Szenen, die auf die Gleichzeitigkeit des Schmerzes und der Lust sowie deren Ambivalenz verweisen. Ich möchte hier an die von de Sade geschilderte qualvolle Hinrichtung des erfolglosen Königsattentäters Damiens erinnern, vier Stunden lang während das Volk sich daran ergötzte / und während Casanova oben hinter dem Fenster / seiner zuschauenden Dame unter die Röcke griff […] Das / war ein Volksfest / mit dem sich unsere heutigen Volksfeste nicht messen können […] Unsere Morde haben kein Feuer / weil sie zur täglichen Ordnung gehören.30 An anderer Stelle spricht de Sade von den monströsen Vertreter[n] einer untergehenden Klasse / deren Macht sich nur noch in einem Schauspiel / körperlicher Exzesse darstellt / Bis ins kleinste Detail rekonstruierte ich / den Mechanismus ihrer Gewalttaten […] In einer Gesellschaft von Verbrechern / grub ich das Verbrecherische aus mir selbst hervor / um es zu erforschen und damit die Zeit zu erforschen/ in der ich lebte / Die Schändungen und Peinigungen / die ich meine erdachten Giganten ausführen ließ / führte ich selbst aus.31 Es lässt sich hier eine Parallele zum Ich-Erzähler des Abschieds von den Eltern ziehen, worin der sonst den Gewalttaten der Mitschüler ausgesetzte Knabe sich seinerseits in Gewaltphantasien selbst erzeugter Spielzeugriesen ergeht. Interessanterweise sind die Konsequenzen für beide Gestalten nicht analog: Während sich beim Ich-Erzähler des Abschieds eine Identitätsveränderung einstellt, von der er sich zwar rückwirkend wieder lossagt, die ihn aber auf die Seite der Starken, die die Schwachen quälen und demütigen, stellt, vermag de Sade die Schlächterarbeit des Tötens nicht zu vollziehen. Das Paradox der Revolution im Hinblick auf die Gewaltausübung kann er gegenüber Marat zwar formulieren, nicht jedoch praktizieren. Seine Ablehnung und Skepsis gegenüber der Revolution erwächst gerade aus den Gewaltexzessen, die in den veränderten Machtkonstellationen entfesselt werden. Tendenziell stellt er den Büchnerschen Fatalismus an der Geschichte auf ein theoretisches 30
Weiss 1964b, 36f.
31
Ebd., 68f.
193
Hans-Christian Stillmark
Fundament. Im Spiel wird gezeigt, wie er seinem Körper Gewalt antut, indem er sich masochistischen Praktiken unterzieht und mit der gewollten Mischung aus Schmerz und Lust sich damit exklusiv in einer Art individualistischer Revolte von der Masse abhebt. Eigenartigerweise trifft auf die Weiss’sche Sade-Figur nicht zu, was im Allgemeinen dem historischen Marquis de Sade unterstellt wird: Lust an der Gewaltausübung gegen andere zu empfinden. Das Moment des Konstruktiven, Transformierten und Inszenatorischen, das in der Figurenkonstellation und -korrelation des Dramas ständig angespielt und ausgestellt wird, findet so auch auf der Ebene der Figuren als Gestaltungsprinzip des Dramas statt. Die Kurzformel, die ›Charenton› auf ›Napoleon‹ sowie ›Revolution‹ auf ›Kopulation‹ skandiert, wendet das scheinbar individuell biographische Moment in eine geschichts-philosophische und politisch-soziale Ebene. Lust und Schmerz, Sexualität und Kampf, Verletzung und Bedürfnisbefriedigung. Erfahrung von Marter und Pein. Ausstellung von triebhafter Physis jenseits der Grenzen von Scham, Befreiung von den Obsessionen verbunden mit Einsichten in die Phantasien der Bemächtigung und des sozialen Raums sind in der Ästhetik des Widerstands wiederum einer Veränderung unterworfen. Hier soll nur so viel angedeutet werden, dass die Kategorien des Schmerzlichen, der Verletzung und des Todes sich nun auf die Arbeit und den Kampf konzentrieren, während die sexuellen Obsessionen weitgehend zurücktreten. Mit der Hodann-Figur ist zwar ein Gewährsmann eingesetzt, der die Problematik des individuellen Körpers virulent hält, die Lust-Schmerz-Dialektik wird jedoch nicht mehr in umfänglicher Weise problematisiert. Die Darstellung des geschundenen Leibes steht nun funktionell für die Abschreckung des politischen Gegners. Sie ist damit gleichsam in Dienst genommen und sieht von der Provokation des Lesers ab.
194
Inszenierungen des Körpers
Literatur Ankersen, Wiebke (2000) Nachwort. In: Peter Weiss: Die Situation. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 253-260. Cohen, Robert (1992) Peter Weiss in seiner Zeit. Leben und Werk. Stuttgart / Weimar: Metzler. Dwars, Jens-Fietje (2007) Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Berlin: Aufbau-Verlag. Fühmann, Franz (1975) Das mythische Element in der Literatur. In: Ders.: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock: Hinstorff Verlag, S. 147ff. Kamper, Dietmar (2001) Körper. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3 (Harmonie-Material) Hrsg. v. Karlheinz Barck et al. Stuttgart / Weimar: Metzler, S.427ff. Pöppel, Ernst (1994) Lust & Schmerz: an den Grenzen unseres Erlebens. In: Kunstforum International Bd. 126. Große Gefühle. März-Juni 1994, S. 104-108. Schlenstedt, Dieter (1979) Wirkungsästhetische Analysen. Berlin: Akademie–Verlag. Schütz, Günter (2004) Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie. Bd. 1 1947-1966. St. Ingbert: Röhrig. Sinclair (1980) Der Fremde. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1938/39) Traktat von der ausgestorbenen Welt. In: Der Maler Peter Weiss. Hrsg. von Peter Spielmann. Berlin: Frölich & Kaufmann 1982, S. 54. Weiss, Peter (1984) Von Insel zu Insel [Fran ö till ö, 1947] Berlin: Frölich & Kaufmann. Weiss, Peter (1976) Der Turm. In: Ders. Stücke I. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1964a) Abschied von den Eltern. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1964b) Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (2000) Die Situation. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
195
Jan Kostka Die Bearbeitung des VietnamProblems in Weiss‘ Trotzki im Exil
196
Peter Weiss’ Solidarität mit Vietnam wird oft als identifikatorisch, von Wunschvorstellungen geprägt, ja idealisierend beschrieben, 1 so dass das Thema meines Beitrags die Frage aufwirft, was mit einem Vietnam-Problem bei Peter Weiss eigentlich gemeint ist. Weiter lässt sich fragen, welche Bedeutung ein Vietnam-Problem den mehrmaligen Erwähnungen Vietnams in Trotzki im Exil gibt. Denn zunächst scheint es recht unspektakulär: Wenn beispielsweise in der zwölften Szene des Stückes, einem Gespräch Trotzkis mit Studenten in dessen französischem Exil, Stichworte wie Viet Nam und Nguyen Ai Quoc2 – also Ho Chi Minh – fallen, so werden Trotzkis Gedanken augenscheinlich für den Vietnamkrieg und die Studentenbewegung aktualisiert oder, aus biographischer Perspektive, Bekenntnisse Weiss’ zur Solidarität mit Vietnam der TrotzkiFigur in den Mund gelegt.3 Die Beschäftigung mit Text-Bezügen, die zwischen dem Viet Nam Diskurs, den vielen Materialien und Arbeitsentwürfen, die um dieses Dokumentardrama zu gruppieren sind,4 und dem Stück Trotzki im Exil bestehen, kann darüber hinaus zeigen, dass hier eine Entwicklung und Dynamik auszumachen ist. Im bereits erwähnten Gespräch mit Studenten verurteilt Trotzki die Unterstützung der chinesischen Kuomintang durch die Komintern. Ursprünglich in die Nationale Volkspartei mit aufgenommen, 1
Vgl. Giesenfeld 1991; Köhler 1996.
2
Weiss 1977a, 490.
3
Vgl. Beise 2002, 98-103. Cohen 2000; Rohrwasser 1999.
4
Versuche, diese Materialien zu ordnen und die Genese des Viet Nam Diskurses zu rekonstruieren wurden unternommen in: Gerlach 2005; Kostka 2006.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
brach der militärische Führer der Kuomintang Tschiang Kai Shek 1927 mit den Mitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas, ließ sie verfolgen und ermorden. Im Gegenzug begannen die chinesischen Kommunisten, Bauernverbände zu gründen und das später in Vietnam aufgegriffene Konzept des revolutionären Volkskrieges zu entwickeln.5 Die Trotzki-Figur zeigt nun anhand der chinesischen Vorgänge die Möglichkeit einer revolutionären Bewegung von der Peripherie aus auf: Der Kampf begann in den Städten. Aber die revolutionären Arbeiter wurden von der Kommunistischen Internationale gezwungen, sich der Kuomintang zu unterstellen. Ihr wißt, wie es ging. Tschiang Kai Shek ließ sie abschlachten.6 Die beinahe gleiche, später aber gestrichene Formulierung verwendet im Textbuch des Viet Nam Diskurses vom Oktober 1967 ein vietnamesischer Untergrundkämpfer: Die Revolutionäre in China erhielten den Befehl sich der Kuomintang zu unterstellen Und was geschah Als sie die Waffen abgegeben hatten wurden sie zu Zehntausenden abgeschlachtet7 Neben direkten Textbezügen lassen sich Rückgriffe Weiss’ auf Stoffe feststellen, mit denen er sich bereits bei der Arbeit am Viet Nam Diskurs beschäftigte. Jürgen Horlemann exzerpierte als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter umfangreiche Materialien zur vietnamesischen und sowjetischen Geschichte für das Theaterstück, darunter war auch der Bericht Ho Chi Minhs an die Komintern vom Juli 1939. Im Exzerpt heißt es: Gegenüber den Trotzkisten: Keine Allianz, keine Konzession. Man muß mit allen Mitteln diese Agenten des Faschismus demaskieren, man muss sie von der politischen Bildfläche verschwinden lassen. 8 In einer früheren Fassung des Trotzki im Exil, wahrscheinlich vom April oder Mai 1969, greift in der 12. Szene ein französischer Student diese Formulierung wieder auf: Was in Viet Nam, in China geschieht, entspricht den Theorien der Permanenten Revolution. […] Trotzdem heisst es im Programm der Indochinesischen Partei, keine Allianz mit den Trotzkisten, keine Konzessionen, Demaskierung dieser Agenten des Faschis5
Vgl. Gäng / Reiche 1967.
6
Weiss 1977a, 489.
7
Peter-Weiss-Archiv der Akademie der Künste, Robert-Koch-Platz 10, 10115 Berlin. Mappe 1973, S. 67. Im Folgenden: PWA.
8
PWA 1964. Exzerpt aus: Ho Chi Minh: Die Parteilinie in der Periode der Demokratischen Front (1936-1939). Bericht an die Komintern, Juli 1939.
197
Jan Kostka
198
mus. Darauf folgt dann die Regieanweisung ›Gelächter‹ und ein ›indochinesischer Student‹ ergänzt: Ja. Mao Tse Tung, und die indochinesische Partei, sie sind zu Geschichtsfälschungen bereit. Unterstellen sich nach außen hin Richtlinien, die für die asiatische Revolution unzutreffend sind.9 Peter Weiss strich die zitierten Passagen im Verlauf der weiteren Arbeit an Trotzki im Exil. Es ließen sich noch weitere Beispiele für gestrichene, plötzlich als deplaziert angesehene, umgestellte und dann doch wieder abgeschwächte Formulierungen, zum Teil in den verschiedenen Fassungen des Viet Nam Diskurses, aber auch in Textübertragungen aus dem Viet Nam Diskurs in das Trotzki-Stück aufführen. Möglicherweise wollte Peter Weiss in Trotzki im Exil etwas zum Thema Vietnam formulieren, das ihm schon bei der Arbeit am Viet Nam Diskurs nahelag. Was aber in diesen Textstellen eigentlich mitgeteilt wird, verweist auf einen Zusammenhang, den ich Vietnam-Problem nenne. Ein indochinesischer Student in Frankreich beschuldigt die kommunistische Partei Indochinas, zu Geschichtsfälschungen bereit zu sein, und die vietnamesischen Partisanen im Kampf gegen die französische Kolonialgewalt gehen davon aus, dass sie von der Komintern wenig Gutes zu erwarten haben. Eine internationale, ungebrochene Befreiungsbewegung gibt es nicht; das Problem aber taucht mit der Frage auf, wie dieser Befund mit der damals dringend gebotenen Notwendigkeit einer internationalen kämpferischen Solidarität mit Vietnam zu vereinbaren war. Wir befinden uns im gleichen sozialen Kampf, schrieb Weiss 1966 im Kursbuch.10 Wie kann man mit Texten und Stücken, die von ihrer Materialbasis her nur das Zerbrechen einer Utopie beschreiben könnten, diese dennoch einfordern? Ein charakteristisches Beispiel für dieses Problem findet sich beispielsweise im 9. Kursbuch vom Juni 1967. In diesem gibt es zwei Dossiers. In dem einen wird diskutiert, ob die Sowjetunion in den Vietnamkrieg eingreifen sollte, um mit einer Gegeneskalation die Ausrottung des vietnamesischen Volkes zu verhindern.11 Im zweiten wird die befreiende Kraft sowjetischer Militärgewalt demontiert, denn hier geht es um die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands von 192112 und um den Widerspruch zwischen der siegreichen Revolution und den Interessen der kommunistischen Staatspartei,13 wie es Hans Magnus Enzensberger im Nachwort zu diesem 9
PWA 1987, 71.
10
Weiss, 1971, 39.
11
Vietnam und die Weltrevolution. Eine Kontroverse. In: Kursbuch 9, Juni 1967, S. 130-141.
12
Kronstadt 1921 oder die Dritte Revolution. In: Kursbuch 9, Juni 1967, S. 7-33.
