Überleben im Dazwischen: Zu den poetischen Selbstbildern im Werk von Moses Rosenkranz (1904-2003) 9783412212230, 9783412211172


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Überleben im Dazwischen: Zu den poetischen Selbstbildern im Werk von Moses Rosenkranz (1904-2003)
 9783412212230, 9783412211172

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Überleben im Dazwischen

Lebenswelten osteuropäischer Juden Erinnerung an die Lebenswelten osteuro­ päischer Juden, an ihre Ge­schichte und Kultur, ist eine Erfahrung des Leidens, aber auch des Selbstbewusstseins und der Kraft. Mit den Arbeiten dieser Reihe – ­wissenschaftlichen Forschungen, Neuaus­ gaben bedeutender älterer Beiträge und Quelleneditionen – sollen Leben­ ver­ hältnisse und Alltag, Werte, Normen und Einstellungen, Denken, Fühlen und Verhalten der Juden ebenso wieder gegen­ wärtig werden wie das Zusammenleben mit der nichtjü­­dischen Umwelt und das Einwirken politischer, wirtschaft­ licher und ge­sell­schaftlicher Strukturen. In der Auseinandersetzung mit ­ diesen Welten gewinnen wir sie als Teil unserer eigenen Geschichte zurück.

Herausgegeben von Heiko Haumann, Julia Richers und Monica Rüthers Band 14

Überleben im Dazwischen Zu den poetischen Selbstbildern im Werk von Moses Rosenkranz (1904–2003) von Judith Schifferle

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Basler Studienstiftung, des Max Geldner-Fonds der Universität Basel sowie des Werenfels-Fonds der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel (angenommen 2011 unter dem Titel «‹Währendes auf den Trümmern der Vergänglichkeit›. Eine Phänomenologische Untersuchung des Selbstbildes im Werk von Moses Rosenkranz») Erstgutachter: Prof. Dr. Ralf Simon Zweitgutachter: Prof. Dr. Werner Nell

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © Oleg Ljubkiwskij, Karpatenlandschaft, Aquarell, 2007. © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Lena Hoffmann Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst GmbH, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-21117-2

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Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Einleitung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aspekte der Differenz zwischen Lyrik und Prosa . . . . . . . .

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4 Methode: Eine Phänomenologie an der Grenze . . . . . . . 4.1 Maurice Merleau-Ponty, Henri Bergson, Erwin Straus . . . 4.1.1 Henri Bergson: Vom Begriff der „Dauer“ zu einer Bildtheorie der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Maurice Merleau-Pontys Begriff des „Leibes“ und die Wahrnehmung als ein „In-der-Welt-Sein“ . . . . . . 4.1.3 Erwin Straus’ „Erweiterung der Grenzen des Daseins“ 4.2 Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Primärliteratur und Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Kurze Werkbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Forschungsrückblick und Literaturkritik . . . . . . . . . . . 6.1 Kulturhistorische Ansätze einer deutschsprachigen Bukowinaliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Möglicher Zugang: littérature mineure . . . . . . . . . 6.1.2 Bukowiner Literatur zwischen deutsch-jüdischem Selbstverständnis und Identitätsbruch . . . . . . . . . 6.1.3 Identitätsfrage in der Autobiografieforschung nach 1945 6.2 Fazit: „konkrete Utopie“ und poetische Identität . . . . . . . .

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Abstract

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Inhaltsverzeichnis

7 Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz . 7.1 Von der Verkörperung der Poesie zur Poetisierung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Zum Verhältnis von Leben und Werk . . . . . . . . . 7.1.2 Die „Wendung zum Epischen“ . . . . . . . . . . . . . 7.2 Bedürfnis nach dem „Schönen“: Bilder und Fotografien . . . 7.2.1 „Selbst und gelöst und im Rhythmus bleiben“ . . . . . 7.2.2 Die Handschrift oder das „Maschinderl“ als Tertium Comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Zusammenfassung: Domestizierung der Wirklichkeit . 7.3 Biografischer Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Identitätsbezeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 „Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen“ . . . . 7.3.3 Ein biografischer Zwölfpunkteplan . . . . . . . . . . . 7.4 Zusammenfassung und Kommentar . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Ein vitalistischer Lebens-Abriss . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Eine „neue Beziehung zu den Dingen“ in der Bedeutung der Wahr-nehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Von der Selbst-Objektivierung zum „anderen Ich“ . . .

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. 85 . 85 . 94 . 100 . 109 . . . . . . . .

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. 152 . 155

8 Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 An der phänomenologischen Grenze lyrischen Verstehens 8.1.2 Zum Erlebnis des lyrischen Ich . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Lyrik 1930–1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Ambiguität des lyrischen Ich . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Das „13. Geheimnis“: Deutungsversuche . . . . . . . . 8.2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Frühe Gedichtbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Titel der Gedichtbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Form und Inhalt: zum „Erlebnis“-Begriff des Frühwerks . 8.3.3 Vom „Hintersinn“ der Gedichte oder in der Divergenz der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

8.4 Lyrik nach 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Späte Bücher: Ordnen . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Eigennamen oder die Frage nach dem Ich und seinem Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Form-Schluss des lyrischen Werks . . . . . . . . . . . 8.5.1 Selbstbild aus Biografie und Werk: Divergenz und Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Das rumänische Volkslied . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . 199 . . . . 206 . . . . 220 . . . . 222 . . . . 225 . . . . 230 . . . . 236

9 Autobiografische Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Gattungsproblematik und Identitätserschreibung nach 1945 . . 9.1.1 Autobiografischer Exkurs: Dichtung und Wahrnehmung im und nach dem Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Die Tatsache des Mythologischen: Zusammenfassung . . 9.1.3 Kindheitsautobiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Fazit und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Eine Autopoetik aus der Latenz . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Am Ende vom Anfang: Kindheit. Fragment einer Autobiographie 9.3.1 Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Fazit und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3 „Ich und meine Zeit“, „ein Mensch in dieser Zeit“ . . . . 9.3.4 Fazit und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.5 „Abriss“ der Kindheit: Ein Fragment? . . . . . . . . . .

240 241

10 10.1 10.2 10.3

339 341 344 350 351 353

Synthese: Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiografische Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Strategie des Blicks: „Fallen“ und „Feuer“ . . . . . . 10.3.2 Phantastische Grenze der Phänomenologie . . . . . 10.4 Überleben im Dazwischen: Die Figur des Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

11 Anstelle einer Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 11.1 Methodenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 11.2 Komparatistischer Zusatz aus kunsthistorischer Sicht . . . . . 369 12 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 13 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 14 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

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Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen. Ingeborg Bachmann

Für Aleksander A. Karolëv (29. Juni 1946–29. November 2010)

Die Welt scheint zu verdämmern, doch ich erzähle, wie am Anfang, in meinem Singsang, der mich aufrecht hält, durch die Erzählung verschont von den Wirren der Jetztzeit und geschont für die Zukunft. Peter Handke/Wim Wenders: Himmel über Berlin, Gedankenstimme an Homer

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1 Vorwort

Dieser Arbeit liegt die Motivation zugrunde, ein Werk zu verstehen, das sich literaturwissenschaftlichen Begriffen besonders widersetzt. Das Werk von Moses Rosenkranz zu behandeln, heißt, sich einem widerspenstigen, aber auch widersprüchlichen Untersuchungsgegenstand auszusetzen. Bisher hat sich keine ausführliche Studie mit seinem Werk beschäftigt, was die Suche nach einem geeigneten Zugang dieser Untersuchung umso mehr eingefordert hat 1 . Eine erste rosenkranzsche Hermeneutik zu entwerfen, ohne die das Gesamtwerk nicht erschließbar ist, untersteht damit aber auch der Verantwortung einem Menschen gegenüber, seinem Lebenswerk sowie gegenüber der zukünftigen Forschung. Die vorliegende exegetische „Übersetzung“ will daher nicht primär Antworten liefern, sondern Fragen stellen. Moses Rosenkranz’ lyrisches wie auch autobiografisches Prosa-Werk spiegelt den Erkenntnisprozess der Untersuchung selbst, indem sein poetisches Schweigen und seine persönliche Verschwiegenheit der Recherche einen Weg wies, der nicht von Fakten und Dokumenten beleuchtet war, sondern über Abrisse und Schattenflecken in die Tiefe führte. Nur in permanenter Ausdehnung und Regulierung der Ausgangsfrage sowie in zusätzlicher Weitung mannigfacher Zugänge an sein Werk konnte letztlich ein Wesen-tliches seines untersuchten Selbstbildes formuliert werden. Wo der endlosen Vielfalt von Zugängen nicht mehr beizukommen ist und erst im wissenschaftlichen wie auch poetischen Beschreiben, das heißt im Vollzug selbst eine Gestalt aufscheint, kommt eine einschlägige Formbestimmung und „Definition“ an ihre Grenze. Rosenkranz selbst war sich ab den 1960er Jahren seiner biografischen und vermehrt auch poetischen „Unvermittelbarkeit“ bewusst. Noch in den 1990er Jahren korrigierte er das Referat eines bemühten Literaturwissen-

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Nach der Abgabe dieser Dissertation ist Joan Averys Dissertation von 2008 „Moses Rosenkranz, the Bukovina and the concept of Sprache als Heimat“ online erschienen (Queen Mary University of London).

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Vorwort

schaftlers2 , der als einer der ersten ihn der Öffentlichkeit vorstellen wollte: „Ich [Wildberger] bin nicht Kenner auf dem Gebiet seiner Bedeutung, was hier [gemeint ist eine Gedichtauswahl] abgehandelt wird, doch durfte ich ihm darauf jahrelang nahe stehen, obgleich nur, sozusagen, als eine Art technischer Gehilfe. Ich rechtfertige mein unsachliches Unterfangen, hier das Wort zu ergreifen, mit der Hoffnung, einen Beitrag zu leisten zu der, nach der endlichen Entdeckung seiner Gedichte sich zweifellos veranlaßt stehenden literaturwissenschaftlichen Forschung“. Als einer, der sich aufgrund paradoxer Quellenlage und Rezeption auch noch nach seinem Tod versuchter Einordnung und Fremdbestimmung widersetzt, fordert Rosenkranz eine Theorie ein, die den Standpunkt des Überihnreferierenden nicht nur kritisiert, sondern von Grund auf neu befragt. Die Grenze im Übersetzen von Erfahrung stellt sich aber für den Dichter gegenüber seinem Schreiben genauso wie der Literaturwissenschaftlerin gegenüber ihrem poetischen Gegenstand. Diese hermeneutische Differenz, die sich über die historisch-geografische Forschungsperspektive auf die Bukowina an der europäischen Peripherie ausdehnt, umfasst ein Grenzgebiet auf mehreren Ebenen. Durch den biografischen Abgrund des Dichters nach zehn Jahren Gulag wird dieses Feld für die Untersuchung zusätzlich entgrenzt. Wie auch die Autobiografie nie definitorisch ein Selbstbild vorlegt, vielmehr eine aporetische Formsuche bedeutet, hat sich für die Gesamtverordnung dieses Bukowiner Dichters das Beobachtungsfeld eines phänomenologischen „Dazwischens“ angeboten: Mit dem Begriff einer „Phänomenologie an der Grenze“, wie er in dieser Arbeit vorgeschlagen wird, soll die Unbestimmbarkeit als solche philosophisch, das heißt eben auch literaturwissenschaftlich erörterbar werden. Der Begriff der „Grenze“ verweist innerhalb der Bukowina- und Galizienliteratur immer auch auf das Grenzland 3 und schließt zugleich seine Entgrenzung über eine so genannte Mythopoesie 4 ein. Der Grenzdiskurs selbst aber stößt immer auch an die 2

3 4

Kaspar Niklaus Wildberger unterhielt zwischen 1978 und 1992 regen Kontakt mit Moses Rosenkranz und veröffentlichte am 4./5. 12. 1982 sieben Gedichte in der Neuen Zürcher Zeitung. „Grenzland“ als Leitbegriff mitteleuropäischer Länder und besonders Ostgaliziens: siehe hierzu (Pollack, 2005). „Mythopoesie“: Renata Makarska macht Bezüge zur Hucul’scyna als mythopoe-

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Vorwort

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Grenze der Bestimmbarkeit selbst und intendiert damit bereits die Unbestimmbarkeit. Im Bewusstsein darüber, dass diese Arbeit nicht der existentiellen Erfahrung nach, nur mehr mit verschiedenen Antworten der Frage nach einem Selbst-Bild sich annähern kann, wird hier nach einer Sprache gesucht, die lediglich auf einer anderen Ebene dem Vektor des rosenkranzschen Anspruchs folgt. Der Vektor, auf dem die wissenschaftliche Übersetzung einer möglichen Poetologie von Rosenkranz nachkommt, verbleibt wie das Werk selbst in der Annäherung. Sowohl das Werk wie auch die Untersuchung oszillieren innerhalb der traditionellen Grundopposition zwischen Vertraut- und Fremdsein; dieses immer neu gesuchte Verhältnis zwischen Ich und Welt hat Rosenkranz ab 1957 zunehmend beschäftigt; vielleicht auch gerade deshalb, weil es in die Unlösbarkeit divergiert? Dass mit dem hier gewagten Zugang in die „Entgrenzung“ ein neuer Lebensraum für den Dichter und sein Weiterleben auch in der Forschung entsteht, widerspricht keiner „einkreisenden Annäherung“ ans (Selbst-)Bild. Vielmehr kann auf diesem bewusst und behutsam annähernden Abweg auch ein letztes Überleben dieses Werks erfolgen. Diese Untersuchung versteht sich nicht als literaturhistorische Arbeit und erhebt somit nicht den Anspruch einer lückenlosen Aufarbeitung des Quellenmaterials; maßgeblich ist vielmehr die hermeneutische Auseinandersetzung, wie sie sich über die hier vorliegende Materialauswahl aufdrängt. Das persönliche Umfeld des Dichters sowie die Bukowiner „Literaturlandschaft“ werden als Mitbedingung seines Schreibens berücksichtigt, weil sie zur Fundierung der so genannten „Phänomenologie an der Grenze“ beigetragen haben. Sie sind aber nicht selbst Gegenstand dieser Untersuchung. Es ist das Anliegen dieser ersten Gesamtuntersuchung, einerseits das Interesse für Rosenkranz über die regionalliterarische Forschung hinaus zu wecken. Die hier gewählte Perspektive ermöglicht die Ausweitung des Forschungsinteresses, aber auch Forschungsgebietes, das bis anhin mehrheittisches Konstrukt bis in die Gegenwartsliteratur von Juri Andruchowytsch oder Taras Prochasko fest (Makarska, 2010); Bruno Schulz reizt in sprachphilosophischer, aber auch phantastisch-poetischer Weise den Mythos als Grundelement allen Lebendigen aus (Schulz, 2008a).

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Vorwort

lich von Forschern Bukowiner oder rumäniendeutscher Herkunft untersucht worden ist. Wenn diesen Grundlagenforschungen viel zu verdanken ist, besonders die historisch-kritische Erschließung der Bukowina(-literatur), kann es nun auch eine Chance sein, von außen oder von der Rückseite her auf den Gegenstand zu blicken. Andererseits ist die hier unternommene Lektüre eines nur schmalen Werks des 20. Jahrhunderts vor allem der Versuch, einen Beitrag zur europäischen Lagerliteratur aus dem Verborgenen zu leisten. Was mancherorts und auch vermeintlich als rosenkranzsche Theorie aufscheint, ist vielmehr eine Lesart von Leerstellen, die theoretisch betrachtet über Rosenkranz als Einzelfall hinausweist. Rosenkranz’ Grundfragen ans Leben sind zugleich Grundlage einer essentiellen, existentiellen Poetik; mannigfaltige Literaturverweise oder an manchen Stellen sogar zufällig auftauchende Namen von Autoren sind daher auch nur Zeugen einer umfassenden Offenheit bei der Recherche. Diese Dissertation ist unabhängig von vorgegebenen Forschungsinteressen und finanzierten Stipendienprogrammen entstanden.

1.1 Dank Ich danke Herrn Prof. Dr. Ralf Simon von der Universität Basel, der diese Arbeit betreut hat und dem Thema mit großer Offenheit begegnet ist. In gleicher Weise bedanke ich mich bei meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Werner Nell von der Universität Halle, der mit ebensolcher Gründlichkeit und Redlichkeit meine Arbeit geprüft hat. Prof. em. Dr. Heiko Haumann hat diese Arbeit in die Reihe „Lebenswelten osteuropäischer Juden“ aufgenommen und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ihm ein ganz besonderer Dank. Ich danke Prof. Dr. George Gut¸u, Doris Rosenkranz und Dr. Kaspar Niklaus Wildberger, die mir wichtiges Quellenmaterial ausgehändigt haben. Lena Hoffmann, Jasmin Gremper, Patricia Schiess und Rebekka Schifferle danke ich für die Lektüre der Druckvorlage; Prof. em. Dr. Christine Burckhardt-Seebass, Marcel und Ursula Schifferle, Dr. Tamás Szikra, Robert Schindel, Ute Stoecklin, Dr. Selnich Vivas Hurtado, Dr. Annette Werberger, Dr. Reto Zingg und Curt Zimmermann für die bereichernden Be-

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Vorwort

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merkungen und Gespräche. Für die technische Unterstützung bedanke ich mich bei Christian Hartmeier und Dr. Radu Alexandru Miron. Letzter hat mir zudem die rumänischen Quellen übersetzt und die LaTex-Grafiken formatiert. Für die Recherchen in Czernowitz/Cernivci und Lemberg/Lwiw danke ich Prof. Dr. Petro Rychlo, Maria Michailivna vom Stadtarchiv Czernowitz sowie Dr. Alexander A. Karolëv, dessen private Bibliothek und Ort des ungeschriebenen Wissens mir bedeutende Türen in eine fremde Gedankenwelt öffneten. Oleg Ljubkiwskij danke ich, dass er mich an überwachsene Orte in den Karpaten geführt und mir gezeigt hat, wie in der Bukowina mit Erinnerung umgegangen wird, welche Mythen erhalten und warum sie weniger untersucht, als vielmehr gelebt werden. Ein weiterer Dank geht: ans Leo Baeck Institute in New York, das mir Quellen aus dem Nachlass von Anna Rübner-Rosenkranz zum Druck frei gegeben hat; an die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel (WerenfelsFonds), ohne deren finanziellen Zuschuss diese Arbeit im gegebenen Zeitraum (2008–2011) nicht hätte fertiggestellt und schließlich gedruckt werden können; an den Max Geldner-Fonds sowie an die Basler Studienstiftung für weitere Druckkostenzuschüsse. Unmittelbar vor Drucklegung zeigte sich Frau Doris Rosenkranz mit einer großzügigen Unterstützung der Lektoratskosten erkenntlich.

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2 Abstract

Die Dissertation „Überleben im Dazwischen“. Zu den poetischen Selbstbildern im Werk von Moses Rosenkranz (1904–2003) ist die erste ausführliche Forschungsarbeit zu diesem deutschsprachigen Dichter aus der Bukowina. Dabei war primär, den Dichter und sein Werk kontextuell zu verorten. Sowohl das umfangreiche lyrische Werk als auch die Prosa wurden unter dem Fokus des Selbstbildes betrachtet, welcher sich dem Dichter in Anbetracht seiner biografischen Zäsuren in sowjetischen wie rumänischen Arbeitslagern (1947–1957) als identitätsversichernde Referenz immer neu einstellte. Der methodische Zugang folgt einer so genannten „Phänomenologie an der Grenze“, wobei mit Henri Bergsons Begriff der „Dauer“ und Maurice Merleau-Pontys „Leib“-Begriff nach einer Erinnerungsfigur über dem Abgrund gefragt wird. Neben der Frage nach einem kohärenten pluralistischen Selbstbild in Lyrik und Prosa war auch die Gattungsdifferenz zwischen Lyrik und Prosa für ein Schreiben über sich und die eigene Zeit Gegenstand der Untersuchung. Zur Beantwortung der Frage stand trotz des relativ schmalen Werks von Moses Rosenkranz ein umfangreicher Quellenkorpus zur Verfügung. Dieser bestand einerseits aus edierten und bisher unedierten poetischen Texten, andererseits aus dem Nachlass von Anna Rübner-Rosenkranz, der heute vom Leo Baeck Institute New York betreut wird. Die Briefe zeigen die Anfänge und die Entwicklung von Rosenkranz’ Dichtung auf den Spuren eines außergewöhnlichen Schreibprozesses. Über die Zeitspanne von 1930 bis in die späten 1990er Jahre konnten somit die Lyrik wie auch die Prosa unter differenten historischen und biografischen Bedingungen für eine mögliche Poetologie beobachtet werden. Gemeinsame Bilder und Motive haben sich dabei in den Briefen, in der Lyrik wie in der Prosa einerseits als Konstanten eines Selbstbildes erwiesen, andererseits wurden gerade die Bilder auch in ihrer poetischen Varianz deutlich und für ein gattungsdifferentes Selbstbild über dem Abgrund interpretierbar.

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Abstract

Mit dieser Untersuchung kann nicht nur ein bisher kaum bekannter Dichter erschlossen werden; es wird mit ihm auch der literarische Topos „Bukowina“ in neuem Licht erscheinen. Dem historischen Herkunftsort kommt vor dem Hintergrund biografischer Abbrüche und poetischer Selbsterschreibung immer die zusätzliche Dimension eines Schreibens aus dem Tod heraus zu. An den Erinnerungsbildern der Kindheit zeigt sich die „Erfahrung des (eigenen) Lebens“ vor allem in der Wahrnehmung als ein neues, subjektives In-Beziehung-Setzen zur Welt. Sowohl die Lyrik als auch die Prosa zielen so auf eine Poetologie ab, die ein „Wesen im Dazwischen“ zeigen. Während die Lyrik den (biografischen) leeren Graben vor allem im formalen Binden der erinnerten Erlebnisse zu verdichten sucht, greift die Prosa am Ende der Untersuchung über das „lyrische“ Erlebnis in eine Prosopopöie am Abgrund. Das gefallene Ich wird über den Abgrund gehoben und am Kreuzungspunkt der Verdichtung aus dem unmittelbaren Erlebnis der Vergangenheit (Lyrik) in die Kindheit (Prosa) zurückgeführt. In rettender Schlussfigur einer vertikalen Lemniskate steigert sich „das Währende auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ zu einem poetologischen Selbstbild zwischen Lyrik und Prosa. Anstelle einer Einordnung hat die vorliegende Dissertation eine Palette neuer Fragestellungen vorgeführt, die das Gesamtwerk von Moses Rosenkranz als Katalysator poetischer Grundfragen lesbar machen. Dies zeigt nicht zuletzt, dass die vorliegende Untersuchung das Ziel einer Annäherung erfüllt hat –, aber auch der Beginn eines jeden Erzählens auf das Ende verweist: ein Schreiben im Angesicht des Todes.

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3 Einleitung und Fragestellung

Moses Rosenkranz war einer der wenigen Lyriker, die nach der Eingliederung der Bukowina ins rumänische Großreich 1918 ihre deutschen Verse weiter publizierten. Neben David Goldfeld, Alfred Margul-Sperber und Alfred Kittner war er bis in die 1940er Jahre der produktivste deutschsprachige Lyriker dieser vormals habsburgischen Literaturlandschaft. 1904 in ärmlichste Verhältnisse der Bukowiner Provinz, in Berhomet am Pruth, geboren, wurde die deutsche Sprache bald zum Ort des Rückzugs im vielsprachigen Milieu seiner Kind- und Jugendzeit, zu seiner Existenzsicherung als Gelegenheitsarbeiter sowie, im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs, zum Ausdruck der Rebellion gegen eine Entwürdigung jener Sprache, die ihm die Sprache der Dichtung war: das Deutsche, das keine „Mittelmäßigkeit kennt“ (Gut¸u, 1995a, 199). Als ein Dichter der Landschaft, der nicht nur von reiner „Bodenkultur“ abstammte, sondern seinen unmittelbaren Bezug zur Natur in einer Sprache zum Ausdruck brachte, die in der „Literaturstadt“ Czernowitz ihresgleichen suchte, hat sich Rosenkranz in den Dichterkreisen der Provinzhauptstadt schnell einen Ruf gemacht. Als Deutschlehrer, Übersetzer und Gelegenheitsarbeiter gelang es ihm, schon unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen seiner Zeit drei erfolgreiche Gedichtbände zu publizieren. Rosenkranz fand großes Echo in breiter Öffentlichkeit und nicht zuletzt finanzielle Unterstützung. 1947 brach sein Ruhm abrupt ab. Rund zehn Jahre verbrachte er in sowjetischen Arbeitslagern, wo ihm das Schreiben untersagt war und er seine Gedichte ausschließlich memorieren konnte. Als „bedeutende Person, die nicht sterben sollte“ (Rosenkranz, 1998, 160), kam er nach weiteren rumänischen Inhaftierungen im April 1957 frei. 1 Unter äußerst erschwer1

In einem Dokument der Regierung Oberbayern vom 2. August 1962 werden folgende Gefängnisse bescheinigt: Polizeigefängnis Bukarest, M.G.B.-Untersuchungsgefängnis Constanza, Gefängnisse Moskau, Sonderstrafarbeitslager Norilsk (H-I. Taimir), Tajschet/Reschjovi, sibirische Lager P. Uralsk/Potma, Gefängnis Jilava und Gherla (Rumänien). Genauere Auskunft liefert ein Brief Marka Brenders vom 25. 9. 1960 (Reel 2, AR 25087). In Briefen von 1964/68

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Einleitung und Fragestellung

ten psychischen wie physischen Bedingungen nahm er 1958 das Schreiben wieder auf, um „nachzuholen“, was er in der Zeit der Haft versäumt hatte.2 Nach neuen Anschuldigen durch den rumänischen Geheimdienst floh er 1961 nach Deutschland und kehrte nie mehr in die Bukowina zurück. In seinem Schreiben setzte aber eine hartnäckige Beschäftigung mit der Vergangenheit ein: sowohl im Erinnern früher Gedichte und Verfassen neuer als auch im Schreiben von (autobiografischer) Prosa. Obgleich in den Quellen zahlreiche Schriften, vor allem Prosa-Fragmente, genannt werden, die aber zu einem großen Teil verschollen sind, handelt es sich bei Rosenkranz um ein schmales Werk. Der Grund allerdings, warum sich die Forschung bislang kaum mit dieser schillernden Dichterfigur des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, liegt eher darin, dass die bisherige Rezeption seiner Lyrik genauso zwiespältig ausfiel wie die Äußerungen von Zeitgenossen über seine polarisierende Person. Rosenkranz selbst hat sich zudem oft fremden Bemühungen für eine Publikation seiner Werke widersetzt.3 Ein allgegenwärtiges Misstrauen sowie traumatische Spätfolgen der Lagerhaft erschwerten den sozialen Kontakt vor allem ab

2 3

äußert sich Rosenkranz im Zuge seiner Bemühungen um eine Aufenthaltsbewilligung in Deutschland ausführlich über seine Verhaftungen vor 1947: Demnach wurde er am 1. Januar 1941 in Bukarest verhaftet und im Juli desselben Jahres durch die NS nach Czernowitz überführt. Rosenkranz erinnert sich auf die Monate genau: August–Oktober 1941 Untersuchungshaft im SD-Gefängnis in Czernowitz; Oktober–Dezember 1941 Ghetto in Czernowitz; Dezember 1941–Februar 1942 Untergrund in Czernowitz („versteckt bei Rauchwerger“); Februar–Mai 1942 Gefängnis Czernowitz; Mai 1942–Mai 1944 Zwangsarbeitslager Neamtz, Buzau; Mai–August 1944 Flucht, versteckt in Bukarest bei Ditta Münzer. (17. 1. 1968. AR 25087, Reel 2, n234/ 17. 12. 1964, AR 25087, Reel 2, n169). In einem Brief an Rübner am 20. 9. 1957. AR 26053, MF722, Reel 1. Dieter Schlesak verweist auf das kostenlose Angebot des Orell-Füssli Verlages, der Rosenkranz kostenfrei drucken wollte (Schlesak, 1995, 84). Und im Sammelband Versunkene Dichtung aus der Bukowina von Amy Colin et. al. (1994) erscheint Rosenkranz nur im Inhaltsverzeichnis, da er sich aufgrund von Meinungsdifferenzen unmittelbar vor der Drucklegung entschied, seine Gedichte zurückzuziehen. Ein Grund dafür dürfte die Mitherausgeberschaft von Alfred Kittner gewesen sein, dem gegenüber Rosenkranz „Bedenken hatte“ (Rosenkranz, 1998, 156).

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den 1960er Jahren. Rosenkranz’ eigenes Selbstverständnis als Dichter hat fast nur mehr sein inneres Dasein, „geschützt gegen außen“, besetzt. Erst ab den 1980er Jahren gelang es ihm wieder, mit Unterstützung von Freunden 4 , aktuelle Zusammenstellungen seiner Gedichte an die Öffentlichkeit zu bringen. Moses Rosenkranz’ lyrisches Schreiben der Frühzeit, aber auch nach der biografischen Schaffenszäsur durch den Gulag (1947–1957), liest sich als ein Anschreiben gegen die Zeit: entweder der Zeit voraus, wie er noch in den 1930er Jahren von seinem Förderer und Kritiker Alfred Margul-Sperber wahrgenommen wurde, oder aber der Zeit hinten nach, wie er nach 1957 für sich selbst feststellen musste. 5 Die Frage nach dem „Menschen in dieser Zeit“ 6 hat sein Schreiben begleitet. So ist denn auch die Wahl, Lyrik oder Prosa zu schreiben, mit den historisch-biografischen Bedingungen des Schreibens sowie der Wahrnehmung seiner Zeit verbunden: Dass Rosenkranz „immer bestrebt [war], mir eine Prosa aus meinen Versen zu entwickeln“7 , dennoch aber hauptsächlich Lyrik geschrieben hat, gründet nicht zuletzt darauf, dass die Lyrik in der Bukowina der Zwischenkriegszeit – allem voran für das deutschjüdische Bürgertum – ein typisches „Phänomen“ darstellte, gegen die rumänische Autorität immerhin literarisch Widerstand zu leisten; als kleine Form, aber auch als ein Ort zur Bewahrung jenes deutschsprachigen Selbstverständnisses, das nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie 1918 das Schicksal seiner hauptsächlich jüdischen Träger bestimmte 8 , eignete sich die Lyrik besser als die Prosa. Rosenkranz, der nicht aus dem deutschjüdischen Bürgertum stammte, sondern aus einer ärmlichen Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Ruthenisch sprechenden Großfamilie „ohne Muttersprache“ (Rosenkranz, 1998, 150), hielt quasi vom Rand her Einzug in den städtischen Dichterkreis und ver4 5 6 7 8

Z. B. Kaspar Niklaus Wildberger, Riehen. Siehe Kapitel 7.2. Fragment Jugend: „Ein Mensch in dieser Zeit. Versuch über mich“. Rosenkranz an Anna Rübner, 25. Mai 1940: AR 25087, 1/8, Reel 1, n395. Bukowiner Dichter nichtjüdischer Abstammung waren in der Minderzahl, bsp. Georg Drozdowskij, Gregor von Rezzori.

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mählte sich mit ihm eher zufällig. Die deutsche Sprache, die er in der Kindheit vor allem über Volksmärchen kennen lernte, stellte aber auch für ihn mit ersten lyrischen Übungen den Ort des Rückzugs, eine Möglichkeit geistiger Emanzipation und Loslösung vom vielsprachigen „Notballast“ der Kindheit dar. Während in kurzen Versen ein drängender und spontaner Ausdruck des Gefühls offenbar leichter gelingt, verlangt die Prosa „Planung“, neue Parameter im Verhandeln von Zeit und Raum, aber auch ausreichendes Schreibmaterial. Selbst wenn in der Korrespondenz frühe Prosastücke bzw. Dramen in der Bukowiner Zeit genannt werden, kann Rosenkranz bis 1947 zu Recht als Lyriker bezeichnet werden. Umfangreichere epische Versuche wie Der Rote Strom, eine immer wieder verworfene Komödie, oder auch die autobiografischen Fragmente Kindheit und Jugend, sind erst nach 1957 entstanden. Neben dem Übersetzen von Gedichten des rumänischen Nationaldichters Tudor Arghezzi beginnt er 1958 mit der ersten Fassung des autobiografischen Fragments Kindheit und setzt diese 1982 mit einem „Versuch über mich“ in Jugend fort. Das Bedürfnis, Prosa zu schreiben, scheint in einem geradezu existentiellen Bedürfnis nach Zusammenhang zu bestehen, das sich sowohl in Lyrik als auch in der Prosa mit einem Er-, Um-, Beschreiben der eigenen immer wieder abgerissenen Biografie behilft. 9 Die untersuchte Prosa zeigt denn auch an einzelnen Stellen, wie „Erlebnisse“ der frühen Lyrik in die spätere Prosa eingegangen sind. 10 Das Bedürfnis nach biografischem Zusammenhang wird nach dem Überleben des Lagers aber nicht nur aufgrund des Abgrundes akut, sondern im notwendigen „Überleben des Überlebens“ 9 Biografie: „Die Biographie steht an einer Schnittstelle zwischen Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie literarischen Lebenserzählungen; und auch in der soziologischen und ethnographischen Biographieforschung geht es um die zentrale Frage, wie sich das Ganze individueller Lebensläufe und Erfahrungsmuster zu biographischen Repräsentationen verdichtet. Die Theorie der Biographie steht zwischen den Ansprüchen auf Wahrheit und biographische Evidenz und Auffassungen, die sie nur als ideologisches oder ästhetisches Konstrukt beschreiben“ (http://gtb.lbi.w7.netz-werk.com/de/programmlinien/theorie-bio graphie; Stand: 24. 11. 2010). 10 Vgl. hierzu: Lizentiatsarbeit (Schifferle, 2006).

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selbst. 11 Das Überleben „muss mit Inhalt versehen werden“ und „die einzige Chance“ besteht für den Schriftsteller in seiner „Selbstdokumentierung“ (Kertész, 2004, 80 f.). Eine solche Beschäftigung mit dem eigenen und individuellen Leben ist somit die Konsequenz nach zehn Jahren Zwangskollektivierung und systematischem Persönlichkeitsentzug.12 Während sich Rosenkranz in der Prosa neben den autobiografischen Fragmenten auch in anderen poetischen „Lebensentwürfen“ erprobte, spielte sich die Beschäftigung mit der Lyrik vor allem im Ordnen und Neuordnen der Gedichtbände ab. Aber auch diese Zusammenstellungen, wobei die einzelnen Gedichte von Rosenkranz bereits vor 1947 einem strengen „Zusammengehörigkeitsgefühl“ unterzogen worden sind 13 , ordnen sich nach 1957 ebenfalls in „biografischen Zyklen“. Für die vorliegende Untersuchung interessiert diese „neualte“ Form der „Selbstbildnisse“, die Rosenkranz nach 1957 in der Lyrik vor allem formal, im Versuch der großen Form und mit Rückgriff auf die (frühen) Verse aber auch in der Prosa anstrebte: ein (auto-)biografisches Schreiben in wiederholten Anläufen und poetischen Form(ul)ierungen sowie ein Ringen um ein Ich, das sich trotz allem keiner Einordnung zu fügen scheint. „Selbstbildnisse in Versen“, wie er seine frühen Gedichte gegenüber Kaspar Niklaus Wildberger nannte14 , oder die (Auto-)Bio-grafie als Grundform poetischer (Selbst-)Reflexion sucht hier nach einem Ich, das es entweder nicht mehr gibt, nie gegeben hat oder aber ausschließlich im Plural (Lyrik) und als ein unsichtbares „Wesen“ im latenten poetischen Raum der Erinnerung (Prosa) aufscheint. Der umfassende Bruch in der Biografie und Werkbiografie der Jahre 1947–57 wird so zum Ausgangspunkt einer poetologischen Reflexion, über die der Erinnerungsbegriff in der Beziehung von Ich und Welt fundamental neu zu bedenken ist. Dieser (biografische) Abgrund als „Leerstelle“, wo der Tod erst im poetischen Text, der die Bio-Grafie als eine Lebens-Erschreibung meint, ent-leert und somit angereichert wird, bildet hier den Ausgangspunkt für die Untersuchung der unterschiedlichen Be11 12 13 14

Vgl. hierzu: (Kertész, 2004). Vgl. (Thun-Hohenstein, 2007). Vgl. Kapitel 8.3. Vgl. Kapitel 7.2.

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dingungen für eine veritable und zugleich aporetische Selbstbild-Genese in Lyrik und Prosa. Die vorausgehende Lizentiatsarbeit hat über den Landschaftsbegriff bei Moses Rosenkranz motivische Bezüge zwischen dem Fragment Kindheit und den so genannten „Selbstbildnissen in Versen“ herausgearbeitet. Eine nicht mehr nur motivische als vielmehr strukturale und formale Betrachtung von Lyrik und Prosa soll hier zur Differenzbestimmung führen, die über eine gemeinsame „Phänomenologie“ am Rand des geistigen wie physisch bedingten Abgrunds bzw. Überlebens ein oder mehrere „Ich-Figuren“ über unterschiedliche Primärquellen beleuchtet.

3.1 Aspekte der Differenz zwischen Lyrik und Prosa Während die Lyrik von 1930 bis in die 1980er Jahre vom eigenen Schicksal „berichtet“, kommt Rosenkranz in der Prosa auf den „Ort des Verlusts“, wie er in einem Brief an Alfred Margul-Sperber die Zeit im Gulag nannte (Gut¸u, 1995b, 160), nie explizit zu sprechen. Oder aber das Narrativ verdreht und ver-dichtet sich an diesem Punkt dermaßen, dass sogar die Frage nach Referentialität und Glaubwürdigkeit obsolet scheinen muss. Das Fragment Jugend bricht 1983 exklamatorisch ab: „Es brennt. Ich unterbreche. Komm FLAMME!“ Als hätte das Narrativ den Schreiber an eine Grenze geführt, die auch poetisch zu übertreten kein weiteres Mal möglich war. Rosenkranz hat mehrere Male dazu angesetzt, über sich zu schreiben: „Es gelang mir nie. Die Realität meines Lebens entzieht sich jeder Möglichkeit einer Schilderung“ (Rosenkranz, 1998, 162). Die Lektüre der autobiografischen Prosa verlangt ein Verständnis, das in der poetischen Reflexion des „Lebenslaufs“ die Absurdität der historisch unterhöhlten „Biografie“ 15 mitdenkt und eine „Phänomenologie“ der 15 Thun-Hohenstein problematisiert in ihrer Studie über russische Gulag-Autobiografen neben dem Identitätsbruch durch die Lagererfahrung auch die Entleerung der Biografie: indem der Sowjetstaat seinen Bürgern eine kollektive Identität unter Individualitätsentzug aufzwang. Fälschung von Namen und Stammbaum bzw. die Objektivierung des Subjektiven wurde unter Stalins Schauprozessen zu einer letzten Überlebensmöglichkeit; vgl. (Thun-Hohenstein, 2007).

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Wirklichkeit so als Verwandlung des Daseins begreift, dass auch Begriffe wie „Phantasie“ oder „Metapher“ von einem Grundton poetischen Existentialismus’ durchdrungen werden. Der historische Gehalt der Prosa und ihr Dokumentationscharakter sollen hier allerdings nicht in Abrede gestellt werden. Die Erinnerungsbilder der Prosa bewegen sich im Vergleich zu jenen der Lyrik freier, lebendiger; im formal offenen oder „freien“ Raum des „Fragments“ (Kindheit) scheinen sie narrativ ein Spiel mit dem Grenzenlosen aufzunehmen; die Konturen der Motive, von Erlebnis- bzw. Erinnerungsbildern lösen sich im Erzählen auf oder mischen Imaginäres (z. B. Träume) und „Reales“ zu einer Einheit. Indem die Prosa nach 1957 für den Dichter einen höheren Stellenwert bekommt, zeigt sich, wie die Formbestimmungen – beispielsweise das „Fragment einer Autobiografie“, ihre gattungsmäßige Unentscheidbarkeit zwischen „Dichtung und Wahrheit“ oder die zyklische Organisation der Gedichtbücher – für die Selbstgenese bedeutend werden. Im Vergleich der Prosa mit der Lyrik wird zudem eine Vertauschung der gemeinüblichen Gattungsbestimmungen bemerkbar: Während die „lebendigen“ Bilder sowohl die Worte als auch syntaktischen Einheiten in der Prosa „lyrisch“ bewegen, sind die Bilder der Lyrik in einem ununterbrochenen, fast narrativen Rhythmus und in einer zirkulären (Fix-)Ordnung der (Selbst-)Biografie gefangen. Die lyrischen Bilder erhalten bei jedem neuen Ordnungsversuch Nuancen, die das Selbstbild narrativ erweitern. Die einzelnen Bilder allerdings, ihrerseits im Einzelgedicht gefangen, diffundieren kaum über die zyklische Form hinaus. Formal scheint die Lyrik hier einer verlebendigenden Erinnerung und somit auch einem revitalisierenden Selbstbild den Riegel vorzuschieben. Rosenkranz’ „Festhalten“ seines Lebens in der Lyrik tritt als Verinnerung jener Wirklichkeit hervor, die in und als Vergangenheit für ein ewiges Kreisen, d. h. für das „Ende“ überhaupt steht. Denn ein Über-sichHinauswachsen ist offensichtlich, oder zumindest formal, im lyrischen Schaffen bei Rosenkranz nicht möglich. Nicht allein formal dagegen wirken Rosenkranz’ Verse im „Rhythmus einer marschierenden Truppe“ mit ihrem „Hintersinn von Rebellion“ (Rosenkranz, 1998, 48). Was in ihnen ein Bewahren der Zeit als Grundsubstanz meint, ist immer auch ein Angehen gegen die Zeit durch die Aufnahme der Zeit selbst: im Setzen „für die Ewig-

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keit“ 16 . Während poetisch und formal die Prosa aus den „Trümmern der Vergänglichkeit“ aufbricht, bleiben die Gedichte als ewige „Tafeln“ 17 , als ein Epitaph, an zahlreichen Stellen im biografischen Nachlass still gestellt: im Zeugnis für die Ewigkeit. Aber wovon zeugen sie? Was für ein Selbstbild zeigt sich in ihnen? Inwiefern unterscheiden sich Lyrik und Prosa im Umgang mit dem (eigenen) Tod und einer Verlebendigung daraus? Das sind die Fragen dieser Untersuchung. Es ist einem Dichter, der buchstäblich über den Abgrund hinaus schreibt, zumutbar, dass er nicht in Worten ein Unsagbares auszudrücken, vielmehr den Zwischenraum des Unsagbaren auszuhalten versucht und zugunsten einer poetischen Sprache jene Notwendigkeit aus oder über dem „Erlebnis“ in eine Form setzt, die ihn als Menschen auch schützt durch die „Sprachgitter“, vor denen die Deutungen vollstreckt werden. Diesen „Zwischenraum“ als ein Un-eindeutiges formulieren auf je eigene Weise sowohl die Lyrik als auch die Prosa von Moses Rosenkranz. Dass die zyklisch biografisch geordnete Lyrik wie auch die autobiografischen Erinnerungsbilder in Prosa ein stets bewegtes Selbstbild, gleichsam ein als Oszillat begriffenes Selbstbild ergeben, fällt hier mit jenem „Zwischenreich der Bedeutung“ zusammen, wo sich der Mensch nach Merleau-Ponty in seinem Verhältnis zur Welt aufhält: wo nicht die einseitige Auflösung bzw. Klärung steht, sondern das Aushalten des Offenen. Alles weist darauf hin, dass der Blick des „lyrischen Ich“ – sowohl in Prosa als auch in der Lyrik – in der poetischen Biografie ein „Dazwischen“ zu vermessen versucht, um jene „Organisationsweise der Wirklichkeit“(Waldenfels, 2000, 17) nachträglich zu verstehen, die letztlich auch das Dichter-Ich vor dem toten Ende noch retten, wiederbeleben könnte. In einem referenzlosen, frei schwebenden und lebendig oszillierenden „Bild“ seiner selbst muss das rosenkranzsche „Währende auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ (K19) bestehen. Die hier eingeführte „Phänomenologie an der Grenze“ könnte als eine vom Dichter selbst nachträglich gesetzte, das heißt im eigenen Erinnern beobachtete Überlebensstrategie verstanden 16 Vgl. Kapitel 8.5 17 Vgl. Rezeption Alfred Margul-Sperbers des Gedichtbands Die Tafeln (MargulSperber, 1940).

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werden, wobei das Überleben durch den Autor in seinem Text selbst nach einer Legitimation sucht und der Tod als „Allpräsenz“ in den differenten Ansätzen zu einer poetischen Autobiografie einem sowohl narrativen als auch formalen Element der Verlebendigung zugeführt wird.

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4 Methode: Eine Phänomenologie an der Grenze […] Die Wirklichkeit ist immer am Rand der Grube […] Gegenwart ohne Schatten, Auflösung der Gegenwarten, Herrin der Verschwiegenheit, die alles sagt, wenn sie nichts sagt, Herrin ohne Namen, ohne Gesicht […] Octavio Paz, aus: „Vorübung“; Diptychon mit Votivtafel, Meditation, Erste Tafel

Die Untersuchung der poetischen Selbstbildnisse im Werk von Moses Rosenkranz führt einerseits über die Theorie der Autobiografie, andererseits wirft jeder poetische Selbstbildentwurf die Frage nach der Erinnerung als erinnerte Bildlichkeit auf. 1 Die poetische Erinnerung als Bindung biografischer Bruchstücke und eine nachträgliche Sinnstiftung stellt mit Rosenkranz’ Begriff eines „Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ 2 das Selbstbild in seiner Zeit und seiner Dauerhaftigkeit in Frage. Das Verhältnis von Ich und Welt ist für die poetische Untersuchung jeder Autobiografie relevant; im Falle von Rosenkranz wird diese fundamentale, da existentielle Beziehung durch das „absolute Ereignis“ 3 im Gulag, das diesen Faden zerrissen hat und selbst keine Begrenzung und Begründung mehr zulässt, anders und neu bedeutend. Die Frage nach der poetischen Erinnerung und dem poetischen Selbstbild als Ganzem referiert auf ein Verhältnis von Ich und Welt, das bei Rosenkranz die Überwindung 1 2 3

Vgl. Ralf Simons Überlegungen zu Sehen und Denken als gekoppelte Grundbedürfnisse des Menschen (Simon, 2009, 19). (Rosenkranz, 2003, 19). Alle Zitate aus dem autobiografischen Fragment Kindheit werden im Folgenden mit „Kxy“ abgekürzt. James E. Young erschließt in seinem Standardwerk Beschreiben des Holocaust die „absolute Zäsur“ in historisch-sozialer, in philologischer und philosophischer sowie religiöser Dimension. Seine Kritik am Begriff, dessen Brisanz und Komplexität stellt Young ins Zentrum seiner Untersuchung und fragt in steter Abhängigkeit von der späteren Darstellung der Katastrophe nach ihrer Bedeutung und ihrem Ausmaß (Young, 1992, 13).

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des eigenen „Aus-der-Welt-geworfen-Seins“ bedeutet. Die maximale Distanz, die in der Erinnerung der Zäsur zwischen Subjekt und Objekt aufscheint, stellt einerseits den Identitätsbruch dar, wo das Ich für sich selbst kaum mehr einen Ort (er-)kennt und quasi a-topisch wird; andererseits kann diese Distanz in der Erfahrung selbst als maximale Nähe in Bezug auf das Selbsterleben und die eigene Wahrnehmung von Welt verstanden werden: Wo rücken Leben und Tod näher zusammen als im Abgrund? Wann verschwimmen die Ränder von Traum und Wirklichkeit mehr als im Zustand der Erblindung durch Unterernährung und Trauma? Die Erinnerung am oder vor allem an den Ort des Abgrunds wird von diesen Antipoden durchzogen, wo die Ferne vom Leben die Nähe desselben im Angesicht des Todes mit sich führt. 4 Von diesem Ort, der hier als Dazwischen (zwischen Leben und Tod) 5 bezeichnet wird, geht denn auch die poetische wie theoretische Suche nach der biografischen Sinnstiftung aus: Wie lässt sich dieser Zusammenhang im Zwischenbereich von Leben und Tod beschreiben? Welche poetischen Bindemittel sind möglich, die der autobiografische Text als Text im Darstellungsversuch für das Selbstbild befragt? Und welche Latenzen scheinen in der poetischen Überschreibung der Erinnerung auf, die das Schreiben erst antreiben? Aus dem literarischen Werk wie auch aus dem Nachlass geht bei Moses 4 5

István Örkény beschreibt die Veränderungen des Menschen durch die sowjetische Zwangsarbeit in seinem frühen Bericht Das Lagervolk (Örkény, 2010). Neben Young und Giorgio Agamben beschreibt auch Jorge Semprun in Schreiben oder Leben das „Volk der Muselmane“, die Benennung jener, die weder lebendig noch tot waren. „Die meisten Deportierten hatten keinen Blick mehr. Er war erloschen, umnebelt, blind geworden vom grellen Licht des Todes. […] Sie gingen mit halbgeschlossenen Augen, um sich vor den brutalen Blicken der Welt zu schützen, die flackernde kleine Flamme ihrer Lebenskraft vor den eisigen Luftzügen zu behüten. Aber der Blick, der überlebt haben würde, war brüderlich. Weil von soviel Tod genährt, wahrscheinlich. Von einem so reichen Erbteil genährt“. „Der Tod – ein Stück Brot, eine Art Brüderlichkeit. Er betraf uns alle, war die Substanz unserer Beziehungen. Wir waren nichts anderes – nicht mehr, nicht weniger – als dieser voranschreitende Tod. Der einzige Unterschied zwischen uns: die Zeit, die uns von ihm trennte, die noch zurückzulegende Entfernung“ (Semprun, 1995, 27 f.). Der Tod, als „Substanz der Beziehungen“, wird dabei zu einem Element der Dauer.

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Rosenkranz die Suche nach einem „Triumph des Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ aus. Die Begriffe von „Dauer“ und „Wahrheit“ 6 werden hier gleichfalls existentiell in der Rückschau auf das eigene Leben bzw. eigene Ich. Für das poetische Schreiben, das Hans Blumenberg als „Protention“ beschreibt 7 , das heißt als eine sich dem Zukünftigen zuwendende „Intention“, wird das Erschreiben eines überdauernden Identitätsbezugs sowie einer zeitlosen Wahrheit des erinnerten Erlebnisses aber gerade da zum Problem, wo nach Adorno ab 1945 nur noch der Tod die letzte Essenz und Instanz im Kunstwerk meint und nach Benjamin ein möglicher Ewigkeitswert nur mehr durch Totes vorstellbar wird. Wo am Abgrund die Unausweichlichkeit der Selbstbeschreibung auftaucht8 und ein Erschreiben des Ich sowie des eigenen Lebens als ein tatsächlich „Lebendiges“ notwendig wird, um in letzter Instanz das Leben selbst zu über-leben, muss also genau dieses vitalistische Sich-Selbst-Schreiben poetisch zum Scheitern verurteilt sein. Zugleich aber ist ein „Wahr“-nehmen und (schriftlich-poetisches) Fixieren dieses Selbst für Rosenkranz gerade über oder nach dem Abgrund unausweichlich: Sein Leben kann sich nur noch im Schreiben abspielen, wo der Text seine Abbrüche, das tote Leben sozusagen, als ein Lebendiges fingiert und dabei poetisch oder imaginativ inkorporiert. 9 Die 6 7

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Die Frage nach „Dichtung und Wahrheit“ ist obsolet, weil die Differenz von lyrischem Ich und Ich des Dichters bereits entlarvt ist. Vgl.: (Haverkamp, 1988). Protention ist nach Blumenberg ein „intentionales Organ“, das in die Zukunft gerichtet ist. Retention steht dagegen in Bezug auf die Erinnerung und ihre Konstituierung in der Gegenwart. Beide sind durch Unbestimmtheit definiert und vom Zeitbewusstsein konstituiert. Die Husserlschen Begriffe „Retention“ und „Protention“ sind exakten Messinstrumenten wie Kalender, Uhren usw. entzogen. Erinnerung und Erwartung dagegen werden durch diese Instrumente optimierbar. Den Begriff „Zeit“ haben wir demnach nur durch die erlebende Anschauung der Unmittelbarkeit von Retention und Protention (Blumenberg, 2007, 209). Vgl. (Kertész, 2004, 80). Der Begriff der „Inkorporation“ stammt aus Anselm Haverkamps „Figura cryptica“. Haverkamp sieht in der lyrischen Subjektivität ein Spiel der Mimikry, welches eine lebendige Identität im poetischen Text nur mehr als totes Lebendiges vorstellt. Was als verlorenes Objekt der Introjektion nicht mehr zugänglich ist, wird phantasmagorisch inkorporierbar (Haverkamp, 1988, 351): Die Einverleibung vollzieht sich am toten Objekt, was so dem lebendigen nicht gelang: Sie spielt Introjektion, um in diesem Spiel ein Bewahren zu inszenieren. Inkorporati-

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Frage des autobiografischen Schreibens ist also nicht nur eine nach dem Ich, das sich darin neu konstituiert, sondern vor allem eine nach dem eigenen „Leben“, der Bio-Grafie, die als eine lebendige, das heißt stets im Wandel begriffene Figur vom lyrischen Ich wahr-genommen wird und notwendig vom Dichter-Ich zum Überdauern des erfahrenen Abgrunds befähigt wird: im neuerlichen „Abspielen“ der Erfahrung, im Spiel mit den Tatsachen, in einem mythischen Nacherzählen, das in der Vielheit und Variabilität endet; letztlich von einem unwidersetzbaren Wiederholungszwang angesteckt, den Péter Nádas in Der eigene Tod (2002) als Bewegung des Lebens wiedererkennt. Im Verschwimmen der Konturen von Leben und Tod und damit auch im Durchlässigwerden des Selbstbildes, in der gleichzeitigen Prä-Positionierung allerdings eines Ewigwährenden über dem Abgrund, erweisen sich die phänomenologischen Begriffe der „Dauer“ („durée“) von Henri Bergson sowie des „Leibes“ („chair“) von Maurice Merleau-Ponty gerade durch ihre dialektische Unbestimmbarkeit; in der annähernden „Bestimmung“ einer versuchten vitalistischen oder dynamischen Selbstbildgenese über die poetische Erinnerung am Abgrund scheinen diese beiden Phänomenologen für Moses Rosenkranz genau an dem Zeitpunkt interpretierbar, wo die Beschreibung des eigenen Lebens, der so genannten Bio-grafie, und des Selbstbildes im Tod bzw. der Autobiografie als Tod an ihr Ende gekommen sind. In diesen Zusammenhang gehört auch die phänomenologische Untersuchung von Grenzerlebnissen des Mediziners Erwin Straus. Rosenkranz selbst dürfte weder Bergson noch Merleau-Ponty gekannt haben. Aus den on markiert so den phantasmatischen Übergang von außen nach innen, wobei er metaphorisch kreativ wird. Damit rückt die Inkorporation nach Derrida in eine andere Topik – in eine A-topik, die Haverkamp „Krypta“ nennt. Diese weist eine andere Archäologie auf und verlangt nach einer anderen Interpretation: Sie kann nicht mehr in Rücksicht auf Darstellbarkeit erfolgen, sondern höchstens noch auf Verstehen gründen – und wird dabei hermeneutisch: Die Krypta ist im Innern (introjiert) und holt die toten Objekte, die durch Introjektion nicht rückführbar sind, im Prozess der Inkorporation (Mimikry der Introjektion) zu lebendigen toten Objekten zurück. Dies ist ein kommunikatives Moment der Selbstinszenierung, durch das ein hermeneutischer Blick frei wird. Ob sich hier die poetische Selbstreferenz anschließt, von der Foucault als einer „Selbstbegegnung“ „auf der Linie zum Tod selbst“ spricht, bleibt vorerst eine offene Frage (Foucault, 1963, 394).

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Manuskripten und dem Rübner-Nachlass geht hervor, dass er sich vor 1947 mit den Wegbereitern der so genannten Lebensphilosophen Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer beschäftigte.10 Beide haben das philosophische Grundwissen von Rosenkranz geprägt, was insofern nicht erstaunt, als Schopenhauer zu den meist rezipierten Philosophen auch der nichtbürgerlichen Bevölkerungsschichten des beginnenden 20. Jahrhunderts zählte. Eine Phänomenologie der Leiblichkeit, die um 1920 aufkommt, greift daher bei Rosenkranz auf Schopenhauer zurück, wendet sich aber auch da wieder von ihm ab, wo der Dichter bzw. das autobiografische Ich mit „Leib und Seele“ über dem Abgrund schwebt, im „Übergang“ von Leben und Tod die „moderne“ Erfahrung der Zäsur zu überwinden sucht: eine „absolute“ Grenzerfahrung, die möglicherweise auch den Lebenswillen in Abrede stellt und von keiner intellektuellen Voraussicht gebremst wird. Neben Schopenhauer war Johann Gottfried Herder für Rosenkranz aber eine wichtige Referenz: In seiner programmatischen „Rückwärtsgewandtheit“ zeigen sich sowohl in den autobiografischen Fragmenten Kindheit und Jugend lyrische Ansätze im Sinne der herderschen „Stimmen der Völker“ (K166), als auch neuhumanistische Kulturkritiken im Sinne Rouseaus in Essays 11 und Briefen des Nachlasses. Ein imaginärer Ereignis- bzw. Bildbegriff negiert die schopenhauersche „Vorstellung“ in Bezug auf Rosenkranz nicht; mit Bergson wird das „Imaginäre“ in der erinnerten Wahrnehmung und damit die lyrischen Ich-Figuren von Rosenkranz differenzierbar. Die Erinnerung als eine fortschreitende Kette belebter Glieder (Bergson) und ein leibhaftes Dazwischen der Wahr10 Rosenkranz orientiert sich an zahlreichen Stellen seiner „Erinnerungen“ an Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Vgl. hierzu (Gut¸u, 2004); über Nietzsche und Schopenhauer äußert sich Rosenkranz vor allem im zweiten Teil seiner Autobiografie Jugend (Rosenkranz, 1983, 56, 66); in Kindheit: K166. 11 Beispielsweise der als diktierte Abschrift von Rübner erhaltene „Essay über Russland“, in dem Rosenkranz den „Phänomenen“ Russlands über eine kulturelle „Zusammenschau“ nachzukommen versucht (um 1961: LBI, series II, n552– 573). Rosenkranz geht dabei in populärwissenschaftlicher Form dem „russischen Phänomen“ in Geopolitik und Geschichte nach (n559). In seiner „Zusammenschau aller einschlägiger Probleme“ wollte er Russland quasi methodisch erfassen (n565). Dazu nötig war auch eine „neue Terminologie“, um die „völkische Realität auszudrücken“ (n572).

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nehmung über den Abgrund zurück zur Kindheit (im Sinne Merleau-Pontys) gehen beide von einem In-der-Welt-Sein aus, das die Metaphysik nicht verwirft oder in absoluter Transzendenz (Lévinas) orientiert; der Tod wird viel eher im Zeit-Raum selbst lokalisiert. Grundlegend für die phänomenologische Argumentation bei Rosenkranz’ Selbstbild-Entwürfen sind die so genannten Randphänomene, über die der Dichter seine Biografie fundiert und formuliert. Die „Erinnerung“ im Modus der Wahrnehmung fokussiert dabei weniger das Ereignis selbst, als vielmehr die ins Gedächtnis eingegangenen „Empfindungen“ wie Schmerz, Mitleid oder den alles umfassenden Begriff der „Liebe“. Diese Grundmotive, die immer auch auf Archetypen des Erzählens verweisen, werden bei den drei genannten Philosophen als bewegte und bewegende Koordinaten („movens“) des Erinnerungsbilds über dem Ereignis, wobei die Unbestimmbarkeit nicht das Ende, sondern den Anfang der Diskussion bedeutet.12 Gerade im ewigen Schweben, was wiederum ein Dazwischen meint oder ein solches für die Wahrnehmung erst voraussetzt, liegt aber das „Fortdauern“ eines bewegten Stillstandes, der zwischen Leben und Tod als fundamentale Grundopposition die bis anhin noch bestimmbare Grenze aufhebt.13 Die Untersuchung des Brief-Nachlasses, der Lyrik sowie der Autobiografie zielt also auf eine phänomenologische Bestimmbarkeit nicht-hyleti-

12 Ralf Simon löst den Bildbegriff vom Bildträger und ordnet auch „Halluzinationen, Träume, Erinnerungen, Ideen oder innere mentale Bilder“ dem „prekären ontologischen Status des Bildbegriffs“ zu. Das Bild wird als Instanz nur intentional definierbar, das aus der „Überkreuzung der Blicke entsteht“ und somit ein „Kraftfeld“ meint, das als „energetischer Kitt“ die Dinge ins Bild rückt (Simon, 2009, 34 f. u. 100). 13 Hier schließt die Frage des Mythos an, die, ohne den gegebenen Umfang zu sprengen, in diese Untersuchung aufgenommen werden soll. Eine „notwendige Mythologisierung“ geht an dieser Stelle mit den Bedingungen der poetischen Selbstbildung einher und wird einerseits mit Blumenbergs „Arbeit am Mythos“ oder „Zu den Sachen zurück“ phänomenologisch diskutierbar; andererseits bekommt die Mythologie im Kontext der „absoluten Zäsur“ über die europäische Lagerliteratur eine komparatistische Referenzialität: Vgl. hierzu die Kapitel 10.1.2 und 10.1.3.

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scher Erinnerungselemente, für die gerade die Briefe als „Generator zur Verschriftlichung von Empfindungen“ die Untersuchung maßgeblich unterstützen (Strobel, 2007, 166): innere „Zustände“, die einen Stillstand nur im Oszillat bzw. Dialog zwischen bewegten Komponenten vorstellen können und daher ein Flüchtiges implizieren, aus dem dennoch eine „Gestalt“ bzw. Figur im „quantitativen“, d. h. unbegrenzten Raum (Bergson) – aber auch energetisch „verdichteten“14 – der Erinnerung hervorgeht. 15 Dass das einzige hyletische, d. h. sichtbare und somit auch zeugenfähige Adjuvans zwischen Vergangenheit und Erinnerungsort der poetische Text selbst meint, steht der Frage nach dem textimmanenten Selbstbild, das sich zwar notwendig generiert, aber möglicherweise nicht sichtbar wird, gegenüber. Dies führt in eine Doppelbödigkeit, die im Schreiben des Dichters und dem Sichselberlesen (beim Überarbeiten der Gedichte oder auch der Prosa-Fragmente) über die poetische Erinnerung besteht. Denken – das meint die Reflexion des Ich über sein Leben und Selbstbild generell – und Sehen – die Wahrnehmung des gefilterten Sichtbaren aus der Erinnerung – treffen sich hier in einer möglichen Aporie der schreibenden und sichselberlesenden Ichbildung, deren poetisch bildhafte Silhouette hier zu bestimmen versucht wird. Ein solches Vexierbild des Selbst oder aber eine Identitätsfigur, die erst in der „Crypsis“ des Textes auftaucht, verweist auf den schwebenden „Zustand“, den Haverkamp als ein stummes kommunizierendes „Wesen der Individuation“(Haverkamp, 1988, 355) am a-topischen „Ort“ des Geheimnisses, und damit auch „jenseits von Metapher“ und Sprachlichkeit, begreift. 16 Damit kommen wir auf Bergson und Merleau-Ponty zurück, die ihre eigenen Begriffe zwar nicht a priori am poetischen Text festmachen,

14 Der hier verwendete Begriff der „Verdichtung“ lehnt sich an Siegmund Freuds „Verdichtung“ und „Verschiebung“ im Kontext der Traumdeutung an. 15 Erinnerung als Double Bind von Sehen und Denken erörtert Ralf Simon in seiner Bildkritik: die Sprache als „aporetisches Bedürfnis, eine ikonische Kategorialität denken zu wollen, die gerade nicht durch Unterscheidungen, sondern als figurale Evidenz, als Gestalt, formiert ist“ (Simon, 2009, 22 f.). 16 Die Überwindung der Sprachlosigkeit wird nach der Zäsur, wo die absolute Sinnentleerung stattgefunden hat, existentiell.

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gleichsam aber in einer referenzlosen Topografie einer anderen, sowohl sicht- als auch unsichtbaren „Wesen-tlichkeit“ 17 begreifen. Werden nun anhand dieser „Phänomenologie an der Grenze“ die differenten Selbstbilder aus Rosenkranz’ Lyrik und Prosa-Fragmenten untersucht, so muss sich eine Differenzbestimmung der beiden Gattungen ergeben, die auf ihre Weise das Selbst am Rand zum Abgrund ins Auge fasst. Methodisch werden zuerst die „Randphänomene“ aus dem Nachlass sowie der Lyrik und Prosa bestimmt, für die Rosenkranz das „Gefühlsmäßige“ dem „Sichtbaren“ voranstellt. Anschließend werden sie im Kontext der Form (Lyrik und Prosa) behandelt sowie auf ihre „Lebendigkeit“ hin untersucht. Wo setzt die Dynamik der einzelnen Selbstbildkoordinaten (Randphänomene) an? Wo bewegen diese das „Ganze“ in Form von Gedichtbänden bzw. der Prosa-Fragmente? Lässt sich eine „Figur“ des Selbstbildes überhaupt fest-halten? Und wenn ja: Reicht die rosenkranzsche Terminologie aus, die es hier zugleich zu entschlüsseln gilt? Wenn an den biografischen Entgrenzungsphänomenen die „Phänomenologie“ selbst an ihre Grenze kommt, ist der schillernde Begriff hier möglicherweise erst legitim: In Bezug auf das Werk von Moses Rosenkranz erhält er die höchstmögliche Ausdehnung sowie die „Abgründigkeit“, um die das poetische Werk kreist. Beide entziehen sich nicht nur einer letzten und eindeutigen Definition (und Differenz); vielmehr scheint es bei einer Phänomenologie (an der Grenze) in Bezug auf Rosenkranz um den Zwischenraum oder das Spannungsverhältnis selbst zu gehen, dessen Leere gerade in bzw. über die Sprache ausgehalten und verhandelt werden muss. Eine Überprüfung der Gültigkeit dieses Ansatzes kann letztlich nur mit Rücksicht auf den kulturellen Hintergrund von Moses Rosenkranz unterstützend geleistet werden. An ausgreifenden Stellen im Haupttext drängt 17 „Wesentlichkeit“ verweist immer sowohl auf die Figur eines Wesenhaften als auch auf die Unbedingtheit seiner elementaren Grundbedeutung – der Identität. Rosenkranz’ schillerndem Begriff des „Wesens“ wäre im noch unedierten LyrikBand Bilder vom Wesen nachzugehen. Hierin geht es um eine poetische Aufnahme und Bewahrung der „Lebensvorkommnisse“. Aber auch in den autobiografischen Prosaschriften wird immer wieder auf ein figural „Wesenhaftes“ verwiesen. Vgl. Kapitel 8.3.

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sich daher ein kultureller Zusammenhang der Grenzphänomene mit der ostjüdischen Mystik (Kabbala) oder auch (ost-)europäischen Lagerliteratur auf. Insofern ist mit der Phänomenologie „an der Grenze“ – wobei die Grenze im Wort „U-Kraina“ 18 immer auch auf die Herkunft von Rosenkranz in der Bukowina zurückverweist – eine Zugangs- und Untersuchungsmethode, die ein poetisches Feld nur dazu „eingrenzt“, um seine inneren Kräfte als „Kreuzungen differenter Blicke“ in der Verdichtung zum (Selbst-)Bild wieder loszulassen.

4.1 Maurice Merleau-Ponty, Henri Bergson, Erwin Straus Maurice Merleau-Ponty, Henri Bergson und Erwin Straus haben sich mit phänomenologischen Konzepten der Leiblichkeit beschäftigt, welche die Frage nach dem Menschen ins Zentrum rückten. Die Anschauung19 und Wahrnehmung20 sowie ein davon abhängiger Begriff von „Wirklichkeit“ zielen dabei wesentlich auf die Selbsterkennung des empfindenden Sub18 U krajna bedeutet im Ostslavischen: „Grenzland“ oder (aus der Perspektive Russlands): „Das Land am Rand“. Mit „moja chata s kraju“ („mein Haus am Rand“) beschrieb nicht nur Taras Schewtschenko seine Heimat (Pollack, 2005, 43); zwischen Orient und Okzident war die Ukraine bereits vor dem 18. Jahrhundert ein historisch kulturelles Randgebiet (Scharr, 2010, 236 f.); Karl Emil Franzos Begriff „Halbasien“ drückt aber auch die innere Spannung im Land selbst aus, die heute aufgrund einer ganz unterschiedlichen Geschichte und Einflusssphäre das Land in Ost und West teilt. Dass jedes Grenzgebiet immer auch der Verschiebung der territorialen Grenzen ausgesetzt und somit von Instabilität geprägt ist, erörtert Mykola Rjabtschuk über den Begriff des „Dazwischens“ (Rjabtschuk, 2005, 23). 19 Mit dem Begriff „Anschauung“ ist hier ein primär ästhetisches, auch kontemplatives Gewahrwerden gemeint, das vom Subjekt auf das Objekt übergeht. Rosenkranz schreibt in Jugend: „Wahrlich liegt alle Wahrnehmung und Weisheit in der Anschauung“ (Rosenkranz, 1983, 56). Rosenkranz geht von einer intuitiven Wahrnehmung aus, die eine „intellektuale Anschauung“ im Sinne Schopenhauers auch wieder infrage stellt. Vgl. E. Ortland (Ortland, 2004, 211). 20 Sinnliche Aufnahme wird hier als ein „Wahr-nehmen“ verstanden, wobei der Wahrnehmungsgegenstand primär auf das Subjekt wirkt bzw. das Subjekt vom Betrachtungsgegenstand vereinnahmt wird. Dem Subjekt ist dabei die Möglichkeit zur Identifizierung mit dem Gegenstand gegeben.

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jekts. Weniger spielen hierbei hyletische Objekte eine Rolle, als vielmehr „Befindlichkeiten“. 21 Die Begriffe „Leib“ (Merleau-Ponty), „Sinne“ (Straus) und „Dauer“ (Bergson) werden daher für die Untersuchung der poetischen Selbstbilder von Rosenkranz ausschlaggebend.

4.1.1 Henri Bergson: Vom Begriff der „Dauer“ zu einer Bildtheorie der Erinnerung Der zentrale Begriff von Henri Bergsons 22 Phänomenologie der Zeit ist die „Dauer“ („la durée“). Im Begriff der Dauer löst sich nach Bergson die Zeit in ihrer Linearität auf und trennt sich von einem „quantitativen“ (extensiven, zählbaren) Begriff des Raumes, den er dem „qualitativen“ (als Menge einer unzählbaren „Mannigfaltigkeit“) gegenüberstellt. Die Dauer versteht sich als eine progressive, aber nicht linear voranschreitende Figuration endlicher Zeit; 23 die Dauer durchdringt die (Linearität der) Zeit in ihrem Fortschreiten genauso wie die Gegenwart. Als wesentliches Merkmal ist der Dauer die „Kontinuität“ eingeschrieben: eine in die Gegenwart einwachsende Vergangenheit, die „an der Zukunft nagt“ (Bergson, 1991, 145). In der Kontinuität selbst ist das Wesen der Identität verwahrt, wenn auch als ein Unbestimmbares, da es sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. Zukunft stets bewegt. Bergson fasst die Dauer als ein Ganzes auf, dessen Form ohne ihre Inhaltskomponenten nicht bestehen kann, wenngleich letztere auch nur in einem unbegrenzten Raum vorstellig sind und selbst ihrer Eigendynamik unterliegen. Diese die Dauer dennoch bestimmenden Elemente (Bergson nennt sie „Gefühle“ oder „Empfindungen“) sind konturlos und voneinan21 Während Affekte und Gefühle traditionsgemäß als Begleitphänomene behandelt werden, betont Heidegger die zentrale Rolle der „Befindlichkeit“ für das Erschließen von Welt in Sein und Zeit. Vgl. Franco Volpi: „Der Status der existenzialen Analytik“. In: Thomas Rentsch (Hg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 139. 22 Geboren 1859 in Paris, gestorben 1941 ebenda. 23 Der Begriff der „Dauer“ wird in den ersten Schriften von Bergson als „Erfahrung“ des Ich beschrieben; später wird die „Dauer“ als Eigenschaft der Welt selbst erklärt. Vgl. hierzu auch (Merleau-Ponty, 2007a).

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der gleichwertig durchdrungen. Die Präsenz der Dauer, die selbst kein Früher oder Später mehr kennt, obgleich sie aus der stetig heran- und in die Gegenwart hineinwachsenden Vergangenheit stammt, ist die „Einheit“ aus Vergangenheit und Gegenwart. Aus dieser „Materie“ des Gedächtnisses leitet Bergson die „reine Erkenntnis“ als „Wahrnehmung“ ab (Bergson, 1991, 13 f.) – eine „komplexe Wahrnehmung“ allerdings, die „immer mit Erinnerung gesättigt ist“ (Bergson, 1991, 19). Aus dem Begriff der Dauer und letztlich ihres „Bildes“ 24 als bewegt-bewegende Gestalt entsteht das Lebendige und Schöpferische, aus dem Bergson das „Ereignis“ erklärt: ein koordinatenfreier Ort der Wahrheit, der im bzw. aus dem Wandel entsteht und im permanenten Oszillieren Aufmerksamkeit auf die Welt erzeugt, wobei sich der Körper (des Wahrnehmenden, Empfindenden) an die immer gegenwärtige Lage anpasst. Die Dauer ist so ein „Phänomen des Lebens“ bzw. eine „Reaktion des Körpers“ auf die Umwelt; 25 sie ist aber auch vom rationalen Denken und Eingreifen des Raumes in die „ursprüngliche Zeit“ gefährdet, wobei „Lebendigkeit und Farbe“ schwinden können. Das ist schließlich auch der Punkt, wo das lebendige „Ereignis“ nach Bergson Symbolcharakter annimmt. Den im Unbestimmbaren verharrenden Ort einer „reinen Zeit“ nennt Bergson denn aber auch „Gedächtnis“; dieses steht der Erinnerung und ihrer Antipode des Vergessens „qualitativ“ vor. Auf den Wahrnehmungsakt übertragen beschreibt Bergson eine Gedächtnisgestalt, die aus dem Überschreiben von Erinnerungsbildern über die gegenwärtige Wahrnehmung erfolgt. 26 Das heißt, 24 „Unter Bild verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist als was der Idealist ‚Vorstellung‘ nennt, aber weniger als was der Realist ‚Ding‘ nennt […] Ein Bild, das an sich existiert“ (Bergson, 1991, 10–11). 25 Das „Bild“ ist eine Erfahrung des Körper, der auf die Bewegungen in der Welt, quasi außer sich, aktiv reagiert und über das selektive Nervensystem letztlich sein Bild von sich selbst produziert. „Tout se passe comme si, dans cet ensemble d’images que j’appelle l’univers, rien ne se pouvait produire de réellement nouveau que par l’intermédiaire de certaines images particulières, dont le type m’est fourni par mon corps“ (Bergson, 2010, 12 f.). 26 Blumenberg nennt das Gedächtnis „Retention“ („Gegenwartsbehalt“) (Blumenberg, 2007, 208 f.); Verbindungen beider Philosophen über den Begriff der „Dauer“ hin zu einer Mythologie der Gegenwart bzw. „Gegenwärtigkeit“ könnte ein weiteres Untersuchungsfeld darstellen.

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die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart, nicht umgekehrt: Nicht der Erinnerungsort ist ausschlaggebend, sondern das Erinnerte selbst. Erinnerung ist somit ans Erlebnis gebunden, während das Gedächtnis quasi losgelöst davon als ein aus Erinnerung Entstandenes besteht. Je nach Körperlage oder seiner Anpassung an die gegenwärtige Situation werden unterschiedliche Erinnerungsbilder über „Ähnlichkeitsmerkmale“ hervorgerufen und mit dem wahrgenommenen Bild gekreuzt. Je mehr Bilder aufgerufen werden (können), desto stärker ist die Intensität des Eindrucks. Diese „Vertiefung der Erinnerungstätigkeit“ ist somit durch die gegenwärtige Wahrnehmung prävalent geprägt. Und diese wiederum hängt von der Aufmerksamkeit des Körpers ab, die von diesem selbst und dessen Anpassung im Raum ausgeht. Die äußere Wahrnehmung wird bewegt und zur Erinnerungstätigkeit angeregt, woraus also jene Umrisse in der Überschneidung von Erinnerungsbildern entstehen, die mit Freud auch als Feld der „Verdichtung“, das heißt „Energiefelder“ oder Kreuzungspunkte der Blicke genannt werden könnte. Die Reihe von Synthesen, die sich aus der Überlappung der Bilder ergibt, vertieft, „eilt dem Geiste zu“ und markiert als Ganzes einer intensiven Vielheit das Gedächtnis. Das Gedächtnis, die Dauer, das sich aus den Elementen von Empfindungen und schließlich Erlebnissen ergibt, manifestiert sich in einer „gefühlten, aber schwer beschreibbaren Einheit“ dieser endlichen Dauer, einer „Gesamtheit von Bildern“ oder „Gesamtvorstellung“ (Bergson, 1991, 77). In den späteren Schriften hat Bergson den Begriff der „Dauer“ gerade aus dem Umstand auf die begrenzte Lebenszeit des Menschen angepasst, dass das Gedächtnis anwächst und sich gegebenenfalls ins Endlose fortsetzt (Bergson, 1991, 93). Die aus dem Gedächtnis durch die Erinnerung hervorgerufene „wachsende Tiefe“ wird so zu einem „offenen System“, in dem die Endlichkeit der Dauer nur mehr ein Fragment ist. Wie angedeutet, wird aus Bergsons Zeittheorie eine Ereignis- bzw. Bildtheorie, in der die Dauer als Figuration der reinen Zeit ein Gesamtbild über die Erinnerung schafft und dabei die Frage nach dem wahren Ereignis mitformuliert. Marjana Vrhunc hat das Verhältnis von Ereignis und Bild über die Zeittheorie Bergsons ausführlich erörtert: In Bergsons Bildtheorie, welche die Dichotomie der klassischen Erkenntnistheorien vermeidet, sieht sie

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„einen beachtlichen Beitrag zur Philosophie menschlicher Erfahrung“ (Vrhunc, 2004, 108). Bild und Ereignis stehen bei Bergson für eine „konkrete Form, die sich in den Wirkverhältnissen unseres Wahrnehmens bildet“ (Vrhunc, 2004, 113). Bergsons Frage, wie es zum „Ereignis“ kommen kann, beantwortet er mit Verweis auf die Dauer; die Vergangenheit holt die Gegenwart ein und markiert ein „Ereignis“, wo sich ähnliche Erinnerungsbilder auf der voranschreitenden Zeitachse überlappen und sich schließlich von der Zeitachse lösen. Deswegen ist das Ereignis auch „eine außerordentliche Erfahrung, die Neues verspricht“ (Liebsch, 2004, 184), quasi als Dauer in die Zukunft weist. Ereignis und Form sind nach Bergson nicht trennbar; das Bild ist an den Ereignischarakter gebunden und unterliegt der „Existenz“, der „Form“, der „Wirkung“ sowie „Qualität“ (Vrhunc, 2004, 113); es bildet ein „solidarisches Ganzes von Geist und Physis“, Subjekt und Objekt und ist also zwischen Vorstellung und Ding (Vrhunc, 2004, 109). „Solidarisch“ meint, dass das Ereignis-Bild aus der Gleichzeitigkeit von Perspektiven entsteht und als solches sich erst im Dialog der Vergangenheit mit der Gegenwart einstellt, die quasi von hinten angegriffen wird. Die Wahrnehmung ist demnach eine „komplexe Konfiguration“, zu der Augen, Lichtstrahlen, die Sinne sowie Gegenstände gehören (Vrhunc, 2004, 108) und die in ihrem Prozess die Realität formt. Das Ereignis, das Bild oder auch die „Realität“ unterscheiden sich so von dem, was als „episodisches Netzhautbild“ aufscheint; sie sind eine „kreative Transformation“, oder: eine „lebendige Präsenz“ 27 , die nicht abbildet, sondern einen „Schaffensprozess im Formwerden und Formwandel“ zugleich bedeutet (Vrhunc, 2004, 108 f.). Die „Ereignisform“, die Offenbarung des Bildes, besitzt gerade daher die Struktur der Vergegenwärtigung. Diese aus der Vergangenheit heranwachsende und sich mit sowie in der Gegenwart verdichtende Bewegung nennt Bergson auch „ereignishafte UrFormung“; damit ist aber nicht eine urzeitliche Struktur gemeint, sondern eine, die über die Zeit hinaus und in die reine Zeitlichkeit (der Dauer) führt. Dieser „Sprung“ bzw. „Überbrückung“, wie es Vrhunc nennt, lässt 27 Die „lebendige Präsenz, die als anschauliche Unmittelbarkeit erscheint“ (Vrhunc, 2004, 111), entspricht in ihrer prozessorientierten Perspektive Cassirers „mehrdimensionalem Werden zur Form“ (Vrhunc, 2004, 112).

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sich bei Bergson weniger über den Begriff der „Zeit“ als über jenen der „Intuition“ verstehen; es sei hier denn auf die Abhandlungen zur „Metaphysik“ verwiesen (Bergson, 1916), welche die Intuition mit dem Begriff der Dauer quasi gleichsetzt. So lässt sich auch Merleau-Ponty verstehen, wenn er über Bergson schreibt: „Das Sein geht der Wahrnehmung voraus, und dieses ursprüngliche Sein kann nur in Bezug auf die Wahrnehmung begriffen werden“ (Vrhunc, 2004, 110).