13
Ebd., 32.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
Dossier schreibt – und wie es nach ihm Peter Weiss den Oppositionellen Schljapnikow in Trotzki im Exil sprechen lässt: Genossen, die Interessen der Revolution geraten in einen Widerspruch zu den Interessen der Kommunistischen Staatspartei.14 Wie Peter Weiss mit diesem Widerspruch umgegangen ist, zeigt sich am besten im Briefwechsel mit der schwedischen Schriftstellerin Sara Lidman. Sowohl Sara Lidman als auch Peter Weiss besuchten Nordvietnam, schrieben Reiseberichte darüber und engagierten sich in der Vietnam-Solidarität. Im Januar 1979 beschrieb sie ihm, immer noch tief verunsichert, ein Erlebnis, das bereits vier Jahre zurücklag: Als Saigon befreit wurde waren wir vormittags draußen in der Botschaft. Viet15 war übernächtigt und sprach ganz laut und offen […] Er sagte ungefähr so etwas wie: Jetzt haben wir eine Kriegsausrüstung, die uns zur führenden Macht in Südostasien macht – keiner kann uns bedrohen. Wir werden es sein, die die Führung in der Region übernehmen. Kurz gesagt, ich fasste seine Worte als sehr furchteinflößend chauvinistisch und machtlüstern auf.16 Peter Weiss antwortete ihr, dass er genauso erschrocken wie sie auf die Ansprachen des vietnamesischen Botschafters reagiert und ebenfalls den Verdacht hegt, dass es in der vietnamesischen Regierung Kräfte gibt, die faktisch eine Veranlagung haben, die im langen Lauf gesehen, vielleicht verhängnisvoll sein wird. […] Mit diesem chauvinistischen Zug, da hast du natürlich recht – selbst wir störten uns oft daran, als wir in Vietnam waren. […] Es ist ein beschwerliches Problem und auch einer der Gründe warum ich so lange nicht mehr über Vietnam geschrieben habe.17 Die Stalinbilder, die Mary McCarthy und Susan Sontag bei ihren Reisen durch Nordvietnam bemerkten, werden auch Peter Weiss aufgefallen sein.18 Schreiben über Vietnam war nur unter erheblichen moralischen Skrupeln möglich, denn selbst antwortete er
14
Weiss 1977a, 478.
15
Nguyen Viet war damals der Botschafter der DRV in Schweden.
16
Sara Lidman an Peter Weiss, 13. Januar 1979, PWA 678. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wilma Lerch.
17
Peter Weiss an Sara Lidman, 16. Januar 1979, PWA 678. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wilma Lerch.
18
Vgl. McCarthy 1969, 66; Sontag 1969, 81.
199
Jan Kostka
Sara Lidman würde ich niemals etwas von diesem Verdacht offenbaren.19 Doch korrespondieren diese Skrupel mit einem Problem der Dritte-Welt-Bewegung überhaupt, nämlich dem unkritischen Umgang mit Fiktionen und Wunschgedanken, der dazu führt, dass die Solidarität entsprechend schnell zusammenfällt und ihr Objekt wechselt, wenn die Fiktion als solche erkannt wird. Und eine dominante Fiktion der Vietnam-Solidarität zeigte sich in der blinden Verehrung der FNL-Partisanen und der daraus folgenden Überbewertung militärischer Auseinandersetzungen. 20 Jürgen Horlemann beschrieb beispielsweise 1969 in einer Artikelserie in der studentischen Rote Presse Korrespondenz den Krieg geradezu als Nährboden für eine bessere Gesellschaft in Vietnam: Müssen organisatorische und politische Fähigkeiten, Spontaneität, Phantasie und technisches Können beim militärischen Abwehrkampf zwangsweise entwickelt werden, so bilden sie zugleich die beste Voraussetzung für den sozialistischen Aufbau der Wirtschaft. Die organisatorische und technische Disziplinierung […] findet im Kampf ums Überleben statt und wird zu einer Selbstverständlichkeit.21
200
Dementsprechend lehnte er auch die Pariser Friedensgespräche, die damals zwischen den USA und Vietnam eingerichtet wurden, ab: der Sieg sollte auf dem Schlachtfeld errungen werden, um auch ein Sieg über die Internationale der Opportunisten und Revisionisten22 zu sein. Dass nach einigen Aufführungen des Viet Nam Diskurs Geldsammlungen unter der Losung Waffen für den Viet Cong unternommen wurden,23 müsste als Menetekel dafür gegolten haben, dass die Vietnamesen im Kriege zu fehlerfreien Ersatzkämpfern stilisiert wurden, die erledigen sollten, was der westdeutschen Linke nicht gelingen wollte. Dass Peter Weiss eine derartige Stilisierung und Instrumentalisierung nicht teilte, wurde bereits am Beispiel der offenen Diskussion mit Sara Lidman gezeigt. Charakteristisch ist auch der Ansatz, mit dem er ihr den Ausfall von Nguyen Viet zu erklären versuchte: die unaufhörliche Feindlichkeit der USA und Chinas haben die
19
Peter Weiss an Sara Lidman am 16. Januar 1979, PWA 678. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wilma Lerch.
20
Vgl. Balsen / Balsen 1986, 531-539.
21
Horlemann 1969, Nr. 30, 12. September 1969.
22
Ebenda, Nr. 36, 24. Oktober 1969.
23
Vgl. Diskussion (Everding / Schwiedrzik / Stein 1968) Was ist demokratisches Theater. In: Theater heute Nr. 9, 1968, S. 1-3.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
Vietnamesen dazu gebracht, selbst aggressiv zu werden.24 Davon, wie dann die allermeisten Leute im Krieg viel eher ärger als frömmer zu werden pflegen, wusste schon Grimmelshausens Courasche zu berichten.25 Meiner Ansicht nach versuchte Peter Weiss, gegen derartige Instrumentalisierungen anzuschreiben. Mit einem Vergleich der beiden Vietnam-Reisebeschreibungen von Sara Lidman und Peter Weiss, also der Gespräche in Hanoi26 mit den Notizen zum kulturellen Leben der Demokratischen Republik Viet Nam27, soll dies herausgestellt werden. Beide Berichte geben zahlreiche Gespräche und Interviews wieder, die auf ganz ähnlichen Reiseprogrammen beruhten, unterscheiden sich aber darin, dass in Weiss’ Viet Nam Notizen der Krieg nicht als aktive Kampfhandlung, sondern über Berichte und Beschreibungen der Opfer, das Zeugnis zerstörter Gebäude und die Zeichen der landwirtschaftlichen Vernichtung wahrgenommen wird. Ohne die Dimension der Opfer ganz auszublenden, scheint Sara Lidman dagegen ein viel größeres Augenmerk auf die Militanz der Menschen in Nord-Vietnam zu legen. So beschrieb sie eine Flakstellung, ein Ausstellungsareal für abgeschossene US-Flugzeuge und unterhielt sich mit einer Heimwehr-Kommandeurin über deren Ausbildung zum Abschuss niedrig fliegender Flugzeuge. Sie gab Diskussionen über die Abwehr von Kampfflugzeugen vom Auto aus wieder. Sie lachen; die Flugzeuge fallen in diesen Geschichten wie Spatzen vom Himmel.28 In den Gesprächen in Hanoi wird die Perspektive weniger auf die Opfer, als auf die Kämpfer gelenkt. Zugespitzt formuliert: während Peter Weiss die steigende Zahl der Bombardierungen auflistete,29 beschrieb Sara Lidman die Wand, an der mit bunter Kreide die Ernte eines jeden Tages, also die Zahl der abgeschossenen US-Flugzeuge, angeschrieben wurde. 30 Beobachtete Peter Weiss ein junges Mädchen, das ein klassisches Gedicht vom Anfang des 19.
201
24
Peter Weiss an Sara Lidman, 16. Januar 1979, PWA 678. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wilma Lerch.
25
Grimmelshausen 1998, 45.
26
Lidman 1966.
27
Weiss 1968.
28
Lidman 1967, 36.
29
Vgl. Weiss 1968, 102.
30
Vgl. Lidman 1967, 33f..
Jan Kostka
Jahrhunderts las,31 registrierte Sara Lidman als Taschenbibel des Jahres: Nguyen-van-Troi – wie er war.32 Aus den Notizbüchern von Peter Weiss ist bekannt, dass der Autor alles andere als zufrieden mit seinen Viet Nam Notizen war. Was ihm an dem Buch fehlte, nannte er die psychologische Tiefendimension, die Dimension des Schreckens, des Unvorstellbaren.33 Liest man die Schilderungen seines Vietnam-Erlebnisses in den tagebuchartigen Aufzeichnungen des Rekonvaleszenz-Buches, wird schnell deutlich, was damit gemeint ist: Vor dem Leiden der Opfer, der Härte ihres Überlebens und des Widerstands gegen die Vernichtung wird die Anteilnahme eines westeuropäischen Intellektuellen zur dünnen Konstruktion.34 Damit ist die Erfahrung der Begrenztheit des eigenen Zugangs gemeint; das Gesehene lässt sich nicht in Material zur Argumentation gegen die US-Angriffe transformieren. Bei vielen Vietnam-Reisenden führten derartige Erfahrungen zu Infragestellungen ihrer bürgerlichen Existenz als Intellektuelle. Beispielsweise beschrieb Susan Sontag die Schwierigkeit, Vorstellungen, die sich in einer langjährigen Beschäftigung mit Vietnam aus der Ferne gefestigt haben, mit der Realität in Vietnam in Verbindung zu bringen. Ohne einen entsprechenden Zugang geriet man mit dem eigenen Anliegen, moralische und politische Solidarität zu üben, in Konflikt. My sense of solidarity with the Vietnamese, however genuine and felt, is a moral abstraction developed (and meant to be lived out) at a great distance from them. Since my arrival in Hanoi, I must maintain that sense of solidarity alongside new unexpected feelings which indicate that, unhappily, it will always remain a moral abstraction. For me – a spectator? – its monochromatic here, and I feel oppressed by that. 35
202
Auch Peter Weiss’ Engagement gegen den Vietnam-Krieg beruhte auf der Distanz des Schreibenden zum Beschriebenen. Als ihn Ralph Schoenman von der Russell-Foundation stärker in die Vorbereitung des ersten Vietnam-Tribunals, das im Mai 1967 in Stockholm tagte, einbinden wollte, lehnte Weiss kategorisch ab:
31
Vgl. Weiss 1968, 105.
32
Lidman 1967, 85. Nguyen Van Troi war ein junger FNL-Kämpfer, der wegen eines im Mai 1963 versuchten Attentats auf den amerikanischen Verteidigungsminister Robert McNamara zu Tode verurteilt und am 18. Oktober 1964 in Saigon hingerichtet wurde.
33
Weiss 1982, 617 und ders. 1981, 92.
34
Weiss 1991, 37.
35
Sontag 1969, 30f.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
As I told you I see my main work in my writing. Here I can make myself most clear. As I am working on a play about the war in Vietnam I see in this task the greatest possibilities of reaching a concrete result.36 Die Methodik, mit der Weiss seinen Viet Nam Diskurs verfasste, beschrieb er nachfolgend in den Notizen zum dokumentarischen Theater. Dort heißt es im achten Abschnitt über die Stärke des dokumentarischen Theaters: Es befindet sich nicht im Zentrum des Ereignisses, sondern nimmt die Stellung des Beobachtenden und Analysierenden ein.37 Wer ein Dokumentartheaterstück schreibt, gestaltet weniger persönliche Erfahrungen, als dass er Umgang mit Dokumenten pflegt. Diese liegen als eine zu entziffernde Schicht der Vermittlung, der Entstellung oder des Verschweigens über dem tatsächlichen Geschehen in der Vergangenheit. Vor allem in Kriegsgebieten aber scheint sich die Unzulänglichkeit sowohl parteilicher Verlautbarungen als auch faktischer Berichte zu zeigen, wird die dokumentarische Methode als den Leiden der Opfer nicht angemessen erkannt. In der Ästhetik des Widerstands wird Peter Weiss diese Erfahrung am Beispiel des Schreibens über den Spanienkrieg gestalten. Hier berichtet die schwedische Journalistin Lindbaek von ihren Schwierigkeiten, die Geschichte des Thälmann-Batallions zu schreiben. Von der Durchschlagskraft der Fünfundvierzigmillimeter Granaten kann ich berichten, einen Sachverhalt kann ich wiedergeben, die Mühen entstehen erst, wenn es darum geht, die persönlichen Kräfte hinter jeder Handlung darzustellen.38 Und gleich einem ästhetischen Gegenmodell zum dokumentarischen Arbeiten und dem damit verbundenen Autorverständnis als Künstler, der außerhalb des Brennpunktes des Geschehens schreibt, erinnert Peter Weiss das Scheitern vor den Opfern des Vietnamkrieges als einen Alptraum körperlicher Angleichung an die Geografie Vietnams: […] ich lag im Sand vergraben, gelähmt, Sand im Mund, ein Rieseln von Sand, mehr und mehr übersickert von Sand, und so wie ich lagen viele in dieser Nacht, in den südlichen Provinzen, hineingeschleudert, hineingesogen in die Erde […].39
36
Peter Weiss an Ralph Schoenman, 14. September 1966, PWA 156.
37
Weiss 1971, 97.
38
Weiss 1988, Band 1, 280.
39
Weiss 1991, S. 37.
203
Jan Kostka
Doch die bitteren Formulierungen mit denen Peter Weiss 1970 im Rekonvaleszenz-Buch die Erfahrung in Worte fassen wird, dass die Vietnamesen für uns kämpfen, für uns sich in die Erde drücken lassen, für uns die Revolution führen, während wir weit entfernt von ihnen, erstarrt in unserm Schrecken […] warten und verrotten,40 finden sich bereits in den Arbeitsnotizen zu Trotzki im Exil. Mit dem Fragwürdigwerden der dokumentarischen Arbeitstechnik gewinnt das Motiv der namenlosen Opfer als Instanz, die in Frage stellt, an Bedeutung. In Trotzki im Exil sind es die Opfer der Moskauer Prozesse die Trotzki, den Schriftsteller, anklagen: Wir werden in den Staub getreten, in den Nacken geschossen, durch die Falltüre ins Nichts gerollt. Nicht Stalin presste die Geständnisse aus uns heraus, sondern die Verzweiflung über die Sinnlosigkeit unseres Tuns. Du bist schuldig an allem, selbst wenn jede Einzelheit erfunden ist. […] Du schreibst Bulletine. Sprichst von der Notwendigkeit des neuen Aufstands, ohne ihn auszuführen. Sprichst vom Gebot, Stalin zu beseitigen, stürzt ihn aber nicht. Sprichst von der Pflicht den bürokratischen Apparat zu zerschlagen, aber schlägst nicht. Stirbst nicht auf den Barrikaden von Moskau, Madrid, Shanghai.41
204
Und sie schließen ihren Redeteil mit der Feststellung: Deine und Lenins Epoche ist unwiderruflich zuende. Hier muss kurz zusammengefasst und konkretisiert werden: Spreche ich vom Vietnam-Problem, meine ich den Konflikt zwischen Kritik und Solidarität, der mit der Überzeugung begründet wird, dass Kritik die Solidarität schwäche und damit die tortierten Vorkämpfer der Erneuerung42 noch weiter isoliere, was wiederum zu kritisierende Fehlentwicklungen bei ihnen selbst herausfordern würde. Dieser Ansicht folgend, hätte gerade die unzureichende Unterstützung der Sowjetunion durch das Proletariat der Industrienationen den isolierten Aufbau des Sozialismus in einem Lande in der Sowjetunion als Notwendigkeit erscheinen lassen und damit einen Nationalismus hervorgerufen, dessen Wirkungen sich wiederum in der mangelhaften Unterstützung Vietnams als Bankrotterklärung der internationalen Solidarität43 zeigten. Man hatte es mit einer historisch objektivierbaren Entwicklung zu tun, nach der davon auszugehen war, dass auch in Vietnam die emanzipatorischen Aspekte des Befreiungskampfes umschlagen könnten und 40
Weiss 1991, 38.