4.1.2 Maurice Merleau-Pontys Begriff des „Leibes“ und die Wahrnehmung als ein „In-der-Welt-Sein“ Maurice Merleau-Pontys 28 Phänomenologie knüpft in Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt an eine Diskussion über autobiografische Poetik an. … eine Prosa dagegen, die unsere perspektivische Sicht auf die Dinge vermittelt und ihnen Konturen verleiht, bringt eine Diskussion über die Dinge zustande, die es nicht dabei bleiben läßt, sondern selbst zum Fragen anregt und eine Aneignung ermöglicht. Das Unersetzliche am Kunstwerk, das, was aus ihm weit mehr macht als eine Gelegenheit zum Vergnügen, nämlich ein Organ des Geistes, zu dem sich eine Analogie in jedem philosophischen oder politischen Denken finden läßt, sofern es produktiv ist – dieses Unersetzliche liegt darin, daß es weit mehr enthält als Ideen, es enthält eine Ideenmatrix; es liefert uns Sinnbilder, deren Sinn wir nie endgültig ausschöpfen werden; und gerade weil es sich und uns in einer Welt einrichtet, deren Schlüssel wir nicht besitzen, lehrt es uns zu sehen und gibt uns zu denken, so wie kein analytisches Werk es je fertigbrächte, denn die Analyse kann an ihrem Gegenstand immer nur das auslegen, was wir in ihn hineingelegt haben (Merleau-Ponty, 1984b, 109).

Anders als von einem analytischen, nicht-künstlerischen Werk geht von der Prosa als künstlerischem Beispiel mehr aus, als die Rezeption in sie analytisch hineinprojeziert. Merleau-Ponty geht von der einwirkenden Kraft auf den Rezipienten aus; der Wahrnehmungsgegenstand stellt dabei etwas mit dem Betrachter an. Dies meint aber auch, dass die subjektive Perspektive zurückgedrängt wird oder werden muss, um die Empfänglichkeit für 28 Geboren 1908 in Rochefort-sur-Mer, gestorben 1961 in Paris.

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das Wirken des Gegenstandes zu steigern. In der Unsicherheit und nichtlogischen Eruierbarkeit des Wahrnehmungsgegenstandes kommt das Sehen, ein (Hin-)Schauen oder auch Denken in der Welt zustande. MerleauPontys Begriff des „Leibes“ versucht, diese immer intentional bleibende Wahr-nehmung des Gegenstandes durch das Subjekt zu greifen, wenn er selbst als solcher nie begriffen werden kann; vielmehr besteht das „Unersetzliche“ aus einem „Organ des Geistes“, das als „erkundende Gewissheit“ des In-der-Welt-Seins fungiert (Merleau-Ponty, 1984b, 109). Diese teilt der Sprache eine besondere Rolle zu: Ein bewusstes In-der-Welt-Sein fordert die Distanz von der Welt; dass das Bewusstsein nicht zur physischen Welt gehört, wobei sich durch die Distanzierung von derselben „Vorstellungen“ bilden, ergibt bei Merleau-Ponty das „Primat der Wahrnehmung“ als Bewusstseinserfahrung. Merleau-Pontys In-der-Welt-Sein impliziert, dass der Ich-Standpunkt, der personale physische Leib (Körper), nie ganz wahrgenommen werden kann. Das Ich und „mein“ Ort sind stets abwesend und können nur in Betrachtung des Anderen, das zugleich ich als Anderes ist, als ER, dargestellt bzw. wahrgenommen werden: in der Wahrnehmung von Welt, die aber von der einzigartigen Empfindung der Körperlichkeit ausgeht. Diese Empfindung nennt Merleau-Ponty „reine Impression“, die ungeformte Erfahrung ist; im Gegensatz dazu stellt eine vom eigenen Körper unabhängige Wahrnehmung immer schon einen intellektuellen, sprich übersetzten Akt dar. Vom körpereigenen, nichtwahrnehmbaren und daher auch unstrukturierenden Standpunkt aus ist die „Universalität“ bzw. die „Einheit“ des Ich daher frei und entfremdet; aber immer auch schon da; eine „Einheit“, die vom Ich losgelöst wird, aber mit dem Menschen immer schon in der Welt präsent ist. Daher muss der Romanschriftsteller sein Ich in ein ER verwandeln, um die Weltkorrespondenz aufzunehmen: die Loslösung des Ich vom Ich. Diesem mit der Prosa entstehenden „imaginären Leib“, der lebendiger sei als der eigene, ordnet Merleau-Ponty eine „sublime“ Existenz zu, auf der die „Wahrheit“ sozusagen ruht. Eine Art poetischen Sehens kann so als phänomenale Bewusstseinsform verstanden werden, die im schöpferischen Akt der Niederschrift eine fortwährende „Geburt“ erfährt, wobei die Welt nicht mehr als „Vorstellung“ fungiert, sondern „in den Dingen“ selbst, das meint: im Werk erst geboren

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wird – als ein Sich-Selbst-in-die-Welt-Setzen über die dabei für MerleauPonty noch gültige „Universalität“ und Einheit. Merleau-Pontys begriffliches Unschärfe-Problem rührt daher, dass die Erfahrung als Wahrnehmung des „Unersetzlichen“, des dinglichen Kerns oder des Wesentlichen des Selbst in seiner Unterscheidbarkeit auf ein „Ganzes“ zugreift, das als solches frei bleibt von Grenzen und Rändern, sprich der Referenz: Die Gestalt ist eine spontane Organisation des sensorischen Feldes, das die angeblichen „Elemente“ von „Ganzheiten“ abhängig macht, die selbst wieder in noch größere Ganzheiten eingegliedert sind (Merleau-Ponty, 1984b, 17).

Merleau-Pontys Begriff des „Leibes“, der trotz seiner Referenzlosigkeit in der Welt ist, interessiert hier auch deshalb, weil dieses „Organ des Geistes“ als ein Wahrnehmungs-„Leib“, als chair, mehr ans Leben und damit an die empirisch erfahrbare Welt geknüpft ist als ans Jenseitige oder Absolute, wie es Emmanuel Lévinas denkt;29 denn der Tod ist als Erfahrungsmoment ebenfalls dem Leben zugeordnet. Das erlebnishafte „Aus-der-Welt-Geworfensein“ wendet sich über den referenzlosen oszillierenden „Leib“ wieder der Welt zu. Das poetische Selbst-Bild wäre in diesem Sinne also doch ein gelingender Akt verlebendigender Poetologie.

4.1.3 Erwin Straus’ „Erweiterung der Grenzen des Daseins“ Erwin Straus 30 nimmt unter den drei Phänomenologen eine Sonderstellung ein; als Psychiater hat er zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Husserl und Heidegger auch auf das philosophische Denken Bergsons zurückgegriffen. In seinen pathopsychologischen Grundsätzen folgt Straus Bergsons An29 Lévinas spricht von einer „nie enden wollenden Offenbarungen der Schrift“ und ihrer „Prophetenwürde“, die „fähig [ist], stets mehr zu bedeuten, als sie ausdrückt“ (Lévinas, 1996, 8). 30 Geboren 1891 in Frankfurt a. M., gestorben 1975 in Lexington (USA). Franz Bossong liefert eine einschlägige Straus-Biografie: Zu Leben und Werk von Erwin Walter Maximilian Straus mit Ausblicken auf seine Bedeutung für die Medizinische Psychologie. Würzburg: Königshausen und Neumann 1991.

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sätzen und leitet seine Sinnes- und Wahrnehmungslehre vom „plötzlichen“ traumatischen „Erlebnis“ ab. Er wird aber vor allem interessant in Bezug auf die poetische Biografie, deren Sinnstiftung synästhetisch zwischen Auge, Ohr, Hand verstanden wird: Straus bekräftigt die Synästhesie über das Ich, das in der Welt ist; denn wären die Sinne getrennt, müsste das Ich außerhalb der Welt sein. „Bei der Beschreibung von Erlebnissen tun wir überhaupt gut, nicht vorweg die Eigenart der dabei funktionierenden Organe zu berücksichtigen. Im Erleben unterscheidet sich Sehen und Hören, Gesehenes und Gehörtes, ohne dass wir in irgendeiner Weise dabei Erfahrungen über die Organe, ihren Bau und ihre Funktion zu benutzen brauchen […] wir empfinden ‚vermittels‘ unserer Sinnesorgane“ (Straus, 1956, 210). 31 … dass das frühere Erlebnis das spätere in seiner Erscheinungsform beherrscht, daß Kindheitserlebnisse den Plan für die späteren Lebensformungen vorzeichnen, daß eine Vorstellung stellvertretend für eine andere auftreten kann, daß ein Affekt von einer Vorstellung auf eine andere verschoben werden kann, das alles ist doch nur möglich, weil schon das ursprüngliche Erlebnis ein repräsentatives gewesen ist. Erst durch die Vermittlung der allgemeinen Bedeutung, die sich zum erstenmal in dem früheren Erlebnis verwirklicht hat, ist das spätere an das frühere gebunden (Straus, 1930, 39).

Straus wendet sich in Geschehnis und Erleben gegen die „genetische Theorie“ und macht zugleich eine kritische Beschäftigung mit Freuds Psychoanalyse deutlich. 32 Was er hier mit dem „repräsentativen ursprünglichen Erlebnis“ allerdings andeutet: eine „allgemeine Bedeutung“, die das spätere mit dem früheren Erlebnis verbindet, zeigt wiederum die Nähe zu Bergsons Raumund Zeittheorie. Das „Geschehnis außen“ spiegelt sich innen als „Erlebnis“, wobei eine subjektive „innere Lebensgeschichte“ entsteht. Ausgehend vom „Kindheitserlebnis“ und einer darin nachweisbaren „Allgemeinheit“, differenziert Straus so die Nachwirkung späterer Erlebnisse im Jugend- und Er31 In seinen Untersuchungen folgt er George Berkeleys „Gesichtswahrnehmung“. Dabei geht es ihm nicht um Einzeldaten der Sinne, sondern um ihre Kommunikation untereinander. In seinen erkenntnistheoretischen Grundfragen bildet Berkeley den lockeschen Empirismus in eine Art subjektiven Idealismus um, auf dem wiederum Straus seine Sinnestheorie aufbaut. 32 Das 1930 erschienene Hauptwerk übt Kritik an Freuds „Konstrukt“ der Libidotheorie (Rattner, 1981, 258).

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wachsenenalter, die eine „wunderbare Erweiterung der Grenzen seines Daseins“ ermöglichen, wobei die „Todesnähe“ „Bedingung eines solchen Erlebnisses“ darstellt (Straus, 1930, 71). „In der Todesbereitschaft“, so Straus, „ja Todesseligkeit Liebender ist der Tod nicht Aufhebung, sondern Vollendung des Lebens“ (Straus, 1930, 70). Seine heute kaum mehr rezipierten33 Schriften leisten für unseren Kontext eine wahrnehmungstheoretische Ausdehnung vor allem hinsichtlich der absoluten Zäsur als „Grenzphänomen“ der Sinne. Die Modalitäten sind in ihrer Gesamtheit in eine breite Skala zu ordnen, die vom Sichtbaren hinüber zum Schmerz reicht. In diesem Spektrum der Sinne variieren die Aspekte in Bezug auf: Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Richtung, Grenze, Distanz, Bewegung, Physiognomie, Gemeinschaft, Freiheit und Gebundenheit, Kontakt, Gegenständlichkeit, Zählbarkeit, Teilbarkeit, Meßbarkeit, Leerformen, Möglichkeit der Abstraktion, der Erinnerung, der Mittelbarkeit. An einem Ende der Skala findet sich das gemeinsam Mitteilbare und die Mitteilung im geformten Wortlaut und Schrift, am anderen die Einsamkeit des Schmerzes, der sich zuletzt nur noch im ungeformten Klagelaut und Schrei äußern kann. Jeder Sinn dient oder versagt sich der geistigen Existenz des Menschen auf seine Weise (Straus, 1956, 402 f.).

Straus spricht nicht von „Erlebnissen“ im Allgemeinen, sondern untersucht „Grenzphänomene“ im Besonderen, die den Menschen in seiner „Lebensgeschichte“ in der Welt neu einrichten – oder: für die Welt ausrichten. Dabei geht Straus von einem phänomenologischen Individualitätsbegriff aus, welcher den Menschen noch deutlicher als Bergson oder Merleau-Ponty ins Zentrum rückt. „Individualität“ ist nach Straus ausschließlich „phänomenologisch“ beschreibbar (Straus, 1956, 210 f.), was auch beim Kindheits33 Straus, der sich gegen die freudsche Psychoanalyse aussprach, verlor mit deren wachsenden Popularität sowie entgegen zunehmend biologischer Ansätze an Gewicht. Bedeutend für den Popularitätsschwund dürfte aber auch das Exil des Juden in die USA gewesen sein. Mangelnde Nachfragen führten letztlich zu keinen weiteren Auflagen seines Werks. Letzte Auflagen in deutscher Sprache erschienen 1963, worunter die des Springer Verlages zu nennen ist: Philosophische Grundfragen der Psychiatrie II: Psychiatrie und Philosophie. 2001 erschien eine sportwissenschaftliche Einführung in die phänomenologische Bewegungstheorie von Erwin Straus von Andreas M. Markovits: über Die Einheit von Empfinden und Sich-Bewegen im Czwalina Verlag in Hamburg.

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erlebnis sowie bezüglich der „Abschattung“34 von sensualer Wahrnehmung deutlich wird: Kindheitseindrücke und erschütternde Erlebnisse öffnen den Blick für bestimmte allgemeine Gegebenheiten und verschließen ihn für andere; sie schaffen damit ein Prinzip der Wahl, demzufolge einige Situationen und Objekte durch die repräsentative Funktion einen Vorrang gewinnen, während die anderen Abweisung erfahren (Straus, 1930, 67).

Das Empfinden hört nach Straus nie auf, „perspektivisches Dasein“ zu sein – oder: „Der Raum der Empfindungswelt verhält sich zur Wahrnehmungswelt wie die Landschaft zur Geografie“ (Straus, 1956, 334): „Der Empfindende gewinnt keinen Standpunkt ausserhalb der Erscheinungswelt“ (Straus, 1956, 207 f.): „Er ist Teil der Welt mit Beziehung zum Ganzen“, das heißt auch, dass „der Empfindende zugleich in wie der Welt gegenüber ist“ und es somit einen „Weg gibt, der vom Empfinden zum Erkennen führt und eine Möglichkeit, die Perspektive aufzulösen“ (Straus, 1956, 208). Die Erkenntnis aber „beginnt mit einer Verneinung, einer existentiellen Verneinung, welche wir das Erwachen des Geistes nennen“ (Straus, 1956, 331). Das Wort muß von dem Akt des Sprechens, der Gedanke von dem Prozeß des Denkens gesprochen, der Gedanke gedacht werden. Aber zum reinen Wort, zum reinen Gedanken werden sie erst, wenn sie gleichgültig sind gegen den Augenblick des Sprechens und Denkens. Erst dann sind die Dinge nicht mehr für mich da, wie sie stets im Empfinden da sind. Denn das Empfinden gibt mir die Welt für mich, jetzt, jeweilig, nicht wiederholbar, an meine Aktion und meine Zuständlichkeit gebunden. Will ich erkennen, will ich zu den Dingen gelangen, wie sie an sich sind, so muß ich diese perspektivische Bindung durchbrechen. Ich muß Distanz zu mir gewinnen, das Jetzt auflösen, mir selbst in einer allgemeinen Ordnung identifizierbar werden, also gleichsam aus der Mitte, in die ich beim Empfinden gestellt bin, heraustreten, mir selbst fremd werden. Alles Denken und Erkennen, ja schon alles Sprechen ist von Anfang an reflexiv. Daß der Mensch sich so verhalten kann, als sprachbegabtes Wesen sich so verhalten muß, kurz daß er sich so zu sich selbst verhält, ist das Wunderbare und das Eigentliche der menschlichen Existenz (Straus, 1956, 331). 34 Mit „Abschattung“ bezeichnet Husserl die verdeckten Seiten eines Gegenstandes, die wir dennoch „mitbewusst“ haben und so beim räumlichen Wahrnehmen automatisch hinzudenken.

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Das Empfinden bindet das Individuum synästhetisch an Raum und Zeit und verhindert die reine Erkenntnis der Dinge. Die Synästhesie der Empfindung aber wiederum bekräftigt das Ich und sein In-der-Welt-Sein, nach dem es sich zur reinen Erkenntnis des Anderen von sich distanziert hat. Bei der Beschreibung von Erlebnissen tun wir überhaupt gut, nicht vorweg die Eigenart der dabei funktionierenden Organe zu berücksichtigen. Im Erleben unterscheidet sich Sehen und Hören, Gesehenes und Gehörtes, ohne dass wir in irgendeiner Weise dabei Erfahrungen über die Organe, ihren Bau und ihre Funktion zu benutzen brauchen […] Wir empfinden „vermittels“ unserer Sinnesorgane. 35 (Straus, 1956, 210).

4.2 Zusammenführung Die drei Ansätze haben die phänomenologische Frage nach dem Menschen über ein körperbedingtes In-der-Welt-Sein beleuchtet, dessen Verhältnis zur Welt und zum Raum selbst über die Wahrnehmung und Empfindungen die Bilder des Gedächtnisses in und für die Gegenwart ausrichtet. Die Frage nach dem Menschen und seinem In-der-Welt-Sein – wobei der Mensch das einzige Wesen ist, das sich selbst transzendiert (Max Scheler) – zeigt eine dem intellektuellen Philosophieren abgewandte Seite der Selbstwahrnehmung: Wo der Verstand nach Rosenkranz „nicht mehr ausreicht, das Uhrwerk der Welt zu verstehen“ (K33), die künstlerische Tätigkeit aber dem näher kommt, was die drei Phänomenologen in ihren Abhandlungen über Körper und Geist gemeinsam als Ort der Zeit- und Raumlosigkeit beschreiben. Da, wo nicht als Ersatz zur Wirklichkeit Sprache, Bilder bzw. Kunst entsteht, sondern „in ihr“ (Merleau-Ponty), aus ihr und über sie hinaus (Bergson, Straus), ist ein zeitloses und raumloses Dasein intendiert oder: eine „Erweiterung der Grenzen des Daseins“ (Straus) angesetzt. Straus’ sukzessive Trilogie von „Tod – Einsamkeit – Unmittelbarkeit“ ließe sich mit Merleau-Pontys Dreiheit von „Absolutem – Einheit – 35 Straus’ Untersuchungen gehen dabei auf Berkeleys Gesichtswahrnehmung zurück und nicht auf „Einzeldaten der Sinne, die nicht miteinander kommunizieren“.

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Leben“ vergleichen, wobei erst die Erfahrung des Todes zur letztmöglichen Nähe (Unmittelbarkeit) des Selbst führt und aus dieser Einheit des Wesentlichen – einer Askese der Einsamkeit, nach Blanchot – das „Leben“ und das „Werk“ erwachsen. Zusammenfassend und auf Rosenkranz’ Werkbiografie adaptiert veranschaulichen drei Grafiken im Anschluss die phänomenologische Identitätsfigur und Erinnerungsstruktur über dem (werk-) biografischen Abgrund zwischen 1947 und 1957 (vgl. S. 50 f.).

4.3 Aufbau Der Hauptteil der Untersuchung gliedert sich in drei Hauptteile, von denen der erste den Briefen aus dem Nachlass Anna Rübner-Rosenkranz’ gewidmet ist. Die Briefe werden dem Lyrikteil und der autobiografischen Untersuchung vorangestellt, da sie Auskunft geben über die Voraussetzungen und Bedingungen des poetischen Schreibens. Ausgehend von den Briefen konnten hier auch andere selbstbiografische Entwürfe sowie konzeptuelle und poetische Überlegungen aufgenommen werden. Paratexte, die Rosenkranz seinen Gedichtbüchern voranzustellen pflegte, werden in der Korrespondenz ausführlich kommentiert oder sind als später verworfene Versuche von Rübner hier aufbewahrt worden. Obgleich die Edition und Überarbeitungskriterien der Gedichtbände im Kapitel Lyrik abgehandelt werden, findet einer der Paratexte im Anschluss an die Briefe Platz. Es handelt sich um ein Vorwort, das eine Selbstbild-Figuration zwischen referierbarer Biografie und übersteigerter Fiktion vorstellt. Anders als andere Paratexte stellt dieses Vorwort denn auch einen ganz anderen Leseanspruch und wird daher in dieser Untersuchung auch vorzugsweise gesondert zu behandeln sein. Der zweite Teil der Dissertation umfasst sowohl die frühe (1930 bis zirka 1947) als auch die späte Lyrik (ab 1957). Zur Unterscheidung beider Phasen, wobei Rosenkranz nach 1957 vermehrt nur noch frühe Gedichte überarbeitet hat, wird den Gedichtbänden besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Zusammenstellung und Ordnung der Gedichte im Sinne einer Lesevorgabe war denn auch Rosenkranz’ Anliegen vor jeder Veröffent-

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Abbildung 1: biografische und werkbiografische Struktur von Rosenkranz’ Geburt (1904) aus bis in die Mitte der 1960er Jahre.

Abbildung 2: Ich-Figuration über die phänomenologische Erinnerungsstruktur. Die das absolute Ereignis, aber auch vorgängige Erlebnisse erinnernde Lyrik wird 1957, am Ort der zweiten Geburt, zur Referenz der eigenen Vergangenheit. Die autobiografische Prosa basiert weitgehend auf den Erinnerungs- bzw. Erlebensmomenten in der Lyrik und greift somit über die Lyrik als hier benannte 1. Vergangenheit auf die vorausgehende 2. Vergangenheit der Kindheit. Daraus resultiert eine Prosa über die primäre Erinnerung der Lyrik und bedeutet eine doppelte „Verdichtung“. Diese Prosa lässt so theoretisch eine neue Verlebendigung der fragmentalen Erinnerung sowie des gebrochenen Ichs zu.

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Abbildung 3: Biografische, werkbiografische und phänomenologische Struktur sind hier übereinandergelegt. Der Abgrund bezeichnet eine Leerstelle, aus deren doppelt negative Konnotation (Lyrik, biografische Zäsur) eine positive Selbstspiegelung über die Prosa erfolgt. Die Gesamtfigur kippt in dieser Konsequenz auch semantisch in die Vertikale, da über die phänomenologische Methode nicht mehr ein horizontales, zeitliches Fortleben intendiert ist, sondern die aus dem Zeit-Raum ausbrechende Figur eines lebendig „währenden“ Selbstbilds. Der untere Balken zeigt die zunehmende „Verdichtung“ des erinnerten Erlebnisses: Wiederholungen oder zueinander analoge Erlebensmomente ergeben in Anlehnung an Bergson eine Schnittfläche, welche die Intensivierung und Vertiefung des Erinnerungsbildes markiert. Parallel dazu ist über der biografischen Lebenslinie Bedeutungsgehalt der Identität markiert, der in der Selbstvergewisserung des Menschseins endet.

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lichung. Trotz dieses Zusammenhangs geht das Lyrikkapitel von einer Einzel-Analyse der Frühzeit aus, wobei Rosenkranz die einzelnen Gedichte auch in spätere Bände aufnahm. Anhand dieses Beispiels wird ein Kontext von Gedichten eröffnet, denen als solche allerdings keine erschöpfende Untersuchung folgen kann. Sowohl über die Briefe als auch über die Untersuchung der Lyrik wird ab 1957 ein Drängen zur Prosa bzw. zur Narration deutlich. Der dritte Teil der Dissertation, der sich dem autobiografischen Fragment Kindheit sowie vereinzelt auch dem unedierten Typoskript Jugend widmet, nimmt daher in ihre autobiografische Gattungsdiskussion zu „Dichtung und Wahrheit“ auch jene „biografische Skepsis“ auf, für welche die ersten beiden Kapitel (biografisches Quellenkorpus und „Selbstbildnisse in Verse“) bereits die Grundlagen stellten. Die programmatische Unsicherheit und die poetische Verweigerung einer „Referenz“ der eigenen Bio-grafie ist in allen drei Teilen der Selbstbilduntersuchung zentral; in der autobiografischen Prosa allerdings wird sie aus literaturhistorischer Sicht am brisantesten und folgt daher am Schluss. Eine Verquerung der Wahr-nehmung und ein „anderes Verhältnis zu den Dingen“ wird im Kontext der europäischen Lagerliteratur vor allem für die Prosa relevant; diesem Kapitel steht daher ein Exkurs zur poetischen Autobiografie von Autoren aus dem Lager (KZ und Gulag) vor. Anhand dieser Autoren wird der theoretische Teil über die Autobiografie diskutiert, aber auch richtungsweisend für die Lektüre von Rosenkranz’ Kindheit. Von den Briefen über die Lyrik bis hin zur Prosa spiegelt der Aufbau jene Verformung, als die sich im dritten Teil eine poetische Steigerung der Selbstbilder in der Prosa abzeichnet. Diese poetische Verformung lässt sich aber auch an der Distanz des Autors zur poetischen „Form“ beschreiben; in den Briefen und unedierten biografischen Essays ist diese zwischen Schreibintention und Schrift vergleichsweise gering; sie erfährt in der Lyrik als traditionsgemäß intime Gattung eine Ausdehnung und weitet sich in die „große Form“ der Prosa, wo Abbrüche der Erinnerung offensichtlich nur noch über einen Blick „aus der Ferne“, d. h. über eine Selbstdistanz des Autors, eruierbar sind. Die poetische Verformung, die sich im Aufbau dieser Untersuchung

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spiegelt, entgrenzt sich zudem über den Begriff der „Selbstverbildung“ oder einer Ich-Formierung, die poetisch, aber auch in der Schreibintention des Dichters als gegeben angenommen wird und so bezüglich des Prosa-Fragments keine diskursive Abschließbarkeit fordert. Alle Großkapitel werden abschließend zusammengefasst und durch Kommentar und Kontext ergänzt. Erst aber im dritten Teil („Synthese“) werden die phänomenologischen Bezüge zu Bergson, Merleau-Ponty und Straus anhand Rosenkranz’ Poetik reformuliert. Der Hauptteil schließt dabei mit einer vierten grafischen Darstellung über die anfangs eingeleitete „Phänomenologie an der Grenze“. Den Abschluss der Untersuchung macht eine Methodenkritik sowie der Ausblick zu weiteren Fragestellungen, die sich aus dieser ersten Annäherung an Moses Rosenkranz ergeben haben und anstelle einer Einordnung erfolgen. 36 Bewusst werden einzelne Kapitel mit Fremdzitaten eingeführt. Nicht nur stehen diese Künstler, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in direktem Kontakt mit der Werkbiografie von Rosenkranz. Sie stehen hier immer auch unter einem offenen Versuch der Eingrenzung des Gesamtwerks.

36 Gerade hinsichtlich einer „Phänomenologie an der Grenze“ fällt die Betrachtung auch der wissenschaftlichen Struktur bzw. Form kritisch ins Auge, die als Theorie (zugunsten von „Lesbarkeit“ und „Vermittelbarkeit“) immer eine analytisch-ästhetische Linearität über die Gleichzeitigkeit „intuitiver“ Verstandesbilder setzt. Selbst wenn „Theorie“ ein „Akt der Beobachtung“ ist, manipuliert die wissenschaftliche Darstellung nachträglich jede kognitive, reflexive Sicht auf das untersuchte Werk: indem ihm eine argumentative Struktur eingeschrieben wird, die Hierarchien markiert und über Hervorheben und strategisches Zurücksetzen ein neues Bild erzeugt. Jede argumentative Struktur ist daher unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit eine ästhetische: eine der Darstellbarkeit unterlegene.

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5 Primärliteratur und Quellenkritik

Wenn die Quellenarbeit für die Untersuchung der poetischen Selbstbilder auch eine bedeutende Rolle spielt, konnte es dennoch nicht der Anspruch dieser Arbeit sein, das gesamte Quellenmaterial vollständig aufzuarbeiten. Obgleich es sich bei Rosenkranz um ein schmales Werk handelt, hat sich die Quellenlage weder in ihrem Umfang als klein noch für ihre Auswertung als einfach erwiesen. Das Verschollensein zahlreicher Prosa-Texte von Rosenkranz ist nicht nur ein misslicher Umstand; bedeutend wird das „Verschollensein“ auch als solches, wo der Dichter die Werkgeschichte zu seiner persönlichen Biografie macht und sich als „Verschollener“ anhand identifizierbarer „Reste“ vorstellt. 1 Die Tragik des „Verschollenen“2 verweist daher sowohl auf den im Gulag verschollenen Dichter als auch auf das verschollene Werk, das nach dem Abgrund nur noch in „Resten“ auffindbar, d. h. weder für ihn selbst noch für ein mögliches Publikum adäquat begreifbar und damit „wahr-“nehmbar wird. 3 Rosenkranz, der stets die poetische Bewahrung seines Erinnerten, aber auch gegenwärtigen Erlebens suchte, war nach der Gefangenschaft und Zwangsarbeit gezwungen, den Identitätsverlust über die Vergegenwärtigung des Erlebten zu überschreiben bzw. auszuhalten. Das vielbetonte „Ver1 2

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Vgl. Kapitel 7.3.2. Hinweise auf Kafkas Roman Der Verschollene, der bereits 1913 gedruckt wurde, sind keine explizit bekannt. Kafka war Rosenkranz bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Brief an Kaspar Niklaus Wildberger (KNW) am 11. 6. 1993: „[…] Die uns umdetonierenden Ereignisse bergen nicht erst die Gefahr der Sprachlosigkeit, sie haben sie bereits herangeschmettert. Das zeigt sich auch in der Abundanz des Geschwätzes in allen Ausdrucksformen (Literatur, Musik, Malerei usw.), dem entsprechend auch die passive Unfähigkeit sich ausbreitet: es wird auch nichts mehr wahrgenommen. Sie sind der Wenigen einer, der z. B. meine Verse wahrnahm. Nochmals danke ich dafür“. „Wahr-nehmen“ bzw. „Wahrnehmung“ wird in der vorliegenden Arbeit an einigen Stellen auseinandergeschrieben, um auf die Erkenntnisbeziehung zwischen sinnlichem Erfassen von Wirklichkeit und Wahrheit hinzudeuten.

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schollensein“ des Werks sowie das Selbstbild eines „Verschollenen“ wurde so zu einem Mehrwert stilisiert. Der Verlust an Vollständigkeit bedeutet immer auch die Möglichkeit eines schöpferischen Neuanfangs, das heißt einer poetischen Wiedergeburt. Wichtiger als der Verlust war ihm das Bewahrte als ein „Währendes auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ (K19). Diese „Reste“ stehen mit dem Selbstbild in direkter Beziehung: explizit in der Autobiografie als „Fragment der Kindheit“, aber auch in den Erinnerungen von Einzelerlebnissen, die der Dichter in den Paratexten der Lyrikbände, in der Lyrik selbst sowie in der Prosa hervorhob. Die Bedeutung des „Ewigwährenden“ wird in der Untersuchung der Lyrik allerdings da problematisch, wo Rosenkranz seine Werke nur in besonderen Fällen datierte, mehrfach aber um- und überschrieb. 4 Die Briefe aus dem Nachlass von Rosenkranz’ erster Ehefrau Anna Rübner-Rosenkranz ergaben für die Untersuchung der Lyrik wichtige Aufschlüsse. Ihr schickte Rosenkranz ab den 1930er Jahren bis in die 1980er Jahre regelmäßig Gedichte oder auch Entwürfe lyrischer Bücher zur Korrektur; Kommentare zu frühen und neuen Gedichten sowie poetische Vorsätze gelangten zu Rübner zur Begutachtung. Die Korrespondenz, die anders als der Großteil der Gedichte akribisch genau datiert ist, liefert so bedeutend Aufschluss über die Werkgeschichte vor allem der Lyrik. 5 Aber auch kleinere Nachlässe, etwa die privaten Dokumente von Kaspar Niklaus Wildberger (KNW, Privatbesitz, Riehen) oder jene, die George Gut¸u als Verwalter des Nachlasses Alfred Margul-Sperbers (rumänisches Literaturmuseum [MRL] in Bukarest) in der Zeitschrift der Germanisten Rumäniens herausgegeben hat, werden in dieser Untersuchung berücksichtigt.6 Während die Lyrik relativ gut dokumentiert ist, bleibt ein Großteil der 4

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So beispielsweise bei Die Tafeln, für die er sogar weiße Seiten am Typoskript-Ende frei ließ, um im Falle eines Überlebens nach dem Krieg daran anknüpfen zu können. Siehe 8.3 f. Dieser Briefnachlass umfasst drei Mikrofiche-Filme, die den Rübner-Nachlass im LBI New York auch für das Jüdische Museum in Berlin einsehbar machen. Kennzeichnung des LBI: AR 25087, MF 722; die „REEL (1–3)“-Angaben verweisen auf die Mikroficheangaben. Aktuell sind die gesamten Quellen des AR-Nachlasses unter http://www.archive.org/details/mosesrosenkranz einsehbar. Für alle Quellenangaben gilt, dass weder Rechtschreibung noch Satzzeichen korrigiert wurden. Nicht entzifferbare Stellen werden mit „[?]“ vermerkt.

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Prosa verschollen, ist nur mehr fragmentarisch vorhanden, nicht oder nur schwer zugänglich. Mit großzügiger Unterstützung von Doris Rosenkranz und Niklaus Kaspar Wildberger konnten das 1983 verfasste Typoskript Jugend. Versuch über mich und weitere Quellen in die Untersuchung einbezogen werden. Nicht berücksichtigt wurden die beiden unedierten Entwürfe des Kindheits-Fragments. Für diese erste Untersuchung lieferte die edierte Version Stoff genug; eine weitere Erforschung der rosenkranzschen Prosa muss diesen beiden Typoskripten allerdings Rechnung tragen.

5.1 Kurze Werkbiografie Rosenkranz’ Werkgeschichte beginnt mit der Lyrik, die bis 1947 sein poetisches Schaffen maßgeblich bestimmt hat. Bereits 1930 erschien in Czernowitz Rosenkranz’ erster Lyrikband Leben in Versen (Rosenkranz, 1930). In Briefen an Alfred Margul-Sperber schreibt Rosenkranz 1931 von einer „Umarbeit der Jesusgedichte“: ein fünfteiliger Zyklus unter dem Titel Verse um Jesum, der in keiner der hier bearbeiteten Quellen vorgefunden wurde (Gut¸u, 1995a, 164). 7 1934 folgten Die Bilder vom Wesen (unediert) 8 , 1936 Gemalte Fensterscheiben (Rosenkranz, 1936) sowie 1940 Die Tafeln 9 (Rosenkranz, 1940). Seine 1937 vom rumänischen Ministerium für Kultus und Kunst in Auftrag gegebenen Übersetzungen rumänischer Volksdichtungen10 konnten aber nicht mehr erscheinen, ebenso wenig die Anthologie Die Buche von Alfred Margul7 Aus dem Manuskript Jugend geht hervor, dass lediglich „drei Texte“ wieder aufgetaucht seien (Rosenkranz, 1983, 179). Aus den Legenden hätte zudem ein „Jesus-Drama“ entstehen sollen, das Rosenkranz in Czernowitz aufzuführen gedachte. 8 AR 25087 2/36. 9 Der Czernowitzer Buchhändler musste die anfänglich 100 „Tafeln“ der Zensur vorlegen und durfte danach nur noch die Hälfte edieren (Sienerth, 1997, 96). 10 Es handelt sich um die Zusammenstellung des damaligen Ministers Victor Iamandi; Iamandi war politischer Gegner der Eisernen Garde und kam 1940 im Massaker von Jilava ums Leben. Diese Übertragungen zählte Rosenkranz vor allem auch aufgrund eines gewichtigen Nachwortes noch in den späten 1960er Jahren zu seinen wichtigsten. Die gesamte Anthologie befindet sich im LBI: AR

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Kurze Werkbiografie

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Sperber, in der Rosenkranz mit rund 24 Gedichten hätte vertreten sein sollen. 11 Gedichte des rumänischen Dichters Ion Pillat erschienen in der Auswahl und Übersetzung von Rosenkranz unter dem Pseudonym Fritz Thunn in Suceava 1937. 12 Weitere Nachdichtungen von Rosenkranz erschienen 1939 in Leipzig/Jena unter dem Pseudonym Fritz Thunn in Ion Pillats „Rassengeist und völkische Tradition in der neuen rumänischen Dichtung“. 1941 sind fünf Gedichte in der Zeitschrift „Internationale Literatur“ erschienen, dazu ein Auszug mit Nachdichtungen moldauischer und walachischer Volkslieder. 13 Eine Zusammenstellung der späten 40er Jahre ist der aus vier Büchern bestehende und ebenfalls unedierte Band Das deutliche Leben. 14 Von 1945 liegen Übersetzungen der polnischen Dichterin Hanna Kawa im rumänischen Literaturmuseum (MLR) in Bukarest vor, die mit dem Pseudonym EMER für Moses Rosenkranz zeichnen. 15 1947, bereits nach Rosenkranz’ Verschleppung, erschienen Gedichte unter dem Pseudonym Martin Brant als Privatabdruck von Anna Rübner, Immanuel Weissglas und Hermann Roth16 (Brant, 1947). Unmittelbar nach der Freilassung arbeitete Rosenkranz vor allem an Übersetzungen aus dem Rumänischen und an eigenen Prosastücken. Die unerhörte Schlacht, eine Gedichtauswahl mit einem Vorwort von Alfred Margul-Sperber von 1958, ist im MLR aufbewahrt. Erst wieder 1971 veröffentlichte Paul Schuster 27 Gedichte von Rosenkranz in der Zeitschrift Neue Literatur. In derselben Zeitschrift findet sich 1978 auch eine lyrische Hommage von Rosenkranz an Sonja Tolstoja (Rosenkranz, 1978). Für Neuordnungen früher wie später Lyrik zeugen mehrere Typoskripte, wobei er in den achtziger Jahren als letztes Das poetische Werk in acht Büchern zusammenfasste. Diese Lyrikbände enthalten teils publizierte, teils vom

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25087 2/38. Gut¸u macht auf eine weitere Version desselben Manuskripts im MLR aufmerksam. Dieses sei mit Fritz Thunn gekennzeichnet. Diese Anthologie ist 2009 von Stefan Sienerth, Peter Motzan und George Gut¸u erstmals herausgegeben worden: (Gut¸u und Motzan, 2009). Vgl. auch (Schifferle, 2010). Vgl. (Gut¸u, 2004, 95). Internationale Literatur, Jg. 11, 1941, Nr. 2, S. 24–25. AR 25087 2/42. MLR 25006–211. So die Notiz des Vorworts im Nachlass Das lyrische Werk, S. 3.

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Dichter noch vor dem Druck verworfene Gedichte. 1982 wurden sieben Gedichte in der Neuen Zürcher Zeitung mit einer Einführung von Kaspar Wildberger gedruckt. 1986 und 1988 erschienen im südostdeutschen Kulturwerk die Gedichtbände Im Untergang. Ein Jahrhundertbuch und Im Untergang II, 1998 bei Rimbaud Bukowina. Ausgewählte Gedichte 1920– 1997. Neu erschien 2009 in der Zusammenstellung von Doris Rosenkranz der Band Visionen (Rosenkranz, 2007). Diese Gedichtbände gingen aus einer Zusammenarbeit des Dichters mit Doris Rosenkranz sowie den Verlegern hervor und entsprechen explizit keinem der rosenkranzschen Eigenentwürfe. Was die Prosa betrifft, ist als frühestes Werk von Rosenkranz die Autobiografie Traum und Leben einer Königin 17 erhalten, die der Dichter 1935 im Auftrag der rumänischen Königin als Ghostwriter verfasste. Die ebenfalls in Rumänien entstandenen Prosa-Schriften Der Hund 18 und Die Leiden der Eltern sind bisher unauffindbar geblieben. Ebenso blieb das Versepos Der rote Strom, eine „Epopöe der kommunistischen Partei der Sowjetunion“, die Rosenkranz aus politischen Gründen in Bukarest nicht veröffentlichen konnte, lange Zeit verschollen 19 . „Alle meine Arbeiten“, erinnert sich Ro17 Maria von Rumänien: Traum und Leben einer Königin, Paul List Verlag, 1935. Aus dem AR-Nachlass geht hervor, dass zwischen 1933 und 1938 Anna Rosenkranz für die rumänische Königin in Bukarest „din engleza in lîmba germana“, aus dem Englischen ins Deutsche, übersetzt hat. Inwieweit Anna Rübner an Rosenkranz’ Ghostwriter-Arbeit beteiligt war, ist unklar. 18 Der nie beendete Roman wird in den Briefen mit unterschiedlichen Titeln erwähnt: „Sklave und Hund“ als „Roman der Einsamkeit“, „der ein Unikum der Weltliteratur“ werden soll; „Sklave und Hund, ein Höllenroman“, der nicht mehr als 300 Seiten umfassen soll. „… ich nenne ihn endgültig ‚Nero‘“, schreibt er am 29. 1. 58, dann als endgültiger Titel am 5. 2. 1958: „Nero, ein Säkulargemälde“, nachdem er „bereits 1/5 des Romans fertig“ habe. Offenbar war auch ein Vertrag mit dem Staatsverlag geplant, aber im Juni 1958 berichtet Rosenkranz, dass er den Roman in der Mitte habe liegen lassen: „Das ist meine Krise“. Diese „Gemütskrise“ hat zum Inhalt, „was lebenslang schon aller meiner Krisen Inhalt war: meinen Schaffensdrang. Nur ihn und nichts sonst“ (23. 6. 1958, Reel 1, MF 722, AR 26053). 1963 schreibt er an Rübner von einer Komödie unter dem Titel „Dondon“ (AR 25087, Reel 2, n5). 19 Manuskript, Bukarest, 1959. Heute Privatbesitz Doris Rosenkranz.

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senkranz Ende der 1990er Jahre, „die ich zwischen 1957 und 1961 rumänischen Verlagen anbot, hatten keine zeitgefällige politische Gestaltung und wurden deshalb nicht herausgebracht. Das gilt sowohl für die Prosafragmente Der Hund und Die Leiden der Eltern und für den Gedichtband Aurora als auch für das Versepos Der rote Strom. Von Paul Schuster erfuhr ich, dass die Securitate einen Prozeß gegen mich vorbereitete. Wie im Falle meines rumänischen Schriftstellerfreundes Vasile Voiculescu […] sollte ich auch aufgrund einiger poetischer […] inhaftiert werden. Das veranlaßte mich, das Land zu verlassen“ (Sienerth, 1997, 98). Die Kindheitserinnerungen, die er ein Jahr nach seiner Rückkehr aus dem Gulag begonnen hat, ist als einziges Prosafragment an die Öffentlichkeit gelangt. Im selben Jahr, 1958, schreibt er in Anlehnung an die Nachdichtungen rumänischer Volkslieder von 1937 einen Essay zur „rumänischen Poesie“. 20 1961 diktierte er an Anna Rübner einen „Essay über Russland“ 21 , in dem er geopolitische Ursachen, aber auch kulturelle, literarische und religiöse „Phänomene“ der Sowjetdiktatur empirisch zu erörtern versucht. Persönliche Erfahrungen aus dem Lager werden darin nicht angesprochen. Ein letzter Prosaversuch aus den 1980er Jahren ist der „versuch über mich“: das Typoskript Jugend als Fortführung der Kindheit, das bis dato auf der verzögerten Editionsliste des Rimbaud-Verlags steht (Rosenkranz, 1983). 22

20 AR 25087, 2/39. 21 „Essay on Russia“, LBI: Writings, Series II, n552–n573. 22 George Gut¸u hat es 2010 in der japanischen Zeitschrift der Gesellschaft für Germanistik in Tohoku auszugsweise öffentlich gemacht (Gut¸u, 2009).

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6 Forschungsrückblick und Literaturkritik

Die nur wenigen Forschungsarbeiten zu Moses Rosenkranz haben den deutschjüdischen Dichter im Kontext der Bukowinaliteratur untersucht. Die Bukowina als „Literaturlandschaft“ wurde wie auch ihre Vertreter mehrheitlich in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg betrachtet. Nach dem Untergang dieser vor allem deutsch-jüdischen Lyrik im Zweiten Weltkrieg sind die Dichter im Exil – außer im Falle Rose Ausländers und Paul Celans – fast ausschließlich vor dem Hintergrund der Shoah in die Forschung eingegangen; signifikante Unterschiede zwischen einem Schreiben vor und nach der Zäsur wurden bei den einzelnen Autoren bisher nie befragt. 1 Dass die exilierten Dichter auch in ihrer neuen Heimat weiterhin über die „Bukowina“ schrieben und zudem meist ein Forscherkreis sich ihrer annahm, der seinerseits bukowinischer bzw. rumäniendeutscher Herkunft war, mochte dazu beitragen, dass die Rezeption dieser Werke im binnendeutschen Wissenschaftsraum bis heute relativ gering blieb. 2 Die „Bukowina“ wurde dabei oft als schöpferischer Topos der Heimat der Dichter angesehen, die in der Apostrophe ihrer Gedichte belebt wieder aufscheint. Erst in den letzten Jahrzehnten ergibt sich aus der Interdisziplinarität von Kulturwissenschaften, Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Slawistik eine Durchkreuzung der Fragestellungen und damit auch eine Bereicherung der Forschungsinteressen und -ziele; 3 als ein transkultureller Raum 1

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Amir Eshel versucht dies in: Zeit der Zäsur: jüdische Dichter im Angesicht der Shoah (Eshel, 1999) Heinrich Erk zu Gedichten von Rosenkranz (Erk, 1995, 207). Die Edition Ghosts of Home von Marianne Hirsch und Leo Spitzer fragen in ihrem kulturhistorischen Band nach den heutigen Spuren und Wiederbelebungsversuchen der historischen deutsch-jüdischen Symbiose (Hirsch und Spitzer, 2010). Claire de Oliveira macht auf diesen Umstand der Forschung in ihrer Untersuchung der deutschen Regionalliteratur Rumäniens aufmerksam (de Oliveira, 1995). An der Uni Wien besteht seit 2008 ein Doktorandenkolleg, das sich mit dem österreichischen Galizien zwischen 1772 und 1918 beschäftigt. Dabei soll die „Multikulturalität“ der historischen Landschaft mit einer „Multidisziplinarität“

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wird die Bukowina so nicht nur differenzierter wahrnehmbar; das Phänomen eines multikulturellen Topos, „in dem Menschen und Bücher lebten“ (Paul Celan), wird so von anderen Standpunkten her ausleuchtbar. 4 Der folgende Forschungsüberblick und die Literaturkritik dienen hier dazu, mögliche Synergien zwischen bisherigen und neueren Ansätzen aufzuzeigen. Als eine Kritik „bukowinischer“ oder ausschließlich „deutsch-jüdischer“ Identifikationskriterien soll hier geltend gemacht werden, dass ein existentielles, poetisches Identitätserschreiben vor allem das „Menschsein“ per se kollektiv wie auch individuell befragt. Die Befragung des Menschseins unter ständiger Bedrohung, der eigenen Menschenwürde von außen entzogen zu werden, formulierte Rosenkranz 1958, unmittelbar nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, in einem Essay über die rumänische Dichtung als eine Entwicklung vom „originellen Ich zum mythisch-persönlichen einer Allgemeinheit“. 5 Nach dem kompletten Bruch der Zivilisation sucht der Dichter als Teil der Menschheit nach einer subjektiven Wiederverortung „in der Welt“. Diese Welt braucht wieder einen Namen; mehr noch aber als der Name dieser eigenen Welt selbst dürfte für die (auto-)biografische Untersuchung ein In-der-Welt-Sein des Dichters prioritär sein. Der wiederbenannte Topos „Bukowina“ kann unter demselben Namen eine neue Figur hinter den Buchstaben bedeuten, die aus der Landschaft der Erinnerung ihr Profil bekommen hat.

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der Forschungsansätze kombiniert werden. (http://sk-galizien.univie.ac.at.) Weitere wichtige Forschungsinstitutionen sind das Bukowina Zentrum an der Universität Czernowitz oder das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) München. Aktuellste Editionen in diesem Zusammenhang: Kurt Scharr: „Die Landschaft Bukowina“: das Werden einer Region an der Peripherie 1774–1918, Wien, 2010; Renata Makarska: Der Raum und seine Texte, Diss., Jena 2007; Natalia Borissova et al. (Hrsg.): Zwischen Apokalypse und Alltag, transcript, Bielefeld 2009; Serhij Osatschuk, Oleg Ljubkiwskij: Homo Czernowiciensis, Anthropologia urbana, Czernivci 2009. Essay über rumänische Poesie, 1958: AR 25087 2/39.

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6.1 Kulturhistorische Ansätze einer deutschsprachigen Bukowinaliteratur Die Erforschung der deutschsprachigen Bukowinaliteratur beginnt in den 1980er Jahren im Zuge verstärkten Interesses an Interkulturalität, Kulturwissenschaft und Xenologie sowie am Werk Paul Celans 6 ; auf Letzteren hat sich die Bukowinaforschung anfänglich auch beschränkt.7 Trotz der aufkommenden Regionalismusdebatte in der Literaturwissenschaft fanden in deutschen und amerikanischen Anthologien Bukowiner Dichter keine Aufnahme. 8 Erst ab den 1990er Jahren wurden vermehrt andere Dichter dieses Herkunftsgebiets vor allem in Überblicksdarstellungen, Anthologien 9 , in den Blick genommen. 10 Die Beschäftigung mit einzelnen Autoren und Autorinnen beschränkte sich zumeist auf einordnende Kurzfassungen ihrer Werke sowie bibliografische Veröffentlichungen und Abdrucke aus Nachlässen oder Zeitschriften.11 Peter Rychlos Anthologie Die verlorene Harfe macht konzeptionell auf die „Vielfalt ästhetischer Programme“ in der Zwischenkriegszeit aufmerksam und legt die wichtigen Elemente und Mythen der kulturellen Durchmischung kritisch dar (Rychlo, 2002b, 14).

6 Vgl. (Strelka, 1995). 7 Zwei der ersten Erforschungen des Werks Paul Celans stammen von George Gut¸u 1977 (Gut¸u, 1977) und Barbara Wiedemann 1985 (Wiedemann-Wolf, 1985). 8 Eine Ausnahme bildete Marianne Hirsch mit ihrem Beitrag „Welch Wort in die Kälte gerufen“ zur Judenverfolgung im deutschen Gedicht (hrsg. v. Heinz Seydel, 1968.); oder auch die Grazer Konferenz von 1987 zum Thema Die deutschsprachige Literatur der Bukowina. 9 Für eine Forschung, die sich einem noch unbeackerten Feld zuwendet, sind Anthologien zweifelsohne geeignete Formate, um sich komparatistisch, über Ausbreitung und Betrachtung des qualitativen wie quantitativen Umfangs, anzunähern bzw. das Feld zu erschließen. 10 (Kolf, 1982), (Werner, 1991), (Rychlo, 2004), (Rychlo, 2002b). Eine bedeutende historische Anthologie, die kritisch neu ediert wurde ist Die Buche von Alfred Margul-Sperber (Gut¸u und Motzan, 2009). 11 Literarische Jahrbücher, Almanache und Zeitschriften haben in der österreichischen Bukowina bereits seit dem 19. Jahrhundert Tradition. Zu einem ersten deutschsprachigen Feuilleton gehören die „Buchenblätter“ der 1860er Jahre, ediert vom Wahlbukowiner Ernst Rudolf Neubauer. Vgl. (Strelka, 1995, 219 f.).

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Die Aufarbeitung einer „verschollenen“ Literaturlandschaft über Sammelbände und Anthologien ist gerade für einen kulturellen Raum bedeutend, in dem aus geopolitischen und nationalistischen Gründen die Grenzen immer neu gezogen und die Geschichte immer wieder anders geschrieben wurde. 12 Die Auseinandersetzung mit poetischen Einzelwerken, außer im Falle von Celan und Ausländer, ist dabei vernachlässigt worden, und dies selbst dann, wenn die Bukowina immer wieder als „mehr als nur ein literarischer Topos“ bezeichnet wurde (Schmitt, 2003). Vorherrschend ist bis heute eine bukowinische Literaturgeschichte, die sich (werk-)biografische Zugänge an die Dichtung verschafft, mit dem Ziel, die historischen Vertreter dieser Literaturlandschaft einerseits bekannter zu machen, andererseits auf die Biografien der Dichter zu verweisen, in denen sich ein spezifischer Zusammenhang zwischen Leben und Werk aufdrängt oder tatsächlich auch aufscheint.13 Die binnendeutsche Rezeption bekundet wiederum ihr Interesse, indem sie weniger die poetische Auseinandersetzung sucht, als vielmehr von diesen Dichter-Schicksalen beeindruckt scheint.14 Die komplexe Frage nach der „Identität“ und poetischen Selbstzuschreibung der einzelnen Dichter geht dabei meist mit einer Verordnung ihrer Selbstbilder im topografisch-historischen Raum einher. 15 Der Landschaftsbegriff spielte in der historischen Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle. 16 Andere Identifikationsfaktoren, die das poetische Schreiben „Bukowiner“ Autoren nicht nur von einem mythifizierten Hintergrund loslösen, sondern dieses für die Bukowiner Dichtung bedeutende Interpretament des Mythos’ in seiner historischen Verwandlung sehen, sind rar. 17 12 Beispiele: (Schwob, 1994), (Schwob, 1992), (Schmitz, 1999), (Hofbauer und Weidmann, 1999), (Florstedt, 1998), (Röskau-Rydel, 1999). 13 Ein Beispiel dafür ist die neu auch ins Ukrainische übersetzte (2010) Zusammenstellung deutscher, ukrainischer und rumänischer Bukowiner Literatur, konzipiert und verfasst von Petro Rychlo und Oleg Ljubkiwskij (Rychlo und Liubkiwskyi, 2007). 14 (Sienerth, 1997), (Bergel, 2002). 15 (Wallas, 2002), (Rychlo, 2002a), (Corbea-Hoisie, 2002). 16 (Cybenko, 2004), (Lipinski, 1995), (Klanska, 2004), (Kolf, 1982), (Beck, 1985). 17 Larry Wolff verfolgt einen solchen Ansatz, wobei ihm eine umfassende Kulturgeschichte Galiziens gelang, die historisch-politische Strukturen historisch aufdeckt und geistesgeschichtlich reflektiert (Wolff, 2010).

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Neueste Vorstöße in diese Richtung stammen vom Lemberger Literaturwissenschaftler Tymofiy Havryliv, der auf die Bukowiner Dichtung in seiner Monografie zur „Identität in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ zurückgreift (Havryliv, 2008); Petro Rychlo ist als profunder Kenner der Bukowiner Sprach- und Kulturenvielfalt sowie als Literaturwissenschaftler in diesem Gebiet der erste, der die Bukowiner deutsche Literatur in ihrem historisch-kulturellen Kontext über die literaturgeschichtliche Beschreibung hinaus untersucht und substantielle Fragen der Identität in einem erweiterten Kontext ausrichtet (Rychlo, 2008). Paul Celan selbst hat in seiner Büchnerpreis-Rede bereits 1960 auf eine andere Apostrophe seiner Bukowiner Herkunft aufmerksam gemacht und damit die Bukowina als Erinnerungsraum zwischen Heimat und Fremde, in einem von der Geschichte losgelösten Ort des Dazwischens, verstanden. Unsicherheit oder auch berechtigte Ambivalenz in der Begriffs- und Phänomenbestimmung der deutsch-jüdischen Lyrik führte in der Forschung zu einer Begriffsethnografie, deren Feld über „multikulturelle“ (Peter Rychlo), „interkulturelle“ (Klaus Werner), „regionalliterarische“ und/oder „rumäniendeutsche“ (George Gut¸u, Claire de Oliveira) sowie „zonal systemische“ (Klaus Werner) Koordinaten abgesteckt wird. 18 Marianne Hirsch geht der Frage nach, wie die Bukowiner Literatur überhaupt ins Studium der Literaturwissenschaft aufgenommen werden kann: als „Holocaust-Literatur“, als eine „fünfte deutsche Literatur“ oder als eine eigenständige „deutschjüdische Literatur“? Solche Ordnungs- und Benennungsversuche widerspiegeln die Heterogenität dieses kulturellen Raumes, widersprechen ihr aber im Wissenschaftlichen zugleich, da er in seiner Geschichte immer von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 19 beherrscht war. Kulturhistorische Definitionen versuchen seit den 1990er Jahren 18 Rychlo ergänzt hier mit historischen Umschreibungen, die mit einem „Babylon des südöstlichen Europas“ oder „Alexandria Europas“ bereits während der Habsburger Monarchie auf Urmythen der Weltgeschichte zurückgriffen (Rychlo, 2002b, 10). 19 Für ein widersprüchliches Bild von Galizien sorgten Rückständigkeit und Avantgarde zur gleichen Zeit: Die Erfindung der Kerosinlampe und die erste Straßenbahn in Lemberg gingen mit einem lange auf sich wartenden Eisenbahnanschluss

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immer mehr auch eine Dekonstruktion des Mythos von der vielbenannten „Vielvölkersymbiose“ (Eikenberg, 2006). Es zeigt sich, dass noch in der Abrede der dekonstruierte Mythos fortlebt. Interessanter als der Versuch, den „Mythos“ geschichtswissenschaftlich und begrifflich zu dekonstruieren, ist vielleicht die kulturwissenschaftliche Frage, warum dieser Mythos, neben anderen in diesem Raum, in seiner Opakheit bestehen bleibt. 20 Mythen sind immer eine narrative Form, die weniger inhaltlich überdauert, als ein Bestehen in Bewegung meint. Die „Arbeit am Mythos“ 21 scheint für die Bukowiner Dichter und Künstler gerade dadurch eine immer aktuelle Gegenwart bereit- oder vorgestellt zu haben, die in einem mythenlosen und damit formlosen Erinnern ausschließlich „Vergangenheit“ hieße. Das für die Geschichte der galizischen und Bukowiner Literatur bedeutende Element eines ahistorischen Mythologischen wurde bisher mehr von der ukrainischen und polnischen als von der germanistischen Literaturwissenschaft behandelt.22 Gleichermaßen wird hier eine Komparatistik ausschlaggebend, die den kulturhistorischen Kontext der deutschsprachigen Bukowi(1867) einher; ähnlich progressiv verhielt sich die Bukowiner Lyrik in der für Dichter ungünstigen Zwischenkriegszeit. 20 Die ausführlichsten historischen Beiträge hierzu stammen neben Beiträgen von Peter Motzan und Stefan Sienerth von der Südosteuropa-Expertin Mariana Hausleitner, vgl. (Hausleitner, 2001). 21 An späterer Stelle wird auf Blumenbergs Mythostheorie eingegangen. Sie wird als eine Strategie zur Wirklichkeitsdistanzierung für die Dichter der europäischen Lagerliteratur bedeutend. 22 Für eine aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektive sei hier als Klammer erwähnt, dass in der gegenwärtigen, vor allem gebildeten Gesellschaftsschicht von Czernowitz sich die österreichische Zeit einer Renaissance besonderer Art erfreut: Nicht (nur) nostalgisch und ebenso wenig eine rein sachlich-wissenschaftliche Reflexion zeigt sich in den oft auch künstlerischen Vergegenwärtigungsdiskursen, wobei historisches Wissen und aktuelle sozio-politische Zustände in eine neue Verknüpfung eingehen und so eine Form finden, die der einstigen „Multikulturalität“ mit einem Perspektivenbündel der Gegenwart begegnet. Ein Beispiel dafür ist der seit 25 Jahren konzeptuell am Czernowitzer Mythos arbeitende Grafiker, Buchgestalter und Maler Oleg Ljubkiwskij. Seine Bilder, vor allem aber Künstlerbücher, reagieren in akribisch kritischer Weise auf die poetische Blütezeit „seiner“ Stadt (Czernowitz) sowie auf die Habsburgerzeit vor dem Ersten Weltkrieg. Vgl. (Rychlo und Liubkiwskyi, 2007), (Ljubkiwskij, 2003), (Braun, 2006).

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naliteratur ausweitet und damit auch komplexer angehen lässt (Kaszynski, 1991). Die Grenze, vor der die literaturwissenschaftliche Forschung in diesem Falle meist Halt macht, hinter der aber auch eine neue Geltung und Genese des beredten Topos „Bukowina“ aufscheint, kann letztlich nur mit einem (geo-)poetologischen Ausgriff überwunden werden. Eine immanente Beschäftigung mit dem Gegenstand ist gefordert, die nicht jenseits der historischen Faktenlage erfolgt, aber einen „Raum“ umreißt, in dem die „Geschichtslosigkeit“ (Paul Celan) des einzelnen oder auch „einsamen“ Werks (nach Blanchot) bedeutsam wird. 23 In diesem oder ähnlichen Sinne kann die Bukowiner Literaturlandschaft aus den topografischen Grenzen ausbrechen und in einem poetischen Rahmen über weitere Perspektiven ausgeleuchtet werden. Amir Eshel bemerkt hierzu, dass eine „Diskrepanz gemessener und erlebter Zeit und der Distanz zur Darstellung historischer Zeiten“ gerade auch ein Wesensmerkmal jüdischer Lyriker der Shoah darstellt: „Auch wenn die Narration auf geschichtliches Material Bezug nimmt, dienen die beschriebenen Ereignisse nicht der historischen Klärung […] Die Shoah dient insofern als Ausgangspunkt einer Narration, die Zeit stets transformiert. Seine Adressaten spricht der Text aus der Perspektive konstruierter Vergangenheit an, die ein Jetzt-Ereignis in schriftlicher Form, eine Gegenwart ist“ (Eshel, 1999, 359). Damit ist für diese Untersuchung keine Abkehr von der bisherigen historischen Bemühungen gemeint; vielmehr muss ein weiterer Sprung in eine für die Poetik bestimmende „Geschichtslosigkeit“ gewagt werden, die gerade aus der absoluten Zäsur der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgeht. Ein solcher Zugang nimmt das „Ereignis“, und damit auch die räumlichen und zeitlichen Koordinaten, zur Voraussetzung, das Ereignis selbst aber nicht als einzigen historischen Gegenstand der Forschung; ein immanenter poetischer Zugang an diese „Literaturlandschaft“ meint somit nicht nur, dass die Erinnerungsorte der Autoren nach ihrer 23 Gut¸us Untersuchung zeigt „Teilmechanismen in ihrer genetischen Prozeßhaftigkeit, in ihrer ideen- und geisteswissenschaftlichen“ sowie „mentalitätsgeschichtlichen Bedingtheit und Wirkung“ am Fallbeispiel der Bukowina auf (Gut¸u, 2002).

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biografischen Zäsur betrachtet und reflektiert werden; sondern auch, dass das kulturelle, poetische Faszinosum „Bukowina“ im Sinne Werner Nells von seinen „nationalkulturellen“ (hier gemeint: bukowinischen) „Repräsentationsmustern“ befreit und an neue Kontexte anbindungsfähig wird (Nell, 2005, 141). 24

6.1.1 Möglicher Zugang: littérature mineure Eine Bukowiner Dichtung, wie sie den Literaturhistorikern vorschwebt und wie diese sie in wissenschaftlichen Abhandlungen zu rekonstruieren versuchen, hat es nie gegeben. Es gab nur einzelne Schreibende, und jeder hat auf seine Weise zur Literatur gefunden (Rosenkranz, 1998, 147).

Auch wenn das politische Umfeld und die soziokulturellen Bedingungen gerade für das lyrische Schreiben in der Bukowina der 1930er und -40er Jahre in paradoxer Weise bestimmend waren – ein nicht zuletzt auch immanentes Verstehen von Dichtung muss, wie es Maurice Blanchot in La Solitude Essentielle darstellt, über die Geschichte hinausgehen und sich der Sprache in ihrem Ansichsein widmen: „Der das Werk schreibt, wird beiseite gestellt“ und „es [das Werk] kennt die Suche nach Unterschiedlichkeit“ nicht, „denn es ist“ (Blanchot, 1984, 10). Um den Versuch, diese Unabhängigkeit vollendeter poetischer Wirkungskraft zu beschreiben, kommt keine Beschäftigung mit Dichtung herum; um so weniger eine, die sich Rosenkranz’ als eines „Sonderfalls“ der Bukowiner Dichter annimmt. Alfred Margul-Sperber war als Entdecker und Förderer von Rosenkranz auch sein erster öffentlicher Rezensent. 1930 publiziert er im Czernowitzer Morgenblatt den „Brief an einen Dichter“, in dem er der Herkunft der offensichtlich herkunftslosen, sprich deterritorialen Sprache von Rosen-

24 Das poetische „Wort“ greift somit aus, befreit sich wie das celansche antibiografische Ich (im „Meridian“) und kehrt nach dem Umweg zurück: offener und kompakter zugleich, weil sich die Tropen im Topos wiederfinden, weil die „Zeit“ den Kreis, das Rad der Kunst wie den Raum, durchkreuzt und in das absolute Gedicht, falls es dieses Ende gäbe, alles noch im Sprachlosen vereint.

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kranz nachgeht. Rosenkranz sieht er dabei quasi als bereits emanzipierte Verdichtung des „Bukowiner Kulturbodens“: Lieber Herr Rosenkranz, es gibt ein japanisches Gedicht, in dem davon die Rede ist, dass jemand sein verfehltes Leben betrauert: er hätte nicht in der rauen Wirklichkeit, sondern in einem Bilde von ‚Hokusai‘ geboren werden müssen. An dieses hübsche Motiv muss ich immer wieder denken im Gleichnis natürlich, wenn ich die Tatsache ins Auge fasse, dass Sie ausgerechnet in diese Zeitläufe hineingeboren worden sind. Welche ist Ihre Muttersprache? Doch nicht Deutsch? denn die hierzulande gesprochene Sprache kann schwerlich so geheissen werden. Bildungsstätten, in welchen die Sprache gelehrt wird, die Sie für Ihre Dichtungen gewählt haben, gibt es hier längst nicht mehr – aus welchem Kulturboden also haben sie die Kraft und das Mark gesogen, die vielen Ihrer Dichtungen in so ausserordentlichem Masse eigen sind? Muss man da nicht an das Wunder glauben, dass in der Bukowina, selbständig und losgelöst von jedem Zusammenhange mit dem Ursprungsgebiete, erst jetzt, im Herzen eines mit aller Macht assimilierenden Grossrumäniens, ein Zweig der deutschen Sprache schöpferisch rege zu werden beginnt, in dem so vollendete Dinge geschaffen werden können, wie es viele Ihrer Gedichte sind? (Margul-Sperber, 1930).

Von einer „Kraft zur Sublimierung“ wird auch in der Bukowinaforschung immer wieder gesprochen, wenn es darum geht, das Phänomen ihrer lyrischen Blüte während der Zwischenkriegszeit zu begreifen (Strelka, 1995, 228). 25 Eine spezifische und doch referenzlose poetische Kraft, welche die Bukowiner Lyriker verbindet, erhält im Begriff der littérature mineure einen möglichen Deutungsansatz.26 Nach Deleuze und Guattari bedeutet die Sprache „kleiner Literaturen“ eine „Sequenz aus lauter Intensivzuständen“, 25 Dass die Lyrik für die Literatur der Bukowina prävalent war, hat nicht zuletzt mit den politischen Umständen zu tun, welche im mangelnden oder schon gänzlich unterbundenen Verlagswesen ihre Konsequenz hatten. Kurze Texte und Gedichte waren leichter in einer Zeitschrift unterzubringen, kostengünstiger zu publizieren, aber auch schneller zu verfassen oder der Zensur fernzuhalten. 26 Die littérature mineure passt auch in den Kontext einer Phänomenologie nach Bergson, wo dieser ein lebendiges Gedächtnis mit dem Begriff der „Intensität“ zu fassen versucht. Weiterführend: „Annales bergsoniennes“: Bergson, Deleuze, la phénoménologie. Presses Universitaires de France, Paris 2004.

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die sich aus dem bewussten Hervorheben und Betonen unterschiedlicher Merkmale der Minderheitensprache zusammensetzt. Diese Merkmale sind neben „Deterritoriaisierung der Sprache“ und „Kopplung des Individuellen aus unmittelbar politischen, kollektiven Aussageverkettungen“ auch „Kennzeichen sprachlicher Armut“ (Deleuze und Guattari, 1976, 27): eine Häufung von Wörtern oder ein Gebrauch von Allerweltswörtern, die Kafka kreativ-künstlerisch zu gebrauchen wusste. Jedes sprachliche Werkzeug – „éléments intensifs ou tenseurs“ – ermöglicht, die „inneren Spannungen einer Sprache“ zum Ausdruck zu bringen (Deleuze und Guattari, 1976, 32 f.). Diese Intensivierer streben die Grenze eines Begriffs an oder erlauben, diese sogar zu überschreiten. Umgangssprachliche Elemente oder auch Wiederholungen wirken daher nicht als Zeichen von Spracharmut, sondern werden durch die künstlerische Anwendung umgeformt und aufgewertet. Dabei erhalten sie nicht zuletzt ein politisches bzw. revolutionäres Potential. Diese Intensivierer sind in so genannt „kleinen Literaturen“ besonders entwickelt, wobei „klein“ nicht auf die Marginalität der Sprache hinweist, sondern auf die „revolutionären Bedingungen jeder Literatur“ (Deleuze und Guattari, 1976, 27), wie sie auch in Rosenkranz’ „Versen mit einem Hintersinn von Rebellion“ erkennbar sind. Was Rosenkranz’ persönliche Einstellung zur Sprache betrifft und die innere Notwendigkeit seines Schaffens miteinschließt, verweist auf eine Sprache, die „ihr repräsentatives Dasein auf [-gibt], um sich bis an ihre Extreme, ihre äussersten Grenzen zu spannen“ (Deleuze und Guattari, 1976, 33). 27 Amy Colin verweist in der Bukowinaliteratur auf eine „marginale, deterritorialisierte Literatur par excellence“ (Colin und Kittner, 1994), wie Deleuze und Guattari mit Franz Kafka bereits die Prager deutsche Literatur beschrieben haben. Als wichtiges Kriterium einer Bukowiner littérature mineure gilt aber der Umstand, dass die dichterische Blüte in eine Zeit fiel, für die es nicht nur für das Schreiben, sondern auch das Verlegen von Büchern kaum mehr Möglichkeiten gab. Anders wiederum als in der Prager 27 Rosenkranz und Margul-Sperber verzichteten auf ein „repräsentatives Dasein“ in ihrer Poesie und wehrten sich auch in der Zeit des Expressionismus vehement gegen formale Experimente. Beide waren nach Rosenkranz’ eigenen Angaben „Dichter“, die „ins Dasein verliebt“ waren (Gut¸u, 1995a, 160).

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deutschen Literatur wurde in der Bukowina neben Lyrik kaum Prosa verfasst. Zählt man zur Bukowina-Literatur aber auch später entstandene oder nie zum Druck gelangte Prosa-Schriften (z. B. Rosenkranz, Appelfeld), zeigt sich auch hier eine Ansammlung von „Intensivzuständen“, wie sie in der Definition der littérature mineure gegeben sind. Eine „dichte Substanz und klobige Struktur“ der so genannten littérature mineure wird hier aber grundsätzlich für Deutsch als der nicht angestammten Sprache beschrieben: Das Prager Deutsch ist zwar, und im Gegensatz zum Bukowiner Deutsch, weder terminologisch fundiert noch als homogene Minderheitensprache zu verstehen. Die wissenschaftliche Diskussion um Kafkas deutsche Literatursprache zeigt dennoch in gleicher Weise, dass der literarische Gebrauch einer Varietätensprache für die Wissenschaft einer Rechtfertigung bedarf. Deutsch war für viele Dichter in Czernowitz nicht nur mit einem hohen Anspruch an sich selbst verbunden; es resultierte daraus auch eine Auseinandersetzung mit einer deutschen Varietät, die sich von der politisch geprägten deutsch-deutschen Sprache jener Zeit deutlich unterschied. Die deutsche Sprache der Bukowina kann insofern per definitionem als eine Minderheitensprache angesehen werden. In Verbindung mit der erwähnten „inneren Notwendigkeit“, die der Bukowiner Poesie und eben den Kleinen Literaturen inhärent ist, muss nach einer poetischen Wirkungskraft gesucht werden, die literarisch nicht allein Authentizität schafft, sondern auch ins Gegenteil von Repräsentation führt: zu einem natürlichen, fast ontologischen Dasein von Sprache, sprachlicher Form und Sprachgebrauch, wie sie von Bukowinern, aber auch galizischen Dichtern in jeweils individuellem Ausdruck (auch in Prosa) versucht wurde: in der Suche nach einer „privat-mythologischen“ Ur-Sprache wie bei Bruno Schulz oder in Rückgriff auf das goethesche Ideal, wie es Gut¸u für Rosenkranz, Manès Sperber und Elias Canetti zusammenfasst (Gut¸u, 2009). Über die „sublime Kraft“ und das „ontologische Dasein“ poetischer Bild-Präsenz ist ein weiteres Argument für die vorliegende phänomenologische Untersuchung gegeben. Merleau-Pontys „imaginärer Leib“ der Prosa, der „lebendiger ist als der eigene“ und als solcher eine „sublime Existenz“ zwischen Ich und Welt andeutet, geht mit der „sublimen Kraft“ Strelkas als Mittlerin zwischen Dichter und Leser, Ich und Welt, grundsätzlich zusam-

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men. Eine „Konnotation von Schmerz“, die „diese Verwandlung [der deutschen Sprache einer kleinen Literatur] begleitet“ (Deleuze und Guattari, 1976, 33), begründet auch die intensivierte Wahrnehmung und Schreibmotivation, welche an späterer Stelle dieser Untersuchung bei Rosenkranz relevant sein wird.

6.1.2 Bukowiner Literatur zwischen deutsch-jüdischem Selbstverständnis und Identitätsbruch Die verschiedenen Spracheinflüsse färbten natürlich auf das Bukowiner Deutsch ab, zum Teil recht ungünstig. Aber es erfuhr auch eine Bereicherung durch neue Worte und Redewendungen. Es hatte eine besondere Physiognomie, sein eigenes Kolorit. Unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinandergriffen und dem Wortlaut, dem Laut- und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten. […] Altjüdisches Volksgut, chassidische Legenden „lagen in der Luft“, man atmete sie ein. Aus diesem barocken Sprachmilieu, aus dieser mythisch-mystischen Sphäre sind deutsche und jüdische Dichter und Schriftsteller hervorgegangen (Ausländer, 2001, 9–10).

Rose Ausländer verweist hier nicht nur auf die bedeutende deutsch-jüdische Symbiose der Bukowiner Dichter und Literaten; vielmehr spricht sie von einer „mythologisch-mystischen Sphäre“, die durch volkstümliches Gedankengut wesentlich geprägt war. Die „sublime Kraft“ aus tiefen, weitverzweigten kulturellen Wurzeln umschreibt hier eine mehrfache Identitätszuschreibung, aus der die Dichter der Bukowina schöpften. Eine mehrfache Identität stellte einerseits gerade für das poetische Wirken eine Bereicherung dar; für die Selbstbilder ihrer Vertreter nach außen war sie aber auch eine Problematik. Bernd Kolf, der als einer der ersten 1982 eine Anthologie Bukowiner Lyrik edierte, diskutierte die Identitätsproblematik im Kontext nationaler Minderheitenliteratur: „Wegen ihrer Sprache gehört sie nicht zu dem Land, in dem sie entsteht, wegen ihrer Thematik und Lebensanschauung nicht zu der Literatur, mit der sie die Sprache gemeinsam hat. Und zur Eigenständigkeit ist sie zu schwach, weil sie keinen Rezeptionsraum hat, weil ihr die Publikationsmöglichkeiten fehlen und vor allem die Leser. Aus

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dieser Frustration aber entspringt auch ihr Selbstbewusstsein“ (Kolf, 1982, 338–9). Strelka hält fest, dass die deutsch-jüdische Literatur der Bukowina jener Zeit gezwungen war, sich ohne großes Publikum zu entwickeln und zu behaupten: „[…] ihre Grösse bestand darin, dass sie daran nicht verzweifelte, sondern es sogar verstand, aus dieser Not und Schwäche eine Stärke zu machen, indem sie aus Leid, Verfolgung und Unterdrückung die Kraft der Sublimierung zog und einen adäquaten Stil nicht nur des Zerbrechens der alten Formen, sondern entsprechender lyrischer Realitätsbewältigung entwickelte“ (Strelka, 1995, 228). „Jüdische Abstammung, bukowinische Herkunft, deutsche Muttersprache“ zählt Peter Rychlo denn auch zu den drei Elementen der Lyrik des Bukowiners Alfred Gong, der wie Rosenkranz die sowjetischen Arbeitslager überlebte und anschließend in die USA emigrierte (Rychlo, 2002a, 172). 28 Als eine „Stützsäule seiner lyrischen Welt“ wird diese dreifache Identitätszuschreibung in der Bukowinaforschung zum Grundmerkmal ihrer deutschsprachigen Literatur. Die jüdische Abstammung stellte aber keineswegs eine homogene oder auch eindeutige Zuschreibung der Autoren selbst dar. Ebenso sind gerade im Falle von Rosenkranz weder die „deutsche Muttersprache“ noch die „bukowinische Herkunft“ eindeutige Bestimmungsmerkmale: „Eigentlich habe ich keine Muttersprache […] In unserem Elternhaus wurde durcheinander ruthenisch, judendeutsch und polnisch geredet“ (Rosenkranz, 1998, 169 f.). Auch für religiöse Bräuche und Praktiken war unter der Existenznot nur wenig Platz. Subjektiv mystische, aber auch kollektiv volkstümliche Bilder und Elemente sind dagegen für die poetische Sprache von Rosenkranz bestimmend. Mächtiger als in anderen Sprachen, auch mystischer und darum unnahbarer seit jeher dem Zugriff der Verschulung und Vermittelmässigung wehen durch die deutsche Sprache die keimefrohen wässerigen Winde der Schöpfungstage. In dieser Sprache wirklich zu Hause sein, wenn es so etwas überhaupt gibt, können nur Engel und Dämonen, Preisende oder Mitschaffende. Hier ist kein Platz für Mittelmässigkeit (Gut¸u, 1995a, 199).

28 Eigentlich Alfred Liquornik, 1920–1981. Diesen Bukowiner Lyriker bezeichnete Gottfried Benn als „Phänomtyp unserer Zeit“.

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Deutsch bedeutete für Rosenkranz jene „reine“ Sprache, die der schönen Literatur vorbehalten war und die er zeitlebens entbehrte. Mehr als eine „Muttersprache“ war das (autodidaktische) Erlernen einer somit geistigen Sprache später auch ein Zeichen der Auflehnung gegen die „Sprache der Mörder“. 29 Bei Rosenkranz war Deutsch immer mit dem Anspruch auf ein geistig „Höheres“ verbunden, ein Bedürfnis des Geistes, aus der existentiellen Misere auszubrechen. Das deutsch-jüdische Selbstverständnis ist zumindest bei Rosenkranz relativierungsbedürftig und Matthias Huff sieht in diesem „Horizont des Lebens und des Werks“ denn auch „weit über den deutsch-jüdischen Kontext“ hinaus (Rosenkranz, 2003, 245). Wenn Rosenkranz 1935 in einem Brief an Margul-Sperber auch seinen Stolz, Jude zu sein, gegen die Zeichen der Zeit bekundet (Gut¸u, 1995a, 167–8), scheint spätestens für die Zeit nach 1957 eine Identifikation über die (deutsche) Sprache dem Bekenntnis, Jude zu sein, vorrangig. Für die Bukowinaforschung stellt die Beschreibung der deutsch-jüdischen „bukowinischen Identität“ überhaupt ein Problem dar. Die unscharfe Terminologie als solche wird durch die historische Landschaft als ein „Grenzland“, wo sich die sozialen, sprachlichen und religiösen Grenzen vermischen, gerade für die literarische Untersuchung hochkomplex. 30 Mit der literarischen Blüte ab 1919 geht durch die Einverleibung der Nordbukowina ins rumänische Großreich auch Deutsch und Jüdischsein als ständiges Thema der Diversität hervor; eine einstige Symbiose wurde schließlich fatal. Jacob Allerhand beschreibt daher auch die deutsche Sprache „als Merkmal jüdischen Einsamkeitsgefühls“, das für die subjektive Entfremdung ausschlaggebend war (Allerhand, 2000, 265–6). Andrei Corbea-Hoisie spricht von einem kulturellen wie sprachlichen „Entfremdungsgefühl“, in 29 Rosenkranz selbst widersetzt sich dem Begriff des „Autodidakten“, indem er das Leben und seine Erfahrungen als eigentliche Lehranstalt verstand (Rosenkranz, 1986, Klappentext). 30 Vilma Göte zeigt dies am Beispiel Joseph Roths Das falsche Gewicht, wobei sich die Regionen Galizien und Bukowina nicht wesentlich unterscheiden. Göte geht dabei vom „zivilisatorischen Grenzgebiet“ Galiziens aus und stellt auf Mikroebene des Textes gleichsam eine Auflösung der Grenze des Individuums gegenüber der kollektiven Identität fest (Göte, 2006). Vgl. auch den umfangreichen Sammelband An den Zeiten Ränder: (Cordon und Kusdat, 2002).