41
PWA 1998.
42
Weiss 1971, 23.
43
Weiss 1968, 153.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
an die Stelle der endlich befreiten Entwicklung der Einzelnen ein tödlicher, autoritärer Mechanismus treten würde. Hier aber wird das Problem zur Verstrickung: Verschweigt die Solidarität, dass ihr Objekt auch Fehler macht, spricht sie ihm seine Menschlichkeit ab und trägt dazu bei, Tabus zu festigen. Das Vietnam-Problem ist ein gesellschaftliches Phänomen, Peter Weiss antwortete mit der Entwicklung verschiedener Darstellungsformen des Vietnamkrieges. Schon der Viet Nam Diskurs lässt sich nicht auf eine reine Stellungnahme Weiss’ für die Solidarität mit Vietnam reduzieren. Vielmehr befragte er in dem Dokumentartheaterstück die Geschichte Vietnams auf Konstellationen und Handlungsmuster, in welche die zeitgenössische Kriegssituation einzuordnen ist. Dabei dramatisierte er historische Erfahrungen nicht als objektivierende Geschichtsschreibung, sondern der Funktionsweise eines kollektiven Gedächtnisses entsprechend, das die Vergangenheit zur Identitätsstiftung transformiert. Einen erlösenden, integrierenden Sinnzusammenhang vor den dargestellten Bemühungen amerikanischer Militärs und Politiker, den Widerstand Vietnams zu brechen, bietet diese Perspektive nicht. Die Sprecher der Vietnamesen können mit den Worten Der Kampf geht weiter44 nur auf eine absolut unentschiedene Situation verweisen. In dem zusammen mit Gunilla Palmstierna-Weiss verfassten Bericht über die Angriffe der US-Luftwaffe und -Marine gegen die Demokratische Republik Viet Nam,45 der kurz nach ihrer Rückkehr aus Vietnam veröffentlicht wurde, scheint Peter Weiss zunächst nur unkommentiert mit Fakten und Zahlen überladene nord-vietnamesische Rapporte zur Lage in den bombardierten Gebieten wiederzugeben, um den Vernichtungscharakter der amerikanischen Militärstrategie beweisen zu können. Den Rapporten wird aber eine Zeugenaussage angehängt, die den Zahlenkolonnen die Betroffenheit eines Einzelschicksals entgegensetzt. Die Überlebende eines Luftwaffenangriffs bezeugt ihre Trauer und ihren Schmerz, aber auch die Kraft, die sie aufbietet, um den Verlust zu bewältigen. Der Bericht der Zeugin kann nicht als reine Illustration der Rapporte betrachtet werden. Während sich deren Fakten und Zahlen addieren lassen, ein Material bieten, um den Zuwachs der Angriffe zu vergleichen und für den Schluss einen Beleg zu bieten, dass die Zerstörung total ist, hat der Bericht des Opfers seine eigene, nicht vergleich- oder aufrechenbare Qualität. Damit führten Peter Weiss und Gunilla Palmstierna-Weiss in den Bericht über die Angriffe der USLuftwaffe und -Marine eine Instanz ein, deren Einschätzungen nicht 44
Weiss 1977b, 264.
45
Weiss / Palmstierna-Weiss 1968.
205
Jan Kostka
206
zu kritisieren sind. Die Frage nach dem, was über Vietnam gesagt werden kann, ohne die Vietnam-Solidarität zu bedrohen, wird vom geltend gemachten Anspruch der Opfer wiederum in Frage gestellt. In den Viet Nam Notizen wird die Perspektive auf die Opfer zu einem integralen Bestandteil des Textes. Der Wiedergabe von Ausführungen kulturell und politisch leitender Funktionäre folgen Beschreibungen des bäuerlichen Lebens; der historistischen Rekonstruktion des Vergangenen wird die Aktualität des noch Bestehenden gegenübergestellt; die Gänge durch die Museen der Hauptstadt werden vom Weg in die dörflichen Gemeinden abgelöst. Was Peter Weiss als gemeinsame Kultur darstellt, als Basis für die ungebrochene Widerstandskraft der Bevölkerung, erweist sich auf den zweiten Blick als eine differenzierte, widersprüchliche und spannungsreiche Gesellschaft. Welche Bedeutung hat nun das Motiv der namenlosen Opfer, angesichts derer der Intellektuelle erstarren und sprachlos werden kann, im Trotzki-Stück selbst? Deren Wirkung, die Erstarrung, prägt den Aufbau des Stückes, ihre Ursache ist aus dessen Struktur zu erschließen. Eine szenische Ausgangssituation, die Trotzki 1928 in seiner Moskauer Wohnung am Schreibtisch sitzend zeigt, wird in den nachfolgend dargestellten Exilstationen Trotzkis immer wieder reproduziert, bis schließlich Ende und Anfang einander spiegeln. Von dieser Ausgangshaltung geht das Spiel zur Darstellung von Reflexionen und Träumen der Hauptperson über. Es sind Auseinandersetzungen mit Lenin und anderen Genossen, die Vorbereitung und schließlich die Ausführung der Oktoberrevolution, denen die Trotzki-Figur nachsinnt. Diese szenischen Rückblenden – sie bilden die Vergangenheitsebene des Stückes – sind Versuche, abgebrochene Gespräche über die Trennung der Zeit hinweg fortzusetzen. Das Stück stellt also keine Geschichte der Oktoberrevolution dar, das schließen schon zahlreiche Fiktionalitätssignale, wie das Auftreten einer ›Anna Blume‹ in der 7. Szene aus. Gezeigt wird vielmehr, wie ein aus seinen kommunikativen Zusammenhängen herausgelöstes Gedächtnis mit all seinen Verschiebungen und Traumgestalten errinnert. Der schon zu Beginn des Stückes erstarrte Trotzki, der sich ankleiden, aus seiner Wohnung heraustragen und ins Exil verfrachten ließ, träumt seinen Traum von der Revolution.46 Beginnend mit Trotzkis Verbannung in Sibirien um 1901 verfährt die Vergangenheitsebene chronologisch und nähert sich auf diese Weise der Exilebene immer weiter an. Die letzte Rückblende zeigt eine historische Zäsur, die für die Trotzki-Figur zugleich eine 46
Gerlach / Richter 1986, 187.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
persönliche ist: den Tod Lenins. In der nachfolgenden, der 12. Szene, die ausschließlich in Trotzkis Arbeitszimmer in Grenoble handelt, scheint der Unterschied zwischen Exil- und Vergangenheitsebene aufgehoben, die gespielte Gegenwart wird nicht mehr durchbrochen. Dann, in der 13. Szene, geschieht etwas Merkwürdiges: Trotzki verfolgt auf seiner nächsten Exilstation in Norwegen die Moskauer Prozesse im Radio und hört, was Rakowski, ein Mitstreiter der innersowjetischen Opposition, beim Schauprozess sagt: auch in seinem mexikanischen Versteck, […] wird er nicht der Entehrung entgehen, die wir hier erleiden.47 Statt des Rückblicks geschieht eine Vision, die das norwegische Provisorium nach Mexiko reißt, Trotzki seinem Mörder entgegen. Lenin starb am 21. Januar 1924, die Ebene der erinnerten Vergangenheit endet mit der Erstarrung Trotzkis. Warum schweigen Sie?, wird Trotzki in der 11. Szene vom sterbenden Lenin gefragt. Warum sind Sie jetzt, wo es mit mir zu Ende geht, von einer solchen Schwäche befallen? Warum ziehen sie sich zurück?48 Und Trotzki antwortet dem schon Gestorbenen: Neben dir konnte ich arbeiten. […] Aber als du starbst, da blieb nur noch Machtkampf übrig. Daran konnte ich mich nicht beteiligen. 49 In einem Entwurf zum Tod Lenins und der nachfolgenden Testamentslesung wird die Regieanweisung gegeben: T in Schweigen, wie angewidert und erstarrt vor Entsetzen.50 Lenins Tod wird für Trotzki eine traumatische Erfahrung, die ihren Ausdruck in einer Leerstelle des Stückes, als Lücke in der dargestellten Erinnerung Trotzkis, findet. Der Revolutionär, dem die Zeit wie ein großer Stein vor der Hausschwelle51 erschien, ewig und nur durch selbstgesetzte Zäsuren objektivierbar, wird mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert. Wo das ›Weiter‹ zum Prinzip geworden war, blieb nur ein Testament, aus dem je nach Gedankenlage zitiert werden konnte. Die Trotzki-Figur erstarrt nicht vor den Opfern der Revolution oder des Aufbaus der sozialistischen Ordnung, sondern vor dem Tod eines väterlichen Genossen und der Erfahrung, dass sich die Gesellschaft mit diesem Verlust verändert hat. An die Stelle des Intellektuellen in Vietnam, dem mit der schwindenden Distanz zu seinem Thema die eigene Rolle fragwürdig wird, tritt der Revolutionär, der nicht mehr in die gesellschaftlichen Entwicklungen eingreifen kann. Die Erfahrung einer umfassenden Infragestellung des 47
Weiss 1977a, 505.
48
Weiss 1977a, 484.
49
Weiss 1977a, 485.
50
PWA 1994.
51
Weiss 1977a, 456.
207
Jan Kostka
bisherigen Handelns und der Lebenskrise wird also nicht auf ein bestimmtes Autorverständnis beschränkt, sondern mit historisch zu verifizierende Ursachen gezeigt. Mit der ersten Szene des Stückes, Trotzkis Verbannung am 16. Januar 1928 nach Alma Ata, beginnt die Handlungsebene des Exils. Zwischen der letzten Rückblende (Lenins Tod) und der Gegenwart, von der aus erinnert wird (dem Exil), liegen die vier Jahre der innersowjetischen Opposition. Es ist die Zeit, in der Trotzki langsam entmachtet wurde und zusammen mit Sinowjew, Kamenjew und anderen Unterstützern versuchte, innerhalb der Partei eine starke Minderheit für sich zu gewinnen. Diese Opposition hatte praktisch aber keinen Einfluss, ihre Arbeit blieb auf den ›Widerstreit der Ideen‹52 beschränkt. Sie blieb isoliert in ihrer Feindschaft gegen die Bürokratie, während sich Stalin an die Massen wenden konnte und mit einem Programm zum Aufbau des Sozialismus in einem Land den Hoffnungen der Sowjetbürger auf gesichertere Lebensverhältnisse entgegenzukommen schien. Es ist nicht etwa so, dass Peter Weiss diese Zeit nicht interessiert hätte, denn es gibt einige Exzerpte und Szenenentwürfe, die sich gerade mit den Auseinandersetzungen Trotzkis in der Opposition, mit dem Kampf zwischen Trotzki und Stalin beschäftigen. Zu ihnen gehören Dialog-Entwürfe mit Stalin, in denen der Generalsekretär als Pragmatiker und Taktiker auftritt, Trotzki aber auf die Rolle des Intellektuellen festgelegt wird. St […] Euer Klassenhass kommt aus zweiter Hand, ihr habt ihn intellektuell erworben. Mein Klassenhass kommt aus erster Hand, aus direkter unmittelbarer Erfahrung. Mein Sozialismus ist kalt, rein und hart. Zu T: Du hast Armut und Unterdrückung vom Fenster aus gesehen. Grob sind auch meine Kenntnisse, meine Gedanken, meine Sprache, meine Manieren. Verfeinerung des Geschmacks! Das ist was für mich! Ihr hattet Musse dazu. Ihr konntet euern Geschmack entwickeln, verfeinern. Ihr großen Schreiber und Redner, Kamenjew, Lunatscharski, Bukharin, ihr Gelehrte und Denker. […] Ich streiche überall deinen Namen. Setze anstelle: Verräter, Saboteur, Volksfeind. T: Du nahmst nicht Stellung, hieltest dich abseits. Im Fall eines Missglückens hättest Du mir und Lenin sagen können: Es war Euer Fehler!53
208
Im Laufe der Arbeit an Trotzki im Exil muss sich Peter Weiss dazu entschlossen haben, diese Auseinandersetzungen nicht in den Erin52
Serge 1981, 178.
53
PWA 1996.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
nerungen der Trotzki-Figur zu verhandeln, sondern sie vielmehr von außen, auf der Handlungsebene des Exils, im Gespräch Trotzkis mit seinem Mitarbeiter Blumkin an ihn heranzutragen. Dieser berichtet in der 10. Szene: Der Name Trotzki wird ausgekratzt aus den Annalen der Revolution. […] Sie [Trotzki; J.K.] wollten den Sozialismus auf dem Weg der Erziehung, auf dem Weg der Kulturrevolution erreichen. Er [Stalin; J.K.] will ihn erreichen mit Gewalt und ohne Rücksicht auf Menschenleben. Und er wird recht behalten.54 Nun kann verdeutlicht werden, dass die Ebene des Exils und Trotzkis Rückblicke Handlungsräume mit unterschiedlichen Funktionen sind. Trotzki erinnert sich als Schriftsteller, der seine gegenwärtige Arbeit, die tatsächlich von der Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen im Exil bestimmt war, für mindestens genauso bedeutsam erachtet, wie die aktiven Eingriffe in das Weltgeschehen in seiner Vergangenheit. Das ist auch die Position, mit welcher der historische Trotzki sein Tagebuch im Exil geschrieben hat 55 – der Trotzki auf der Bühne verdeutlicht diese Haltung, wenn er sagt: Manchmal scheint mir, die Revolution hindert mich nur daran, systematisch zu arbeiten.56 Was die diesem Selbstverständnis entsprechenden Rückblicke Trotzkis mit ihren blinden Flecken nicht leisten können, tritt ihm im Handlungsraum der wechselnden Exilstationen entgegen. Sieht sich Trotzki beispielsweise in der Erinnerung im Dialog mit den Züricher Dadaisten eine neue Kunst prophezeiend, in der sich der Entwicklungsgang des neuen Menschen57 markieren würde, hält ihm auf der Ebene des Exils ein ›deutscher Student‹ entgegen: Ihr kamt selbst von eurem autoritären Denken nicht los. Ihr habt zwar die Klassen abgeschafft. Aber die Befreiung des Bewusstseins habt ihr verhindert.58 Die Ausgangsbasis und Grundvoraussetzung der Erinnerungen, das Innehalten und Sitzen am Schreibtisch erscheint vor dem Hintergrund des Exils wie eine Zwangshandlung, das sorgfältige Zurechtlegen der Papiere und Stifte unsinnig vor dem welthistorischen Gehalt des im Stück Verhandelten. Der Erstarrung vor dem toten Lenin folgt eine Abspaltung des Revolutionärs vom Intellektuellen, des praktisch Handelnden vom jenem, der die Verhältnisse analysieren, aber nicht in sie eingreifen 54
Weiss 1977a, 474.