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dem sich die neue literarische Generation nach 1919 befand (Corbea-Hoisie, 2000, 71). Eine Entfremdung, die nicht nur nach poetischem Ausdruck suchte und ihn fand, sondern auch zu einer Selbstbildgenese bei Dichtern wie Rosenkranz führte: Deutsch war Sprache ihres poetischen Ausdrucks und somit in gewissem Sinne auch unabhängig von der jeweiligen jüdischen Identifikation ein künstlerisches Selbstverständnis. Petro Rychlo geht in Schibboleth. Jüdische Identitätssuche in der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina am Beispiel Alfred Margul-Sperbers, Rose Ausländers, Immanuel Weißglas’, Alfred Gongs und Paul Celans auf diese Problematik ausführlich ein (Rychlo, 2008). Dass in die Identitätssuche (bei Alfred Margul-Sperber) auch biblische und mythologische Elemente Einzug hielten, unterstützt hier die Annahme, dass weniger konfessionelle oder kulturelle Differenzen, und damit auch keine einschlägige „jüdische“ Identitätssuche, prioritär waren, sondern vielmehr „menschliche“ Grundideale der bedrohten „Identität“ ein individuelles wie auch kollektives Fundament stellten. Die Frage, die hier angesichts des Identitätsbruchs durch den Gulag bei Rosenkranz interessiert, berührt Rychlo insofern, als er die „Grenze des Nichtseins“ befragt, wo „das Problem nationaler und kultureller Identität für die meisten dieser Dichter nicht nur zu einem tiefen psychologischen Trauma, sondern auch zu einem riesigen existentiellen Drama“ wird (Rychlo, 2008, 294 f.). Wo aber weit über jüdisch-mystische Merkmale hinaus auf universelle Analogien, Symbole und volkstümlich Legendenhaftes und Mythologisches zurückgegriffen wird, stellt sich die Frage, ob angesichts des „Nichtseins“ nicht ein Ursprungsgedanke bedeutsam wird, der in die Grundfrage nach dem Menschlichen vordringt: wo nicht die Individualität an der Spitze der Menschheitsentwicklung liegt, sondern das „menschliche“ Menschsein noch über die Individualität hinausdeutet.

6.1.3 Identitätsfrage in der Autobiografieforschung nach 1945 Ist es eine Wende oder ein Riss, wenn das kollektive Schicksal aus dem Ich ein Wir macht, „alle individuellen Züge vom Menschen und sogar die Namen verschwinden“ (Rychlo, 2002a, 184)? Ist im Erinnerungsdiskurs angesichts der absoluten Zäsur von einem Identitätsbruch zu reden oder offen-

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bart sich ein Identitäts- und Ich-Bewusstsein gerade erst am Abgrund als unzerbrechliche geistige Konsistenz? Selbstidentifikation und Identitätszuschreibung zeigen sich auch bei Rosenkranz nach dem Gulag in einer substantiellen Mehrdeutigkeit, Fraktalität und Widersprüchlichkeit: Matthias Huff spricht vom nie ganz heimgekehrten Dichter als einer „Unperson“ (Rosenkranz, 1998, 231). Die literaturwissenschaftliche Autobiografieforschung liefert hierzu allgemein nur wenig Antworten. 31 Auch steckt die Erforschung der Literatur von sowjetischen Lagerautoren noch weitgehend in den Anfängen. Eine der aktuellsten Untersuchungen ist die neu erschienene Dissertation von Karoline Thaidigsmann Lagererfahrung und Identität. Thaidigsmann fragt darin nach „der letzten Grenze“, an der sich „das Menschliche verliert“ (Thaidigsmann, 2009, 4) und hält fest, dass für die Erforschung einer Literatur, in der das Menschsein fundamental in Frage gestellt wird, nicht auf „allgemeine Identitätskonzepte“ zurückgegriffen werden kann; sie diskutiert daher die für das Überleben existentielle Selbstbeschreibung mit den Begriffen „Rekonstruktion, Neukonstitution, Dekonstruktion und Kontinuität des Ich“ (Thaidigsmann, 2009, 10–12). Wo Rosenkranz betrauert, dass „unsere schwachsichtige Forschung nur ergründet, was sich im Licht, nicht [aber] was sich im Dunkeln befindet“ 32 , wird ein heterogenes Feld der Recherche notwendig, wobei wissenschaftliche Ergebnisse und primärliterarische Exkurse gleichermaßen zur Erörterung dieser Komplexität beitragen. In dieser Untersuchung wurde ein 31 Außer den Erinnerungen von Margit Bartfeld-Feller und Julius Wolfenhaut gibt es kaum authentische Literatur über die Verbannung Czernowitzer Juden nach Sibirien. Bartfelders „Geschichten“ sind so nach Peter Rychlo und Erhard Roy Wiehn die bedeutendesten „Zeugnisse“ einer solchen biografischen Zäsur (Bartfeld-Feller, 2005). Wolfenhauts Lebenserinnerungen dagegen schildern aus bemerkenswerter Distanz die körperlichen wie geistigen Entbehrungen unter stalinschem Terror. Wolfenhaut gelingt es dabei, die Abgründe sowohl subjektiv als auch historisch reflektiert zu schildern (Wolfenhaut, 2005). Wie Rosenkranz ist auch er nie mehr in die Bukowina zurückgekehrt. Wenn auch nicht explizit, so doch für den historischen Identitäts-Riss in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts bedeutend, untersucht Tymofiy Havryliv in Identitäten mit einem detaillierten Blick aufs Ganze unterschiedliche Ich-Identitäten in Lyrik, Prosa und Drama der österreichischen Literatur (Havryliv, 2008). 32 KNW, Brief vom 23. 8. 1992, S. 5.

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Ansatz versucht, wie es die Osteuropahistorikerin Carmen Scheide in ihrer Untersuchung individueller Erinnerungsmuster in Bezug auf die Erfahrung des Holocaust unternommen hat (Scheide, 2006): „Wenn man ein Wechselverhältnis von individuellem Denken, Handeln und Fühlen zu ‚Gesellschaft‘ untersuchen möchte, muss man vom Individuum und von seiner Lebenswelt ausgehen“ (Scheide, 2006, 437); das Ich wird zwar oft nur in Latenz aufscheinen, aber auch diese ist Teil der Sprache: „Auch wenn das Individuum von bereits immer schon vorhandener Sprache, äusseren Zwängen wie etwa der Selbst-/Zensur in der Sowjetunion oder allfälligen Tabus geprägt ist und zudem fiktive Elemente in Selbstzeugnisse einbaut, verschwindet es nicht hinter den Strukturen, sondern besitzt Handlungsräume und Entscheidungsalternativen“ (Scheide, 2006, 438). Um Latenzen aufzuspüren, ihren (Nicht-)Ort im poetischen Text zu markieren und dadurch eine Konstituierung des Ich zu beschreiben, war neben Rosenkranz’ Werken eine zusätzliche Primärlektüre erforderlich, die vom „Ort der Leere“ ausgeht, ihn überschreibt oder eben fortschreibt in einer Sprache der Sprachlosigkeit. Auch wenn Rosenkranz an verschiedenen Orten immer wieder verlauten lässt, an seiner eigenen Person kein Interesse gehabt und auch nicht sich selbst beschrieben zu haben, so scheint in der Erinnerung des Lebens sowie einer Strategie „von unten her“ – so formuliert es Huff – dennoch öfter ein Selbst auf, als dem Dichter selbst bewusst war (Rosenkranz, 1998, 238). Scheide geht unter dieser Prämisse von der Struktur der Erinnerung sowie von Selbstzeugnissen aus, die von einer „individuellen Chronologie der Ereignisse“ mit „unterschiedlichen Referenzebenen“ spricht: „In Form von Wendepunkten oder Brüchen innerhalb der Erzählung gibt es besondere oder emotional besetzte Bilder, die auf Grund ihrer Bedeutung als sehr nah am erinnerten Ereignis erscheinen und vielleicht durch die starke sinnliche Körperwahrnehmung relativ unverändert in Erinnerung bleiben. Erinnerungen sind nicht nur angeeignete und reproduzierte Selbstzeugnisse, sondern beruhen in der Form ihrer Strukturierung und erzählten Anordnung auf individuellen Chronologien der Ereignisse mit unterschiedlichen, eben vom erzählenden Subjekt ausgewählten Referenzebenen“ (Scheide, 2006, 449). Die „Bedeutung“ der Erinnerungsbilder, eine „sinnliche Körperwahrnehmung“ sowie die „Auswahl der Referenzebenen“ – oder eine erste mögliche Bestimmung überhaupt – werden

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so auch in der Untersuchung der poetischen Selbstbilder von Rosenkranz annähernd definierbar. Dekonstruktivistisch ist eine solche Diktion der Latenz mit dem Tod als Leben in der Abwesenheit verwandt und fordert eine Prosopopöie. 33 Neue Ansätze in der Autobiografieforschung, aber auch bereits „traditionelle“ wie Paul de Mans Autobiografie als Maskenspiel oder Philippe Lejeunes Lire Leiris helfen in der „Referenzlosigkeit“ einen Komplex zu fassen, der genuin jenseits jeder einschlägigen Begrifflichkeit verortet ist: in einem Schreiben aus dem Tod heraus oder „nach dem Leben“, wie es Semprun formuliert; wo im poetischen Text als Apostrophe eine Referenz für das Ich und die „Wahrheit“ erst resonniert. 34 Dass in einem Schreiben „aus dem Tod“ trotz allem keine Identitätsstrategie für die poetischen Autobiografen nach 1945 nachweisbar ist, zeigt Franziska Thun-Hohenstein am Beispiel von fünf Schreibenden aus dem sowjetischen Gulag (Thun-Hohenstein, 2007). Ebenfalls verweist Hans-Erwin Friedrich in Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie (1945–1960) auf eine beispiellose Heterogenität des autobiografischen Genres, das nicht mehr mit traditionellen Mustern zu messen sei, wenn vereinzelt, wie Gut¸u beispielsweise für Rosenkranz nachweist (Gut¸u, 2009), dennoch gerade wegen der biografischen Brüche das goethesche Modell von Dichtung und Wahrheit eine Wiederaufnahme erfuhr. Bestimmend für die meisten fatalen Lebensläufe zeigt sich in den Autobiografien nach 1945 die Priorität des Fragments. Dieser Begriff ist aber ebenso komplex wie jener der Identität selbst und wird an späterer Stelle dieser Untersuchung noch zu differenzieren sein. 35 Ralph Köhnen zeigt am Beispiel Ludwig Harigs, dass nicht nur die Lebensbewältigung im Mittelpunkt des autobiografischen Schreibens steht, sondern auch das Leben an erste Stelle tritt und dabei als Kunstwerk verstanden werden will (Köhnen, 2000). Erinnern wird zu einem Überschreiben, während das Offenlegen des 33 In diese Überlegungen eingegangen sind die Lektüren von: Haverkamp, Macho, Foucault, Blanchot. 34 Vgl. Kapitel 4, S. 31 über das „Sich-selber-Lesen“. 35 Vgl. Kapitel 9.1.

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eigenen Lebens zu einem Verbergen desselben im Medium der Sprache wird. Eine geradezu phantasmatische Entfernung von der realen Referenz stellte Köhnen hier über die aus der Kindheit und Jugendzeit geschilderte Buchstabenmagie fest, wie sie auch in Rosenkranz’ Kindheit phantasmagorisch zur Sprache kommt. 36 Was die Referenzdebatte von „Dichtung und Wahrheit“ betrifft, formulieren neuere Ansätze der französischen Autobiografieforschung (Thomas Régnier, Marcel de Grève) Beiträge zur „Referenzlosigkeit“ über den Begriff der „autofiction“. Die differenten Versuche einer Einordnung zeigen, wie die Kriterien für eine „Bukowinaliteratur“ im Gepäck des Dichters Moses Rosenkranz durch ein Nadelöhr der Nullreferenz oder einer Poetik aus dem Abgrund führten und neue Identifikationsstrategien benötigten. Klar taucht aber aus diesem Sog der Leere auch eine Vielfalt von Ansätzen und Begriffen auf, die in der Bewertung des Individuellen keine kollektive Terminologie für dieses Schreiben mehr zulässt. Dies hält auch der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Andrej Sinjawskij fest, der in den späten 1960er Jahren in den Gulag verbannt wurde: Die Umstellung von Raum und Zeit bringt die Existenz in eine kaum zu definierende Stimmung – eine Art neuer Dimension, die es uns ermöglicht, alles von einer gewissen Höhe aus zu überschauen, mit einem ein wenig jenseitigen Blick. Man weiß nicht recht: ist es lang oder kurz, wenig oder viel, gut oder böse; und man empfindet kühles, distanziertes Staunen (Terz, 1974, 36).

Vor diesem „Staunen“ scheint die Sprache anzuhalten und selbstreferentiell zu werden; eine solch intensivierte Sprache spiegelt immer das Verhältnis bzw. die Nähe zwischen dem schreibenden Ich und der „Wahrheitsreferenz“: seine Beziehung zum Text als Wirklichkeit. 36 Vgl. (Kleinschmidt, 2002). Die Entfernung oder Distanz zwischen Betrachter und Gegenstand bzw. zwischen Erinnerungsort und erinnerter Zeit als Bild wird in dieser Untersuchung phänomenologisch angegangen. Merleau-Ponty verweist in „Die Prosa der Welt“ auf den Begriff der „Gestalt“, der letztlich eine Seh-DenkFigur meint, die – mit einer idealen Entfernung zum Gegenstand – zwischen Sehen und Denken vor unseren Augen aufscheint.

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6.2 Fazit: „konkrete Utopie“ und poetische Identität Gehen wir der Sprache selbst weiter nach: Dass sich ein spezifisch dichterischer Duktus gerade unter Nichtbedingungen aufdrängt, ist ein Merkmal der littérature mineure, geht aber auch als raum- oder kulturspezifische Literaturbeschreibung über sie hinaus. Hartmut Merkt beschreibt die Umdeutung einer „Bukowiner Heimat“ oder „Identität“ in Poesie in der Isolation für die Bukowiner Exildichtung nach 1944 mit einem sprachlich-poetischen Raum, den er „konkrete Utopie“ nennt und der sich „durch poetische Auseinandersetzung und sprachliche Reflexion“ von einem landschaftlich und gesellschaftlich konkreten Identitätsmuster losgelöst hat (Merkt, 1999, 173 f.). „Jede Forderung des Geistes“, schreibt Jean Daive in einem Essay zu Paul Celans Meridian, „ist Utopie, und ich füge hinzu: besonders dann, wenn sie mit der doppelten Erfahrung des Deutschseins und Judeseins einhergeht“ (Daive und Celan, 2000, 36). Der paradox-konstruierte Begriff „konkrete Utopie“ benennt einen persönlich gewordenen deutschen Sprach-Raum, führt bei den Dichtern Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weißglas in der Studie von Merkt leider aber doch nicht über ein „soziokulturelles Rückzugsgebiet“ des „jüdischen Individuums“ hinaus. In Bezug auf die Herkunft der Sprache und besonders für die hiesige Untersuchung seines Selbstbildes, ist die von der Forschung bisher weitgehend unberücksichtigt gebliebene Frage nach der poetischen „Heimat“ des lyrischen Ich nach der Zäsur noch offen. Joan Avery hat mit seiner Arbeit über Moses Rosenkranz diesen Versuch mit Heideggers „Sprache als Heimat“ erstmals unternommen (Avery, 2008). Es ist weiter anzunehmen, dass nach einem kompletten Identitätsverlust nicht mehr die Erinnerung an die verlorene Literaturlandschaft ausschlaggebend ist, sondern eine letzt-ursprüngliche „Identität“ im Menschsein, das heißt: im menschlichen Dasein selbst aufgesucht wird. Für die Wechselwirkungen zwischen Wertbestimmung von Heimat und Selbsterfahrung konstatiert Ljubow Kirjuchina, dass „in die Kategorie ‚Heimat‘ die menschlichen Maximen integriert wurden, die die private Sphäre und die seelische Ebene auszeichnen. Über diese neue, sensible Darstellung der Heimat wurde der Zugang zum Nachdenken über den Menschen selbst und seine Identität geschaffen“ (Kirjuchina,

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2000, 114). Damit muss gerade bei Rosenkranz der rezeptive Blick von der herkömmlichen Bukowinaforschung abgewandt und auf einen in bestimmtem Sinne auch der „Geschichtslosigkeit“ anheim gefallenen Ort gelenkt werden: dorthin, wo der Tod der Anderen den eigenen meint, Heimat als sensitiver Begriff inkorporiert und zu einem politisch-geografisch wertfreien, dafür individuell geistigen umkodiert wird. Ein solcher Ansatz wird von der Primärlektüre bestätigt, die hier im Kapitel über die autobiografische Prosa berücksichtigt wird. 37 Und Kaszynski hält für die galizischen ProsaAutoren zu Recht fest: „Die galizischen Schriftsteller der Roth-Generation, von Bruno Schulz bis Andrzej Kusniewics, haben sich niemals unmittelbar mit der Wirklichkeit identifiziert, sondern immer mit dem Mythos von dieser Wirklichkeit, und je entfernter der Mythos lag, desto intensiver wurde er idealisiert“(Kaszynski, 1991, 63). In diesem Sinne sprach Rosenkranz zu Wildberger auch von seinem „alten/mythischen hereinwagenden Sprachgeist“. 38 Im Rahmen der littérature mineure bezieht sich eine mögliche „Referenzlosigkeit“ auf die Eigenart des sprachlichen Ausdrucks, auf die „Intensivierer“, die „den ausgetrockneten Wortschatz in der Intensität vibrieren lassen“ und „dem symbolischen oder bedeutungsschwangeren oder bloss signifikanten Gebrauch der Sprache einen rein intensiven Sprachgebrauch entgegenstellen“ (Deleuze und Guattari, 1976, 28). Dass einem solch „perfekten und nicht geformten, intensiv-materialen Ausdruck“ der Sprache gerade da eine zugespitzte Rolle zukommt, wo die äußere Abgrenzung von einer noch immer „kollektiven“ Randstellung in die Vereinsamung des Schreibenden übergeht, wird offensichtlich. Unter den äußersten Bedingungen, wo der einzelne seinem eigenen Tod begegnet, muss auch poetologisch ein „anderer“ Raum eröffnet werden, den Foucault in Schreiben unendlich mit einem „Über-die-Grenze-Hinauswirken“ beschrieben hat (Foucault, 1963). Hier führt die Erfahrung des Todes an eine Grenze, die auch die Grenze der repräsentativen allgemeinen Sprache ist. Das Ich fragt nicht mehr nach sei37 Vgl. Andrej Sinjawskij alias Abram Terz, Warlam Schalamow oder auch Bruno Schulz: Kapitel 9.1. 38 KNW, Brief vom 21. 2. 1981.

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ner Beziehung zu einem „Ort“, sondern umfassender: nach seinem Verhältnis als Mensch zur Welt – und zu seiner Welt 39 – oder phänomenologisch: nach der neuen Wahrnehmung des Menschen von der Welt und deren Dingen; in einem Raum von Wahrnehmungen und Empfindungen, wo kein Dasein und Gegenüber mehr bezeugbar und eben selbstverständlich ist. George Gut¸u verweist auf Rosenkranz’ Bezug zur ästhetischen Philosophie Arthur Schopenhauers (Gut¸u, 2004). 40 Gerade die Begriffe „Menschlichkeit“ und „Lebendigkeit“ dürften den Zugang des Dichters zu Schopenhauer am intensivsten bestimmt haben. Dem wird auch die folgende Untersuchung in der Argumentationsführung von Merleau-Ponty und Bergson nicht widersprechen. Andreas Steffens resümiert im Kontext eines postmodernen Schopenhauer-Verständnisses, wie „eine historische Beobachtung unvermutet systematische Bedeutung“ enthalte: „Die früheste europäische Anthropologie nämlich ist eine poetische und sie ist als Kunst überliefert. In der griechischen Tragödiendichtung geschieht gleichsam die Urstiftung europäischer Anthropologie. Mit ihrer Melancholie über ein Wesen, das in seiner alle anderen übertreffenden Unheimlichkeit besser nicht immer wieder geboren würde, schuf sie den regulativen Topos aller seither geleisteten humanen Selbstreflexion. An ihm bemisst sich jede vorgeschlagene Bestimmung, nach dem Grad ihrer Zustimmung zu oder ihrer Entfernung von ihm.“ Die Wirkungsgeschichte Schopenhauers negativer Metaphysik des Willens hat wesentlich in der Literatur stattgefunden, als wäre seine Ästhetik von den Künstlern selbst erst gebildet worden. „Schopenhauers Philosophie ist eine Ästhetik durch Wirkung, mit anthropologischer Substanz“ (Steffens, 1989, 177 f.). Die Kunst, so Steffens über Schopenhauer, wirbt für das Leben, indem es sie darstellt“; und Momente des Lebens werden auch im literarischen Werk von Rosenkranz zu einer „Idee des Lebens“ gebunden, die bewusst oder unbewusst als ein „Bild des Lebens“ ihre konkrete, aber auch „utopische Wirkung entfaltet“ (Steffens, 1989, 184).

39 Vgl. auch (Beck-Gernsheim, 1999, 161). 40 Rosenkranz erwähnt seine Affinität zu Schopenhauer ausführlicher im Fragment Jugend.

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7 Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz

Für die Beobachtung der Schreibbedingungen, vor allem aber der poetischen Schalt- oder Bruchstelle zwischen 1947 und 1957, sind die Briefe von Moses Rosenkranz an Anna Rübner (AR) die bedeutendsten Quellen dieser Arbeit. Die Briefe stellten für Rosenkranz einen Ort dar, an dem Leben und Werk ineinander verwachsen konnten und sollten; einen intimen Ort zugleich, wo er mit seiner Briefpartnerin den Dialog 1 üben und die Einsamkeit überwinden konnte. Ein Vor- und Nachher bezüglich biografischer Zäsur wird aber auch gerade da benennbar, wo literarische Überlegungen, weitausgreifende Pläne oder Aussagen des Dichters über seine neuen Vorsätze als Vorstufe des poetischen Prozesses in der Korrespondenz zu begreifen sind. Was den AR-Nachlass für diese Untersuchung weiter bedeutend macht, ist der lange Zeitraum zwischen 1930 und 1999; und damit auch der Umstand, dass Anna Rübner als (erste) Ehefrau vor wie nach der Rückkehr von Rosenkranz aus der Gefangenschaft seine intimste „Gesprächspartnerin“ blieb. Rübner, die 1948 nach Frankreich floh und von da weiter in die USA emigrierte, war während Rosenkranz’ Lagerhaft unermüdlich darum bemüht, Gründe für seine Verschleppung sowie eine Auskunft über sein Überleben, seinen Aufenthaltsort sowie letztlich über sein Befinden in Erfahrung zu bringen. 2 Bis 1953 konnten weder Briefe zu Rosenkranz gelangen, noch konnte dieser eigene Briefe über die Grenze der Sowjetunion

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Gemeint ist hier der auch immer wieder unterbrochene Dialog, bis hin zu den „monologen Gesprächen“, wie Rosenkranz später die nicht nur räumlichen, sondern immer mehr auch zeitlichen Distanzen zwischen ihnen beiden benannte. Anna Rübner schrieb selbst an Roosevelt, um für Rosenkranz eine Befreiung aus dem Gulag zu erreichen. Dieser schrieb am 9. April 1953 zurück: „Dear Mrs. Rubner: I would gladly help you if I could. However, I cannot help you with the Soviets. They are not fond of me. You will have a better chance if you send the request to the State Departement“ AR 25087, 1/66, Reel 2, n824.

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hinaus versenden.3 Ein erster Brief von Rosenkranz gelangte erst 1955 über Moskau nach Bukarest. Für die Zeit zwischen 1947 und 1955 sind daher ausschließlich Fremdzeugnisse von ehemaligen Mithäftlingen als so genannte „Identitätsbezeugungen“ für Rosenkranz erhalten. Da dieser auch nach seiner Freilassung kaum über seine Lagererfahrungen berichtete (vor allem nicht schriftlich), wurden solche Zeugenaussagen, die Rübner später im Auftrag Rosenkranz’ einholte, zur Legitimierung seiner deutschjüdischen Herkunft und damit seiner berechtigten Flucht in die BRD anfangs der 1960er Jahre unerlässlich. Auf mehreren Ebenen zugleich nimmt Anna Rübner selbst eine bedeutende Rolle ein: Sie war engste und treueste Bezugsperson von Rosenkranz, „Muse“ und Mnemosyne des Dichters zugleich; sie war zeitlebens Rosenkranz’ wichtigste Lektorin und Kritikerin und zudem sein Publikum. 4 Rosenkranz schrieb an Rübner Briefe bis Mitte der 1960er Jahre und, abgesehen von der Gulagzeit, regelmäßig, das heißt tagebuchartig; bis zu drei Briefe täglich versandte er und datierte diese zum Teil bis auf die Sekunde genau. Eine starke emotionale Abhängigkeit, aber auch die Distanz zu seiner „Lebens“- und Briefpartnerin dürften den idealen Rahmen gesetzt haben, in dem Rosenkranz nach 1957 seine (auch poetische) Sprache neu erproben, zwangslos und frei äußern, vor allem aber wiederfinden konnte. Einen schriftlichen „Zwischenraum“, der sich im Dialog und über die weite Distanz zwischen den beiden Briefpartnern öffnete – vielleicht auch positiv weitete –, nutzte Rosenkranz für seine Selbstbespiegelung, wobei er die postwendenden Reaktionen Rübners auf sein eigenes Verhalten rückbuchstabierte und so im selbst konstruierten, das heißt beschriebenen Bild seiner Geliebten immer auch sich selbst zu erkennen glaubte.

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Zu den Schreibbedingungen im sowjetischen Gulag-System: LBI: AR 25087, Series III, Subserie 2, n1309. In einem selbstformulierten „Akt über meine Abstammung“ schreibt Rosenkranz 1961 für Rübner: „Ich, Anna Rübner […] war in den Jahren 1916–32 in Berhomet und Czernowitz Nachbarin und Freundin der Familie Rosenkranz […]“. In einem Brief Rübners an Ion Pillat vom 16. 11. 1937, den Rosenkranz für Rübner vorgeschrieben hat, nennt er sie „seine Archivarin“ und „eine arme Frau“, der ausschließlich am Wohl ihres begabten Mannes gelegen sei. AR 25087, 2/39.

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Neben den Briefen sind weiter Fotografien, Kunstkarten und Zeitungsartikel von Belang. Diese illustrieren auf einzigartige Weise Rosenkranz’ Versuch einer Selbstreflexion, aber auch -objektivierung. Strategien einer (Selbst-)Distanzierung, die gerade ab 1957 für das poetische Vorhaben, Prosa zu schreiben, bedeutend waren, werden so über die Korrespondenz nachvollziehbar. Auch die immer wieder thematisierten Selbst- und Fremdbespiegelungen in der Reflexion von Hand- und Maschinenschrift zeichnen sich darin ab – ein Akt der Gegenüberstellung und Selbstpräsentation, welche das Verhältnis von Körper und Geist, Form und Inhalt sowie Außen und Innen in die Beziehung von Schreiben und „Wahrnehmen“ bzw. Lesen übersetzt.5 In diesem Sinne ermöglichen die Briefe neue Erkenntnisse über das programmatische Verhältnis von Leben und Werk, aber gerade auch über das Disparatwerden Rosenkranz’ Selbstbildes nach 1957. Wenn hier fast ausschließlich Briefe nach 1957 zitiert werden, so deshalb, weil darin entweder Rückschlüsse vom Jetztstandpunkt auf früher gemacht werden oder aber die Briefe vor 1947 grundsätzlich mehr historische Tatsachen behandeln, als ein „Ich und meine Zeit“ darin ausführen, wie es hier interessiert. Nach der Rückkehr aus dem Gulag und einer kurzen Phase übersteigerter Produktivität, die bis 1961 anhielt, wird für Rosenkranz die Tendenz weg von einem Leben für das Werk, hin zu einem Leben aus dem Werk evident. Diese Untersuchung betrachtet aus dem AR-Nachlass im Leo BaeckInstitut die Briefe 1930 bis 1966. Spätere Briefe antworten auf die vorliegende Fragestellung nur mehr unwesentlich; oder aber es handelt sich um Briefe an Kaspar Niklaus Wildberger aus den 1980er Jahren 6 , die in diese Untersuchung ebenfalls aufgenommen werden.

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Vgl. „Vom Lauf der Feder über die Schrecknisse des Abgrundes“ (Seng, 1999, 46 f.). Bezeichnung KNW, Privatbesitz Riehen.

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7.1 Von der Verkörperung der Poesie zur Poetisierung der Wirklichkeit 7.1.1 Zum Verhältnis von Leben und Werk Im Folgenden interessieren die allgemeinen, aber auch neuen Bedingungen in Rosenkranz’ Schaffensperiode zwischen 1957 und 1963. Die Beschäftigung mit seiner Dichtung wurde für Rosenkranz in diesen Jahren immer mehr eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Seine Reflexionen über das eigene Verhältnis zwischen Körper und Geist zeigt sich in den Briefen nicht nur über Korrekturen und Kommentare zu seinen Gedichten; mehr noch wird Anna Rübner als Lektorin, Muse und treue Geliebte von Rosenkranz zu einer universalen Figur stilisiert, die ihm die „Trümmer der Vergänglichkeit“ zu überwinden half; Rübner, das meint ihre langjährige Beziehung, stellte für Rosenkranz Bestätigung und Sinnbild jenes lebendig „Währenden“ dar, das er zwar schon vor 1957 zu seinem poetischen Konzept erhob, aber erst danach als Brücke über den biografischen Abgrund setzte. Im Schreiben, das die Abwesenheit der Geliebten aufhebt, wird Rübner zu einer Referenz des Autors, die allem voran den Antrieb und Anfang, die Motivation und den Grund zum Schreiben meint. In meinem Leben z. B. warst Du nicht nur mein Glück, sondern auch selbst seine Rettung: Du hast mich an der Transnistriendeportation vorbeigeführt und durch den machtvollen Zug Deiner Seele ganz real aus der russischen Hölle zurückgebracht; auch heute bist Du der Boden meines Lebens; solltest Du nachgeben, würde ich rettungslos versinken. 7

Als „phänomenale Einzigartigkeit“ und „Spiegel alles Menschlichen im Lichte der Moral“ 8 figuriert Rübner bereits in den Briefen um 1940: „Du bist gewiß der menschlichste Mensch dieser Zeit“. 9 Sowohl ethische In-

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2. 10. 1963. AR 25087, Reel 2, n119. Mit Moral meinte Rosenkranz eine „Moral im alltäglichen Sinne“; keine „hochgeistige“. Denn zwischen Geist und Moral sollte sich ein „Gleichgewicht“ einstellen. 15. 4. 1940. AR 25087, Reel 1, n416. ii. VI. 1940. AR 25087, Reel 1, n410.

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stanz als auch personifizierte Motivation stellt sie für Rosenkranz’ Dichtung unter bedrohten Existenzbedingungen dar. Der Schmerz der Seele, die mir seit meiner frühesten Kindheit von den Ereignissen, Zuständen und Erscheinungen um mich aufs Grausamste zerrissen wird und die seit mehreren Jahren auch meine physischen Organe zuzieht, die nun auch unter der Misere zertrümmert werden, dieser Schmerz lässt nur in der Deiner Nähe und wirft mich vollends um, wenn [ich?] Du mich verlässest […] Ich habe mich seit frühester Kindheit zur schöpferischen Tat gebildet, alle meine geistigen und physischen Organe sind darauf gespannt und wenn ich nicht dazukomme, muss ich unsagbar leiden; dann kam die Liebe dazu, der einzige Trieb, den ich mir von der Natur gefallen lasse und in Dir, Du Liebe, fand ich sowohl meinem gestählten geistigen Schöpfungsdrang als auch meinem organischen Liebesaufbruch ein beseeligendes Sammelbecken. 10

Die Sehnsucht nach der Muse und Geliebten in der Person Anna Rübners ist so letztlich auch die Sehnsucht nach einer Kontinuität von Identität, deren Bruchstücke nur mehr im poetischen „Sammelbecken“ der Liebe Verwahrung finden. Ohne sie verliert er „den Boden unter den Füßen“, wenn er „um das moralische und geistige Gleichgewicht“ auch „immer eifrig bemüht“ war. Am 22. Juli 1957 ist Rosenkranz unmittelbar nach seiner Freilassung aus dem rumänischen Gefängnis „wieder“ am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Die „physischen Organe“ werden in ihrer Verwundung erneut zusammengezogen und der Schmerz verdichtet, so dass Rosenkranz seinen durch das Lager geschwächten Gesundheitszustand sogar zu ignorieren begann oder aber ins Positive wendete. Die Rückbesinnung in die Kindheit wird nicht mehr nur als Referenzpunkt und Vergleich gebraucht; vielmehr wird sie zu einem aktualisierenden Erzählen aus bzw. der Vergangenheit; dies war für die Briefe vor 1947 kaum der Fall. Auch die Arbeit an den Gedichten erfährt zunehmend eine „Vertiefung“ – hin zum Urgrund seiner Kindheit. Die „Erfüllung“ seines „Kindheitstraums“ steht aber unmittelbar nach bzw. vor dem „Ende“ seines Lebens 1957. Die Beschäftigung mit der eigenen Kindheit wird durch den Umstand bedingt, dass er unmittelbar nach der Freilassung aus der rumänischen Haft bei seiner Tochter und sei10 15. 6. 1940, 6 Uhr. AR 25087, Reel 1, n416 f.

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Abbildung 4: Moses Rosenkranz und Anna Rübner, vermutlich um 1940 in Bukarest. AR 25087, Reel 3, n1284.

nen Enkeln wohnt. In die Werkplanung auf nimmt er zu diesem Zeitpunkt Kindergeschichten, die allerdings, wie viele andere Arbeiten auch, nicht beendet und/oder ediert werden konnten. Diese Umgebung bereichert und behindert ihn zugleich: „[…] und einige Dinge die ich unbedingt niederschreiben muß und in dieser lärmenden Umgebung nicht kann, brennen mir in den Fingern. Die Kinder sind sehr nett zu mir. Aber ich habe wirklich soviel nachzuholen. Ein ganzes Lebenswerk nachzuholen“.11 Zugleich beginnt er Bilder aus seiner eigenen Jugend und Kindheit mit aktuellen Ansichten zu vergleichen. 12 11 AR 25087, Reel 3, n569–72. 12 Siehe AR 25087, Reel 3, n1275–1284.

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Rosenkranz’ Rückbesinnung führt immer wieder zur einer „Zahlensymbolik“: 13 schicksalshafte Wiederholungen zwischen Leben und Tod, wiederkehrende Daten, an denen Vergehen und Werden zusammenfallen. In Rosenkranz’ Erinnerung leuchtet ein Punkt an der zyklischen Figur seiner Biografie auf, der einen Neubeginn seiner Identität, aber auch seines Werks intendiert: in seinem „Anfänge Traum, namenlos zu leben und auch zu wirken“, wobei „einer meiner liebsten Denker schrieb: ‚Mensch, werde was Du bist‘“ – namenlos, allein das Sein betreffend. 14 Rübner als Grund seiner Dichtung wird im Brief vom 22. Juli 1957 zur rettenden Instanz erklärt: 15 Am 20. August 1930 hat das Schicksal mit uns eine Geschichte angefangen, die bis zum Augenblick sehr gewagt [?]und bewegt und immer heroisch und interessant verlaufen ist und immer auf ihr Ende wartet, das allein ihren Sinn, ihr Wort und unsere Rolle deutlich machen kann. Am Tage meiner Erkrankung, die gleich zu Beginn den Charakter einer Todes- und Höllenfahrt angenommen hatte, in der Lebens- und Welt entrückten öden Verlassenheit des Spitalzimmers, wußte ich, daß unsere Geschichte in die schwerste Phase der Verdunkelung eingetreten ist und hart an ihrem katastrophalen Ende vorübergeschieht aber gleichzeitig fühlte ich, daß ich sie retten und zu meistern verpflichtet bin und imstande sein muß und werde und daß Du irgendwo das Gleiche weißt und beschloß, allen Gewalten zum Trotz, [ihr ?] weiter zu leben und sie weiter 13 „Aber ich feiere mit Dir in diesen Zeilen den 20. August. Wollte ich mich der Zeitsymbolik ergeben, bedenk nur welch ein Anlaß: Am 20. August haben wir uns erkannt, an dem gleichen Datum war ich zur Welt gekommen (der 20. VI. und 20. VII sind Irrtümer im Matrikelamt); ebenfalls an diesem Tag kam Bym zur Welt; am 15. August ist ihr erster Bub (mein Liebling) und am 20. August v. J. sagten mir die Ärzte, daß ich vom Tod genesen. Das ist was fürs Ziegerl. Nun wirds das Kalenderblatt fressen. Ich will diesem Brief wenigstens ein Paßphoto beilegen. Und mich zu diesem Zweck aufnehmen lassen“. An Rübner am 26. 7. 1957; AR 25087 Reel 1, n526. Siehe Abb. 8. 14 13. 4. 1957. AR 25087,AR 26053, Reel 1, n471. Im Prosa-Fragment Kindheit zitiert er Nietzsche mit: „werden, was ich war“. „Den tiefsten Eindruck hatte mir, nächst Goethe, Nietzsche gemacht […] (K216). Aber während Nietzsche auf die Vergangenheit referiert, verweist Rosenkranz vom gegenwärtigen Nullpunkt aus in die Zukunft. 15 AR 26053, Reel 1, n525.

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zu tragen bis an das ihrem Anfang und unseren Naturen adäquate Ende, das mir immer als ein über all böse Widerstände siegreiches und lichtliebliches vorschwebte. Die gefährlichsten Stationen meines Lebens überwinde ich immer zuerst im Gedicht, und damals, als mich die Krankheit erfaßte, was ja schon der Todessturz war, stellte ich mich der Höllenzähnen fletschenden „Realität“ mit diesen Versen entgegen (ich schrieb sie nicht auf, wie und worauf und mit welchen Händen, da meine von der Krankheit gelähmt waren): „Du weißt, ich komme wieder, ob ich auch Todes Gast, weil Du mir, Schatz, die Augen nicht zugeschlossen hast. Man kann ein Herz nicht stehlen, daran ein Herz noch hängt, das muß Freund Hain erfahren, der mich so hart bedrängt. Er schickt zu Dir mich wieder, daß Du den Blick vermachst, Du schließt mich in die Arme und siehst herein und lachst. Darob verstreicht ein Leben und wieder eins vergeht, wir sind so alt geworden, kein Zahn im Mund mehr steht. Das Herz nur in den Augen sprüht Glanz und Jugendlist: Freund Hain, du mußt nicht warten, dessen Liebe schlauer ist.“ Von allen meinen Gedichten ist es das einzige, das ich auswendig kann.

Rübner wird im Einklang mit seiner Dichtung zum Brückenschlag über den Abgrund zwischen 1947 und 1957. Ihre gemeinsame Geschichte, deren Anfang mit dem Datum der Hochzeit am 20. August 1930 gesetzt wird, wartet auf das große Ende, das ihrer Beziehung erst Sinn verleiht. Die Überwindung des Endes wird im Gedicht zum Anfang: „Darob verstreicht ein Leben und wieder eins vergeht“, während Geist und Liebe den Körper verlassen; das Herz „sprüht“ in den Augen „Glanz und Jugendlist“, im Ausdruck einer pulsierenden Visualität, die der Phänomenologie des Lebens eine Konkretisierung gibt. Die Liebesbeziehung überdauert, indem sie sich im Gedicht über den Abgrund erhebt. Das Ende ist auch hier im ersten Teil des Briefes zugleich ein Anfang: „weiter zu leben und sie weiter zu tragen bis an das ihrem Anfang und unseren Naturen adäquate Ende, das mir immer als ein über all böse Widerstände siegreiches und lichtliebliches vorschwebte“. Ein solcher Zyklus von Ende und (Neu-)Anfang zeigt sich auch da, wo Rosenkranz in Rübner selbst seine eigene Fortsetzung las: „Manchmal habe ich den Eindruck, Du seist ganz wie ich. Eine angenehme Vorstellung, dass Du, nach meinem Ableben, von mir unvollendete Bücher weiter schreibst. Und nach dem letzten Punkt würdest … Du sagen: ‚Busch, jetzt komm ich schon zu Dir.‘ Du komisches Ziegerl“. Es zeigt sich hier aber auch die Disparität von physischer und geistiger

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Verfassung; die Rückbesinnung drängt zum Schreiben und verhindert das poetische Schreiben zugleich; und was in der Gegenwart gebrochen aufscheint, wird im Bild einer Einheit über die Vergangenheit neu gegenwärtig. Das Thema der Differenz von Körper und Geist unterscheidet denn auch die Korrespondenz der Zeit nach 1957 eindeutig von jener vor 1947. Während sich Rosenkranz unermüdlich bemüht, den Abgrund in Erinnerung poetisch zu überbrücken, hält Rübner ihm seine „Realität“ vor Augen, seine „formklaren“ und „bildhaften“ Gedichte, die seiner Vergangenheit angehören. Rosenkranz steigert sich dagegen ab 1958 in einen unbremsbaren Arbeitswahn, der trotz lähmender Krisen bis 1962 dauert. 16 Rübner versucht, über Berichte von Mithäftlingen Rosenkranz an seine Erfahrungen zu erinnern und damit den Arbeitsdrang schonend einzudämmen, d. h. Rosenkranz’ „Sprechen- und Reden-Begabung“ sowie „Dynamik“ – und „soviel Wissen noch dazu!“ – in andere Bahnen einer literarischen Verarbeitung zu leiten. Er aber fühlt sich „übervoll“ und körperlich „frischer und gesünder denn je“. Seine Schaffenskrisen führt Rosenkranz auf eine gegenwärtige mangelnde Existenzgrundlage zurück, auf ein fehlendes Zuhause und den verzehrenden, aber ihn auszeichnenden „Schaffensdrang“. Erst später, um 1962, konstatiert Rosenkranz seine Selbstüberschätzung. 17 16 Er schreibt neben einem „riesigen Roman“ „3 Bd“, zudem „2 1/2 Romane, 1 Epos, 2 Versbücher, trotz Terror“, wie aus einem Brief vom 10. April 1962 hervorgeht (AR 25087, Reel 1, n1026). „Es geht mir jetzt so gut wie nie zuvor in meinem Leben. Was mir fehlt und sich täglich schmerzlicher geltend macht, als das Alter, ist das Dorf, und davon ganz besonders die Wiese, mit Gras und Ziege.“ AR 25087, Reel 1, MF 722, Blatt 1032. 17 „Wie ich nun einsehe, habe ich die Lagerzeiten 42–44 u. 47–57 weitaus teurer bezahlt als ich bis vor Kurzem glaubte vermuten zu dürfen. Mein vitaler Lebenswillen … [?] täuschte mich hinweg über meine realen Gesundheitsverluste, die, wie jetzt sich zeigt, erheblich sind.“ „Literarische Besprechungen“, dieses Mal in Basel, sind aber noch immer eine Möglichkeit, nur „durchs Wort“ zu schaffen (1. Juli 63, AR 25087, Reel 2, n105). „Mein über dem Ganzen stehendes Ich“, schreibt er in einem undatierten Brief, „verhält sich dazu wie ein gehetztes Waldtier zu seiner Erschöpfung: geduldig und das Beste aus der Luft saugend“. „Auch nähre ich tief innen immer noch die Hoffnung, meine Erlebnisse einmal sprachlich gestalten zu können. Das Haupthindernis dazu liegt immer noch in meiner materiellen Bedürftigkeit“ (30. 12. 1963. AR 25087, Reel 2, n128.).

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[…] Ab 20. VIII. werde ich Dir in jedem Brief die Erstniederschrift von Gedichten senden, die in diesem Monat entstanden sind, die Du doch schön typpen und der Reihe nach aufeinander, in der Ankunftsfolge, legen sollst, bis ich genug sage, worauf Du sie zu einem Band binden wirst. In diesen Stücken wirst Du auch mich haben. Sie sehen so aus, dass sie auch ein Geld eintragen könnten und gewiß Ruhm, der mich aber nicht interessiert außer, dass Du ihn spendest. […] Vielleicht werde ich Auszüge aus der Komödie schicken können. Lilly hat Recht, ich bin übervoll. Was Wunder, nachdem sich mein ganzes Leben in mir aufgestappelt hat. Und ich darf noch immer nicht die Schleusen öffnen. Falls ich noch so uneröffnet einst ins Grab fahren soll, wird die Erde über mir hochfliegen. Reichen Aufschluß werden die neuen Gedichte Euch, und besonders Dir, geben. Bis dahin lese aufmerksam die alten, Hast Du alle? […] p.s. ich danke Dir für den Auszug über Th. Mann. Ich habe diesen liebsten Dichter hier in 12 Bd. und auch schon das Neueste, das ich nicht kannte, vollständig durchgearbeitet. Ach, hätte ich doch [?] ich meine Eindrücke diktieren könnte. Ich habe so wenig Muße und soviel Muse für eigene Hervorbringungen. Ich bin z. T. nur deshalb Dichter und nicht Prosaschreiber und Dramatiker geworden. Und deshalb sind meine Verse so prall geworden. Wenn mir in diesem Leben noch wenigstens nur ein Jahr für mein Werk gegeben werde! Die Komödie und das neuen Gedichtbuch habe ich buchstäblich zwischen den Zahnrädern des Alltagsbetriebs geschaffen. Und in einem Zimmerchen um [?] dessen dünne Wände Tag und Nacht ein infernalischer Lärm wogt. 18

Rübner hat in Form zu bringen, zu „binden“, was aus Rosenkranz’ Erlebnisstauung fragmentarisch und lyrisch ausbricht. Das „ganze Leben“, das sich in ihm „aufgestapelt“ hat, drängt zur „Geburt“, die nur mit Prosa möglich scheint, für welche aber nur die Lyrik bereitsteht: Und wie sehr drängte es mich nach der Geburt eines Werkes! Ich war mein lebenlang wie eine Kreissende [?] und suchte, toll von Schmerzen, nach einem Strom um niederzukommen; und immer vergeblich. Das ist meine Vergangenheit. Und nun und weiter? Ich habe die Frucht nicht abgetrieben. Ich habe das Unnatürliche zustande gebracht, und in mir geboren, so bin ich eigentlich nur eine Schale um mein nicht ins Leben getretenes Leben! 19

18 28. 7. 1957. AR 26053, Reel 1, n542. 19 In einem Brief vom 9. Mai 1957 an Lilly und Heinz Kehlmann. AR 26053, Reel 1, n471 (Abschrift von Rübner).

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Diese innere Stauung und zugleich das traumatische Kreisen um die Vergangenheit intensivieren sich, als Rosenkranz zu Beginn der 1960er Jahre feststellt, dass er keine „Möglichkeit“ besitzt, im „Kreissen“ „das Tor zu öffnen“ und seinem „Schöpfungswillen“ freien Lauf zu lassen. 20 Während er die Verse als „esoterisch“ bezeichnet21 , gilt seine „große Sehnsucht zunehmend heftig den großen epischen Prosaarbeiten, für die ich mir die Suceavaer Atmosphäre (1926/37) wiederwünsche“.22 Was ihm vor seiner Deportation noch zeitweise gelingt, verkommt nach seiner Rückkehr in Rumänien zu vergeblichen Bemühungen um Ruhe und Ungestörtheit zum Denken und „Schaffen“. Immer wieder versucht er, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, mietet sich an unterschiedlichen Orten ein, um seinem unstillbaren Schaffensdrang ohne Ablenkung nachzukommen. So reist er „in die siebenbürgische Waldeinsamkeit“ (neben Hermannstadt), um vier Monate ungestört an seinem Roman „Nero“ zu arbeiten, aber bereits am 18. Mai 1958, nur wenige Tage später, berichtet er vom Abbruch dieses Projekts: Er befände sich in einer „schweren Gemütskrise“ „und wie vor dem Eintritt in ein Leben“. 23 Obgleich bereits in Czernowitz und in Bukarest sowie bei Schreibaufenthalten in Suceava (Nordrumänien) vor 1947 widersprüchlich vom teils selbstgewählten, teils von außen aufgezwungenen Einsamkeitsdasein und Abgetrenntsein von Rübner und von Freunden berichtet wird, gipfelt diese Arbeitseuphorie nach 1957 in einer Ausweglosigkeit, für die das Alleinsein selbst die Ursache ist. Der Schaffensdrang forderte ein unbedingtes Alleinsein, um „nachzuholen“, was er in der Zeit des Gulags verpasst hatte; zugleich aber fiel ihn dasselbe Alleinsein von hinten an, als sich die „Fruchtbarkeit“ dermaßen „vermehrte“, dass sie jedes Maß überstieg und jede Formierung oder Strukturierung sprengte. Die Ru-

20 21. 4. 1963. AR 25087, Reel 2, n61. 21 „[…] Das Urteil: ‚esoterisch‘ über meine Verse im letztexponierten Brief bezieht sich auf ihr Verhältnis zu meiner gegenwärtigen Wirklichkeit, die nichts mehr enthält davon, was in ihnen zertretet erscheint. Dennoch werden wir aus den 5 Heften einmal 100 Stück für eine Veröffentlichung noch zu Lebzeiten auswählen […]“. AR 25087, Reel 1, n998. 22 Am 24. März 1962: München, Bahnhof. AR 25087, Reel 1, n998. 23 AR 25087, Reel 1, n672 ff.

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he selbst begann die Ruhe zu stören, 24 und die Arbeit am Roman brach er Übersetzungen zugunsten ab. „Meine Gemütskrise hat zum Inhalt, was lebenslang schon aller meiner Krisen Inhalt war: meinen Schaffensdrang. Nur ihn und nichts sonst. Meine Einsamkeit ist mir – nicht lästig, oder nur insofern, als sie meine geistige Fruchtbarkeit vermehrt; und was soll ich damit? […] Den Roman vom Hund habe ich in der Mitte liegenlassen. Das ist meine Krise.“ 25 „Vielleicht“, schreibt er wiederum am 26. März 1962, „hängt das damit zusammen, dass sie [die Verse] zu einer Vergangenheit gehören, die mich […] beunruhigt und belastet und von der ich mich endgültig zu lösen schon seit einem Jahr sehr bemüht bin“. Rosenkranz schreibt von seinem „Desinteressement an den Versen (die ich nur schrieb, weil ich weder Ziel noch Muße zu ernsteren Arbeiten fand)“. 26 Mein Liebstes, seit einigen Tagen schon stecke ich in den fließenden Anfängen meiner großen Arbeit, meiner Lebensarbeit. Meine Überzeugung, daß sie uns auch materiell und gesellschaftlich endlich zur langersehnten Versorgtheit und Bewegungs- und Reisefreiheit verhelfen wird, ist, wie ich schon sehe, keine Übertreibung. Ich hoffe, Dir im Februar den I. Bd. senden zu können; es ist nicht meine Biografie: klein sind die Erlebnisse meines Lebens, verglichen mit denen meiner Arbeit. […] das verspätete Wunder meines Lebens, das so reich ist an peinvollen Wundern […] meine Realisierung in meiner Arbeit. 27

Ob es sich hierbei um die erste Fassung des autobiografischen Fragments Kindheit handelt, ist nicht eindeutig zu klären. Dass es aber eindeutig nicht um „meine Biografie“ ging, denn „klein sind die Erlebnisse meines Lebens, verglichen mit denen meiner Arbeit“, verweist auch auf den kompletten

24 Ab 1959 taucht in den Briefen auch erstmals die dritte Person anstelle des Ich auf: Hier ist zu bemerken, dass Rosenkranz unterschiedliche Namen, auch Kürzel und Diminutive, als Absender benutzte, die alle für eine bestimmte Zeit konsequent geführt wurden … „Nun zu Freund Busch [MR]. Er wundert sich, daß …“ und wenige Tage später, am 6. September 1959: „Busch ersucht mich ausrichten, dass er keinesfalls empfindlich ist und sich nicht verletzt fühlen würde. Er sehnt sich nur recht sehr nach seiner Frau …“ (AR 25087, Reel 1, n721). 25 23. 6. 1958. AR 25087, Reel 1, n683. 26 AR 25087, Reel 1, n1005. 27 16. 11. 1962. AR 25087, Reel 1, n1222.

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Rückzug seines gegenwärtigen Lebens im Schreiben: die „Realisierung“ „des verspäteten Wunders meines Lebens“ „in meiner Arbeit“.

7.1.2 Die „Wendung zum Epischen“ Die „Wendung zum Epischen, zum unerschütterlich Heiteren, unaufhörlich Dauernden und Glücklichen“, die Rosenkranz bereits 1940 vor der Verschleppung gegenüber Anna Rübner äußerte, drängte sich nach 1957 unter neuen Vorsätzen auf. 28 Die „ewig Kreissende“ kreist um ein Selbst, das sich durch die Gedichte selbst formiert. 29 Das Kreisen um die frühen Gedichte und damit um die früheren Lebensmomente kann nur mehr über einen anderen schriftlichen Zugang zur Vergangenheit gelöst werden: „geheftet (wie für die ‚Ewigkeit‘)“, während sich „die Romane vordrängen“, „sich aber gedulden“ müssen: „Für sie muß ich andere Lebensbedingungen und ein weites Zeitfeld vor mir haben. Vielleicht auch schon alle Krisen und Möglichkeiten dazu überwunden haben. Das ist im Augenblick das Vordrängendste, was ich Dir sagen wollte“. 30 Die Vergangenheit, von der ich als einer Belastung zu Dir sprach, ist autokritischer und nicht personenbezüglicher Natur (wie Du den Eindruck hast). Um noch zu schaffen, was ich gerade in meinem heutigen Alter noch zu schaffen, mir seit frühester Jugend schon vorgenommen, muß ich vor allem mich von allem, auch von mir selbst zuerst distanzieren, dasselbe übrigens auch von Völkern, Kulturen und sogar geografischen Räumen […]. 31

28 15. 5. 1940. AR 25087, 1/8, Reel 1, n384. 29 Vergleichbare Stelle aus dem Manuskript Jugend: Auf Seite 183 beschreibt Rosenkranz die Geburt eines Gedichts aus seinem Körper: „[…] Mir ist zum Heulen, doch mit Lachen; denn es tut furchtbar weh, ist aber noch einmal ich. ich, neuer, schöner, vertrauter. Und will heraus und neben mich, sich zum Leben, mir zum Glück […]“. 30 Auf diese Prosaarbeit geht er nur an vereinzelten Stellen kurz ein. Auch Rübner äußert sich ausschließlich über die Gedichte, wobei unklar bleibt, inwiefern sie in diese Prosaarbeit involviert war, d. h. die Textarbeit, die Gedichte zur Vorlektüre, zugeschickt bekam. 31 10. 4. 1962. AR 25087, Reel 1, n1027.

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Diese Distanzierung, die auch mit dem Verfassen einer „Lebensarbeit“ „seit frühester Jugend“ einhergeht, verweist auf eine Selbstreflexion, die weniger ein Ringen um das Dichterdasein, als umso stärker mit dem „Menschsein“ darstellt. Weniger die fehlende Anerkennung als Dichter als vielmehr, dass er als Mensch „nicht erreicht“ wurde, empfand er als innere Belastung. Obgleich er von der „Krankheit, die eine Todes- und Höllenfahrt“ war, sprach, beschrieb er sich nicht als „krank“ 32 , sondern vom Leben erschöpft – in Goethes Worten: „Ach ich bin des Hades müde“: Bislang hielt ich nur seit 1942 mich ‚gestorben‘, doch meinte ich, das sei nur innerlich, psychisch geschehen, die Leiden in Russland provozierten mich zu leiblicher Weiterdauer und noch die Hoffnung auf die endliche ‚Freiheit‘ hier im Westen hatte dieselbe Wirkung. Jetzt ist es klar: ich bin auch physisch bloß noch ein Phantom über meinem eigenen Hinschied. Lebendig ist nur noch irgendeine geistige Neugierde und eine unstillbare Trauer über unseren lebenslangen von außen bewirkten Zusammenbruch. 33

Im Jahre 1961 emigriert Rosenkranz über Österreich in die BRD. Dies löst weitere „seelische Vulkane“ aus, und die Suche nach einem geeigneten „Zuhause“, um sich „renovieren“ (Anna Rübner) zu können, scheint an kein Ende zu kommen. Sein übersteigerter Schaffensdrang wird durch bedeutungsschwere Krisen blockiert. Meine mich als Mensch in dieser Welt immer gefährdende Passion, ja Besessenheit, ist das Denken, mit dem Ziel, Einblicke und Erkenntnisse zu gewinnen. Die Dichtung, die ich streckenweise verlauten lasse, ist nur das begleitende Spiel auf diesem einsamen Wege: Sie ist sekundär. Ich belog mich selbst, wenn ich sie für mehr hielt. Aus meinen Erkenntnissen sauge ich mich stets voll mit Verzweiflung und lebe immer am Rande des Endes. Wobei das innere Ende viel furchtbarer ist als das äußere, woran ich mein lebenlang nahezu heiter die Füße 32 Seine Kritik an der Psychoanalyse, mit der sich Rübner in ihrem Psychologiestudium zu dieser Zeit beschäftigt, dürfte mit seiner Bewertung von „Erfahrung“ als individuelles Kapital jedes einzelnen Menschen zu tun haben. Die „Nachtmahr Psychoanalyse“ kritisiert er als „Tiefendialektik“, die „nicht bloß das Persönliche im Menschen zerredet, sondern auch die Instinktfäden zernagt, woran uns Natur am Leben hält. Es ist das bürgerliche Equivalent des proletarischen Kollektivismus“ (18. 11. 1961. AR 25087, Reel 1, MF722, 849). 33 Steinen, 10. 3. 1965. AR 25087, 1/20, Reel 2, n188.

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setzte. Um indes der Angst vor dem inneren Aufhören beizukommen, lernte ich, mich mit der raffiniertesten und törichsten Rauschmittel der Natur zu betäuben: mit der Schönheit. Wenn ich sie nicht draußen fand, erzeugte ich sie aus mir. 34

Obgleich Rosenkranz 1962 auf die Periode 1957–1961 zurückblickt und seinen „Selbstbetrug“ in Bezug auf seine physischen wie psychischen Spätfolgen der Lagerhaft erkennt35 , erfolgt das Anpassen der Gedichtbände bzw. der „Erlebnisse“ an die Gegenwart weiterhin euphorisch. 36 „In größtmöglicher Zurückgezogenheit (unter Deinem Schirm)“ versucht er, seine „Erlebnisstoffe in zeitgerechte, z. T. einträgliche Formen, zu setzen“: „Ich werde literarisch arbeiten“, schreibt er in Wolfratshausen am 17. August 1962, „ich fühle mich eins den Schöpfern der notwendigen Literatur, denen es niemals besser und oft übler erging als mir (Kleist, Rimbaud, Kafka usw.)“. Von der „ernsten“ Literatur, die er mit seinem „liebsten Dichter“ Thomas Mann 37 in Verbindung bringt, bis hin zur „notwendigen“ Literatur zeigt sich die Tendenz, nach der Rosenkranz über „Persönlichkeiten“

34 22. 9. 1961. AR 25087, Reel 1, n820. 35 „Im Sommer 1941 erlebte ich zum ersten Mal einen vollständigen Zusammenbruch meiner Körperkräfte; ich hatte in der Folgezeit nicht die Möglichkeit wieder aufzubauen und glitt dahin über meine physische Niederlage bloß dank kräftiger Seelen= und Willensbe=schwingungen. Der Vorgang wiederholte sich 1944, 1947 und ab 1948 täglich bis 1957 und ab 1959 schon auf einem Tiefstand – Tiefstand – meiner organischen Lebenslage. Und so kam ich auch her. Bis 1962 ignorierte ich meinen Zusammenbruch und ging über meine eigenen Trümmer hin – ich hatte keine Alternative –. Erst im Frühling 1962, in Kiental, begann ich auf zu bauen. Aus Mangel an materiellen Möglichkeiten kam ich indes nicht über den Anfang hinaus. Es war unzureichend. Plötzlich konnte ich nicht mehr mich erheben über die Müdigkeit, ich schaute sozusagen zurück – auf beide Schultern, auf mich legte sich Lebensüberdruß und jetzt narrt [?]) sich bei jeder Bewegung ein Kopfschwindel. Es ist keine Krankheit. Aber es ist Erschöpfung. Ich [?] habe mich ausgeschöpft. […] Die ärztlichen Untersuchungskommissionen befinden“ (3. 5. 1963 [ohne Ort]. AR 25078, 1/18, Reel 2, n69 f.). 36 24. 3. 1962. AR 25087, Reel 1, n997. 37 Am 28. Juli 1957 schreibt er, dass er alle zwölf Bände durchgearbeitet habe. Nur „Dr. Faustus“ stellte für Rosenkranz schließlich „eine Enttäuschung“ dar. AR 25087, 1/35, Reel 2, n361.

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gemäß ihrer „Biografie“ urteilte. 38 Für ihn selbst standen nicht mehr die „Karriere“ oder eigene verdienstvolle Werke im Zentrum, vielmehr die Rückbesinnung auf menschliche Grundwerte und das (poetische) Meistern seiner Existenz. 39 Ich werde mich schon herausziehen aus dieser Kaskade von Krisen, die mich überstürzen. Sie kommen z. T. davon, daß ich endlich meine Unfähigkeit mein Verhältnis zur Welt erträglich zu gestalten erkannt habe und dass ich „leben“ möchte, meine sogenannte „Begabung“ es mir aber verbietet und drittens, das ich wirklich zu viel weiß, im Sinne der Weisheit nicht der Wissenschaft. Nach irgendwelcher allgemeiner Anerkennung oder Preise (einschl. Nobel) sehne ich mich eigentlich überhaupt nicht oder nur des Geldes wegen, womit ich entlasten und helfen könnte. Eigentlich möchte ich hauptsächlich das. […] Aus Genf noch nichts. Ich bin dabei alle diese Fälligkeiten und Umstände aus meinen Gedanken zu entfernen. Das kann ich leicht. Auch diese Dinge stören nur. Wenn ich guten [?] arbeiten will, bemühe ich mich nur die Gegenwart zu empfinden und was mir zur Arbeit wichtig ist. 40

Ab 1962 beginnt bei Rosenkranz der Rückzug von vielen ihm einst nahestehenden Personen; auch die Briefe an Rübner nehmen ab: „Ich muß mich immer mehr von den Leuten lösen. Eigentlich sehne ich mich nach astraler Einsamkeit, vielleicht halte ich deshalb es in meinem Zimmer so kalt […]“. 41 Mit der „astralen Einsamkeit“ geht einher, dass „mich nichts mehr angeht. Ich fühle mich überholt oder noch nicht eingeholt. Nach dem in38 Vgl. (Rosenkranz, 1983). Aber auch die Gesichter waren für die Urteilsbildung wichtig, ähnlich wie in Rilkes Malte Laurids Brigge. 39 Neben Thomas Mann nennt Rosenkranz auch Tolstoj als seinen „liebsten Dichter“ (AR 25087, Reel 1, n526). Gerade Rosenkranz’ religiöses Verständnis und seine Meinung über die Aufgabe des Menschen in der Welt erinnern immer wieder an Tolstojs Schriften zum Glauben und zur Kunst. Auch in Rosenkranz Arbeitswahn nach 1957 lässt sich jene Lebensphilosophie erkennen, in der der Mensch allein durch sein Schaffen seine Lage in der Welt erkennt und somit auch einen Sinnzusammenhang für sein Dasein. Vgl. (Tolstoj, 1991) oder die jüngste Edition zu dieser seit dem Zweiten Weltkrieg beinahe vergessene Rezeption in der Tolstoj-Forschung: Martin Tamcke: Tolstoj Religion. Eine spirituelle Biografie, Insel, Berlin 2010. 40 30. 11. 1961, 12 Uhr. AR 25087, Reel 1, n854. 41 27. 12. 1962, 14 Uhr. AR 25087, Reel 1, n1236.

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tensiven Gedankenleben seit meinem 10. Lebensjahr ist das eine Erkenntnis, die ich als Mensch in der Zeit nicht ohne Bitternis empfinde“. Die „Festigkeit der Stränge zwischen uns beiden und zu noch einigen sehr wenigen Menschen“ scheint ihm der letzte Grund dafür, „daß ich noch nicht hinunterstürze, ich meine in die Erde: wo Ruhe herrscht, wie uns die Schule lehrte“. 42 Aber auch diese Ruhe im Tod bleibt nicht unanfechtbar. Rosenkranz scheint spätestens ab den 1960er Jahren bewusst aus den allgemeinen Raum-Zeit-Verhältnissen herausgefallen. Ein lang ersehnter Abschluss seiner Vergangenheit drängt sich zwar auf, aber seine „organische Lebenslage“ wird von traumatischen Spätfolgen der Lagerhaft bestimmt. Problematisch wird vor allem, dass er nach vielen Kürzeln und ausgedachten Eigennamen in den Briefen seit den 1930er Jahren nun nicht mehr weiß, wie oder als wer er unterschreiben soll: Er ist ja „nur ein Über-Lebender“. 43 Was er 1957 noch humoristisch an Rübner schrieb, anerkennt er ab den 1960er Jahren als ernsthaftes Problem: „ER wird nicht erreicht“.44 Dollys Mitteilung, dass Leute (Freunde?), denen gegenüber ich redseliger zu sein, Veranlassung habe, über mich zwischen Begeisterung und Zweifel schwanken, ist gewiß richtig und muß Dich nicht wundernehmen, denn wenn ich nicht ich wäre und mir begegnete und mich sähe und hörte, beigott ich würde vor lauter Zweifel über mich lachen und vor lauter Traurigkeit mich trösten: nein so was! Das erfindet er! Sowas kanns ja gar nicht geben! Und doch gibt’s mich! Und wie real und gesund noch dazu! 45

Aus der Unzulänglichkeit der Erinnerung oder aus der abhanden gekommenen Glaubwürdigkeit des Gedächtnisses im gebrochenen Ich resultiert ein verallgemeinerndes Misstrauen gegenüber Mitmenschen und der Vertrauensverlust zu allem Fixierten. Der Versuch seines Einrichtens in der Welt wird ein „innerlicher“. Nach seiner „Erkenntnis“, dass selbst seinen „Freunden“ nicht zu trauen sei, „müssen wir uns von allem Fixierten lösen und, 42 5. 8. 1962. AR 25087, Reel 1, n1139. Zunehmend betont er die Bedeutung der „Menschen“ anstelle von „Dichtern“ oder Namen: Margul-Sperber, der mich „als Mensch“ schätze – „(nicht wie vorher [nur als Dichter]) und das Gleiche gilt auch für alle anderen Bekannte“ (18. 10. 1957. AR 25087, Reel 1, n577 f.). 43 30. 12. 1963. AR 25087, Reel 2, n129. 44 10. 8. 1957. AR 25087, 1/12, Reel 1, n53 f. 45 30. 12. 1963. AR 25087, Reel 2, n128.

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ohne unseren Charakter aufzugeben, den Erlebnismomenten anvertrauen, so benehmen sich gute Schwimmer zu den Wellen. Selbst und gelöst im Rhythmus bleiben, darauf kommt es an“, schreibt er am 2. Oktober 1963. 46 Auch das Verhältnis zu Rübner wird allmählich problematisch; noch aber „erregt deine gefühlvolle Fähigkeit auf meine Arbeiten [?] einzugehen mein freudiges Erstaunen und veranlasst mich zu bewundernder Anerkennung“. „In Dir möchte ich meinen Biographen haben“ schreibt er im Mai 1963. Mein Lebenslauf scheint mir wohl wert und würdig einer Aufzeichnung. Unternähme ich diese Arbeit aber selber, würde vieles darin angeberisch und unwahr anmuten. In meiner Lebensführung steckt mehr als in meiner Dichtung bis nun und auch in Zukunft untergebracht werden wird. Ich wollte stets ein tüchtiger Mensch als Dichter [?] sein. Vielleicht ist das Poetische an mir nur die Ergänzung des Menschlichen. Aber was fasle ich da? 47

Ganz im Widerspruch dazu, was er noch in den späten 50er Jahren verlauten ließ, besteht nun in der „Biografie“ die letzte Berechtigung seines ÜberLebens. Nicht mehr ist das Leben mit der Dichtung gleichzusetzen, sondern dieses steht jener vor – oder aber: Das Menschliche ist der poetische Anteil, der die Wirklichkeit lebenswert macht. Im Widerspruch dazu erweist sich weiterhin die offensichtlich lebensverdichtende und identitätsfestigende Arbeit an den Gedichten; ihre Zusammenstellung allerdings, das immer neue Ordnen und Überarbeiten der Gedichte, wird gerade symptomatisch für die Suche nach dem letzten ungebrochenen Lebensfaden, der ihm auch für die Verfassung der Biografie unabdingbar bleibt. „Mein über dem Ganzen stehendes Ich […]“ verhält sich dazu wie ein „gehetztes Waldtier zu seiner Erscheinung: geduldig und das beste aus der Luft saugend“. 48

46 AR 25087, Reel 2, n119. 47 26. 5. 1963. AR 25087, 1/18, Reel 2, n94 f. 48 3. 5. 1963. AR 25087, Reel 2, n73.

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7.2 Bedürfnis nach dem „Schönen“: Bilder und Fotografien Rosenkranz’ Diktum „sich Loslösen von allem Fixierten“ ist für die poetische Untersuchung der Selbstgenese in Lyrik und Autobiografie von großer Bedeutung. Der Versuch, sich in der Welt nach 1957 neu einzurichten, zeigt über so genannte „Einsamkeitsbrecher“ (Rosenkranz) „Erscheinungen“ der verlorenen Identität auf. Rosenkranz’ Selbstreflexion zeigt so anhand des Bildmaterials (Fotografien und Kunstdrucke) die für die vorliegende Untersuchung wesentliche phänomenologische Bedeutung des Sehens und Schauens.49 Für die späteren Kapitel dieser Untersuchung werden denn auch außersprachliche Bezüge für das poetische Selbstbild von Rosenkranz wesentlich. Das Bedürfnis nach „Schönem“ – das „törichste Rauschmittel der Natur“ –, das Rosenkranz vor allem über Vor-Bilder eigener (Kindheits-) Fotografien, fotografischen Abbilder Rübners oder auch Kunstdrucken begreift, geht parallel mit den wachsenden Zweifeln an der Sprache als Vermittlungsinstanz.50 Ab 1955 51 fordert Rosenkranz in seinen Briefen immer wieder Fotografien an und ließ sich für Rübner fotografieren, um sich als „vollkommen gesunden“ Menschen vorzustellen. Die Bedeutung einer bildhaften, quasi silhouettenhaften „Form“ einerseits sowie die Verwischung von Form und Inhalt andererseits wird in der Arbeit an den Gedichten für jene Zeit bei Rosenkranz eindeutig. Später wird er nur mehr schreiben, um zu sehen und zu hören, nicht mehr aber um zu „lesen“. „Lesen“ scheint hier ein zu anstrengender Akt, der gegenüber „Sehen“ und „Hören“ nicht passiv vollzogen werden kann. 49 Identität als eine phänomenologische „Erscheinung“ führt Havryliv in Bezug auf die österreichische und galizische Literatur in seiner Habilitationsschrift näher aus. Vgl.: (Havryliv, 2008, 15). 50 Wenn wir an dieser Stelle auch nicht gesondert auf die Gedichte eingehen, die ebenfalls als formale Gegenstände in die Korrespondenz eingegangen sind, so sei doch erwähnt, dass die gemeinsame lyrische Arbeit in die Diskussion um das „Bildhafte“ und Schöne hier zusammenfloss. 51 Rosenkranz befand sich damals noch in Gefangenschaft in Moskau, bevor er an Rumänien ausgeliefert wurde.

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Der unten stehende Briefausschnitt verweist auf die erinnerten Natureindrücke Sibiriens, die Rosenkranz auch später stets positiv ins Gedächtnis zurückrief und hier aus dem Geschriebenen bildlich ableitet; 52 zudem erklärt er den Vorsatz, ein Lautrec-Plakat in poetische Sprache zu übersetzen, um die Vermittelbarkeit der Sprache „nach all den Erlebnissen, Jahren und Räumen“ zu überprüfen. Mein Liebstes, soeben erhielt ich Deinen Brief vom 6. 10. d. J., den mit den beigelegten, metallfarbigen Blättern. Sie vermitteln mir, durch ihre Zeichnung, die Stimmung einer großen Landschaft, weiter Horizonte hinter hohen Wäldern unter gewaltig ausgehöhlter Himmelskuppel. Kommen sie wirklich von so was, oder macht meine Sehnsucht nach solchen Landschaften mir was vor? – Dein Worte über mein ‚Variete‘ überschriebenes Gedicht, das Dich, wie Du sagst, an Lautrec-Plakate erinnert, entzücken mich gleicherweise durch Dein Treffsicheres Empfinden meiner Kunst und die unfehlbare Wirkung derselben: ich wollte mit diesen Versen in der Tat nur ein Lautrec-Plakat wiedergeben, nicht mehr aber auch nicht weniger. Du bestätigst mir, daß ichs getroffen habe. Und Deine rechte Beurteilung meines Produktes nach all den Erlebnissen, Jahren und Räumen, die sich zwischen uns geschoben haben, bestätigt mir eindrucksvoller als anderes äußere innerste Verbundenheit und ist eine zündende Liebkosung. 53

Die gelungene Vermittelbarkeit seines Bild-Gedichtes bestätigt Rosenkranz hier die starke „innere Verbundenheit“, die den äußeren Distanzen und Leerräumen zwischen den beiden Briefpartnern widersteht. Das Bildmaterial, das regelmäßig die Briefe ergänzte und die poetische Arbeit begleitete, lässt sich in dem Sinne sowohl als eine Distanzstrategie betrachten, die dem Ich zur Selbstobjektivierung diente („Dass ich gut aussehe, lese ich manchmal in den Blicken derer, die mich ansehen. Und ich fühle mich und bin kräftiger als je zuvor“), als auch zur Überbrückung einer räumlichen wie sprachlichen Kluft. Im Blick des Anderen wird die Selbsterkenntnis motiviert, für die das Anschauen und Angeschautsein – das visuelle Wahr-Neh52 Doris Rosenkranz in einem Gespräch zwischen Januar und Juli 2005. Auch in der Korrespondenz an Rübner äußert Moses Rosenkranz 1962, dass er aus Norilsk bestimmte Vorstellungen, das heißt einen „Rhythmus“ im Gedächtnis behalten habe, der ihm seine Gedichte erinnern half. AR 25087, Reel 1, n1073. 53 18. 10. 1957. AR 25087, 1/12, Reel 1, n53 f.

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men – die Voraussetzung ist. Im Briefnachlass von Kaspar Niklaus Wildberger schreibt Rosenkranz auf die Rückseite der von seinem Freund angefertigten Porträtfotografie am 20. März 1982 (Abb. 6): Der N. K. Wildberger hat mich innerlichst durchschaut. Dieses Foto zeigt meine Verlegenheit darüber. Ob er auch sie ergründet? Durch dieses Bild begann ich selbst mich erkennbar zu sehen. Es entspricht meinen Selbstbildnissen in Versen, die ich vom Foto richtig zurückdeuten kann. Dank Kaspar Niklaus!

Festzuhalten ist hier, dass das eigene Angeschautwerden nur erkannt werden kann, wenn das Gegenüber ebenfalls angeschaut und somit erkannt wird. Während sowohl frühere als auch aktuelle Fotografien (z. T. auch nur Passfotos) des Dichters direkt auf sein gegenwärtiges „Selbstbild“ referierten, lassen Kunstdrucke von der Renaissance bis in die Moderne sowie Verweise auf Bilder oder Beschreibungen von berühmten „Persönlichkeiten“ eine erkenntnisreiche Differenz zur Selbstannäherung sprechen: einen Vergleich mit dem Selbstbild, das immer als individuelle Unverwechselbarkeit sowie als ein „Ebenbild“ zugleich begreifbar wird. Mit dem Picasso Knabenbild hast Du mir eine seltene Freude bereitet. Du hast mit der an mir messenden Betrachtung desselben, auf ihren beiden Stufen recht: Es ist mir ähnlich und doch wieder nicht. Dagegen gibt es den Arnold 54 , als wäre dieser teuerste als Jüngling verstorbene ihm als Knabe Modell gestanden. Du hast [in] meinem Buch damit ein wichtiges Dokument entdeckt. Ich ahne, daß Du mir je länger je mehr eine künstlerische Schatzerschließerin werden wirst. 55

Die Auseinandersetzung zwischen Selbst- und Fremdbild wird zu einem intensiven Prozess der Selbsterkenntnis und zugleich zu einer permanenten Suche nach „Ebenbildern“ 56 , was theologisch gedacht im Diskurs über die menschliche Gottebenbildlichkeit im Humanismus auch die Frage nach dem Menschen bzw. der Menschenwürde einführt. Vergleiche mit anderen 54 Arnold ist der ältere Bruder von Moses Rosenkranz, der im Jugendalter verstarb. In Kindheit kommt diesem Bruder viel Bedeutung und Mitleid zu, worauf in diesem Zitat mit dem Verweis auf sein „Buch“ bereits hingedeutet ist. Vgl. dazu auch Kapitel 9.3.1/9.3.2. 55 18. 11. 1961. AR 25087, Reel 1, n841. 56 Vgl. Kapitel 9.3.

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Personen führten letztlich zur „Selbstinszenierung“. So zeigt sich im folgenden Brief, wie sich Rosenkranz beim eifrigen Nachholen seines Lebenswerks auch fremde Dichter-Posen vorstellte oder gar zu eigen machte: nicht nur den Vergleich seines spartanischen Verhaltens mit Rilkes Arbeitsdisziplin nahm er als Vorbild; auch die Einrichtungsschilderung erinnert an das klassische Interieur an Goethes Stehpult.57 An den schönen Wänden habe ich mit Spannägeln zartfarbige französische Graphiken aus dem XVI Jahrhundert befestigt. Der Schranktisch, an dem ich nur stehend arbeite, hat zur Linken das Fenster und lehnt an eine Wand (die Wände sind in meiner liebsten Wandfarbe gelb-grün-braun-beich [?] übertüncht, wo ich mit Spannägeln von Dir geschickte Bilder, darunter die Kuh und den Ausblick aus aus Deinem Fenster mit hoher Zimmerblume im Rahmen, zur Freude meiner Seele befestigt habe. 58

In Verbindung mit den Bildträgern und der Betrachtung eingeforderter Fotografien und Abdrucke kommt bei Rosenkranz ein zusätzliches Moment der Anschauung ins Spiel: Einerseits verweist seine bildliche „Lektüre“ auf eine Zusammenschau oder „Allschau“ 59 und damit die Erfassung einer Gleichzeitigkeit, die in der Schrift immer nur als Ungleichzeitigkeit, sprich Linearität wiedergegeben werden kann; andererseits ist der fokussierte Blick und somit das bewusste Hinschauen immer auch ein Fragmentieren und Neuordnen: eine Anordnung der Gleichzeitigkeit, welche wiederum die „Lektüre“ dem umfassenden bzw. umsichtigen „Schauen“ nachstellt. Diese Beziehung zwischen Schrift und Bild, zwischen Sehen und Schreiben oder auch die Imagination eines Anwesenden im Abwesenden zeigen auch die von Rosenkranz häufig eingeforderten Abbildungen von (Rübners) Händen. 57 In einem Brief von 1936 schreibt er: „Sogar Rilke arbeitete an seinen 40 Seiten Duineser Elegien mehrere Jahre (im Schlöszchen Meuzot in der Schweiz in sorglicher behüteter Einsamkeit). Von George nicht zu reden: der arbeitete jahrelang an einzelnen Gedichten sogar. Nun das kann ich mir nicht leisten. Aber 6 bis 8 Monate vollkommene Ruhe und Ungestörtheit musz ich schon beanspruchen um die „Tafeln“ zu leisten. Jede dieser „Tafeln“ soll auch wirklich eine Tafel sein und wert in Stein geschnitten zu werden. Da musz ich schon über ein gröszeres Zeitgefilde verfügen und nicht eilen.“ 5. 5. 1936, 7 Uhr. AR 25087, Reel 1, n83. 58 31. 12. 1957. AR 25087, Reel 1, n601 f. 59 Vgl. Kapitel 9.3.2.

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Abbildung 5: Moses Rosenkranz 1982 in Lenzkirch-Kappel, Aufnahme von Kaspar Niklaus Wildberger, Privatbesitz, Riehen.

Aber die Sehnsucht und der Gedanke an die Erfüllung lässt uns nicht los. Sie ist unsere Lebensbemühungen wert und will von den sie ermöglichenden Eignungen geschaffen werden. Sie würden in ihr ihren Sinn bekommen. Das ist ein Ziel der Lebens- und Seelenkunst, das mir nicht kleinerer Bemühungen wert scheint als die Gipfel der Mitteilungskunst (Literatur). […] Ich bitte dich sehr um eine Kopie unseres gemeinsamen Kinderbildnisses. Ferner wäre ich sehr froh mit einigen Aufnahmen Deiner Hände in ungenötigten Posen. Wenn möglich, größeres Format. In ihnen bist Du am deutlichsten ausgedrückt, auch mit allen Schwächen und verborgenen Brutalitätsgelüsten („möchte ihm Steine in die Fenster werfen“ – im Vorbeigehen bei der Villa des reichen Barbu 1938, wo dann ich und 1940 wir beide gewohnt haben). Mit solchen Händen möchte ich mir das Zimmer schmücken. Ich glaube auch an ihre magische Schutzkraft. […] (Und einmal (1951) als ich alle jene Qualen nicht mehr ertragen mochte, und ganz unbekleidet in eine Nacht mit –35 C. und 30 m Sturm –

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Abbildung 6: Bildrückseite (Abb. 5), Beschriftung von Moses Rosenkranz an Kaspar N. Wildberger.

was in der Empfindung eine Kälte von etwa –90 C ergibt – hinausging und mich mit Wasser übergoß, um zu erfrieren, ich blieb so draußen, wurde es mir glühend heiß beim Gedanken an Dich, und dass Du meinem Tode qualvoll nachfolgen würdest. Das trieb mich wieder in die Baracke und ich wurde nicht einmal von einem Schnupfen angefallen). 60

Die Kindheitsfotografie (Abb. 7) mochte ihm einerseits für die Verfassung seines autobiografischen Fragments Kindheit dienen, das er bis Mitte der 1960er Jahre fort- und umschrieb. Im Weiteren werden Abbilder der „Hände“ gerade da angefordert, wo er mit seiner eigenen Schreibunfähigkeit konfrontiert ist. Über Rosenkranz’ beschriebene Anschauung wird die eige60 26. 1. 1962. AR 25087, Reel 1, n942.