55
Vgl. Trotzki 1960, 72.
56
Weiss 1977a, 441.
57
Ebd., 454.
58
Ebd., 491.
209
Jan Kostka
210
kann. Der Konflikt Trotzkis, bei der Vermittlung beider Positionen zu scheitern, wird zum Konflikt des Stücks, den die TrotzkiFigur nicht lösen kann. Sie reproduziert in all ihren Exilstationen immer wieder das gleiche Muster, das Sitzen am Schreibtisch, bis sie, unempfindlich geworden für die Bedrohungen im unmittelbaren Umfeld, der Mörder im eigenen Hause erwischt. Dieser Zwiespalt ist vielleicht der Schlüssel zur Vietnam-Problematik. Am Ende der Viet Nam Notizen stellt Peter Weiss die Positionen von To Huu und Truong Chin gegenüber. To Huu, vietnamesischer Lyriker und Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, erkennt die Eigenwertigkeit des Bereichs der Kunst und des gedanklichen Lebens gegenüber dem der politischen Beschlüsse und betont, dass die Errungenschaften der Revolution59 auch nach einem militärischen Sieg verlorengehen können. Truong Chin, Leiter der Abteilung für Erziehung und Propaganda, vertritt dagegen den Pragmatismus einer Partei, die alles unternimmt was dem Sieg nützlich ist, und vermeidet, was dem Sieg nicht nützt. 60 Die Volksmassen müssten zum Hass erzogen werden, um weitgehend verlässliche Kämpfer bei der Vernichtung des wesentlichen Teils der feindlichen Streitkräfte darzustellen. Hier weist bereits einiges auf die Eigendynamik gewaltsamer Auseinandersetzungen hin, nach der sich die Gegner im Verlauf der Kämpfe immer mehr einander angleichen. Erinnert sei daran, dass 1968 auch das Jahr der TetOffensive und der Massaker in Hue war.61 Diesen Zwiespalt von Humanisierung und Militarisierung, von romantischen Komponenten und zynischer Sachlichkeit fand Peter Weiss im Charakter Trotzkis als unheimliches Nebeneinander, wie er es in einer Arbeitsnotiz formulierte, wieder. Trotzki habe die Kronstädter Matrosen in der Oktoberrevolution geführt und sie später liquidieren lassen, unter Masse hätte er die unterdrückte Menschheit im Ganzen verstanden, aber auch den Staub, den die Revolution aufwirbelt.62 Gegenüber dem Scheitern Trotzkis im Stück kann gefragt werden, ob dieses unheimliche Nebeneinander die Folge einer existentiellen Erschütterung oder dessen Ursache war. Ob die Herausforderung, vor dem unausweichlichen Verlöschen beim Träumen eines Traums von der Revolution nicht darin besteht, die eigenen Positionen zu überprüfen und die Erstarrung zu vermeiden!
59
Weiss 1968, 136.
60
Ebd., 147.
61
Vgl. Frey 2002, 160-165.
62
PWA 1983.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
Für das Vietnam-Problem bedeutet das nun einen ganz anderen Ansatz, als er aus dem Viet Nam Diskurs zu erschließen wäre. Eingangs zitierte ich Textstellen, die darauf hinweisen, dass Peter Weiss in Trotzki im Exil verschiedene Widersprüche innerhalb der Befreiungsbewegungen aufgriff und formulierte. Auch die Perspektive, mit der dies im Kontext des Stückes geschieht, kann konkretisiert werden. Es ist die eines Intellektuellen, dessen Selbstbild, wie wir es aus seinen Erinnerungen, im Bühnengeschehen Rückblenden, erfahren, zunehmend von einer Vielstimmigkeit auf der Handlungsebene des Exils aufgebrochen wird. Es wird in dem Moment möglich, in Trotzki im Exil die kritische Situation der Befreiungsbewegung und des Internationalismus anzusprechen, in dem ihr ursächlicher Konflikt ganz woanders erkannt wird, nämlich im Verhältnis zwischen den in politischen Zusammenhängen Handelnden und den über diesen Kampf aus sicherer Distanz Reflektierenden. Tatsächlich sprach Peter Weiss mit diesem Thema einen entscheidenden Konflikt in der Solidaritätsbewegung an. Wie sollte am sinnvollsten mit dem Zwiespalt zwischen jenen, die, wie in NordVietnam, zu einem gewaltsamen Kampf gezwungen waren, um ihr schlichtes Überleben zu sichern, und denjenigen, die sich in den Industrieländern beim Interpretieren der fernen Kämpfe aufrieben, umgegangen werden? Einerseits verfügte man über ein umfassendes Wissen über die Befreiungsbewegungen und ihre Strategien (oder hatte zumindest die Möglichkeit, es sich anzueignen), andererseits wurde die westdeutsche Vietnam-Solidarität in die Isolation getrieben, sowohl von den Gewerkschaften und Parteien, als auch von den sozialistischen Ländern Europas, in denen die linke Utopie immer weiter destruiert wurde.63 Die Biografien von Menschen wie Ulrike Meinhof zeigen die selbstzerstörerische Vehemenz, mit der Ende der 1960er Jahre dieser Konflikt an der eigenen Person ausgetragen werden konnte. Aus der Erschütterung des Intellektuellen angesichts des unvergleichbaren Anspruchs der Opfer wird eine tiefergehende Kritik. Gleich der Infragestellung des Revolutionärs vor der Endlichkeit des Lebens, weist sie darauf hin, dass jedes dieser Selbstbilder elementare Aspekte des Lebens negiert, sowohl in der Selbstwahrnehmung, als auch in der Sensibilität anderen Menschen gegenüber. Damit wird das Vietnam-Problem als gesellschaftliches nicht aufgelöst – Peter Weiss blieb in Sachen Vietnam ein Querdenker, der die Maßnahmen der vietnamesischen Regierung realpolitisch rechtfertigen und sich gleichzeitig kritisch an den Premierminister Pham Van Dong wenden konnte, als ›political writer‹, dessen Über63
Vgl. Werkmeister 1975, 1-14.
211
Jan Kostka
legungen always, for the sake of progress, must touch the apparent impossible.64 Im Trotzki-Stück entwickelte er jedoch eine dramatische Form, welche die Voraussetzungen, die das Vietnam-Problem entstehen ließen, bewusst machen kann. Keine Dokumente und offiziellen Vermittlungen werden mit den Berichten der Opfer kontrastiert, um den Wahrnehmungsbereich zeitgenössischer Prozesse zu erweitern, sondern eine bestimmte Perspektive auf einen historischen Verlauf gerichtet, die nach dem Zerfall von kulturellen und politischen Werten und Identitäten und damit nach der eigenen historischen Versehrtheit fragt. Für den Psychoanalytiker Dori Laub sind dies Fragen, die unwillkürlich von Berichten HolocaustÜberlebender ausgehen, deren Erfahrungen in den Konzentrationslagern für die teilnehmenden Zuhörer eine große Zahl existentieller Grundvoraussetzungen thematisieren. Der Zuhörer kann nicht länger die eigene Sterblichkeit, die Zeit und ihre Vergänglichkeit, die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Begrenztheit der eigenen Allmacht ignorieren. Beim Verlust nahestehender Menschen, angesichts unserer letztendlichen Einsamkeit, der Andersartigkeit, die uns von allen anderen trennt, der Verantwortung für das eigene Schicksal, der Grenzen der Liebe und angesichts der Generationenfrage, der Frage nach Eltern und Kindern drängt sich die Fraglichkeit der eigenen Existenz unweigerlich ins Bewußtsein.65 Es ist, als ob die in den Staub getretenen, in den Nacken geschossenen und durch die Falltür ins Nichts gerollten Opfer des stalinistischen Terrors, die in dem anfangs zitierten Entwurf Trotzki anklagen, zu Überlebenden würden und einen Bericht ablieferten, um dem immer wieder reproduzierten unheimlichen Nebeneinander Einhalt zu gebieten.
212
64
Vgl. Beise 2002, 247-250; mit: Peter Weiss an Pham Van Dong, 15. September 1979, PWA 678 und 897.
65
Laub 2000, 81. Auch Robert Cohen sieht einen Bezug zwischen den Ergebnissen Laubs und der Struktur von Trotzki im Exil. Vgl. Cohen 2000, 166ff.
Die Bearbeitung des Vietnam-Problems
Literatur Balsen, Werner / Balsen, Karl Rössel (1986) Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte-Welt Bewegung in der Bundesrepublik. Köln: Kölner Volksblatt-Verlag. Beise, Arnd (2002) Peter Weiss. Stuttgart: Reclam. Everding, August / Schwiedrzik Wolfgang / Stein, Peter (1968) Was ist demokratisches Theater [Diskussion]. In: Theater heute Nr. 9, 1968, S. 1-3. Cohen, Robert (2000) A Dream of Dada and Lenin: Peter Weiss’s Trotsky in Exile. In: Rethinking Peter Weiss. Hrsg. v. Jost Hermand und Marc Silbermann. New York u. a.: Peter Lang, S. 151173. Frey, Marc (2002) Geschichte des Vietnamkrieges. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München: C.H.Beck. Gäng, Peter / Reiche, Reimund (1967) Modelle der kolonialen Revolution. Beschreibung und Dokumente. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gerlach, Rainer /Richter, Matthias (1986) Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gerlach, Rainer (2005) Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss. St. Ingbert: Röhrig. Grimmelshausen, Hans Jacob von (1998) Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche. Stuttgart: Reclam. Günter, Giesenfeld (1991) Politisches Engagement ist altmodisch. Peter Weiss und die Dritte Welt. In: Peter Weiss. Leben und Werk. Hrsg. v. Gunilla Palmstierna-Weiss und Jürgen Schutte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 194-212. Horlemann, Jürgen (1969) Vietnam. In: Rote Presse Korrespondenz der Studenten-, Schüler-, und Arbeiterbewegung, Nr. 30, 12. September 1969, Nr. 36, 24. Oktober 1969. Köhler, Kai (1996) Mythisierung des Widerstands? Peter Weiss’ Notizen zum kulturellen Leben in der Demokratischen Republik Viet Nam. In: Peter Weiss Jahrbuch 5, 1996, S. 95-119. Kostka, Jan (2006) Peter Weiss‘ Vietnam/USA-Variationen über Geschichte und Gedächtnis. Schkeuditz: Schkeuditzer Buchverlag. 2006. Kronstadt 1921 oder die Dritte Revolution. In: Kursbuch 9, Juni 1967, S. 7-33. Laub, Dori (2000) Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens. In: Niemand zeugt für den Zeugen Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hrsg. v. Ulrich Baer. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
213
Jan Kostka
214
Lidman, Sara (1966) Samtal i Hanoi. Stockholm. Dt.: Lidman, Sara (1967) Gespräche in Hanoi. Berlin: Verlag Volk und Welt. McCarthy, Mary (1969) Hanoi. Harmondsworth u.a.: Penguin. Rohrwasser, Michael (1999) Trotzki im Exil. In: Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen. Hrsg. v. Martin Rector und Christoph Weiß. Opladen: Westdt. Verl., S. 193-209. Serge, Victor (1981) Leo Trotzki. Leben und Tod. München: dtv. Sontag, Susan (1969) Trip to Hanoi. London: Panther. Trotzki, Leo (1960) Tagebuch im Exil. Köln: Kiepenheuer und Witsch. Vietnam und die Weltrevolution. Eine Kontroverse. In: Kursbuch 9, Juni 1967, S. 130-141. Weiss, Peter / Palmstierna-Weiss, Gunilla (1968) Bericht über die Angriffe der US-Luftwaffe und -Marine gegen die Demokratische Republik Viet Nam nach der Erklärung Präsident Johnsons über die begrenzte Bombardierung am 31. März 1968. Berlin: Voltaire Flugschrift 23, Berlin. Weiss, Peter (1968) Notizen zum kulturellen Leben der Demokratischen Republik Viet Nam. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1971) Rapporte 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1977a) Trotzki im Exil. Stück in 2 Akten. In: Ders.: Stücke II/2. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 417-517. Weiss, Peter (1977b) Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Viet Nam als Beispiel für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika die Grundlagen der Revolution zu zerstören. In: Ders.: Stücke II/1. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 73-264. Weiss, Peter (1981) Notizbücher 1971-1980. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1982) Notizbücher 1960-1971. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1988) Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt/M.: Suhrkamp Weiss, Peter (1991) Rekonvaleszenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Werkmeister, Frank (1975) Die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg in der Bundesrepublik Deutschland 1965-1973. Marburg/ Lahn: Philipps-Universität.
Jürgen Schutte Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
Erfahrungen mit einem elektronischen Editionsprojekt1 Die Ende 2006 erschienene Gesamtausgabe der Notizbücher von Peter Weiss2 ist das Ergebnis eines Editionsprojekts, das, wie viele ähnlich gelagerte Vorhaben, in mancher Hinsicht eine ›Erstaufführung‹ war. Daher erscheint es mir als sinnvoll, die Erfahrungen mit diesem Projekt zusammenfassend darzustellen, um eventuell folgenden, vergleichbaren Unternehmungen zu nützen – das kann auch heißen: ihnen bestimmte Fehler und Umwege zu ersparen. Bei dem Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion auf dem Feld elektronischer Edition zu vergegenwärtigen, sieht man sich einer Vielfalt von Projekten konfrontiert, deren Arbeitsrichtungen und Verfahren kaum in einen theoretischen oder systematischen Zusammenhang gebracht werden können. Einen guten Eindruck von der Unterschiedlichkeit der Aufgabenstellungen, der technischen Probleme und der eingeschlagenen Lösungswege vermittelt der Bericht des Telota-Projekts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften3: Allein im Rahmen dieses Programms wurden in zwei Jahren 24 Projekte evaluiert, die allerdings nicht durchweg Editionsvorhaben im engeren Sinne sind, sondern die der Forschung, Kommunikation und Präsentation durch elektronische 1
Der während der Tagung gehaltene Vortrag über das kurz vor dem Abschluss stehende Projekt wurde in Absprache mit den Veranstaltern zu dem folgenden Erfahrungsbericht umgearbeitet.