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ne Gegenwart im Vergleich mit der Vergangenheit über das Körperfragment reflektiert. Aus den Fragmenten der Anschauung und Erkenntnis der Hände wird ein Leitfaden gewirkt, um „Reste“ produktiver Kräfte zu binden. Die Hände sind sowohl Garantie und/oder Zeugnis des Überlebens als auch Bedingung des Schreibens. 61 Die Hände werden zum Symbol der Umformung und „Verlebendigungen“ 62 , indem sie einerseits als Anschauungsgegenstand das Lebensumfeld schmücken und beschützen, andererseits die Realität (der Vergangenheit) über die fotografische Abbildung und Stillstellung inszenieren, das meint domestizieren. In Rückbindung auf die äußere Erscheinung wird das „innere Wesen“ zu begreifen versucht und über eine Regieführung der eingeforderten posenhaften Aufnahmen streckenweise inszeniert. Rosenkranz’ Ansprüche an die Fotografien waren hoch, und wo „diese Photos erfreuen […], aber […] nicht den Eindruck“ vermitteln, „daß sie mir ganze angenehme Wirklichkeit des realen Bildes in Fleisch und Knöchlein bieten“ 63 , folgen Regieanweisungen, die Rübner zur erneuten Aufnahme anleiten. 64 Gleichsam zeigt aber auch sein Urteil über Selbst-Aufnahmen, wie er den eigenen Blick, die eigene Anschauung im Bild zu befestigen suchte: „[…] Da ich drauf neben Dir stehe, komme ich mir neben Deinem offenen reinen Seelenantlitz verschmitzt und brutal vor. Ich bin es wohl auch zu mindest irgendwie […]“. 65 Du hast das kleine Momentbild richtig betrachtet, wenn Du daraus schließen kannst, dass ich meiner Mutter ähnlicher geworden bin. Das bin ich in der Tat. Und Spuren meiner Krankheit: Darüber, Liebstes, gäbe es viel zu sagen. Ich fühle mich und bin jedenfalls kräftiger und charakterlich wie auch seelisch reicher. Denn solche Krankheiten bringen entweder unters Gras, oder hoch darüber. Ich glaube, dass ich nun wirklich, dem Bilde entspreche, dass Du Dir einst von mir gemacht hast. Du hast eben rötgenhaft [sic.] und prophetisch die Li61 Vgl. auch (Seng, 1999). 62 „[…] das von Deinem Schrifttum belebte Blatt […]“ 9. 5. 1957. AR 25087, Reel 1, n471. 63 13. 4. 1958 [?, verwischtes Datum] Reel 1, n648. 64 25. 11. 1961. AR 25087, Reel 1, n861 f. 65 12. 9. 1961. AR 25087, Reel 1, n801.

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Abbildung 7: Kinderbildnis: Moses Rosenkranz und Anna Rübner. AR 25087, Reel 3, n1284.

nien meiner Entwicklung gesehen. Aber keine Kraft zum Glauben daran gehabt […]. 66

Die „Spuren der Krankheit“ werden von Rosenkranz übers Bild allein positiv gewertet und als ein „Ausdruck“ innerer Vitalität und Stärke beschrieben. Statt einer Entfremdung oder Entstellung wird das aktuelle Selbstbild dem mütterlichen Urbild zur Seite gestellt: Im kleinen Momentbild wird jene Bewegungslinie gezeichnet, die laut Rosenkranz weder einen Abbruch der Vergangenheit noch einen schockartigen Einschnitt darstellt, sondern eine vorbestimmte Entwicklung kennzeichnet, die später „hoch darüber bringt“. 66 21. 9. 1957. AR 25087, Reel 1, n562.

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Ein solches Schönes intendiert immer auch ein Ganzes, das es für Rosenkranz nach 1957 als Identität zu rekonstituieren gilt. Dass dieses „Schöne“ nicht (mehr) nur innerlich als Einheit bestehen konnte oder durfte, fordert die von außen notwendige Bezeugung und Legitimität seiner Biografie: „Alles nur von innen her, ich bin dessen schon so überdrüssig“, schreibt er am 25. Mai 1957. 67 Zur Widerlegung einer „Selbsttäuschung“ (Verkennung der physischen wie psychischen Leiden der Zwangsarbeit) sucht Rosenkranz in den Fotografien nach einer Bestätigung seines Gesundheitszustands bzw. seiner Vitalität (Abb. 8). Die reine „Vorstellung“ musste gegen ein referentielles, in der Zeit „angehaltenes“ Sichtbares eingetauscht werden, um weiterleben zu können. Wo die „reine“ Vorstellung des Ich und der anderen nicht mehr hinreicht und der Bruch des körperlich-geistigen Nexus offenbar ist, werden Bilder direkt zur Überschichtung der Erinnerung benutzt, als versuchte Rosenkranz mit neuen Bildern der Vergangenheit ihre alten traumatischen zu überzeichnen. Am 12. September 1961 erstattet er in Pidling bei der Übersiedlung nach Deutschland ein Bildwörterbuch: „Ich habe mir in München ein kl. Brockhaus-Bildwörterbuch um 16 DM gekauft. Dieses Buch gehört zu mir, wie der Katechismus zum Pfarrer“. 68 Rübner schickt des Weiteren Kunstdrucke von Breugel, Chagall, Cézanne, Dufy, van Gogh und Picasso. Am 11. Dezember 1958: 69 Soeben erhielt ich Deinen Postkartendruck nach Breugel. Die Bilder dieses Meisters erfüllen mich immer mit Genugtuung. Die Erscheinungen sind bei ihm wie in Seele getaucht, und er braucht reinen Verstand, um sie auch nur seelisch sichtbar zu machen.

Auch die anderen sind ihm „willkommen“: Van Gogh, Dufy und Picasso „wirken auf mich anregend. Die ersten beiden sind Blumen in Vasen, der letztere eine Stierkampfdarstellung. Alle diese neueren Maler, die eigentlich originelle Handwerker und als Menschen weitgehend unsympathisch sind, haben für mein Sehempfinden etwas Enervierendes, wie die Zackigkeiten und Zuckungen Nervenkranker und anmaßender Eigenbrödler. Unbeque67 AR 25087, 1/12, Reel 1, n472. 68 AR 25087, Reel 1, n801. 69 AR 25087, 1/13, Reel 1, n685.

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me Leute! Und kein Ton von Kunst. Aber gerade darum anregend. Ich danke für die Sendung.“ 70 Hauptsächlich aber sehnt er sich nach „Michelangelo-Farbabdrucken“;71 zudem wünscht er sich „farbige Kunstdrucke XV.–XIX. Jahrhundert nicht religiöse Motive“. 72 Und während er, möglicherweise aufgrund seiner religiösen Bildsprache, Chagall abbestellt, verlangt er „immerzu Ägyptisches und Asiatisches. Auch Kreta.“ 73

7.2.1 „Selbst und gelöst und im Rhythmus bleiben“ „Nicht religiös“, wenn auch geistig im Interesse an der Alten Kunst (Ägypten) sowie über die Loslösung von allem Fixierten richtet sich Rosenkranz in einem Raum von Bildern und Fotografien ein. 74 Sein Bedürfnis ist Ruhe, Freiheit und Einsamkeit. Was ihm eng und klein vorkommt, hat weniger mit der messbaren Größe zu tun als vielmehr mit der Leere großer Räume, deren Monotonie auf seine Wahrnehmung beengend wirkt. So erweitert er ab 1957 seinen Lebensraum in der Anreicherung durch Bilder und Gegenstände, die sein (Seh-)Empfinden enervieren. Weniger das Anbinden an die äußere Welt und „reale“ Wirklichkeit verschaffen ihm mehr Rückzugsmöglichkeiten, als vielmehr der physische Innenraum, den er sich zugleich als 70 71 72 73

15. 11. 1958. AR 25087, Reel 1, n688. 16. 8. 1958. AR 2507, Reel 1, n700. 18. 7. 1958. AR 25087, Reel 1, n704. 6. 3. 1962. AR 25087, Reel 1, n985 f. Rosenkranz wandt sich zunehmend von der modernen zeitgenössischen Kunst ab. Selbstreferentielle Kunst, die der „Oberflächenbehandlung“ (Technik, Herstellungsverfahren) mehr Bedeutung zuweist als ein erzählendes Bild dem Inhalt, lehnte Rosenkranz ab. 74 Eine genauere Untersuchung der angeforderten, rezipierten Bilder von Rosenkranz zeigt sich gerade im Hinweis auf die Ägyptische Kunst aufschlussreich: Die im Glauben an ein dem Irdischen vorstehenden Totenreich entstandene Ägyptische Kunst verweist über die zeitgebundenen Raumaspekte hinaus: auf einen „bewegten Stillstand“ in Rundplastiken oder auch Relief-Figuren. Weiterführende Literatur: Erik Hornung: Die Vermessung der Unterwelt. Altägypten als Kultur des Masses, in: Schönheit und Mass. Beiträge der Eranos Tagungen 2005 und 2006. Schwabe: Basel 2007. S. 219–229/ oder auch: Ders.: Bilder des Unerkennbaren.

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Abbildung 8: Passbilder von Moses Rosenkranz an Anna Rübner (1957–1962) mit handbeschrifteten Rückseiten. AR 25087, Reel 3, n1274–1275.

immateriellen geistigen Lebensraum vorstellt. Abgesehen von Fotografien werden Pflanzen zu „Einsamkeitsbrechern“ oder das Wasser als Einrichtungsgegenstand zum Merkmal des Lebendigen wider die dürre Leere. Für „das ganze Leben“, das sich „in mir aufgestapelt“ hat, müssen die „Schleusen geöffnet“ werden – die Metapher des Wassers wird symptomatisch. Eine „Schlingpflanze im Topf“ „war elend, als ich sie nahm. Unter meiner Pflege hat sie sich erholt. So oft ich selbst Wasser trinke, bekommt auch sie davon […] Ein Blättlein lege ich hier für Dich bei, damit Du die Reize Deiner Rivalin kennen lernst“. 75 Was Rosenkranz auch später in Bezug auf die Sprache aus seiner Kindheit erinnert – wie er etwa „Gespräche mit Bäumen 75 26. 7. 1957. AR 25087, Reel 1, n539–541.

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und Wellen“ führte (Rosenkranz, 1998, 147) –, zeigt sich hier an einem Beispiel, dessen Banalität in der gesamten Lebenslage Rosenkranz’ nach 1957 existentielle Bedeutung zukommt: eine Sprache und Beziehung mit oder zur Natur sowie zum Dinglichen, wobei die Grenzen von beidem in der Inszenierung des Dichters aufgehen. Während er sich von „menschlichen Wesen“, beispielsweise frühen Freunden oder auch Förderern wie Alfred Margul-Sperber, distanziert, belebt er in seiner Isolierung Versatzstücke der Erinnerung und verbindet diese buchstäblich organisch in oder mit seinem eng gefassten Lebensraum. „Sich lösen von allem Fixierten“ steht dem Versuch einer Anbindung an die Wirklichkeit gegenüber, welche sich über die Wahrnehmung verwandelt: in der Personifikation des Dinglichen sowie im Identitätsvergleich mit einer Pflanze, deren Körper gleich dem eigenen nach Pflege und Nah-

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rung verlangt. Aber es ist immer auch die Hingabe ans Lebendige und quasi ihr Gewinn mitgemeint. So schreibt er an eine Freundin, Lilly Pusch, 1957: „Dein Photo steht auf meinem Arbeitstisch an eine wassergefüllte Vase gelehnt, daneben Annis. Ihr seid mir so notwendig wie Wasser und so zerbrechlich wie Glas […]“. 76 Die Vase, welche hier den Bildern der Geliebten den Rücken stärkt, kehrt in den Briefen von 1957 an Rübner häufig wieder: […] 22 Uhr lese ich Gedichte. Platen, Uhland, Rückert und kurze Bildbetrachtungen (Photos). Was kann ich machen? Wenn mir sogar von den noch lebenden Lieben mir nur die Schatten vergönnt sind. Das ist ein großer Schatten über meiner Seele. Das Verhältnis zu meiner Mutter, das nie erstorben war, ist geisterig innigst geworden. Ihr Bild ist an der Wand zu meiner Seite. Du und Lilly (P) lehnen an einer Glasvase auf meinem Tisch. Die Vase erhält täglich frisches Wasser. Der Anblick und das Gefühl von Wasser begeisterten mich noch kräftiger als früher. So, und nun habe ich Dir das Wesentliche von meinem Leben erzählt. 77

Aus der Beziehung der Dinge im Raum geht ein Vermessen der gegenwärtigen Situation über die Bilder der Vergangenheit hervor. Das in den Raum übergreifende Wachstum der Schlingpflanze sowie das frische Wasser gehen in die Erneuerung der „Beziehung“ zu den nur mehr im Abbild präsenten Freundinnen über. Die Einrichtung der Dinge und die Inszenierung der Bilder koppeln so unterschiedliche Daseinswelten. Die Vase, die Positionierung der Bilder sowie die Hände fungieren als Grundelemente, wobei die „Natur“ als Verweis auf die Einheit, die sich über die Inszenierung einzelner Gegenstände und (fotografische) Bilder einstellt, im Vordergrund steht. Dass sich Rosenkranz ab 1963 als „Zykliker“ bezeichnet, ist an dieser Stelle ein Hinweis darauf, dass sich der Dichter im Ablösungsprozess von der sozialen (Um-)Welt zugleich in einem übergreifenderen „Organ“ wie jenem der Natur, des Kreatürlichen (einer Pflanze), neu einrichtet. Der Einsamkeit entgegen steht nur eine übergeordnete Referenz, nicht aber jene einer verlässlichen Zeugenschaft auf der Ebene des sozialen Umfeldes. An der Bedeutung der Bilder, ihrer Einrichtung und Kontextualisierung lässt sich zudem ein „Objektivieren“ ablesen, das in der 76 25. 5. 1957. und 22. 7. 1957. AR 25087, Reel 1, n329. 77 1. 6. 1957. AR 25087, 1/12, Reel 1, n479.

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Betrachtung fernerliegende und doch allpräsente organische Zusammenhänge erschließt: wie jene der Natur als Sinnbild des Lebens, wo Rosenkranz über seine Bildlese eine neue Einheit vorfindet, die zudem kein Kollektives zulässt. Auf das Singuläre eines jeden Gegenstandes und seine Platzierung kommt es ihm an. Daher hat „Jede von Euch […] Natur nur in einer Gestalt schaffen können; ihr seid nicht noch einmal vorhanden und gleicht euch auch untereinander nicht. Darum bist Du „Einzige A.“ – und Lilly Einzige B.“ 78 Über diese in den Raum geführte Lektüre der Bilder reflektierte Rosenkranz bis in die 1960er Jahre intensiv sein Selbstbild. Das Fokussieren des Blicks – sei es in der Anordnung der Dinge, sei es in der Regieanweisung und Inszenierung der fotografischen Aufnahmen – ist ein „Objektiv-ieren“ seiner Selbst; 79 nicht zuletzt ein Ineinanderfügen unterschiedlicher Elementar- und Daseinsebenen, eines Innen und Außen, das heißt eines Eigenen und Anderen, das sein Selbstbild zu bestimmen und nach dem Identitätsverlust zu bereichern half. Gestern kam Dein Brief mit den beiden Photo-Porträts. Er war nur sieben Tage unterwegs. Die beiden Photos sind in dieser Vergrößerung sehr bedeutsam. Dein Angesicht ist ein Kunstwerk. Du hast es in Zusammenarbeit mit der Natur, der Zeit, dem Schicksal selbst geschaffen. Dein Anteil daran ist der Vollendete [sic!] Ausdruck der Seele darin. Es ist ergreifend. Wie gerecht ich doch war, wenn ich Dich oft nur „Gesichterl“ nannte […] Natürlich bewegt mich die Frage, nach meinem Anteil an Dir, aber ich kann sie nicht beantworten und Dir stelle ich sie nicht, denn Deine Erwiderung könnte überwältigend sein und mich durch Großmütigkeit beschämen. Mir ist, als könnte mir aus Deinem Aussehen ein Buch entstehen und ich schaue nicht nur den Kopf, sondern auch was ihn trägt, den zerbrechlichen Körper, und bin aus beiden zu großer Aussage erfüllt. 80

78 18. 5. 1957. AR 25087, 1/12, Reel 1, n472 (Abschrift Rübner). 79 Fototechnische Begriffe werden hier eingeführt, um Analogien zu anderen ästhetischen Terminologien aufzuspüren; etwa zu Roman Jakobsons Begriffen des „Sets“ oder des „Fokus“, die beide ebenfalls im Zusammenhang mit der Selbstreferentialität der Sprache stehen. 80 24. [?]. 1964. AR 25087, M722, 1/19, Reel 2.

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Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz

Rosenkranz’ Fokussierung der „Gesichts-“Lektüre ist hier insofern bedeutend, als dabei immer auch die Beziehung zur Graphologie angedeutet wird: Eine Beziehung von Hand, Schrift und Gesicht, an denen er nicht nur seine „Menschenkenntnis“ durchschauend erprobt, sondern das menschliche Dasein grundlegend in diese Koordinaten spannt, an denen er schließlich auch seine Selbstbiografie aufzieht. Die Wahr-nehmung einer Reaktion, ein Reflex oder die Beobachtung der „Sinne“ als sich bewegende Merkmale des Lebendigen, wie sie in der Pflege der Schlingpflanze und ihrem Gedeihen vorstellig wurde, wird hier als neue Anbindungsmöglichkeit in der „eigenen“ Umgebung bzw. in der Aneignung derselben genutzt und der Nähe zum Tod entgegengesetzt. Am 26. Juni 1959 schreibt er, dass er „[…] diese Woche am Teich im grünen wilden Gras [war]. Ich kenne nichts auf Erden, das mir lieber wäre, als Gras. Es tut allen meinen Sinnen gut. Darum habe ich mir auch mein Zimmerchen grün eingerichtet.“81 „Losgelöst und im Rhythmus“ bedeutet so für Rosenkranz’ neue Einrichtung in der Welt ein neu in Szene gesetzter Organismus zwischen dem Menschen, der Natur und seinen Dingen, ein Raum des Anwesenden im Abwesenden und damit ein Zyklisches, das nicht nur der ständigen Wiederkehr seiner Schicksalsschläge in der Biografie eine Form und Erklärung gibt, sondern dem poetischen Schaffen wider die Niederlagen einen Plan und eine Zukunft. […] Die Erfahrung mit mir hat mir gezeigt, daß ich ein Zykliker bin und immer in Perioden von 2 Jahren schaffe und zu Schaffendes in mir gären lassen muß. Nun habe ich bis Sommer 61 ab 59 intensiv gearbeitet. Neue Gestalten verlangen sich heraus. Meine Komödie Dondon hatte in intimen Vorlesungen in Hamburg einigen Erfolg. Ich bewerte sie deshalb nicht besser, habe sie aber immerhin dort bei 2 Theatern niedergelegt und will im vorgeplanten Zyklus fortfahren. Habe gestern das neue Stück angefangen. Ich bin dazu und dabei besser disponiert als beim vorangegangenen. Es kommt auch aus bewegterer Innenschicht.82

81 AR 25087, Reel 1, n717. 82 17. 3. 1963, Basel. AR 25087, Reel 2, n49.

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7.2.2 Die Handschrift oder das „Maschinderl“ als Tertium Comparationis In Bezug auf das Bildhafte der poetischen Erinnerungsarbeit von Moses Rosenkranz, letztlich aber auch für die Bestimmung seines poetischen Selbtbildes, ist eine kurze Beschäftigung mit der Verfasstheit der Briefe (an Anna Rübner) lohnenswert. Rosenkranz hat seit den 1930er Jahren sowohl handschriftliche als auch maschinengeschriebene Briefe an Rübner geschickt. Die Art der Verfassung wurde von ihm meist begründet, immer aber reflektiert. Er verfügte denn auch über profunde Kenntnisse in der Praxis der Graphologie, die er in den 1930er Jahren der rumänischen Königin Maria in Bukarest unter Beweis stellte. Die Reflexion über die Verfasstheit diente der gegenseitigen „Vor-Stellung“ der Schreibbedingungen, die mit der körperlichen Verfassung, dem Gesundheitszustand, in eins ging. In der Schrift und somit über die Hand vermittelte Rosenkranz sich selbst, deutete das Gegenüber und gestaltete auf dem Papier einen eigenen (Zwischen-)Raum, in dem sich beide vorstellig wurden. Von Hand schreiben war anschaulicher im Sinne, dass beim Maschinenschreiben lediglich das akustische Tippen Originalität vermittelte, das allerdings nicht in die Lektüre einging. Die Handschrift war aber auch unmittelbarer als das „Maschinderl“, wie Rosenkranz seine Schreibmaschine vor 1947 zu nennen pflegte, das unabhängig von der eigenen Hand einheitlich Wörter setzte. War es bei der Maschine das Mechanisch-Akustische oder auch die wohlgeformten, gleichmäßig gesetzten Lettern, so bei der Handschrift die Persönlichkeit, die über den eigenen Körper spricht; und nicht zuletzt ein „Unbekleidetsein“, das Intimität verriet gegenüber der uniformierten Maschinenschrift. Die Handschrift war das in Schrift verkörperte Ich, während das „Maschinderl“ in den 1940er Jahren die Rolle einer dritten Instanz einnahm. Dieses Dritte war ein vom eigenen Körper (der Hand) losgelöstes, somit fremd tönendes Ding, das quasi mit Papier und Tinte ernährt werden musste, um die Vermittlung als lebendiges Medium oder Organ zwischen den beiden „Liebenden“ erhalten zu können. Rosenkranz schreibt in den 1940er Jahren mit einer Underwood-Maschine, deren Aufschlag „für Maschinenumstände grad so sanft klingt“ wie Rübners „Stimme für Menschenverhältnisse“:

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Bis jetzt habe ich auf unserem Maschinderl nur die Post an Dich geschrieben. Wohl werde ich das Handschreiben vergessen, das will ich auch. Es wäre fein, blind zu sein und nicht schreiben zu können, dann würdest Du meine Hand und mein Auge sein; die Wege zu Dir hielte ich immer mit den inneren Augen. 83

Und am linken Rand notiert er: „Dieses Maschinderl ist ganz prächtig und gar zart und sanft und leise und doch kraftvoll und präzis. Es ähnelt jemandem. Gib ihm einen Namen. Das ist ausser Rand geklopft.“ An den untersten Rand eines getippten Briefes vom 15. Juni 1940 notiert er von Hand: „Daß dieses Maschinderl kommerzielle Briefe typen muß ist mir ein großer Schmerz. Daß es überhaupt für Fremde schreiben muß“. 84 Hier wird deutlich, dass das „Maschinderl“ ein bereits angeeignetes, autorisiertes und personifiziertes Schreibgerät darstellte, dessen „Standardisierung“ eine „Intimität“ oder sogar Individualität angenommen hat. 1936 hielt er in einem Brief an Alfred Margul-Sperber aber auch fest, dass die Schrift, gemeint auch die Handschrift, sein Verhältnis zur realen Welt und zur Beziehung der anderen fortgerissen/-gezogen habe. 85 In einem maschinengeschriebenen Brief vom 16. November 1961: 86 Mein liebes Liebes und Graserl und Ziegerl, das bislang das Graserl aß (hoffentlich nun nicht mehr) […] Meine Hände sind so ungeduldig geworden, dass sie beim Schreiben über Schreibstifte und Federn stolpern. So erlaube ich es mir nun auch diesen Brief für Dich mit der Maschine aufzusetzen.

Maschinenschreiben bannte die Nervosität der Hände auf dem Blatt, wenn er auch nach der Gefangenschaft bevorzugt von Hand schrieb. Es mochte gerade am körperverbundenen Schreibakt liegen, der auch in Bezug zu seiner intensiven Beschäftigung mit der eigenen Biografie bedeutend war. Die „vitalen Prozesse“ fanden darin eine Bestätigung: in der Übung von Körper und Geist als Bildung einer Einheit, die in Gefangenschaft weitgehend zerbrochen war.

83 84 85 86

24. 4. 1940. AR 25087, 1/8, Reel 1, n342. AR 25087, 1/8, Reel 1, n418. Vgl. Briefe von Moses Rosenkranz an Margul-Sperber von 1936 (Gut¸u, 1995a). AR 25087, Reel 1, n839.

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Vom Gesicht, zur Hand und von der Hand zur Schrift formuliert Rosenkranz seine Maxime schöpferischer Anschauung als eine erkenntnishafte Durchdringung. Dieser oben bereits erwähnten Trilogie kommt ihre eigene Relevanz zu, wenn wir Rosenkranz’ Methoden für seinen schauenden Erkenntnisgewinn im Zeichen der Graphologie als Phänomenologie nachgehen. Hier zeigt sich, wie sich ein Durchschauen des Anderen und des Selbst noch vor den „Bildern“ am Medium der Schrift vollzieht. 1957 stellt Rosenkranz fest, dass er seine Schrift gerne einer Analyse unterziehen würde. Schreibmaschine? Vorderhand denk ich nicht dran. Meine Handschrift ist deutlich und der Verlag lässt alles abtypen. Eine Schriftanalyse wäre mir interessant a) um noch einmal die Schriftdeuterei zu konfrontieren, b) um ihren heutigen Stand zu ermessen […]. 87

Allerdings will Rosenkranz nicht selbst die Analyse vornehmen, sondern eine solche vornehmen lassen. Dies geht mit dem Bedauern, seine „Erlebnisse“ nicht unmittelbar nach der Rückkehr jemandem diktiert zu haben, überein. 88 Die Distanz hat ihm für die schauende Erkenntnis zu sich selbst offensichtlich gefehlt, und er brauchte eine Fremdreferenz zur Bezeugung seines eigenen Zustandes. An der Distanzforderung zeigt sich die Beziehung zwischen Schrift (und Bild), Schreiben und Schauen. Die Handschrift ist für Rosenkranz als „lesbares Bild“ und somit als eine Anwesenheit der Abwesenheit Spur und Abdruck des Körpers aus naher Distanz. Ich arbeite an den Gedichten. Vielen komm ich erst jetzt auf den Grund und kann ihre Gestalt vervollkommnen. Manche notiere ich für den Ofen. Doch werde ich die Liste der Opfer vorerst Dir vorlegen. […] Ich schreibe Dir mit der Hand, Liebes. Ich kann mir doch nicht die Freude entgehen lassen, vor Dir, wenigstens im Bilde der Schrift, unbekleidet einherzugehen. Leider zeigt sich

87 10. 8. 1957. AR 25087, 1/12, Reel 1, n534. 88 „Essay on Russia“: LBI: AR 2587, Writings 1961, Series II n552–573. Interessant sind hier Rosenkranz’ nicht ganz zweifellose Beschreibungen einer „Konzeption der Persönlichkeit“ (n564) sowie seine eigene „Terminologie“, um eine „völkische Realität“ vermittelbar zu machen (n572).

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Abbildung 9: Brief an Anna Rübner am 20. 9. 1961: „Wenn ich die Hand nicht in Eisen halte und zur Ordnung zwinge, schreib ich schon seit Jahren so …“. AR 25087, Reel 1, n814.

dabei nur die innere Form. Daß ich mit dem Bleistift schreibe erklärt sich aus dem Mangel am anderen Handschriftgerät. 89

Das Bild von der Hand geht einerseits in Schrift über; andererseits kann in diesem „Dazwischen“ der beiden Briefpartner das Abwesende und Unkonkrete – die „Beziehung“ per se – sichtbar werden; letztlich aber auch die Anbindung an ein Außerhalb seiner selbst. Darin „scheint“ wiederum die 89 (21. [?] 11. 1961. AR 25087, 1/16, Reel 1.). Aus KNW, am 20. 6. 1983: „Mein liebstes Schreibinstrument ist noch immer der Karandasch, schätzen Sie es, daß ich ihn für Sie einsetze.“ Karandasch ist aus dem Russischen für „Bleistift“ abgeleitet.

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„Identität“ auf: in ihrem unanfechtbaren Dasein in der Schrift und immanent in der Sprache. Die Schrift als sichtbar gewordenes Dazwischen nimmt in den Briefen an Rübner tagebuchartigen Umfang an. Das permanente und mehrmals tägliche Schreiben (meist von Hand) wurde zur eigentlichen Beziehung sowie zu einer taktilen Beschäftigung, die zunehmend nur form-ulierte, was über die Vorstellung des Schreibenden immer mehr von der eigentlichen Referenz (Rübner) wegführte. In diesem Sinn lässt sich das Briefschreiben als eine Vorstufe des poetischen Schreibens verstehen. Während die äußere Wirklichkeit auf mehreren Bezugsebenen vereinnahmt wurde, verebbte die Korrespondenz und wurde für Rosenkranz zunehmend zu einem „monologen

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Gespräch mit Dir“. 90 Das Briefschreiben wird an den medialen Beobachtungen (Handschrift, Maschinenschrift, Bildmaterial) zu einem Fortschreiben von der Referenzebene (Wirklichkeit) in den poetischen Prozess und somit in die poetische „Erscheinung“ geführt. 91 Eine neue Referenz spiegelt sich so über die medialen Vor-Stellungen wie Schrift oder Bild. In Rosenkranz’ Vorsätzen und Äußerungen wird der poetische Kreuzungspunkt von Lyrik und Prosa gerade auch da erkennbar. Wo das gleichmäßige Tippen auf dem „Maschinderl“ über das menschliche Vor-Bild oder die Verkörperung Anna Rübners die feste Form der Gedichte bestimmte 92 , werden später, mit erneutem Vorzug der Handschrift, klare Vorsätze zur Prosa und Selbstbiografie deutlich. Wo das Maschinderl als lebendiges Tertium Comparationis mit einem Namen die Vereinigung der beiden Liebenden konkretisiert und damit auch die Poesie verkörpert, wird mit der Handschrift nach 1957 kein Drittes mehr vorgestellt, sondern in der Beziehung zur eigenen Hand-Schrift die nötige Bekleidung des Selbst, ein neuer „Leib“, ermöglicht.

7.2.3 Zusammenfassung: Domestizierung der Wirklichkeit Die Briefe zeigen, wie sich Rosenkranz ein Leben aus dem Schreiben gestaltet und wo die Referenz der erinnerten Vergangenheit der aktuellen Vorstellung und Imagination im Abwesenden angeglichen wird. Dies wird ab 1957 zur Bedingung für ein Fortleben weniger als Dichter, wie Rosenkranz verlautet, als vielmehr als Mensch. In allen vier Unterkapiteln lässt sich eine Zurichtung der Wirklichkeitsreferenz beobachten, die in der Untersuchung der poetischen Genese noch weiter beschäftigen wird. Merkmale des Lebendigen, der Distanz, aber auch der Unmittelbarkeit und Natur lassen sich zusammenfassend als den Versuch einer poetischen 90 5. 2. 1963. AR 25087, 2/I, Reel 2. 91 Joachim Seng: „Dichtung als ‚Handwerk‘, ein Werk der Hände, in einem ganz ursprünglichen Sinn. Erlebtes und Gedachtes erhält erst durch die Hände des Dichters eine sinnliche wahrnehmbare Form“ (Seng, 1999, 46). 92 Zu „Gesicht und Gestalt“ der Gedichte siehe auch Briefe von Moses Rosenkranz an Sperber (Gut¸u, 1995a, 176).

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„Verkörperung“ fassen, die im Wesentlichen über die Geliebte, Muse und Memoria „Anna Rübner“ besteht. Auf unterschiedlichen Ebenen (Gedichtarbeit, Bilder, Hand- und Maschinenschrift) wird ihre „abwesende Präsenz“ zur existentiellen Referenz eines Ich, das im Begriff ist, über Vergangenheit und Gegenwart, Wirklichkeit und Imagination, sich selbst zu erklären bzw. zu erzählen. Dabei nimmt Rübner nicht zuletzt als Muse und Memoria die betont weibliche Rolle des Sinnlichen, der Lebenspenderin an. Das Moment einer eigenen Wiedergeburt wird nach 1957 zum Grundthema. Dies beschreiben und bebildern die Briefe über die Erinnerung an Rübners „schützende Hand“, die ihn vor dem Erfrierungstod im Lager gerettet habe. Über die Distanz zwischen den Briefpartnern und die dadurch bedingte Vergegenwärtigung des Abwesenden in Bild und Schrift kommt es in Rosenkranz’ Briefen zu Schilderungen einer phänomenologischen Domestizierung der eigenen Umgebung, in der sich räumliche Grenzen bzw. poetische Bildränder auflösen. In „Stillleben“ richtet er sich autonom und souverän ein; ein Rahmen oder ein poetisches Bild, in dem er sich losgelöst von allem Fixierten einrichtet und eine Nähe inszeniert. Das Leben wird zum Gegenstand der Anschauung, das heißt: Das Leben wird ausschließlich in seiner Anordnung erlebbar, in der Verlebendigung und „Bestätigung“ einer Vor-Stellung, die dabei sogar die Wirklichkeit umstülpt. Die Bilder von Michelangelo als Prototyp der italienischen Renaissance passen zu einer solchen „Inszenierung“ und Einrichtung93 ebenso wie die Renaissance zur (werk-)biografischen Epoche der Wiedergeburt als Dichter nach 1957. Rosenkranz verortet sich durch sein eigenes Eingreifen in die Wahrnehmung und seine Bespiegelung durch andere Persönlichkeiten im welthistorischen Kontext der „Wiedergeburt“, in einer Zeit, in der die schöpferischen Kräfte der Antike das Formenvokabular entlehnten, die Harmonie (v. a. der physiologischen Proportionen) zurückholten, den Menschen vor Gott in den Vordergrund stellten und zudem einen vorchristlichen, urzeitlichen Mythos

93 Eine mit Wasser gefüllte Vase beispielsweise wurde bei Künstlern der Spätrenaissance wie Holbein („Kaufmann Georg Gisze“) als Sinnbild der Treue, Liebe und Reinheit neben die „Porträtierten“ ins Bild gesetzt.

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wiederzubeleben versuchten, wie es Rosenkranz in seinem Anspruch an ein „Ewigwährendes“ immer wieder betont. Rosenkranz distanziert sich von seinem Leben und sich selbst so weit, bis es selbst eine erkennbare bzw. beschreibbare Form erhält. Und er objektiviert, indem er fokussiert. Das später in Kindheit erwähnte „Lebensbuch“ ist somit in den Briefen als poetisches Konzept bereits angelegt. 94 Ein solch intensives Schreiben formiert die Gegenwart: einen Raum, der körpergebunden, buchstäblich unter der Hand entsteht, die schützt, eine Brücke schlägt (Handschrift) zwischen dem Anwesenden und Abwesenden, nach einer neuen Verkörperung sucht zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarkeit und imaginativer Vorstellung und damit im poetisierenden Schreiben ein letztmögliches Zeugnis ablegt für die Erfahrung jener überlebten Vergangenheit, die tief hinunter oder aber „hoch darüber“ führt. Mit Edward Young gesprochen, der in Briefen eine Form von „Tagebuch“ erkennt und im Tagebuch wiederum das „körperliche Zeugnis“ (Young, 1992), oder mit Giorgio Agamben, bewahrt das Zeugnis als Letztes das Menschsein im Angesicht der Nichtmenschlichkeit: „Die Menschen sind Menschen, insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen“ (Agamben, 2003, 105). 95 Der aus der Korrespondenz absorbierte „vitale Prozess“ einer Ich-Konstituierung verläuft bei Rosenkranz über unentbehrliche Stufen biografischer Verformung. Die in die Tiefe führenden Schichten bzw. Erinnerungskreise erreichen ein Destillat nur im Übereinanderlegen von Bildern. Dem Ich als ein „Verschollenes“, das unter diesen Schichten liegt oder eben aus den Schnittflächen der überlagerten Erinnerungsbilder aufscheint, wird im nächsten Kapitel nachgegangen.

94 Vgl. Kapitel 9.3. 95 Dem Muselmanen, der nur mehr in der „Negation der Negation“ Zeugnis ablegen kann, kommt über den Anderen, der noch Mensch ist, Sprache und Würde zurück (Agamben, 2003, 47 f./57).

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7.3 Biografisches Korpus […] Die Grenzen des Menschen verschwimmen in der Berührung des Unendlichen. Überwinden der biographischen Methode und des Genres. Durch die Biographie hindurch! […] Die Persönlichkeit – das ist eine Grube, ziemlich nachläßig mit dem Reisig von Psychologie, Temperament, Lebensgewohnheiten und Fertigkeiten getarnt. Abram Terz/Andrej Sinjawskij: Eine Stimme im Chor

Ab ungefähr 1963, während Rosenkranz zwar weiter am autobiografischen Fragment „Kindheit“ arbeitet, zeigen unterschiedliche selbstbiografische Entwürfe neben einem poetischen positiven Überschreiben auch ein wiederkehrendes „verschollenes“ Ich, das letztlich nur eine Beschreibung des Abwesenden sein kann: quasi das Negativbild aus der Dunkelkammer. Die in derselben Zeit (ab 1961) für die Übersiedlung nach Deutschland eingeforderten Identitätsbezeugungen, die Rosenkranz nicht selbst erbringen konnte, sondern durch Fremde und Freunde einfordern musste, mochten einerseits die Rhetorik des Bezeugens – das unermüdliche Sich-Neuerschreiben – kultiviert haben, andererseits damit auch seine „Biografie“ jeder Eindeutigkeit endgültig entzogen haben. Die Absurdität des Bezeugens von Moses Rosenkranz’ Identität hat sich in den folgenden Prosaschriften niedergeschlagen. Wenn Rosenkranz in einem Brief an Rübner festhält, die eidesstattlichen Erklärungen, welche sie verwahren musste, möglicherweise später für seine Biografie wieder zurückzufordern, so zeigt sich allein daran die Bedeutung der „Fremdbeschreibung“ seiner Selbsterschreibung. 96 Die in den Briefen an Anna Rübner deutlich gewordene Einrichtung des abgedrängten Individuums in einen neuen Raum- und Zeitzusammenhang und das poetische Vorstellen und Fortschreiben eines Ich zugleich, das sich von derselben Wirklichkeitsreferenz löst, wird hier an einem biografischen „Korpus“ weiter untersucht, in dem die Darstellung der Leere, der Latenz einer bezeugbaren Biografie zur Erschreibung einer fortlebenden Ich-Figur und eines neuen Selbstbildes nutzbar wird. Dass für das erinnernde Schreiben gerade Details bedeutend werden, welche das Gedächtnis im

96 Siehe auch Kapitel 9.3.

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Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz

Grunde nur beklagen kann,97 zeigen die Selbstentwürfe zwischen übersteigerter „Fiktion“, einer „Komödie des Tragischen“ und einer nicht zuletzt zum Scheitern verurteilten Poetik. Auch hier werden die „Erlebensmomente“ von ihrer Rückseite her bedeutend. Nicht nur wird das „Scheitern“ über die literarischen Versuche für den Dichter selbst Thema eines poetischen Nachlebens; auch wird in der Erprobung einer Fiktion des Notstandes jene Bedingung für die Erschaffung eines neuen Ich formuliert, die für die „poetische“ Autobiografie, aber auch für die Poetologie schlechthin, die Grundlage stellt: die Suche nach der Identität im Eigennamen oder der Wunsch, als „Namenloser“ neu geboren zu werden. Da es sich im Folgenden bereits um längere zusammenhängende Texte handelt, werden die Kommentare an einzelnen Stellen abschnittweise dazwischen geschoben. Am Schluss werden die Kapitel des biografischen Korpus als auch des Briefnachlasses noch einmal zusammengefasst, wobei diese Zusammenfassung eine kultur- und literaturhistorische Kontextualisierung einschließt. Die Quellen des biografischen Korpus stammen sowohl aus dem Anna-Rübner-Nachlass des Leo Baeck Institutes (LBI) als auch aus dem Privat-Fundus von Kaspar Niklaus Wildberger (KNW).

7.3.1 Identitätsbezeugungen Die Identitätsbezeugungen sind für die vorliegende Untersuchung relevant, weil sie als bisher einzige Quellen über Rosenkranz’ Zeit im Lager berichten. Rosenkranz bereute zwar, dass er seine Erfahrungen unmittelbar nach der Rückkehr niemandem diktiert hat; 98 er selbst berichtete – abgesehen von den kurzen Anspielungen in der Korrespondenz – nie von diesen Er97 Hinweis auf Joseph Brodskys Selektionsbegriff, den Kunst und Gedächtnis gemeinsam haben (Brodsky, 1987, 103). 98 Aus der Korrespondenz geht zudem hervor, dass Rosenkranz nach seiner Übersiedlung nach Deutschland, um der „Tragik des Tages zu entkommen“ und „in die Weite des Geistes“ zu gelangen, Vorträge zu „verschiedenen Themen“ gehalten hat. Um welche Themen es sich genau handelte, konnte bisher nicht eruiert werden.

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fahrungen. Neben den eidesstattlichen Erklärungen ist ein Brief enthalten, der von Rosenkranz’ Verhalten im Lager berichtet und über seine Person Auskunft gibt: Roman Antropoff, ein ehemaliger Mithäftling Rosenkranz’ in Norilsk, den er auch später nach der Übersiedlung in Deutschland wieder besuchte, antwortet auf einen Suchbrief von Rübner 1956: […] Was mich anlangt, so kann ich Ihnen nur sagen, dass ich Moses Rosenkranz als einen ungewöhnlich gebildeten und grossangelegten Menschen kenne […]. Er war ein sehr eigentümlicher Mensch, und ich hielt es für taktlos, allzutief in seiner Vergangenheit eindringen zu wollen, – daher weiß ich nur einiges vom Obengesagten direkt von ihm selbst. – Man musste mit solchen Sachen im Lager sehr delikat sein, – denn wer zuviel Fragen stellte, fiel dort (aus guten Gründen) gleich unangenehm auf, – verscherzte sich die Kameradschaft oder kriegte ausserdem noch sehr sonderbare Antworten, die einem das Fragen für immer verleideten … Lieber als über Krieg, Politik und dergl. sprach er über geistige Dinge, u. a. über seine Dichtkunst, die er sehr geliebt hat. Er nannte die Namen „Die Tafeln“, „Leben in Versen“ und „Gemalte Fensterscheiben“, die in der Schweiz und beim Unionsverlag in Stuttgart 99 erschienen sind, – freilich vor geraumer Weile, und soviel bekannt, vergriffen und nicht mehr aufgelegt. Eine sonderbare Art von Religiosität war ihm eigen, die mich teils sehr interessierte, andererteils auch bestürzte, – denn manches schien mir darin ungereimt, obzwar auch ich sehr grosszügig und frei denke, aber in einigen speziellen Dingen Grenzen ziehe, die er nicht anerkennen wollte.– Er entwickelte eine ungeheure Wohltätigkeit, indem er für eigenes, ich weiß nicht wie erworbenes Geld Bücher zusammenkaufte, die er in einem Koffer mitschleppte, und den Kameraden teils verlieh, teils schenkte, – um dann bei erster Möglichkeit wieder neue zu erwerben.– Zuletzt hatt er noch ca. 80 Bücher verschiedener Sprachen und Stoffe, von Belletristik über alle Zweige der Wissenschaft beisammen, die er bald auseinandergeschenkt hatte. – Mir hat er in den letzten Monaten einige theologische Schriften vermacht, und behielt als Einziges eine Bibel übrig. – Diese, sagte er, könnte er nur ausleihen, – „es ist, wenn überhaupt, das letzte Buch, von dem ich mich trenne.“ Im Mai wurde er mit zwar anderen Rumänen, d. h. jedenfalls rum. Untertanen aus dem Lager abtransportiert, um den rum. Sicherheitsbehörden übergeben zu werden. – Dieses ist sehr besorgniserregend, denn die Rumänen hatten über Privatadressen etwas Verbindung mit der Heimat (die offiziellen Rückant99 Die Gemalten Fensterscheiben sind im Literaria Verlag in Bukarest erschienen.

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Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz

worten kamen meist nicht an); aus diesen vorsichtig gemachten, aber für Eingeweihte sehr wohl zu verstehenden Andeutungen konnte man ersehen, dass Personen, die nicht ausdrücklich amnestiert, sondern alle Schwerverbrecher gegen die staatliche Sicherheit der Sowjets der rum. Polizei übergeben wurden, – in einer sehr üblen Lage sind. Sie werden sofort in strengen Gewahrsam genommen, befinden sich im Gefängnis ohne Verbindung zur Aussenwelt, und erhalten viel zu wenig Essen, um existieren zu können […] Als ihr Verwandter mit seinen Kameraden wegfuhr, hat er mir seine Bibel überreicht, und sagte: „Ich muss mich nun davon trennen … aber Sie sollen sie haben, ich habe mir den Menschen, dem ich sie vermache, lange ausgesucht.“ – Wo er die Grenze überschritten hat, und an welchen Ort man ihn gebracht hat, weiss man nicht, doch ist er über Moskau-Bykowa gekommen (5110/48) […]

Dieser Brief wurde Rosenkranz in den frühen 1960er Jahren neu wichtig, als er seine Verschleppung in den Gulag vor dem deutschen Staat zu „bezeugen“ hatte, um eine Rente zu erhalten. Antropoffs Schilderungen von Rosenkranz’ Verhalten sowie dessen religiöse Einstellung dürften den besonderen Wert ausgemacht haben, den Rosenkranz selbst diesem Dokument beimaß. Der von Antropoff als „großangelegt“ beschriebene „Mensch“ entsprach wohl den Kriterien, die in den beginnenden 1960er Jahren Rosenkranz’ Selbstbild entsprachen. Ferner zeigen sich denn auch im Folgenden Charakteristiken seiner selbst dargestellten Persönlichkeit, die an Hölderlin, Homer oder Tolstoj erinnern. In dieser Untersuchung interessiert die Erwähnung Rosenkranz’ „eigentümlicher Religiosität“ sowie seines Erwerbs von Büchern, die er daraufhin wieder verschenkte. Das Thema des Religiösen wird an späterer Stelle ausführlicher aufgegriffen, wenn es auch anhand des vorliegenden Materials nicht befriedigend erörtert werden kann. Dass er aber die Bibel stets mit sich trug und sie schließlich erst als „letztes“ Buch aus der Hand gab, verweist auf zweierlei: Einerseits war die Bibel jenes Buch, in dem Rosenkranz wohl am meisten gelesen hat; andererseits hat er sie aus der Hand gegeben, im festen Glauben zu sterben. Unmittelbar nach der Übersiedlung nach Deutschland, am „26. 3. 62, Farchet, 12 h“, schreibt er an Rübner: 100 Den Antropoff-Brief werde ich Dir, mit allen anderen mir von Dir überlassenen Sibiriakenbriefen und Dokumenten, in einigen Wochen zukommen las100 AR 25087, Reel 1, n1005.

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sen. In Zukunft einmal werde ich Dich wieder um diese Papiere bitten, vielleicht werde ich sie bei der literar. Andeutung meiner Biografie brauchen können. […] Ich habe in Triefendorf mich recht sehr gefestigt. Stimmungskräftig werde ich aber wohl solange nicht sein, solange ich nicht die Stoffe verarbeite, die zu gestalten, ich für den Überlebensfall besonders in Norilsk mir vornahm.

Rosenkranz’ Beziehungen zu Freunden war nicht erst im Lager ein besonders durchschauender Blick auferlegt und sie wurden nicht erst dort auf Probe gestellt. 101 Das Vertrauen galt hier ganz offensichtlich einem Menschen, der Rosenkranz ebenso einzigartig vorgekommen sei in der Gesellschaft der Zeki 102 , wie er sich auch selbst sah. Die Handlung selbst, die Antropoff hier schildert über das Vertreiben der Bücher und die Beziehung zur Bibel, stellt den „Menschen“, dem der „Dichter“ sein letztes Buch aushändigt, in ebenbürtige Beziehung zur Heiligen Schrift. Aber auch andere „Sibirjaken“ gaben Auskunft über Rosenkranz’ Zeit im Gulag, an die er sich selbst offenbar nur mehr über Leerstellen erinnerte. Offenbar hatte Rosenkranz nach dem „Wunder“ seiner Genesung nicht nur die unmittelbare Vergangenheit verdrängt, sondern wichtige Einzelheiten aus dem Gedächtnis verbannt.103 „Als bedeutende Person“ sollte er „offenbar nicht sterben“, wie Rosenkranz 1993 in einem Interview mit Stefan Sienert äußerte (Rosenkranz, 1998). Rosenkranz weigerte sich selbst Rübner gegenüber, diese Erinnerungen anzusprechen.104 101 Die Czernowitzer und Bukarester Zeit erscheint in den Quellen immer wieder als besondere Prüfung persönlicher Freundschaftsbeziehungen. 102 Russische Bezeichnung der Gulag-Häftlinge. Diese Bezeichnung lässt sich nicht übersetzen und ist einzig für die besondere Bedingung der russischen Gulags zutreffend. Freundschaften unter den Zeki konnten ebenso existentiell wie lebensgefährdend sein. 103 Genannt werden: bewusstlose Füße, minutenweise Bewusstseinsstörungen, Abfriererscheinungen an den Füßen. Die Sibirjaken „erinnerten“ Rosenkranz beispielsweise an seine Lazarettzuweisung und die danach folgende Arbeitszuteilung für leichtere Arbeiten, was nur in äußersten Fällen gemacht wurde. 104 „[…] Was fuer einen Sinn soll es haben, über dieses und vieles andere zu grübeln, das hatte sein können wenn … Es mag allerdings einen haben für einen Schriftsteller der seine Erlebnisse umformen will in Erlebnisse für andere in seiner ‚recherche du temps perdu‘. Ich durchschnittlicher Mensch kann bestenfalls aus meinen Erlebnissen und Erfahrungen lernen […]“ (15. 8. 1965).

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Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz

Die Abgeschlossenheit zur „Außenwelt“, die Antropoff hier zeitlich und räumlich benennt, zeigt im weiteren Verlauf Rosenkranz’ Verhältnis zur Dichtung und „realen“ Umwelt als ein nach Innen verquertes. Das Wunder des Überlebens, eine Auferstehung von den Toten, hat für das Fortleben – und je deutlicher das leere Gedächtnis ins Bewusstsein drängte um so mehr – zwangsläufig die Wirklichkeiten übers Kreuz geschlagen: Das Abhandenkommen der Identität im Lager, aber auch durch die systematische Entindividualisierung des Sowjetstaates, forderte letztlich einen „fremden Namen“ ein, um als Mensch physisch, und somit auch „offiziell“, überleben zu können; aber auch geistig, um sich eines „Namenlosen“, der „nur eine Nummer trägt“, entledigen zu können.105 In Rosenkranz’ Suche nach Bestätigung seiner Identität nach dem Lager kam gerade über die Erinnerung anderer auch seine eigene Erinnerung neu auf, die im Gedächtnis entweder große Leerstellen aufwies oder bestimmte Bilder abdrängte. Zu den schwersten Abgründen Rosenkranz’ Biografie kam schließlich hinzu, dass das Einholen solcher (Fremd-)Bezeugung zunehmend obsolet wurde: Auf der Suche nach einer eidesstattlichen Zeugenschaft für Anfang Mai 1944 in Taboresti-Cilibin, wo er sich im „Detaschement der jüd. Zwangsarbeiter“ bei Buzau befand und flüchtete (25. September 1964), schreibt er an Rübner: „Hugo (Garin) weiß das, da er damals im Detaschement war“. Zudem brauchte er eine Versicherung darüber, dass er bis zum 23. August 1944 im Untergrund in Bukarest lebte. Dafür ließen sich aber keine Zeugen finden, da alle während der NS-Verfolgungen von 1941 bis 1944 auf das „ertragreiche Pferd der Deportation umgesattelt“ hätten. Diese Umstände zeigen, dass die Suche nach einer „offiziellen“ und objektiven Identität entweder nicht mehr möglich war oder aufgrund der Lagererfahrung bereits ad absurdum geführt wurde. Die Benennbarkeit und somit ein In-Sprache-Fassen der eigenen Person – des Ich – verlangte entweder nach einem Namen anstelle einer Nummer; oder aber nach einer kompletten Loslösung dieser fremden und immer anfechtbaren Referenz eines „Namenlosen“.

105 Aus dem AR-Nachlass, aber nicht von Rosenkranz selbst, geht hervor, dass er sich in Russland auch als „Hans“ oder „Hans Moses Rosenkranz“ ausgab.

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7.3.2 „Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen“ 1963 schreibt Rosenkranz von seinem „alt-neuen Gedichtbuch, das unter dem Titel ‚Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen‘ mit 50–100 Pag. eine Reihe eröffnen soll“. 106 „Der Band“ sollte „in 20 Tagen fertig sein“. Dazu notiert er in einem Brief an Anna Rübner: Das „Vorwort entstand heute früh zwischen 3–5 Uhr.“ Er habe dabei das „Lob“ seines „Nachworts zu den rumänischen Übersetzungen nachklingen“ hören: „nun weiß ich auch, weshalb ich [mich] bis heute um keine Drucklegung scherte: Meiner Anfänge Traum war namenlos zu wirken, vor allem publizistisch. Endlich habe ich wieder mich auf ihn besonnen.“ Niemand, nur der Verlag, sollte ihn mit Namen kennen. Es handelt sich um das einzige Dokument in dieser Untersuchung, das einen literarischen Versuch darstellt, die Erinnerung an die Lagererfahrung der 1940er und -50er Jahre zu verarbeiten. Die „Leseproben eines Verschollenen“ werden hier in einem 15-seitigen Préface 107 wiedergegeben. Es ist alles, was im AR-Nachlass zu diesem „Gedichtbuch“ vorhanden ist. Als „Vorwort“ sollte diese fiktionalisierte Kurzbiografie auch eine Lektüreanleitung darstellen, wie es Rosenkranz bei Gedichtbüchern zu tun pflegte. 108 An den Leser. Den ersten Weltkrieg, den ich als zehnjähriger begonnen, habe ich gut durchstanden, u. zw. buchstäblich, im Schützengraben, vor gffgffggffgfg Gefreitern und in der Schlange vor der Gulaschkanone. Danach habe ich mich gefangen und heil wiedergebracht; wenn auch nicht ins Elternhaus, das unter Brusilows Kanonaden verschütt gegangen ist, und ebenfalls nicht zu Vater, Kaiser und Vaterland – sie hatten sich i Hause befunden und hhhg sein Los geteilt (so hatte ich doch mich mir selber wiedergebracht und nicht bloß heil, sogar geheilt, nämlich vom Kriegspielen: es war nicht mehr, unbeschadet des jedem Spiele innewohnenden Ernsts. Der nachfolgende Friede – so genannt wegen der „anderen Mittel“, deren sich gemetzelerschöpfte Krieger bedienen – die nachfolgende Vergnügungspause war mir als von der Spielsucht Genesenen zum Kotzen und ich verzog mich in den Elfenbeinturm der Dichtung, um 106 AR 25087, 1963, IV Subsection II. 107 AR 25087, 1963, 2/41. 108 Es wurden hier weder Rechtschreibfehler noch Satzzeichen korrigiert.

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mich ungestört wörtlich zu übergeben. Ich befand mich noch vorübergeneigt mitten in dieser Erleichterung, als sie unter einem neuen Spiel neuerlichen Jux, ohne allen Ernst, anhuben und mich des Turms entblößten. Dieses Allotria liegt mir nicht mehr auf dem Gewissen: ich habe es weder vom Zaun gebrochen, noch mutwillig mitgemacht. Ich bin davon ergriffen und mitgerissen worden wie von einer Faschingsflut durch Köln. Daraus habe ich nicht wieder mich eingefangen und mir selbst wenigstens [?] gehen können. Diese Belustigung war zu toll. Sie hatte mich umso gewaltiger ergriffen, je hartnäckiger ich zur Wehr mich setzte und nichts isst so erschütternd wie ein Veitstanz widerwillen. Unter meinen Schritten sind Minenfelder in die Luft geflogen, ich köpfte Bomben, die aus den Wolken fielen und ließ mir Schukows katjuschkaschra [?] zwischen die Kiefer fliegen als ich sie die süße Spucke einer liebsten Geliebten gewesen wären Gott weiss, dass [?] […]

Dieser erste Abschnitt lässt sich im Großen und Ganzen noch dokumentarisch lesen: Der in seiner Kürze, aber auch Ironie schwer verständliche Lebenslauf geht von den traumatischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg als 10-Jähriger aus und führt zum Ort des Todes, der im Folgenden von jeder noch annähernd dokumentarischen Schreibweise abführt. Der Bezug zur Dichtung und Sprache wird hier an der „buchstäblichen“ Schilderung der historischen Ereignisse der Kindheit erzählt. Das Kriegsspiel verliert seinen Ernst im Erwachsenwerden: im eigenen Genesen, unabhängig vom Elternhaus sowie beim Rückzug in den Elfenbeinturm der Dichtung.109 Auffällig sind die betonten Reflexivpronomen in: „ich habe mich gefangen und heil wiedergebracht“, „so hatte ich doch mich mir selber wiedergebracht und nicht bloß heil, sogar geheilt“. 110 Der Ernst im Spiel ist nicht mehr Teil des darauffolgenden Jux: Vom Turm entblößt, – geschwächt und schutzlos ohne Hülle seiner Buchstäblichkeit – wird er mitgerissen. Ein Mittun fern von jeder Gewissheit: weder „vom Zaun gebrochen“, noch „mutwillig unterstützt“. Zur Beschreibung des Schicksals gibt es keine „ernsthafte“ und glaubwürdige Sprache mehr – nur noch die Me109 Dies liest sich als Anspielung auf Friedrich Hölderlin, dessen Turm den Schöpfungsort seines Werks darstellt. Rosenkranz ist in den 1960er Jahren von diesem „Schakal losgekommen“, wie er ihn später nannte, obgleich er zahlreiche frühere Gedichtbände mit einem Hölderlin-Zitat einführte. 110 Zwischen „ich“ und „mich“ tritt unmittelbar die schizophrene Spaltung des Ich auf.

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tapher der Unglaubwürdigkeit selbst – in der „Faschingsflut“. Ein „Veitstanz widerwillen“ bedroht schließlich die Wiedererlangung der eigenen Identität mehr als die Teilnahme an der „Belustigung“. Das anfängliche „ich habe mich gefangen und heil wiedergebracht“ ist in diesem Spiel ausgeschlossen. Auch die eigene Schuld wird abgesprochen oder als Frage obsolet, wo die Referenz zur Wirklichkeit, die Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit des (eigenen) Schicksals ihr Ende haben.111 Es war zu verrückt. Gott weiß, dass ich nicht lustig und nicht gerne mitgehalten habe. Ich war eben nur leider besessen. Danach kam ich unter die Gas Giftbrause von Auschwitz Treblinka. Dort wurde ich – wie mir schien – des Leibs und aller Sünden ledig. Ich fand bloß den Eintrittspreis als den mir [hier Einsatz: abgenommen wurden] Ring, Uhr und Federhalter etwas zu hoch. Aber es war exquisit. Quasi schon als geputzter Geist musste ich nach der Säuberung zum Schlot des Badehauses hinauf, seine Öffnung oben vom Fett zu reinigen, das meine Mitbrauser im ungestümen Drang zum Jenseits von ihrem Erdenteil dort hängen ließen, ohne Rücksicht auf Nachbrauser [hier durchgestrichen: Nachfahrer], die immer auch gerade zum Schornstein hinauswollten. Ich mach jedoch zuviel Worte für solch einen Unfug! Ich möchte schon aufhören, kann indes nicht; noch in der Erinnerung reisst er mich hin, und hört nicht auf solange es währt, wie jede Obsession: das ist gar nicht so selbstverständlich wie es den Anschein hat, indem so manche Worte noch während ihres Bestandes zu zählen aufhören. Dazu fall ich selber mir ein, nicht mehr in der Hand mich habend, der ich noch existiere, aber längst nicht mehr wirksam bin. Und abhandengekommen bin ich nicht meinem oder einem Hause, wie seinerzeit Vater, soweit hat der Sohn es nicht gebracht, sondern auf dem harten Eis der [?] Polarlager wurde ich verschüttet zur Stufe für das unbescheidene Überleben der adolfschen Duschen. Hier endet meine Erinnerung an den Karneval, der mein Leben gewesen und ich kann meine Dichtung betreten, die ich errichtet, mit dem allem Ernste innewohnenden Spieltrieb. Als Baustoffe verwendete ich, was ich schlucken gemusst und wovon mir zum Erbrechen geworden.

Das fiktive Endspiel findet in „Auschwitz Treblinka“ statt, was Rosenkranz als biografische Station erfindet. „Scheinbar“ aber geht der Körper zusam111 Die Absurdität des Schicksals, des Lebens, die hier in der Besessenheit vom Spieltrieb dem Ernst der Lage entgegengestellt wird, ist auch ein Verweis auf die „Camus-Studien“, welche Rosenkranz anfangs der 1960er Jahre unternommen hat. Mehr als diese Tatsache geht aus den Quellen allerdings nicht hervor.

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men mit den Sünden verloren – zugunsten eines reinen Geistes, weshalb die „Phantasie“ hier mehr als berechtigt ist. Ein Ich kommt ins Spiel, das sich unter den ver-rückten Bedingungen von der referentiellen Selbst-„Biografie“ wegbewegt. Das Ungeheuerliche wird mithilfe der Ironie gezähmt, und zwar so, dass der vom Erdenteil hinterlassene Leib Spuren am Schornstein zurücklässt. Die „exquisite Öffnung in die Freiheit“ – und damit der Tod – wird zur Erlösung, das Leben zur Todeslust, wenn auch unmittelbar danach der „ganze Unfug“ doch zu beklagen ist und sinnlos wird. Die Absurdität bzw. das Sprechen darüber sind „Obsession“: eine Leidenschaft, die vergleichbar wird mit seiner Hingabe zur Dichtung (Federhalter) 112 , der Liebe (Ring), mit seinem „kafkaesken“ Durchleuchten der Zeitverhältnisse (Uhr). 113 Die Worte, die drängen und quälen mit der Erinnerung, stehen im Widerspruch zum eigenen Zustand: „der ich mich nicht mehr in der Hand habend“, „längst nicht mehr wirksam bin“, doch „soll ich selber mir […] noch existiere[n]“. Auf der „Stufe für das unbescheidene Überleben“ wird die Kälte der sowjetischen Lager an der Härte der Konzentrationslager der Nationalsozialisten gemessen. Die Ironie des „unbescheidenen Überlebens“ endet im Karneval. An diesem Punkt „kann ich meine Dichtung betreten“. Die Absurdität und der Vergleich sowie die Unvergleichlichkeit zweier Höllenlager, da beide den Superlativ der Grausamkeit in Anspruch nehmen, ermöglicht nur einen Ausstieg: in die Dichtung zum Spieltrieb vollen Ernstes. Rosenkranz unterscheidet hier zwei Arten dieses Spieltriebs: den Spieltrieb der Belustigung und den Spieltrieb des Ernstes bzw. der Dichtung. Ist hier das notwendige Spiel mit der Fiktion gemeint? Oder handelt es sich vielmehr um eine (unwahrscheinliche) Wirklichkeit, die nurmehr in realer Fiktion – quasi in der Dichtung – ihre Geltung erlangt? Entrüsteter Leser, bedenke nur, dass die Pyramiden aus Schweiß und Blut erstanden und Imperator Tiberius ein Gemisch war von Blut und Kot: Chemie 112 Der Federhalter als Ersatz der Hand, der abgenommen wurde und dem geschwächten Leib das Halten und Führen des Schreibgeräts verunmöglicht. 113 „Ich will nicht mehr kafkaeskisch ängstlich und spekulatif[sig.] die Zeichen der Zeit studieren […]“ (15. 4. 1940. AR 25087, Reel 1, n418); vgl. zu Kafka auch kurze Erwähnung in Korrespondenz an Rübner 1962, Reel 1, n1058.

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ist alles. Und wo wären Lew Nikolajewitsch Tolstois homerische Gesänge auf das Weib, ohne seine endokrine Sekretion? Doch möchte ich nicht weiter bei der [anrüchigen?] Zusammensetzung unserer Werte verweilen. Auf ihre Gestalt kommt es an. Wir sind Augentiere. Jeder Liebende weiß das. Bist du, mein Leser, noch noch unter den Liebenden nicht, so möchten hin dich dich meine Gestaltungen bringen. Schau sie dir an. Aber wart noch noch muß ich deinem Einwand begegnen, ich nicht Mitleid zu schinden auf falschem Gräbergrund, indem ich verloren gegangen zu sein behaupte. Wer schon sich für verloren ausgibt, bläst auf Mitleid, mein Lieber. Wenn du von mir vernimmst hörst, das ich nicht mehr vorhanden da bin, obschon du mich sehen kannst, mußt du es mir glauben, bis du aufgebracht deinen Gegenbeweis, als Ehrenmann mußt du das. Wie immer es einst lauten mag, dein Gegenargument, ich will es hier schon entkräftigen geschlossenen Auges mit der Frage: existiert die Eule? Doch ja. Und ist sie nicht verloren im Sinne von verdammt, nächtlich zu jagen und taglich zu dösen und immer nur Schatten zu spielen? Ja doch. Siehst du. Überdies läuft nicht jeder Begrabene tot, jedoch manch ein Toter unbegraben. Beweis: Goethe und ich.

Mit den „Pyramiden aus Schweiß und Blut“ wird dem „entrüsteten Leser“ jene Kultur- und Kunstgeschichte ins Bewusstsein gebracht, in der das Leben nur die Werkstätte des Totenreichs darstellte: im Alten Ägypten, von dem sich Rosenkranz 1957 Bilder schicken lässt. Nicht in der Verherrlichung, sondern als „anrüchige Zusammensetzung unserer Werte“ verweist der Autor auf diese Epoche, die in neuer Form wiederkehrt (Abb. 10). Die „Chemie“, die auch Lew Tolstoj 114 zu seinem Werk verhalf, soll den Künstler und Dichter dem Leser nicht nur als „Menschen“ näher bringen, sondern ihn zugleich als „Ungetier“ erkennbar machen, dessen Fortleben und Fortpflanzung bzw. „Liebe“ auf chemischer Zusammensetzung beruht. 114 Tolstoj war Rosenkranz’ „liebster Dichter“, was seinen Grund möglicherweise in der von Antropoff angedeuteten religiösen Konsequenz haben mag. Tolstoj war durch sein eigenes religiöses Verhalten zu einer zwiespältigen Figur der russischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhundert verkommen. Seine konsequente Einhaltung urchristlicher Moral sowie naturgebundener Askese hat ihm in der Sowjetunion den Ruf eines Sektenanführers und gesellschaftlichen „Aussteigers“ gebracht. Seine Anhänger haben dem religiösen und geistigen Vakuum in der Sowjetunion als „Tolstojaner“ eine Kraft entgegen zu setzen versucht. Rosenkranz spielt hier womöglich auf Tolstojs Religionsphilosophie an, die er aus verschiedenen Religionen und kulturellen Gottesvorstellungen entwickelte.

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Aber „auf ihre Gestalt kommt es an“! Die Gestaltung über dem Gräbergrund präsentiert der Leidenschaft bzw. „Besessenheit“ Positives. In einer bemühten, lyrisch anmutenden und dadurch schwerfälligen Syntax versucht der Schreiber seine Gedichte als monumentale Bauwerke einzuführen, deren Ewigkeitswert noch in den ruinösen Worten unbändigender Erinnerung fortbesteht. Nicht ihr Fundament und was darunter liegt, sondern die Ausgestaltung über diesem gilt der „Betrachtung“ des Lesers. Haben die Ägypter ihre Bildwerke gelesen und die Schrift als Bild gesetzt, so sollen hier die Gedichte angeschaut werden. Die Sinne, die Rosenkranz hier anspricht und voraussetzt: Die Gefühlsfähigkeit des Liebenden, der sich vor dem Ekel nicht scheut, wird dem Leser als Beschauer aus der Distanz abgesprochen: Kein Mitleid verlangt ein bereits Verlorener. 115 Aber zwischen Hören und Sehen besteht nicht so sehr ein Unterschied, als die Eindeutigkeitskriterien des Sehens alsbald zur Auflösung gezwungen werden: Denn das Sichtbare liegt im Dunkeln und nur die Eule – aber die Eule gibt es! – kann es wahr-nehmen. Die Eule, die im autobiografischen Fragment Kindheit eine wichtige Rolle einnehmen wird, taucht hier als Gegenbeweis des Unwahrscheinlichen auf: Die „Tatsache“, dass ein Unsichtbarer oder Abwesender spricht und damit hörbar wird, ist erst glaubwürdig in Anbetracht der Eule, die nachts ihre Augen öffnet. Des eigenen „Leibs“ hat sich das Ich im ersten, dann radikal im zweiten Abschnitt entledigt. In dem Sinne ist jetzt nichts mehr sichtbar fürs Auge des Lesers und doch kann dieser hier „vernehmen“. Nur die Eule ist noch fähig, ein unsichtbares Wesen zu erblicken. Was verwirrt, ist der Zusatz: „[…] immer nur Schatten zu spielen“; hier erhält das Sinnbild der Eule mehr als die Funktion einer Zeugin als Seherin. Ihre Eigenschaft geht gleichsam in den „Leib“ des (verlorenen) Ich über, der zum körperlosen Schatten geworden ist. Dass die Eule mit ihrer besonderen Wahrnehmungsgabe nicht mehr nur beobachtet, sondern selbst beobachtet wird, wird so an dieser kritischen Stelle interpretierbar. Sichtbar darf dieses leiblose Ich nur als Schatten am Tag werden – als Negativum des abwesen115 Wie die reine „Vorstellung“ obsolet wurde für die Vergegenwärtigung der eigenen Identität (Kapitel 7.1.1/7.2), so wird hier auch das „Mitleid“ einer Schopenhauerischen Weltanschauung abgesprochen. Vgl. Kapitel 9.3.2.

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Abbildung 10: Blatt 9 aus Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen. AR 25087, Reel 3, n599.

den physischen Abbildes. Interessant wird dieser Kopplungsversuch oder diese Transfiguration von Eule und „Ich“ da, wo das Tier als Sinnbild und Symboltier selbst dichotom ist, das heißt, Gegensätze im Bild vereint: 116 sowohl allpräsent und im Dunkeln sehend als auch jagend mit dem „Blick des Bösen“; die Eule ist Verkünderin des Unglücks in abergläubischer Verbindung mit der Feuersbrunst und verfügt über magische sowie schützende Kräfte (im Volksglaube vor allem gegen Feuer und Blitz). Bedeutendes Interpretament ist die Eule aufgrund ihrer visionären, prophetischen Fähigkeiten; als solche ist sie Sinnbild von Kunst und Wissenschaft und an eine 116 Quelle: Lexikon des deutschen Aberglaubens u. Reallexikon der Antike und des Christentums.

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einsame Lebensweise im Wald gewöhnt. In der Antike bereits als Begleiterin der Göttin Athene verehrt, wird sie von Dürer 1508, in der Zeit der Renaissance („Wiedergeburt“), in einem Kupferstich wiederaufgegriffen. 117 „Über dies läuft nicht jeder Begrabene tot, jedoch manch ein Toter unbegraben“. Und den „Beweis“ für all das Unwahrscheinliche, unglaubwürdig Ungeheurliche liefert der Autor hier mit „Goethe und ich“. Aus der Aporie des Beweisens eines Unwahrscheinlichen ergibt sich die negative Grundbedingung: „Ohne Schatten kein Licht“ oder: ohne Negativ kein positives Abbild und schließlich: die Anwesenheit des Abwesenden ist die Existenz des „Verschollenen“. Wo kein Beweis der Wahrheit mehr auf der Hand liegt, wird die eine andere („fiktive“) Wahrnehmungsebene eingeführt und über die unglaubwürdige Wirklichkeit gespannt. Das entblößte, entleiblichte Ich kann dabei andere Personifikationen annehmen und sich so selbst erlösen. Der letzte Beweis liegt zuletzt in diesem anderen Ich, das in der permanent anpassungsfähigen, unfixierbaren „Gestalt“ fortlebt. Bleibt noch, weshalb ich meine Reihe – eine Reihe solls werden, jedes Jahr ein Band, solang ich noch geistre – weshalb ich namenlos meinen Reigen eröffne, wo doch selbst jeder [hier Einsatz: in Ehren] Bastard benannt schoffiert durch die Gegend [hier durchgestrichen: einen Namen trägt]. Abgesehen davon, dass Name nach höchst [unmerklichem?] Spruch bloß ist „Schall und Rauch“, wovon ich schon, wie du gesehen, genug haben mag, besitze ich in der Tat keinen Namen: der mir gegeben wurde, war eines kalenderfernen anderen Mannes, wenn nicht schon meines Erzeugers, so irgendeines [hier durchgestrichen: Claudius, Heinrich] Ptech, Moses, Alkibiades, Julius oder Heinrich; so etwas zu ertragen bin ich zu eigentumsstolz und wahrheitsempfindlich. Oder ist Homer, versteht sich, nur der Name, nicht etwas fremdes auf jenem Werke? Und was schon besagt er dieser Homer, der so ephemer ist? Sind diese Dichtungen denn eines Namens? Sie sind im kleinsten Fall von Menschen vielleicht aber schon Gottes, wie eben Homer und die Bibel. Voilá der Name. [Hier durchgestrichen „Auf wiedersehen“; schräger Pfeil nach unten rechts.]

Welcher Name steht einem solchen ephemeren Ich noch zu? Müsste seine Gestalt nicht mehrere Namen annehmen? Nach diesem Exkurs in die „Er117 Dieses Bild taucht auch im AR-Nachlass in der Korrespondenz mit Doris Rosenfeld auf.

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lösung“ des Geistes in der Entledigung vom Körper wird jeder Name nicht nur unpassend, sondern für einen Geist obsolet. Einerseits spricht im Vornamen die Individualität des Trägers; andererseits ist der Namenlose – wie Homer – von jedem Bezeichenbaren bereits weit entfernt. Die griechische Antike wird hier als Mythos zum Inbegriff der Dichtung, der keinen Urheber kennt und ebenso keine Zeit und kein Ende seiner Wirkungskraft. Hier wird im Rückblick auf den ersten Absatz dieses Vorwortes die Dichtung als Mythos mit der unverdaubaren Erinnerung an die menschliche „endokrine Sekretion“ parallel gesetzt. Die Erinnerung als Trauma wird einzig im Mythos und somit auf einer Ebene „wirksam“, deren fiktiver und wahrer Gehalt zugleich weder differenzierbar noch notwendig ist. Ebenso wird die Instanz Gottes, die das wahre Spiel (des kindlichen Ernstes) kennt und vom falschen unterscheidet, hier insofern der Hand des Schicksals übergeben, als Gott selbst durch das Wort in Form von Dichtung spricht, diese aber zugleich von einem „Ich“ verfasst ist, dem sie wiederum erst auf dem Gräbergrund zugänglich wird. Noch ein Hinweis: Die Dichtungen stehen hier durcheinandergemischt und müssen, wie sie fallen, genossen werden; sie liegen ungeordnet und sind nicht eingereiht: weder thematisch noch stilgerecht und nicht einmal chronologisch. Sie in eine solche Ordnung zu bringen versuchen, hieße Atome kitten wollen; das sei mir fern mein himmlischer Herr davor; ich bin kein nuklearer Bastler. Auf Wiedersehen.

Die letzte Notiz macht die Instanz Gottes als Referenz des Dichters offenkundig. Er erzwingt oder zieht keine Ordnung aus dem Chaos, der atomaren Explosion, in Erwägung, da die „Schöpfung“ erst an diesem Punkt beginnt. Die Unordnung der Gedichte in einer doch vorgeschlagenen „Reihe“ ist einzigartiger Vorsatz im Werk von Rosenkranz; alle anderen Entwürfe und Zusammenstellungen zur Bearbeitung seiner Gedichtbände haben, wie das Lyrik-Kapitel zeigen wird, eine eindeutige Lektürerichtung vorgegeben. Das zufällige Durcheinander der Gedichte in der hier eingeleiteten Gedichtsammlung ist vom Autor gleichsam als eine Erklärung des „Ursprungs seiner Lyrik“ intendiert. Die Abweisung sowohl von „Mitleid“ als auch von der allein inneren „Vorstellung“, wie sie aus dem Briefnachlass hervor-

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gegangen ist, wendet diese Anschauung poetischer Verdichtung fast explizit von Schopenhauer ab. Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Nietzsche, 2000) kommt diesem „Préface“ näher. 118 Die 15 maschinengeschriebenen Seiten stehen wie eine „Traumszene“ da, in der „das Ich des Lyrikers aus dem Abgrunde des Seins“ seine Subjektivität „inszeniert“. Nietzsches dionysisch-apollinischer „Genius“ richtet sich auf jenes „ahnungsvolle Einheitsmysterium“, das seinen Keim in der Antike durch Homer und Archilochus hat. Die Frage nach dem „Ich“ des Lyrikers und dessen Figur innerhalb der modernen Ästhetik grenzt Nietzsche von Schopenhauers Anschauung der Welt als Wille und Vorstellung ab. Schopenhauers musikalische Urkraft für den künstlerischen Ausdruck oder Abdruck des Lyrischen führt Nietzsche fort, indem er die „apollinische Traum-einwirkung“ für die Musik beim dionysischen Künstler „sichtbar“ werden lässt. Der „bild- und begriffslose Widerschein des Urschmerzes in der Musik“, was bisher nur ein Abbild des Ur-Einen aus einer „ungeordneten Kausalität“ war, „erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung“: die Traumszene. Die Subjektivität hat der lyrische Künstler damit aufgegeben, sein neuer „Genius fühlt aus dem mystischen Selbstäußerungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichniswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Kausalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers“. Die von Nietzsche hier angesetzte Unterscheidung des Lyrikers vom Plastiker und Epiker soll hier nicht durchargumentatiert werden; vielmehr ist die „Schöpfungsgeschichte“ einer lyrischen Subjektivität, die sich aus der Verschmelzung von Gegensätzen und aus der Auflösung der Dichotomie schlechthin ergibt, bemerkenswert. Sinnbildlich wurde die Eule angeführt, die als eine dichotome Transfiguration des Ich verhandelt wurde. Auch Nietzsches „verschiedene Objektivationen“ des Ich verschmelzen beim Lyriker, weshalb er guten Gewissens und unter allen Gesichtspunkten „ich“ sagen darf. Dieses Ich bleibt immer „wahr“, so unterschiedlich es sich auch gebärdet. Der Epiker dagegen wendet sich dem „Er“ zu und steht seinen unterschiedlichen Bildern distanziert gegenüber. Er ist geschützt ge118 Weitere Anhaltspunkte zur Beziehung von Rosenkranz zu Nietzsche und Schopenhauer: K216 oder Manuskript Jugend (Rosenkranz, 1983, 57, 79, 88 u. a.).

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gen das Einswerden mit seinen Objektivationen. Der „bewegende Mittelpunkt“ des lyrischen Ich ist quasi der Standort des „ephemeren“ Wesens, das Rosenkranz im Vorwort für seine Namenlosigkeit heranzieht. „Die Erlösung im Scheine“ geht damit in der objektivierten Einheit des rosenkranzschen lyrischen Ich in dieser Anleitung für den Leser auf, der zu Beginn „erschreckt“ wird. Der Ursprung der lyrischen Dichtung, um den Begriff hier auf Rosenkranz’ Werk auszurichten, findet in einer Stimmung des Undefinierbaren, in einer „Empfindung“ statt, wo Nietzsche hierbei Schiller zitiert. Und, wie anfangs im Brief an Rübner angedeutet, hat sich der Verfasser an seine Übersetzung, das heißt an die Stimmung in den rumänischen Volksliedern erinnert. Diese „Empfindung“ als Vorrang des Gefühlsmäßigen 119 wird an späterer Stelle dieser Untersuchung wieder aufgegriffen.

7.3.3 Ein biografischer Zwölfpunkteplan Um im Verlauf der Untersuchung die mythenverarbeitende Instanz der Dichtung näher bestimmen zu können, folgt hier ein weiteres Beispiel biografischer Verformung: In den zwölf Punkte umfassenden „Daten seines Lebensweges“ formuliert Moses Rosenkranz einen „biographischen Lebensabriß“, der mit dem Ersten Weltkrieg beginnt und 1961 mit der Übersiedlung nach Deutschland endet.120 Bezeichnend ist neben dem formalen „Zwölf-Punkte-Schema“ der (Auto-)Biografie die Auswahl der Ereignisse und damit die Prioritätenliste seiner Erlebnismomente. In einem Brief an Kaspar Niklaus Wildberger schreibt Rosenkranz allerdings: „Die 12 ‚Daten aus meinem Leben‘ betreffen eigentlich untergeordnete Ereignisse (die wichtigen befinden sich im Buch)“. 121 In einem buchstäblich verstandenen „Lebensabriss“ wird jeder ironische Impuls tragisch intoniert und in einer 119 Das „Gefühlsmäßige“ wird bei Rosenkranz nicht als ausschließlich „dionysisches“ begriffen, sondern als eine Erkenntnisweise und „Wahr-nehmung“, für die der poetische Begriff der „Intuition“ weiter bestimmend sein wird. 120 Es ist nicht klar, wann diese Daten verfasst worden sind. 121 Brief vom 17. 1. 1988. Mit „Buch“ verweist Rosenkranz hier auf seine letzte eigenständige und publizierte zweibändige Edition Im Untergang.

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anhaltenden Abwärtsbewegung geschildert. Im Gegensatz zu den „Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen“ verläuft dieser ohne Vergeistigung durch den Tod im Kamin. Was beim iterativen „Auftauchen“ aus der Grube wiederkehrt, ist nichts anderes als ein Zurückfallen der Figur Ahasvers. Dieser „Lebensabriss“ ist in bemüht selbstdistanzierter Er-Form geschrieben, aber mit „M. R.“ unterschrieben; das dennoch an manchen Stellen versehentlich mit der Schreibmaschinen gesetzte „Ich“ wird handschriftlich wieder durchgestrichen.122 1/. Er begann am 20. VI. 04 am NO-Abhang der Karpathen in einem ruthenischen Dorf am Pruth im Grenzbereich zwischen dem Habsburgischen und dem Russischen Kaiserreich. 2/. Am Tag seiner Geburt standen seine Erzeuger, Fani und Isak, im 32-ten und 42-ten Altersjahr. Sie waren kleine Landwirte und besaßen bereits einen Hof mit 4 Kühen, 2 Pferden, 3 Mädchen und 2 Buben – ein 3-ter lag schon im Grab – Edmund, der nachmalige Moses, war der vierte.

Das hier genannte Geburtsdatum am 20. Juni wird von Rosenkranz in einem Brief an Rübner als einen Fehleintrag in der Geburtsurkunde angegeben. 123 Anstelle des Dorfnamens nennt er die geografischen Koordinaten „im Grenzbereich“ zweier Großmächte, und seine Lage darin am nordöstlichen „Abhang“ der Karpaten. In Punkt 2/. nennt er nach den (kleinen) elterlichen Landwirten zuerst die Tiere, dann seine Geschwister und schließlich sich selbst. Der tote Bruder mitgerechnet, ist er der Vierte und Letztgenannte. Auch in dieser Reihenfolge lässt sich eine „Ab-sicht“ bzw. Abwärtsbewegung beobachten, welche die eigene Person zuletzt nennt. 3/. Er absolvierte die ruthenische Dorfschule. Als er, 1910, damit fertig war, brach der Erste Weltkrieg aus. Die Russen kamen. Sie setzten auf Vater, der ein kämpferischer österreichischer Patriot war, einen Fangpreis aus, und verbrannten sein Anwesen. Er hatte in jener Frist, mit seiner Familie, bei einem rumä-

122 Mit dem Verweis auf den Namenswechsel tritt eine Verwandlung der biografischen Figur ein, die sich durch die Er-Form noch zusätzlich distanziert; dies vor allem hinsichtlich desselben „Verfassers M. R.“, wie er am Ende des Dokuments handschriftlich signiert. 123 Dem Brief vom 26. 7. 1957 (AR 25087, Reel 1, n526) nach soll Rosenkranz am 20. August zur Welt gekommen sein.

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nischen Priester in den Bergen Zuflucht gefunden. Edmund war indessen gefangen und als Geisel zurückgehalten worden. 4/. 1916, nach der Vertreibung der Russen, wurde die Familie, mit dem wiedergefundenen Edmund, ins Innere der Monarchie evakuiert. Die Zukunft der Familie und ihrer Kinder lag nun nicht mehr in der Landwirtschaft. Letztere wurden in schulische Ausbildungen gegeben, Edmund in das deutsche Gymnasium in Bilitz. Hier setzte er seine Umbenennung von Edmund auf Moses durch. Den Anstoß dazu gab der handgreifliche antisemitische Ausfall eines Lehrers gegen einen jüdischen Mitschüler, wobei er selbst über seinen Namen, wie es schien, als Pole angesprochen wurde.

Der Erste Weltkrieg, das Verbrennen des väterlichen Anwesens sowie die erste Gefangenschaft „Edmunds“ sind weitere Schritte auf dem hinunterführenden Lebensweg, die in den „Leseproben“ des vorherigen Kapitels als Selbstrettung oder positive rettende „Selbstgefangenschaft“ über den drohenden Abgrund gesetzt worden sind. Der Wechsel von der Landwirtschaft zur Schule sowie vom Eigennamen Edmund zu Moses drücken hier eine Selbstdarstellung aus, die durch äußere Umstände angeleitet bzw. provoziert war. Weniger die Verwechslung mit einem „Polen“ als vielmehr die „Selbstbenennung“ seiner Identität kommt hier zum Ausdruck. 5/. Die 1. Gymnasialklasse beendigte er in Prag, wo er in einem Flüchtlingeschülerinternat in der Puchmaierovastraße wohnte. Es war eine Leidenszeit. Im Bestreben, sich Klarheit zu schaffen über seinen ungewöhnlichen Zustand begann er zu schreiben: Prosa, und heimlich, denn es betraf Persönlichstes. Noch versteckter hielt er es später mit Versen; er sah in ihnen die pure Selbstentblößung; er vernichtete sie deshalb, wohl auch weil sie ihm unreif schienen.

In der Leidenszeit und im Bestreben, seinen eigenen ungewöhnlichen Zustand zu begreifen, werden hier die ersten Schreibversuche in Prosa erwähnt. Die Leidenszeit selbst sowie der ungewöhnliche Zustand wird allerdings nicht weiter erklärt. 124 Die Bedeutung der Geheimhaltung seiner literarischen Versuche scheint hier mehr als ein übliches Phänomen erster Schreibversuche. Der Ausdruck von „Persönlichstem“ und gar einer „Selbstentblößung“ wirkt im politischen Licht der Zeit und innerhalb seiner 124 In den Briefen an Rübner, aber auch im Fragment Kindheit nennt Rosenkranz als erste Schreibversuche die Gedichte. Dass er mit Prosaschreiben begann, wird ausschließlich hier genannt.

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Sozialisation als ein Akt intendierter Selbstbehauptung und gleichzeitig der Wahrung seiner eigenen Innerlichkeit. Mehr als die Hälfte der Punkte widmet Rosenkranz seiner Kindheit und der Zeit vor der Verschleppung. Der mittlere, sechste Punkt erzählt vom einschneidenden Jahr 1919, als „er“ seinen Vater tot „hingestreckt auf einem Leiterwagen“ vorfand: Es ist das Jahr seines Erwachsenwerdens. 6/. 1918 kam er nach Czernowitz. Am 30. Juni 1919, verließ er mit dem Zeugnis über die 3. Klasse das Schulgebäude fest entschlossen, es nie wieder zu betreten: das Gymnasium war ihm ekelhaft geworden. Er wollte aufs Feld oder in den Wald. Er war sich sicher der Zustimmung des Vaters. Als er jedoch den Hof zur 2-Zimmerwohnung der Familie betrat, erblickte er seinen Vater lang hingestreckt in einem Leiterwagen, er war tot. Er war auf der Heimfahrt von der Hochzeitsfeier seines Freundes, Baron Flondor, aus Hlinitza, im Rücken des Bauern auf dem Kutschersitz gestorben. Mit diesem Tod kam ihm auch der Untergang des Habsburgerreiches zu Bewußtsein. Er fühlte sich schmerzhaft verworren und benebelt und erreichte Klarheit durch den glitzernden Tunnel der Deutschen [sic.] Sprache, aus der er – eigentlich nur übend – seine Schriften schlug. Sie schienen ihm nicht der Bewahrung wert. Er sehnte sein Ende herbei. Nur dazu fühlte er noch Kraft und Freiheit. Doch wollte er vorher noch 15 Seiten inhaltlich und formal gültiger Aussagen verfassen; wozu er freilich, als unbelesen, das Ermessen nur in sich trug. 7/. Darüber blieb er am Leben und wurde älter, alt, uralt.

Dieses bedeutende Ereignis wird über die Mittelstellung zwischen den zwölf Punkten zusätzlich bekräftigt. Die Beziehung zum Vater erwächst somit aus dem Untergang einer Zeitepoche, die hier über dessen Tod eingeleitet wird. „Verworren und benebelt“ bot ihm einzig die Sprache Klarheit. Dass ihm nicht das Gymnasium, dennoch aber die Unbelesenheit zu schaffen machte, verweist auf jenen Bildungsbegriff, den Rosenkranz generell als systemisch und lebensfern verpönte. 125 Wie er aber die Schriften nicht der Aufbewahrung wert fand, so „sehnte“ er auch zugleich sein eigenes Ende herbei; wo der innere Wert und per125 Rosenkranz, der in den späten 1960er Jahren anfing, die Tagebücher Rousseaus zu lesen, erinnert hier einmal mehr auch an seinen „liebsten Dichter“ Lew Tolstoj, der sich seinen Begriff einer freien Pädagogik nicht zuletzt über Rousseaus Gedankengut erarbeitet hat.

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sönlichste Kern keinen schriftlichen, dauerhaften Niederschlag findet, ist das Ich bzw. „Er“ gleichermaßen zum Untergang verurteilt. Die „15 Seiten gültiger Aussagen“, die ihn als Vorsatz über den tödlichen Abgrund hielten, können hier nicht identifiziert werden. 126 „Darüber“, das heißt: mit Hilfe der deutschen Sprache über den Untergang des Habsburgerreiches hinweg, blieb er am Leben und wurde „älter, alt uralt“. 8/. Bis 1930, als er Margul-Sperber, Oskar W. Cisek und Ion Pillat kennenlernte, schlug er sich durch, als Gepäcksträger, Buchdruckerlehrling, privater Deutschlehrer, Soldat, Fabrikarbeiter, Grapholog, Übersetzer. 9/. Margul-Sperber, der von M. R. „verlorene Blätter“ gesammelt hatte, zog ihn in die Czernowitzer literarische Öffentlichkeit, indem er, mit Hilfe des Dr. med. Alfred Ramler und der Düsseldorfer Schauspielerin Marianne Vinzent auf Urlaub, das Buch „Leben in Versen“ herausgab. Das wurde freilich erst möglich, nachdem der Doktor Ramler dem Verfasser einen Vorschuß auf die zu erwartetenden Tantiemen aushändigte. Dieses nicht eigentlich von M. R. be- und vertriebene Buch war das Seil zu seinem Aufstieg in die Literaturgesellschaft vor allem Bukarests. Oskar W. Cisek nahm ihn in seine Wohnung und beibrachte ihm zivilisierte Umgangsformen. Der Kulturbojare Ion Pillat nahm ihn als Privatsekretär unter Vertrag, der polyglotte Diplomat und Kunsthistoriker Stephan Nenitzescu führte ihn in die deutsche Lyrik ein, die Königin-Mutter Maria engagierte ihn als hochbezahlten Übersetzer und Bearbeiter ihrer Manuskripte, die Siebenbürger Hermann Roth, Harald Krasser und Heinrich Zillich bescheinigten ihm Talent.

Die Hoch-Zeit seines literarischen Schaffens beschreibt Rosenkranz hier anhand seiner Förderer. Dies, aber auch die Nennung seines ersten Gedichtbandes „Leben in Versen“ 127 , ist selten für Rosenkranz’ biografische Abrisse. Wenn die hier genannten Namen auch andernorts immer wiederkehren, so hielt er, wie die Briefe gezeigt haben, doch lieber an seiner litera126 Ebenfalls bleibt unklar, was mit „gültig“ und „Aussagen“ gemeint ist. Ob es sich um die oben genannten 15 Seiten des Vorwortes aus den „Leseproben“ handelt, kann lediglich in Erwägung gezogen werden. Dass er mit 14 Jahren allerdings das „Ermessen“ erst bzw. bereits „in sich trug“, was später (evtl. 1963?) zum Ausdruck gelangte, schließt die Möglichkeit immerhin nicht ganz aus. 127 Ansonsten spricht Rosenkranz von Die Tafeln, die er nach seinem ersten Gedichtband Leben in Versen 1940 gedruckt hat.

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rischen wie existentiellen Unabhängigkeit fest. Anstelle von „Leben in Versen“ werden an anderen Stellen häufiger „Die Tafeln“ genannt, da Rosenkranz nach der Haft bemüht war, eine neue und unzensierte Fassung zu veröffentlichen. Hier geht es offenbar weniger um die eigene Wertschätzung seiner Person und seines Werks als um Anfangspunkte und Marksteine der Biografie, die anstelle des Überdauernden den unablässigen Abriss einer geistigen Initiation buchstäblich benennen. Die Erwähnung seiner Arbeitgeber und Förderer mag hier nicht zuletzt an einer bewussten Referenz liegen, die ihm über die Bekanntheit der Personen einen bestimmten Rückhalt vorgaben. Die „verlorenen Blätter“ sind ein weiterer Hinweis auf die Gebrochenheit des Subjekts, das nach jedem Aufstieg einen tiefen Abstieg erlitt.

Die Beschreibung seiner Bedrohung und Gefährdung kommt hier einem Bulldozer gleich, der die Erde in die tiefsten Schichten historischer und biografischer Tektonik umgräbt. „M. R.“, der hier (9/.) nach dem literarischen Erfolg in den 1930er Jahren nur mehr mit Initialen genannt wird, stürzt hinab in den GULAG und taucht wie durch ein Wunder mit seinen Gedichten unter einem neuen Namen wieder auf. Anna Rübner, Hermann Roth und Margul-Sperber zeichnen laut Quellen als „Liebhaber“, die diesen Gedichtband unter dem Pseudonym „Martin Brant“ herausgaben. 1961 reißt der „Lebensweg“ ab. Ein dreizehnter Punkt allerdings autorisiert am Fußende den Lebensabriss, der unten rechts mit den Initialen in Handschrift zusätzlich unterzeichnet wird:

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Was an späterer Stelle wieder in die Argumentation aufgenommen wird, ist die Reflexion der Ziffer oder Zahl „13“. Ähnlich wie die „Eule“ verweist sie im Kontext von Rosenkranz’ „Zahlenmagie“ auf die Vereinigung von Widersprüchen, beispielsweise von „Gut und Böse“, im Bild oder Zeichen.128 Das Leben wird hier, in dieser strengen Form und auch teils lyrischen Sprache durch die Auf- und Ab-Struktur gebändigt. Die Bewegtheit des hier geschilderten Lebens wird aber auch minimal auf diese Dualität eines Auf-und-Ab reduziert. Diese Form erlaubt keine Zufälle oder Umwege mehr: Auf eine Aufwärtsbewegung muss eine Umkehr in die Tiefe folgen. Die neutrale Mitte, aus der die „deutsche“ Sprache oder „seine“ Dichtung hervorgeht, hält dem Lebenslauf aber noch die Waage: Sie steht zu Beginn wie zuletzt als einziges noch mögliches Erstaunen: das Wunder des eigenen (Über-)Lebens. Durch diese Symmetrie wiederum wird das binär-linear ausgelegte Auf und Ab zu einem immer wiederkehrenden „Zyklus“ gebunden. Diese Festigkeit und Strenge lässt an bestimmten Stellen lyrische Muster erkennen: Reime, ein Lied- und Strophenformen: So in Punkt 7, wo die Endung „[…] und wurde älter, alt, uralt“ mit Punkt 10 „[…] wurde wieder klein und häßlich und versank“ rhythmisch und semantisch vergleichbar ist. Während das positive Überleben mit Kommas in kurze syntaktische Einheiten gegliedert wird, dehnt sich dasselbe in der darauffolgenden Negativtendenz über zwei „Und“-Verbindungen: Das Absinken, das auf jedes kurze Aufwachen und Auftauchen folgt, markiert als eine solche fortlaufend zyklische Struktur einen Punkt am Jahreskreis mit zwölf Monaten, der – erneut der Rosenkranz’schen „Zahlensymbolik“ zufolge – mit dem Herbst als des Dichters „liebste Jahreszeit“ interpretiert werden kann. 129 Der Tod ist allpräsent, markiert jeden Neuanfang in seinem Leben und dominiert

128 Vgl. „Das dreizehnte Geheimnis“, Kapitel 8.2.2. 129 Vgl. Kapitel 10.

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schließlich sein „Er“, seine Person, fremdbestimmt und neu mit Namen des Schicksals benannt. Dieser Lebens-Abriss ist ein Abstieg und kennt also nur ein aufhellendes, tatsächlich aufsteigendes Moment am Schluss. Keine Ironie wie in den „Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen“, die aus dem Verlust eine „exklusive“ Erlösung schafft, entkräftet hier das ewige Fallen. Die „Verwandlung“ der „Er-Figur“ führt über ihren Namen, das heißt ihren Namensentzug und neue Namensgebung, vom Individuum weg zu einer „Initialen“-Gestalt, die am wortwörtlichen Ende die Bezeugung ihrer Identität und damit quasi den Anfang einer pluralen Ich-Figur mit der Hand zu signieren gezwungen ist. Diese Identitäts-Figur, die in sich die duale Gegensätzlichkeit vereint, spricht nur mehr über eine amputierte Leiblichkeit, wie das Kürzel „M. R.“ am Ende bekräftigt.

7.4 Zusammenfassung und Kommentar Der Briefnachlass und das darin enthaltene Bildmaterial haben unterschiedliche Distanzstrategien im Sinne einer in die Tiefe führenden SelbstObjektivierung 130 aufgezeigt. Die Reflexion des Ich über Vergleiche mit „Ebenbildern“ oder fotografischen Ab-bildungen lässt sich als ein Abziehen des Eigenen vom Anderen verstehen. Das Eigene manifestiert sich im (An-)Schauen des Anderen als eine Einprägung im Gegenüber. Hier wie auf der Suche nach Ähnlichkeiten und Ebenbildern deckt sich die Disparität des Selbstbildes auf. Die Bedeutung der (Wirklichkeits-)Referenz steht dem Versuch, einer nur mehr „inneren Vorstellung“ durch Anbindung an die Welt zu entgehen, gegenüber. Die „Inszenierung“, Selbsteinschätzung oder Selbstzurichtung über referentielle Bilder und einer neuen Anordnung im Raum der Gegenwart ist ein Zugriff auf die äußere Welt und eine An-

130 „Objektivierung“ deutet hier einerseits auf eine Subjektivität, die aus der Fremdperspektive hervorgeht – aus einer versuchten „Objektivität“ also; andererseits ist mit Verweis auf das „Objektiv“ des Sehapparats eine bewusste Rahmensetzung des Selbstbildes, eine Beschränkung der Sicht sozusagen, aber auch die Möglichkeit zu einer Aus-weitung bzw. Naheinstellung gemeint.

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eignungsform der Wirklichkeit, wie sie mit Wittgenstein als Konstrukt neuer subjektiver Grenzziehungen verstanden wird (Landwehr, 2004, 19 f.). Die Unlösbarkeit einer solchen sprachlich bildlichen Verdichtung zeigt sich schließlich in Form übersteigerter sowie auch marginalisierter Selbstbilder im biografischen Nachlass (Leseprobe aus dem Werk eines Verschollenen, Daten seines Lebensweges). Die in den Leseproben geltend gemachte Bezeugung von „Wahrheit“ gelingt nur noch im Unwahrscheinlichen und somit in einer Fiktion, die den Anspruch auf eine „objektive“, referentielle Wahrheit erst gar nicht mehr erhebt. Die sowohl in der Korrespondenz als auch in den beiden Dokumenten betonte Rückwendung in die Kindheit lässt den Begriff der „Renaissance“, wie er über Renaissance-Kunstdrucke, das antike Symboltier der Eule oder in der Wiederbelebung antiker Ideale am Beispiel des homerischen Mythos paradigmatisch wird, für das gesamte Werk von Rosenkranz poetologisch überdenken: Das schreibende Ich versucht, sich im „erlösenden Schein“ und damit in der bewussten Neusetzung seiner Erscheinung als „Wahrheitsreferenz“ zu vergeistigen; ein anderes Ich, ein im Abgrund „verschollenes“, findet nur noch in komplett emanzipierter Verkörperung der Gedichte einen Ausweg, die das biografische „Auftauchen aus der Grube“ zyklisch erhellt. Kurz gefasst, lässt sich die restitutive Arbeit an der Identität als eine Bearbeitung der Wirklichkeitsreferenz beschreiben und diese wiederum in einer Verdichtung von Leben und Werk hin zu einer Biografie, die in einer beinahe selbst-mythologischen „Schöpfungsgeschichte“ ansetzt. Um anhand dieser drei Begriffe die Argumentation über die Lyrik fortzusetzen, werden sie im Folgenden noch einmal näher betrachtet und im historischtheoretischen Kontext verortet. Wo die erlebte Wirklichkeit unwahrscheinlich und dieses Unwahrscheinliche nur noch in einem wahren Schein beschreibbar wird, kann schließlich auch die Bezeugung der Identität nur noch aus sich selbst heraus geschehen – aus einem Ich, das ein anderes als jenes ist, das in der Beschreibung auf der Textoberfläche sichtbar wird. Was in den Briefen von Rosenkranz angesprochen und in Vorsätzen vorformuliert wurde, zeigte sich in den beiden biografischen Dokumenten in zugespitzter Weise: Der im Dunkeln unsicht-

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bare „Verschollene“ ist „er“, der mit seinem verletzten Körper nur noch unter neuem Namen aus der Grube des Todes herausfindet.131 Ein „anderes“ Ich schafft die „Auferstehung“ und kann sich quasi vom alten Körper und „seinen Sünden“ befreien. Dieses Ich „kann nun die Dichtung betreten“ und es kann sich in ihr vom versehrten und verschollenen, sprich „abwesenden“ Ich emanzipieren – „anwesend“ werden. Formal gesehen gilt sowohl in den Leseproben als auch in den Daten seines Lebensweges die Dichtung als A priori für ein Fortleben. Aus ihr geht der mythenbestimmende Ansatz eines „Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ hervor, den Rosenkranz mit dem Verweis auf „Homer“ andeutet und Foucault ein „Geschenk der Sprache im Tod“ nennt: Das „fiktive Sprechen“ entsteht da, wo Homer den Gesang seiner eigenen Identität anstimmt, um zu leben. 132 Aus den beiden Dokumenten und im Besonderen aus den Leseproben geht mit der Bedeutung der Dichtung für das Weiterleben nicht nur ein Ort der mythopoetischen Vergeistigung hervor; allem voran stellt das „andere Ich“, welches die „Erlösung durch den Kamin“ schafft, auch einen neuen Leib vor, der letztlich in bzw. aus den Gedichten selbst besteht, die das biografische Vorwort konzeptuell über die „Biografie“ einleitet. Wenn sich wiederum in den Daten seines Lebensweges die „Dichtung“ in ihrem tendenziellen Aufwärtsstreben im Text vom stetig abstürzenden „Er“ emanzipiert, so zeigt die symmetrische Struktur dieses zweiten biografischen Abrisses dennoch, dass hier ein fixer Ort fundiert wird, der diesem „Er“ einen physischen Anhaltspunkt (Referenz) gibt und damit einen festen „Körper“ leiht; in einer Sprache, die an manchen Stellen zudem elegisch klingt und so wiederum auf die Lyrik direkt Bezug nimmt. Die Verdichtung der Biografie und schließlich die Gedichte werden so zu einer Verkörperung, wie sie auch bereits in den Briefen an Anna Rübner als Figur einer Muse und Memoria paradigmatisch wurde.

131 Lévinas: „Eigennamen, deren ‚Aussagen‘ ein Gesicht bedeutet, Eigennamen sind unter allen Namen und Gemeinplätzen diejenigen, die der Auflösung des Sinns widerstehen und uns helfen zu sprechen. Erlauben sie uns nicht, hinter brüchigen Aussagen zwar das Ende der einen Verstehbarkeit (Intelligibilität), aber auch den Morgen einer anderen zu erahnen?“ (Lévinas, 1988, 9). 132 Vgl. (Foucault, 1963).

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7.4.1 Ein vitalistischer Lebens-Abriss In den beiden vorgestellten biografischen Abrissen und damit in der vom Autor angesprochenen Poetologie, wird das Leben Gegenstand des Schreibens. Zugleich findet in der Beobachtung des tagebuchartigen Briefeschreibens und den „monologen Gesprächen mit Dir“ für Rosenkranz das Leben nur mehr im Schreiben statt. Daraus hervor geht ein Biografiemodell, das Hans-Erwin Friedrich als „vitalistisch“ bezeichnet und für die literarischen Autobiografen nach 1945 bestimmend macht (Friedrich, 2000, 247). Das Leben zum Gegenstand des Erzählens selbst zu machen, wird aus Rosenkranz’ zwölf Punkte umfassendem Lebenslauf erklärbar: Das äußere Leben, das er lebte, um zu schreiben, wie es Vargas Llosa umschrieb, endet formal mit der Übersiedlung nach Deutschland (Llosa, 2004). Am Leben zu bleiben, aber mit dem Tod in den Augen, war Anlass zum Schreiben aus der Erinnerung – ins Leben. Maurice Blanchot nannte die Sprache „das Leben, das den Tod erträgt und in ihm sich aufhält“ (Assheuer, 2003). Anders aber als in Blanchots radikal entmythifiziertem Sprachverständnis 133 wird das Schreiben bei Rosenkranz zum Grund, zum Ort und zum Ziel des Weiterlebens: 134 Aus einem Leben fürs Schreiben wird ein Schreiben fürs Leben. Friedrich nennt die Begriffe „Inklusion“ und „Exklusion“ in der zweifelhaft gewordenen Suche nach der verlorenen Position des Ich in der Welt und seiner Sprache (Friedrich, 2000, 246 f.). Das „vitalistische Biografiemodell“, übernommen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erreicht gerade deshalb seine Renaissance in einem Schreiben nach dem Lager wie 133 Sprache und Tod sind wie bei Foucault untrennbar ineinander verschlungen. Das „absolute Ereignis der Geschichte“ hat der Sprache ihre Traumenergien ausgetrieben: Dies lässt sich theoretisch erklären, bestätigt sich aber nicht in der Primärliteratur, welche hier vorgestellt wird; außer der Traumbegriff wird so verhandelt, dass er der Wirklichkeit nicht inkorporiert wird, sondern ihr radikal gegenübersteht (Assheuer, 2003). Hier kommt Blanchot nach Assheuer letztlich auch Adornos Sprachskepsis nahe, dessen Noten zur Literatur Rosenkranz kannte und verwarf. Der Dichter teilt seine Einsamkeit mit seiner Sprache und im Anschreiben gegen die „Angst vor der leeren Zeit“ (Beckett). 134 Dies zeigen auch die Gedichte der 1980er Jahre, die nicht selten Erlebnisse der Vergangenheit neu verdichten.

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bei Rosenkranz, weil für die Autobiografen nach 1945 sowohl „Biografie“ als auch „Identität“ keine Selbstverständlichkeit mehr darstellten, sondern aus den „Resten“, dem „Lebensmaterial“, konstituiert werden mussten. Eine Inklusion des Individuums, seine Verortung in der Welt und in der vorstellbaren „Wirklichkeit“ gelingt nicht mehr durch die (fremd gewordene) Gesellschaft, sondern ausschließlich in der Setzung „übersozialer Zusammenhänge“: beispielweise über ein In-Beziehung-Setzen des Ich in einem dinglichen, natürlichen, kosmischen Ganzen, was Rosenkranz in der konkreten Beziehung zu Anna Rübner, aber unter einem tolstojanisch geprägten Begriff der „Liebe“ 135 paradigmatisch re-form-ulierte – und zu seinem poetologischen Prinzip erhob. Rosenkranz’ Rückzug in die Einsamkeit und seine Abkehr von der Gesellschaft nimmt eine Form an, in der er sein Leben und Schreiben in Zyklen strukturierte und darstellte. Die Verdichtung seines Lebenslaufs zeigt aber auch eine zyklische Struktur, von der das Subjekt gefangen ist: Die Erinnerung kreist um ein Ich und rastet in zyklischer Vergegenwärtigung des erlittenen Schicksals immer an derselben Stelle ein: im wiederkehrenden Abgrund, in der Unmittelbarkeit des Todes. Aus dieser Wiederkehr des Dunkeln windet sich auch das Trauma. Jedes Auftauchen ist eine Selbst-„Geburt“ am tiefsten Punkt dieses Kreises. Die Vergeistigung, die von der Aufwärtsbewegung des Kreisens intendiert ist, beschreibt Peter Alheit mit einer Auflösung des Festen in einer Verflüssigung: Die Gestalt des Ich, nach der das autopoetische Ich sucht, löst sich nach jedem Prosa-Versuch zunehmend auf und verliert an Festigkeit (Alheit, 2006, 218). „Die Selbstdarstellung beschreibt damit keine kumulative Restrukturierung der eigenen Erfahrung, in der jeder neue Schritt auf vorangegangenen Erfahrungen aufbauen kann, 135 Zum Begriff der „Liebe“ bei Tolstoj vgl.: Für alle Tage. Ein Lebensbuch, München 2010; z. B. Eintrag vom „12. Juli“: „Der Ursprung der Liebe besteht darin, dass jeder Mensch die Einheit des geistigen Prinzips erkennt, das in allen Menschen wohnt“; oder dabei zitiert er Emerson: „Das Leben des Menschen gleicht einem sich ausbreitenden Wellenring, der von einem unendlich kleinen Punkt ausgeht, nach allen Seiten hin neue, größere Kreise bildet und kein Ende hat“ (S. 362). Der Begriff „Lebensbuch“ taucht bei Rosenkranz sowohl in der Kindheit als auch in der Lyrik auf.

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sondern eine Wiederholung zyklischer Muster aus Aufbau und Destruktion, in denen jeweils der Radius des Kreismusters größer wird und immer weitere Bereiche […] in diese Struktur eingebunden werden“ (Alheit, 2006, 220). Damit ist erneut auf Foucaults „Geschenk der Sprache im Tod“ verwiesen: Der Tod, die Erfahrung des Todes, führt an eine Grenze der Sprache selbst. Diese muss in die Transzendenz übergehen, um ihre grenzenlose Form (Prosa) zu finden – ihre eigene Sprache jenseits der Grenzen. Dieses Über-die-Grenze-Hinauswirken fordert eine Einschreibung in Form von Ewigkeit, die somit durch den Tod als Erfahrung einer (undeutlichen) Grenze zustande kommt (Foucault, 1963). 136 Zu einer zyklisch „kumulativen Restrukturierung“ zählen bei Rosenkranz sowohl die Arbeit an alten Gedichten, die er „für die Ewigkeit“ bindet, als auch das Bildmaterial des Nachlasses, mit dem er seine Erinnerung immer wieder neu überblickte und neu zu überschreiben versuchte. „Mit dem Muster des Kreises“ korrespondiert nach Allheit „ein Konstrukt von Zentrum und Peripherie – etwa in der Imagination, als in der Zurückgezogenheit Schreibender […]“ (Alheit, 2006, 220). Die zwölf Punkte des Lebensabrisses sind nach rosenkranzscher „Zeitsymbolik“ im Jahreskreis vitalistisch deutbar: ein universeller, kosmischer Umfang aus Fraktaten seines Lebens, ein rundes „Ganzes“ aus der Perpetuierung der eigenen Abgründe. Jean Wahl begreift die „Vorstellung des Vollständigen, Allumfassenden“ aus der „Vorstellung des Abgetrenntseins“ (Lévinas, 1988, 9 f.), wo „das Nichtumfassende ein Umfassendes geworden ist“. Auf der Suche nach dem Wahren und Ursprünglichen, der Identität sozusagen, sucht Wahl das Absolute in der „Intensität des Gefühlten, der Leidenschaft, der Poesie“. Außer den Leseproben, die einer ekstatischen Aufwärtsbewegung inhaltlich formal freien Lauf lassen, zeigen die Briefe wie auch die späteren Daten seines Lebensweges eine Beschäftigung mit dem eigenen Leben ausschließlich im Schreiben und in der Schrift; in einer feststrukturier-

136 Der Mensch versucht daher nach Foucault in äußersten Anlässen des Schreibens nach einer verewigenden Einschreibung (beispielsweise in Stein). Das immer neu Gegen-den-Tod-Angehen wird in einer ewigen Wiederholung in der Sprache versucht und so ins Endlose der Sprache geführt – dahin, wo sie auch als solche sichtbar werden will: in einem ewigen Bild ihrer selbst.

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ten, fixierten Ansicht des Erlebten zudem: einer Art Stillleben. Eine im formierten Selbstbild zur Ruhe gebrachte Vergangenheit, deren Nerven nur an einzelnen Punkten der sprachlichen Verfasstheit der Gegenwart weiter zucken.137 Der vitalistische Vorsatz wird aber bedingt und gehemmt: Rosenkranz’ Selbst-Inszenierung anhand der Dinge und ihrer Zusammenstellung der Fraktate im Nachlassmaterial bleibt eine Komposition aus (toten) Gegenständen, die in Rotation verlebendigt werden soll. Der Raum des Ewigwährenden (der Ewigkeit und Lebendigkeit der Sprache) wird aber gerade in einem formal umgesetzten zyklischen Vitalismus nicht erreicht. Da es sich bei beiden Dokumenten um unfertige oder literarisch wie „biografisch“ sehr heterogene Textkonstrukte handelt, wird der Begriff des „Vitalismus“ nur in Zusammenhang mit dem Schreiben aus dem Tod gültig. Die von Rosenkranz immer mehr auch selbst eingeforderte Distanzierung von seinen (früheren) Gedichten wie auch von „sich selbst“ zeigt in der Formulierung seines Selbstbildes auch seine Genese im Schreiben selbst: Eine Ausdrucksweise, die bei Rosenkranz „ohne Worte besser wäre“.

7.4.2 Eine „neue Beziehung zu den Dingen“ in der Bedeutung der Wahr-nehmung Die (Selbst-)Wahrnehmung von Rosenkranz verweist auf die Bedeutung visueller Wahrnehmung, wie sie bei Autoren, die ebenfalls aus der absoluten Zäsur zum Schreiben als neue Existenzform gefunden haben, als Selbsterkenntnis über ein Ich im Anderen thematisiert wurde. Im dritten Teil der Arbeit wird auf diese Autoren weiter eingegangen; um die Wahrnehmung des Selbst im Anderen nach dem Lager sowie den neuen Bedeutungswert der Dinge und somit Rosenkranz’ Einrichtung in seiner Umgebung im Anschluss an den Nachlass zu erläutern, wird hier punktuell vorgegriffen. Das Sich-selbst-Sehen im Anderen und damit eine Selbstobjektivierung 137 Lévinas problematisiert das „unentwegte Zurückkommen zu sich selbst“ in seiner Simultaneität mit dem „absoluten Ursprung“. In der Betrachtung der Simultaneität von Ursprung und Aktualität allerdings erstarren die Worte zu „Salzsäulen“ (Lévinas, 1983).

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zeigt Jorge Semprun in Leben oder Schreiben 138 ; aber auch in Die große Reise schildert er am Endpunkt physischer Kräfte ein Erlebnis der „Anschauung“, das für den Kontext Rosenkranz’ kunsthistorischer Bildlese und seines Bedürfnisses nach „Schönheit“ aufschlussreich scheint (Semprun, 1981). Beide genannten Werke beginnen mit der Beobachtung im Blick des Anderen. In Leben oder Schreiben erkennt das Ich sein eigenes Überleben erst im buchstäblichen Angesicht des Betrachtetseins; in Die große Reise ist es die Landschaft des Moseltals, welche eine Allmacht ausstrahlt und das entkräftete, vakuumierte Ich im vollgestopften Deportationswaggon geistig bereichert oder ernährt, sogar bis zur inneren, von physischen Strapazen erlösten Erfüllung: Ich bemühe mich, die Augen möglichst lange geschlossen zu halten. Der Zug fährt sanft dahin, mit eintönig knirschenden Achsen. Plötzlich pfeift er. Das muß die Winterlandschaft zerrissen haben, wie es mein Herz zerreißt. Schnell öffne ich die Augen, um die Landschaft zu überraschen, sie zu überfallen. Aber da ist sie. Ganz einfach da, etwas anderes kennt sie nicht. Und wenn ich jetzt stürbe, aufrecht in dem mit künftigen Leichen vollgestopften Wagen stürbe, sie wäre trotzdem da. Vor meinen erloschenen Augen läge das Moseltal, gewaltig schön wie ein Wintergemälde von Brueghel. Wir könnten alle sterben, ich und der Junge aus Semur-en-Auxois, und der Alte, der vorhin unaufhörlich brüllte, seine Nachbarn haben ihn wohl zu Boden geschlagen, man hört nichts mehr von ihm – es läge trotzdem vor unseren erloschenen Blicken. Ich schließe die Augen, öffne sie. Mein Leben ist nur noch dieser Wimpernaufschlag, der mir das Moseltal enthüllt (Semprun, 1981, 10–11).

Eine „überschwengliche Freude“ geht von dieser Wahr-nehmung aus, die selbst eine achronistische „übersoziale“ Gegenwart in der Landschaft vorfindet. Die Mosel „dringt durch die Augen“ ins Subjekt ein, „überflutet meinen Blick, füllt meine Seele mit ruhigen Wassern wie einen Schwamm“. Das Ich ist „nur noch diese Mosel, die durch meine Augen hindurch mein Inneres überschwemmt“. In der Anschauung und im Gegenüberstehen als leerer Körper dringt das Andere, hier die betörende Landschaft – als eine Brueghel-Landschaft 139 – in den Betrachter ein und wird diese selbst. Der 138 Vgl. Jorge Semprun, 1995 und 2003. 139 Rosenkranz forderte nach 1957 wirklichkeitsreferenzielle Werke niederländischer Landschaftsmalerei an.

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Übergang des Angeschauten in den Anschauenden, die Verschmelzung von Objekt und Subjekt stehen hier einerseits im Kontext des Bildmaterials, das als Selbstobjektivierungsstrategie und Tendenz einer Selbstentfremdung argumentiert wurde; andererseits wird in unvergleichlicher Deutlichkeit bei Semprun, wie über die Aneignung und Wahrnehmung des Angeschauten, eines Anderen gleichsam, die unhintergehbare Wahrheit verlautet: in der Überwältigung durch eine naturgegebene, d. h. „übersoziale“ Gegebenheit. Was Semprun hier andeutet, ließe sich auch hinsichtlich der Auflösung einer „eindeutigen Wirklichkeitsreferenz“, wie es oben bereits für Rosenkranz versucht wurde, weiterführen. Die buchstäblich wahr-nehmende Anschauung zur Selbsterkenntnis treffen wir auch in den Essays von Warlam Schalamow oder Andrej Sinjawskij alias Abram Terz. Bei allen drei Autoren zeigt sich ausgehend von der Beschreibung visueller Wahrnehmung die Strategie einer notwendigen Selbstobjektivierung und -distanzierung. Der „Junge“ in Sempruns „Große Reise“ ist hier nur ein Beispiel aus seinen vielen (auto-)biografischen Werken, in denen der Autor wie auch Andrej Sinjawskij seine Identität durch einen „Anderen“ veranschaulicht oder spaltet, verdoppelt, maskiert. Nach Fritz Breithaupt ließe sich diese Tendenz der Selbstobjektivierung als Integrationsprozess in die Welt verstehen, wenn „das Ich der Feind der Gleichheitsempfindung“ ist (Breithaupt, 2009, 58). Die „Ähnlichkeit verlangt nach einer Bühne, um gesehen zu werden, denn sie ist verstellt oder entsteht erst durch ästhetische Illusion“. Das Ich ist Indiz und Ursache für die Einsamkeit und damit der „Feind der Literatur“: Denn „je mehr sich die Individuen ver-ichen, desto weniger sind auch fiktionale Charaktere für andere zugänglich, verstehbar, erfühlbar“ (Breithaupt, 2009, 60). Das Ich muss also das Andere notwendig inkorporieren, um (poetisch) darstellbar in jeder Hinsicht vermittelbar zu werden. Wo Rosenkranz über sein Spiegelbild selbst lachen muss und sich selbst nicht mehr traut, kann es auch für die eigene Glaubwürdigkeit nur noch den Weg vom Ich zum Er bzw. zum „Ich – ein Anderer“ geben, wie es Kertész zum Titel einer seiner biografischen Erzählungen machte (Kertész, 2002). Schalamow spricht implizit von der „neuen Beziehung zu den Dingen“ im und durch das Lager in seiner Erzählung „Die verwaschene Foto-

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grafie“ 140 oder explizit in seinem literaturkritischen EssayÜber Prosa (Schalamow, 2009); diese „neue Beziehung zu den Dingen“ stellt sich in der Abgründigkeit der Welt und in der Gebrochenheit der eigenen Identität ein. Und sie ist ein Abzug, eine sich vom Untergrund lösende Schicht Papier. Die zwangsläufig erlebte soziale Exklusion zeigt sich über die erwähnte Gegenüberstellung und Aneignung eines Anderen bei Rosenkranz in der Anordnung von Gegenständen als neue Anbindung (Inklusion) an die (entfremdete/abgelöste) Welt. Diese Inklusion ist eine innere, mehr oder minder „vergeistigte“ und vom physischen Körper losgelöste, wenn durch diesen auch gerade erst vorbedingte: nämlich in der schwindenden Bedeutung des Körpers, da ein anderer vorstellig wird; im „Kleiner- und Hässlichwerden“, wie sich Rosenkranz selbst beschrieben hat (Daten seines Lebensweges). Die Inklusion als neues In-der-Welt-Sein ist letztlich die Verortung in einem anders geschauten Ganzen – aber wesentlich auch in der Bedeutung der Latenz des anwesenden, verlorenen, sprich verschollenen Körpers.

7.4.3 Von der Selbst-Objektivierung zum „anderen Ich“ Diese Dialektik des Ich mit dem Anderen verunmöglicht die eindeutige Differenzierbarkeit einer Ich-Identität. Durch die (vor allem visuelle) Aneignung der Welt spricht über die existentielle Erfahrung der absoluten Zäsur eine Wahr-nehmung, die letztlich weder „fiktiv“ noch „wirklich“, weder poetisch noch historisch-dokumentarisch genannt werden kann. Genauso verliert die Verknüpfung von Leben und Werk unter Relevanz der Form, wie sie Rosenkranz in seinen Briefen und biografischen Entwürfen verteidigt, den Vorwurf des „Biografismus“. Franziska Thun-Hohenstein fasst in ihrer Studie Gebrochene Linien das Desiderat einer Forschung zusammen, die in den „Zusammenhängen zwischen autobiografischem Schreiben und Kulturpraktiken der Subjektformierung, zwischen der Monumentalität des normierten sowjetischen Biographiemusters und der Suche nach alternativen narrativen Verfahren einer autobiographischen Fokussierung“ besteht 140 Russ.: „Smytaja Fotografija“ (Shalamow, 2007, 166–69).

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Zum Selbstbild in den Briefen an Anna Rübner-Rosenkranz

(Thun-Hohenstein, 2007, 22). Die Verquerung und Unauflösbarkeit der Referenzebenen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Realität, Albtraum und „Wunder“ fordert für diesen Ort und diese historische Zeit (der Gulag der 1940er bis 1950er Jahre) eine Erforschung der Beziehung zwischen Leben und Werk. 141 Verbindlich sieht Thun-Hohenstein den „Zeugnischarakter“ der autobiografischen Texte für eine Zeit, die nicht mehr glaubwürdig ist. „Die Kehrseite des abgebrochenen bzw. durch Intervention von außen unterbundenen Sprechens über das eigene Leben ist der permanente Zwang zu ritualisierten Selbstaussagen, dem in der Sowjetunion alle ausgesetzt waren und der zu den Gewaltpraktiken zu zählen ist, auf denen die Sowjetzivilisation basierte“ (Thun-Hohenstein, 2007, 40). Wo sich aber die Referenz auflöst und das Bezeugen der Identität, wie es hier in Bezug auf Rosenkranz dargestellt wurde, nur mehr in der Etablierung eines zusätzlichen anderen Ichs erfolgen kann, muss auch die Trennung zwischen „gelebtem“ (wirklichem) und „erschriebenem“ (poetischem) Leben die Kontur verlieren. Das entleerte Gedächtnis des Unwahrscheinlichen verhindert wie angesprochen eine „Differenzierung“ mit eindeutiger Schärfe. Dies widerspricht aber nicht der Tatsache, dass wir es hier mit einer Vielheit von Ich-Figuren in der Biografie bzw. in den biografischen Entwürfen von Rosenkranz zu tun haben, die sich sehr wohl voneinander unterscheiden lassen. 142 In der 141 Der Schwerpunkt von Hohenstein-Thuns Forschung liegt nicht auf Gedächtnismodellen für Schreibende aus bzw. nach dem Gulag, sondern in der Beobachtung narrativer Verfahren und rhetorischer Figuren der jeweiligen Ich-Konstruktion. Ihren historischen Ausgangspunkt setzt sie 1917, mit dem Jahr der Russischen Revolution; das historische Ereignis steht hier bereits für einen biografischen Riss der russischen Bevölkerung. Die Fortsetzung im Gulag-System, das die Entindividualisierung bis in die letzte Konsequenz der Entmenschlichung radikalisierte, hat „das Individuum nicht mehr als souveränes Subjekt“ über seine Biografie schreiben lassen, sondern über seine Lagererfahrung als „Kristallisationspunkt kultureller und gesellschaftlicher Brüche“ (Thun-Hohenstein, 2007, 40). 142 Der Dialog zwischen Ich-Figuren ist dabei nicht die Synthese, sondern die Entwicklung der Beziehung zwischen ihnen. In Anlehnung an Martin Buber: Die Sprache hält es im Sprechenden nicht aus und muss sich des Hörenden bemächtigen. Buber begreift das Wort als „Zwischen“ und die Sprache als Brücke. Das

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Zusammenfassung und Kommentar

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zwangsläufig historisch bedingten Pluralität des Ich liegt nicht nur letztlich die „Biografie“ als Formproblem, sondern auch das, was die Biografie „ritualisiert“ und über die Infragestellung der (pluralen) Identität hinwegrettet. Eine Biografie oder eine Biografie besaß auch von den Autoren, die Thun-Hohenstein untersuchte, keiner: Entweder stand er sich seine eigene aufrichtige Lebensgeschichte in aller Konsequenz ein und hatte somit eine Biografie, die er nicht öffentlich vertreten durfte; oder aber seine vertretene offizielle Biografie war eine fremdbestimmte, die mit seiner erlebten individuellen kaum etwas gemein hatte. In diesem Sinne lassen sich die „Ritualisierung“ und Vervielfachung, Verdichtung der Biografie in Bezug auf Rosenkranz verstehen. „Die Unendlichkeit bleibt immer die dritte Person, ein ‚Er‘, trotz des ‚Du‘, dessen Antlitz mich angeht; das Unendliche berührt das ‚anarchisch‘, gräbt sich als Spur in die absolute Passivität – die vor aller Freiheit ist – ein und zeigt sich als ‚Verantwortung für den anderen‘, die von dieser Berührung hervorgerufen wird“ (Lévinas, 1988, 114). Die Zeugnisfrage allerdings wird problematisch, wo sie in der Perpetuierung einer Neuschöpfung, im Palimpsest der Erinnerung und dabei im Schreibakt selbst aufgeht. Das wahre, überprüfbare „Zeugnis“ der absoluten Erfahrung kann so nur in der Schrift selbst liegen, betont durch die HandSchrift, im Signum des Körpers. Dieses Zeugnis aber ist insofern losgelöst von einer Referenzialität der Sprache, als der Schrift-Körper mit dem beschriebenen und auch schreibenden Ich nicht kongruent ist. Die Wirklichkeit des Ich, seine Erinnerung und somit die Verfasstheit seiner gesamten Identität übersteigt jedes noch vermittelbare Vorstellungsvermögen; Identität und „Wirklichkeit“ können nur vollständig, das heißt: mit all ihren Latenzen in der (poetischen) Sprache aufgehen.

Ich geht aber nicht ins Du bzw. Er über, wie hier zu erörtern versucht wird (Lévinas, 1991, 16 f.).

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8 Lyrik Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes … Paul Celan, Meridian, 1960

8.1 Einführung 8.1.1 An der phänomenologischen Grenze lyrischen Verstehens Bei Moses Rosenkranz stellen sich zwei differente Grundkomponenten an den Anfang der Lyrikdiskussion: auf der einen Seite der außerliterarische biografisch-historische Bezug seiner Lyrik, auf der anderen sein immanenter Anspruch an ein autonomes, achronistisches (lyrisches) Ich, auf das Rosenkranz im Ordnen und Undatiertlassen seiner Gedichte immer wieder selbst verwies. Diese Diskrepanz wird im folgenden Kapitel zur Grundfrage, wobei Rosenkranz’ Reflexion über das Leben, das heißt das „Lebendigsein“ überhaupt, und das eigene Menschsein – das Wiederfinden seiner Identität als „Biografie“ – als lyrische Leitmotive gelten. Was in den Briefen über das biografische Ich in bereits unterschiedlichen Identitätskostümen referiert wurde, wird in Bezug auf das lyrische Ich noch mehr von Bedeutung sein. Die lyrische Sprache 1 stellt denn auch spezifisch das Instrumentarium zur Fokussierung, Subjektivierung und Bebilderung von Wahrheit und Wirklichkeit bereit. Um dennoch sowohl dem lyrischen Ich als auch seinem außerliterarischen Bezug in der rezeptiven Fremdperspektive näher1

Hier wird die Bezeichnung „lyrisch“ in einem offenen Bezug zur Lyrik und in Bezug auf die Gedichte von Rosenkranz generell angewandt. Ein präziserer und zugleich traditioneller Begriff des „Lyrischen“ trifft aber ebenso auf das lyrische Werk von Rosenkranz zu, der seine Gedichte bewusst liedhaft, in Anlehnung an das „rumänische Volkslied“, gestaltete (Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart, Weimar, 2007. S. 465.). Siehe auch Kapitel 8.6.

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zukommen, wird hier jene Phänomenologie problematisiert, die als lyrische Sprache ein Vor und Dahinter oder Vor- und Nachher poetischer Identität als Einheit bindet. So unterschiedlich die beiden Dichter auch sind –, Paul Celan und Moses Rosenkranz verbindet dieselbe Zäsur auf dem Schreib(unter-)grund ihrer Dichtung. Paul Celan, mit dem Rosenkranz im transnistrischen Arbeitslager war, 2 übersetzte die Grenzen sprachlicher Vermittelbarkeit anhand der Lyrik bzw. in die Lyrik und formierte dabei den Abgrund zwischen der Rezeption und dem Text in seinem ontologischen Dasein zuletzt in den „Sprachgittern“. Die von Celan 1960 verlautete Tendenz eines „Verstummens des Gedichts“, das sich allmählich „am Rande seiner selbst“ befände, stellt hier die Frage nicht nur für die Lyrik als subjektive Gattung gefühlsmäßiger Erinnerung und Verdichtung; vor allem das Lesen und Verstehen von Gedichten über dem Abgrund stehen hier im Mittelpunkt, wobei nach Celan ein Gedicht gerade dann spricht, wenn es schweigt. Ein solches Sprechen beschäftigt die Lektüre der Gedichte von Rosenkranz, welche einer ganz anderen Sprache angehören, als sie Celan zwischen 1955 und 58 mit den Sprachgittern geschaffen hat – ein Titel übrigens, der auch bei Rosenkranz auf den Punkt führt: Die Sprache benennt nicht, sondern sie ist das „Gitter“, welches die Vermittlung behindert. 3 Die Sprache ist aber auch jener phänomenologische Filter, der die subjektive Wahrnehmung quasi mit Licht und Schatten zeichnet, oder die lyrische Sprache zwischen Verstummtsein und Vernehmbarkeit – in Rosenkranz’ „Dunkel“ – ausrichtet. „Ich stehe auf einer anderen Raum- und Zeitebene als mein Leser; er kann mich nur ‚entfernt‘ verstehen, er kann mich nicht in den Griff bekommen, immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns“ (Schmitt, 2006). Wenn Celan die Gitterstäbe benennt, die seine Sprache vom Leser trennen, so

2

3

Rosenkranz’ frühes Gedicht „Die Blutfuge“ wird in der Rosenkranz-Rezeption immer wieder als Inspirationsquelle für Celans „Todesfuge“ diskutiert. Das Gedicht ist im Anhang abgedruckt. Rosenkranz traf Celan in einem moldauischen Arbeitslager zwischen 1942 und 1944. Vgl. George Gut¸u: Paul Celan – zwischen Intertextualität und Plagiat oder interreferentielle Kreativität. Trans (Internetzeitschrift), Nr. 15, 2004. Vgl. (Wiedemann, 2007).

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folgt dieser Differenz zugleich eine Phänomenologie der Unschärfe in der Annäherung des Anderen, wie es Merleau-Ponty erklärt: Das Feld unseres Geistes ist wie unser Gesichtsfeld nicht mit einer Grenzlinie versehen, sondern es verliert sich in einer Zone des Unklaren, wo die Gegenstände sich nur noch schwach artikulieren, aber immer noch eine Art von Gegenwärtigkeit aufweisen (Merleau-Ponty, 1984b, 112).

Auch Rosenkranz ging von einem Nichtbegreifen seiner Lebensgeschichte von Seiten der Leser aus. Die Gitterstäbe sind dabei bildlich gesprochen die Erfahrung der Geschichte bzw. das Erlebnis, welches die Zerbrechlichkeit des Individuums unablässig benennt: in Abschattung und Erscheinung zugleich. Die Erfahrung macht eine reine Dokumentation unmöglich, weil in der Reinheit der Tatsache die Leere eines Hungertoten wohnt. Die Erfahrung führt daher notwendig weg von einer sprachlichen Mimesis hin zu einer Sprache, die, wie es Ingeborg Bachmann bekräftigte, nicht aus der Allgemeinheit stammt, sondern der Einsamkeit erwachsen ist. 4 Havryliv verweist mit Bachmanns Sprachkritik auf einen „anderen Zustand“, der auch einer „anderen Sprache“ bedarf (Havryliv, 2008, 81). Das Wort, das durch den Tod gegangen ist und die Katharsis überlebt hat, wird zum „Bleiben aufgerufen“: „ein neues Wort, das Leben schenkt“ (Havryliv, 2008, 82). Und damit sind wir bei der Suche nach jenem Wort, das Rosenkranz im Anspruch auf ein „Währendes auf den Trümmern der Vergänglichkeit“5 in seiner Lyrik aufsuchte. Während Celan die Sprache gegen Instrumentalisierung zu immunisieren versuchte und bewusst seinen Weg zu den Dingen über die Lyrik versperrte – dadurch aber auch erst sichtbar machte –, folgte Rosenkranz einer konkreten Unmittelbarkeit, aber auch formalen wie rhythmischen Erweckung der Worte und lieferte die Erlebnisschilderung immer nah der Verletzbarkeit durch die (historische) Geschichte aus. Was er explizit über „den Arm des Wortes“ und „das Auge“ der Lyrik, über das „fühlende Auge“ oder die „sehende Hand“ formulierte, führte sein lyrisches Ich in Hinwendung zu 4 5

Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung, Piper, München, Zürich, 1995. Siehe Kapitel 9.3.1, Negativformen, K19.

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Wahrheit und Wirklichkeit auf seine Weise in eine nicht minder komplexe Vereinigung bildhaft-formaler Dialektik und inhaltlicher Divergenz. Der Zwischenraum, der sich an und über den Grenzen der Vermittelbarkeit auftut, ist ein Aushalten und ein Aufenthalt der Sprache über dem Gitter des Abgrunds, über Trennung und Vereinigung zugleich. Was Celan und Rosenkranz auf der Suche nach einer Vermittelbarkeit der lyrischen Sprache gemeinsam haben, ist diese Umspielung der Distanz und die Suche nach einem existentiellen Verhältnis, einer notwendigen Beziehung zwischen lyrischem Ich und Wort (Celan) bzw. zwischen dem außerliterarischen Ich und der privaten Poesie (Rosenkranz), wobei immer auch ein Dialog zwischen Tod (außerliterarischem Ich) und Leben (Poesie) intendiert ist.

8.1.2 Zum Erlebnis des lyrischen Ich Die gefährlichsten Situationen meines Lebens überwinde ich immer zuerst im Gedicht, und damals, als mich die Krankheit 6 erfasste, was ja schon der Todessturz war, stellte ich mich der Höllenzähne fletschenden „Realität“ mit diesen Versen entgegen (ich schrieb sie nicht auf, wie und worauf und mit welchen Händen, da meine von der Krankheit gelähmt waren): ‚Du weißt, ich komme wieder, ob ich auch Todes Gast […]‘ 7

Das Ereignis 8 der „absoluten Zäsur“, das hier den Ausgangspunkt für die gesamte Untersuchung des rosenkranzschen Werks stellt, ist der Ort, wo Leben und Tod ineinander fallen. Aus den biografischen Entwürfen des AR-Nachlasses sind aber gleichsam mehrere „Zäsuren“ in den Lebensläufen des Dichters zum Vorschein gekommen. Die Zeit im Gulag stellt dabei nicht die einzige, aber die „absolute“ Zäsur dar: ein Erlebnis, das über VorErlebnisse in ein Absolutes gesteigert wird. Die Untersuchung der Lyrik zwischen Früh- und Spätwerk wird zeigen, inwiefern sich diese Erfahrungssteigerung auf das lyrische Erlebnis auswirkt; auch wenn sich eine starke 6 7 8

Möglicherweise handelt es sich hier um die körperlichen Folgen der Lagerhaft: Rosenkranz litt bei der Freilassung an Skorbut. 22. 7. 1957. AR 25087, Reel 1, n526. Zum Ereignisbegriff in Abgrenzung zum „Erlebnis“: Das (biografische, kritische) Ereignis wird über die Erinnerung zum Bedeutungsbegriff des Erlebnisses.

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sprachliche und formale Konstante nachweisen lässt, wird die Vergangenheit immer „präsenter“. Der Erlebnis-Begriff, der bereits öfters genannt wurde, ohne näher definiert zu werden, ist in Bezug auf die Lyrik hier weiter auszuführen. Der Begriff einer „Erlebnis“-Dichtung, wie ihn George Gut¸u im Zusammenhang mit Rosenkranz im Sinne Wilhelm Diltheys bekräftigte, 9 ist für Rosenkranz’ lyrisches wie autobiografisches Werk nicht hinreichend; eine genauere Untersuchung der „Zeit“ und des „Raumes“ bzw. der poetischen Existenz von Rosenkranz führt in eine ganz andere Richtung. Der von Dilthey gesetzte Begriff der „Erlebnisdichtung“ trifft auf Rosenkranz nur insofern zu, als er jene Erfahrungen eigener wie fremder existentieller Bedrohung bis 1947 quasi zeitgeschichtlich verformte und verdichtete und die Ereignisse so in innere Erlebnisse übersetzte. Diltheys „Erlebnis-“Begriff ist immer auf den Lebenszusammenhang gerichtet und dabei auch auf das Verhältnis bzw. die Beziehung zwischen Erleben und dem Ganzen des Lebenslaufs (Strube, 1993, 268). Der diltheyschen „Geschichtlichkeit“ und „Zeitlichkeit“ als grundlegende Kategorien des Lebens stellt sich mit Rosenkranz eine poetologische Raumtheorie mit der Forderung nach einem neuen Zeitbegriff entgegen. Rosenkranz war bemüht, zwischen den einzelnen Gedichten, die aus dem biografischen Erlebnis stammen, Verbindungen zu knüpfen und aus der Rückschau seine lyrischen Erlebnisse einer neuen, bio-grafischen Ordnung zu unterziehen. Der Begriff des diltheyschen „Erlebnisses“ allein vermag nicht in die Tiefe jener Umstände vorzudringen, die von der einfachen Form oder formalen Strenge und Sturheit Rosenkranz’ Lyrik lediglich gebannt wird: Spätestens ab 1957 wird die biografische Rückschau zu einer Kontemplation der Trümmer und somit von Brückenelementen, die als negative „Abbrüche“ erstmals keinen Zusammenhang mehr fundieren können. Das Zitat, in dem Rosenkranz nach seiner Befreiung (1957) über die Gedichte der Frühzeit spricht, verweist auf einen „Zusammenhang“, der über dieses erste Todeserlebnis hinausweist und also umfassender gemeint ist als der Lebenslauf zwischen Geburt und 9

Ein Bildungsbegriff „goethescher Prägung“ und das „Diltheysche ‚Erlebnis‘“ prägen nach Gut¸u die Autobiografie: „Sowohl ‚humanistisches Ethos‘ als auch ‚Bildungserbe‘ wurden – wie sich der Dichter selbst ausdrückte – mehr bluthaft mitbekommen, als wissentlich erworben“ (Rosenkranz, 2003, 227).

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Tod. Vom Standpunkt der poetischen Erinnerung nach 1945 bzw. bei Rosenkranz nach 1957 aus kann oder muss die absolute Zäsur das Erlebnis einer Katharsis bedeuten, aus der das Wort, will es vernommen werden, nur noch den Weg der Wiederverlebendigung kennt. Hier weicht das Nachdenken über Rosenkranz’ Erlebnis-Begriff also deutlich von jenem Diltheys ab – auch dann, wenn beide von einer „Melodie“ (Dilthey) bzw. einem „Lied“ (Rosenkranz) sprechen (Strube, 1993, 269): einen „Rhythmus“, der mehr als nur einzelne Ereignisse zu einem Lebensfaden bindet. Rosenkranz hat gerade in Reaktion auf die äußeren Erfahrungen eine ästhetische Kontemplation in seinem lyrischen Schaffen beansprucht, die im Überleben und Wiederfinden des Lebendigen und Schönen seinen „Zweck“ hatte. Diltheys Begriff der Musikalität ist bei Rosenkranz zur festen (Vers-)Form erstarrt, in der sich das geschichtliche Ereignis von der Zeitachse löst und das persönliche biografische Ereignis sprengt und dabei einen bio-grafischen Raum öffnet. Angesichts der Erfahrung des Abgrundes scheint also eine neue existentielle „Bedeutungskategorie“ des Erlebnisses auf. Erwin Straus’ Ansatz eines „inneren Lebenslaufs“ bzw. der „Selbstauszeugung“ der „menschlichen Person“ in Perspektive auf „Höhen und Tiefen des Daseins“ bzw. biografische Abbrüche geht hier also einen Schritt voraus (Rattner, 1981, 259). Der Umstand, dass Rosenkranz vor allem ab 1957 immer wieder auf seine frühen Gedichte zurückgriff, sie überschrieb oder in neue Zusammenhänge stellte, relativiert die Bedeutung einer genauen Entstehungszeit der Gedichte10 und bedeutet von der Schreibgegenwart des Dichters aus ein Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit. Die Tatsache, dass Jetzt und Damals in einem poetischen Prozess gebunden werden, erklärt in erster Annäherung auch, warum in den biografischen Entwürfen des vorausgehenden Kapitels die Entgrenzung des Ich über den Mythos festgehalten wurde: In einem alles überdauernden Mythos wird all das verwahrt, was in der Geschichte des 10 Rosenkranz hat sich selbst auch unterschiedlich zur Datierung verhalten: einmal vermerkte er das Datum auf Tag, Stunde und Minute genau, ein anderes Mal vernachlässigte er es mit der Absicht, seine Werke für die Ewigkeit und somit unabhängig von der Zeit zu verfassen.

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Einzelnen auseinander gebrochen ist. In den Themen, Motiven und Bildern zwischen Jetzt und Damals besteht das Identitätskonzept eines lyrischen Ich, wie es Havryliv in Bezug auf Robert Schindel als „biografischen Ausgangspunkt“ beschrieben hat (Havryliv, 2008, 90 f.): zu einer Objektivierung des immer zuerst zu definierenden Subjektiven. Was in den Leseproben in traumatisch übersteigerter Fiktionalisierung endete, beginnt hier nun in der Erinnerung eines lyrischen Ich, dessen einzige Referenz noch die allgemeine große Menschheitsgeschichte sein kann. Was mit Jorge Semprun als Zusammenfallen von Subjekt und Objekt oder mit der Übersetzung des Ich in die Landschaft phänomenologisch gedeutet wurde, kann in Voraussicht auch auf eine lyrische Mythisierung des Erlebnisses übertragen werden: Das lyrische Ich muss in die Sprache aufgenommen werden, um existent zu bleiben. Die Sprache des Mythos ist aufgrund seiner variablen Beständigkeit in einer unablässigen Narration begriffen: eine Narration, die auch in der Lyrik eine Über-Setzung des Ich über den Abgrund zuwege leitet. Dass sich hier ein lyrisches und außerliterarisches Ich vereinen, liegt nahe. Und die Frage nach seiner Figur wird im folgenden Kapitel ausgeführt. Was für die poetische Biografie und das lyrische Ich einen mythologischen, anachronistischen Zusammenhalt (statt Zusammenhang) bedeutet, bezieht sich in der Betrachtung der Form der Gedichte von Rosenkranz entweder auf ihre geschlossene Ordnung oder aber auf die „Splitter“ von Gedichten, die, mit Havryliv gesprochen, auf die außerliterarische Biografie und somit auf die Brüchigkeit der erlebten Welt verweisen (Havryliv, 2008, 92). Der Raum des lyrischen Ich ist in den „Splittern“ minimiert, wo das Ich des Dichters im Verstummen begriffen ist. Wo der traditionelle Rhythmus und die strenge Versform allerdings beibehalten werden, verwirren sich dagegen das außerliterarische und poetische Ich und gehen in eine narrative Struktur ein oder über, wo das Leben und die Poesie annähernd gleichgestellt werden. 11 Die für diese Untersuchung bedeutende Suche nach einer differenten 11 Vergleiche hierzu die Lyrik von Robert Schindel, in: (Havryliv, 2008, 99).

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Selbsterkenntnis zwischen Körper und Geist, einer gleichsam physiologischen Ebene der Zeitlichkeit und einer autonomen, referenzlosen sowie mystagogischen Ich-Konstituierung wird hier an der poetischen Arbeit zwischen der Frühphase 1930–1947 sowie ab 1957 untersucht. Die Frage nach dem lyrischen Ich beschäftigt hier nicht allein innerhalb der Gedichtanalyse, als vielmehr noch über die „Signaturen“ der Gedichtbücher, welche zusätzlich über ihre jeweiligen Paratexte eine „Benennung“ von unterschiedlichen Ich-Identitäten aufzeigen. Das lyrische Selbstbild steht unmittelbar mit dem Ordnungsverfahren der Gedichte in Verbindung, daher wird den Gedichtbänden auch besondere Bedeutung beigemessen. Die Auswahl von Gedichten, die einer Einzelanalyse unterzogen werden, basiert auf den Kriterien der „Anschauung“ und „Erinnerung“ des lyrischen Ich, um dabei der Phänomenologie eines möglichen temporalen Selbstbildes nachzuspüren. Wider Rosenkranz’ Wille, Gedichte ausschließlich in ganzer Form und somit in ihrem Zusammenhalt zu besprechen und vorzustellen, werden im Folgenden Gedichte auch ausschnittweise zitiert. Dies soll in der Untersuchung das Sammeln und Herauslesen bedeutender Motive und Bilder erleichtern. Die Untersuchung der Lyrik beginnt mit einer Gedichtanalyse aus der Frühzeit. Die Darstellung der Grundprobleme des hier vorgestellten lyrischen Ich sowie die Leitmotive, welche das Gedicht strukturieren, werden aber auch für die Betrachtung der Spätphase ausschlaggebend.

8.2 Lyrik 1930–1947 Das Gedicht „Der ewige Dichter“ gehört zu jenen Gedichten, die Rosenkranz später (ab 1957) immer wieder neu erinnerte und dabei auch (in diesem Fall nur minimal) umschrieb. Es erschien erstmals in Die Tafeln von 1940. 12

12 Vgl. Gedichte, die eine Verbindung zum Selbstbild erschließen, aus dem Band Leben in Versen (Abschnitt „Also bin ich“) von 1930: „Der Dichter“ (S. 79) und „Sich selbst ein Bildnis“ (S. 82).

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Der ewige Dichter 1 2 3 4

Mein Arm des Wortes Gold umschlungen hält, Ich kann nicht werben um das Gold der Welt; Den Blick von Geistes Fernen angezogen, Kann ich nicht sehen, was dem Leib gefällt;

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Das Ohr geneigt dem Klang der Schöpfungswogen, Kann ich nicht hören, was die Strasse rauscht, Und stehe ewig unterm Himmelsbogen.

8 Gefesselt, blind und taub, und sing berauscht, 9 Und singe heilig-trunken seit Äonen. 10 Mir nahe fühl ich nur ein Kind, das lauscht, 11 Ein Wesen, das mir grüne Gräserkronen 12 Zum Dank flicht. O ihr Hände, taubenweich! 13 O Engelsaug, in dem noch Träume wohnen, 14 Erinnerungen an ein erstes Reich! 15 Ach, eines Abends wird es von mir gleiten: 16 Die Stirne wächst, die Wangen sind so bleich! 17 Und nur der Wind wird in der fremden, weiten 18 Und hohen Zeit mir sagen: Freund, und du. 19 Dann will ich tiefer mit dem Liede schreiten 20 Und härter; unterm Eis der Todesruh, 21 Das Weltgetriebe über meinen Brauen, 22 Die letzten Pforten öffnen, die noch zu: 23 Ich will das dreizehnte Geheimnis schauen, 24 Die Leier tauchen in das letzte Grauen.

In der Stimme des ewigen Dichters, der über die Jahrhunderte („Äonen“) blind und trunken „Geistes Ferne“ besingt, ist er in den ersten vier Strophen „unterm Himmelsbogen“ gefangen, gleichsam entrückt vom Erdreich. Nur ein engelhaftes Kind spendet dem Vergeistigten Trost, in dem als bindendes Glied zwischen Himmel und Erde noch immer „Träume“ wohnen. In den folgenden vier Strophen leitet das Ich die Perspektive in die Zukunft, in eine zeitliche Ferne, wo es sich zugleich der Natur als Freund annähern kann: „Und nur der Wind wird in der fremden, weiten

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und hohen Zeit mir sagen: Freund, und du“. Die Einsamkeit wird entkräftet durch die Ableitung des Liedes unter das „Eis der Todesruh“. Die irdische Welt liegt jetzt über den „Brauen“ in einer „hohen Zeit“, wo „Freund, und du“ die Beziehung zur Welt wiedererkennen. Das Wesen, das lauschende Kind mit dem „Engelaug“, führt in die „Erinnerung an ein erstes Reich“. Auch dieses wird „eines Abends“, das heißt in unbestimmter Zeit, „von mir gleiten“: wie der „Leib“ (Zeile 4), der vom geistigen Blick nicht erkannt, sondern buchstäblich vernachlässigt wird. Vom Kind über die Erinnerung wird der „Wind“ als flüchtiges Element den Sänger nicht hinauf-, sondern hinunterführen, um wieder dem Eis der Todesruh die Sprache („Leier“) dem Grauen entgegenzusetzen. Die zunehmend vergeistigte und entleiblichte Dichtergestalt („Die Stirne wächst, die Wangen sind so bleich“) trifft auf die dunkelste Materie irdischer Kraft. Über diese Engführung steigert sich die Dichotomie von Oben und Unten, Ferne und Nähe in „Gold“ und „Grauen“: eine Intonierung des Tragischen, welche durch „Äonen“ der Geschichtlichkeit wirkt. Strophenschema, Versmaß: Die acht Strophen unterteilen sich in eine erste vierzeilige, sechs dreizeilige und eine letzte zweizeilige Strophe. Die Verse beginnen mit Auftakt, sind bis auf die letzte Strophe alternierende Jamben und enden bis zur letzten Strophe „männlich“: in fallend unbetonten Kadenzen. Dieser Einteilung folgt das Reimschema, wobei die erste vierzeilige und die letzte zweizeilige Strophe auf Paarreime mit Kreuzreim enden: aaba // bb. Die von diesen beiden eingeschlossenen Strophen enden auf Kreuzreime nach dem Schema bab/aba bcb/cbc bdb/dbd. In diesem Schema werden Elemente der Volksliedstrophe erkennbar (Kreuzreim, alternierend jambisch mit Auftakt), wenn diese hier auch von einer dreizeiligen Strophe mit fünfhebigen (statt drei- bis vierhebigen) Jamben verdrängt wird, was nach Burdorf einer allgemeinen Tendenz der Lyrik im 20. Jahrhundert entspricht (Burdorf, 1997, 103 f.). Für elegische Gedichte „‚des erinnernden Rückblicks und der nachdenklichen Betrachtung‘“ eignet sich diese Strophenform offenbar besonders (Burdorf, 1997, 104).

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Die Gesamtstruktur des Gedichts ist in sich kohärent, wenn das Endreimschema auch keine symmetrische, sondern eine „voranschreitende“, fast kausale Struktur annimmt, wie es die dreizeiligen Strophen des Mittelteils zeigen. Die einfache Rhythmik, die sich aus den fünfhebigen Jamben ergibt, wird dagegen erst in der letzten Strophe, im „dreizehnten Geheimnis“ durch eine unregelmäßige Füllung unterbrochen. Hier müssen drei Längen, betont flache Versfüße, anstelle der steigenden Jamben gesetzt werden, die den letzten Vers wiederum durchziehen. Das „letzte Grauen“ versinkt in zwei unbetonten Kadenzen des zweisilbigen Wortes „Grauen“. Kombinieren wir weiter das Reimschema mit dem Acht-StrophenSchema, so lässt sich die b-Endung des dritten Vers in der ersten Strophe in Beziehung auf die bb-Strophe am Ende des Gedichts beziehen: „Der Blick von Geistes Fernen angezogen“ sucht bereits nach dem „dreizehnten Geheimnis“, das anfangs quasi die Aufmerksamkeit, den Blick, aus der Ferne anzieht, sich dann aber vor dem aktiven und bewussten (Hin-)Schauen des lyrischen Ich verschließt: Zeile 22 endet mit Doppelpunkt, der mit einem leeren Enjambement in die letzte Strophe – oder: die messianische Sehnsucht ins dreizehnte Geheimnis überführt. In Beobachtung der Strophen- und Zeilenanzahl fällt die „Ab-nahme“ der Selbstreflexion auf, die in den drei ersten Strophen mit dem Unvermögen des lyrischen Ich einhergeht: „ich kann nicht / kann ich nicht / kann ich nicht / gefesselt, blind und taub“. Die eingemitteten Strophen 4 und 5 sind exklamatorisch an eine höhere Instanz gerichtet, sei es an das Wesen des Kindes oder in Hinwendung auf ein erstes Reich der Vergeistigung und frei von den „Wangen […] so bleich!“. In den zentral positionierten Zeilen 11 und 12 ist denn auch das einzige Zeilen-Enjabement bemerkbar: „Ein Wesen, das mir grüne Gräserkronen / Zum Dank flicht“. In den folgenden, inklusive der achten, Strophen steigert sich die Kraft und Dynamik um das hier erzählende Ich, das selbst „tiefer schreiten will“, die „letzten Pforten öffnen“, „das Geheimnis schauen“ und „die Leier tauchen will in das letzte Grauen“. Die Verse bleiben aber in syntaktischer Gliederung. Zugleich lässt sich die formale Abnahme der Strophengröße zusammen mit der inhaltlichen kathartischen Bestärkung des Ich gegen Ende als eine Verinnerung oder ein Zusammenziehen „unterm Himmelsbogen“

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betrachten, wobei sich die wortreiche Rhetorik im nur mehr ahnungsvollen „Geheimnis“ auflöst, obsolet wird oder ganz der Leier übertragen wird. „Das Ohr geneigt den Schöpfungswogen“ gleicht sich immer mehr der Natur an, kann den Wind vernehmen und gleichsam selbst in sein Lied eingehen. Zwischen dem Körper und seinen Organen (Arm, Ohr, Auge) und dem Wort als Sprache besteht eine enge Beziehung, die sich über die Wahr-nehmung („Blick“, „schauen“, „die Träume“) konstituiert bzw. differenziert. Der visionäre Blick ist dem Körper („Leib“) voraus (4. Zeile), im „Engelsaug“ sind die Träume noch nicht verloren, sondern weisen den Weg zum ersten Reich über die Erinnerung. Die Sinne stehen dem Körper vor, ihre Empfindsamkeit („Arm des Wortes“, Ohr) geht über die irdischen Bezüge hinaus und löst die funktionalen Organe vom Leib ab, der zurückbleibt, um nach dem Geheimnis zu „schauen“. Eine Katharsis vollzieht sich hier am berauschten singenden Ich, das sich nur mehr dem Kind nahe fühlt: einem jungen, reinen, lauschenden Wesen; und wenn die Erinnerung an das erste Reich „von mir gleiten“ wird, verändert sich das Verständnis der Sprache aus der Natur, die hier im Wind spricht. Das Schauen bleibt letzte Sinnesinstanz, das Ohr dagegen scheint im Gleichschritt mit dem Lied selbst in den Klangraum eingegangen oder „aufgenommen“ worden zu sein: „Die letzten Pforten öffnen, die noch zu“, um das Lied bzw. die Leier zu opfern oder das Grauen zu lindern durch das Eintauchen der Leier. Wo das Ich tiefer schreiten will mit dem Liede, scheint jenes selbst mit dem Lied zu verschmelzen. Die Leier, gleichsam Instrument und Träger des Liedes sowie des Ich, muss für die Erkenntnis („Schauen“) geopfert werden. Bezüglich der Strophenzahl (8 Strophen) und der „Erkenntnis“ gibt es im Manuskript Jugend einen Hinweis, der an dieser Stelle passend scheint. Hier schreibt Rosenkranz, wenn auch in einem anderen Kontext: Auf einem der losen Blätter aus einer Literaturgeschichte befand sich der Text, der mich Nächte lang über sich hielt, das Leib- und Lebenslied des ins Allnichts ausgesetzten alles fühlend schlafenden verträumenden Geistes der Erde, des Menschen. Gäbe es, dachte ich, einhellige Erkenntnis und Anerkennung des Klanges der Wahrheit, müßte alles in der Welt verstummen und gehorsam

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Raum geben dieser einen Stimme aus der 8-schichtigen Tiefe unserer Verlorenheit“ (Rosenkranz, 1983, 59). 13

Auf was für einen Erkenntnisbegriff wird hier angespielt? „Anregungen und Prinzipien eines Vorwortes“ 14 , die Moses Rosenkranz zwischen 1957 und 1960 verfasste, geben „Verstehenshilfen“, um einem „Essayisten“ „den Zugang“ zum Werk zu „erleichtern“. Rosenkranz umreißt thematische Kategorien, die seinen Gedichten zugrundeliegen: Wenn die „Anregungen und Daten zu einem Vorwort“ den „Roman meines Lebens“ betreffen 15 , unterscheiden sich die Notate nur marginal von jenen aus den „Prinzipien eines Vorwortes“: In beiden Dokumenten verweist er auf die Erlebnisse „Liebe“, „Krieg“, „Heimkehr“ oder „Die Besinnung auf das ewige Gut der Menschheit“ bzw. „Segen des humanistischen Geistesgutes, Schätze des Glaubens und der Schönheit, auf die meist atavistisch zurückgegriffen wird“. Unter „Krieg“ ist die „Ernüchterung im Geiste“ zu nennen und im Anschluss daran die „Totenfeiern und Feiern der Wiederkehr nach überstandenener Abwehr durch die Welt“. Das Gedicht „Der ewige Dichter“ wird dabei mehrmals genannt, auch bereits in der ersten Kategorie „Biographisches“, wo das „Leben und Erleben“ als die größte Bedeutung seiner Gedichte hervorgehen. Hier wird das Gedicht mit der Klammerbemerkung „Homer“ erwähnt, und in der dritten Kategorie „Vom Sozialen her“ mit Betonung auf die „von keiner Bildung belasteten Ursprünglichkeit“. Hierauf folgen ein biografischer Abriss in der „Er“-Form und schließlich die ersten Lektüreerlebnisse, die auf den Dichter eingewirkt haben sollen: „Homer (Voss)“, „Grimms Märchen“, allem voran aber „Das Buch der Richter“16 aus dem „Alten Testament (Bibel)“. In „glücklichster Verbun13 Bedeutungen der Zahl Acht im Judentum sind im acht Tage dauernden Chanukka-Fest zu suchen, in den acht Tagen zwischen Geburt und Beschneidung sowie in den „acht Menschen“, die in Noahs Arche Aufnahme fanden. Zahlreiche weitere Bedeutungen hat die Zahl Acht im Polytheismus, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann. 14 MLR 25006–300 und MLR 25006–299. 15 Vgl. Kapitel 9.3. 16 Zahlreiche Hinweise in Kindheit (Geschichte Simons) sowie Gedichttitel verweisen auf „Das Buch der Richter“: z. B. „Dalila“.

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denheit“ mit den „alten Griechen“ aber wird nun das lyrische Ich des ewigen Dichters über die Homerfigur zu beschreiben versucht.

8.2.1 Ambiguität des lyrischen Ich Das Gedicht „Der ewige Dichter“ ist eines von vielen, das den antiken Mythos befragt, indem es das „Ewigwährende“ als Leitbegriff voranstellt. 17 Die Reflexion der lyrischen Sprache und die Befragung des lyrischen Ich nach seinem „Woher“ und „Wohin“ spannt das Problemfeld von Identität und Leben, – oder: von einem Leben jenseits des Lebens über mehrere Komponenten auf. Die Frage nach dem Woher und Wohin markiert die Grundkomponenten eines Lebenslaufs – und dabei der „Biografie“. Rosenkranz’ Verweis auf Homer stammt aus einer nachträglichen Zusammenstellung der späten 1950er Jahre oder auch beginnenden 1960er Jahre. Ob Homer als Dichterfigur ursprünglich in diesem Gedicht angedacht war, bleibt also offen. Der antike Verweis auf dieses frühe Gedicht ist aber für unsere Fragestellung bedeutend und im Anschluss an die biografischen Entwürfe (Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen) auch weiter aufschlussreich. Das „13. Geheimnis“ wird für die folgende Ausführung über die lyrische Ich-Identität als Leitmotiv genutzt: Um was für ein Geheimnis handelt es sich? Jenes, das die enigmatische historisch-mythische Figur „Homer“ tatsächlich miteinschließt, verweist auf seine zweifelhafte Herkunft und die Suche nach der „wahren Identität“. Die Frage nach dem „dreizehnten Geheimnis“ lässt sich noch konkreter über die Grundkonstanten der Odyssee einkreisen, wenn auch nicht bis in die letzte Einzelheit beantworten. (Womöglich soll es als poetologisches Konzept auch ein „wahres“ Geheimnis bleiben?) Als Ausgangsargument dienen die 24 Verse, die mit den 24 Gesängen der Odyssee bemerkenswerte Parallelen aufweisen. Ein bescheidener Blick auf die einzelnen Gesänge erlaubt in großen Zügen inhaltliche Adaptionen in Rosenkranz’ lyrischen Strophen zu erkennen. Folgen wir so der Odyssee, 17 Z. B. „Allein ein Kind“ (Rosenkranz, 2007, 50 f.).