2
Weiss 2006a.
3
http://www.telota.de (21.03.2007).
215
Jürgen Schutte
Medien generell dienen. Jedem Herausgeber, jedem Projektteam stellten sich ganz unterschiedliche Aufgaben und ebenso unterschiedlich sind die Erarbeitungs- und Darbietungsformen. Einen oder auch mehrere Standards auf diesem Gebiet gibt es allem Anschein nach nicht. Gemeinsam ist allerdings eine spezifische Erfahrung: Die technische Entwicklung und die Einführung neuer Programme und Verfahren verläuft mittlerweile so rasant, dass noch während der Laufzeit eines Projekts dessen Arbeitsgrundlagen mehrfach an neue technische Möglichkeiten anzupassen sind. Eine längere Halbwertszeit haben die editionswissenschaftlichen Grundsätze und die Bewertungskriterien elektronischer Editionen. Diese sind schon 1999 in einem programmatischen Beitrag von Fotis Jannidis sehr gründlich und systematisch erörtert worden. Sie bilden ein geeignetes Raster für den vorliegenden Bericht4. Das Neue an der hier vorgestellten Edition besteht darin, dass sie eine der ersten nicht-hybriden Editionen eines Gegenwartsautors ist. Die Kritische Gesamtausgabe der Notizbücher ist aus den Handschriften ausschließlich in elektronischer Form ediert; es geht ihr keine gedruckte Fassung voraus, und eine solche ist auch nicht geplant. Die Neuartigkeit dieses Vorhabens rechtfertigt es vielleicht, die Aufmerksamkeit auf die praktischen Fragen der Organisation und Durchführung zu richten und dabei auch Probleme und Erfahrungen mitzuteilen, die sich scheinbar von selbst verstehen.
1. Das Textkorpus Der Gegenstand der Edition und ihre Adressaten 216
Im literarischen Nachlass des Autors, der im Peter-Weiss-Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg aufbewahrt wird, bilden die Notizbücher ein Konvolut von 71 Einheiten mit zusammen 9.432 Seiten handschriftlicher Eintragungen in deutscher, teilweise schwedischer und gelegentlich englischer Sprache, mit zahlreichen Skizzen und späteren Bearbeitungsspuren. Sie sind eine unschätzbare, bisher nicht systematisch erschlossene Quelle. Durch ihre Transkription und inhaltliche Erschließung ist jetzt eine 4
»Elektronische Editionen sind neue Gegenstände im philologischen Alltag, und ihre Gestalt scheint zur Zeit noch eben so schwankend wie die Bewertungskriterien der Anwender solcher Editionen.« Jannidis 2000. Vgl.: Gild 2007 – An dieser Situation hat sich nach meinem Eindruck seither wenig geändert.
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
philologisch gesicherte Grundlage geschaffen für die Erforschung des Lebens, der literarischen Produktion und der Arbeitsweise des Autors.5 Peter Weiss hat nach eigenem Zeugnis schon früh begonnen, seine täglichen Erfahrungen und Reflexionen kontinuierlich aufzuschreiben. Das Tagebuch als Medium der Durcharbeitung, Erinnerung und literarischen Umsetzung des eigenen Lebens spielte für ihn vermutlich schon in den Berliner Jahren eine bedeutsame Rolle.6 In einer Reihe seiner Jugendschriften experimentiert er mit der Tagebuchform7 und auch in den ersten schwedischen Jahren ist diese Form der Selbstreflexion durch regelmäßiges Aufschreiben bezeugt.8 Leider ist außer dem Kopenhagener Journal9 keines der von Weiss erwähnten Tagebücher überliefert – wenn man nicht das Schulheft mit der Bezeichnung Höst 50 auf dem Deckel als ein solches einstufen will. Die skeptische Beurteilung, welche das Tagebuch als Textsorte im Kopenhagener Journal erfährt,10 lässt vielleicht ahnen, warum in den 1960er Jahren andere Formen der Niederschrift des Alltags in den Vordergrund treten.11 Notizbücher, deren Überlieferung allem Anschein nach lückenlos ist, hat er seit 1954 benutzt, zunächst allerdings nur sporadisch und hauptsächlich für bestimmte Projekte. Sie enthalten Adressen und Termine für Reisen, Arbeitsnotizen für die Filmarbeit und für das Buch Avantgardefilm.12 Sie dienen der Arbeitsorganisation, es finden sich nur wenige Reflexionen der laufenden Ereignisse oder persönlicher Erfahrungen. Verschiedene im Nachlass vorhandene Typoskripte mit ausgearbeiteten Traumniederschriften aus den 1950er Jahren legen die Vermutung nahe, dass Weiss in diesen Jahren neben den Notizbüchern noch andere autobiographische Aufzeichnungen angefertigt
5
Vgl. Schutte 1999, 226-235.
6
»Während ich über meinem Tagebuch brütete, [...]« Weiss 1974, 57.
7
So zum Beispiel: Cloë. Caspar Walters nachgelassene Aufzeichnungen (1938). – Ich bezeichne, Joanna Sumbor folgend, als »Jugendschriften« die seit 1934 geschriebenen, zumeist unveröffentlichten Novellen und Erzählungen. Vgl. Sumbor 2006.
8
Im Sommer 1941 spricht Weiss in Briefen an die Stockholmer Freundin Itta Blumenthal von einem Tagebuch mit Aufzeichnungen über seine Psychoanalyse bei Ivan Bratt in Alingsås. Vgl. PWA XXX, Briefe Nr. 18-21.
9
Vgl. Weiss 2006b.
10
Vgl. Ebd., 24: »Tagebuchschreiben. Entweder glaubt man, dass man so viel wesentliches sieht, und man kommt sich wichtig vor. Oder, vielleicht, schreibt man um zu prüfen, ob sich was wesentliches ereignet«.
11
Weiss hat 1970/71 in Rekonvaleszenz noch einmal die Tagebuchform benutzt, allerdings in fiktionaler Form. Vgl. Weiss 1991.
12
Weiss 1956.
217
Jürgen Schutte
hat; auch von diesen sind jedoch nur einzelne Blätter überliefert.13 Mit der Veränderung seiner Arbeitsweise im Laufe der frühen 1960er Jahre wandelt sich der Charakter der Notizbücher. Mehr als zuvor werden sie zu einem täglich genutzten Arbeitsinstrument, zu einem eher sachbezogenen Medium der Wissensorganisation. Formale Anregungen scheinen dabei von den Aufzeichnungen Brechts ausgegangen zu sein, die Weiss im August 1960 bei Siegfried Unseld zu sehen bekam. Bei seiner immer wieder reflektierten Suche nach geeigneten Formen der autobiographischen Buchführung und der Arbeitsorganisation schwankt er zwischen der subjektiven Tagebuchform und dem objektiveren, fast wissenschaftlichen Verfahren von Brechts Arbeitsjournal: Köpenhamn, 19. August. Tagebuchschreiben als Konzentrationsübung. Durchläuterung des Erlebten. Konsequente Tagebuchführung setzt nur voraus, dass man an sich selbst glaubt. Das Tagebuch könnte der feste Punkt in einem nach vielen Richtungen hin expansiven Leben sein. Grösste Schwierigkeit, eine Synthese zu finden zwischen den intimsten, subjektivsten Reflexionen und dem ständigen Bedürfnis nach Objektivierung. [...] Die Möglichkeit, doch wieder Tagebuch zu schreiben, nach vielen Abbrüchen und Überdrüssigkeiten, kam beim Einblikken in Brechts Journal, am letzten Abend bei Unseld. Die Zeit war zu kurz, um das ganze Werk zu überblicken, ich konnte nur hier und da in den Bänden blättern. Kurze, sehr konzentrierte Eintragungen.14
218
Ab 1963, das heißt schon bei der Abfassung des Marat/Sade, stellt Weiss seine literarische Produktion entschieden auf historische und zunehmend auf auch dokumentarische Grundlagen. An den Bücherlisten und den in die Notizbücher eingetragenen Zitaten lässt sich dieser Wandel unschwer ablesen. Hatte die wiederholte Aufzählung von Autornamen und Werktiteln der Moderne in den 1950er Jahren noch die Funktion, den Schreibenden zu profilieren, sich selbst einer wie immer relativierten Zugehörigkeit zu dieser Moderne zu vergewissern, so stehen die Titel seit den 1960er Jahren als Hin13
Auch das Pariser Journal, aus dem Weiss 1963 Auszüge veröffentlichte, hat sich im Nachlass nicht gefunden. Ich bin überzeugt, dass es ein solches Tagebuch gegeben hat. – Ein Teil der genannten Traumprotokolle und das so genannte »Pariser Manuskript« wird demnächst publiziert werden: Weiss 2008.
14
Weiss 2006b, 25 – Weiss hat schon bald diese objektivierende Funktion und Tendenz seiner Aufzeichnungen sehr selbstkritisch gedeutet. Im Frühjahr 1972 trägt er ins Notizbuch ein: »Ich habe lange kein Tagebuch mehr geschrieben. Habe mich selbst aus den Augen verloren.« (Buch 23, 36).
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
weis auf die für die literarische Produktion herangezogenen oder ins Auge gefassten Quellen.15 Der Umgang mit dem literarischen Material wird im Sinne einer historischen Methodik professionalisiert; es finden sich vermehrt auch die Titel wissenschaftlicher Werke16. An den Bearbeitungsspuren in den Notizbüchern lässt sich dieser Wandel in der Arbeitsweise ebenfalls ablesen. Markierungen, die – auch am abweichenden Schreibmittel – als spätere Zusätze erkennbar sind, sprechen von einer regelmäßigen Benutzung der Notizen als Quelle.17 Ein charakteristisches Instrument der Wissensorganisation sind die so genannten Lesezeichen. Das sind in den Text eingelegte Papierstreifen, auf denen meistens Stichworte oder Namen stehen, welche die Variationsbreite und die Abfolge der Themen signalisieren. Sie dienten dem Schreibenden als Findemittel und Gedächtnisstütze. Es war daher notwendig, ihren originären Platz besonders sorgfältig zu ermitteln. Auf diese hier nur angedeuteten Gegebenheiten sind die Präsentation des Textes, die Retrieval-Möglichkeiten und die Erläuterungen in den Registern der Notizbuch-Ausgabe bezogen. Der Eigenart der Quelle entsprechend erfüllt die Edition vor allem einen dokumentarischen Zweck. Das editorische Interesse richtet sich auf die in den Notaten enthaltenen Informationen über Leben und Werk des Autors und deren Erschließung für die literaturwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Forschung. Die biographischen und werkgeschichtlichen Fakten stehen im Vordergrund. Dass die Aufzeichnungen auf weite Strecken aus kurzen, sehr heterogenen Eintragungen bestehen, in denen die ganze Welt des Peter Weiss, von der künstlerischen Reflexion bis zum Ankunftsdatum bei einer Reise oder zum notierten Arzttermin, wie in einer willkürlichen Montage unterschiedlichster Facetten sich manifestiert, das macht die Faszination dieser Texte aus. Eine fortlaufende Lektüre, bei der diese Qualitäten und die ästhetischen Eigenheiten der Aufzeichnungen zum Tragen kommen können, wird dennoch eher die Ausnahme sein. Erst das elektronische Medium, das vor allem die schnelle und bequeme Suche nach bestimmten Daten und textlichen Zusam15
Ein Beispiel: Im gedruckten Notizbuch 1 (Juni 1962–15. Dezember 1962) findet sich auf Seite 101 eine Liste von neurophysiologischen Themen und Fachbegriffen, die sich beim Blick in die handschriftliche Vorlage als eine Zusammenstellung einschlägiger, wissenschaftlicher Publikationen erweist.
16
Weiss hat bei der Publikation in den 1980er Jahren diese Funktion teilweise wieder abgeschwächt, u.a. indem er stichwortartige Einträge ausformuliert, Ereignisse und Reflexionen sprachlich ‹literarisiert› und benutzte Quellen unerwähnt lässt, wie das vorstehende Beispiel zeigt.
17
Eine eigene Klasse von Markierungen entstand bei der Bearbeitung der Notizbücher für den Druck.
219
Jürgen Schutte
menhängen ermöglicht, macht den Text in unvergleichlicher Weise überschaubar und erschließt auf diese Weise neue Forschungsmöglichkeiten und bisher ungestellte Fragen. 18 Die vom Autor selbst publizierten Notizbücher 1960-1971 und Notizbücher 1971-1980 sind eine bearbeitete, durch eingelegte Blätter19 erweiterte Auswahl, deren Bearbeitung die aktuelle Situation des Autors in den Jahren 1980 und 1981 widerspiegelt. Als Zeugnis dieser Jahre sind sie geprägt durch die Absicht, die eigene künstlerische Entwicklung zu rekonstruieren. Dabei wurden die ausgewählten Aufzeichnungen sprachlich geglättet, streckenweise neu angeordnet und um – gelegentlich irreführende – erläuternde Zusätze erweitert. Es entstand eine Art Lebensroman20, retrospektiv zusammengefasst und intentional geformt; auch findet der Text streckenweise zu einer eigenständigen, literarischen Form. Aufgrund dieser Eigenschaften sind die Notizbücher editionswissenschaftlich Teil des Werks, das heißt, Tradition. 21 Authentisch sind sie auf ihre Art als Ausdruck des Selbstverständnisses und des Bildes, das der Autor am Beginn der 80er Jahre von sich hatte und geben wollte. Demgegenüber sind die handschriftlichen Notizbücher ein Überrest. Zunächst ohne Veröffentlichungsabsicht entstanden22, dokumentieren sie die jeweils aktuellen Anstöße, Probleme und Widerstände der literarischen Produktion, reflektieren die Ereignisse und Tendenzen der Zeitgeschichte und spiegeln die andauernd prekäre Situation des Autors zwischen zwei Sprachen.23 Sie sind eine unmittelbare, auch chronologisch zuverlässige Quelle, deren angemessene Nutzung die jetzt vorliegende Gesamtausgabe ermöglicht. 18
Das Handschriftenkorpus entspricht, in Druckseiten umgerechnet, gut einem Viertel des gesamten literarischen Werks; eine Veröffentlichung in gedruckter Form hätte – ohne die Register – fünf Bände à 600 Seiten erfordert. – Eine höchst interessante, der Weiss-Forschung bisher weitgehend entgangene Dimension ist zum Beispiel die von Jenny Willner kürzlich herausgestellte Bedeutung der Geräusche. Vgl. Willner 2007.