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deutet „was dem Leib gefällt“ im vierten Vers auf den Bericht über die Freier Penelopes, der Frau Odysseus, hin, die jene zu verführen trachten, während Odysseus in der Ferne von all der Pein seiner Frau nichts ahnen kann („nicht sehen kann“). Der „gefesselte, blind und taube“ Sänger der achten bis neunten Zeile verweist dieser Lektüre nach auf die Erzählung des Odysseus bei den Phaiaken, die ihn schließlich schlafend und trunken von Wein nach Ithaka zurückbringen. Im dreizehnten Gesang werden die von Homer inszenierten Parallelhandlungen „Telemachie“ und „Odyssee“ zusammengeführt. Dies wurde bisher im Gedicht als Zusammenführung von Oben und Unten beschrieben und im Traum als Ort dieser Verschränkung aufgelöst („O Engelsaug, in dem noch Träume wohnen“). Das Kind und jenes Wesen, „das mir grüne Gräserkronen zum Dank flicht“, entspräche der Jünglingsgestalt, die Athene annimmt, als sie vor Odysseus Ithaka entnebelt: „Hier am Gestade grünt der weitumschattende Ölbaum“ (Vers 346), wo Athene dem Helden die „fruchtbare Erde“ (Vers 352) zeigt. 18 Odysseus kehrt endlich heim, als ihm die vertraute Gegend aufscheint. Im Anschluss wird die vers- bzw. gesangsparallele Analyse nicht mehr möglich. Aber im Grunde ist der Gesang des Dichters hier, wo das „letzte Grauen“ stattfinden wird, auch am Ende angelangt. 19 Im Gedicht wird der Gang in die Unterwelt weitererzählt; und schließlich hat Odysseus im Epos überlebt: Die zwölf Stiere oder Rinder, welche die Phäaker Poseidon geopfert haben, erretten Odysseus als Dreizehnten von seinem Tod. Der von den Qualen Heimgekehrte tötet auf Ithaka seine untreu gewordenen Freunde als Freier seiner Frau Penelope und wird im drei- und vierundzwanzigsten Gesang in der Unterwelt versöhnt durch Agamemnon und Achille, sowie durch Athene, welche die Verwandten der Getöteten Odysseus verzeihen lässt. Der Held ist somit einer, der in die Unterwelt eintaucht – aber als einer, der den Göttern gleicht und so das Sterben überlebt. „Die Nymphen weben auf langen steinernen Stühlen Feiergewande, mit Purpur gefärbt, ein Wunder zu schauen. Unversiegende Quellen durchströmen sie. Zwo sind der 18 Zitiert wird aus der Übersetzung von Heinrich Voss, die Rosenkranz in seinen Quellen selbst benennt. http://gutenberg.spiegel.de, Stand: März 2010. 19 1.–12. Gesang gelten als Originale, die restlichen wurden später hinzugefügt.

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Pforten: Eine gen Mitternacht, durch welche die Menschen hinabgehn; Mittagwärts die andre geheiligte: diese durchwandelt nie ein sterblicher Mensch; sie ist der Unsterblichen Eingang“ (Vers 107–112). In dieser Grotte versteckt Odysseus nach der Entnebelung Ithakas durch Athene seine Geschenke: Sind dies „die letzten Pforten […], die noch zu“? Ist dieses Wunder der Heimkehr das „Geheimnis des Überlebens“? Noch vor dieser Frage steht aber jene nach der Sprecher- bzw. Sängerfigur. Es müsste sich um Homer, den Dichter selbst, handeln, der die „Leier“ ins „letzte Grauen“ taucht und verstummt. 20 Zudem gilt er als jener „blinde“ Sänger (Zeile 8), der „seit Äonen“ (Zeile 9) singt. „In den Rhythmus von Gesängen,/ aber du bleib stumm“ deutet im Gedicht „Poetischer Rat“ hier jene nur schwer trennbare Beziehung zwischen dem Lied und seinem Sänger an; im Vers: „Dann will ich tiefer mit dem Liede schreiten“ (Zeile 19) vereint sich ebenfalls der Dichter mit dem Lied. Im Falle des Homerbezugs trägt die Sprache, das Lied bzw. Odysseus weiter, was das Ich des Dichters nicht mehr ertragen kann. Aber auch Odysseus wird zum Sänger, als er in den beiden Nächten beim Phäakerkönig von seinen Irrfahrten „erzählt“. Der neunte bis zwölfte Gesang gilt denn auch als eigentliches Epos. Insofern lässt sich mit „Der ewige Dichter“ sowohl Odysseus als auch Homer als vermittelnde Instanz, als lyrisches Ich, denken. Diese Feststellung ergibt auch eine weitere Aufschlüsselung der besprochenen Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen: Nicht nur die historisch ephemere und „namenlose“ Gestalt Homer, auch Odysseus verschwindet im Epos teilweise hinter seinen Namen, vertauscht diesen oder ist ein „Niemand“, um sich quasi dem Feld der (visuellen) Wahrnehmung zu entziehen.

20 Dies passt zu den acht Strophen, den acht Schichten der Welt- und Wahrheitserkenntnis im Gedicht der „Der ewige Dichter“ in Kapitel 8.2.

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8.2.2 Das „13. Geheimnis“: Deutungsversuche Die Frage nach dem „13. Geheimnis“ ist aber auch über die Interpretation der Odyssee noch nicht geklärt. Abgesehen von der griechischen Mythologie und der untersuchten Beziehung zu Homer lassen eine mögliche Zahlensymbolik bezüglich der Glücks- und Unglückszahl 13 sowie der Begriff des Geheimnisses, der als solcher in der genannten Textstelle der voßschen Odyssee-Übersetzung nicht vorkommt, einen neuen Hintergrund aufleuchten, der für Rosenkranz als „nicht gläubigen“, aber „abergläubischen“ Menschen bedeutend gewesen sein dürfte. 21 Der gerade in den Briefen an Anna Rübner immer widersprüchlich angedeutete Hang zum „Esoterischen“22 , der explizite Bezug zur Bibel sowie das volkstümlich-jüdische und nicht zuletzt chassidische Milieu von Rosenkranz’ Lebens- und Arbeitsort 23 zur Entstehungszeit des Gedichts „Der ewige Dichter“ eröffnen ein zusätzliches Bedeutungsfeld, das im Folgenden nur ansatzweise umrissen werden kann. Für diese Betrachtung werden neben dem „13. Geheimnis“ den Begriffen „Wort“, „Schöpfungswogen“, „Arm“, „Ohr“ und „Auge“ bzw. „schauen“/ „sehen“ besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Handelt es sich um eine religiöse Erfahrung oder spielt die lyrische Sprache darauf an, so steht ihre Lesbarkeit in jüdischer Tradition „auf der Schwelle des Augenblicks zwischen Offenbarung und Verhüllung“ (Goodman-Thau, 1999b, 100). Die ans Sehen gebundene Sprache, die Schrift, ist „Bruchstück, Unterbrechung des Sehens, Abwesenheit und Anwesenheit zugleich. Das Auge des Lesers unterscheidet die Buchstaben, verstellt aber den Blick des Sehers und schafft so einen Zeitraum, in dem Jetzt und Ewigkeit sich begegnen.“ Die Offen-

21 Vor allem im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges, bereits um 1930, ist das Thema des Aberglaubens in der Bukowina präsent in der Öffentlichkeit. Alfred MargulSperber verfasste im Czernowitzer Morgenblatt (19. 10. 1930, 26. 10. 1930, 12. 11. 1930, 8. 11. 1930) einige Artikel unter diesem Aspekt, welcher angesichts der umfassenden Bedrohung vor allem für die ländliche Bevölkerung zukunftsvergewissernde Bedeutung hinzugewann. 22 Vgl. Kapitel 7. 23 Rosenkranz hielt sich in dieser Zeit vor allem in Czernowitz auf, in den 1940er Jahren aber auch immer wieder in Bukarest.

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barung des Geheimnisses von der Erkenntnis ist also zwischen Sprache, Sehen (Erkennen) und Zeit-Raum versteckt. Der Schrift, dem Erkennen des Buchstabens sowie der Zahlen kommt so eine geheime Bedeutung zu – eine, die durch die schwarzen Konturen auf dem weißen Grund verwirrt wird. Die Erkenntnis besteht in der heiligen Schrift so ausschließlich in den Leerstellen oder in den weißen Zwischenräumen der schwarzen Buchstaben: So „wie Gott, laut einem alten Midrasch, die Thora als ‚schwarzes Feuer auf weisses Feuer‘ geschrieben hat“ (Goodman-Thau, 1999b, 116). Damit scheint auch ein Zwischenraum vorgestellt, der mit der Unbestimmbarkeit von Leben und Tod einhergeht. Über das „Geheimnis“ der Ziffer „13“ wird nun auch versucht, Parallelen und einen möglichen Zugang an die Identitäts- bzw. (Selbst-)Erkenntnisproblematik im Gedicht „Der ewige Dichter“ zu finden. Die vor allem ab dem 17. Jahrhundert im Volksglauben entstandene negative Bedeutung der Zahl „13“ reicht in der europäischen Kultur weit zurück. Wie die Elf ist auch die Dreizehn eine Zahl, welche „ein geschlossenes System überschreitet“ (Endres und Schimmel, 1984, 222). Im Märchen darf man die dreizehnte Tür nicht unbestraft öffnen. Die negative Bedeutung der Zahl Dreizehn führt einerseits ins Altertum zurück, wird aber vom Aberglauben relativ spät als solche aufgegriffen. Über die Nachforschungen Ernst Böklens von 1913 (!) erhält die Dreizehn zunehmende Beachtung im klassischen Altertum sowie Mittelalter hinweg. Dabei etabliert Böklen das „Muster 12 plus 1“, woraus die Überschreitung der vollkommenen Zahl „12“ mit einer dreizehnten zur „Einheit“ führt: Endres/ Schimmel fassen zusammen, dass „die Eins über der Zwölf entweder Führer oder Todeskandidat“ bedeutet: „Odysseus entgeht dem Tode, während seine zwölf Gefährten aufgefressen werden. Die Gnosis spricht von einem dreizehnten Aeon, der die Vollendung, die Krönung der Zwölf bedeute“ (Endres und Schimmel, 1984, 223). Böklen sieht in der Zahlenbedeutung zwischen einer Zwölf und Dreizehn nicht zuletzt „alte astrale Vorstellungen“, worauf hier an späterer Stelle zurückgegriffen wird. Die Nachforschungen zur Bedeutung der Dreizehn führen auch ins Alte Testament zum zweiten Buch Mose (Kapitel 34,6), in dem die „dreizehn Eigenschaften“ Gottes genannt werden. Auch Israel wird in dreizehn Teile aufgeteilt, der dreizehnte wird dabei dem Messiah zufallen. In den 13 Glau-

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benssätzen des Maimonides folgt der letzte auf das Erscheinen des Messias (12. Glaubenssatz): mit der Auferstehung von den Toten. 24 Labyrinthischer und zugleich aber auch hinreichender werden die Beziehungen zur Zahlensymbolik über die jüdische Mystik, wobei die Kabbala die Schöpfung der Welt und alles Seienden aus der Sprache selbst in Kombination mit Zahlen erklärt. Die Dreizehn erscheint hier „günstig“; ihr kommt der Zahlwert des Wortes „Ahad“ („Einer“) zu. Die Kabbala „weiß von dreizehn himmlischen Quellen, den dreizehn Toren der Gnade und den dreizehn Strömen von Balsam, die nach talmudischer Lehre den Frommen im Paradies erwarten“ (Endres und Schimmel, 1984, 226). Da die Zahl „13“ in der jüdischen Mystik als Ort der Wiedergeburt und Transformation gilt, wird auch die Frage nach dem „Geheimnis der Schöpfung“ virulent. Das „Wesen“ der Welt ist in der kabbalistischen Mystik die Sprache schlechthin (Scholem 1973, S. 10). Die Offenbarung alles Seienden liegt aber in den „Geheimnissen“ eben dieser Sprache verborgen. Um sie zu entdecken, verlangt es nach magischen Kenntnissen und damit einer seherischen (prophetischen) Gabe, die nur Auserwählten zukommt. Es scheint, dass in poetologischer Übertragung dem Dichter in erster Instanz geradezu obliegt, was er in seinem Umgang mit der Sprache hier anführen müsste. Da aber die Worte Gottes und somit der Schöpfung nicht eindeutig erscheinen und die Wunder des Auges permanenten Täuschungen, das heißt Verwandlungen, unterliegen, wird die (meditative) „Er-Innerung“ zum Schlüssel der Vergangenheit, der zugleich die Kabbala bereitstellt. 25 Die Vision 26 führt hinter die Tore („Pforten“) der Sprache, wo die Geheimnisse verborgen liegen. 27 Die Rückwärtsgewandtheit mit dem Ziel, die 24 In einer metrischen Übersetzung für die israelitische Schuljugend: „12. Er wird an der Tage Ziel// Senden den Gesalbten uns;// Zur Erloesung derer,// Die da harren Seiner Huelfe.//13. Gottes Gnadenfuele ruft die// Todten einst ins Leben wieder“.// Hochgelobt in Ewigkeit, Sey der Name seines Ruhmes“(Epstein, 1834, 4). 25 Sefer Jezira: „Buch der Formung“ und Sohar: „Buch des Glanzes“. 26 Den neuesten Gedichtband (Rimbaud, 2008) von Moses Rosenkranz hat die Herausgeberin Doris Rosenkranz aufgrund dieses „visionären“ Gehalts der Gedichtauswahl mit „Vision“ betitelt. 27 An dieser Stelle erscheint auch die obige Abhandlung zu Odysseus’ Ankunft und Heimkehr auf Ithaka gar nicht mehr fern: Er versteckt seine Geschenke in der

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Schöpfung zu verstehen, das heißt die Geheimnisse des Lebens, ist also zugleich ein in die Zukunft gerichtetes Visionäres und somit an ein Sehen und Schauen gebunden, das sich erst im Traum als ein Wesenhaftes manifestiert. Im Traum verkehren sich nicht nur die Ebenen eines Wirklichen: Denn was „wahr“ ist, kann nur jenseits des dinglich Sichbaren „aufflammen“; es verbinden sich zugleich die Elemente und Ebenen (Oben und Unten) des Wahrnehmbaren, die ansonsten beide aufgrund ihrer opaken Oberfläche vor einer „wirklichen“ tiefgründigen Erfassung abgehalten werden. Im visionären Traum hebt sich die Relation des Zeitlichen auf sowie die Begrenzung der Räume. Hier lösen sich in der „Fernsicht“ die Grenzen und Konturen auf, entsteht ein Vexierbild „jenseits“ klarer Deutbarkeit, in dem zugleich die „Wahrheit“ steht. In seiner Abhandlung über den „Astralleib“ 28 zitiert Gershom Scholem aus dem „Schuschan Sodoth“ 29 des Moses ben Jakob aus Kiew jene Stelle über das „Große Geheimnis“ der prophetischen Kabbala, wo die Vision eine Selbstbegegnung bzw. „Selbstschau“30 ist, das heißt der „eigenen reinen Gestalt“ begegnet wird: „[…] und plötzlich sah ich die Gestalt meines Selbst mir gegenüberstehen und mein Selbst von mir entrückt und war genötigt und gezwungen, mit Schreiben aufzuhören […]“ (Scholem, 1962, 252). Dies ist die „eigene reine Form“, aus der die Propheten einen angeGrotte mit Pforten in zwei Richtungen: dahin, wohin nur Unsterbliche gelangen (um das „dreizehnte Geheimnis zu schauen“?) und dorthin, wo die Sterblichen eingehen. 28 Vgl. Kapitel 7. Rosenkranz über seine „Astralsucht“, siehe auch Korrespondenz vom: 10. 1. 1965, AR 25087, Reel 2, n6. 29 Erstmals publiziertes Kapitel über die Prophetie 1509. Vgl.: Robert Eisler (Hrsg.): Kabbala. Quellen und Forschungen zur Geschichte der jüdischen Mystik. Bd. II, mit einem Nachwort von Gershom Scholem. 1927. http://www. scribd.com/doc/13852702/Scholem-Gershon-Bibliographia-Kabbalistica-KabbalaQuellen-und-Forshungen-zur-Geschichte-der-Judischen-Mystik. Stand: 22. 12. 2010. 30 Vgl. hier das Gedicht „Selbstschau“ von Rosenkranz, das erstmals in Gemalte Fensterscheiben 1936 erschienen ist (S. 45). Dieses Gedicht wurde unverändert in den Band Bukowina (S. 44) aufgenommen, der sich weitgehend an jenem früheren Band orientiert. „Selbstschau eines gedanklichen Mannes“ ist im Band Gedichte (S. 54) abgedruckt. Siehe Anhang.

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lischen Leib oder eine solche Gestalt und Form erhalten. Und weiter: „Beim Propheten und Seher werden alle Arten seiner physischen und seelischen Kräfte schwach und verwandeln sich von Form zu Form, bis er sich in die „Kraft der Form“ einkleide […] und dann wird seine Kraft in die Form eines Engels verwandelt […]“ (Scholem, 1962, 258). Ein „angelisches Selbst“ wird dabei „sichtbar“, das wie das „Kind“ (Zeile 10–13) im Gedicht einen „zum Menschen wesensmäßig gehörenden Engel“ darstellt (Scholem, 1962, 252). 31 Das „Göttliche“ oder Engelhafte ist kein Anderes, sondern im eigenen Selbst verborgen, das hier als oder im „Geheimnis“ geschaut wird. Die definitorische Frage nach einer eindeutigen Identität (Homer oder Odysseus?) wird nach diesen theosophischen Ausführungen nicht nur obsolet, sondern geradezu auf neuartige Weise sinngebend. Gershom Scholems Ausführungen zeigen denn auch direkte Bezüge zwischen der griechisch-hellenistischen bzw. philosophisch-neuplatonischen sowie orientalisch-gnostischen Linie über die gemeinsame Vorstellung eines ätherischen oder pneumatischen Leibes auf (Scholem, 1962, 256). Die ephemere und zugleich „ewige“ Dichtergestalt wird so jenseits des Lebens und damit im Überleben des Todes namenlos; so wird denn auch kein Name im Gedicht („Der ewige Dichter“) genannt.32 Die Frage nach dem letzten Geheimnis ist zugleich eine nach der Schöpfung, die sich im Wesen der Sprache vollzieht und nach Gershom Scholem in der Unbestimmbarkeit des Wortes, sprich des Ur-Namens, die „Deutbarkeit“ schlechthin formuliert. Die mystischen Namen, die sich auch im besprochenen Gedicht finden, werden also hinter ihrer Ausstrahlkraft im Jenseits, das in und über die Sprache selbst befragt wird, unbedeutend. In der Sprache als solchen, in der sich die Geheimnisse manifestieren, steckt „das Wesen der Prophetie“, die als Engel vorgestellt werden; über die 31 In einem Essay über Moses Rosenkranz schreibt Wolf Biermann über den modernen Engel als steter Begleiter Walter Benjamins: über den „Angelus Novus“, den der Philosoph als Bild von Paul Klee auch auf seine Flucht und letztlich in den Tod mitnahm (Biermann, 2003, 153 f.). 32 Moses allein sieht keine Gestalt mehr, da sein Spiegel in der Midrasch den Durchgang des Lichtes verhinderte (Scholem, 1962, 257).

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Sprache und die Bedeutungsvielfalt des einzelnen Buchstabens und seiner Kombination wird kabbalistisch die endlose Deutung durch die prophetische (wahr-nehmende) Wissenschaft vollzogen. Im Gedicht „Der Jünger“, das Rosenkranz unmittelbar an „Der ewige Dichter“ im Band Die Tafeln anschloss, lautet denn auch die erste Strophe: Vor Gott geht mächtig der Prophet, Ruft den Namen brünstig durch die Zeiten; Hört ihn einer nur, folgt er ihrer Spur, Geht durchs goldne Tor der Ewigkeiten.

Das Wort Gottes, des „Schöpfers“, ist in der kabbalistischen Mystik nicht eindeutig bestimmbar, es hat keine wahrnehmbare Gestalt. Ebenso wenig eindeutig gebärdet sich die Gestalt des Individuums, wie sie Gershom Scholem am Begriff des Zelem expliziert, dem principium individuationis als gistige Wesensgestalt eines jeden Menschen (Scholem, 1962, 29 f.). Die unendliche Sinnfülle, die so der Sprache zukommt und aus der schließlich die Schöpfung erwächst, stammt aus einem grenzenlosen „Raum“ pluraler „Ewigkeiten“ und ist daher zeitlos. Der „ewige Dichter“ offenbart sich dabei nicht nur als konkrete Gestalt, sondern zugleich höchst ephemer, da diese gottähnlich mit dem Wort Gottes als Vermittlungsinstanz figuriert. 33 Indem die Sprache sowohl Medium der Schöpfung als auch Mitteilung Gottes darstellt, ist derjenige, der den „Arm des Wortes Gold umschlungen hält“ (Zeile 1), zum Mittler Gottes geworden und ist quasi Bindeglied zwischen Himmel und Erde; und in diesem Dazwischen weder Mensch noch Gott, weder rein geistig noch rein physisch. Im Gedicht „Wirklichkeit“ aus dem Band Leben in Versen von 1930 zeigt sich dies wie folgt: Wirklichkeit Ja, so erfaß ich ätherisch Leben; ach, wie so hass’ ich an Körpern kleben!

33 Vgl. Lewitscharoff über Walter Benjamin: (Lewitscharoff, 2010, 59).

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Flammen kometisch endlose Räume – schauen prophetisch faustische Träume. Gotische Innigkeit, los vom Gestalten, Schicksal, tönende Zeit mußt du entfalten! Spalte den End-Leib, Werden ist Leben, mütterlich Kind-Weib Engel umschweben. Sprenge die Form, Fluß ist das Seiende und – keine Norm! ist das Befreiende. Beichte, Meßgesang, ihr seid die Zeugen, Gott – ist Saitenklang haydnischer Geigen. Gott ist Harmonie mit der Unendlichkeit, Beethovens Symphonie, das ist die Wirklichkeit!

Die Befreiung von allem Körperlichen und die Sehnsucht, in endlose Räume zu entschwinden, den „End-Leib“ zu spalten und die „Form“ zu sprengen im Fluss des Seienden endet schließlich in „Harmonie mit der Unendlichkeit“ als Verkörperung Gottes. In diesem Gedicht ist angelegt, was Rosenkranz später wieder aufnimmt – sowohl in der Arbeit an den Gedichten als auch in der Autobiografie. 34 Das Wort eines einigenden („haydnischen“) „Gottes“ wird in den späteren Gedichten allerdings seine Selbstverständlichkeit verlieren. 34 Die „tönende Zeit“ wird in Kindheit in der Schilderung eines Traumerlebnisses wieder auftauchen. Vgl. Kapitel 9.3.3.

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8.2.3 Zusammenfassung Das Gedicht „Der ewige Dichter“ stellt nach dem bisher Gesagten ein heterogenes Gewebe 35 mythologischer sowie mystischer Reflexion dar, die für die Gedichte der Frühzeit bei Rosenkranz als typisch bezeichnet werden kann. Die „Schöpfung“ im Sinne einer geistigen Geburt des lyrischen Ich wurde dabei über das mystisch-kabbalistische Verständnis wesenhafter Sprache gedeutet und als Anfangspunkt der Erkenntnis und als Beginn der Unendlichkeit gedeutet. Das lyrische Ich tendiert sowohl in beiden angeführten Gedichten („Der ewige Dichter“, „Wirklichkeit“) zu einer neuen, geistigen „Ent-Leiblichung“, die in einer „Wirklichkeit“ ephemerer, und gerade deshalb überdauernder Sprache, wie der Musik oder des Liedes, aufgeht. Das lyrische Ich ist aus der Diskussion um den „ewigen Dichter“ ebenfalls als ephemere Gestalt hervorgegangen, wie sie in „Wirklichkeit“ noch oder sogar (!) den Namen „Gott“ verdient. Der göttliche „Schöpfer“, „Dichter“ oder die von Rosenkranz später notierte Figur „Homer“ haben eine uneindeutige Ich-Figur geschaffen, die am Beispiel „Homer/Odysseus“ nur noch als ein Verhältnis zwischen Dichter-Ich und lyrischer Ich-Figur erklärt werden kann. Dieses Verhältnis aber zeigt die Selbstbeschäftigung und die Reflexion eines Selbstbildes, wie es in Leben in Versen im Gedicht „Sich selbst ein Bildnis“ vorgestellt wird. 36 In Übereinstimmung dazu zeigte die jüdische Mystik eine Selbstbegegnung im Astralleib einer angelischen Figur, wie sie in „Der ewige Dichter“ als kindliches Engelwesen eines zweiten Ich zu denken ist. Der Mensch als „Ebenbild“ des Schöpfers kann so bis zum „13. Geheimnis“ der Erkenntnis von der Welt gelangen, wenn er die Wirklichkeit im Zwischenbereich von Traum und Realität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Leben und Tod über das visionäre Schauen begreift.

35 Was den Begriff des Zelem betrifft, schließt Scholem an, dass sich gerade in der Kabbala über diesen Begriff „unterschiedlich geartete Vorstellungen“ verbunden haben und darin weiterleben (Scholem, 1962, 255 f.). 36 Leben in Versen, Seite 82. Siehe Anhang.

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Das tatsächliche Ich des Dichters (Rosenkranz), und das meint auch sein außerliterarisches Ich, wird ab 1957 in einem noch eindeutigeren Versuch in den Zwischenraum der Dichtung selbst und dabei in die undefinierbare Verwandtschaft mit dem lyrischen Ich „Homers“ gestellt. Die Beziehung zwischen außerliterarischem und lyrischem Ich, zwischen Homer und seiner literarischen Figur Odysseus zeigt sich dabei als „schöpferisches Ebenbild“ oder: als die noch einzig rettende Selbst-Verkörperung in der Poesie. Und dies, auch wenn das Lied, die Sprache verstummt sind und das Ich aus der festen „Form“ der lyrischen Sprache austreten muss, um im Ephemeren (Mythos) zu überdauern. Die Zahlensymbolik der acht Strophen, 24 Versen und des 13. Geheimnisses hat zudem einen Kontext eröffnet, der sich im Folgenden über die Gedichtbände und die lyrische Arbeit von Rosenkranz nach 1957 weiterführen lässt. Wichtig wird dabei die eingehendere Betrachtung der Form. Die Gedichte, dies wurde oben deutlich, aber auch die Gedichtbände weisen eine Struktur auf, die einer werkbiografischen Einordnung bedürfen. Der „Mensch“, der bei der obigen Untersuchung weitgehend unbesprochen blieb, wird sich in der Betrachtung der Lyrikbände und ihrer Themen und Motive neu ins Zentrum stellen. Der mythologische bzw. mystische Gehalt widerspricht in der Lyrik von Rosenkranz nicht einem direkten Verweischarakter auf den irdischen, sprich physischen Menschen. Dies zeigt einerseits das Gedicht „Der Mensch“, welches in drei Gedichtbänden der Frühzeit auftaucht und von Rosenkranz auch immer wieder adaptiert wurde. 37 Der kulturelle Kontext, der literaturgeschichtlich die Bedeutung des Einzelmenschen, wie er hier im Porträt des „ewigen Dichters“ bereits angedeutet ist, provoziert, wird im letzten Unterkapitel zur Lyrik der Frühzeit über den Spiegel der Rezeption behandelt.

37 Gemalte Fensterscheiben, S. 57, Die Tafeln, S. 47, Gedichte, S. 44. Vgl. in Leben in Versen: „Drei Menschen“ (S. 109).

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8.3 Frühe Gedichtbände Die erste Fassung des Gedichts „Der ewige Dichter“ stammt aus dem Gedichtband Die Tafeln, der Rosenkranz zufolge sein bedeutendster ist. Der Titel dieses Bandes taucht in den Gedichtbänden des Spätwerks, etwa in „Klage und Bericht“ als thematischer Abschnitt dieses Sammelbandes, wieder auf. Der Umstand, dass die 1940 erschienene Ausgabe um „die wichtigsten 25“ Gedichte zensuriert wurde, hat Rosenkranz dazu veranlasst, auch nach seiner Freilassung in den späten 1950er Jahren die Arbeit an diesem Band wieder aufzunehmen. Die „wichtigsten“ darin enthaltenen und zensurierten Gedichte waren „politische“ und „gegen die deutsche Tyrannei gerichtete“.38 Noch kurz vor der deutschen Besatzung im Juni 1941 beginnt Rosenkranz in Czernowitz seine drei ersten Bände: Leben in Versen (1930), Die Bilder vom Wesen (1934, unediert) 39 , Gemalte Fensterscheiben (1936) und Die Tafeln (1940) in einem „selbständigen Werk“ aus drei Büchern unter dem Titel „Klage über den Krieg“ auswahlsweise zusammenzufassen und mit neuen Gedichten zu ergänzen. 1941, kurz vor der Deportation nach Transnistrien noch im selben Jahr, schreibt er zum zweiten Teil des dritten Buches als Vorwort: „Ich schreibe dieses Buch im Mai 1941 in Czernowitz, die Seele nach Westen gerichtet“. Die Einleitung hält er wie auch das „Vorwort“ derselben Sammlung in Versen: 40 Einleitung Muss ich in dieser Zeit der Siege singen, so will ich, dass in meines Liedes Schalle die Mordwerkzeuge dieser Kriege klingen und auch der Opfer Schluchzen widerhalle. Ich kann nicht Frohsinn wirken, aber Trauer und wehe Einkehr; auf den Lebensbahnen

38 Undatiertes, nicht einzuordnendes „Blatt 12“ aus dem Privatnachlass KWN. 39 Dieser frühe Band ist im Nachlass von Anna Rübner erhalten geblieben: AR 25087, 2/36. Er endete mit dem Gedicht „Selbstschau“, siehe Anhang. 40 Undatierte Sammlung: AR 25087, 2/35, Reel 3. Siehe Anhang.

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der Kommenden steh dieses Buch als Mauer der Klage, sie an diese Zeit zu mahnen. Sie kam mit finsterer Gorgonenmiene, sie wollte nichts, als immerzu nur morden; sie schmolz dämonisch in die Kriegsmaschine den Menschen ein, dass er ihr Herz geworden. Ein Herz aus Stahl in einem Leib aus Eisen, so fuhr er in die Weichen seinem Bilde, er schleuderte sich rastlos aus den Gleisen, wie schlechtes Werkzeug überall ins Wilde. Nur wenn er nackt lag auf der Schlachtenscheibe, wo seinesgleichen hart auf Rädern rollte, dann schmolz das Erz in dem zerbrochnen Leibe, und Zähren rannen, die er Toten zollte. So lag der Dichter, der zwar nicht gesessen als Stahl in Eisen und gemordet hatte, der nie den Gott in seiner Brust vergessen, der Güte ewig seinen Geist beschatte, allein mitschuldig durch lebend’ges Säumen in einer Zeit, die alles überboten, was sich verkündigt hat in schwersten Träumen, will er es büssen, eingedenk der Toten an jedem Tage seines Lebens bleibend, das nur die Hoffnung kümmerlich beseelte, und treu das Antlitz einer Welt beschreibend, die ihn minutenweis zu Tode quälte. 41

Diesen Band beendet Rosenkranz mit: Ich wurde von einem Ereignis unterbrochen, das allerdings zeitgemäß ist und seit dem letzten Herbst nun schon zum dritten Mal auch mein armes Heimatland erschüttert. Sollte ich die Arbeit wieder aufnehmen können, dann werde ich die nachfolgenden Gedichte auf die weissen Seiten schreiben oder kleben, die ich zu diesem Zwecke hier anfüge.

41 Untitled Collection of Poems, 1930. AR 25087, 2/35.

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Und er unterschrieb diese „Notiz“ mit: „Czernowitz, den 20. Juni 1941 an meinem siebenunddreissigsten Geburtstage“. 42 Rosenkranz hat für diese Zusammenstellung in der genannten Notiz nach Seitenzahlen die Gedichte und ihren Entstehungsort festgehalten.43 Die historischen Umstände und die persönliche Lage, wie und wo er die Gedichte verfasst hat, scheinen in diesem Fall für das Verständnis der Gedichte bedeutend. Aus dieser Vorarbeit ist vermutlich auch der Band „Gedichte“ 1947 entstanden.44 Im „Vorwort“ zu einer späteren neuen Zusammenstellung schreibt Rosenkranz zu diesem Band: Diese [Auslese] besorgten meine Freunde Anna Rubner, Immanuel Weissglas und Hermann Roth. Dabei schien es ratsam den Verfasser zu verschweigen und ein Pseudonym zu wählen. Das lautete Martin Brant. Mich zu nennen, hätte die Herausgeber arg gefährdet. War ich doch im April jenes Jahres [1947] als ernannter Feind der Weltrevolution vom Fangdienst (smertsch) 45 ihrer Besatzungstruppe auf die in der Folge sich über zehn Jahre erstreckende Reise durch das GULAG-Imperium gesetzt worden. 46

Dieser Band dürfte auf die von Rosenkranz eigene, undatiert gebliebene Zusammenstellung Das deutliche Leben 47 erfolgt sein. Auch dieser Band ist mit dem Pseudonym „Martin Brant“ überschrieben und besteht aus den Büchern: I. Buch Die Tafeln, II. Buch 1930–42 Zarte Frühlingspfeifen, III. Buch (1932) Unter blauen Pflaumen, „Viertes Buch“ (1942/46) Die Flamme. Diese werden mit einem „Leitspruch“ von Hölderlin eingeführt. 48 42 AR 25087, 2/35, Reel 3. 43 Leider stimmen in der erhaltenen Notiz die Seitenzahlen weder mit jenen in Die Tafeln noch mit dem Band Gedichte zusammen. Daher kann keine Zuordnung des Entstehungsortes für das oben besprochene Gedicht „Der ewige Dichter“ folgen. 44 Das „dritte Buch“ fehlt hier. 45 Eigentlich „smersch“; umgs. „Tod den Spionen“. Offiziell: „Sovetskij Metod Razoblachenja Shpionov“/„Sowjetische Organisation zur Entlarvung von Spionen und der Spionenabwehr“ (Mokienko und Nikitina, 2005, 387). 46 Privatbesitz Doris Rosenkranz. 47 AR 25087, 2/42. 48 „Größeres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt all uns nieder, das Leid beuget gewaltiger, doch es kehret umsonst nicht unser Bogen, woher er kommt.“ AR 25087, Reel 3, n608.

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Diese ersten Gedichtsammlungen bekamen durch die Rezensionen von Mayer Ebner, Alfred Margul-Sperber und Alfred Kittner, die Rosenkranz im Vorwort erwähnt, großes Lob. „Rezensionen der ersten drei Bändchen erschienen in allen deutschsprachigen Tageszeitungen von Czernowitz, ausgenommen das Blatt der deutschen Volksgruppe.“ Im Czernowitzer Morgenblatt erschien am 2. und 3. April 1940 die Rezension Alfred MargulSperbers zum Band Die Tafeln. Sperber schließt seine Besprechung damit, dass jedes einzelne Gedicht eine Tafel meint: ein „einziges, einheitliches, zusammengehöriges und geschlossenes Kunstwerk“ (Margul-Sperber, 1940). Die ganze Bedeutung dieses dichterischen Werks zeige sich im „bahnbrechenden Beginn“ sowie in der vollendeten „ersten Leistung einer völlig neuen lyrischen Wortkunst“. Sperber nennt die Sprache dieser „lyrischen Erlebnisse“ eine „Zwiesprache mit den elementaren Dingen der Schöpfung“. Von „entrückten Landschaften“ und „Naturerlebnissen“, die Sperber eng an die Bukowiner Herkunft von Rosenkranz anlehnt, nennt er neben ideellen und rein geistigen Landschaften auch die „Mächte unserer Zeit“ sowie die „zeitferne Welt dieses Gedichtbuches“. Die Vielfalt der in Die Tafeln vereinten Gedichte fasst Sperber über die „lyrisch gesättigte Eindringlichkeit und holde Gegenständlichkeit“ zusammen und sieht ihren Ausdruck von „volksliedhafter Schwermut“ bis zur „visionären Eigenart“.

8.3.1 Titel der Gedichtbände Was aus der Gedichtanalyse über den biblisch-mythologischen Zugang mit einer neuen Frage hervorgetreten ist, wird an der Besprechung der Titel der Gedichtbände neu zu bedenken sein. Der Titel Die Tafeln verdient besondere Aufmerksamkeit, gerade auch im Anschluss an „Der ewige Dichter“ und mögliche Interpretationsansätze anhand des Alten Testaments. Über den Titel selbst gibt Rosenkranz in den Quellen keine Auskunft; eine Verbindung zu den Schrifttafeln Mose oder zu urzeitlichen Inschriften in Stein, wie sie für Margul-Sperber um 1940 bedeutend sind, drängt sich direkt auf:

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Das neueste Werk des Dichters Moses Rosenkranz heißt und sich, allen Zeitläufen zum Trotz, auch als Autor verbissen so nennt, birgt in seinem Titel einen sonderbaren Doppelsinn. Ich bin zwar sicher, daß unser Bukowiner Moses nicht an die Tafeln Mosis gedacht hatte, als er seinen Band „Die Tafeln“ nannte, aber am Ende stimmt die ungewollte Metapher doch irgendwie. Ich habe es schon vor Jahren ausgesprochen, daß mich die ganze Art dieses Dichters frappant an eine Zeit erinnert, in der man das sehr Wesentliche, das man zu sagen hatte, in Stein hauen mußte, um es der Nachwelt zu überliefern“ (Margul-Sperber, 1940).

Margul-Sperbers enge Zusammenarbeit mit Rosenkranz und der Umstand, dass der Dichter seine Rezensionen hoch schätzte, ist auch ein Grund dafür, ihn ausführlich zu zitieren. Für Margul-Sperber deuten „Die Tafeln“ indirekter auf die Schiefertafeln seiner Kindheit hin, in der das geschriebene Wort „mühsam erzeichnet“ und das gedruckte Wort der bebilderten Fibel „mit Herzklopfen und stammelnd erlesen“ wurde. Wo „Dinge einer unbekannten Wunderwelt beschworen wurden“ und im Umgang mit Menschen „Zauberformeln“ herrschten, siedelt er die lyrischen Bilder von Rosenkranz im magischen, geheimnisumwobenen Raum Bukowina an. Das Ursprüngliche, was anhand der Gedichtbesprechung direkter über die Mythologie und geheimniswebende (kabbalistische) Mystik begreifbar wird, erklärt Margul-Sperber mit der erdhaften und unmittelbaren Beziehung zur „Natur“ und „Kindheit“. Das gezeichnete Wort und ein bebildertes, bildhaftes Lesen werden dabei zum Urgrund eines einzigartigen lyrischen „Duktus“. Diese Verschränkung in der Deutung der Titel zeigt sich auch bei den beiden ersten Gedichtbänden Leben in Versen und Gemalte Fensterscheiben49 . Was Sperber in einer zweifellos enthusiastischen Rezension formuliert und auch stark an seine Verteidigung der deutschen Sprache in der damals politisch kritischen Bukowina erinnert, ist dennoch für konzeptuelle Bezüge einer über Form und Inhalt verhandelbaren Poetik von Rosenkranz bedeutend: Eine „Zwiesprache mit den elementaren Dingen der Schöpfung“ zeigt 49 Dieser Band ist nach dem gleichnamigen Gedicht von Goethe benannt und dem rumänischen Dichter, Essayisten und Herausgeber Ion Pillat gewidmet. Gedichte von Pillat (1891–1945) hat Rosenkranz zu einem großen Teil ins Deutsche übersetzt. Der Band Gemalte Fensterscheiben enthält aber auch Gedichte an Alfred Margul-Sperber und Stefan Nenitzescu.

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denn auch der erste Band Leben in Versen 50 von 1930 in anderer Art und Weise. Wie die späteren Gedichtbände ist auch dieser relativ umfangreiche Band (124 Seiten) in thematische Abschnitte unterteilt. Leben in Versen ist im Vergleich zu Die Tafeln (1940) und Gedichte (1947) auch thematisch heterogener. Die einzelnen Abschnitte, betitelt mit „Die Gedichte“, „So zwischen Tag und Nacht die Zeit“, „Gefängnis“, „Das sind tiefe Rufe“, „Also bin ich“, „Cetat¸uja Bras¸ov“, „Die Gattung reimt“ und „Zu Zweit“, umspannen ein weites Feld von Einsam- und Zweisamkeit, Gefangenschaft und visionärer oder prophetischer Fernsicht. Der Titel „Leben in Versen“ ist am ehesten mit der Erfassung der eigenen Erlebenszeit, des unmittelbaren Erlebnisses der Jetztzeit zu beschreiben. Das (gegenwärtige) Dasein und die hinter dieser „Existenz“ aufkeimende subjektive Gedanken- und Erlebniswelt fügen sich dichotomisch zusammen, wie die Gedichte „Resignation“ und „schöpferischen Augenblick“ zeigen. Wenn gerade diese ersten Gedichte in späteren Bänden wieder aufgegriffen werden, zeugt dieser erste Band wohl am deutlichsten für die unmittelbare Wirkung einer historischen Gegenwart. Eine erinnernde Rückschau ist darin kaum enthalten. Die verdichteten Erlebnisse sind „ursprüngliche“. „Manches Erlebnis“ und „manche Erfahrung aus dieser Zeit“ hätten sich ihm „subkutan“ eingeprägt (Sienerth, 1997, 153 f.), erwähnt Rosenkranz hinsichtlich dieser Gedichte über die Zeit seiner Rückkehr nach Czernowitz aus dem Elsass in den 1920er Jahren. In Leben in Versen ist neben christlich-religiösen Motiven eine Daseinsbeschwörung zu vernehmen, die sich bis ins Akmeistische konkretisiert: in einer personifizierenden oder dinghaften Verdichtung des „Menschen“ in der Figur einer „gotischen Kirche“, aber auch in der bewussten Verschränkung von Zivilisation und Natur, Irdischem und Geistigem. Ein „prophetischer Blick“ in die Ferne ist zugleich von einem „Leuchten aus der Vergangenheit“ zukunftsweisend angezogen. Die „große Stunde“, in der das Ich „alles von sich legt“, „was weltlich ist und vergänglich“, verweist auf die „mystische Pflicht“ in der „Allschau der Seele“. In dieser Hinwendung zu einer Frau in „Große Stunde“ findet sich eine Opfergabe der Jugend am 50 Eine erfolgreiche Auflage von 1000 Exemplaren, vgl. (Sienerth, 1997, 95).

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„kalten Altar“. Religiöse und „endlose“ Räume stehen einer Offenbarung der Liebe – und oft einer ausgesprochenen Liebe zur „Heimat“ – über dem Boden eines „Einsamverbannten“ gegenüber. Das Schöpfungsthema ist allgegenwärtig und in Opposition zu der zerstörerischen Tendenz der Zeitgeschichte gesetzt. Menschliches Leben und das Dasein werden an den Geburtspunkt der Sprache gesetzt, wie in „Drei Menschen“ (Seite 109): 51 „Leid riß Geist an sich und zeugte Worte, Worte. / Aus Liebe, fürchterlich schlugst du an jene Pforte, / die Menschen vom Gotte trennt.“ Ein neuer Anfang aus der Vereinigung von natürlich Gegebenem und vom Menschen Geschaffenem wird über die Liebe („Eros“) bebildert, wie sie auch später ab 1957 wieder als umfassenderer Titel in den Gedichtbänden auftaucht.52 In „Brief an einen Dichter“ schreibt Margul-Sperber 1930 im „Czernowitzer Morgenblatt“ über Leben in Versen: Es „fasst mich ein banger Zweifel, ob ich Ihnen Leser wünschen soll, und ob es nicht viel besser wäre, wenn sich so wenig Unberufene als möglich an solch dichterische Werte wagen? Denn der Genuß eines Gedichtes ist schließlich eine Liebesangelegenheit […]“. Margul-Sperber hebt hier anders als später in Die Tafeln das Erlebnis hervor, das Gott und der Natur gleichsam verpflichtet ist. Ihr Gedichtband ist nicht eine geschlossene Leistung. Sie haben aus Ihrem Überflusse, aus der Fülle der Ihnen zuströmenden Gedichte wahllos eine Anzahl von Zyklen geformt. Nicht die Frage, ob das Erlebnis seine endgültige und erlösende Form gefunden habe, sondern die Stärke des Erlebnisses scheint Ihnen bestimmend für die Wahl gewesen zu sein. Deshalb befremden viele Ihrer Gedichte durch Ungeheuerlichkeiten und Härten des Satzbaues, des Rhythmus, ja der Grammatik. Wohl sind es in der Regel „schöne Monstren“ – aber der allzu pedantische Freund der Dichtung mag in manchen Fällen an ihnen Anstoß nehmen (Margul-Sperber, 1930).

Die Form, die Margul-Sperber hier nicht als „geschlossene Leistung“ und noch nicht „erlösend“ resümiert, als Grundelement in Leben in Versen 51 Es wäre an dieser Stelle noch zu untersuchen, inwiefern das Gedicht an Maxim Gorkis Erzählung des gleichen Titels anschließt. Gorkis autobiografische Schriften Meine Kindheit und Die Mutter dürften Rosenkranz sehr wohl bekannt gewesen sein und nahe gestanden haben. 52 Die Bilder vom Wesen, die unedierte Zusammenstellung von 1934.

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scheint dennoch bereits buchstäblich, d. h. einer vital bewegungsfreien „Freiheit im Rahmen“, wie er später beschreibt, angelegt. Darin sah Margul-Sperber das „moderne“ und zugleich zeitlose „Ur-Phänomen“ von Rosenkranz’ Dichtung. Das „Gefühl“ nimmt in den Worten jene Form an, in der ein „Schwingen“ und „Singen“ entsteht, in „dem keine Schranke mehr war“ (Seite 108 und 109). Dass aus den Worten und der Sprache Leben entspringt, wird hier allein über die Titelgebung vitalistisch formal aufgetragen, wie sie in Anschluss an die Korrespondenz und die biografischen Entwürfe diskutiert wurde. Seit seinen ersten Veröffentlichungen war Rosenkranz bemüht, eine Einheit, einen gesicherten Verband seiner Gedichte zu wahren: „Es kursieren von mir schon wieder Gedichte herum, und das verdrießt mich, denn sie laufen einzeln und gehören doch zusammen“ (ZGR 1–2 (7–8)/ 1995 (Gut¸u, 1995a, 168). Was in den späteren Briefen an Anna Rübner fortbesteht, ist Rosenkranz’ Behandlung der Gedichte als seine lebenden „Kinder“. Ein organisches Verständnis und eine versuchte Belebung der Sprache durch ihre poetische Form und rhythmische Ordnung lässt sich über die Figuren und Tropen in der Lyrik auf die Struktur der Gedichtbände übertragen. Die Besprechung der Gedicht-Reihenfolge wird hier dennoch erschwert, weil zuweilen grafische Gliederungsstrukturen fehlen; 53 die Gedichte sind aber auch in späteren Bänden wiederaufgenommen und neu kontextualisiert, so dass überhaupt eine enorme Themenbreite im lyrischen Werk besteht, die sich aber in einem wiederum engen Formschema ausdrückt.

8.2.2.Form und Inhalt: zum „Erlebnis“-Begriff des Frühwerks Dass die Gedichtbände nicht nur eine Leserichtung einfordern, sondern die einzelnen Gedichte auch eine chorische Gestalt 54 repräsentieren, bestätigt 53 Leben in Versen und Gedichte haben eine Unterteilung in „Bücher“ und „Teile“; Gemalte Fensterscheiben und Die Tafeln vereinen abschnittslos die Gedichte in ihrer dennoch vom Dichter „geordneten“ Vielfalt. 54 Vgl. (Gut¸u, 1995a, 170). Das Bild eines „Chors“ taucht in der Bukowinaliteratur und vor allem bei Margul-Sperber immer wieder auf. Es steht für den Bukowiner Kreis der Dichter, die sich quasi geschlossen und singend vernehmbar zu machen

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Rosenkranz’ Beschreibung „einer marschierenden Gruppe“ auch hinsichtlich des Rhythmus: „Sie [die Gedichte] haben einen Gleichschritt (Rhythmus) und sind diszipliniert. Sie zeigen Zustände auf mit einem Hintersinn von Rebellion. Sie sind gesittete Demonstrationen – infolgedessen sollten sie verhalten und lebhaft im Rahmen einer geordneten Freiheit gelesen werden“ (Sienerth, 1997, 148). „Lebhaft im Rahmen“ und „geordnet in Freiheit“ sind topologische Begriffe, die für diese Untersuchung auf der Grundlage einer Gattungsdifferenz von Lyrik und Prosa interessieren. Nehmen wir den Begriff des „Erlebnisgedichts“ wieder auf, so hat sich aus dem bisher Gesagten eine Verdichtung des Erlebnisses über das „Lied“ als lyrische Form hin zur Formauflösung in einem „Schwebepfad“ manifestiert. 55 Der Ausdruck des „Erlebnisses“ sowie die traditionelle Rhythmik in Rosenkranz’ Dichtung verweisen auf einen lebensphilosophisch begründbaren, vitalistisch-emphatischen Zusammenhang von Form und Inhalt; zugleich ist dieses Gleichgewicht zwischen „Seele“ und „technizistischer Form“ in der modernen Wirklichkeit bedroht. 56 Diltheys „innere“ und „notwendige Form“, die sich aus dem Lebenszusammenhang als Erlebnis herausstellt, ist bei Rosenkranz zur existentiellen Frage nach Kohärenz im Ausdruck (Innen/[Inhalt]) versus (Außen/[Form]) geworden. Die „Einbildungskraft“, die eine poetische Verdichtung ermöglicht, ist dabei eine „Kraft, welche in Formen und Bewegungen zu uns redet“ (Burdorf, 2001, 292). Das Erlebnis kann so zu einer „inneren Form“ werden, die im Ausdruck zugleich eine „äußere“ meint. Rosenkranz’ „Lebhaftigkeit im Rahmen“ spricht dabei in Diltheys poetologischem Verständnis als eine Theorie zwischen den beiden Extremen: Formlosigkeit versus regelhafter Idealis-

suchten, vgl. hierzu (Margul-Sperber, 2009). Später taucht dieser Begriff auch in der russischen Literatur von Dichtern nach dem Gulag wieder auf. Etwa bei Abram Terz/Andrej Sinjawskij oder Warlam Schalamow. Hier ist vielmehr eine „einzelne Stimme“ im Chor gemeint, die sich angesichts des Verstummens dennoch hervorwagt. 55 Dieter Schlesak (Schlesak, 1995) und Wolf Biermann (Biermann, 2002) haben diese unsichere Grenze von Erinnerung und Erlebnis über die Gedichte von Rosenkranz zu beschreiben versucht. 56 Vgl. das Gedicht „Wirklichkeit“, S. 123.

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mus. Darin grenzt sich Rosenkranz von Herder ab, der von einer „Ursprache“ der Menschheit ausging, die außer auf die organischen Gesetze der Natur auf kein anderes Regelwerk zurückgreift. Das „Ideal der Dichtkunst“, das nach Herder aber „kraft aus Beschreibung und Nachahmung den göttlichen Schöpfungsakt“ darstellt, rückt den Dichter und Menschen, wie auch bei Rosenkranz, in die Nähe des Schöpfungsaktes selbst (Burdorf, 2001, 13). In einem solchen Verständnis der Dichtung wird der Dichter als „Schöpfer“ befähigt, an der Welt aktiven Anteil zu nehmen, der er ansonsten nur ohnmächtig ausgeliefert wäre. Herders Hoch- oder auch Überschätzung der dichterischen Ideale im Moment der Schöpfung mochte für die Lyrik in der Bukowina für die 1930er bis 1940er Jahre insofern zu einer positiven Rezeption beigetragen haben, als sich die „Form“ der Sprache und ihr „Rhythmus“ gegen die äußeren Wirren neu behaupten musste. Darin liegt aber jene „kabbalistische Rhapsodie“, die in der Zahlensymbolik nicht zuletzt das Fundament einer Beständigkeit erkennen ließ. Herders Ausführungen über die „heilige Eins plus Sieben“ steht daher nicht nur für den „Ursprung von Allem, was ist“, sondern auch für die Vollkommenheit und Einheit innerer wie äußerer Form, die in „Der ewige Dichter“ über die acht Strophen – oder: sieben plus eine zweizeilige – auftaucht. Die Zuwendung zu heraldischen und antiken Themen und Motiven scheint über das Ideal der Form „bei aller Varianz eine Instanz“ zu sein, „die der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, des Sprachflusses und des geschichtlichen Ablaufs ein Moment der Stabilität entgegensetzt“ (Burdorf, 2001). Der Mensch als „bienengleicher Sammler von Erlebnissen“ zeigt in den Gedichtbänden von Rosenkranz’ Frühwerk schließlich eine Verknüpfung diltheyscher und herderscher Poetologie, die auch den „zeitgemäßen“ Umgang Rosenkranz’ mit der traditionellen Form erklärt. Die existentialistische Dichotomie von Leben und Tod, die über die „notwendige Form“ im verdichteten „Erlebnis“ aufgeht, greift bei Rosenkranz auf eine höhere, schöpferische Instanz, die im „Lied“ des Anfangs (Ursprung) sowie des Endes (Tod) jenseits historischer Referenzen und jenseits eines raum-zeitlichen Kontinuums den („modernen“) Bruch von Seele und Leib überwindet. Wo das Erlebnis ins Lied eingeht, verliert es seine feste

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Form. „In den Rhythmus von Gesängen,/ aber du bleib stumm“ 57 spricht von der Ablösung des vernehmbaren, sichtbaren Ich und seiner Vertonung bzw. neuen Verkörperung im Lied. Im „Chor“ singt ein stummes Du sein eigenes Lied. Das „Lied“ als letzte Stimme über dem Abgrund, und – in Anspielung auf Herders Antikenbegeisterung – über die Endlichkeit und die irdisch begrenzte Zeit: „Das Lied über dem Abgrund/ Wenn unserm Dunkel Frühe naht,/ Die Frühe, morgenrotumrankt,/ merken wir:/ auf einem dünnen Schwebepfad,/ der über einem Abgrund schwankt,/ schreiten wir […]“. 58 Der dünne Pfad lässt sich hier als Leben und Poesie gleichsam verstehen: vor dem Gewahrwerden des „Dunkeln“, am Rand des Abgrunds und am Morgen des Vergehens, „schreiten wir“ einzig noch im Lied. Scheinhaft am Horizont, wo „morgenrotumrankt“ die Frühe auftaucht, wankt über dem Abgrund der Schwebepfad: eine herangeführte, in die Enge getriebene Divergenz von Oben und Unten, Licht und Dunkel, ortlos, gleichsam zwischen den polaren Kräften, die dem Lied seine „ephemere“, aber auch zeit- und raumdurchdringende Melodie verleihen. Wenn hier durch die schwingende Bewegung das Lied und im Lied das Leben aufersteht, öffnet sich am schmalen Spalt über dem Abgrund möglicherweise auch jenes Fenster in der Bedrängnis, das Rosenkranz für den Titel seines zweiten Gedichtbandes Gemalte Fensterscheiben von 1936 vorschwebte. Wenn dieser Band auch schmaler und thematisch profaner daherkommt, so lässt sich an einzelnen Gedichten dennoch beobachten, wie das genuin „Formlose“ in die lyrische Form gebannt wird und inhaltlich gesehen über Enge, Kleinheit und Begrenzung ein Nadelöhr des Sehens fokussiert, wo in der Ferne des Blicks die Gegensätze verschwimmen und sich die Ebenen ineinanderlegen. Der (liedhafte, lyrische) Rhythmus der Sprache ist bei Rosenkranz die letzte Bewegung und das letzte Zeugnis eines Lebendigen im „Dialog mit der Trostlosigkeit“, im „Gespräch mit dem Sprachlosen“ (Enzensberger, 1995, 74). Und Enzensberger ergänzt: „[…] nicht nur in die Vergangenheit, auch weit in die Zukunft reicht diese Sprache [Holocaust-Lyrik]. Schwebend im Uralten erhält sie sich jung“ (Enzensberger, 1995, 76). 57 Zitiert aus dem Gedicht „Poetischer Rat“ (Leben in Versen), S. 29. 58 Leben in Versen, 1930, S. 123.

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8.3.2 Vom „Hintersinn“ der Gedichte oder in der Divergenz der Erkenntnis „Das Lied über dem Abgrund“ aus Leben in Versen deutet als einzelne Strophe über den Titel bereits an, wo die „Erkenntnis“ oder das „dreizehnte Geheimnis“ geschaut wird. Wie in „Der ewige Dichter“ unterbricht auch hier der vierte dreisilbige Vers die ansonsten sieben- bis achtzeiligen Verse. Formal gedeutet setzt das Erkennen am Kreuzpunkt der Divergenzen ein: in der Auflösung der ansonsten nur getrennt wahrnehmbaren Welten von Oben und Unten, Diesseits und Jenseits. Das „Erlebnis“ des Dunkeln führt an diesen Grat des Erkennens, in die „Ernüchterung im Geiste“ 59 . Eine durch das Erlebnis verursachte Überspanntheit der Grenzen und Beschränkungen dehnt am Wendepunkt den Raum dahinter ins Grenzenlose. Im Band Gemalte Fensterscheiben verdeutlicht dies jene Tendenz, die aus der geschilderten Entgrenzung eine „Erhebung“ des Konkreten aus der Wirklichkeit und zeitgeschichtlichen Alltäglichkeit mit sich führt. Wolf Biermanns Versuch, Rosenkranz’ Lyrik unter dieselben Flügel des „Angelus Novus“ von Paul Klee zu stellen, ist im Anschluss an das Gedicht „Der ewige Dichter“ sowie für das hier untersuchte Zeit-Raum-Verhältnis der rosenkranzschen Lyrik weiter bedeutsam (Biermann, 2003, 154). Das Bild des Engels war nicht nur ständiger Begleiter Walter Benjamins bis zu seinem Tod. In der Geschichte dieses Engels, die Biermann in einem fiktiven Dialog Rosenkranz erzählt, deutet der Liedermacher auf die Erkenntnis des Dichters selbst hin und damit auch auf das moderne Moment seiner Dichtung. Während Benjamins „Engel“ die Flügel nicht mehr zu schließen vermag unter dem Windstoß aus dem Paradies, türmen sich vor seinen Füßen die irdischen Trümmer zum Himmel. Mit dem Rücken zum Paradies wird der Engel immer mehr in die Zukunft ab-getrieben. Diese Zukunft, so Biermann, „ist das, was wir Fortschritt nennen“. Und Rosenkranz wird sagen: Die Stelle mit den Füßen gefällt mir besonders, da wo der Fortschritt dem Engel die Trümmer vor die Füße schleudert. Die Füße sind nämlich wichtiger, als die reinen Kopfmenschen wohl denken (Biermann, 2003). 59 MLR 25006–300 ZGR 1–2(7–8)/1995, S. 197.

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In doppelter Weise wird hier der „Hintersinn“ gedeutet: einerseits in der Rebellion gegen einen Fortschritt, der im Auflösen der alten Form nur Trümmer zurücklässt; andererseits verweist der Hintersinn im Sinnbild des modernen Engels auf eine geradezu alte, aber auch intuitive „Erkenntnis“, dass am Rand zum Abgrund starke Füße mehr helfen als ein schlauer Kopf. In der einfachen Parabel des Angelus Novus ist die „Erkenntnis“ divergent und ambivalent. Der moderne Engel befindet sich zwischen Gut und Böse: zwischen dem Wind aus dem Paradies, der in die Zukunft weht, und den Trümmern, die zum Himmel wachsen. Die Behauptung, dass es einen Wind aus dem Paradies gibt, der eine Zukunft verspricht, kann aber auch als Positivum gewertet werden. Die Stärke des Windstoßes verhindert erst das Schließen der Flügel und wirkt ausweglos in Anbetracht der Zukunft. Wo sich Positiv und Negativ dahingehend vereinen, ist auch die Erkenntnis (über die Zukunft) uneindeutig und eins. Wo sich die Erkenntnis aber zugleich verlagert – vom Kopf in die Füße –, setzt auch Rosenkranz’ eigene Kritik an der wissenschaftlichen Analyse an. In einer kurzen Rückschau auf die Rezeption der frühen Lyrik wird damit abschließend auf die Interferenz zwischen Erkenntnis und Verstandenwerden bei Rosenkranz hingewiesen. Rosenkranz’ Kritik an (literatur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen war gegen ein „Trennen“ im Analysieren gerichtet.60 Wie im Bestreben, die Gedichte „zusammen“ und nicht einzeln „herumlaufen“ zu lassen, so versuchte er, die Erkenntnis in umfassenden Zusammenhängen zu fassen. In dieser Konsequenz verteidigte er auch die Rezeption seiner Lyrik. 61 Die Rezeption seiner Verse erfolgte daher auf einem nur „schmalen Grat“ der Erkenntnis. Aber ebenso ihre verhaltene Kühnheit. Nicht von ungefähr werden daher auch die von Rosenkranz geschätzten 60 Vgl. hierzu auch das Gedicht „Ich schaute“: „Ich schaute und bewunderte das GANZE//Ungeteilt wie sichs dem Blicke bot […]“ (Rosenkranz, 1988, 90). Um 1925 nahmen sich Buber und Rosenzweig jene Bibelübersetzung vor, in der sie immer wieder hervorhoben, dass Form und Inhalt unauflöslich zusammengehören und jeder einzelne (biblische) Text als Ganzes und als Einheit gelesen werden soll (http://bibelsoftware.theologie.uni-mainz.de/167.php). 61 Rückzug von Gedichten aus der Anthologie Kittners, Margul-Sperbers, Biermann am Sterbebett usw.

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Rezensionen Alfred Margul-Sperbers bis heute vorbildlich zur Hand genommen, um Rosenkranz’ „unergründliche“ Dichtung zu beschreiben. 62 Gut¸us Feststellung, dass Rosenkranz’ Dichtung einen „ungewöhnlichen Zugang“ einfordere, hat denn auch die „Grundsubstanz“ bis anhin vor allem über Paraphrasen und Metaphern versucht (Gut¸u, 1995b, 161). Gut¸us Bemerkung, der Rezensent stehe dieser Dichtung „hilflos“ gegenüber, führte daher nicht selten zu einer „Polyvalenz“ der Metaphernsprache. „Der sprachliche Duktus“, der „einfach, kristall klar wie das Wasser eines Gebirgsbachs“ fließt, „unter dem jedoch eine unüberschaubare Welt von Lebewesen und Steinen wuchert“ (Gut¸u, 1995b, 161), kann aber auch den direkten Zugang ans „Wesentliche“ zerstreuen. Oder liegt gerade in dieser Polyvalenz die Theorie eines ephemeren Wesens reflexiv poetischer Selbstkonstituierung begründet? Während Alfred Margul-Sperbers erste Rezensionen die „Bildlichkeit“ der Sprache in ihrer offenen Polyvalenz metaphorisch einkreist, griff Herman Roth 63 bereits 1940 zu Komparatismen: „unergründlicher“, „ursprünglicher“, „kühner im apolinischen Ausdruck“, „tiefer“, „chtonischer im Niederschlag zu den Müttern“ im Vergleich mit Rudolf Borchardt. 64 Auch was Gut¸u mit der „Unüberschaubarkeit“ einer „Erlebenswelt“ beschreibt, macht respektvoll Halt vor dem Dichter und seiner Dichtung: Ganz in seinem Sinne begreifen die Rezensenten die „Gesamtgestalt“ der rosenkranzschen Lyrik und greifen dabei oft zum Vergleich mit der Landschaft oder Natur. Ein „Lebendiges“ kommt hier zum Ausdruck, das Rosenkranz aber vor allem im Mittel der Rhythmik und Struktur seiner Gedichte und Gedichtbände umsetzte. Auf Letzteres wurde bisher kaum eingegangen. Das „sprachlich artikulierte Erleben aller Manifestationen ursprünglicher Kultur“ (Gut¸u, 1995b, 161) aber greift letztlich auch immer wieder auf „das Wunder“ der Sprache (von Rosenkranz) zurück, wie es Mar62 Z. B. Alfred Kittner, in (Erk, 1995, 204). 63 Siebenbürgischer Literat und Freund von Rosenkranz. 64 Ein ebenfalls nur schwer einzuordnender Dichter (urspr.) aus dem George-Kreis; selbstgewählte Isolation, Studium der griechischen antiken Lyrik, Traditionsbewusstsein, strenge Formauffassung. Wie Rosenkranz schwebte Borchardt eine Vision vom Kosmos alteuropäischer Überlieferung und schöpferischer Restauration vor.

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gul-Sperber als erster befragt hat, um Rosenkranz’ poetische Bilder bzw. ihre ländliche Herkunft zu deuten. Die „menschliche Dimension“ der „lyrischen Landschaft“ (Bukowina) verweist bei Rosenkranz aber schon seit Beginn auf einen „konkreten“, „unverbildeten“ Duktus (Gut¸u, 1995b, 159). Was Roth 1940 mit „tiefer“ und „chtonischer“ andeutete, schließt mit den bisherigen Grundtönen der Rezeption sowie der hier angelegten These des poetischen Selbstbildes den Kreis: Wenn Gut¸u vorschlägt, dass der Forscher „jede Aussage in ihrer Allgemeingültigkeit, zugleich aber auch in ihrer Relativität in Betracht zieht und in den komplexen kulturell-literarischen Gesamtkontext sowie in den Fluß der dichterischen Persönlichkeitsentwicklung dieses Dichters einbettet“ (Gut¸u, 1995b, 160), stößt die oft genannte „Tiefe“ und bewusste „Rückwärtsgewandtheit“ von Rosenkranz’ Lyrik immer wieder auf die Frage nach dem „Ursprünglichen“ und „Elementaren“ – letztlich nach einem Geburtspunkt des lyrischen Ich. Was die Untersuchung der Gedichtbände, aber vor allem die Analyse des Gedichts „Der ewige Dichter“ gezeigt hat, ist über die Uneindeutigkeit oder bewusst inszenierte Unbestimmbarkeit dieses lyrischen Ich als eine Gleichursprünglichkeit von Vermittlungsinstanz und Helden, Ich und Dichtung beschrieben worden. Eine weitere Vertiefung der Formproblematik sowie der motivischen und zahlensymbolischen Bedeutung hat über den kabbalistischen Zugang diesen ursprünglichen „Daseinsort“ von Ich und Sprache als Einheit bekräftigt, ihn in mystagogischer Weise der Unentscheidbarkeit von Mensch und Gott bzw. über die prophetische Selbstbegegnung der antiken Einheit von Mensch und Gott unterzogen. 65 Das „Ursprüngliche“, der „Niedergang zu den Müttern“ sowie das „Unergründliche“ wurde in der vorausgehenden Form-Inhalts-Analyse über unterschiedliche theoretische Ansätze vertieft. Insofern sollte damit immerhin der Lyrik der Frühzeit der von Rosenkranz geforderten „Ganzheit“ oder Umfasstheit sowie Gut¸us 65 Natalia Shchyhlevska wiederholt in einem sechszeiligen Abschnitt ihrer Dissertation über die „Lyrik von Moses Rosenkranz“ nur dieses Zitat Gut¸us, zudem ohne Zitatangabe (Shchyhlevska, 2004, 137).

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„kulturell-literarischem Gesamtkontext“ Rechnung getragen worden sein: Ausgehend von der mythologischen Referenz auf Homer, über den diltheyschen Erlebnisbegriff und den lebensphilosophischen Ausgang Herders auf der Suche nach dem Ursprung der Dichtung hat als poetologische Gestalt das frühromantisch verwobene Dreieck „Ich/Dichter-Sprache/DichtungSchöpfung/Leben“ ergeben. Rosenkranz’ vitalistische Exklamation „Ich bin ins Dasein verliebt“ 66 nimmt, vor allem formal, die Sprache als „Mittel des Widerstandes gegen die Gebrechen und das Unrecht der Zeit“; sie manifestiert sich aber auch über den verdichteten Ausdruck des „Lebens“, des Erlebnisses vom Tod und zwar so, dass die Hinwendung zum Ursprung des Lebens und der Dichtung potentiell die Frage nach dem (lyrischen) Geburtspunkt mitbefragt. Das von Margul-Sperber proklamierte „Wunder“ der deutschen Sprache in diesem „selbständigen“ und „von ihrem Ursprungsgebiete losgelösten“ Raum Bukowina (Margul-Sperber, 1930) wird so gerade bei Rosenkranz zu einer poetologischen Suche nach einem Ort, wo die Ungeheuerlichkeit der Wirklichkeit Platz findet; das meint aber auch, dass das „Wunder“ im „Überleben“ selbst steckt und sich in der Frage nach einem poetischen Ich ausdrückt, das in der Sprache lebt bzw. aus der Sprache erst hervorgeht. Das „Wunder“ der Dichtung, aber auch das „späte Wunder meines Lebens“ 67 wird zum Wunder eines menschlich-poetischen Ich, zum „Wunder des Überlebens“ und „Daseins“ schlechthin – und reformulierbar letztlich in der Frage nach dem „Menschen“ und einer individuellen wie kollektiven „Bio-grafie“. Der bisherige Ansatz verfolgte eine von Rosenkranz selbst formierte poetisch-poetologische Bearbeitung seiner Biografie. Dabei wurde der Frage nachgegangen, ob es sich hier nicht um eine „Bio-grafie“ handelt, die gerade in der Redundanz ihre genuine Abwesenheit bzw. Unmöglichkeit reflektiert und inszeniert. Die Frage der „Form“ interessiert auch für die spätere Lyrik, nicht zuletzt deshalb, weil im Zentrum des lyrischen Schaffens nach 1957 der Umbau der Form stand: Das Umarbeiten seiner frühen Sammlungen und die Bedeutung der Gedichte bestand hypothetisch weniger in der unmittelbaren, wirklichkeitsreferierenden „Erlebnisverdichtung“ 66 7. 9. 1930, VII 25005–815, (Gut¸u, 1995b, 160 und 163). 67 1962. AR 25087, Reel 1, n1224.

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als vielmehr in der Er-innerung der bereits bestehenden lyrischen Verdichtung.

8.4 Lyrik nach 1957 Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. Rainer Maria Rilke, „Die achte Elegie“; Leben im Offenen

Das „Erlebnis“ in der Lyrik der Frühzeit fragt im Spätwerk nach der lyrischen Antwort auf das „absolute Ereignis“. Dabei ist in Reflexion der Form als Ordnungsverfahren auch auf den „Werk“-Begriff im Zusammenhang mit dem Konstrukt „Biografie“ einzugehen. Eine neue Bedeutung des „Erlebnisses“ nach dem biografischen Riss wird hier über eine zusätzliche Primärlektüre von Warlam Schalamow oder Cesare Pavese formulierbar, wenn deren literarische Werke sprachlich wie formal auch weit von Rosenkranz’ Werk entfernt sind. Für die Untersuchung der Erinnerungsarbeit, aber auch für die „Unumkehrbarkeit“ der Erfahrungslinie nach 1957 – der „Biografie“ – sind Schalamows Aufsätze Über Prosa für die Lyrik aufschlussreich, denn die „… Veränderungen der Psyche sind unumkehrbar wie die Erfrierungen. Das Gedächtnis schmerzt wie die erfrorene Hand beim ersten kalten Wind. Es gibt keinen Menschen, der aus der Haft zurückgekommen ist und auch nur einen einzigen Tag nicht an das Lager gedacht hätte, an die erniedrigende und schreckliche Arbeit im Lager“ und „es kommt der Moment, in dem dich das unabweisbare Gefühl ergreift, diese Folgerung nach oben heben, ihr lebendiges Leben geben zu wollen“ (Schalamow, 2009, 14).

Der vitalistische Zwang „nach oben“, den Schalamow hier beschreibt, stellt über den Komplex der Sinne und des „Gefühls“ auch einen Zusammenhang zu Rosenkranz’ Erinnern der „Urvisionen“ her. Maßgeblich für die Erinnerung war ein Wiedererlangen des „Gefühlsmäßigen“ 68 oder: die „Wiederentdeckung des Gefühls“, wie es Schalamow nennt (Schalamow, 68 Vgl. Kapitel 9.3. und K42.

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2009, 21 f.), denn genau dieses ist zusammen mit der Identität durch den Gulag ausgelöscht. „Das Gefühl muss zurückkommen und die Kontrolle durch die Zeit, den Wandel der Wertungen besiegen. Nur unter diesen Voraussetzungen kann man das Leben wieder erwecken“ (Schalamow, 2009, 21 f.). Die „Wandlungen der Wertungen besiegen“ bedeutet bei Schalamow ein zukunftsgerichtetes Zurück zur Wahrheit – zu einem letztlich „Währenden“, das, in Schalamows Worten, mit der Zeit geht; in diesem Sinne versteht sich auch Enzensbergers Einwand gegen das Verstummen der lyrischen Sprache nach dem Holocaust: „Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben. Wenn wir weiterleben wollen, muß dieser Satz widerlegt werden“ (Enzensberger, 1995, 73). Die restitutive Arbeit an seiner frühen Lyrik erweist sich bei Rosenkranz als Strategie des Überlebens. Auch dann – oder gerade dann –, wenn das, was bleiben und jeden Wandel überdauern soll, nicht mehr gegeben ist. Er habe bis 1961, dem Jahr seiner Übersiedlung nach Deutschland, nichts verloren – außer sich selbst, zitiert George Gut¸u den Dichter (Gut¸u, 1995b, 160). Rosenkranz ist nach seiner Rückkehr aus der Haft hauptsächlich darum bemüht, seine frühe Lyrik fort- und umzuschreiben. Er richte sich dabei „nach den Bildern, die mir innerlich vorgeschwebt waren, als ich diese Stücke gestaltete. Ich rufe mir jene Urvisionen mühelos ins Gedächtnis zurück. Damit kommt auch die Atmosphäre der damaligen Umwelt“ wieder auf. 69 Von etwa 140 habe er „37 eliminiert“, er lasse sie „leben“, nehme sie nur in keine Auswahl auf. An anderer Stelle schreibt er: „Ich will alle meine Gedichte noch einmal neuschreiben und endgültig neuordnen, schön in 4–5 Heften – und mich dann für immer von ihnen weg und zu Prosa gebildet zuwenden […] Ich lese Dr. Faustus. Aber auch die frühen Lieblinge alle: Uhland, Platen, Mörike, Goethe“. Daneben verfasst er neue Gedichte, in denen auch die unmittelbare Vergangenheit in den sowjetischen Arbeitslagern ihre Verdichtung finden: „Jetzt schreib ich meine neuen Gedichte, im Schlaf, wirklich, sie kommen nachts, da ich tags mich verschließe. Ich habe auch zu allen meinen alten wiedergefunden. Zu allen. Werde sie bald neu ordnen“. 70 In neuen wie auch in den (frühen) Gedich69 11. 12. 1961, 3 Uhr früh. AR 25087, 1/35, Reel 2, n361. 70 13. 5. 1963, 19:30 Uhr. AR 25087, Reel 2, n82.

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ten sieht Rosenkranz nach seiner Rückkehr aus den Lagern einerseits eine „brennende Aktualität„ andererseits ein Unzeitgemäßes, dem er sich durch Überarbeiten der Vorlagen entgegenzustellen versucht: „Diese Dichtung hat in jeder Hinsicht so glühend zugenommen an Aktualität, daß sie ehestens erscheinen muß, oder zu Asche werden wird bei weiterer Mißachtung“. 71 Eine Sprachskepsis wird hier deutlich, welche vor allem die innere Suche nach einem neuen Ausdruck fordert. […] ich entdecke nun, dass die vorwiegende Ursache der Verbildungen von äußeren Bedrängnissen erzwungene Beeilung war. Nun will ich gestehen, dass ich es hauptsächlich deshalb so gar nicht eilig hatte mit dem Gang an die Öffentlichkeit. Wie unglücklich wäre ich, alle diese Kinder noch sozusagen im Mutterkuchen schon in Bücherrealen eingeordnet zu sehen. Ich würde sie, wie die Kinder von Auschwitz, als erstarrt und verstorben empfunden haben, bevor sie reifen konnten. Die möchte man doch lieber nicht geboren haben. Nun ich bin in der angenehmen Lage, sie alle noch im Hause und sogar tatsächlich im Bette (ich arbeite ja das wesentliche nur liegend) zu habe. So kann ich sie also nun von den Geburtbehängen [?] reinigen und ganz sauber für die Welt ausfertigen. 72

Die frühen Gedichte sind für Rosenkranz nach 1957 das einzige Zeugnis und der letzte Ort der Bewahrung seiner Identität. Die Erinnerung der Vergangenheit lässt sich noch als einzig Wesen-tliches seines Daseins begreifen und in der Erinnerung die letzte Gegenwart in Form eines „Währenden“. Im (Wieder-)Erinnern der eigenen Gedichte wird versuchsweise auch jener Bruch aufgehoben, an dem die Identität negiert, gespalten und aufgelöst ist. Der Wunsch, „seine Kinder“ noch „reifen zu lassen“, zu „reinigen und für die Welt auszufertigen“, meint ein Aufbruch am Ort des Abbruchs 73 und der Wille zur Überbrückung der absoluten Zäsur nach der zehnjährigen LagerOdyssee sowie die Bekräftigung eines begreifbar Überdauernden. 74 Wie kann eine solche Anknüpfung an die Vergangenheit nach der absoluten Zäsur innerhalb der Biografie gelingen? Was soll bleiben, wenn die frühen Gedichte neu reifen müssen? Welche poetischen Veränderungen ergeben 71 72 73 74

29. 8. 1982 an KNW. Betrifft die vier Hefte von Klage und Bericht. 11. 12. 1961. AR 25087, 1/35, Reel 2, n361. Vgl. Gedicht „Zurück am Ort des Aufbruchs“ im Anhang. Vgl. Vorwort der „Auswahl aus dem lyrischen Werk“, Kapitel 8.4.3.

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sich zwangsläufig und trotz Festhaltens am „Ursprünglichen“, in der notwendigen Rückwendung, oder: Wie gelingt die Umsetzung neuer poetologischer Vorsätze in einer Sprache, die an ihrem traditionellen Ton festhält? Meint „Erinnerung“ und die Bearbeitung des gebrochenen Gedächtnisses das poetologische Konzept überhaupt? Sind „Vergessen“ und „Überschreibung“ noch die einzigen Zeugnisse eines Lebendigen in seinem Vollzug? Welche Ventile öffnet Rosenkranz seinen „Erlebnisstauungen“ nach 1957? Wie sieht sein „Angelus Novus“ aus, vor dem, mit dem Rücken in die Zukunft, die Trümmer zum Himmel wachsen? Ein Vergleich früherer Gedichtfassungen mit späteren ermöglicht keinen eindeutigen Schluss bezüglich unserer Fragestellung – oder es bedarf einer weiteren editionskritischen Erforschung des lyrischen Werks, wie sie hier noch aussteht.75 Das Beispiel „Babylonische Vision“ bzw. „Der Tod in Babylon“ kommt in mindestens vier Varianten vor. Dabei wurde der erste Titel aus Gemalte Fensterscheiben (1936) in der Sammlung Im Untergang II (1988) wieder aufgenommen. Die Fassungen sind hier nahezu identisch, abgesehen davon, dass die spätere Fassung keine Interpunktion mehr aufweist: Abweichungen kommen vor allem in der ersten und dritten Strophe vor. 76 In den Leseproben von 1982 heißt das Gedicht „Der Tod in Babylon“ und ist vermerkt mit dem Entstehungsdatum „1931/63“, in Drei Bücher der Liebe wurde es im Kapitel „Freunde IV“ lediglich mit „CIX 32“ nummeriert. Beide Versionen unterscheiden sich stark von den oberen beiden. 77 75 Zu bedenken ist hierbei, dass vor allem im Band Bukowina einzelne Gedichte von Doris Rosenkranz lektoriert und in Zusammenarbeit mit Moses Rosenkranz zuweilen auch leicht verändert worden sind. 76 Statt „blaß auf seinem Lager ruhend“, „sitzt“ Alexander in der Untergang-Version „müd auf seinem Feldbett“; seine Treuen „läßt“ er nicht „vorbei marschieren“, sondern „sieht sie vorbeimarschieren“. Während in der ersten Version „alle“ „aus dem Dunkel“ treten und sich aus ihrem „Dasein“ schöpfen, treten sie in späteren Varianten in die „Tiefe“ und schöpfen aus ihrem „Dunkel“. 77 In den Leseproben „grollt“ Alexander „im Feldbett“ und sieht „seine Treuen, aufgeboten zu marschieren, „heulend defilieren“; derselbe sitzt in Drei Bücher der Liebe „vorgeneigt“ da und „sieht“ seine Treuen, die in Trauer defilieren“, „vorbeimarschieren“ usw. Die grafische Darstellung der Strophen ist ebenfalls anders, in jeweils nach rechts unten stufenweise abfallenden Versen, wobei der letzte Vers einer Strophe immer linksbündig beginnt.