19
Als »eingelegte Blätter« fügt Weiss ungedruckte oder an entlegenem Ort veröffentlichte Texte ein, erzählende Prosa, Essays, Reden und Artikel sowie einen längeren Auszug aus dem 1970/71 geschriebenen, vor der Veröffentlichung zurückgezogenen fiktiven Tagebuch Rekonvaleszenz (Anm. 11).
20
Der Ausdruck stammt von Gunilla Palmstierna-Weiss.
21
Vgl. Hurlebusch 1987. Wir danken dem Suhrkamp Verlag für die Genehmigung, die Notizbücher in die Gesamtausgabe aufzunehmen; das ermöglicht erstmals eingehende Textvergleiche.
22
Weiss hatte jedoch schon vor 1967 die Absicht einer Veröffentlichung ins Auge gefasst, das beweist ein im Nachlass erhaltenes Typoskript von 18 Blatt, auf denen Texte aus den bis dahin vorliegenden Notizbüchern abgeschrieben sind (PWA XXX).
23
Vgl. von Vegesack 1963.
220
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
Neben den Grundprinzipien der Textkonstitution, der inhaltlichen Ausrichtung und der Erschließungs-Tiefe der Register ist die Wahl des Programms, mit dessen Hilfe die Texte dargeboten werden, von entscheidender Bedeutung. Der Stand der Entwicklung auf dem Gebiet der Textdatengewinnung und -darbietung stellte sich beim Beginn des Projekts (Anfang 1999) dergestalt dar, dass im Grunde nur drei Optionen gegeben waren: das an der Universität Tübingen entwickelte TUSTEP, die Darstellung durch eine Textverarbeitung mit anschließender Konvertierung in das pdf-Format und die Internet-Technologie, das heißt, die Darstellung als html-Text. Während TUSTEP eine zeitaufwendige Einarbeitung und Schulung des Projekt-Teams erfordert hätte, welche aus arbeitsökonomischen Gründen als inakzeptabel erschien, war die Wahl zwischen pdf und html schwierig. Roland Reuß hat damals nachdrücklich für das Portable Data Format plädiert.24 Zur Begründung führte er aus, das von ihm favorisierte Format sei in der Lage, standgenaue diplomatische Transkriptionen der überlieferten Manuskripte wiederzugeben. Das heißt unter anderem: Einfügungen über der Zeile beispielsweise müssen von einer diplomatischen Umschrift standgenau dort wiedergegeben werden, wo sie sich in der Handschrift befinden.25 Tatsächlich ist der Text der Notizbuch-Ausgabe in dieser Hinsicht etwas anderes als eine diplomatische Umschrift, was im Hinblick auf die Art der Quelle und die dokumentierende Funktion der Ausgabe jedoch als vertretbar erscheint.26
2. Die elektronische Erschließung des Textes 2.1 Textkonstitution und editorische Prinzipien Die Prinzipien der Textkonstitution ergaben sich aus dem Charakter der Quelle als Lebenszeugnis und aus der dokumentarischen Funktion der Ausgabe. Es ging darum, die relevanten Sachverhalte möglichst unverändert und vollständig mit einem möglichst geringen Aufwand diakritischer Zeichen zu erfassen. Auch eine möglichst unveränderte Wiedergabe erfordert Interpretation gegebener Sachverhalte durch den Herausgeber. Unabhän24
Reuß 1999.
25
Ebd., 102.
26
Reuß› Feststellung, für die gleichzeitige Betrachtung von Faksimile und Umschrift sei der Bildschirm »vollständig ungeeignet«, ist durch die Technik überholt. Auf einem 19› oder 20› Bildschirm, der heute schon fast zum Einsteigermodell gehört, ist dieser Wunsch leicht zu erfüllen.
221
Jürgen Schutte
gig von der Darstellungstechnik macht dies in jedem Einzelfall eine Entscheidung darüber nötig, ob ein gegebener Sachverhalt – eine Einrückung, tabellenförmige oder gedrehte Anordnung des Textes, der Zeilenfall, eine Korrektur o.ä. – im Kontext der zu transkribierenden Stelle relevant ist oder nicht. Die Gestaltung des Textes und des bewusst schlank gehaltenen kritischen Apparats ist immer als Lesart zu verstehen, also partiell durch die subjektive Sicht auf den Autor und seine Aufzeichnungen bestimmt. Diese Lesarten werden jedoch soweit wie möglich überprüfbar gemacht durch die Möglichkeit einer Autopsie anhand der mitgelieferten Faksimiles. 27 In der Möglichkeit, dem Text eine große Zahl von Abbildungen hinzuzufügen, liegt ein weiterer unschätzbarer Vorteil der elektronischen Ausgabe. Transkription bedeutet technisch Digitalisierung. Da eine solche Digitalisierung von Texten trotz der rasch fortschreitenden technischen Entwicklung, etwa auf dem Gebiet der Texterkennung (OCR) immer noch ein arbeitsaufwendiger Vorgang ist, liegt bei allen derartigen Projekten ein großer Nachdruck auf der Persistenz der digitalisierten Texte: Sie sollen offen sein für weitere Entwicklungen und möglichst ein für allemal erfasst für elektronische Anwendungen. Mindestens soll eine Erweiterbarkeit der jeweils erreichten Differenzierung gegeben sein. Dieses wird durch international eingeführte Konventionen der Textauszeichnung gewährleistet, von denen die Text Encoding Initiative (TEI) die wichtigste ist. Dass die Kodierung des Notizbuchtexts diesem Standard entsprechen müsste, war von Beginn an eine Selbstverständlichkeit. Es geht um eine betriebssystem- und weitgehend programmunabhängige Kodierung, durch die auch die Lebensdauer der digitalisierten Texte gewährleistet wird. Der Standard, von dem wir bei der Transkription und Auszeichnung ausgingen, ist die Hyper Text Markup Language (html), welche ihrerseits ein Teilsystem der Extensible Markup Language (xml) ist.
222 TEI = Text Encoding Initiatve. Das TEI-Konsortium ist eine seit 1987 bestehende internationale Organisation, die ein Dokumentenformat zur Kodierung und zum Austausch von Texten entwickelt hat und weiterentwickelt. TEI ist faktisch der Standard innerhalb der Geistenswissenschaften, wo es sowohl zur Kodierung von gedruckten Werken als auch oder zur Auszeichnung von sprachlichen Informationen (Linguistik) in Texten verwendet wird. Die Informationen über das Format sind in einer Dokumenttypdefinition (DTD) festgelegt. Auf dieser Basis lassen sich die verschiedenen Textsorten (Gedichte, Dramen), der kritische Apparat und etwa spezifische Sprachkorpora und Wörterbücher für linguistische Auswertungen entwerfen. Die Grundlage von TEI ist SGML (inzwischen XML).
27
Die Ausgabe enthält auf 353 Faksimiles über 650 Seiten des Texts.
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe Die Extensible Markup Language (XML) ist eine Auszeichnungssprache zur Darstellung hierarchisch strukturierter Daten in Form von Textdateien. Die nach XML ausgezeichneten Texte können, wie die HTML-Texte, von allen Betriebssystemen und allen Internetbrowsern gelesen und weiterverarbeitet werden. XML wird vor allem für den Austausch von Daten über das Internet verwendet. Die Software der Digitalen Bibliothek ist während der Projektlaufzeit auf XML umgestellt worden. Die Hypertext Markup Language (HTML) wird vielfach als Hypertext bezeichnet. Sie ist eine Auszeichnungssprache zur Darstellung von Texten, Bildern und textbasierten Verknüpfungen in Dokumenten. HTML-Dokumente sind die Grundlage des World Wide Web; ihre Darstellung geschieht durch Internet-Browser. Inzwischen gibt es eine weiterentwickelte, auf der Syntax von XML gegründete Version, die Extensible Hyper Text Markup Language (erweiterbare Hypertext-Auszeichnungssprache, XHTML).
Die folgende Beschreibung der von uns angewandten Verfahren zielt auf die Erläuterung der inhaltlichen Auszeichnung, deren Differenziertheit und Systematik selbstverständlich vom jeweiligen Text und dessen Verwendungsrichtung abhängt, bei der sich jedoch allgemeine Erfahrungen und Vorschläge für die Textkonstitution in elektronischen Ausgaben festhalten lassen. Dieses Verfahren der Textkonstitution stellte sich bei Berücksichtigung der allgemeinen Editionsstandards auf der Basis von html beziehungsweise xml als überraschend einfach heraus, so dass eine zeitintensive Schulung des Projekt-Teams nicht nötig wurde.
2.2 Texterfassung und Textauszeichnung Anhand der Seite 91 des Notizbuchs 26 werde ich im Folgenden die einzelnen Arbeitsschritte und Regelungen der Textkonstitution genauer vergegenwärtigen. Es sind dies:
223
– Textkodierung und Textauszeichnung; – Metainformationen; – der kritische Apparat; – die Register. Ein Blick auf die Beispielseite zeigt, dass die Entzifferung der Handschrift im Ganzen vergleichsweise unproblematisch war. Peter Weiss hat immer recht leserlich geschrie-
Abb. 1: Notizbuch 26, S. 91 (PWA)
Jürgen Schutte
ben. Entsprechend den Umständen schwankt die Lesbarkeit; sie unterscheidet sich vor allem zwischen den kleinen und großen Notizbüchern.28 Während diese am Bibliothekstisch für Exzerpte aus wissenschaftlichen Werken oder bei Gesprächen mit Zeitzeugen29 benutzt wurden, sind die Eintragungen in den kleinen Notizbüchern zumeist freihändig geschrieben. Natürlich gibt es hier wie dort Einträge oder ganze Seiten, die aufgrund mehrfacher Korrekturen und verwickelter Änderungen nur schwer zu entziffern waren. Solche Unleserlichkeiten häufen sich in Konfliktsituationen – etwa in Entwürfen von (offenen) Briefen und anderen derartigen Stellungnahmen – und in den Traumniederschriften.30 Die Lesbarkeit wird in den frühen Büchern auch dadurch beeinträchtigt, dass Weiss in den 1950er Jahren vornehmlich mit Bleistift schrieb; infolgedessen sind die Texte vielfach verwischt und entsprechend schwieriger zu lesen; besonders das erste Buch, aus dem Jahr 1950, weist ganze ausradierte Abschnitte und Seiten auf.31 Später bevorzugte Weiss dunkelblaue oder schwarze Kugelschreiber. Die Schreibgründe bestanden bis Ende der 1960er Jahre zumeist aus einem leicht grauen, holzhaltigen Papier, während die nach 1971 benutzten Bücher sowie die Mehrzahl der sogenannten großen Notizbücher rein-weißes, glattes Skizzenpapier boten. Der Text wurde mit Hilfe einer Textverarbeitung (MS Word 97) aufgenommen. Für die Erfassung der typographischen Information, für die Seitenbeschreibung und die Textauszeichnung haben wir ein an html angelehntes, einfaches Tagset entwickelt, das mit dem Kodierungssystem der Digitalen Bibliothek abgestimmt war und sich im Laufe der Arbeit als erweiterungsbedürftig und erweiterungsfähig erwies. Die tags wurden in die Textverarbeitung integriert, so dass sie nicht mehr geschrieben, sondern mit Hilfe von Makros einfach eingesetzt wurden. Das erleichterte die Texterfassung und
224 28
Der Autor unterscheidet die »kleinen« Notizbücher im Oktavformat, die er ständig bei sich hatte, von den »großen« im Format DIN A5 und A4. Vgl. die Textzeugenbeschreibungen in der Gesamtausgabe.
29
Weiss hat, insbesondere bei den Recherchen zur Ästhetik des Widerstands, mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen; allein zwischen dem 1.5. und dem 30.6.1972 führte er an die dreißig Gespräche.
30
Eine eingehende Untersuchung dieser intensiven Arbeit am Text und ihrer Anlässe würde nach meinem Eindruck sehr aufschlussreiche Einsichten in die Denk- und Arbeitsweise von Peter Weiss eröffnen.
31
Wiebke Ankersen und Axel Schmolke haben die in dem Notizbuch mit der Bezeichnung Höst 50 (PWA 2149) enthaltenen, streckenweise schwer entzifferbaren Prosatexte transkribiert und uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Vgl. Weiss 2001. – Schmolke 2006; im Anhang, S. 650678 und 678-682 sind Auszüge dieses Notizbuch gedruckt.
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
sorgte auch für Konsistenz bei der Auszeichnung. 32 Die typographische Einheitlichkeit des Textes – einschließlich bestimmter Normalisierungen33 – war durch eine detaillierte Richtlinie gewährleistet. Um Doppelarbeit und Datenverluste zu vermeiden, wurden der Bearbeitungsstand und das Datum der Bearbeitung jeweils in den Dateinamen integriert. An der Gegenüberstellung von Faksimile und Klartext lassen sich die Darbietungsform der Gesamtausgabe sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Transkriptionsmethode und der Programmtechnik sichtbar machen. Die kleinste, mehr oder weniger in sich geschlossene Einheit des Textes ist der Eintrag, der den Aufzeichnungen in einem Zug hinzugefügte Text, der ein einzelnes Wort sein kann oder eine über mehrere Seiten fortlaufende Reflexion. Der Autor hat selbst die einzelnen Notate meistens durch vergrößerte Zwischenräume und Einrückungen, aber auch durch Linien und tabellenartige Anordnung voneinander abgetrennt. Vielfach unterscheiden sich die Einträge auch durch das Schreibmittel. Auch wo dieses nicht vom vorhergehenden abweicht, gibt es natürlich erkennbare Unterschiede im Schreibduktus und in der Textanordnung. Zuweilen bleibt das Schreibmittel, das heißt vor allem, die Farbe des verwendeten Kugelschreibers, über größere Strecken gleich; an anderen Stellen wechselt es von Eintrag zu Eintrag. Der Autor schrieb jeweils mit dem Stift, der gerade zur Hand war. Von diesen natürlichen Wechseln im Schreibmittel unterscheiden sich nachträglich angebrachte Korrekturen und Ergänzungen sowie Markierungen, welche das Wiederfinden bestimmter Textstellen erleichtern sollten und sich aus der Benutzung der Aufzeichnungen bei der laufenden Schreibarbeit ergaben34. Diese Wechsel des Schreibmaterials sind im kritischen Apparat erfasst, wobei wieder klargestellt werden muss, dass solche Entscheidungen natürlich Interpretationen der vorgefundenen Sachverhalte bedeuten. Auf der abgebildeten Seite 91 des Notizbuchs 26 befinden sich fünf Einträge, von denen der zweite den Schluss eines auf der vorhergehenden Seite beginnenden Notats bildet, und ein anderer, mit abweichendem Schreibmittel geschrieben, zweifellos einen späte-
32
Zum Beispiel: Manche tags mussten immer mit, andere immer ohne folgendes oder vorangehendes Leerzeichen geschrieben werden.
33
Aus Ziffern bestehende Ausdrücke sind durch Normalisierung als Telefonnummer, Geldbetrag, Datum, Uhrzeit inhaltlich qualifiziert. Diese stillschweigenden Herausgebereingriffe zeigen einmal mehr, dass der Textkonstitution immer eine Interpretation von Sachverhalten zugrundeliegt.
34
So sind vermutlich auch die in Versalien geschriebenen Szenenbezeichnungen des Hölderlin im Buch 21 zu verstehen.
225
Jürgen Schutte {H}0026/091{/H}{Z} «fax»{lr}{/lr}{RW ??}Hedda Gabler{/RW}{P0+}*{RW ??}Dockhem{/RW}100{Z} {RW ??}Drömspel{/RW}{P0–}sedan hösten{Z} {P0–}{RP ??}Sundström{/RP}{FN1}{Z} {R}*56 – {RW ??}Spöksonaten{/RW} jan.{FN2}{/R}{Z} Sjöberg{R}*37 {RW ??}H.{/RW} 16. April3 sönd.{/ R}{Z} {R}sedan vår 72{RP ??}Ingm.{/RP} {RW ??}Vildanden{/RW} 64{/R}{Z} {RP ??}Carl Olof Lång{/RP}{RI ??}TV 1{/RI}{FN3}{Z} {L}{Z} denheiten nicht{P}{Z} die kamen aus ihrer Fabrik raus, aus ihrem Loch raus, mit leeren Händen, sie kamen angelaufen, und da standen sie vor dem Herrn, ihre Wut kam offen zum Ausdruck war offen, der hat uns geschunden, so geht das nicht weiter, jetzt muss was geschehn –{R}({RP ??}Koehler{/RP}){/R}{P}{Z} Eisenblöcke schieben, härteste aller Schuftereien{Z} als wäre es für die Kollegen tatsächl. eine Freude, erbaulich (ich kannte das){Z} Haut versengt von Feuerglut{Z} {091}{S}
Abb. 2: Nb 26, Seite 91, kodierterText
226
Abb. 3: Nb 26, Seite 91, Klartext
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
ren, teilweise in den vorhandenen Text hineingeschriebenen Zusatz von der Hand des Autors darstellt 35. Diese Struktur war mit Hilfe des für die Transkription entwikkelten Kodierungssystems wiederzugeben. Obwohl die Beispielseite topografisch nicht besonders kompliziert ist, lässt sich doch erkennen, dass eine standgenaue Wiedergabe des Textes mit der von uns benutzten Technik nur sehr umständlich zu verwirklichen wäre; sie ist aber nach meiner Auffassung auch nicht nötig. Vielmehr geht es um eine Transformation der gegebenen graphischen Sachverhalte in eine punktuell formalisierte Darstellung, die sich aus einer Interpretation der darzustellenden Seite ergibt. Dass der Autor selbst bestimmte Formalisierungen vorgegeben hat, erleichterte diese Deutungen erheblich. So hatte es Weiss sich zur Gewohnheit gemacht, den Schluss eines Eintrags durch einen Gedankenstrich zu marAuszug aus dem Tagset: kieren. Daneben trennte er auch textformatierend: ... angestrichen hier die verschiedenen Einträge … Rahmung durch Linien und Rahmungen … gestrichen ... eingefügt voneinander ab. Letztere die ... unterstrichen nen natürlich in erster Linie
„Spatium“: 4 Leerzeichen der Hervorhebung bestimmter
„Peter-Weiss-Zeichen“ Informationen, ergeben sich «?...» unsichere Lesung aber oft auch aus Kritzeleien «x», «xxx» unlesbare Silbe, Wort seitenformatierend: der Art, wie man sie etwa wäh{H} Seitenkopf rend eines sich hinziehenden {Z} Zeilenvorschub {P} Absatz (1/2 Leerzeile Telefongesprächs nebenbei ver{S} Seitenvorschub fertigt. {L} lange oder kurze {K} Linie Die Abbildung der kodierten Seite zeigt die Anwendung des für die Textkonstitution entwikkelten Tagsets. Die transkribierten und korrigierten Texte mussten für die Konvertierung in das Programm der Digitalen Bibliothek im Format nur Text abgelegt werden. Die im ASCII-Code nicht verfügbaren Zeichen, etwa der Gedankenstrich [–], die französischen Anführungszeichen [« und »] welche als Herausgeberklammern fungieren, sowie alle Arten von Sonderzeichen, wie sie vor allem in osteuropäischen, aber beispielsweise auch in der Umschrift von vietnamesischen Namen vorkommen, wurden mit Hilfe von Makros konsistent in die entsprechenden Ausdrücke übersetzt. Aus mnemotechnischen Gründen sind
35
Die im oberen Teil der Seite eingefügten Textteile sind auf Grund des abweichenden Schreibmittels – ein blauer Kugelschreiber – als späterer Zusatz und als zusammengehörig erkennbar.
227
Jürgen Schutte
die textformatierenden tags von solchen für die Seitenbeschreibung unterschieden. Diese umfassen unter anderem den Seitenkopf mit den Angaben über den Titel des Textzeugen. Besondere Überlegungen galten dem Zeilenwechsel {Z}. Er wurde dort eingefügt, wo aus der Textanordnung geschlossen werden kann, dass der Autor einen Zeilenwechsel intendiert; im Übrigen behandeln wir den Text als Fließtext. Es erübrigt sich, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der edierte Text auch im Hinblick auf diese Metainformationen in mancher Hinsicht eine vom Herausgeber vorgegebene Lesart darstellt. Was durch diese einfache Kodierung nicht eindeutig wiedergegeben werden konnte, ist in den Anmerkungen beschrieben. Seiten mit komplexer Gestaltung des Textes oder mit Skizzen sind dem Text als Faksimiles hinzugefügt.
2.3 Der kritische Apparat Konzeption und Darbietung des kritischen Apparats entsprechen im Prinzip dem einer gedruckten Edition. Die Anmerkungen36 beziehen sich vor allem auf:
228
– den Stand des Textes auf der Seite. Besonderheiten der Textdarbietung und -anordnung wie Unsicherheiten hinsichtlich der Textabfolge; an den Rand Geschriebenes und ähnliches sind in Anmerkungen beschrieben, wo ein angemessenes Textverständnis dies erfordert. – ein Wechsel des Schreibmittels wird nur dort angezeigt, wo dieser auf einen späteren Eingriff des Autors weist; Übereinstimmungen mit Rahmungen, Unterstreichungen oder Korrekturen im Kontext sind im kritischen Apparat beschrieben. – die vom Autor in die Notizbücher eingelegten Lesezeichen, oft mit Beschriftung, sind bei den einzelnen Seiten angemerkt; dabei wurde der Zustand bei Verfilmung des Nachlasses im Jahr 1987 wieder hergestellt.37 – Autorkorrekturen: Die vom Autor im Text beim Schreibvorgang oder später angebrachten Korrekturen sind in den Anmerkungen
36
Es sind rund 11.500.
37
Es zeigte sich, dass die Lesezeichen in der Zwischenzeit aufgrund der Benutzung der Notizbücher in vielen Fällen nicht mehr an der Stelle waren, an der sie bei der Verfilmung neben der aufgenommenen Seite abgelichtet wurden. Allerdings ist in Einzelfällen auch diese Zuordnung zu zweifelhaft.
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
verzeichnet, soweit sie nicht im Text durch diakritische Zeichen markiert sind (gestrichen / eingefügt).38 – Herausgeberkorrekturen: Die Möglichkeit, bestimmte Ausdrücke in der Volltextsuche angezeigt zu bekommen, kann im Hypertext auf verschiedene Weise gewährleistet werden. Wir haben uns für die einfachste entschieden: Der Ausdruck wurde im Text korrigiert und die Schreibung durch den Autor in einer Anmerkung buchstabengetreu festgehalten. Ein anderes, dynamischeres Verfahren würde darin bestehen, den Texteingriff zu vermeiden und die richtige Schreibweise – oder alternative Schreibweisen – im Text versteckt so zu verankern, dass zum Beispiel bei der Suche nach Symptom auch Symtom gefunden wird. In der Ausgabe ist dieses Verfahren bei der Silbentrennung am Seitenende angewendet.
3. Von der Textverarbeitung zur Textdatenverarbeitung Zur weiteren Bearbeitung, vor allem für die Erstellung der Register, wurden die Aufzeichnungen in eine Textdatenbank eingelesen.39 Im Unterschied zu einer Textverarbeitung erlaubt eine Datenbank eine effektive Verwaltung und Kontrolle von Texteigenschaften, Auszeichnungen und formalen Gegebenheiten. Sie bietet auch die Möglichkeit einer nahezu unbegrenzten Manipulation des Textes, zum Beispiel den Austausch einer bestimmten Textauszeichnung im gesamten Textkorpus. Sich wiederholende Arbeitsvorgänge ließen sich mit Hilfe von Scripts automatisieren. Die Textdatenbank stellt den transkribierten und korrigierten Notizbuchtext seitenbezogen bereit (ein Datensatz = eine Seite). Sie enthält in getrennten Dateien neben dem Text die Anmerkungen [Endnoten], die sogenannten Materialien [Personen, Institutionen, Periodika und Werke] sowie den digitalisierten Text der vom Autor publizierten Notizbücher [NB I/II]. Ausgangspunkt der Arbeit an den Registern ist die Liste aller Texteinträge. Diese sind die im Text erwähnten Namen, Institutionen, Periodika und Werktitel, das heißt inhaltlich qualifizierte Textinformationen. Das ist etwa ein Name (Sjöberg), eine Institution 38
Die Möglichkeiten eines Hypertexts sind in diesem Punkt nicht voll genutzt; denkbar wäre, dass die Korrekturen und Varianten im Text selbst sichtbar gemacht werden.
39
Die relationale »Datenbank Notizbücher« wurde auf der Basis von FileMaker (Version 4.0, später 5.0Dv3) erstellt.
229
Jürgen Schutte
Abb. 5: Die Struktur derTextdatenbank
230
(TV), ein Periodikum (Die Welt) oder ein Werktitel (Drömspel). – Die betreffende Zeichenkette wurde in die Datei Register eingetragen, der entsprechenden Kategorie zugeteilt und identifiziert. Die in das Register aufgenommenen Texteinträge sind im edierten Text ausgezeichnet, und zwar die Personen als {RP ??}Sjöberg{/ RP}, die Institutionen und Periodika als {RI ??}TV{/RI} beziehungsweise als {RZ ??}Die Welt{/RZ} sowie die Werktitel als {RW ??}drömspel{/RW}.40 Zur Datenbank gehörten außer den bereits genannten Dateien noch die Chronik und die Peter-Weiss-Bibliografie (der Forschungsliteratur) sowie eine Datei mit dem eingelesenen Text der Notizbücher 1960–1971 und Notizbücher 1971-1980. Die Möglichkeit, jederzeit auf diese Daten zurückgreifen zu können, erleichterte die Identifizierung und Kommentierung der Texteinträge erheblich. Bei der Identifizierung von Personen bewährte sich auch die
40
Die beiden Fragezeichen im tag sind Platzhalter für die im Verlauf der Registerarbeit vergebenen »Kennungen«, welche die Grundlage für die Verknüpfungen im Hypertext bilden. Sie sind ein numerus currens, und wurden gänzlich unabhängig von der Bedeutung des Registerbegriffs und seiner etwaigen Zuordnung vergeben. Jede Kennung durfte nur einmal vorkommen; die Datenbank enthielt eine Sicherung gegen Doppelungen und spätere Veränderungen.
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
Entscheidung, alle erwähnten Adressen und Telefonnummern mit aufzunehmen.41 Die einzelnen Dateien sind über Schlüsselbegriffe relational verknüpft. Das ermöglichte zu jedem Zeitpunkt der Arbeit eine konsistente und kontrollierte Verwaltung der Daten und garantierte die Offenheit ihrer Weiterverarbeitung, insbesondere den Transfer in die Software der Digitalen Bibliothek. So ist zum Beispiel ein im Text genannter und in das Personenregister eingetragener Autor mit seinen im Text erwähnten und in die Werkdatei eingetragenen Werktiteln verknüpft. Auf der Grundlage dieser Verknüpfung erlaubte die Datenbank am Ende den Export des Registers der Personen und Werke ›per Knopfdruck‹. Die Textdatenbank ermöglichte unter anderem: – die Bereitstellung des transkribierten und korrigierten Quelltexts zur Kontrolle des Arbeitsstands und der Korrekturen; durch Fixierung dieses Textes war im gegebenen Fall eine Wiederherstellung des Zustandes vor jeder Änderung möglich; – die Protokollierung und eindeutige Zuordnung von Korrekturen, Ergänzungen und Fragen zur einzelnen Textstelle (Seite) und zur bearbeitenden Person; – die Kategorisierung der offenen Fragen (zum Textwortlaut / zur Seitenformatierung / zu einer Anmerkung / zu einem Registereintrag und ähnlich); – die Verknüpfung der Titel in der Datei Werke mit dem zugehörigen Autornamen in der Datei Personen; – die Generierung des Abkürzungsverzeichnisses aus der Datei Institutionen; – die Generierung der Textzeugen-Konkordanzen; – eine flexible, jederzeit erweiterbare und korrigierbare Verwaltung der Namensformen, die zu einer Person gehören, etwa: genannt [Hans Baldung, gen. Grien], eigentlicher Name [Günter Anders, eig. Günter Stern], Pseudonyme [Herbert Wehner, Ps. Funk, Svensson usf.], verschiedene Umschriftformen [Trotsky, Trotzkij] und auch die Originaltitel von Werken [Faust im Nacken, engl. On the Waterfront oder Drömspel, dt. Ein Traumspiel].
41
Gunilla Palmstierna-Weiss stellte uns darüber hinaus dankenswerterweise die im Berichtszeitraum geführten gemeinsamen Adressenverzeichnisse zur Verfügung.
231
Jürgen Schutte
3.1. Die Vorbereitung der Register Mit der Textauszeichnung für die geplanten Register begannen wir bereits bei der Texterfassung. Die Auszeichnung eines historischen Texts ist stets eine philologische Arbeit: Sie umfasst die Auswahl und Dokumentation der Textgrundlage und die Verknüpfung mit anderen Informationen (Kommentare und Erläuterungen).42 Mit zunehmender Vertrautheit mit den in den Aufzeichnungen verhandelten Gegenständen und Themen konnte die inhaltliche Strukturierung des Textes also immer intensiver werden. Bis in die letzten Korrekturen hinein wurden noch neue Auszeichnungen angelegt, Identifizierungen geändert oder präzisiert oder auch Auszeichnungen entfernt. Die Textdatenbank erlaubte solche kontrollierten Änderungen und Ergänzungen bis kurz vor Toresschluss. Die Register sollen die folgenden Aufgaben erfüllen, die durch die Abbildung 5 vergegenwärtigt werden: – die im Text erwähnten Namen, Werke, Periodika und Institutionen zu identifizieren; – diese Namen, Werke und Institutionen knapp zu erläutern; – einen Überblick über die im Text erwähnten Personen, literarischen Figuren, Werke, Weiss-Titel, Institutionen und Periodika zu ermöglichen.