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Die Erinnerung an die absolute Zäsur ist im Wiederlesen der frühen Gedichte allem voran ein Erinnern der Form. Denn die erinnerten Erlebnisse sind in der Lyrik bereits verdichtet und werden über ihre „harmonische“ Form zum Positivum, über ihre Ordnung als ein vorgestelltes Ganzes ins Gedächtnis zurückgestellt. Daraus entsteht eine Restitution, die Cesare Pavese 1935 wie folgt in sein Tagebuch schrieb: „Die Bemühung um eine Erneuerung ist an die Manie gebunden, etwas aufzubauen. Ich habe der Sammlung lyrischer Gedichte, die Anspruch darauf erhebt, ein Dichtwerk zu sein, dichterischen Gesamt-Wert schon abgesprochen, und doch denke ich immer daran, wie ich meine kleinen Gedichte ordnen, wodurch ich ihre Bedeutung erhöhen und vollständig machen könnte. Wieder scheint mir, als tue ich nichts weiter, als Seelenzustände darlegen. Wieder fehlt mir, dass ich sehen könnte, das Werturteil der Welt. Gewiß ist, daß die genau berechnete Anordnung der Gedichte im Sammel-Dichtwerk nur einer rein dekorativen Freude entspricht […]“ (Pavese, 1956, 21). Ordnen ist nach Pavese immer auch ein Darlegen seiner „Seelenzustände“ und somit ein aktives Begreifen des Gefühlsmäßigen. Dem einzelnen Erlebnis wird durch die Ordnung und das Platzieren eine höhere Bedeutung zuerkannt, wobei neben diese Frage nach einer neuen Bedeutung des Erlebnisses auch jene nach einer neuen Bedeutung der (traditionellen) Form tritt. Einer der bisher ausführlichsten Rezensenten zu Rosenkranz’ spät gedrucktem Lyrikband Im Untergang ist Heinrich Erk, der hierzu bemerkt, dass nur eine „ungefähre Ordnung bestehe, aber kein wirklicher Zusammenhang: Die einzelnen Gedichte kommunizieren nicht miteinander“ (Erk, 1995, 208). Für das Ordnungsmuster in den späten Gedichtbänden von Moses Rosenkranz wird diese Infragestellung des Einzelnen innerhalb des Ganzen relevant. Daher werden für die Betrachtung des Spätwerks hier die Gedichte auch im Kontext ihrer Bände besprochen. Die „Manie“ der Restitution über die Form der Ordnung wird den Fokus auf das „Leben“ als solches legen und seine Bedeutung bzw. seine Gestalt über die Ordnung des einzelnen Gedichts und somit seiner erzählten Geschichte herausstreichen: in einem Leben als Zusammenhang. Eine Ordnung ist aber auch immer eine Form von Narration, deren Muster hier befragt werden muss. Das Erzählen über „Splitter“ und Fraktate als kleine geschlossene Einzelformen zeigt in der Anlage bereits ein Wider-

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sprüchliches auf. Das auch von Pavese beschriebene Ordnungsverhalten zwischen bloßer Dekoration und Bedeutungserhöhung über den etablierten Zusammenhang zeigt sich bei Rosenkranz vor allem in der Divergenz von Selbstfindung und Selbstentfremdung. Je tiefer die Suche nach dem Wesentlichen, desto näher mag das Ureigene entgegentreten, desto mehr Komponenten und Variationen wenden das Selbstbild in ein Vexierbild pluraler Erkennungsmerkmale. Diese Problematik wird hier im Unterkapitel „Eigennamen“ (8.4.3) über das Beschriften und Signieren der Gedichtbücher besprochen. Rosenkranz hat sich nie in einer solchen intellektuellen Radikalität zur Sprache nach Gulag und Auschwitz geäußert wie Schalamow. Seine Suche nach einer neuen „Ordnung“ im eigenen Werk hat aber auch jene nach einer neuen Sprache, wie sie auf Schalamow oder Sinjawskij zutrifft, welche den Inhalt von der Form nicht mehr unterscheiden, genauso beschäftigt. Das (er-innerte) Leben „im Rahmen“ oder ein „Leben in Versen“ wird bei Schalamow zur Prämisse einer neuen Poetologie nach dem Lager. Der Poesie kam für die Existenz im Lageralltag die Funktion zu, „verstehen“ zu wollen, „wie er [der Dichter, gemeint ist hier Boris Pasternak] mit dem Leben sprach und wie das Leben in ihm sprach“ (Schalamow, 2009, 44). Schalamow verweist damit auf die Bedeutung und das Interesse im Lager am Einzelmenschen, darauf, in welchem Verhältnis der Dichter zum Leben und mit seiner Dichtung dem Leben im verbalen Dialog gegenüberstand. Die poetische Form wird als Reaktion auf das Leben und die (un-)menschlichen Zustände darin verstanden. „Der heutige Mensch überprüft sich und sein Handeln […] an Ereignissen und Menschen des lebendigen Lebens – des Lebens, dessen Zeuge und Teilhaber der Leser selbst war. Und dabei: Der Autor, dem man glaubt, muss ‚gleichzeitig Zuschauer und Schauspieler im großen Drama des Seins sein‘“ (Schalamow, 2009, 9). Obgleich in einer dokumentarischen Weise, in einer nackten, die Ästhetik verweigernden Prosa hält Schalamow an einem „lyrischen“ Formkonzept fest: Allen Erzählungen in „kleinen Formen“ ordnet er eine „einheitliche, dem Autor vertraute musikalische Stimmung“ zu, was Rosenkranz immer wieder als Lied oder auch Rhythmus beschreibt: „Die Komposition des Zy-

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klus ist vom Autor durchdacht […] Er wollte nur das lebendige Leben gewinnen“ (Schalamow, 2009, 17). Das lebendige Leben ergibt sich auch bei Rosenkranz maßgeblich über ein zyklisches Ordnungsmuster. Darüber dementiert Schalamow die Grenze zwischen Form und Inhalt, da „der Autor [Schalamow] den Unterschied nicht versteht“. „Der Autor meint, dass die Bedeutung des Themas selbst bestimmte künstlerische Prinzipien diktiert“ (Schalamow, 2009, 23). Die Bedeutung des Themas und somit des Erlebnisses, wobei es sich um Aufzeichnungen und Dokumente aus dem Gulag handelt, präpositioniert die notwendige Struktur als künstlerische Form: eine literarische Form des „lebendigen Lebens, die zugleich umgewandelte Wirklichkeit, ein umgewandeltes Dokument ist“ (Schalamow, 2009, 23) und auch nur so Glaubwürdigkeit erlangt. Was aus der Gedichtanalyse der Frühzeit bereits hervorgegangen ist, nämlich die Differenzauflösung zwischen Held und Dichter, Figur und Erzähler, bestätigt Schalamow bezüglich einer Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit bzw. Referenzbestimmung im konkreten Kontext der Lagererfahrung neu. In dieser Überwindung der Grenzen gründet letztlich seine Überzeugung, „dass die Kunst – die Unsterblichkeit des Lebens ist“ und: „das, was die Kunst nicht berührt, wird früher oder später sterben“ (Schalamow, 2009, 44). Der Übergang von der ersten zur dritten Person, das Einführen des Dokuments. Die Nutzung mal echter, mal erdachter Namen, der hin und her wandernde Held all das sind Mittel, die einem gemeinsamen Zweck dienen (Schalamow, 2009, 17).

Im Durchdringen der Ebenen schließlich, im „leeren“ Raum zwischen allgemein verstandener Wirklichkeit und Fiktion, besteht die Errettung des unsichtbaren Helden, der „stumm und ohne Biografie“ im Lager untergegangen ist. Aber die Redewendung in die Vergangenheit ist dennoch oder gerade deshalb elementar: „dank Ihrer Gedichte [Pasternaks], dank jenem Weltempfinden, das von Ihren Gedichten vermittelt wurde – eben von jenen, die jetzt dem Feuer übergeben werden“, haben Menschen „gelebt“, „überlebt“ (Schalamow, 2009, 45). Und wenn sich Rosenkranz an den Rhythmus seiner Kindheit auch in Norilsk erinnert, so mag es daher rühren, dass auch in dieser Form-Frage (Reim, Rhythmus) ein „Leben“ erin-

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nert wird, wie es sich bei Rosenkranz im Vergleichen mit Bildern und/oder Personen zeigt.

8.4.1 Späte Bücher: Ordnen Die weitgehend chronologische Betrachtung der einzelnen, bisher unedierten Gedichtbände, die hier nicht alle vollständig besprochen werden können, fokussiert zuerst die Ordnung der jeweiligen Sammlung sowie die Zusammenhänge unter ihnen; anschließend wird auf die unterschiedlichen „Verfasser“-namen und Signaturen, die Rosenkranz als Pseudonyme bis in die 1980er Jahre wählte, sowie auf die Vorworte und Einleitungen eingegangen, die für die späten Gedichtbände eine eigene Betrachtung wert sind. Die edierten Gedichtbücher Im Untergang I und II (1986/88), Bukowina (1998) und Visionen (2008) werden in diese Untersuchung nur am Rand aufgenommen, da es sich einerseits nicht um eigene Sammlungen und Zusammenstellungen von Moses Rosenkranz und seiner Frau Doris handelt, 78 andererseits auch die Gedichte in den unedierten Bänden bereits angelegt waren. Das Lied davon Eine undatierte Sammlung von wiederum undatierten Gedichten ist Das Lied davon: „ein Buch des Trostes aus dem fremden Wort“, wie der Verfasser im Paratext „Vorgefühl“ schreibt. 79 Aus dem Titel „Das Lied davon …“ leiten sich die einzelnen Kapitel „… wovon …“ ab: 1) Von den sagbaren Anfängen des Verfassers 2) Wovon. Von den seismographisch eingegebenen archäologisch-historischen Phantasien des Verfassers 3) Wovon. Von des Verfassers Selbstverständnis 4) Vom Spektrum der Liebe 78 Die beiden Untergang-Bände (1986/88) sind die letzten von Rosenkranz selbst initiierten Sammlungen sowohl früher als auch später Gedichte – als ein „Jahrhundertbuch“. 79 In: Das Lied davon, S. 19.

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5) Vom arischen Krieg 6) Vom Volk, das seinen Stiefsöhnen in Gott … e … e … und Schilderungen dazu 7) Vom [brüderlichen] Gegenlager 8) Von der öden Heimkunft

Die Ordnung zeigt eine epische, lebenslaufähnliche Struktur, die mit den „sagbaren Anfängen“ beginnt und zur „öden Heimkunft“ führt. Während unter 1) einleitende Gedichte über seine Herkunft „aussagen“, „Die [reinigende] Flamme“ (20) sowie „Überlieferung“ (7) vom später auch im autobiografischen Fragment Kindheit geschilderten Kindheitserlebnis des Sturzes in die Feuergrube berichten, werden unter 2) mit stark mythologischen Motiven archäologisch-historische Figuren gezeichnet und auf jene „unsichere Erinnerung“ angespielt, die sich aus den vergessenen Resten in die überschreibbare mythologische Erzählweise rettet. Im Vordergrund stehen die griechisch-antiken und altägyptischen Mythologien; vereinzelt werden auch germanische Heroenmotive sowie urgeschichtliche Zeugnisse aufgenommen. „Des Verfassers Selbstverständnis“ in 3) drückt sich in einer Übersicht der hier subsumierten Gedichte aus: in der Rückwärtsgewandtheit, aber auch im Bekräftigen eines bedingungslosen Schreibens. Dieser Legitimierungsversuch geht in den folgenden Abschnitten der „Liebe“ und des „Krieges“ in eine selbstverständliche Notwendigkeit über, die sich aus der Grundbedingung des Gefühls der „Liebe“, der „Sehnsucht“ nach Beziehung sowie ihres Antipoden, des Zweiten Weltkrieges, ergibt. Punkt 6) greift das Thema der Erinnerung auf, wobei dem ursprünglichen „Dorf“ und dem „vollendeten Werk“ in einer umfassenden Klage und im „Traum“ (S. 84) Visionäres entgegengehalten wird. Dieses verhält sich zu Punkt 7) wiederum buchstäblich als „Gegenlager“: „Das Gefängnis“, Workuta und die seelische Einengung, Isolation und Beschränkung stellen der erinnerten Idylle die Negativerfahrung gegenüber. „Das wahre Sein“ (S. 115) besteht aus „Gespenstern mit Mappen“, die „dich ordnen“: „da liegst du schwarz auf weiss/ bist draussen nur Attrappe/ hier surrt dein Lebenskreis“. Aus diesem „Kreis“ (auch S. 117) formiert sich bei der „öden Herkunft“ eine Ankunft im „leeren“ Raum. Der „Verfasser“, wenn er als lyrisches Ich aus den ersten Kapiteln auch in diesen späteren gesehen werden soll, tritt als „Gemiedener“ in „Einsamkeit“ (S. 134) seinem „fremden Spiegelbild“ (S. 133)

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gegenüber. Das „wahre Sein“ ist eine „Attrappe“. Was auf Seite 125 in Kapitel 7 bereits über die „Inschrift“ 80 vorweggenommen wurde, wird im letzten Kapitel über eine verstärkt reflexive Bildlichkeit die Bedeutung des Namens sowie der „Inschrift im Stein“ (S. 138) als Verewigung eines Selbstbildes für die Unendlichkeit „erinnert“. Bedeutend für diesen Band sind die Themen Einsamkeit, Bild, Feuer, Stein sowie die Darstellung eines ruhmlosen Helden. Der Heimgekehrte ist ein „Gemiedener“ und „Einsamer“, ein Unsichtbarer mit einem toten Körper. Der „Blick zurück“ (S. 128), „Vergebliche Heimkunft“ (S. 128) sowie „Zurück“ (129) und „Perspektive“ (S. 130) sind Versuche, die „Freiheit“ zu begreifen, denn „was konnte ich erhoffen / was lockte mich hervor?“. Und wie der „Angelus Novus“ von Biermann/Benjamin reicht der Blick zurück mit dem Rücken zur Zukunft. Weshalb ich kam begründen könnte nur der Traum ich würde wiederfinden der Kindheit breiten Baum

„Der Gemiedene“ aber hat sich selbst verloren: Wenn ich durch die Straßen gehe forsche ich in jedem Angesicht, ob ich etwa mich erspähe denn in mir da bin ich nicht ausgeflogen und entschwunden bin ich mir weiß nicht wohin was zurückblieb sind die Wunden und die Toten die nicht fliehn.

Die ans Ende der Sammlung gesetzte „Inschrift in Stein“ (S. 114) gibt dem „Geist“ „überm Grabe“ einen sichtbaren Ort: „Er dauert fort, wenn längst der Qual entzieht. Mein schwacher Leib / den hier ein Sinn beseelt“. Die Suche nach dem „wahren Sein“ führt ins geistig Flüchtige, aber zugleich an

80 „Keine Hoffnung schließt mit dir den Kreis / letzter Spruch des Dichters der zuletzt / in den toten Erdenstoff im Eis / sich in dir zur ewigen Ruhe setzt“ „Inschrift“, S. 125.

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den Ort seiner Bewahrung im reglosen Stein. Der Name und das Wort („Inschrift“) sind einzige Spuren dieses Wesens, das sich vom Körper losgelöst hat als Grund seiner Qualen. Es scheint erneut jene Divergenz auf, in der das lyrische Ich ein ephemeres Wesen darstellt, aber nur als Inschrift im Stein – als ein Totes – anwesend wird. In einem anderen Kleid der Sprache muss dieses Wesen notwendig aus der „Dunkelzelle“ (S. 117) des Lebens hervortreten, aber wie? In einer emphemeren Schrift aus Feuer und Flamme? 81 Allein gelassen mit der Zeit in astraler Schwärze halt ich in die Einsamkeit meines Lebens Kerze. Ihre Flamme sich ernährt von dem was mich einst nährte und nach vor nicht länger währt als sie vergangen währte. So fühl ich mich schön erfüllt da ich mich doppelt habe einmal als mit Fleisch ein Bild und hier als Geist im Grabe.

Das Leben (als „Fleisch“) ist im „Bild“ ein abwesendes; anwesend ist der Tod als „Geist im Grabe“: ein durch die Flamme doppeltes Ich in „astraler Schwärze“. Im „Gleichnis“ (S. 136) vermag das Ich schließlich aus sich selbst herauszutreten, wo „der Bach der Wüste“ das „Bild“ ist, aber „ich rede, wo kein Wort mehr gilt / ich blick, wo nichts mehr sprießt“. Das „astralische“ Dunkel wird in „Furchtbare Schatten“ (S. 130) „belichtet“ von „Blicken“ der Welt „auf Flimmerscheiben“, wo die „Schatten das Leben vertreiben“ und nichts mehr bleibt als das Nichts. Zwischen diesem Gleichnis des Nichts und dem Überdauern in der Inschrift im Stein scheint ein Widerspruch auf, der auf die Gebrochenheit des „Verfassers“ zurückverweist. 81 Vgl. den Abschnitt „DIE FLAMME“ im Band Gedichte (S. 55), einleitende Verse: „Tanz, Flamme, hin, das weltdicht Dunkle teile, Dich liebt die Weite, weil Du Licht und Eile“. Darauf folgt das Gedicht „Wer nach dem Tode leben will“.

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Auch Die unerhörte Schlacht ist ein undatiertes Manuskript unter dem Pseudonym „Martin Brant“. Das erste Buch ist mit „Vorspiel (1936)“ überschrieben, das zweite mit „Die Schlacht (1941)“, das dritte mit „Herbst (1942)“, das vierte heißt „Marianne im Kerker“ (1942/43) und das fünfte und letzte Buch „der Pfuhl“ (1944/45). Der historische Grundaufbau wird von einem lyrischen Ich gegeben, das in der „Hölle“ immer wieder „zu singen gedacht“. In der „Höllenlandschaft II“ (S. 111) „stehn um einen Abgrund im Kreise, in Galgenkrägen, dreizehn Greise, gekrümmte Knie wie Sockelträger“, „Weltmördern gleich, und nicht wie Kläger“. 82 In diesen Band ist auch die „Blutfuge“ aufgenommen, wo „in stilles, grabestiefes Orgelsummen“, „wieder Christi Blut“ „tropft“. 83 „Vor den Fenstern“ Einen Band, der nie zustande gekommen ist und für diese Untersuchung auch nicht aufgefunden werden konnte, erwähnt Rosenkranz in einem Brief an Rübner unter dem Titel Vor den Fenstern. Er muss unmittelbar nach dem Gulag in Bukarest entstanden sein. Das Buch enthält drei Teile, respektive der Bund, der 300 Seiten stark sein wird, enthält drei Bücher, benannt: Die Landschaft, Das Gewitter, der Regenbogen – der ganze Band heißt: Vor den Fenstern, als Autor zeichne ich Moses R. Jedes Buch zerfällt in Zyklen, insgesamt zwölf: 1) Die Landschaft, 2). Flötenspiel, 3). Im Schmerz 4). Die Flamme; das ist das erste Buch: Die Landschaft. Das zweite Buch: das Gewitter, enthält die Zyklen: 1) Die unerhörte Schlacht, 2) Der Pfuhl, 3). Marianne im Kerker, 4). Das Ende 5) Die Gräber. Das dritte Buch: Der Regenbogen, umfaßt die Zyklen, 1). Die Heimkehr, 2). Den teuersten Toten 3) Das neue Lied. Es sind insgesamt 185 Gedichte oder 3892 Verszeilen. Das Werk ist recht geschlossen (homogen) und beinhaltet eigentlich, auf lyrisch, den Roman meines Lebens und meiner Zeit durch Gefühl aufgenommen. Das dritte Buch (Der Regenbogen) ist nach meiner Genesung entstanden. Das Buch wird mit einem Vorwort von Sperber und einem Lichtbild nach mir erscheinen. Ich habe die Absicht, mich auf dem Bilde mit

82 AR 25087, Reel 3, n832 ff. 83 In diesem Gedicht klingt die „Polyphonie“ des späteren Pseudonyms „Orge Lund“ an, vgl. Kapitel 8.4.3.

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einer Rose in der Hand zu zeigen. Das soll bedeuten, dass ich trotzallem zart und lebensfroh geblieben bin. (23. x.)

Die Hervorhebung des Verfassers „Moses R.“ sowie das „Lichtbild nach mir“ deutet einen Hintersinn der „Erleuchtung“ des Selbstbildes an. 84 Der Titel des Bandes erinnert an den zweiten Gedichtband Gemalte Fensterscheiben von 1936. Dass Rosenkranz einen Großteil früher Gedichte in diese Sammlung aufgenommen hat, geht auch aus der Bemerkung hervor, dass er das „dritte Buch“ nach seiner Genesung geschrieben habe. Der dreiteilige Band mit 300 geplanten Druckseiten zeigt eine streng durchdachte Ordnung. Die zwölf Zyklen unterstützen die geschlossene Form, wenn an Rosenkranz’ Vorliebe für die „Zahlensymbolik“ erinnert wird und die Zahl als Symbol der Vollkommenheit bzw. des „geschlossenen Kreises“ verstanden wird. 85 „Die Landschaft“, „Das Gewitter“, „Der Regenbogen“ zeigen über die Nennung der einzelnen Zyklen innerhalb der Bücher eine Gliederung, die den Einschnitt durch das Gewitter in die Mitte setzt, ausgegangen von der Landschaft mit Flötenspiel und mündend in den Regenbogen, der ein nachmaliges Positivum über das tragische Ereignis legt. Nach den „Gräbern“ kommt nicht das Ende, sondern der „Regenbogen“, der als letzter Teil mit dem „neuen Lied“ endet. Dass die „Heimkehr“, im Gedenken „der teuersten Toten“ nach seiner eigenen Genesung entstanden ist, führt die Reihenfolge der Gedichte parallel zu seinem Lebenslauf und lässt die Struktur des Gedichtbandes als „Biografie“ lesen. „Meine Zeit durch Gefühl aufgenommen“ scheint hier aus seinem lyrischen „Roman meines Lebens“ 86 geradezu als poetologische Strategie zu einer Verdichtung der eigenen Zeit und Erfahrung: das „Gefühl“ als Mittel oder Instrument der Sprache oder der Erinnerung, was ohne sinnliche Einstellung keine Unmittelbarkeit des Erlebnisses vermitteln könnte.

84 Der spätere bedeutende und für diese Untersuchung aber nicht zugängliche Band Aurora dürfte als „Morgenröte“ auf diesen Aufbruch nach dunkler Nacht hindeuten. 85 Hinweise auf einen duodekadischen Aufbau alter Kulturen, die kosmischen Zyklen sowie auf eine „astrale“ Symbolik, welche die „12 Tore zum Himmel“, „12 Jünger“ Christi usw. umfasst. Siehe (Endres und Schimmel, 1984, 211 f.). 86 Vgl. Kapitel 7.2.

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Die Einteilung der Sammlung in drei „Bücher“ sowie die Bezeugung „als Autor zeichne ich Moses R.“ verleiht der Gedichtsammlung einen religiösmystischen Unterbau. Die Verknüpfung von Religion und Mythologie in der biografischen Struktur wird am Beispiel des Zyklus „Regenbogen“ sinnbildlich. Der Regenbogen ist ein geläufiges Bild in der Lyrik von Rosenkranz, das aus dem Volksglauben stammt, aber auch in der Bibel als Bild einer Brücke zwischen Himmel und Erde genannt wird. Nach biblischer Erzählung versprach Gott am Ende der Sintflut: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (1. Mose 8,21). Der Regenbogen als Zeichen des Friedens zwischen Mensch und Gott geht auf altorientalische Tradition zurück, nach der das Phänomen als abgesenkter, also nicht schussbereiter Bogen Gottes interpretiert wurde: Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe“ (1. Mose 9, 14–15).

Im Judentum ist der Regenbogen daher bis heute ein wichtiges religiöses Symbol. 87 In Anregungen und Daten zu einem Vorwort 88 schreibt Rosenkranz, er habe die „Abwehr gegen den Krieg [zweites Buch] im Dritten Buche (Regenbogen) triumphierend wieder aufgenommen“; in dieser Verordnung, die unter dem Titel „Regenbogen“ den Krieg zu überwinden, den historisch-biografischen Bruch zu überbrücken sucht, liegen Bezüge zum Alten Testament. Der Zusammenhang der Gedichte bekommt darüber hinaus eine Bedeutung in der Beziehung von Ich und Welt: Auch der Teil „Regenbogen“

87 Wer einen Regenbogen sieht, spricht: „Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott; du regierst die Welt. Du erinnerst dich an den Bund und bleibst ihm treu. Du stehst zu deinem Wort“ (zit. nach Seder ha-Tefillot – Das jüdische Gebetbuch, S. 539; vgl. bBer 59a). 88 AR 25087, Reel 1, n927 f.

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ist nach seiner Genesung entstanden, unter hoffnungsvollen Vorzeichen, die auch die Beziehung zwischen Ich und Welt wieder binden. Der Verfasser „mit einer Rose in der Hand“ zeugt denn auch für ein unverblühtes oder wieder aufblühendes Gesicht, das im „Lichtbild“ als unmittelbarer, lebendig „realer“ Moment für die Ewigkeit verwahrt wird. Es erinnert hier aber auch an die Kunstpostkarten mit Porträts der Spätrenaissance, die Rosenkranz von Rübner angefordert hat. Vom 16. Januar 1962 ist ein Brief an Rübner erhalten, in dem Rosenkranz von „fünf Büchern“ schreibt. Diese nennt er „Das Reich in der Mitte“ oder Leuchten und Erkennen, in denen wiederum Die Tafeln und andere „frühere Stücke“ aufgenommen werden sollen. Dieser Band hieß zuerst Zum erhabenen Arrarat und wurde dann „nach der Schlußzeile meines besten Gedichts, das ich 1935 in der von Dir bestimmten Phase in der Str. Bolintineanu[?] 5 (Bukarest) geschrieben habe“, umbenannt. Nun scheint mir dieser ganz neue große Band wesentlich nur dieses kleine Gedicht zu enthalten. Es beginnt „Ach warum in aller Pein“. Du hast es dort. Darin liegt auch unser ganzes Leben verdichtet.89

Die Ordnung soll folgendermaßen aussehen: Dreh drin mit dem Geschöpf (Kriegsbuch und Heimkehrer) Zeichen Gräber und Inschriften Der Unbekannte die vorübergehend (Liebesgedicht) Die Flamme Als Sonderband konzipiere ich „Die Sybille Aurora“, der mich im März beschäftigen wird. Danach werde ich mich auf die Verlegersuche machen und innerlich auf die Prosaarbeiten vorbereiten, die zu beginnen ich unterbewußt schon sehr ungeduldig bin. 90

Ob es sich bei „Die Sybille Aurora“ um den in der Korrespondenz immer wieder genannten Band Aurora handelt, kann hier nur angenommen werden. 91 Sicher aber geht er den Aurora-Band unmittelbar danach an: 89 5. 1. 1962. AR 25087, Reel 1, n914. 90 18. 1. 1962. AR 25087, Reel 1, n936 f. 91 Die fünf per Post gesandten Hefte sind verloren gegangen. Rosenkranz schickte

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Dir werde ich das erste fertige Exempl. der 5 Bücher senden, um noch vor den geschäftlichen Versendungen Deine Meinung, Empfindungen und Eindrücke zu vernehmen. Danach will ich im März den Aurora-Band vornehmen. Diese Arbeit ist nicht nur eine des Umgießens, sondern auch eine der Durchdringung und Erkenntnis dessen, was sich da zum Ausdruck und zur Gestalt drängte. Das ist eine ganz neue Bemühung, mit der im Einklang nun die Bücher geordnet werden. Du wirst staunen, sie in ihrer jetzigen Ordnung erblickend. Sie wiedergeben eigentlich die geistige Substanz meines Lebenslaufs, der mir nun als gedankliches Erlebnis fast schwerer fällt, wie als biografisches in den Momenten seiner Aktualität. Wenn ich bedenke, dass Du dich bald mit deinen großen Augen und Polsterfingerlein neuerlich nach- und einfühlend diesen Erlebnissen unterziehen willst und wirst, wird mir geradezu angst um Dich. Das ist keine Übertreibung. 92

Die Erinnerung als „gedankliches Erlebnis“ ist in ihrem poetischen Ausdruck schwerwiegender als die Gegenwart des Schicksals zu ertragen. Dass Rosenkranz mit seiner ordnenden Beschäftigung die Grenze der eigenen Biografie immer wieder angeht und den Abgrund quasi umkreist, stellt ihm eben auch immer wieder die Gebrochenheit seines Lebens vor Augen. Die „Grenze“ ist ein Begriff der „Ordnung“, oder: Die (ver-)bindende Arbeit ist eine permanente Konfrontation mit den einzelnen Enden. Dies führte dazu, dass er bald darauf seine Versbücher als „esoterisch“ bezeichnete und sie vorerst von sich schob. Kurz nach der Übersiedlung nach Deutschland schreibt er am 24. März 1962 am Münchner Bahnhof: „[…] Das Urteil: ‚esoterisch‘ über meine Verse im letztexponierten Brief bezieht sich auf ihr Verhältnis zu meiner gegenwärtigen Wirklichkeit, die nichts mehr enthält davon, was in ihnen zertretet erscheint“.93 Nach einer umfassenden Schaffenskrise nimmt er am 16. Mai 1963 die Arbeit an den Gedichten wieder auf und stellt aus „alt-neuen Gedichtenbüchern“ eine neue Auswahl zusammen. Es handelt sich dabei um Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen, von denen nur mehr das Vorwort und Inhaltsverzeichnis vorhanden sind. das Buch „Leuchten und Erkennen“ erneut an Rübner und diese Sendung traf am 6. März 1962 bei ihr ein. 92 AR 25087, Reel 1, n927 f. 93 AR 25087, Reel 1, n997.

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Auswahl aus dem lyrischen Werk und Drei Bücher der Liebe 1978 stellt Rosenkranz „aus den Manuskripten“ die Auswahl „Das Land“ / „Geliebte Menschen“ / „Der Krieg“ / „Archäologie“ / „Die Flamme“ 94 zusammen. Diese Sammlung wird durch ein Vorwort sowie mit „Anstatt einer Vorrede“ ergänzt und mit dem Pseudonym „Orge Lund“ versehen. Daneben besteht aus den Jahren 1978/1979 ein Band unter dem Titel Das lyrische Werk, mit Untertitel: „sofern es gerettet wurde und bestehend aus den Manuskriptbänden: Die verlorene Provinz, Die Tafeln, Liebe, Der Krieg, Das jüdische Märtyrium, Archäologie, Die Flamme“. Es muss sich um ein direktes Umarbeiten, um eine Erweiterung des Bandes von 1978 handeln, da auch dieser mit vom „unbekannten M. R., Pseudonym Orge Lund“ gezeichnet und handschriftlich mit Moses Rosenkranz unterschrieben wurde. Beide Werke sind unvollständig. Hervorzuheben sind Vorwort und Vorrede: „Aber er harrte noch andere sieben Tage, und ließ eine Taube ausfliegen; die kam nicht wieder.“ Die zwei voraufgesendeten Tauben waren zurückgekommen, sie hatten nicht gefunden, „da ihr Fuß ruhen konnte.“ Was ich hier im Westen jetzt aus dem Kasten lasse ist meine dritte Taube. Hoffentlich kommt sie nicht wieder zu mir zurück und ich kann das Dach tun von dem Kasten und hinausgehen, endlich, mit allem was bei mir ist, „daß sie sich regen auf Erden und fruchtbar seien.“ – Mit 14, als Deutsch für mich noch eine Fremdsprache war, schrieb ich mein erstes Gedicht. Nicht lange danach, doch hatte ich indessen mich schon eingeübt in der Sprache und im Leben, kannte ich bereits meine Aufgabe und steckte mein Ziel ab: Über der Flut halten sollte ich das deutsche Gedicht bis sichtbar würden „der Berge Spitzen“ und das Wasser hinunterfällt von der Erde, daß nicht bloß Raben sich wiegen über ihr und sich behaupten außerhalb des Kastens sondern auch Tauben finden, „da ihr Fuß ruhen könnte“ […].

Das „heimliche“ Wiederauftauchen aus der Verschollenheit bzw. das Festschreiben des Verschollenseins aus den Leseproben eines Verschollenen wird mit dieser Vorrede dem „Wunder“ nach der Sintflut gegenübergestellt. Die in einfache Anführungszeichen gesetzten Bibelzitate stammen aus der Ge94 In diesem Kapitel ist, leider nur im Inhaltsverzeichnis, ein Gedicht namens „Der Neue Moses“ vorgestellt.

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nesis (1. Buch Mose). Im Vorwort vergleicht sich der Verfasser mit Noah, der nach der Sintflut 601 Jahre alt war. Drei Bücher der Liebe ist eine dreiteilige Zusammenstellung aus den Büchern „freundinnen“, „archäologische liebesnacht“ und „freunde“ von 1982. Die Kleinschreibung fällt hier auf. Rosenkranz hat ansonsten auf keine Moden der deutschen Sprache reagiert; insofern lässt sich diese Entscheidung hier möglicherweise als „jugendliches“ Moment werten, als Setzung von Jugendlichkeit und/oder Verjüngung über die Schrift, wie an anderer Stelle im Bild der Rose. In diesen Büchern sind die Gedichte ohne Titel versehen, aber nummeriert. Klage und Bericht Die vier Hefte Klage und Bericht stammen ebenfalls von 1982. Rosenkranz nennt sie ein „Jahrhundertepos“. 95 Bei der Sendung einer Textgruppe schreibt er am 21. Februar 1981, dass das Mittelstück „Verweigerung“ im Kapitel „Der Neue Moses“ durch „Resignation“ ersetzt würde. Die mehrmalige Anspielung auf den Namen „Mose“ scheint hier Konzept, das auch zu den Ausführungen über den Regenbogen aus dem Buch „Mose“ passt. Das außerliterarische Ich wird im Eigennamen in die lyrische Figur des biblischen Mose übertragen. Diesen Band setzt Rosenkranz unter das Kürzel „MoRo“, um dessen Wahrnehmung er bei der Edition seiner sieben Gedichte in der NZZ 1982 auch mehrmals die Redaktorin Marianne Jelzer bittet (KNW am 1. 10. 1982. Siehe auch Kapitel 8.4.3). Der zweite Band besteht aus den Teilen „Das Neue Märtyrium“, „der Kinder“, „der Juden“, „der Sinti u. a. Träumer“. Dieses Heft endet auf Seite 50 mit dem Gedicht „Ich verzweifle“, der erste Vers allerdings schließt unmittelbar in die Verneinung des Titels aus: Ich verzweifle über dem Tod nicht darüber dass dieser Tod überdauert und überstanden wird, übertrauert, und daß es dem Herzen zu brechen gebricht […] 95 An KNW am 8. 6. 1982. Aus dieser Sammlung sind die Editionen Im Untergang I und II hervorgegangen.

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darüber dass ich noch dieses Gedicht hier sagen mag, und ein Ohr ihm noch lauert; darüber darüber … wo ist das Wort?

Wie im Band Das Lied davon, wo am Ende „kein Wort mehr gilt“, wird hier nach dem Wort gesucht, dem „ein Ohr noch lauert“. Entgegen des Titels, der von der Verzweiflung spricht, wird im Gedicht das Gedicht selbst reflektiert. Die Worte über den Tod, der „übertrauert“ und „überstanden“ wird, werden zu einer Selbstreflexion der Sprache im Bild des „Darüber“. Zwar sind es die „Toten, die nicht fliehn“ (aus: „Das Lied über dem Abgrund“), aber der Tod wird im Beschreiben des leeren Abgrunds selbst überschrieben. Der Tod, der „übertrauert“ wird, oder das Herz, das „zu brechen gebricht“, sind doppelte Negationen, die im zweifachen „Darüber“ positiv enden. Dazu schreibt er an Rübner am 6. August 1982: „Als eines der Ziele dieser Epopee sah ich, während ich sie verfaßte (1939–1969), sah ich die Schaffung einer Sprachbariere [sic.] gegen die Verwässerung der Hauptdiktaturen zum Zuckerwasser von Legenden + Mythen, die Rote kommt freilich erst im 3. Heft ins Bild“. Das dritte Heft konnte leider nicht aufgefunden werden. Das vierte Heft ist mit „Wieder zu Haus“ betitelt und in zwei Teile gefasst. „Wieder zu Haus I“ und II, in denen des Dichters Entlassung aus dem Gulag sowie die unerträgliche, auch kaum mehr nachvollziehbare Befreiung aus jahrelanger Haft Thema geworden sind, zeigen die Unmöglichkeit der Selbstdistanzierung in und durch die Sprache. Die Erinnerung an diese unmittelbare Vergangenheit ist dabei in einer Gegenwart angekommen und hat diese in solchem Maß angegriffen, dass sich das außerliterarische wie das lyrische Ich nur noch im „Kreis der Schrecken“ dreht und nicht mehr herausfindet aus dem „vertrackten Haus, wo alle Anderen schlafen“ (Gedicht „Kreislauf“). Der tote Mensch ist „wie Gott“ ein „Auferstandener“ im Gedicht „Derselbe“ (S. 6). Er „bildet sich wieder zusammen“ („Der Mensch“, [S. 3]) als Geist, dessen „Augen aber noch leer sind“: „voller Würmer im Blick“. Dieser vierte Band endet mit dem „Sturm …“, „der mich heimträgt zu den Toten“ (S. 46). Der zweite Teil „Zu Haus II“ führt das Wort als „Mantel“ vor (im Gedicht „Der Schützende“) und als „Seelenhauch“ „aus einem Reiche“, wo „die Seele ihren Körper vergessen hat“.

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Das eigene Leben schlägt wie in Das Lied davon einen Kreis: 96 vom Ende zurück zum Anfang, in die Frühphase der eigenen Lyrik und an den Schöpfungsort der eigenen Sprache, der zugleich die Geburt des lyrischen Ich bedeutet. Trotz der inneren Zusammenhänge sind die Gedichte aber auch sehr unterschiedlich. Frühe überarbeitete Gedichte stehen neben neuen. Der Blick „zurück“ in die Zeit vor der Verfolgung und Haft ist auch in diesen Gedichten gegenwärtig und zugleich mit Verzweiflung intoniert, an der die (vermittelbare) Sprache zerbricht. Der darin offensichtlich werdende Verlust an Objektivierbarkeit im Gewahrwerden der Welt entfremdet das Individuum seiner Selbst, das sich nicht wiederfinden, -erkennen kann. Hier wird neben „Der Erledigte“ (S. 15) erneut das Gedicht „Der Gemiedene“ angeführt: „Wenn ich durch die Straßen gehe / forsche ich in jedem Angesicht / ob ich etwa mich erspähe / denn in mir da bin ich nicht. // Ausgeflogen und entschwunden / bin ich mir, weiß nicht wohin; / was zurückblieb sind die Wunden / und die Toten die nicht fliehn“. Obgleich der dritte Band in dieser Untersuchung fehlt, zeigt die Notiz von Rosenkranz aus dem zitierten Brief eine mit den anderen Gedichtbüchern vergleichbare Symmetrie oder biografische Struktur: Vorgestellt wird ein Dasein in einer Landschaft, im Krieg und in Zerstörung, bei der Heimkehr, oder: „Wieder zu Haus“ sowie letztlich beim Überwinden des Todes. Wie in den Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen sind die Gedichte aus Klage und Bericht in einem zugleich sarkastischen, tragisch-komischen Ton verfasst, der die späteren Gedichte von den früheren unterscheidbar macht. In der „Einleitung zu den vier Heften der Klage und Bericht“ formuliert Rosenkranz die Bedeutung mystischer, mythologischer Bilder, in denen sich das Eigene hervorbringt, aber auch im Ganzen als Szenerie bereits aufgelöst scheint: […] Die G’schichten gehn uns prächtig ein, wir lernen an den Bildern

96 Auch das Gedicht „Kreislauf“ ist in diesem Band vertreten, diesmal aber mit Satzzeichen, die in den früheren Bänden zumeist fehlen.

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von Fall zu Fall auch so zu sein wie es die Mären schildern. Und müssen wir darüber echt auch mal das Eigne wagen: das tut schon weh, doch ist es recht, denn so tönts in den Sagen. Selbst bei dem eigenen Malheur sind letztlich wir Zuschauer; es ist ein Spiel, wir sind Akteur, ob Opfer oder Hauer […]

„Der Autor, dem man glaubt, muss ‚gleichzeitig Zuschauer und Schauspieler im großen Drama des Seins sein‘“, schreibt Schalamow (Schalamow, 2009, 9). Das große „Malheur“ ist letztlich ein Spiel, bei dem keine Unterscheidung mehr fällt zwischen Opfer und Täter. Leseproben aus den poetischen Manuskripten 1935–1965 Ebenfalls mit 1982 datiert sind die Leseproben aus den poetischen Manuskripten 1935–1965. Diese Auswahl vereinigt Gedichte aus Klage und Bericht, aus Die Tafeln, das in mehreren Bänden aufgeführte Kapitel Die Flamme sowie Drei Bücher der Liebe. Diese frühen wie neueren Gedichte hat Rosenkranz vorwiegend datiert. Dabei stehen Gedichte mit unterschiedlichen Entstehungsjahren nebeneinander. 97 Es zeigt sich, dass Rosenkranz die frühen Stoffe bewusst an die Gegenwart anlehnte, wenn unter „Der Fluch“ die Jahreszahlen „1928/58“ gesetzt sind. In der Nummerierung der Gedichte zeigt sich so bei Rosenkranz ein ganz anderes Verhalten zum bisherigen Ordnungsmuster über Untertitel und Abschnitte. Die Arbeit an der „Zeit“, die Erinnerung vergangener Gedichte sowie ihre Anpassung an die eigene Gegenwart wird hier einmal mehr und anders zum Konzept der Lyrik und somit der eigenen Vergangenheit – mit sich selbst. Zudem ergeben sich aus dem früheren Ganzen aktuelle Reste: Aus dem Gedicht „Die Flamme“ hat Rosenkranz zusammen mit anderen Gedichtfragmenten

97 „Bolota“, 1939 vor „II. Herkunft“, 1961. „Boloto“ russ.: Der Pfuhl, der Morast.

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„Splitter“ (S. 5) zusammengestellt; ein Verfahren, das insofern überrascht, als er sich ansonsten vehement „Amputationen“ und einem nur stellenweisen Zitieren widersetzte. Ein Erinnern der eigenen „Urvisionen“, wie es sich Rosenkranz unmittelbar nach 1957 vorgenommen hat, wird dabei fragwürdig oder aber die Erinnerung wird in den Splittern als solche erst sichtbar und ihre Fragmente für eine schöpferische, poetische Zukunft nutzbar.

8.4.2 Zusammenfassung Wenn die obige Erläuterung der Gedichtbände auch nicht vollständig ist, lässt sich dennoch ein Ordnungsmuster als poetologisches Verfahren erkennen, das in eine Narration überführt. Als Antwort auf die Frage nach einer poetischen Figur der Gedichtbücher hat sich eine biografische, zyklische Struktur ergeben. Diese zeigte sich zudem in einer Geschlossenheit und Symmetrie, die meist in drei oder auch fünf Büchern aufgehen und über den „Blick zurück“ in einem „Kreis“ schließen. Das Ordnen führte Rosenkranz akribisch durch. Einzelne Gedichte, aber auch einzelne Kapitel wie „Die Flamme“ oder die „Liebe“ und der „Regenbogen“ sind Leitmotive, welche auch die Ordnung der Gedichtbände bestimmten. „Die Flamme“ steht dabei am Anfang oder in der Mitte der Bücher, während das „Lied“ sowie die Reflexion der Sprache und des Wortes konsequent mit einem Auferstehungsimpuls, der Überwindung des Todes am Ende der jeweiligen Sammlung, einhergehen. Die Form eines „Romans des Lebens“, der „über das Gefühl aufgenommen wurde“, wird in diesen Ordnungen zu einer Suche nach einem quasi sichtbaren, zeugenfähigen Verhältnis zwischen (lyrischem) Ich und Welt: Das Überholtsein der eigenen Zeit versuchte Rosenkranz so über neue oder zusätzliche Zusammenhänge zu binden. Erinnerte Erlebnisse wurden neu, in einer „zyklischen Linie“ des Schicksals, welche das eigene Leben wiederholbar, aber auch mythologisch erzählbar wiedergibt; eine Kon-Textualisierung in größere „Zusammenhänge“, welche den schmalen Grat, die Trennung von Wirklichkeit und Traum in einem prophetisch-phantastischen Dazwischen auflösen. Das Ordnungsverfahren über eine Rückwärtsgewandtheit motiviert so

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primär kein eigenes Fortschreiben in der Lyrik, sondern ein Festschreiben in zyklischer Form. Das Lebendige innerhalb dieser Form ist gerade dieses sich wiederholende Neuordnen, die Suche nach dieser Form nicht zuletzt das manuelle Abarbeiten der Zeit. In der Isolierung und Neukontextualisierung der einzelnen Gedichte werden die einzelnen Erlebnisse zu dinglichen Konkreta in einer zuversichtlichen Gegenwart, die wortwörtlich den Lebenslauf begreifbar machen. Das zyklische Ordnen zeigt aber auch, dass die „Grenze“ im Ordnen selbst erst deutlich wird: das „gedankliche Erlebnis“ ist zu einer unerträglichen Erinnerung der schmalen Grenze (auf „dünnem Pfad“) zwischen Leben und Tod, Ich und Anderem geworden. Dies leitet schließlich zu einer weiteren Beobachtung und Reflexion der Form über: Denn die zyklische und weitgehend auch symmetrische Ordnung führt nicht nur in mystisch-religiöse Tiefen (der Vollkommenheit und geistigen Gestaltwerdung), auch zeigt sie an ihrer Oberfläche eine Diskrepanz, die sich im Formalen über die eigene Identität, den Namen sowie der fragwürdigen Nennung des Verfassers herausstellt. Schenken wir auch der Bezeichnung „Bücher“ Beachtung, so stellt sich dabei ein religiöser Verdacht: dass die gesamte Konzipierung und thematische Vielfalt auf ein „Jahrhundertwerk“ zielt, das der Dichtung jenes religiöse Moment einschreibt, das in der Geschichte des Jahrhunderts verlorenging. 98 Es stellt sich zugleich die Frage nach dem Urheber eines solchen Werks, der als „Derselbe wie Gott“, „namenlos“ und „vielstimmig“ über das „zu überdauernde“ Ende hinaussingt. Die Frage nach dem „lyrischen Ich“ ist nicht mehr entscheidbar zwischen „Einzelner“ versus „Kollektiv“. Subjektives und Kollektives treten ineinander. Zugleich wird in der folgenden Besprechung der Vorworte und Verfassernamen deutlich, dass der Sprechende, Singende genauso ein Stummer und Namenloser ist, wie der Abwesende (Lebendige) ein Anwesender (Toter) oder „Derselbe“ ein „Anderer“. Die zyklische Form der Ordnung wird aber wiederum da kausal und schlüssig, wo sich die perpetuierende Frage nach der Identität im Kreis der Unentscheidbarkeit „festschreibt“.

98 Auf die Bedeutung der Gedichte im Lager, die „wie Gebete“ gelesen wurden, verweist Schalamow immer wieder, z. B. in (Schalamow, 2009, 45 f.).

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Das folgende Gedicht aus dem Nachlass resümiert die obigen Ausführungen sozusagen „auf Lyrisch“: Wir träumen uns und unsre Seelenblicke Verbinden die im Raum geschieden stehn Den Pfeilern gleichend einer Hängebrücke Die wir auf Ufern großer Ströme sehn. Keins kann zum andern aber zwischen ihnen Klingt breit der Fluß und schwingt gespannt der Pfad Die Schiffen Fuhren sowie Füßen dienen Auf denen Festes schnell dem Festen naht. Wir sind getrennt doch eint uns ein Begehren Das zwischen uns den seligen Traum erstreckt Und unsre Herzen gehen in großen Heeren Tief zu einander bis der Tag uns weckt. 99

8.4.3 Eigennamen oder die Frage nach dem Ich und seinem Verfasser Der höchste Wert wird auch im Alten Testament auf den Namen gelegt. Erst im Aussprechen der Namen rücken die Geschöpfe innerhalb der Schöpfung an ihren rechten Platz. Der Name gehört in der Theologie von Franz Rosenzweig zum Ordnen des Chaos: „Mit der Vergabe der einzelnen Namen wird die weltliche Fülle geordnet; etwas, das vorher entzogen war, wird zur Anschauung gebracht und bewältigt“ (Lewitscharoff, 2010, 59). Es ist eine Konkretisierung des Flüchtigen oder eine Verdichtung der Identität im Namen: In einem Wort werden sämtliche Ich-Bezüge vereint; und mit dieser Zusammenführung fällt der Name mit der Schöpfung in eins: Die Sprache spricht einen neuen „Geburtspunkt“100 an, von dem aus das Spätwerk von Moses Rosenkranz hier betrachtet wird. Eine neue Namensgebung wird nach 1957 für Rosenkranz’ Selbstbild existentiell. Mit dem Namen als kürzeste Bezeichnung der Identität be99 23. 11. 1961. AR 25087, 1/16, Reel 1, n849 f. 100 Gedicht „Geburtspunkt“ im Band Bukowina, S. 37.

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nennt und bindet der Dichter seine Beziehung zur Welt neu. Die frühen Gedichtbände wurden außer dem letzten vor seiner Verschleppung (Gedichte von 1947) unter „Moses Rosenkranz“ ediert. Allerdings gibt es in den Quellen Hinweise darauf, dass bereits der Band Die Tafeln unter dem Pseudonym „EMER“ hätte erscheinen sollen. Nach Rosenkranz’ Rückkehr aus dem Gulag und der rumänischen Gefangenschaft fällt an den Manuskripten und deren Ordnungsversuchen ein neues Verhalten dem eigenen Namen gegenüber auf: „Orge Farchet“, „Orge Lund“ 101 , „MoRo“/„Moro“, „EMER“, „Fritz Thunn“102 , wobei außer letzterem die Namen mit größter Vermutung von Rosenkranz selbst stammen. […] Nun da ich sie [die überarbeiteten frühen Gedichte] in ihrer endgültigen Gestalt sehe, habe ich auch die Gewissheit, dass sie sich durchsetzen werden. Ihren Start wollen wir erst beraten, wenn sie alle schon in [unleserlich?] reifen Faszikeln vor uns liegen werden. Solcher Hefte werden es 3 zu je 135–150 Seiten. Ich denke auch an ein Pseudonym, oder richtiger an meinen eigentlichen Namen. Werde ich in die Welt doch erst mit diesen Büchern geboren! Mit ihrem Erscheinen soll auch mein neues Leben beginnen. Ich darf so sprechen. Denn ich war wirklich schon tot. Was meinst Du zu: Orge Farchet? Orge, weil das eine geläufige Namensverdichtung ist, und doch an die Orgel erinnert, das Instrument, dem ich innerlich mich gerne vergleiche, weil ich 2-A) im Wesen ebenso übertönend, feierlich und vielstimmig bin. Und Farchet, weil es der Platz meiner Wiedergeburt ist. Wie erleichternd, dass ich mit Dir mich über meine heimlichsten Absichten unterhalten und beraten kann. Das will was heißen bei einem Menschen, der solange unter Aufsicht stand, wie ich. Da fühlt man im allgemeinen sich mir mit sich selber ganz allein nicht unfrei und will weder Mitwisser noch Berater haben. 103

101 Der Name „Lund“ (Dänisch, Norwegisch und Schwedisch: „Hain“) stammt aus der nordischen Mythologie. Eine Postkarte an Rübner vom 14. Februar 1962 zeugt von einem Antrag auf einen Auslandpass mit „zusätzlichem Schriftstellernamen (Orge Lund)“. „[…] Ich erhielt den Paß mit dem zusätzlichen Pseudonym sofort, d. h. eben vor 10 Minuten.“ 102 In einem in Berlin gehaltenen Vortrag bezeichnete Ion Pillat Rosenkranz als Fritz Thunn, um damit die jüdische Identität zu verbergen (Korrespondenz MRL, 1040). 103 10. 1. 1965. AR 25087, Reel 2, n6.

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Der „eigentliche Name“ besteht nun in einer Übereinstimmung mit dem „Wesen“, das „ebenso übertönend, feierlich und vielstimmig“ ist. An dieser Stelle scheint auch ein Bezug zu seinem Lichtbild-Porträt als „Moses R.“ „mit einer Rose in der Hand“ auf: ein „Neuer Moses“, der vielstimmig und übertönend eine Erleuchtung erfährt. Der Doppelname „Orge Farchet“ ist eine Zusammensetzung aus dem vorgestellten inneren Wesen und dem Ort seines Aufenthalts unmittelbar nach der Übersiedlung in die BRD 1961 in Wolfratshausen-Farchet. Seine „Wiedergeburt“ findet so unter einem neuen Namen auch am neuen Ort des Erscheinens seiner Bücher statt. Und an diesem „Geburtspunkt“ finden das (poetische) „Ich“ und seine Gedichte neu in die Welt. Das doppelte „Erscheinen“ wird als „heimlichste Absicht“ beschrieben: das Pseudonym soll vor Misstrauen und falschen Beratern schützen. 104 Die bereits erwähnte Auswahl „Aus dem lyrischen Werk“ von 1978 wird unter dem Pseudonym „Orge Lund“ wie folgt präsentiert: AUS DEM LYRISCHEN WERK sofern es gerettet wurde und bestehend aus den MANUSKRIPTEN Das Land/ Geliebte Menschen/ Der Krieg/ Archäologie/ Die Flamme DES UNBEKANNTEN M. R., Pseudonym ORGE LUND zusammengestellt, getippt und mit VORWORT und VORREDE versehen vom Verfasser.

Der über Majuskeln hervorgehobene „UNBEKANNTE“, die Hinzufügung der Initialen sowie die buchstäbliche Nennung des „Pseudonyms“ und eine Verdreifachung des „Autors“ durch den „Verfasser“ im Vorwort und der Vorrede benennt hier nicht nur eine Geheimhaltung und ein Geheimnisvolles; vielmehr wird über „MANUSKRIPTE“, „VORWORT und VORREDE“ auf einen „Verschollenen“ verwiesen, der zugleich in eigener Person vorgestellt wird. Die oben erwähnte „Vielstimmigkeit“, die sich im Teilpseudonym „Orge“ präsentiert, wird in der vielstimmigen Einheit des

104 Zu diesem Zeitpunkt in Deutschland bestanden für Rosenkranz keine politischen Gründe mehr, weiter unter einem Pseudonym zu erscheinen. Umso paradoxer ist der „Auslandpass mit zusätzlichem Pseudonym“.

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„UNBEKANNTEN“ Dichters, der Figur „Orge Lund“ sowie als „Verfasser“ vermittelt. Mit der Plurifizierung des auktorialen Ich geht aber auch seine Namenlosigkeit einher: Der eine Name zerbricht in der Vielstimmigkeit wie die Auflösung der absoluten Form in der Neuordnung und Überschreibung. Die Initialen „M. R.“ werden in den folgenden Bänden durch „MoRo“ bzw. „Moro“ zu einem Kürzel „erweitert“, das ab 1982 zusammen mit dem von Hand ausgeschriebenen Namen die Bände autorisiert. Dieser „Deckname“, schreibt Rosenkranz an Kaspar Niklaus Wildberger am 29. 8. 1982, „soll auch auf den Tod hinweisen, der mir mein ganzes langes Leben lang nicht von der Seite wich“. Mit der Unterschrift tritt buchstäblich hervor, wer sich dem Namen entzogen hat. Die Handschrift bezeugt die Performance des Verschollenen und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Abwesende, indem sie seine Spur andeutet. Nicht die Datierung der Gedichte oder der Bände stellt hier einen „biografisch-historischen“ Bezug her, wie es Burdorf als Charakteristikum der Lyrik allgemein betont (Burdorf, 1997, 130); vielmehr ist eine historische Referenz gerade im Nichtreferentiellen angelegt: im fiktiven Namen, in der Benennung eines Namenlosen, der als Unbekannter mit der Hand seine Initialen schreibt. Darin erst zeigt sich die „wahre“ Beziehung des ephemeren, vielstimmigen „Ich“ zur Welt. Die Darstellung des „Menschen in seinen Zeitverhältnissen“, wie es Goethe in Dichtung und Wahrheit fordert und Rosenkranz in Jugend als „ein Mensch in dieser Zeit“ versucht, meint hier die Distanz des Ich als Mensch zu seiner Zeit und Welt (Raum): im Andeuten des „Darüber“-Hinaus.

8.5 Form-Schluss des lyrischen Werks Die Untersuchung des Spätwerks hat gezeigt, wie sich Rosenkranz nach 1957 darum bemüht, den werk-/biografischen Bruch im Überschreiben und Ordnen zu überwinden. Wenn auch die Grundthemen und Motive zwischen Früh- und Spätwerk weitgehend bestehen, ist jener außerliterarische Bezug zur Biografie, der vom eigenen Verzweifeltsein und der „Wertlosigkeit“ des Selbst spricht, in den späten Gedichten verstärkt. Aus dem Spätwerk geht das lyrische Ich unsicherer und unter dem Vorzeichen einer

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Selbstnegation hervor. Nicht mehr nur hypothetisch naheliegend wie in „der ewige Dichter“, sondern über die Namensgebung („Moses“ usw.) direkt manifest geworden ist die Verknotung von außerliterarischem und lyrischem Ich allem voran in den Paratexten. Aus der Gedichtinterpretation der Frühzeit hat sich die Problematik des lyrischen Ich in einer grundsätzlichen Unentscheidbarkeit (Homer oder Odysseus) gezeigt, was sich in der Untersuchung der Gedichtbände sowie im Zusammenhang mit den Vorworten und Vorreden der jeweiligen Gedichtbände in der Frage nach dem Urheber bzw. Autor weiter zuspitzt. Der „biografische“ Gehalt in der Ordnung der Gedichtsammlungen offenbart eine „Gestalt“, die vom zentralen Ereignis des eigenen Todes, das meist Mittelposition in der lyrischen Reihenfolge einnimmt, ausgeht. Diese Entscheidung lässt sich in Betrachtung der Neuverortung früher Gedichte zusammen mit späteren als ein (sprachmaterielles oder physiologisches) „Verbinden“ „physischer“ Wunden beschreiben, oder dem „späten Wunder meines Lebens“ – einem Werk aus dem Restmaterial der Erinnerung. Die „gedanklichen Erlebnisse“ zeichnen im Todesereignis seine (Anti-)Klimax und erfahren so eine Katharsis. Dahingehend wird der „werk-/biografische“ Abbruch integrierbar in eine neue Struktur der Einheit: einer Vorstellung permanenten Kreisens über den „Splittern“, welche die neue Kontinuität des Lebens(ver-)laufs binden. Ein solches „Währendes auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ vermag sich biografisch in einem „ewigen Leben“ nach dem Tod zu entfalten: in einem genuin unabschließbaren Ordnungsverfahren fortwährender Neuschreibung des biografischen Laufs in der Figur der Lemniskate – also einem doppelten Kreis. Das neue Leben nach dem Tod ist der Anfang am Ende. Der „Tod“, der eine lyrische Narration auffächert, ist der versuchte Aufbruch zu einer neuen Sprache aus dem Verstummen. 105 „Es kommt der Moment,“ schreibt Schalamow,

105 Rolf Hochhuts Geburt der Tragödie aus dem Krieg erhält hier eine geradezu denkwürdige Evidenz, die zudem Nietzsches Geburt der Tragödie aus der Musik zuwiderläuft. Auf Rosenkranz angewendet würde die Musik, d. h. das Lied, am Schluss, nach Überwindung des Sterbens, im Tod als zweites Leben relevant werden (Hochhut, 2001).

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in dem dich das unabweisbare Gefühl ergreift, diese Folgerung nach oben heben, ihr lebendiges Leben geben zu wollen. Dieser ständige Wunsch gewinnt den Charakter eines willentlichen Strebens. Und du denkst an nichts anderes mehr. Und dann [merkst du], dass du es wieder mit derselben Stärke spürst, wie damals, als du im lebendigen Leben Ereignissen, Menschen, Ideen begegnet bist (vielleicht ist die Stärke auch eine andere, von anderer Dimension, doch das ist jetzt nicht wichtig), wenn in deinen Adern wieder heißes Blut fließt … (Schalamow, 2009, 16).

Der poetologische Input nach einer Zeitlosigkeit und letztlich auch nach einer Raum- bzw. Grenzenlosigkeit zeigt in der Zusammenschau früher und später Lyrik unterschiedliche „Traditionen“, die im Werk ein „Ganzes“ als poetologische Beschreibung ergeben. Die Problem- und Motivgeschichte im Werk von Rosenkranz trägt Merkmale einer neuen Mythologie: Die „homerische Frage“ wird, mit Schlegel gesprochen, „in die überzeitliche Perspektive philosophischer Ursprungsmythen projiziert“ (Matuschek, 1998, 20). Der Tod und das Verstummen der Sprache werden dabei buchstäblich über eine „Renaissance“ im mythischen Liedträger „besiegt“. Die mit „Homer“ problematisierte „identitätsphilosophische Synthese, die auf dem Einheitsgedanken beruht“, führt Schelling über eine Doppeldeutigkeit fort, wobei „die Mythologie weder das Werk des einzelnen Menschen noch des Geschlechts oder der Gattung seyn [sofern diese nur eine Zusammensetzung der Individuen]“ kann, „sondern allein des Geschlechts, sofern es selbst Individuum und einem einzelnen Menschen gleich ist“ (Matuschek, 1998, 23). Die aus der rosenkranzschen Lyrik der Frühzeit sowie lyriktheoretisch über die Frühromantik explizierbare Un-eindeutigkeit der Dichteridentität und Dichtung selbst führt mit der Namensfrage einen zeitgeschichtlich modernen Diskurs der radikal enteigneten Identität. Hier wird jeder Vergleichbarkeit „Grund“ und „Boden“ entzogen. Die bei Schelling bereits ausschließlich nur noch in Projektion des Namens („Homer“) bestimmbare bzw. darstellbare individual-kollektive Gestalt (Matuschek, 1998, 26) fordert nach der Erfahrung der absoluten Zäsur, aber auch der Kriegserfahrung schlechthin, bei Rosenkranz ein Ausbrechen aus der zyklischen Unendlichkeit als Namenloser. Dieses Bestreben ist aber für Rosenkranz nicht mehr in der Lyrik, sondern ausschließlich über die Prosa einlösbar, die sich ihm ab 1957 „vordrängt“. Die reine, ursprüngliche Gestalt

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eines homeriden Sängers und Dichters verliert bei Rosenkranz seine Benennbarkeit, das heißt sein Bezeichnendes im Zeugnis selbst. Gerade die synthetische Identität aus der unsichtbaren „Gestalt“ bzw. einer „Gestaltlosigkeit“, die sich bei Rosenkranz im Unterschied zu einer frühromantischen „Theorie“ eines existentiellen, beinahe akmeistischen Zugs bedient, wird sowohl prozessual angeleitet – im Prozess des ewigen Ordnens und Überschreibens – als auch über die Namenlosigkeit erst richtig benennbar. Die Titelblätter der Manuskriptbände sowie die Vorworte und Vorrede haben diese geradezu poetologische Verwirrung und Plurifizierung der Verfasser-, Herausgeber- und Autorfigur zusammen mit den Bildern und Motiven der Lyrik als eine implikative Allegorese vorgeführt. Die von Wolf, Schlegel und Schelling als „flüssig“ bezeichnete und nach Rosenkranz zur „ephemeren“ (homerischen) Gestalt des Ich radikalisierte Sprache erhält in dieser Betrachtung eine tiefergehende jüdisch-mystische Interpretation der Wort- und Namensbedeutung:106 wo Gott und Mensch in einer ebenbildlichen Einheit hinter den zwölf bzw. dreizehn Toren ihre gemeinsame Sprache vorfinden und dabei den Namen einer identifizierbaren Erkennbarkeit verlieren; wo dieses „Geheimnis“ in den Brennpunkt der Lyrik tritt, erscheint auch für den Leser und Interpreten die Sprache erst konsequent „verdichtet“, ihr Träger zugleich „versiegelt“. 107 Der Dichter ist in sich selbst geschützt und verschlossen: im Rhythmus und in den Zyklen, die formal, aber nicht dynamisch jenes „Höhere“ andeuten, auf das es für Schalamow beim poetischen Wiedererinnern des Lebens ankommt. Die Relevanz der Erinnerung und Rückwärtsgewandtheit, im Ursprung zugleich das Ziel zu erkennen, stellt auch die (sowjetrussische) Avantgardelyrik vor einen neuen Hintergrund. Die aus der Tradition destillierten, in Stein gehauenen Werte drängen über das „Gefühl“ der Erinne106 In einer jüdisch-mystischen Interpretation der Sprache nach Martin Buber und Franz Rosenzweig ist die Vieldeutigkeit des Wortes Substanz der Schrift. 107 Schmitz-Emans über E. T. A. Hoffmanns Ritter Gluck: die existentielle Bedeutung und unerfahrene Wahrheit in Phantasie und Dichtung (Erfindung, Improvisation); Geheimnis und Schweigen als eminente Inhalte von Literatur, hinter dem Sicht- und Hörbaren (Schmitz-Emans, 2002, 152). Ritter Gluck gehörte zu Rosenkranz’ „ersten Bildungserlebnissen“ (Rosenkranz, 1998, 151).

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rung aus der festen Form. Rosenkranz’ poetisches Konzept „lebendig im Rahmen“ wird dabei seiner neuen Ich-Figur zum Verhängnis, die aus dem Rahmen des Kreises nicht ausbrechen kann: weder im einzigen Kreis kann eine bezeugbare biografische Ich-Figur gefunden werden noch im Vergessen derselben. Es ist mindestens ein „zweites Ich“, das aus dem Stein (der Inschrift) tritt, den Körper zurücklässt und „astralisch“ über die Flamme fortbesteht.108 Die allgegenwärtige Flamme im frühen wie späten Werk ist eine Art kathartisches Feuer, das über die Erfahrung des Todes das Licht bringt und dieses noch über dem tiefsten Abgrund in einer „Bewegung nach oben“, sprich „Lebendigkeit“, hält. Als einzig mögliche Errettung einer Identitätsfigur wird vom Dichter der Ausbruch aus dem Kreis der vollkommenen Zahl Zwölf in einem 13. Geheimnis gefordert und damit auch eine Trennung von Körper und Seele intendiert, um unter eucharistisch vitalistischen Vorzeichen die neue Identität auferstehen zu lassen. Sowohl dem Formalen als auch der Inhaltsanalysen der einzelnen Gedichte lässt sich weder eine Abgeschlossenheit noch Offenheit eindeutig zusprechen. Die zyklische und homogene geschlossene Form der Bücher wird in der Redundanz der biografischen Entwürfe ins Unabschließbare geführt wie die einzelnen Gedichte, die im Erinnern dennoch ein ewiges Neukontextualisieren einfordern. Als ein „Leben in Versen“ oder eine „Verkörperung der Poesie“ ermöglicht diese Untersuchung einen Vergleich der Lyrikbände von Rosenkranz mit Funerarbüchern, in denen nach dem (eigenen) Tod nicht der kommunikative Verzicht eingefordert wird (Schmitz-Emans, 2002, 161), sondern eine neue Sprache für die noch unerfasste Leibgestalt des aus den „Tafeln“ als poetische Verewigung eines Lebens in Versen ausgebrochenen und auferstandenen Ich.

108 Der Stein als Sinnbild der Ewigkeit sowie als Ziel, dem elegischen Wort seine unendliche Dauer zu geben, steht im ewigen Widerspruch dazu, wofür das Wort sich schuldig macht: die werk-biografische Relevanz von Zensur und Verlust, die jedes Festschreiben von Anfang an in Frage stellt.

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8.5.1 Selbstbild aus Biografie und Werk: Divergenz und Konsistenz Die Forderung nach einem eigenen (vollendeten) „Werk“ wird nach 1957 für Rosenkranz immer dringender. Für die weitere Untersuchung und Überleitung in die Prosaanalyse ist daher die Frage nach einem (lyrischen) Selbstbild und der „Biografie“ immer auch eine nach dem Werkzusammenhang über die zunehmende Selbstdistanzierung und Verwischung der Wirklichkeitsreferenz. Die Erinnerung und im Besonderen das Erlebnis eines „eigenen Todes“ rücken die „Biografie“ und das „Werk“ in einem autopoetischen Verfahren eng zusammen. Beide Begriffe lassen sich so unter der Prämisse eines „Währenden“ als Form-ulierung jenes „Dritten im Dazwischen“ begreifen, das, fern von einer dualistischen Referenz, die Wirklichkeit und Vorstellung trennt, Opfer und Täter unterscheidet und den Tod dem Leben entgegensetzt, auftaucht. Die Begriffe „Wunder“ und „Geheimnis“ deuten enigmatisch die fortwährende Suche nach der verlorenen Identität an, die für das Werk geradezu Voraussetzung ist. Für diese „existentielle Poetologie“ eines gegenwärtigen Selbstbildes interessieren letztlich also weniger die einzelnen Gedichte als vielmehr der Prozess im Bilden des eigenen „Werks“. Eine solche Reflexion des eigenen Lebenslaufs löst sich von der Wirklichkeitsreferenz immer mehr ab, wo das Binden der Erinnerungsreste (Gedichte) in den Vordergrund rückt. Die Intendierung eines sprachlichen Aufbruchs und Aufbegehrens hin zur Prosa, oder wie es auch über die Sprachskepsis aus den Gedichten der Spätzeit hervorgeht, da widersprüchlich, wo das Überholtsein als Dichter einerseits „in seiner Zeit“ in „Resignation“ endet, das Umbauen der eigenen Vergangenheit und damit der eigenen Zeit ihm aber andererseits auch einen neuen Lebens-Raum in der Poesie zur Verfügung stellt. Ein neues Dasein in und über die poetische Erinnerung verläuft sich dabei im lyrischen Werk, was Rosenkranz in der notwendigen „Wendung zum Epischen“ auch selbst erkannt hat. Das Selbstverorten des außerliterarischen Ich und sein Verorten „in seiner Zeit“, die letztlich die Poesie meint, endet in einem ad absurdum geführten Bespiegeln des Selbst, das sich nicht wiedererkennt. Jedes äußere Festschreiben des inneren Bildes („gedankliches Erlebnis“) ist seine Verzerrung, wo das Surrogat einer Idee entstellt wird bei der Fixierung (Schmitz-Emans, 2002, 154).

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Möglicherweise gleicht aber dieses plurifizierte lyrische Selbstbild, das fremd- und ebenbildlich, kollektiv und singulär zugleich erscheint, genau jener „Anschauung“, in welcher dem außerliterarischen Ich das Gesicht der „eigenen Zeit“ erscheinen konnte. Das Geheimhalten der referentiellen Biografie und eines privaten Inneren ist existentiell und muss unter den zeithistorischen Bedingungen einer Biografie mit fremder Schale weichen:109 einer Maske oder einem „Mantel“ 110 , der das unabhängige Selbst entweder nur wärmt oder auch vor dem fremden Zugriff schützt, wie es Ralph Dutli für Ossip Mandelstam formuliert (Dutli, 2003). Sicher aber steigt aus diesem biografischen Konzept der Spätlyrik immer wieder eine „geheimste Absicht“ auf, die im Pakt zwischen Leben und Werk nicht nur einen starken Faden spinnt; sondern die Beziehung selbst im Sich-Wiederlesen und in der Anlage des Werks auch immer wieder versperrt. Die Sperrung zwischen Biografie und Werk ist für das Forterzählen ebenso wichtig wie die Beziehung, welche ein lyrisch-strukturales Erzählen „über sich selbst“ erst ermöglicht. Rosenkranz bekräftigt sein lyrisches „Werk“ immer wieder unter dem Begriff eines „organisch“ gewachsenen Ganzen. „Ich ziehe gewachsene Kunst den verrückten Bildern vor“, schreibt er 1958 an Rübner. 111 Sich selbst wiederum sieht er als „denkerischen“ Dichter, der fast schon demiurgisch ins Sosein der Welt mit seiner Dichtung einzugreifen vermag. 112 Das Bearbeiten der eigenen Biografie führt dabei fast unweigerlich in die Mythisie-

109 Weiterführende Literatur hierzu: (Thun-Hohenstein, 2007) und (Thun-Hohenstein, 2002). 110 Gedicht „Der ausgesetzte Mantel“ (Rosenkranz, 1998, 112). 111 8. 11. 1958. AR 25087, 1/13, Reel 1, n689. 112 Zum Begriff des „Organischen“: biologistische Naturverbundenheit gegenüber Technisierung des eigenen Zeitalters. Auch Natalja Mandelstam schreibt in ihrer Autobiografie, wie die „biologischen Formen“ bzw. die Organik neu relevant wurden für Mandelstam, gerade in einer Zeit, in der sich eine technologische Allmacht über die Mechanismen der Zivilisation und Natur zu erheben begannen (Mandelstam, 1991). Dies macht auch die Polemik Rosenkranz’ gegen Valéry verständlich, der den Dichter als „literarischen Ingenieur“ verstanden wissen wollte.

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rung der eigenen Person, die letztlich im Werk als überdauerndes Narrativ fortbesteht. Ein solcher Ansatz poetologischer Werktheorie jedoch schlägt für Rosenkranz in der Praxis auch immer wieder selbst ein Kreuz: wenn im Akt des (Ver-)Dichtens und somit auch der Festschreibung seiner Idee automatisch eine neue Ebene der Referenz etabliert wird. Die „Wende zum Epischen“ intendiert diesen neuen Auf- oder Ausbruch, kommt aber aus dem Zyklus der fortwährend neu in die Gegenwart drängenden Vergangenheit nicht heraus. Das Ordnen des Lebenslaufs unterliegt der Theorie und Vorstellung eines Werkbegriffs, der nicht abschließbar und schlüssig wird für die Selbstfindung in der Lyrik. Nur der „schöpferische Akt wird zum Gegenstand seiner selbst“ (Enzensberger, 1995, 400). Mit der Genese des Werks als Selbstfiguration formuliert Enzensberger die „zentrale Frage der modernen Ästhetik“: jene nach der ästhetischen Selbstreflexion. Das Wunder des eigenen Überlebens ist nicht minder das Wunder der Geburt eines Gedichts im oder nach dem Abgrund. Was reflektiert das Werk, bzw. was für eine (neue) Referenzebene spiegelt sich über dem Identitätsverlust? Was für eine „Biografie“ ist es überhaupt und neuerdings, die im permanenten Verdoppeln und damit im Zerstören ihrer selbst dennoch eine Selbstgenese entwirft? Wie ist ein solches Ich aus dem Gedicht – auferstanden im Lied, überdauernd in der Flamme und entzündet von der Erinnerung – beschaffen? Muss es die alt-neue Gestalt eines Engels, eines Angelus Novus, annehmen oder bleibt es ganz konkret menschlich 113 ? Nach einer formalen Diskussion des Werks als Selbstfiguration wird der Fokus in einem weiteren Abschnitt auf den Begriff der (Lebens-)Zeit gelegt sowie nach der eigentlichen biografisch-thematischen Substanz gefragt. Die Aufspaltung des Ich im steten Kreisen um die eigene Biografie führt letztlich zur „Zerpulverung der Biographie“, wobei der Dichter über sich selbst immer mehr in der Reflexion seiner „eigenen Zeit“ spricht; in diesem Zeitalter war und ist er dem „Heranwachsen und Rauschen der Zeit“ (Dutli, 2003, 13 f.) denn auch immer mehr unterworfen. Anders als

113 Vgl. Gedicht „Menschlich“ in Leuchten und Erkennen.

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Mandelstam 114 , dem „das Gedächtnis allem Persönlichen Feind war“ (Dutli, 2003, 13 f.), versuchte Rosenkranz sich von allem Vergangenen 115 oder „Fixiertem zu lösen“; und dies zu jener Zeit, in der er sich zugleich an die Umschreibung und Neuordnung der frühen Gedichte in einem endgültigen Werkzusammenhang machte. „Der besitzlose Intellektuelle braucht keine Erinnerungen, es soll ihm genügen, von den Büchern zu erzählen, die er gelesen hat – fertig ist seine Biographie“ (Dutli, 2003, 12 f.). Ein solcher Satz kann nur provozieren in Bezug auf Rosenkranz, der stets vorgegeben hat, sich keiner „Vorbilder“ bewusst zu sein (Rosenkranz, 1998). Dennoch zeigt sich aber auch bei ihm, wie er sich selbst über historische, literarische oder biblische Figuren allegorisierte. Schalamow relativiert dafür aber Mandelstams Aussage und konstatiert, dass nach dem Lager und aus der eigenen Erinnerbarkeit kein Selbstbild mehr existieren kann, nur mehr Ebenbilder aus entstellter Reflexion über den Anderen. Die Biografie wird zu einer „unerhörten Anmassung, die Rätsel eines Lebens knacken zu wollen“; die Biografie ist selbst das Rätsel oder das Geheimnis, und sie wird zu einer Biografie aus poetischen Bezügen, die dem Ich auf seinem Lebensweg einst innerlich bereichernd, nicht aber äußerlich negierend, begegnet sind. Mandelstam wie auch Schalamow meinen nicht personale literarische Vorbilder, sondern die „Stoffe“: Geschichten, welche die individuelle, aber zugleich die kollektive Geschichte der Menschheit als Zusammenhang lesbar machen. Mandelstam, schreibt Dutli, eigne sich wie kein zweiter russischer Dichter als „Figur der Heiligenlegende“: „frühe Berufung“, „Armut“, „Verfolgung“, „Martyrium und später Triumph in der Nachwelt“ (Dutli, 2003, 7). Das „Wesentliche“ eines Lebens ereignet sich somit nicht in der Erinnerung der Lebensfakten, sondern in der Reflexion ihrer Bindungen und Beziehungen zu einander: so wie die einzelnen „gedanklichen Erlebnisse“ (Gedichte) in ihrer Zusammenstellung zum Werk des Dichters werden. Vor der Ereignishaftigkeit der Gedichte, ihrem Sprache gewordenen Wunder, verblassen die Wechselfälle eines Dichterlebens. Poesie ist eine Revolte gegen 114 „Mandelstam ist eine Verkörperung der Poesie bis hin zum Klischee vom bitteren irdischen Leidensweg des wahren Dichters“ (Dutli, 2003, 7). 115 „Meine Verse gehören der Vergangenheit an“, Brief an Rübner am 26. 3. 1962. AR 25087, Reel 1, n1005.

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die Macht der Zeit, gegen den Tyrannen Chronos. Die Lebenszeit: ein Nichts gegenüber den langwierigen, geheimnisvollen Prozessen der Entstehung von Poesie (Dutli, 2003, 14).

Eine fortwährende Geburt 116 ist so nicht primär am chronologischen Lebensverlauf ablesbar, sondern im „gedanklichen Erleben“ (Rosenkranz), das den Prozess des lyrischen (Be-)Arbeitens meint. So lässt sich auch Rosenkranz’ „Hintersinn von Rebellion“ verstehen, der in den Versen einen „lebendigen“ Rhythmus gegen den im Grauen erstarrten Lauf der Zeit intendiert. Dutlis Zitat wäre hinzuzufügen, dass die geheimnisvollen Entstehungsprozesse von Poesie sowie die Ereignishaftigkeit der Gedichte ihre Intensität und Kraft erst aus der Beschränkung der Lebenszeit und damit zugleich der Bedeutung der begrenzten Zeitlichkeit erhalten hat. Das heißt auch, dass nach dem Abbruch der eigenen Zeit oder: über der Zeit und dem erlebten Zeitalter eine neue Zeit für das Werk intendiert sein muss. Die einzelnen Ereignisse als Zeitmomente können in neuem Zusammenhang eine eigene Zeit in der Poesie und für die Figuration des Selbstbildes bilden. Der Gedanke an eine Biografie einzig aus „Büchern“, wie es Dutli für Mandelstam betont, ist für Rosenkranz aus mehreren Gründen bedenkenswert: Nicht nur nennt er in den „Prinzipien zu einem Vorwort“ seine wichtigsten Bücher neben der Schilderung der bedeutendsten Lebensereignisse. Die Bibel als sein wichtigstes Buch (im Lager), die Nennung geschätzter Dichter (Homer, Goethe) sowie die aus den Gedichten erfahrbar gemachten epischmythologischen Anknüpfungspunkte lassen ein „Leben in Versen“ als Biografie aus der narrativen „Bebilderung der Gedanken“117 gelten. Damit wird auch die „Rückwärtsgewandtheit“ von Rosenkranz’ Sprache und Lyrik am Punkt seiner „Wiedergeburt“ besser verständlich: Aus dem Zusammenbinden eigener Erlebnisse über den gesuchten Vergleich, anhand von „Ebenbildern“ aus Mythologie, Menschheits- und Literaturgeschichte, wird die individuelle wie kollektive Geschichte „verdichtet“ und vom Dichter, der an seinem Nullpunkt erneut nach „oben zu heben“ wagt (Schalamow), als „Schöpfer“ in eine neue Dimension der Zeitlichkeit gedrängt. Hier be116 Bergsons Umschreibung des Begriffs der „Dauer“. 117 Vgl. Kapitel 9.3.

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kräftigt sich zugleich das wichtigste Element zur Fundierung einer neuen Identität – in einer vom entsozialisierten Ich neu betretenen Welt: daher mochten auch „Beziehungen“ (wie auch „Liebe“, „Freundinnnen“ usw.) zum Leitbegriff der Gedichtbände von Rosenkranz erhoben worden sein: eine Beziehung zwischen Altem und Neuem, Vergangenem und Gegenwärtigem, aber auch zwischen Ich und Anderem, wie es die Briefe veranschaulicht haben. Die religiöse Frage, die in Kapitel 8.3.1 mit Antropoffs Erinnerungen an Rosenkranz’ „radikale religiöse Haltung“ erwähnt wurde, scheint sich hier in einer „Poesie als Religion“ aufzulösen. Dem entsprechen schließlich auch Rosenkranz’ demiurgische Eingriffe in seine ontologische Werkgenese. Ein neues Anbinden an die Welt, die Verortung des Ich in einem neuen Verhältnis zur Welt, erhält so nach 1957 über die Poesie: das heißt, im eigenen Lesen und Schreiben, jene neue Referenz, welche eine Silhouette oder Figur des anderen poetischen Ich spiegelt: ein Ich zudem, das vom Körper losgelöst, sich im intendierten Ewigkeitswert von der Zeit befreit und in der ansatzweisen („volks-) liedhaften“ Form eine individuell-kollektive Sprache vorfindet, die sich im „Rhythmus mit einem Hintersinn von Rebellion“ sowie über die Tonsprache, der singenden „Stimme“, vom schriftlichen Zeichenträger abhebt: ephemer und vielstimmig in den grenzenlosen Raum allgegenwärtiger, ewigwährender Mythopoesie. Die Ohnmacht, die der Ewigkeitswert einem poetischen Ich zugleich aufbürdet, thematisierte Maurice Blanchot in seinen Überlegungen zur Beziehung zwischen Leben und Werk als Grundkonstellation von Künstler und Werk. Das Werk macht den Schriftsteller einsam. Es existiert unabhängig von ihm und hält ihm sein Ausgestoßensein vor. Mit der Vollendung des Werks stirbt auch sein Autor. In Die wesentliche Einsamkeit schreibt Blanchot: Der klassische Schriftsteller opfert dem Ton das Wort, „das ihm eigentümlich ist, aber um damit dem Universellen Ausdruck zu geben. Die Ruhe einer geregelten Form, die Gewißheit eines von Willkür befreiten Wortes, in dem die unpersönliche Allgemeinheit spricht, sichert ihm die Übereinstimmung mit der Wahrheit, einer Wahrheit, die jenseits der Person ist und jenseits der Zeit sein möchte“ (Blanchot, 1984, 33 f.).