232
Die Auszeichnung notiert eine bestimmte Sichtweise beziehungsweise eine Lesart des Texts. Sie ist darüber hinaus ein Ausdruck des Erkenntnisinteresses, dem die editorische Arbeit folgt.43 Das gilt auch für jede gedruckte Edition, ist bei der elektronischen nach meinem Eindruck allerdings leichter zu handhaben, weil weniger folgenreich für die Benutzung. Denn der Hypertext erlaubt aufgrund der Möglichkeit der Volltextsuche und anderer Optionen, zum Beispiel der schreibweisentoleranten Suche, eine differenzierte Erschließung des Textes. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Navigationsnetz, das nicht nur die Suche nach Zeichenketten erlaubt, sondern den Text strukturell erschließt und präsentiert und
42
Jannidis 2000.
43
Im Bereich des Wünschbaren lägen noch ein Register der erwähnten Orte, der erwähnten historischen Ereignisse und ein Schlagwortregister; die Erfüllung dieser Wünsche musste angesichts des Mangels an Zeit und Projektmitteln aufgeschoben werden.
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
damit das dahinterstehende Forschungsprogramm sichtbar macht.44 Das ist bei der Software der Digitalen Bibliothek im Ansatz gegeben und wird dort weiterentwickelt. Die Retrievalmöglichkeiten der Digitalen Bibliothek sind über die Programmoberfläche intuitiv erfassbar. Bei der Arbeit mit den Notizbuchtexten bewähren sich die selbstverständlichen Optionen der Volltextsuche, zum Beispiel der Aufbau von Fundstellenlisten, auch aus dem Register heraus, die Möglichkeit, die Suche auf einen bestimmten Textbereich einzugrenzen oder die schreibweisentolerante Recherche. Letztere erschließt zum Beispiel die archaisierenden Begriffe, die Weiss im Zusammenhang mit dem HölderlinStück verwendet – er schreibt Gesez der Nothwendigkeit; unfrey; schrökliche Kriege.45 Auf diese Weise findet das Programm auch unterschiedliche Umschriften von Namen. 46 Durch die Verwendung der Option Themen kann man sich ein individuelles Schlagwortregister schaffen, das auf die eigenen Fragestellungen zugeschnitten ist. Man grenzt den Bereich durch die Begriffe ein, die im Zusammenhang mit der Sache (wahrscheinlich) vorkommen. Etwa die Figuren und Orte eines Dramas: Hölderlin / Hegel / Goethe / Fichte / Neuffer / Susette / Gontard / Wilhelmine / Kirms / Charlotte / Fritz / Kalb / Frankfurt / Jena / Tübingen. Das Programm ruft alle Seiten auf, auf denen ein oder mehrere dieser Ausdrücke vorkommen. Die Liste lässt sich, wie alle Suchaufträge, als Thema speichern und wieder aufrufen. In den Tabellen schließlich sind die registrierten Namen, Institutionen und Periodika in einer Weise aufgestellt, der man durch die Filteroption Übersicht abgewinnen kann.47
233
44
Schrift und Bild in Bewegung. Kongressbericht, S. 3.
45
Wird gefunden von »Gesetz«, »Notwendigkeit«, »unfrei«, »schrecklich«.
46
Es empfiehlt sich jedoch, gerade in dieser Hinsicht immer die Platzhalter zu verwenden: »Trotski« findet auch »Trotsky«, aber nicht »Trotzki«/ »Trotzky«; mit Platzhaltern: »Tro*k?« – In diesem Punkt gibt es einen Änderungsbedarf für die nächste Version der »Digitalen Bibliothek«.
47
Übersicht ermöglicht das Programm der »Digitalen Bibliothek« durch die Option »Tabelle filtern«. Man kann sich leicht alle in den Notizen erwähnten Theater in Stockholm oder alle erwähnten Hotels in Paris anzeigen lassen.
Jürgen Schutte
Texteintrag Person „Max“
Institution „KB“
Periodikum „Die Welt“
Werk „Nadja“
234
Identifikation Max Hodann [und nicht Max Barth oder Max Frisch]
Stockholm – Kungliga Bibliotket [Die Königliche Bibliothek]
Die Welt (Stockholm) [und nicht „Die Welt. Unab¬hängige Tageszeitung für Deutschland“ (Hamburg).]
André Breton: Nadja (1928) [und nicht dieTochter Nadja Vera, geb. am 16.11.1972]
Erläuterung
Übersicht
Hodann, Max Julius (1894–1946): deutscher Mediziner, Psychiater und Sexualpädagoge. 1921–1931 Leiter des Gesundheitsamts Berlin-Reinickendorf; begründete die erste Mütterberatungsstelle in Deutschland; M.d. Vorstands im Verein sozialistischer Ärzte [...] – Weiss lernte Hodann 1941 in Stockholm kennen; Figur in »Fluchtpunkt« (1962) und »Die Ästhetik des Widerstands« (1975/1981)
Register Institutionen Institutionen in Berlin (West) – Akademie der Künste – Hotel am Steinplatz – Parisbar – Schaubühne am Halleschen Ufer – Schillertheater Hotels/Pensionen in Paris – Hotel Concorde – Hotel Montagne – Hotel Odessa – Pension Orfila […] Theater in Stockholm – Biograf Lido – Dramaten – Kungliga Biblioteket – Lejonkulan – Scalateatern – Studioscenen [...]
Kungliga biblioteket (KB). [Königliche Bibliothek] Nationalbibliothek Schwedens in Humlegården, Stockholm; gegründet 1877 [...] Die Welt : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung. Deutsche Ausgabe von »Världen i dag« [Die Welt heute]. Wochenzeitung der Komintern [...] Breton, André (18961966): französischer Schriftsteller. [...] – Figur in »Trotzki im Exil« (1970) – Le revolver à cheveux blancs. Paris 1932 – Nadja: Övers. av Eva Marstrander. Förord av Artur Lundkvist. Stockholm: Wahlström & Widstrand 1949
Register Personen deutsche Schauspieler, die 1930 oder später geboren sind – Peter Fitz – Dieter Giesing – Otto Sander – Wolfgang Schenck – Stefan Wigger [...]
Das umfangreiche und arbeitsintensive Editionsvorhaben eröffnet der Weiss-Forschung neue Dimensionen und Möglichkeiten. Das betrifft die biographischen Informationen und das Wissen über die Entstehung der Werke sowohl hinsichtlich der Chronologie als auch in Bezug auf das Material, das betrifft die mannigfachen intertextuellen Beziehungen, die künstlerischen Reflexionen, die sprachlichen Formen und Schwierigkeiten sowie ihre Einbettung in den historischen, lebensgeschichtlichen und den literarischen Kontext. Die Erschließung und Erläuterung dieses Wissens aus der Kennt-
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
nis des gesamten Textkorpus und, soweit möglich, mit dem Überblick über das Gesamtwerk des Autors war die zentrale Aufgabe der Projektarbeit. Deren Ergebnisse zu vermitteln taugt allein das elektronische Medium. Es macht die in den Aufzeichnungen enthaltenen Informationen auf denkbar leichte Art zugänglich und erlaubt darüber hinaus den Vergleich mit den Notizbüchern, dem Zeugnis der Selbstdarstellung des Autors. Aufgrund dieser Eigenart wird die Edition von den meisten Rezipienten vermutlich als ein willkommenes Nachschlagewerk über Leben und Werk des Peter Weiss benutzt werden. Die elektronische Publikation mit ihrer Technik des Hypertexts legt einen solchen Umgang mit den Aufzeichnungen nahe; sie schließt dabei hoffentlich nicht aus, dass man sich an einzelnen Passagen festliest und dass man auch findet, was man nicht gesucht hat. Sollte die Software der Digitalen Bibliothek Wünsche wecken, nach mehr Optionen der Arbeit mit dem Text, so tut sie dieses jedenfalls aufgrund ihrer schon gegebenen Qualität als Instrument der Texterschließung, das dem dokumentarische Charakter der Aufzeichnungen (fast) vollkommen entspricht. Sind die Notizbücher ein Zeugnis, in dem Leben und Werk des Peter Weiss auf faszinierende Art dokumentiert ist, so ist die jetzt vorliegende Gesamtausgabe zugleich das Dokument einer Ermittlung, deren Ergebnis sich nicht zuletzt der Begegnung mit zahlreichen Zeitzeugen verdankt, die uns über Peter Weiss, sein Werk und einzelne Phasen seines Lebens Auskunft gaben. Es war uns bei diesen Gesprächen und Korrespondenzen stets bewusst, dass es darum ging, das Wissen über Leben und Werk von Peter Weiss und über seine Zeit zusammenzutragen, solange die Zeitzeugen noch Auskunft geben können. Insofern war Arbeit an der Gesamtausgabe auch ein Einsatz gegen die verrinnende Zeit. Umso dankbarer sind wir für alle Auskünfte und für die uns überlassenen Materialien. Vor allen anderen hat Gunilla Palmstierna-Weiss aufgrund ihrer intimen Kenntnis des Lebens und Werks von Peter Weiss, der kulturellen und zeitgeschichtlichen Gegebenheiten sowie ihrer Zusammenarbeit mit ihm, aber auch aufgrund ihrer eigenen künstlerischen und politischen Arbeit die Erschließung der Texte ermöglicht. Sie hat mit großem Engagement zum Gelingen der Gesamtausgabe beigetragen, die ihr aus diesem Grunde gewidmet ist.
235
Jürgen Schutte
Literatur
236
Gild, Anja (2007) Bewertungskriterien für die Lesbarkeit von elektronischen Texten. Ein Beitrag aus der Praxis. URL: http://iasl. uni-muenchen.de/discuss /lisforen/gild.htm (22.12.07). Hurlebusch, Klaus (1987) Überrest und Tradition. Editionsprobleme von Tagebüchern, dargestellt an Klopstocks Arbeitstagebuch. In: Editions et Manuscrits. Probleme der Edition. Hrsg. v. Michael Werner und Winfried Woesler. Bern u.a.: Peter Lang, S. 107-123. Jannidis, Fotis (2000): Bewertungskriterien für elektronische Editionen. In: IASL Diskussionsforum online, 2000. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/jannidis.htm (22.12.07). Reuß, Roland (1999) Textkritische Editionen und Dateiformate. Notizen. In: Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999), S. 101–105. Schmolke, Axel (2006) Das fortwährend Wirken von einer Situation zu andern. Strukturwandel und biographische Lesarten in den Varianten von Peter Weiss‘ Abschied von den Eltern. St. Ingbert: Röhrig. Schrift und Bild in Bewegung. Kongressbericht Schutte, Jürgen (1999): Spurensicherung. Über die elektronische Edition der Notizbücher von Peter Weiss. In: Literaturwissenschaft und politische Kultur. Für Eberhard Lämmert zum 75. Geburtstag. Hrsg. v. Winfried Menninghaus und Klaus Scherpe. Stuttgart und Weimar: Metzler, S. 226-235. Sumbor, Joanna (2006) Peter Weiss – Jugendschriften. Phil. Diss. FU Berlin (erscheint voraussichtlich 2008). Vegesack, Thomas von (1963): Mellan två språk. In: Stockholms Tidningen 3.9.1963. Weiss, Peter (1956) Avantgardefilm. Stockholm: Wahlström & Widstrand, dt. Avantgarde Film. Aus dem Schwedischen übersetzt und hrsg. v. Beat Mazenauer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (edition suhrkamp; 1444). Weiss, Peter (1974) Abschied von den Eltern. Erzählung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Weiss, Peter (1991) Rekonvaleszenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp. (edition suhrkamp; 1710) und als bibliophile Ausgabe. Weiss, Peter (2001) Bewegungen. Romanfragment, März 1950, mit einer editorischen Notiz [und aus dem Schwedischen übersetzt] v. Wiebke Ankersen. In: Peter-Weiss-Jahrbuch 10, 2001, S. 7-16. Weiss, Peter (2006a) Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Jürgen Schutte in Zusammenarbeit mit Wiebke Amthor und
Manchmal ist die Welt doch eine Scheibe
Jenny Willner. Berlin: directmedia 2006 (Digitale Bibliothek; 149). Weiss, Peter (2006b) Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Rainer Gerlach und Jürgen Schutte. Göttingen: Wallstein. Weiss, Peter (2008) Füreinander sind wir Chiffren. Das Pariser Manuskript von Peter Weiss. Übersetzt und hrsg. v. Axel Schmolke. Berlin: Rotbuch. Willner, Jenny (2007) Störgeräusche. Grenzerfahrungen der Sprache bei Peter Weiss und Terézia Mora. In: Peter Weiss. Grenzgänger zwischen den Künsten. Bild – Collage – Text – Film. Hrsg. v. Yannick Müllender, Jürgen Schutte und Ulrike Weymann. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, S. 149-165.
237
Zu den Beiträgern André Fischer Studium der Germanistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie Neueren Geschichte an der Universität Potsdam Prof. Dr. Gerhard Friedrich ist Professore Associato des Dipartimento di scienze del linguaggio e letterature moderne e comparate der Universitá degli studi di Torino Prof. Dr. Jost Hermand ist William F. Vilas Emeritus Research Professor of German an der University of Wisconsin-Madison und u.a. Visiting Professor an der Humboldt Universität Berlin M.A. Jan Kostka promoviert am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur des Instituts für Germanistik der Universität Potsdam Prof. Dr. Dieter Mersch ist Professor für Medientheorie und Medienwissenschaften am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam Prof. Dr. Helmut Peitsch ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Potsdam Thomas Schmidt Studium der Kunstgeschichte, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie Germanistik an der Freien Universität Berlin und an der Universität Potsdam
238
Prof. Dr. Jürgen Schutte ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin Dr. Hans-Christian Stillmark ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam Prof. Dr. Jochen Vogt lehrte bis 2008 Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Essen und als Gastprofesssor an der Universität Potsdam. Er ist Adjunct Professor of German Studies an der Duke University in Durham, NC.
Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.) Game over!? Perspektiven des Computerspiels 2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-790-5
Martina Hessler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft Januar 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-09-04 13-45-19 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02f4219965445230|(S.
1
) ANZ1156.p 219965445238
2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.
2
) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240