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Wenn der Schriftsteller das Unbeendbare betritt, so nicht, um in eine bessere, klarere Welt zu gelangen; sondern weil er da das ER entdeckt und an Stelle des Ich setzt: ein Er allerdings, das nicht ein anderes Ich ist, sondern ich selbst als niemand, ein anderer als anderer. Er ist schon keine Person mehr – er ist die Einsamkeit. Er besteht darin, dass ich mich dort, wo ich bin, nicht mehr an mich selbst wenden kann und daß derjenige, der sich an mich wendet, nicht „ich“ sagt und nicht mehr er selbst ist.

8.6 Das rumänische Volkslied Bereits 1937 begann Rosenkranz mit einer umfangreichen Übersetzung „rumänischer Volkslieder“ 118 , die er mit einem ebenso ausführlichen „Nachwort“ versah. 119 Nicht allein der Umstand, dass er 1958, zeitgleich mit der Arbeit am ersten Teil seiner Autobiografie, diese Arbeit in einem Essay 120 wiederaufnahm, ist für eine poetologische Untersuchung seines Werks bedeutend; vielmehr sind es neben den Namen der übersetzten Dichter und deren Themen vor allem Rosenkranz’ Ausführungen zum „Lied“ als solchem. Das im Lyrik-Kapitel immer wieder genannte Lied erhält dabei mehr als den Verweis auf eine traditionelle Form. Das Lied, so zeigt sich, steht bei Rosenkranz für eine poetologische Form historischer wie ethnisch kultureller Kontinuität, die Rosenkranz mit einer eigenen, nicht unverklärten Theorie im erwähnten Nachwort wiedergibt. 121 Wie gestaltet das Lied ist, das unter dem Dach seiner Sprache eine moderne Nation vereinigte, hat die vorliegende Sammlung gezeigt. Der Nachbilder hat es in deutschem Ton porträthaft genau zu erfassen gesucht. Er hat nichts geglättet und geglänzt und allerdings dort sichtbare Züge des Vorbildes verlassen, wo ihm die deutsche Sprache aus ureigenen Mitteln die getreue Darstellung des wichtigeren Hauchhaften (sic.) Wesens erlaubte.

118 Unter dem Pseudonym EMER abgelegt; AR 25087, 2/38. 119 In der Sammlung: Vasile Alexandri, G. Dem Teodorescu, Biblioteca Socec., Ovid Densusianu, Ion Pillat, Tudor Pamfite, Constantin Breiloiu. 120 AR 25087, 2/39. 121 Auf Lieder, „die bewahren können“, verweist auch Hans Bergel mit einem Verweis auf Wolfgang Minaty, 1987 (Rosenkranz, 1998, 172).

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Im Essay von 1958 geradezu pathetisch übersteigert, wenn er „Rumänien heute“ als „heitere Universalsymphonie“ bezeichnet, wo „in den Adern vergessener Schluchten der erstarrte Edelsaft des Planeten blinkt: Gold“ und „stahlhartes Menschenerz“, „das allein im barbarischen Völkerchaos des osteuropäischen Mittelalters seine sittliche Kraft und den reinen Klang bewahrte“: Es gibt viel Porträthaftes im rumänischen Volkslied. Wir betreten in jedem die Natur seiner Jahre und begegnen den blutechten Männern und Frauen, die ebendamals ihre Seelen in den Acker hauchten und ihre schweren Leiber unter Kreuzen verbargen. Sie sind tot, aber ihre innere Gestalt blieb. Da steht sie, wie in ihrem primitiven Altarbild, oder in altägyptischen Grabkammern, farbig und steif, zwischen Versanfang und Versende, ein wenig nach rechts geneigt (der Reim stützt) und es umweht sie die Wärme des Lebens in dem sie wohnte.

Im rumänischen Volkslied, wie es gerade durch Vasile Alexandris „Mioritza“ 122 beispielhaft wird, finden historische Mythen ihren Platz, wird aber die Geschichte selbst auch immer Mythos. Es handelt sich um „wahre Begebenheiten“, um ein „Geschehnis“, das „nicht im Kunstgedicht“, sondern in seiner volksnahen und menschlichen Überlieferung stattfindet, wo das überdauernde, klingende „Goldhorn“ aufscheint. Wichtig ist, dass im traditionellen und auf archaisches Kulturgut zurückgehenden Mioritza-Ritus „ein gewaltsam unterbrochenes Leben durch eine Seinsmodalität fortgesetzt“ wird (Eliade, 1982, 238). Der einfache gute Hirte bittet über seine Gegenstände um eine Fortsetzung seines Lebens nach dem Tod. Die Gegenstände (z. B. Flöte), die dem Hirten auf sein Grab gelegt werden, verweisen dabei auf eine „symbolische Verlängerung seiner Tätigkeit“ und somit auf eine Postexistenz sui generis. In einer reichen Morphologie erklingt in der Mioritza das Lied des verstorbenen Hirten also neu – im „Wind, der 122 Rumänisches Volkslied, das im Lauf der Zeit unterschiedliche regionale Varianten erhalten hat. Es erzählt von einem Hirten, der aufgrund seiner reichen Schafherde einer „schnöden“ mörderischen Tat zum Opfer fällt. Ein schwarzes Lämmchen ahnt die Tat voraus und will ihn warnen, doch der edle Hirte empfindet keine Angst vor dem Tod. Er bittet nur, der Nachwelt den Mord zu verschweigen und stattdessen von einer Himmelshochzeit zu berichten, wobei ein Stern „hell herab“ gefallen sei. Er bittet das Lämmlein, ihm eine Flöte, Schalmei, ein Horn, eine Axt, Lanze usw. aufs Grab zu legen, um den Tod zu überdauern.

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tosen wird, in den Flöten, die erklingen werden, und den Schafen, die klagen werden“. Rosenkranz übersetzt das „Lied über dem Tod“ mit: Sollt mich betten in die Erde […] und an Kreuzes Stelle tut mir aufs Grab mein Alphorn gut […] Ziehen die Winde hier vorbei, Alphorn tönt und klingt Schalmei.

Das christlich-heidnische Ritual geht nach Rosenkranz über den Glauben hinweg und verweist auf „Tugenden des Gefühls“. Und in seinem „Essay über die rumänische Poesie“ hält er 1958 fest: „Die reinsten Stücke der rumänischen Volkspoesie handeln vom Tod […] Die Helden sind Mensch und Tier“. In ihnen zeige sich die „Abgewandtheit zu sich“ und eine Einkehr „in das Rätsel des eigenen Lebens“. Dabei verweist Rosenkranz in der Betrachtung seiner übersetzten Dichter123 auf das „Mioritza-Gefühl“ der Kindheit: von einem „originellen Ich“ zum „mythisch-persönlichen einer Allgemeinheit“. In einer Verbindung von Mensch, Poesie und Landschaft beschreibt Rosenkranz jene Charakteristiken, die sowohl in seiner Lyrik wie auch in seiner autobiografischen Prosa anzutreffen sind: „Da ist alles gegenständlich, Fleisch geworden sogar das Licht der Seele“ und alles „bleibt dem Leben zugewandt“. Im Sinne einer mioritischen Unvergänglichkeit erklärt Rosenkranz schließlich auch das „Gedächtnis“ (der Völker), wo „die Zeit nicht die unendliche Uhrkette ineinander verschlungener Minutenkreise“ ist, sondern die Lichtspirale der Geistesstürme auf dem dunklen Wüstenplan des historischen Geschehens an deren erhellten Ufern sich die Moden niederlassen. Eine Nation kann in der glücklichen Erinnerung mehrerer solcher Jahrhunderte verbindenden Spiralen leben. Danach zählt und begrenzt sie ihre „Zeiten“, Alter, Epochen. Zwischen ihnen mag Spuren verwischender, entfremdender Sand brodeln, oder ein verirrter, abgesplitterter Strahl die Fortsetzung in der neuen, das Vorgängertum in der älteren andeuten; im Blut einer gesunden Rasse werden sie alle schweigen und sogar durch die Verlagerungen tyrannischer Fremdläufe wirken von kaum mehr fühlbaren Urbeginn, durch die des Lebens Wesentliches: die Gegenwart, bis hinein in den mystischen Traum der Zukunft.

123 Nichifor Crainic, Adrain Maniu, Vasile Voiculescu, Ion Pillat, Tudor Arghezi, Stefan Nenitzescu, Lucian Blaga und der „Dichter-Prophet Eminescu“.

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Bei aller zu „bluthaften“ Erinnerung an sein Nachwort von 1937 zeigt sich hier die Bedeutung des Gedächtnisses für „die Gegenwart, bis hinein in den mystischen Traum der Zukunft“. Und in einer Gegenwart, die durch das Wesentliche gefiltert, quasi als posthume „Vermählung“ (zwischen Vergangenheit und Gegenwart) bzw. als „mioritische Hochzeit“ zutage tritt, sah er 1961 auch seine Beziehung zu Anna Rübner, „meinem Schutzengel (Mioritza)“. 124 Das Wesentliche, das in der Poesie, im überdauernden Lied der Mioritza, verwahrt bleibt und also historisch gesehen in der „Lichtspirale“ auch eine Steigerung, sprich Hebung nach oben erfährt, wird für Rosenkranz 1958 zum umfassenden Vermittlungsmedium über den Abgrund. Wie auch in unterschiedlichen Versionen der Mioritza (z. B. der Moldau) wird in diesem Gedächtnis der Tod immer mehr nicht nur durch Erinnerungsgegenstände (wie die Flöte des Hirten) ersetzt, sondern vollständig umgestaltet und verklärt. In diesem Sinne soll dies als Überleitung zum Kapitel der autobiografischen Prosa von Moses Rosenkranz verstanden werden – wo der Tod, der in der Lyrik stets erinnerte Abgrund, im Erinnern des „Mioritza-Gefühls“ der eigenen Kindheit nun umgestaltet (verlebendigt?) wird.

124 AR 25087, Reel 1, n810.

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9 Autobiografische Prosa

Die Beziehung zwischen Autobiografie und lyrischem Werk von Moses Rosenkranz bildet die Ausgangslage für das folgende Kapitel. 1 Eine Übersetzung des lyrischen Erlebnisses in die Prosa der Kindheit. Fragment einer Autobiographie 2 bemerkte auch George Gut¸u: „Die Umstände, die sich in den Gedichten von Moses Rosenkranz niedergeschlagen haben […] werden hier [im autobiografischen Fragment] in einem ungebändigten Duktus von Erlebtem und Sprachlich-Erfaßtem konturscharf und beinahe filmisch aufgerollt“ (Rosenkranz, 2003, 228 f.). Die ausgeprägte Rückwärtsgewandtheit, die sich in Form und Sprache der Lyrik feststellen lässt, und das perpetuierend biografische Schreiben wird hier insofern der Prosa von Rosenkranz unterstellt, als das autobiografische Fragment auf der Grundlage der lyrischen Biographemen aufbaut. Rosenkranz’ Prosa-Fragment lässt sich als eine poetische Selbstlektüre begreifen, aus der das lyrische Ich in einem weiteren Distanzierungsversuch seines Selbst herauswächst.3 Für die theoretische Einordnung des autobiografischen Fragments wird die in der Lyrik angesprochene Identitätsproblematik einerseits über die Prosa weitergedacht, andererseits auch mit aktuellen Ansätzen der Autobiografieforschung nach Holocaust und Lager zu ergänzen versucht. Die Themen eines mythologischen Sprechens über sich selbst aus der Erfahrung des Todes sowie das Zerbrechen eines eindeutigen Selbstbildes im Lager werden vor dem Hintergrund der Autobiografie-Theorie, der Erforschung der Kindheitsautobiografie sowie der Selbsterschreibung im und nach dem Lager unternommen. Für Letzteres werden aufgrund einer erst im Aufkommen begriffenen Forschung Primärtexte hinzugezogen, welche im Anschluss einen

1

2 3

Signifikante Bezüge wurden bereits in der Lizentiatsarbeit von 2006 über den Begriff der „Landschaft“ zwischen Autobiografie und Lyrik herausgearbeitet (Schifferle, 2006). Im Folgenden wird der Titel mit „Kindheit“ abgekürzt. Diese Überlegungen können über die Untersuchung „Schreiben heißt, sich selber lesen“ weitergedacht werden (Giuriato, 2008).

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weiteren (komparatistischen) Versuch der Einordnung von Moses Rosenkranz’ Kindheitsfragment ermöglichen. Bisherige Forschungen haben die autobiografische Prosa grundsätzlich in Abhängigkeit vom Formproblem diskutiert: als unhintergehbares „Fragment“ aufgrund der Unabschließbarkeit des eigenen Lebenszusammenhangs. Fragmentarisch bleibt die autobiografische Form aber auch in ihrer genuinen Nichtunterscheidbarkeit von Fiktion und Wahrheit, welche die Diskussion um Paul de Man seit den 1960er Jahren beschäftigt. Diese signifikante Unentscheidbarkeit macht nicht nur die wohl markanteste Differenz der Prosa gegenüber der Lyrik aus, wo auch unter biografischem Strukturprinzip die Wahrheitsfrage eine andere sein darf; 4 sie radikalisiert sich vor allem dort, wo das „absolute Erlebnis“ im Abgrund die (sprachliche) Vermittelbarkeit verliert. Ausgehend davon, dass in Lyrik und Autobiografie grundsätzlich dieselben „Erlebnisse“ bzw. die Erlebnisse derselben „Biografie“ inhärent sind, stellt sich die Frage, inwiefern die Narration gegenüber der lyrischen Sprache das poetische Selbstbild moduliert. 5

9.1 Gattungsproblematik und Identitätserschreibung nach 1945 Jedem theoretischen Ansatz im autobiografischen Diskurs liegt das Erzählen über sich selbst zugrunde. Die zur Darstellung gelangte Erinnerung sowie die Vorstellung eines Ich sind dabei die Grundfragen jeder autobiografischen Untersuchung. Als Form eines historiographischen Erzählens mit zugleich fiktivem Gehalt entgeht die Autobiografie einer eindeutigen Begrifflichkeit. 6 4

5 6

Die Lyrik als Strukturprinzip des Wortes: Sie ist dem Wort als Wort verpflichtet: Nicht die Referenz, der Begriff von etwas, sondern das Wort selbst wird Gegenstand. Die Form, obgleich sie in ihrer materialen Verdichtung präsent ist, hängt vom Wort als Grundbaustein ab. Die Prosa dagegen profitiert von der Erweiterung des Einzelwortes im Satzzusammenhang, der wiederum dem eine Form verleiht, was bis anhin keine hatte: der Erinnerung als Form des Narrativs. Vgl. hierzu Edward Young (Young, 1992, 24 f.). Beachte hierfür Siegfried Kracauers „Geschichte als Vorraum“, in (Sepp, 2008, 82–3).

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Den „Menschen in seinen Zeitverhältnissen“ darzustellen, wie es Goethe in Dichtung und Wahrheit formulierte, intendiert auch Rosenkranz in einer „stufenweisen Ausbildung seiner Persönlichkeit“ im Prosa-Fragment Kindheit nach 1957. 7 Die „Zeitverhältnisse“ sind aber in seiner eigenen Zeit ein kaum mehr fassbares Konstrukt, welches die Dichotomie von „Dichtung und Wahrheit“ vor dem Hintergrund der absoluten Zäsur neu befragt. Die Vorstellung vom Ich, als „individuelles Deutungskonzept“ oder vor allem als „fiktiver Sachverhalt“, ist nach 1945 nicht mehr selbstverständlich gegeben (Friedrich, 2000, 25); Identität in der Vorstellung eines Lebenszusammenhangs oder Sinnstiftung der eigenen Lebensgeschichte sind nach der absoluten Zäsur nicht mehr über direkte Erinnerung lösbar. Die Erinnerung an den biografischen Bruch bedeutet nicht zuletzt eine Bedrohung der Ich-Konstituierung. Für zahlreiche Autoren des 20. Jahrhunderts und vor allem für diejenigen, die exilierten, trat thematisch und formal die Fragmentalität des Lebens in den Vordergrund. Aufgebrochene Chronologien, Fragmente bis hin zum autobiografischen Roman, in dem das Ich zum Er wird, stehen für die Vielfalt und „Hochflut der Autobiographik zwischen 1945 und 1960“ (Friedrich, 2000, 13). Die Forschung stand dieser Hochflut vorerst zurückhaltend (oder ratlos?) gegenüber. Bis in die 1960er Jahre überwogen Überblicksdarstellungen, die sich, wie Friedrich festhält, mit referentiellen Schlüssen auf das jeweilige Werk behalfen: meist Metatexte einer Verknüpfung von Leben und Werk. Bernd Neumann setzte die „Identität“ 1970 als erster ins Zentrum theoretischer Überlegungen und verstand sie als einen Prozess, der sich erst in der Darstellung entfaltet, und die Darstellung selbst erst im Konflikt zwischen Ich und Welt. Obgleich Goethes am Individuum orientiertes Modell von „Dichtung und Wahrheit“ auch in der Nachkriegszeit noch vereinzelt Verwendung findet, ist die Individualität, welche seit Rousseau ihren Exklusivitätsstatus der Allgemeingesellschaft abgetreten hat, in Zwiespalt geraten: einerseits als Selbstverständnis, andererseits hat sie nach der Kollektiv-erfahrung von KZ und Gulag an Souveränität eingebüßt. Identitätsverlust, syste7

Aus der Korrespondenz mit KNW geht hervor, dass Rosenkranz „Goethes Autobiografie“ erst 1984 gelesen hat: „Wahrscheinlich das trefflichste Buch der europäischen Literatur, bis dato. Überhaupt Goethe!“ (1. 2. 1984).

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matische Entindividualisierung 8 und Trauma forcierten eine differenzierte Erforschung der „Aufspaltung“ 9 des Ich, wie sie schließlich Paul de Man als Lese- oder Verstehensfigur in den autobiografischen Diskurs überführte. Die Frage um Identität und Erinnerung spitzt sich da zu, wo für das Schreiben der (Selbst-)Biografie die „biografische“ Voraussetzung nicht mehr gegeben ist, die Biografie fremdbestimmt, aufgezwungen oder gebrochen worden ist und letztlich da, wo sich „Zeit und Raum […] so stark [runden], daß unsere Begriffe von ihnen sich verändern, denn wir merken schon im voraus, daß sie uns im Augenblick unseres Todes nichts mehr sind und nichts mehr zu sagen haben“, hält Friedrich bei Georg Jünger fest (Friedrich, 2000, 304). Die allgemeinen Grundkonstanten des autobiografischen Diskurses – Fiktionsdebatte und Ich-Identität – sind darüber in der Betrachtung einer Autobiografie nach der absoluten Zäsur fundamental neu zu bedenken. Die Forschungsliteratur stellt hierfür keine allgemeine Theorie bereit. Die Veränderung der „Begriffe“ durch die kollektive, aber auch „eigene“ Todeserfahrung stellt für die theoretische Beschreibung von „Erlebens- oder Überlebensberichten“ ein Problem dar. Wo die Unterscheidungsdebatte um Fiktionalität und Faktizität, sprich die Formfrage in der Gegenwartsliteratur allein schon an ihr Ende gekommen scheint, geht es apriori „um eine Reflexion der Erinnerungstätigkeit selbst, vor allem aber um eine Thematisierung der Bilder und Mythen, der Medien und Sprachmuster, der Figuren und Szenarien, in denen die Erfahrung sich niederschlägt und Gestalt gewinnt. Auf diese Weise verschiebt sich das Interesse von der individuellen Erinnerungsarbeit zu den Strukturen, die ihr vorausgesetzt sind und in sie eingehen, und zu den Erinnerungsbildern, die durch sie aktualisiert und umgeschrieben werden“ (Weigel, 1994, 9). Ansätze zum Verstehen der Nachkriegsautobiografie aus der allgemeinen Autobiografieforschung führen mit Paul de Man weg von einer primären Formfrage hin zu einer poetischen bildkritischen Lese- und Verstehensfigur. 8 9

Vgl. (Thun-Hohenstein, 2007), (Thun-Hohenstein, 2002). „Das Selbst, das ‚auto‘ der Autobiografie“, das sich aufteilt in bios und graphie (Volkening, 2008, 23), vervielfacht sich in weiteren Ich-Enwürfen, an denen sich der Autor erprobt.

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Während Philippe Lejeunes Versuch einer Gattungsdefinition weiter an die Bedingung der Referenz geknüpft bleibt und er die Identität, die in seiner Theorie zwischen Text und Paratext versichert wird, nicht eigens problematisiert – weder als psychologisches, mnemotechnisches noch als ontisches Problem, wie Volkening bemerkt (Volkening, 2008, 25) – wird de Mans „wechselseitiger Angleichungsprozess“ aller am Lesen Beteiligter bedeutsam: da, wo das Selbst nicht mehr „stabilisiert“, sondern als solches verunsichert, im Text selbst unsichtbar wird. De Mans Lese- und Verstehensfigur der „Autobiografie als Maskenspiel“ wird für diese Untersuchung deshalb auch an dem Punkt interessant, wo im Raum des schwebenden „Dazwischens“ das gattungsbestimmende „innere Textmerkmal“ als ein mögliches, aber nicht eindeutiges „Selbstbild“ erscheint. Das Zeugnis der Identität, die Wirklichkeitsreferenz, manifestiert sich dabei erst im Prozess des Schreibens sowie im Sichselberlesen. Paul de Man versteht denn auch Fiktionalität nicht begrifflich, sondern macht ihre Unbestimmbarkeit selbst zur Defintion. Dabei sind Fiktion und Wahrheit auf der Textoberfläche in ein ewiges Zirkulationssystem eingebunden, das als gattungsbestimmende Funktion nicht zum Stillstand kommt. Vergleichbar ist dies mit einem „Gewebe“, bestehend aus mehreren Bezugsebenen (Erinnerung, Identität und Zeitlichkeit), die sich in der Gattung Autobiografie also einerseits in der Problematik zwischen Fremd- und Selbstreferentialität, andererseits in einer gegenseitigen Bedingung von Fiktion und Wahrheit manifestieren. Autobiografie als ein „Diskurs der Selbstheilung“, in dem die „Deprivation“ des Ich (in Wordworths Essay) über den Verlust eines Sinnes nach Kompensation und Wiedergeburt verlangt, kann mit Paul de Mans Ansatz letztlich auch als eine „Forderung angesichts des Todes“ im Kontext der absoluten Zäsur gelesen werden. Wo de Man nicht mehr weiter vorstößt, nämlich in der Frage nach den Umständen und Bedingungen der Sinnlichkeit für die Kompensation und Wiedergeburt des Ich, kann eine phänomenologische Deutung anschließen, wie sie hier mit Merleau-Ponty und Bergson versucht wird. 10 Das „System von Metaphern“, Tropen oder der Prosopopöie ist 10 Robert Musils Wahrnehmungstheorie geht ebenfalls vom Gefühl als Vermittlungsinstanz aus: in Wechselwirkung zwischen Sprache, Moral (Kultur) einerseits, Wahrnehmung und Körper (Natur) andererseits. Der Hauptansatzpunkt

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so auf de Mans Grundlage phänomenologisch weiterzudenken: Wenn das „wirklich Gelebte“ nicht als Produkt der Einbildungskraft empfunden werden soll, ist es auf seine ewige Vergegenwärtigung (im Akt des Schreibens bzw. Lesens) als Prosopopöie angewiesen. Prosopopöie nennt de Man die „Kunst des unmerklichen Übergangs“, ein „Kunststück, das in der Autobiografie leichter zu bewerkstelligen ist als in einer epischen Erzählung“ (de Man, 1993, 140): weil sie in einer permanenten „grenzüberschreitenden“ Annäherung des Erkenntnisprozesses eingeschlossen ist. Hier schließt die Phänomenologie an, wo die Erkenntnis zum ununterbrochenen Annäherungsprozess der Wahrnehmung des Selbst von sich selbst wird. Cynthia Chase differenziert de Mans Verstehensfigur der Prosopopöie anhand der Wahrnehmung, ausgedrückt über das „Gesicht“ als Ort der Rede. Dabei schließt sie auf das menschliche Wesensmerkmal, das in der Wahrnehmung des Gegenübers auf das Ich reflektiert bzw. referiert: „Das Menschliche ist abhängig vom Geben einer Figur, eines Gesichts […], der Mensch kann andere Menschen anreden und ihnen ins Gesicht sehen im Leben oder jenseits des Grabes; weil er ein Gesicht hat, aber er hat ein Gesicht nur, weil er an einer Weise der Rede teilhat, die weder ganz natürlich noch ganz menschlich ist“ (Chase, 1998, 416). Dieses Moment einer Spiegelung des Anderen im eigenen Blicken oder der Spiegel des Ich im Gesicht des Anderen wird anhand der Primärlektüre von Lagerautobiografen im Folgekapitel noch weiter zu erörtern sein. Aus der wahrgenommenen Vergangenheit (des Selbst) am Anderen wird so immer auch eine Gegenwart, die nicht nur verlebendigt, sondern nach de Man auch den Tod, „die Macht des Sterbens“, antithetisch einbezieht. Der Tod wird, phänomenologisch gesprochen, zu einem Wesentlichen des In-der-Welt-Seins, zu einem Integral des Lebens (und des Lebendigen). Die Erfahrung des Todes oder seine Erinnerung als prägendes „Erlebnis“ wird der Gegenwart inkorporiert. Nicht „Tod oder Leben“, sondern „Leben und Tod“ transformieren sich so im Vermittlungssystem zwischen dem Unvereinbaren (de Man, 1993, 138). von Musils Wahrnehmungstheorie beruht auf der Annahme, dass der Mensch in Analogie zur Welt ohne feste Form auch der Mensch ohne feste Form sei. Form und Ordnung (Moral) schaffen so den Bezugsrahmen einer festen, eindeutigen Identität (Smerilli, 2009).

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Der „Geist“ aus der „echten Dialektik“ im Reden in und über Autobiografie verbindet zwei theoretische Ansätze über „ein Drittes“, das als unendliche Spiegelung oder „drehende Bewegung der Tropen“ im autobiografischen Text den Vergleich mit dem oszillierenden „Leib“ Merleau-Pontys als einer Redefigur aufdrängt. Sprache und Wahrnehmung sind so zwei Systeme der Vermittlung, welche die „Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit“ gleichermaßen demonstrieren. Als eine andere phänomenologische Lektüre de Mans führt Heide Volkening die Autobiografie als Lese- und Verstehensfigur über den Begriff des „Ghostwritings“ fort. Die „Selbstbeobachtung“, die Volkening für ihre Untersuchung des Ghostwritings verantwortlich macht, ist für diese Untersuchung insofern interessant, als die poetische Identitätssuche bei Rosenkranz jene biografische Struktur oder Figur deutlich macht, die über und nach dem biografischen Bruch das „Gespenst der Nicht-Identität“ heraufbeschwört: zwischen dem „Namen und Namenlosen“ zugleich. Die „gefälschte Signatur“, die so auf Lejeunes Theorie folgt, gehört in dem Sinne zu Rosenkranz’ Selbstlektüre und Selbstbeobachtung, wobei er über die Erfahrung der absoluten Zäsur selbst zu einem Anderen wird, der „seine“, und damit die Texte (Lyrikbände) eines anderen, signierte. Die Maskierung über einen anderen Eigennamen und der referentielle Pakt über die Paratexte, die in den Gedichtbüchern verwirrend genug zusammengestellt sind, lässt sich über Volkenings „referential ghost“ verhandeln: Ein „Ghostwriter“, der sich selbst zum Verschwinden bringen muss, kommt dem erschriebenen Ich erst näher, wenn seine eigenen Spuren verwischt sind (Volkening, 2008, 26 f.); aber auch dann, wenn die Umgebung so sehr als „objektiv“ wahr-genommen werden kann, dass die Eigenperspektive, wie es Merleau-Ponty für die „reine Wahrnehmung“ voraussetzt, relativiert und damit dem Anderen angeglichen wird. Rosenkranz, der bereits in den ersten Dreißigerjahren als Ghostwriter die Autobiografie der rumänischen Königin Maria verfasst hat, dürfte sich des eigenen Verschwindens oder bewussten Vergessens seines Ich nach dieser Übung auch bei der späteren absoluten Erfahrung bewusst gewesen sein. Inwiefern sich in diesem Sinne ein neues Ich aus der Prosa seiner Kindheitserlebnisse herauslesen lässt, wird sich zeigen.

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Für die Untersuchung poetischer Selbstbildbeschreibung im „Angesicht des Todes“ werden daher weitere Primärtexte herangezogen, um die Bedingungen des Sehens sowie die Veränderung von Wahrnehmung aus der Perspektive des Lagers zu beobachten. Denn trotz Umformung und Umdeutung der Vergangenheit durch die Gegenwart und eines permanenten Wechselspiels zwischen Wahrheit und Fiktion gibt es Aleida Assmann zufolge Stabilisatoren, welche diesen Prozess eindämmen. Bestehen diese in „Affekt, Symbol und Trauma“ 11 (Assmann, 1999, 250), so müssen aus dem Abgrund auch für Rosenkranz’ Kindheit Merkmale benennbar sein, die nicht nur die Beziehung der Prosa zur Lyrik über dem Graben aufzeigen, sondern auch über die Leerstellen im Prosatext selbst und über die Distanz zur frühen Kindheit hinweg das „absolute Erlebnis“ andeuten. Für einen Autobiografen, der versucht, die Unglaubwürdigkeit der eigenen Geschichte (als „Forderung angesichts des Todes“) zu überwinden, wird an einer dualen Referenz von Faktum und Fiktion kein Anhaltspunkt mehr zu finden sein. Die Entfernung der Zeit als Vergangenheit wird in der folgenden Untersuchung autobiografischer Primärtexte daher über die Vermessung des Blicks aufgenommen und ist im Verhältnis von Ich und Gegenüber zu prüfen. Dabei wird die Diskussion von Wahrheit und Dichtung obsolet: Der Standort des Autobiografen, wie wir ihn mit Rosenkranz, im autobiografischen Primärkorpus aber auch mit Warlam Schalamow, Jorge Semprun oder Andrej Sinjawskij u. a. vor uns haben, ist noch vor der Niederschrift in seiner Selbstreferenz quasi „fiktiv“. Andrej Sinjawskij hielt die Wahrnehmung von Wirklichkeit im Lager wie folgt fest: Ein ausgezeichneter Satz hiesiger Provenienz: ‚In der Ferne stand ein orangegelber Baum und veränderte die Farbe des Horizonts‘. Eine literarische Landschaft, durch den Stacheldraht gesehen und durch das Lagerauge wiedergegeben (Terz, 1974, 52).

Die komplette Isolierung aus der Gesellschaft und der Verlust eines Allgemeinbegriffs des „Lebendigen“ stellt für ein wahrhaftes Schreiben nach 11 A. Assmann zählt schließlich auch Mythen zu Erinnerungsfiguren, siehe: Sabine Jambon: Moos, Störfall und abruptes Ende – literarische Ikonographie der erzählenden Umweltliteratur und das Bildgedächtnis der Ökologiebewegung. Dissertation, Düsseldorf 1999 (www.umweltliteratur.de/methode.html).

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dem Abgrund eine ganz andere Grundhaltung voraus. Sempruns Erfassen alles Wirklichen als Traum und das Erinnerte, wiederkehrend Traumatische als Wirklichkeit macht in Leben und Schreiben die Umkehrung der Bezugsebenen deutlich. 12 Der poetische „Umgang“ mit dieser „Umkehrung“ der Wirklichkeiten wiederum zerrt ein Binäres weiter auseinander, bricht die Chronologie und Referenz der Schilderung als erstes, aber als Wirklichkeitsanspruch über Verquerung der Wahrnehmungsebenen noch lange nicht als Letztes. Wenn das hier besprochene autobiografische Schreiben gerade in der endlosen Annäherung an Wirklichkeit bzw. Wahrheit geschieht, ist die Annäherung ein Fiktives und Wirkliches zugleich; nicht nur aber ein Oszillieren als auch ein Zirkulieren zwischen Erkenntnis und Trope, was das Erzählen bedeutet.

9.1.1 Autobiografischer Exkurs: Dichtung und Wahrnehmung im und nach dem Lager Motivation und Bedingungen eines autobiografischen Schreibens aus dem Abgrund fordern die Prosopopöie im „Gesicht als Ort der Rede“; über den eigenen „Blick“ im Auge des Anderen, ein. Das Gesicht als Ort der Rede oder die Vergabe einer Figur über die Teilnahme an der Rede, die weder „ganz natürlich noch ganz menschlich“ ist und dennoch als Wesensmerkmal des Menschlichen gilt (Chase, 1998, 418), radikalisiert sich am Abgrund, wo es entweder kein Gesicht mehr zu erkennen gibt oder jedes Erkennen auf einen Mehrwert des leeren Gegenübers angewiesen ist. Die 12 Edward Young befragt in Beschreiben des Holocaust nicht nur die Singularität von „Lagerliteratur“, sondern auch ihren fiktiven Anteil. Demnach schließen sich „Bericht“ und „Legende“ nicht aus, wie er mit Sara Nomberg-Przytyk zeigt: „Der einfühlsam-ironische Ton der Autorin spiegelt sehr gut die grotesken Realitäten einer verkehrten Welt wider, in der Erwartungen und Konventionen auf Schritt und Tritt pervertiert werden“. Die literarische Form selbst ist hier Zeugnis des Widerstandes, des Zorns, des Mutes usw. Surreale und reale Aspekte finden wahrhaftig Eingang in die Erinnerung und vermitteln die Tatsache des Paradoxen, des Grotesken einer Wirklichkeit, die unglaubwürdig geworden ist (Young, 1992, 78 f.).

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Leere des Lagers verlangt nach einer Anreicherung der Erinnerung zum Selbsterhalt. Und wo kein Äußeres und keine Objektivität mehr Zeugnis für die eigene Identität ablegen kann, werden, wie zu zeigen sein wird, Erinnerungen ans eigene Leben als Merkmale eines zuletzt noch Lebendigen hinzugezogen. Das über die Erinnerung ins Lager geholte „Leben“ besteht bei den Häftlingen allem voran aus erinnerter und zitierter Literatur (vor allem Lyrik, mit Verweis auf das „Lied“), die sich als beständiges Element der verlorenen Kultur erwies und stabilisierend auf die Selbstbewahrung wirkte. Ein notwendiges Sprechen von sich selbst, wie es Kertész und auch Semprun formulierten, verläuft so über eine ebenso notwendige äußere Referenz als ein drittes Auge, das dem Anderen, dem von sich erzählt wird und in dem sich das Ich spiegelt, bekannt ist. 13 Kertész spricht in unablässiger Narration von sich über dem Abgrund von einer „gesetzbildenden geistigen Kraft“, die im Folgenden in Bezug auf Rosenkranz als eine theoretische Grundfigur der Autobiografie nach dem Lager zu befragen ist (Kertész, 2004, 44): Welche „gesetzbildende geistige Kraft“ spiegelt sich in der Beschreibung des Selbstbildes bzw. des erschriebenen Lebenszusammenhangs nach dem Abgrund? Gibt es eine allen Autobiografen annähernd gemeinsame Figur eines „Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit“? In Annäherung an Rosenkranz’ Kindheit als Fragment einer Autobiografie nach dem Identitätsbruch folgt daher eine konkrete Betrachtung europäischer Lagerliteratur an den Autoren Jorge Semprun, Imre Kertész, Warlam Schalamow, Andrej Sinjawskij, Bruno Schulz, Louis Begley und Aharon Appelfeld. Der Textauswahl gehen allerdings nur insofern komparatistische Überlegungen in Bezug auf Rosenkranz voraus, als allen gemeinsam eine betonte Schilderung des eigenen „Blicks“ im Gesicht des Anderen inhärent ist. Bei den genannten Autoren und ihren hier untersuchten autobiografischen Werken handelt es sich um Übersetzungen von Wirklichkeit über unterschiedliche Stufen: Während die einen die Lagerwirklichkeit zu erinnern versuchen, wenden sich die anderen (Schulz, Begley 13 Das „‚Gesicht‘ bezeichnet […] die Abhängigkeit jeder Wahrnehmung oder jedes ‚Auge‘ von der totalisierenden Macht der Sprache. Es verkündet diese Abhängigkeit als ‚den ersten/poetischen Geist unseres menschlichen Lebens‘ (Paul de Man)“ (Chase, 1998, 418).

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und Appelfeld) nach der absoluten Zäsur über das Lager hinweg der Kindheit zu, was einem doppelten Übersetzungsprozess bzw. Rückwendungsakt von Erinnerung gleichkommt. Die „Kindheit“, die dabei durch das Lager hindurch und durch den vom Lager veränderten (Erinnerungs-)Blick in die Gegenwart nach dem Lager eingeholt wird, ist in ihrer Bedeutung neu und anders zu hinterfragen. Der Kindheitsautobiografie ist daher ein separater Abschnitt gewidmet. Jorge Semprun macht in Der Tote mit meinem Namen sowie in Leben oder Schreiben deutlich, dass mit der Erfahrung des „kollektiven Todes“ eine radikal neue Wahr-nehmung und somit poetische Wirklichkeitsbeschreibung einhergeht, die nicht nur historisch neuartig ist, sondern in der erfahrenen Indifferenz von Leben und Tod die Referenzebenen von Fiktion und Wahrheit gerade für die Autobiografie neu auslotet: wo die Wirklichkeit in der Erinnerung des Abgrundes als Traum erscheint und der Traum vom Leben einer „Zukunft“ nur mehr den erfahrenen eigenen Tod ermahnt: Zu gegebener Zeit, wenn die beabsichtigte Unordnung dieses Berichts es mir erlauben – vielmehr fordern – wird, werde ich sagen, wann, warum und wie der Tod aufhörte, in der Vergangenheit, in meiner immer fernereren Vergangenheit zu existieren. Wann, warum und bei welcher Gelegenheit er von neuem in meiner Zukunft aufgetaucht ist, unausweichlich und heimtückisch. Aber die Gewissheit, den Tod durchquert zu haben, schwand zuweilen, zeigte ihre unheilvolle Kehrseite. Dann wurde diese Durchquerung zur einzig denkbaren Wirklichkeit, zur einzig wirklichen Erfahrung. Alles übrige seitdem war nur ein Traum gewesen […] (Semprun, 1995, 26).

Die Grenze der Erinnerung ist dabei auch die Grenze der Wirklichkeit; die nachträgliche Erinnerung an den eigenen Tod, das Lager, macht die Erinnerung selbst zum Gefängnis. In Kertész’ Worten heißt das: In Auschwitz konnte ihm [dem Intellektuellen, dem Dichter] der Geist nicht helfen, doch nach Auschwitz rief er den Geist zum Beistand, um die Anklage gegen eben diesen Geist zu verfassen. Er fand keinen Ausweg aus der Kultur, er wechselte von der Kultur nach Auschwitz und von Auschwitz wieder in die Kultur, so, wie von einem Lager ins andere, und die sprachliche und geistige Welt der gegebenen Kultur umschloß ihn wie der Stacheldrahtzaun von Auschwitz. Er überlebte Auschwitz; und wenn er sein Überleben überleben wollte,

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wenn er es im Sinn, oder sagen wir besser: mit Inhalt versehen wollte, dann konnte und musste er als Schriftsteller die einzige Chance notgedrungen in der Selbstdokumentierung, in der Selbstanalyse, in der Objektivierung, das heißt in der Kultur, sehen (Kertész, 2004, 80 f.).

Das Eingesperrtsein in der Erinnerung an das eigene Sterben ist der Tod. Die Erinnerung ans Leben wird zur Flucht vor dem Lager(-tod). „Das Interesse an sich“ selbst wiederum, schreibt Semprun, „die Liebe zu sich, einer bestimmten Idee von sich, zu verlieren, war der erste Schritt auf dem Weg der Selbstaufgabe“ (Semprun, 2003, 149). Weniger der Tod als die Selbstaufgabe waren von jedem Ich zu befürchten. Wo der Tod aber die einzige Beziehung zwischen den Häftlingen bedeutet, wird er selbst zum Inbegriff des „Lebens“, zum fundamentalen Zusammenhang über der Erfahrung des Dazwischen: zwischen Leben und Tod: Von Woche zu Woche hatte ich ihren Augen den schwarzen Morgen des Todes heraufziehen, sich entfalten sehen. Wir teilten diese Gewissheit wie ein Stück Brot. […] so wie man das Leben teilt, das einem noch bleibt. Der Tod – ein Stück Brot, eine Art Brüderlichkeit. Er betraf uns alle, war die Substanz unserer Beziehungen. Wir waren nichts anderes – nicht mehr, nicht weniger – als dieser voranschreitende Tod. Der einzige Unterschied zwischen uns: die Zeit, die uns von ihm trennte, die noch zurückzulegende Entfernung. Ich legte eine Hand, von der ich wünschte, sie sei leicht, auf die spitze Schulter von Maurice Halbwachs. Ein fast morscher Knochen, nah am Zerbrechen“ (Semprun, 1995, 28).

Die Erfahrung von Zeit und Körper ist eine Erfahrung des Übergangs bzw. ihrer jeweiligen Auflösung als Begriffe und ein Begreifbares. Semprun kommt bei der Formulierung seiner Erfahrung nicht in eigentliches „Erinnern“, sondern gelangt zu einer Rede, die nur, aber um so mehr, in ihrer Reduktion die Hauptakte des Lebens bespricht. In der „stärkenden Arbeit der Anamnese“ (Semprun, 2003, 79) verdichten sich einzelne Konkreta möglicher Vermittelbarkeit, eine Sprache aus Gestik und Mimik über „Hand“, „Auge“ „Berührung“ sowie über das noch einzig Sprechende: den „Blick“. 14

14 Zu „Gesicht“ und „Maske“: (Semprun, 2003, 38, 178–9, 184).

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Die meisten Deportierten hatten keinen Blick mehr. Er war erloschen, umnebelt, blind geworden vom grellen Licht des Todes. […] Sie gingen mit halbgeschlossenen Augen, um sich vor den brutalen Blicken der Welt zu schützen, die flackernde kleine Flamme ihrer Lebenskraft vor den eisigen Luftzügen zu behüten. Aber der Blick, der überlebt haben würde, war brüderlich. Weil von soviel Tod genährt, wahrscheinlich. Von einem so reichen Erbteil genährt (Semprun, 1995, 27).

Der eigene, trübgewordene, umnebelte oder auch blinde Blick des Überlebenden oder Heimkehrers findet in der „kleinen Flamme“ im Auge des Anderen das letzte Zeugnis des Lebens – auch des eigenen. Dieser „reiche Erbteil“ mit den letzten Lebensfunken im behinderten Blick bedeutet Semprun die letzte Erkenntnis: „das unsterbliche Leuchten eines Blicks, 15 der das Nahen des Todes feststellt, der weiß, woran er ist, der ihn genau kennt, Auge in Auge alle Risiken und Einsätze abwägt, frei und souverän“ (Semprun, 1995, 33). Der Blick, der nicht mehr nur sehen kann, sondern vor allem wahrgenommen, vom Anderen empfangen und gespiegelt wird, ist in seinem Flackern der letzte Zeuge der Wirklichkeit. Das unablässige Singen in der Nähe des Todes, am Übergang der „Grenzen“, was im Begriff der halblebendigen oder halbtoten „Muselmänner“ 16 (Semprun, 2003, 30) eine Personifikation erfährt – ist gleichsam der Ort dieser letzten erzählbaren Daseinsform. Sempruns Erinnerungen ans Lager sind Erinnerungen an Verse und Erzählungen aus der Literatur; das Ich erinnert in der Erinnerung ans Lager, wie und worüber das Ich im Lager sich ans Leben erinnert. Dabei kommt der Sprache in Erzählungen, Zitaten, Erinnerungen an Geschichten Bedeutung zu. Semprun flicht in seine Texte

15 Hier sei auf den Titel des Bandes Leuchten und Erkennen von Rosenkranz hingewiesen. 16 Bevor sich diese neuen Benennungen bildeten, wurden noch die „Namen vergeben, die dem vorigen Leben, den Gesellschaften von draußen entstammten“. Die Muselmänner waren bereits jenseits vom Leben und damit von jeder Begrifflichkeit. „Zwar wusste ich, daß das nur eine Annäherung war, daß die Gesellschaft der Konzentrationslager und die Welt von draußen in keinem Fall vergleichbar waren, aber diese approximativen Wörter genügten, mir begrifflich zu machen, was ich sah“ (Semprun, 2003, 31). Vgl. zum Begriff der „Muselmänner“ auch (Agamben, 2003).

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eine Intertextualität über Zitate (z. B. l’espoir von Malraux, S. 63), aber auch in einem ewigen Wiederholen derselben, welche anbetracht der Umstände neu aufscheinen, um den Tod hinauszuschieben (Semprun, 2003, 35): „Es blieb mir nur die Poesie, Gedichte aufzuschreiben, an die ich mich erinnerte“ (Semprun, 2003, 87) – oder: „Außer dem Spaziergang gab es nur noch ein anderes Mittel, die klebrige Angst vor der ständigen Enge zu überlisten: nämlich Gedichte zu rezitieren, mit leiser oder mit lauter Stimme […]“ (Semprun, 2003, 180), „[…] um sich in die Musik eines Gedichtes zu flüchtigen“ (Semprun, 2003, 181). Das „tote Leben“, das darüber in die Erzählung gelangt und nur noch darüber erinnert werden kann – sowohl im als auch über das Lager – verlangt ein Erfinden, die Belebung durch Phantasie, nicht zuletzt als Merkmal des eigenen „Am-Leben-Bleibens“: „Wir hätten Hans erfunden, heißt es dort, als ein Bild von uns selbst, das reinste, das unseren Träumen am nächsten käme“ (Semprun, 1995, 50): Träume sind dabei der Ort, wo sich eine letzte lebendige Wirklichkeit abspielt: „Kurz, ich erzähle ihm die Geschichte von Hans, den ich soeben erfunden habe, um ihm zu helfen, am Leben zu bleiben“ (Semprun, 1995, 61). Es kommt vor, daß ich Personen erfinde. Oder daß ich ihnen, wenn sie real sind, in meinen Berichten fiktive Namen gebe. Dafür gibt es verschiedene Gründe, die jedoch immer mit Notwendigkeiten narrativer Art zusammenhängen, mit der Beziehung, die es zwischen dem Wahren und dem Wahrscheinlichen herzustellen gilt (Semprun, 2003, 190).

Weder die Wahrheit noch die Wahrscheinlichkeit ist für Semprun eindeutig zuzuordnen; vielmehr gilt es, den Zusammenhalt und die Beziehung zwischen beiden in der Narration erkennbar zu machen. Buchstäblich „bezeichnend“ ist die Erfindung, die das Wahre, so verstanden als ein überzeitlich Gültiges, und das Wahrscheinliche als das von der Zeit Abhängige in Zusammenhang stellt. Die Unterscheidung, die Semprun hier vollzieht, ist eminent für die Diskussion über Wahrheit und Fiktion, wo sich „angesichts des Todes“ eine neue Begrifflichkeit für „Wahrheit“ und Wirklichkeit einstellen muss.

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Über Andrej Sinjawskij alias Abram Terz 17 beschreibt Marija RosanowaSinjawskaja die „Beziehung“ von Leben und Tod als ein „Spitzenmuster“, das keine Trennung der einen von der anderen Form mehr zulasse (Sinjawskij, 2002, 537). Sinjawskijs „Gedanken, dann und wann“ stehen als Aphorismensammlung 18 für das charakteristisch fragmentarisch gebundene Schreiben des Autors: „Im Vergleich mit den Toten […] insbesondere im Vergleich mit historischen Personen oder literarischen Gestalten sind wir alle irgendwie Fragmente, nicht richtig ausgebrütet, ausgereift. Solange wir noch nicht gestorben sind, fehlt uns immer irgend etwas“ (Sinjawskij, 2002, 542 f.). Der Schriftsteller ist gezwungen, das Phantastische im Realen zu entdecken, denn „hier [im Lager] ist alles einwenig phantastisch: die Menschen und die Dinge. Alles gleicht einwenig einer erdachten Welt. Ströme von Erwartungen eines Endes machen die geringste Tatsache ungeheuer erregend. Die Sonne steht tief über dem Horizont, und die Schatten sind lang“ (Terz, 1974, 21). 19 Die Verwischung der Wahrnehmungsbilder, die ineinander wachsenden Bedeutungsebenen und Sinnbilder, werden nicht metaphorisch inszeniert, sondern in eine Art wesenhafte, das heißt lebendige, existentielle Fiktion überführt, welche die Wirklichkeit meint. Gerade damit verteidigt Sinjawskij seine Freiheit im und nach dem Lager über und in der Sprache: Die Wirklichkeit und die Natur werden „gelesen“, in einer grenzüberschreitenden Weise wahrgenommen, eine Lektüre der Wirklichkeit unter neuen Vorzeichen. Sinjawskij sucht nach einem „zweckfreien“ Schreiben, das sich für den Schriftsteller gerade auch in seinem biografischen Schreiben äußert: wo er eine Biografie (v-)erdichtet, die sich von der politisch-historisch manipulierten Fremdidentität unterscheiden „muss“, um „wahr“ zu sein. Terz ent17 Abram Terz ist Pseudonym und literarische Figur des russischen Dichters und Literaturwissenschaftlers Andrej Sinjawskij (1925–1979): „Sinjawski ist Kritiker, Sinjawski ist Professor – Terz ist reiner Künstler – Abram Terz ist unverschämt und frech, ein Dieb“; dabei referiert Sinjawskij zugleich auf den historischen „Abram Terz“, der ein russisch-jüdischer Bandit in Odessa war. 18 „Aphorismen“ sind insofern definitorische „Einfälle“, aus denen gegebenenfalls „Gedichte“ entstehen: unerwartet zugefallene Erkenntnis, die im unmittelbar Konkreten kurz festgehalten wird. 19 Vgl. die Erzählung: „Phantastische Welt“, in: (Sinjawskij, 2002).

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wirft an religiöser Metaphorik ein „metaphysisches“ Literaturideal, wobei die Handlung in Eine Stimme im Chor nur fragmentarisch bleibt und auch nicht mehr auf einen Leser angewiesen ist. Ein eindeutiger literarischer Sinn kann sich so nicht einstellen. Das Schicksal des Schreibens hängt vielmehr von den Figuren ab, die der Autor in übersteigert personaler Erzählperspektive entwirft, die zugleich auktorial ist. Die literarischen Figuren treten aus der Schrift heraus, indem sie ihre Plattform aktiv bespielen und wie der Autor mit fremdem Namen lebendig werden. 20 So transzendiert sich der geschundene Mensch gewissermaßen im Schreiben. „Im Schatten Gogols“ von 1975 schreibt Terz, wie der Autor (gemeint Gogol) „unter seinen eigenen Figuren die Rolle eines traurigen Nachzüglers übernimmt“ und „zu einer billigen Kopie“ wird: zu „einem dreisten Pasquill auf das hochmögende Original, das seinen Autor verschlingt, um ihn wie eine leere Hülse auszuspucken und in eine gefügige und unfähige Kreatur zu verwandeln“ (Sinjawskij, 2002, 537). Die (neue) Macht der erschriebenen Figur(en) bildet sich aber auch aus der Verwandlung des Ich-Erzählers wie in der Erzählung „Pchenz“ zu einem „kaktusartigen Wesen“, das außerirdisch wirkt und Augen an allen Extremitäten aufweist. 21 Seine „wahre Gestalt“ muss er vor den Menschen verbergen. Die Ich- oder Hauptfigur ist maskiert oder wird mit Stummheit und Leere gezeichnet. In „Glatteis“ werfen die wogenden Erinnerungen alle Bestimmungsgrößen durcheinander, wo die Seele der Menschen nicht im Innern und aus seiner Silhouette ablesbar ist, sondern in einem Loch in der Luft, das mit verschiedenen Ich-Figuren angereichert wird. Die Gesichtslosigkeit – und damit auch die Biografielosigkeit – des Einzelnen wird in der Sammlung von Eine Stimme im Chor dennoch mit einer tönenden (dröhnenden?) Gravität erlöst.

20 Hierzu vgl. Bruno Schulz: „Die geniale Epoche“, in: Das Sanatorium zur Sanduhr, Hanser 2011. Das intime und zugleich entfremdende Verhältnis des Autors bzw. des Malers zu seinen Figuren wird in dieser Erzählung beispielhaft für die schulzsche Poetik überhaupt. Abgesehen von einem mythopoetischen, kabbalistischen Hintergrund wird der künstlerische Schöpfungsakt hier auch zum Spiel mit Identität(en), kosmischem Ursprung und sozialer Zugehörigkeitsfrage. 21 Vgl. Rosenkranz’ Beschreibungsmuster „Ohren wie Kaktusblätter“ usw. am 26. 06. 1960, AR 25087, Reel 1, n749.

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Wenn das Leben öde und karg, wenn die Kleidung grau ist, dann steht dem Gesicht vor diesem farblosen Hintergrund das Recht auf stärkeren Ausdruck zu. Es erhält die Aufgabe, die fehlenden Glieder der Kette zu ersetzen und die Verantwortung für den Menschen voll zu übernehmen. Dadurch wird das Gesicht übertrieben deutlich. Wie kommt es, daß die im allgemeinen recht anständigen Gesichter in der Stadt plötzlich verschwommen wirken? Die Konturen sind verwischt, ausgelöscht unter einer undefinierbaren, leichten Fettschicht – trotz vorhandenem Charakter, Anzug und Stellung. Aber im Alter und im Gefängnis, da, wo nichts mehr übrigbleibt, da schält das Leiden das Gesicht heraus, und es reckt sich dem Betrachter entgegen: die Nase ragt vor wie ein Speer, der Blick ist scharf, die Zähne gefletscht (da das Lächeln fehlt), aus unverhohlener Gier zu sein. Dem Gesicht kommt die Ehre der letzten Repräsentation zu (Terz, 1974, 22–23).

Ein Betrachter wird eingefordert und das Gesicht spricht als Letztes. Diese Bio-Grafie erhält an dem Punkt ihre Revelanz, wo auch Iwan Golomstock bei Abram Terz’ bzw. Andrej Sinjawskijs autobiografischen Fragmenten Eine Stimme im Chor die Bedeutung des Menschen bzw. der Masse in der Lagersozialisation wie folgt hervorhebt: „… und jedesmal bot ihm das Lager neues Menschenmaterial, vielgesichtig und vielsprachig, überquellend von Leidenschaften und Ideen, von Schicksalen und Biographien, und endlich zusammenfließend in die laute Polyphonie des Chors (Terz, 1974, 13). 22 Warlam Schalamow 23 ist unter den drei Autoren der erbarmungsloseste Formkritiker. Seine Sprengung der traditionellen Prosa ist eine „Implosi22 Vgl. hier auch Kapitel 8.4.3: Rosenkranz’ Pseudonym „Orge Lund“ als „übertönende Vielstimmigkeit meines Wesens“. Nicht von ungefähr mag Bachtin seine Gedanken und Theorien zur Polyphonie und Dialogizität im Lager aufgeschrieben haben. Bachtin wurde 1929, im selben Jahr wie Schalamow, von Stalin in die Zwangsarbeit verbannt. Diese Jahre waren werkbiografisch Bachtins produktivste Zeit: „Das Wort im Roman“ zielt in seiner Theorie immer auf das „Dialogische“ ab (am Beispiel Dostojewskijs), das sich zudem vor allem in der Vorstellung einer karnevalesk-archaischen Folklorensprache (gegenüber der offiziellen Gelehrtensprache) behaupten kann. Dabei löse sich auch eine wertende Instanz auf, wobei die Dialoge der unterschiedlichen Figuren stets gleichberechtigt nebeneinander bestehen können. 23 1907–1982. Zwischen 1929 und 1951 war Schalamow in zahlreichen Arbeitsund „Besserungsanstalten“ des Gulag inhaftiert. 1954 begann er heimlich mit

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on“, die zum „reinen“ Dokument führt: wo zur Sprache kommt, was keiner Sprache mehr bedarf. In dieser durchaus widersprüchlichen Stellungnahme zur Aufgabe und Form(-ulierung) der Sprache nach dem Lager schreibt der russische Intellektuelle in den 1960er und -70er Jahren über seine fast 20 Jahre verlebte Haftzeit in verschiedenen Lagern auf der Kolyma 24 „Erzählungen“. Die Auswahl der beiden Erzählungen „die verschwommene Fotografie“ und „Der Handschuh“ fokussieren im Besonderen die Bedeutung der Dinge und die (neue) Beziehung zu den Dingen als quasi neutrale, in der Anschauung sich verwandelnde „Objekte“. 25 In Schalamows Betrachtung interessiert vor allem die „Motivgeschichte“, die Polysemantik einzelner Motive wie des „Handschuhs“, einer „Fotografie“ oder des zerbrochenen „Spiegels“. Schalamows Erzählungen bestechen durch eine polisemantische Dingsprache, die sich letztlich doch keiner Vergleichssprache und Referenzialisierung stellt. Das Lager erlaubt offenbar keine „Metapher“, keinen verkürzten Vergleich, keine Substitution (Ersatz); die Allegorie oder die Bilder sind die (ab-gebildete) Wirklichkeit immer schon selbst und stehen als solche einem Ich gegenüber, das gezwungen ist, seine entleerte Identität über eine Ähnlichkeit am Gegenüber zu bestätigen. Die „nackte Tatsache“ ist zu entblößt, um in der ganzen Leere, die sie ausmacht, darstellbar zu werden. Surrealität, Komik und Ironie zeigen bei Schalamow, wie aus der Wahrder Arbeit an den „Erzählungen aus Kolyma“, an denen er bis Anfang der 1970er Jahre schrieb; 1968 bis 1971 arbeitete Schalamow an seinen Kindheitserinnerungen Das vierte Wologda und 1970 bis 1971 an Wischera. Ein Antiroman. 24 Fluss im Osten Russlands und Benennung der Trasse zwischen Jakutien/Magadan, Nordostrussland: auch „Straße der Knochen“ oder „Weg der Knochen“ genannt, da beim Baum der Magistrale zahlreiche Häftlinge ums Leben kamen. Vor allem am Oberlauf des Flusses befanden sich bis 1987 mehrere Straflager, in denen Gold gewonnen wurde. Im russischen Volksmund ist „Kolyma“ auch zum Synonym für „Hölle“ und Katastrophe verkommen. Rosenkranz wurde nicht auf die Kolyma verschickt, er gelangte am Ende seiner Haft in die Nähe von Irkutsk, Ostsibirien. 25 Die Primäruntersuchung folgt der russischen Ausgabe von 2007 (Shalamow, 2007). Deutsche Zitate stammen aus der neuen Übersetzung von Gabriele Leupold.

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heit, den erinnerten Fakten in der Verschiebung der Ebenen, der Komposition eine poetische Bildsprache wird, die über die „gefühlsmäßige Wahrnehmung“ Wirklichkeit bedeutet. Die Frage nach einer „Metaphorik“ scheint also wie die Debatte um Fiktionalität und Wirklichkeit zunehmend obsolet. Nach siebzehn Jahren erinnerte sich Kubanzew an den Namen und Vatersnamen jedes gefangenen Feldschers, an jede Krankenschwester, er erinnerte sich, weil wer von ihnen mit welchem Häftling „lebte“, gemeint sind damit Lager-Verhältnisse. Er erinnerte sich an den genauen Rang jedes der niederträchtigeren Chefs. Nur an eins erinnerte sich Kubanzew nicht – an den Dampfer „KIM“ mit dreitausend Häftlingen und ihre Erfrierungen (1965) (Schalamow, 2008, 12).

Der „Trost“, dass es immer noch jemanden gibt, der niedriger oder tiefer gefallen ist als „ich“, erhält am Leben. Dieses „Gefühl“ nennt Schalamow das „größte Geheimnis des Menschen“ (Shalamow, 2007, 166). Die Notwendigkeit der Selbstdokumentation begreift er darin, dass der Mensch sich über die eigene Beschreibung erhebt und so an Bedeutung gewinnt. Das „Gefühl“ wird bei Schalamow zum Erinnerungsgegenstand per se, wenn er festhält, dass selbst das „feinste menschliche Gefühl der Scham […] später ein Leben lang als etwas Echtes, etwas unendlich Teures erinnert“ wird (Schalamow, 2008, 16 f.). Oder: „An Gerüche erinnern wir uns wie an Gedichte, wie an menschliche Gesichter“ (Schalamow, 2008, 10). In obigem Zitat untergräbt der Autor die personale Erzählperspektive des Chirurgen Kubanzew durch ein „Wir“, das Kubanzew gegenübersteht. Zwischen den Gedichten (Ort der Rede), den menschlichen Gesichtern (Wahrnehmungsgegenstand) und dem erinnerten Gefühl (Wahrnehmung) besteht ein signifikantes Band der Übereinstimmung: Die Erinnerung wird in ihnen als Sprache belebt. Die Erinnerung ans „Leben“ gelingt dem Häftling im Erinnern von Lyrik, während sich die Prosa nach dem Lager für die Beschreibung der Erinnerung ans Lager eignet – als reales, das heißt: „lebendiges Dokument“. Den Beginn des Schreibens und somit eine „Wiedergeburt“ im Lager schildert das Erzähler-Ich im „Handschuh“ von 1972. Die hautschindende Krankheit, die durch Vitaminmangel ausgelöst wird, löst die kranke Haut

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wie „Papier“ vom Leib. Die Hand, deren Haut sich immer erneuert, erzählt personal ihre Geschichte (Autobiografie): der eine Handschuh, den die „alte Hand“ abgestreift hat, wird ins Museum von Magadan geschickt – als Beweisstück, als Andenken, als Denkmal für den Tod, das Überleben und die Wiedergeburt. „Mit einem toten Handschuh ließen sich keine guten Gedichte schreiben oder Prosa. Der Handschuh selbst war Prosa, eine Anklage, ein Dokument, Protokoll“ (Schalamow, 2008, 352). Die Haut, die abfällt wie Papier, schreibt ihre Geschichte von alleine: Die Hand schreibt plötzlich automatisch aufs Papier, das sie selbst ist. Der abfallende Teil des Körpers wird zu einem neuen Leib, zu einer auf Papier geschriebenen „Geschichte“ (Schalamow, 2008, 352). Die Verknüpfung zwischen Haut und Papier lässt keinen Vergleich zu, sie fallen in eins; die Haut ist das Papier und ermöglicht dank der Häutung das Schreiben ihrer selbst. Die Haut als Zeugnis und Dokument eines gelebten Lebens, als Geschichte und Wiedergeburt eines schreibenden und neuen Ich ist auch nichts anderes als die Schreibgrundlage: Ursache und Möglichkeit zugleich. Das Schreiben wird aber zum Ort der Genesung, in der Überschreibung der toten Hand bzw. Haut, in der Neuschreibung des Körpers – wobei dieser im Schreiben selbst steckt: in einem Zirkelschluss, wo sich beide gegenseitig bedingen.

9.1.2 Die Tatsache des Mythologischen: Zusammenfassung when fact becomes legend, print the legend. Jean-Luc Godard, aus: „Eloge de l’amour“

Erzählen, Reden, Meinen („mein-en“) ist aus Selbst geknüpft. Dieses knüpft sowohl an den Autobiografiediskurs Paul de Mans an als auch an die Zeugnisse von Imre Kertész, Jorge Semprun, Warlam Schalamow oder Abram Terz/Andrej Sinjawskij. De Mans „Gesicht als Ort der Rede“ deutet Erkenntnis und Identität über die Tropologie der Maske oder des Gesichts an, wie sie in den Berichten aus dem Lager, am unsichtbar gewordenen Rand zwischen Leben und Tod, den Autobiografen vor Augen standen. Wenn der Blick getrübt, das physiologische Auge erblindet ist, wird nicht nur der Erkenntnisgegenstand ein anderer, sondern die Erkenntnis nimmt

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als Fokus oder „Set“ 26 eine andere Richtung ein. Das Vor-Bild, das für jede „Vorstellung über sich selbst“ Bedingung ist, nimmt die Erinnerung zu Hilfe. Erinnert wird am Ort des Abbruchs und über selektive Leerstellen hinweg. Und wo die Erinnerung im „ununterbrochenen“ Erzählen geschieht und zur (vermeintlichen?) Wiedererlangung der eigenen Identität eingefordert wird, führt dasselbe Erzählen auch auf den rettenden Abweg in eine neue Zeit und Geschichte. Kertész’ „geistige Kraft“ des unablässigen Sprechens spiralt so mit jeder narrativen Wendung enger ein, greift aber zugleich auch weiter aus. Die Referenzialität der erinnerten Wirklichkeit entfernt sich. 27 Die beiden paradoxen Bewegungen von Verdichtung/ Erinnerung versus Kontextualisierung/ Ausgreifen haben auf ihre Weise alle drei Autoren gemeinsam: Das aus der Zivilisation und Kultur herausgefallene Ich im Lager braucht in der Leere Ebenbilder, Ähnlichkeiten, vor allem aber ein Gegenüber, um sich seiner selbst und seiner Lebendigkeit versichern zu können. Von der Leere selbst aber existieren keine Abbilder. Die Selbsterfahrung im „Angesicht des Todes“ hat aus der verstummten Sprache einen sprechenden Blick und aus dem Blick wiederum eine Sprache geformt, die jetzt gestisch ist („Hand“ bei Schalamov; Mimik, Geste bei Semprun). In dieser gestischen Sprache wird es dem Ich über seine Wahrnehmung möglich, eine Beziehung zum Anderen und somit zu sich selbst herzustellen. Der Sprache kommt eine schöpferische Dimension zu, die in der neuen Vermittelbarkeit die Deixis auf das Ich zurückweist. Der Blick übernimmt oder kompensiert den Ausfall des Körpers bzw. des Sprechens über die Verdichtung, die zugleich ein Be-greifen und Umdeuten der eigenen Welt intendiert. Sprachlich führt diese Verdichtung in Lyrik – ihrerseits eine sprachliche Verdichtung zu einem „Bild“, das eine unanfechtbare Kommunikation und somit Beziehung zum Anderen ermöglicht. Das gemeinsame Rezitieren von Dichtung im Lager ist die Anbindung zur Welt

26 Dieser poetologische Begriff über die „Selbstreflexivität“ der Sprache bei Roman Jacobson kann hier versuchsweise analog gesetzt werden. 27 Edward Young macht auf Literatur und Vermittelbarkeit aufmerksam, die ein Kontinuum der Logik einfordern; dabei verliert das gewalttätige Ereignis seine Faktizität und seine reale Unfassbarkeit (Young, 1992, 34).

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außerhalb des Lagers, deren Erinnerung der Kultur auch das eigene Selbst bewahrt. Sowohl in diesem notwendigen Sprechen zum anderen, als auch in der Erinnerung von Literatur und Lyrik zeigt sich beim Ich jener Prozess des Ausgreifens aus dem Raum des Lagers, der es schließlich auch selbst in seine Abstraktion und Objektivation zwingt. Die Erinnerung der verlorenen Kultur im Gespräch mit dem Gegenüber lässt das Ich nicht nur teilhaben, sondern bindet es über diesen äußeren Stabilisator auch ans Kollektiv des (noch) Erinnerbaren. 28 Das Erinnerbare ist nicht nur die Schnittmenge der Dialoge aus dem Kollektiv des Lagers, sondern auch eine Erinnerung im Lager, die nur vermeintlich über seinen Zaun hinausgreift, in Wirklichkeit aber in seinem geschlossenen System zirkuliert. Die erinnerte Kultur von Außerhalb wirkt daher also in gewissem Sinne kollektivierend auf das Ich zurück, das sich damit seiner selbst versichern will. Darin sieht Kertész die bleibende Gefangenschaft auch nach dem Überleben des Lagers. Aus der Zirkulation um das Ich und die erinnerte (poetische) Kultur resultiert ein Überdauerndes, das alle Merkmale des Mythologischen zur (Selbst-)Beschreibung trägt: Eine solche mythologische Sprache wirkt über den Tod hinaus; sie besitzt eine „gesetzbildende geistige Kraft“ und sie stellt dem Ich in ihrer immanenten Vielstimmig- und Vieldeutigkeit Ähnlichkeiten oder sogar ein Ebenbild zur Verfügung, an dem seine gebrochene Identität ein selbst-versicherndes, mögliches Gegenüber erblickt – eine poetische Struktur letztlich eines weder ganz natürlichen noch ganz menschlichen Daseins. 28 Chase nennt „diese Begegnung [„im Austausche des Blicks, das Aufeinandertreffen von ‚Augen‘“] keine Erkenntnis, kein geteiltes Bewußtsein gemeinsamer Menschlichkeit. Sie ereignet sich als eine aktive sprachliche Handlung, als Behauptung einer offenbaren Verwandtschaft, die nicht in der Natur der Dinge gegeben ist“ (Chase, 1998, 417). Hier wird das Verständnis von Sprache als Figur zugleich eine des Handelns: „Die Behauptung von Beziehung setzt einen Prozeß des Vergleichens und Ersetzens in Gang, das System der Tropen und Figuren, vermittels dessen Sprache als Repräsentation und Erkenntnis fungiert“. Der „Prozess einer Totalisierung“, wie es Chase mit de Man erläutert, aus dem die Fähigkeit resultiert, „Entitäten als austauschbare Teile eines Ganzes zu sehen“, relativiert so gesehen auch die Differenz zwischen Individuum und Kollektiv.

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Hans Blumenberg fasst in „Sprachsituation und immanente Poetik“ die Tendenz der Sprache zur Vieldeutigkeit am Ort der historischen Sprachkrise zusammen. Weitreichend sind diese Ausführungen letztlich auch im Hinblick auf die hier versuchte Unterscheidung zwischen lyrischem Schaffen und dem Prosa-Schreiben über dem Abgrund und speziell bei Moses Rosenkranz nach 1957. Blumenberg geht von der poetischen Sprache vor allem als der Lyrik aus; in der oben festgehaltenen Tendenz zur „Vieldeutigkeit“ und „Umdeutung der Realität“ im Angesicht des Todes geht die „Sprengung der Form“ notwendig von der Lyrik auf die Prosa über. Die Sprache löst sich erst über die Lyrik, dann in einer „neuen Form der Prosa“ (Schalamow) vom „störenden Wirklichkeitsbezug“. Die Bedeutung der lyrischen Sprache im Lager verliert ihre Referentialität im Lager da, wo – mit Blumenberg gesprochen – ihr Verweischarakter durch die Musikalität (im Lied) außer Kraft gesetzt wird: Da „hört sie auf, Verweisung auf etwas anderes zu sein, und beginnt nur noch sich selbst zu bedeuten“ (Blumenberg, 1981, 149). Die Sprache bedeutet hier dem Dichter „matérialisme verbal“ (Paul Valéry) und werde in diesem Sinne gestisch, ein Instrument der Umdeutung. Ist die Erinnerung der Lyrik oder der eigenen Werke wie im Falle Rosenkranz aber nur mehr ein Zirkulieren über poetischen Fragmenten, muss die Sprache in einer weiteren Sprengung der lyrischen Form, wie sie auch Schalamow vorschlägt, jene „Anreicherung“ erfahren, die ihr „neue Deutigkeiten“ ermöglicht (Blumenberg, 1981, 145). Der „Horizont moderner poetischer Texte“ wird so erweitert und „erkaltetes Material“ entzündet neu. Es wird also nicht etwas „wiedergewonnen“, was in einem Verfallsprozeß geschichtlich verloren gegangen ist, irgendwann aber in ursprünglicher Präsenz dagewesen sein könnte als mythisches Elementarerlebnis, das sich restaurieren ließe, sondern Poetisierung ist durchaus mit Neuheit, Erstmaligkeit verbunden. Der Prozeß der Poetisierung, der sich an der Sprache vollzieht, ist also vergleichbar mit dem Prozeß der theoretischen Vergegenständlichung, der sich gleichfalls elementar dadurch vollzieht, daß das Selbstverständliche problematisch wird, daß auch hier etwa aus dem Horizont der „Lebenswelt“ heraustritt (Blumenberg, 1981, 146).

In der Verdichtung der Erinnerung ans Lager sowie der Erinnerung an die Erinnerung im Lager geschieht eine Sprengung der Sprache, in der zugleich

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„das banalste Alltagswort neben die geweihte metaphysische Vokabel“ tritt und es unmöglich wird zu unterscheiden, welchem Wort der poetische Effekt zuzuschreiben ist. Diese „Elementarsprache“, die aus der Überkreuzung verschiedener Sprachen schöpft, ist sowohl in Rosenkranz’ Prosa als auch konzeptionell verdichtet in der Prosa von Bruno Schulz zu finden. Der ästhetische Reiz, schreibt Blumenberg, „liegt in der Annäherung an den Umschlagspunkt in das Unmögliche, an die Selbstaufhebung, in der Annäherung, sage ich, nicht in der Identifizierung mit diesen Extremen“ (Blumenberg, 1981, 147). Der Sprache kommt ein „neuer Grad der Bewußtwerdung“ zu, wie er in der Verwischung der Grenze zwischen Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit gefordert wird: Es kommt in der Tendenz auf Vieldeutigkeit zu dem, was man ein „Grenzereignis“ nennen könnte, es wird ein Punkt erreicht, an dem der semantische Dienstwert der Sprache gleichsam versagt. Ich werde nicht behaupten, daß in diesem Grenzereignis selbst der Spitzenwert der ästhetischen Möglichkeit der Sprache zu sehen ist; aber die Nähe der Gefährdung durch dieses Grenzereignis bestimmt wesentlich den ästhetischen Reiz der poetischen Sprache (Blumenberg, 1981, 147).

Die „neue Realität“, „die in der Dichtung die Sprache selbst gewinnt“, ist für die autobiografische Prosa über dem Abgrund bzw. nach dem Lager als eine neue Mythologie lesbar, deren historische und aktuelle Bezüge in einer unhintergehbaren Funktionsweise zusammengeschlossen und in eine „Erwartung umgestimmt sind“, welche der „Dinglichkeit sprachbildlicher Präsenz selbst“ den ästhetischen Sinn und eine wiedergewonnene andere „Lebendigkeit“ beimisst.

9.1.3 Kindheitsautobiografie Ein spielerisches, wandelbares Moment in der „Nacherzählung“ des eigenen Lebens liegt in der Erwartung der Autobiografie, in der eine „allgegenwärtige Verwandlung von Geschichte in Natur“ aufrecht zu erhalten versucht wird (Emmerich, 2002, 321). In der Kontextualisierung des Ich in einem überdauernden Organismus aus Zeit und Geschichte ist Kertész’ „gesetzbildende geistige Kraft“ einer möglichen Strukturierung die bewegliche rheto-

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rische Figur, die dem Erzählen jenes sinnstiftende Element des Lebenszusammenhangs verleiht, das, wie Emmerich schreibt, eine „andauernde mythische Qualität“ besitzt: „Momente von Übermächtigkeit“, „Undurchschaubarkeit“ und „Wiederholungszwang“ (Emmerich, 2002, 321). Diese Momente wiederum findet Richard N. Coe in der überkulturellen „Gesetzmäßigkeit“ von Kindheitsautobiografien: „The experience of childhood is the same the world over, and in all ages“ (Coe, 1984a, 2), aber es gibt darin auch einen „überindividuellen Mythos“, der von der literarischen Tradition der raumzeitlichen Umgebung des Autobiografen zeugt: … The autobiography of childhood cannot escape from the tyranny of literary fashion and acceptability. Each childhood, considered as the narrative of an individual, is subject to the enslavement of convention. But […] there is, in each and every culture, a myth which goes beyond the individual; and these myths reveal possibly a greater element of fundamental truth about the former selves of the individual poets conserned than all the petits faits vrais which memory accumulates (Coe, 1984a, 59).

In der Entdeckung des Mythos, der für die eigene Kindheit letztlich ein poetisches Muster bereitstellt, wird nach Coe nicht nur eine tieferliegende Wahrheit über den Autobiografen ans Licht geführt, sondern für den Autobiografen auch immer ein prozessuales Selbstbild als Dichter dokumentiert: It has an archetypal patterns, its uniquely-delineated heroes and heroines, its experiences and its motivations; and – a final and highly significant fast – a study of some six hundred specimens drawn from different cultures reveals that, more often than not, it is a poet’s form. […] poets, as such, rarely write memorable autobiographies of their mature years. Everything essential that has to be said about themselves has already been said – in their poetry (Coe, 1984a, 59).

Gerade Letzteres wird für die Beobachtung des Kindheitsfragments von Rosenkranz bedeutend, wenn der Dichter sagt: „Ich habe bislang bereits mehrere Male dazu angesetzt, über mich zu schreiben. Es gelang mir nie“ (Rosenkranz, 1998, 162) – und sein lyrisches Werk als „Selbstbildnisse in Versen“ bezeichnet. In der Schilderung der eigenen Kindheit ein Moment zu erblicken, das auch im späteren Leben „hoch darüber“ führte 29 , wird 29 Coe’s When the Grass Was Taller untersucht die poetische Entdeckung der Kindheit in der Autobiografie und setzt Zitate unterschiedlicher Autobiografen (un-

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zum rettenden Ab- Weg des erinnernden Ich am Abgrund in eine Welt, die noch voller Wunder ist und in der das unschuldige Ich keinen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit, Märchen und Wirklichkeit zu unternehmen gezwungen ist. Wenn später gerade diese signifikante Unterscheidbarkeit durch die absolute Zäsur erneut außer Kraft gesetzt wird oder worden ist, muss es dem erinnernden Ich leichtfallen, zu seiner Kindheit als einen Ort, den es im Lager nicht gibt, zurückzufinden. Es ist der Ort, an dem die subjektive Benennung der Dinge stattfindet und diese der Welt ihr Gesicht geben. Das Kind benennt seine Welt oder findet über Traum und Phantasie Wege, einer Wirklichkeit zu entgehen, in der es sich fremd fühlt. Hier liegen auch die Quellen einer poetischen Anschauung, die in den Prozess des Schreibens führt – und so zum dichterischen Selbstbild. We observe that when the child discovers language, finding words ‚sweet for their own sakes‘, the purely sensual qualities of individual words are enhanced and transmuted into awe and wonder by musicalitiy, above all by the rhythm, of the phrase or period – a link when the experiences of incantation, of magic once again and, in certain cases, of religious mysticism (Coe, 1984a, 30).

Mit Bruno Schulz finden die drei hier vorgestellten Kindheitsautobiografen ihren markantesten Vertreter in Bezug auf eine Befragung einer poetischen „Privat-Mythologie“ aus der Kindheit. 30

terschiedlicher Herkunft und Sprache) über das Motiv des „Grases“ an den Anfang. Coe schließt seine Untersuchung mit der Kindheit als Mythologie und Poetik (Coe, 1984b). In diese komparatistische Untersuchung ließe sich Rosenkranz nur schon aufgrund seiner immer wieder betonten Liebe zum „grünen Gras“ bestätigend aufnehmen. Nach frischem Gras sehnte er sich vor allem 1957 in Bukarest, wo er sich immer wieder für Stunden oder sogar Tage an einen Teich außerhalb der Stadt zurückzog, während er sein Zimmer ganz in Grün einrichtete. 30 Alle drei Autoren stammen aus Galizien bzw. aus der Bukowina und haben das jüdische Ghetto und/oder die Flucht vor den Nationalsozialisten erfahren. Bruno Schulz als der unkonventionellste unter ihnen hat als einziger das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt: 1942 wird er auf offener Straße von einem NSSoldaten erschossen. Die anderen Autoren haben den Holocaust überlebt und wie Rosenkranz ihre Autobiografie über die Kindheit in der vom Krieg zerstörten Bukowina beschrieben.

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Die folgende Betrachtung versucht, Konzepte von Kindheitsautobiografien mit autobiografischen Erinnerungen von Bukowina-Autoren und somit annähernd auch mit der Lager- oder Holocaustliteratur des 20. Jahrhunderts zu verbinden. In dieser Verschränkung verengt sich der Fokus auf eine mögliche Kindheitsmythologie im autobiografischen Fragment Kindheit von Moses Rosenkranz: Der polyvalente Herkunftsort über die Komponenten Kultur, Geschichte und Natur bietet dem poetischen Ich den passenden „Urgrund“ für eine (Neu-)„Schöpfung“ von Identität. Die enge Verbindung mit der Natur als einzig unmittelbar erfahrbare „Schöpfung“ ist denn auch bei allen genannten Autoren in einer phantasmagorischen Einwindung ihrer Selbsterschreibung präsent. Im vielsprachigen und „strukturlosen“, eigendynamischen Milieu der ländlichen Bukowina wird das Wiederfinden der (eigenen poetischen) Sprache sowie des Erzählens nach der Erfahrung der absoluten Zäsur möglich oder zumindest „wahr-haft“ erinnerbar. Das Kind kann in seiner phantasievollen Wahrnehmung Zusammenhänge erkennen, wo dem Erwachsenen kein Sinn mehr erschließbar ist. Die Suche nach der eigenen (Ur-)Sprache und eines eigenen („kindlichen“) Verständnisses vermittelbarer Wirklichkeit zeigt sich bei allen hier besprochenen Autoren in der Gegenüberstellung einer unmittelbaren und zugleich von Gefahren durchzogenen Märchenwelt. Das notwendige und auch erfahrbare „Wunder“ des eigenen Überlebens scheint am (sinnlich) polyvalenten Ort der Kindheit wieder neu erklärbar. Sprache und Sprachlosigkeit stellen demnach bei allen Autoren den antithetischen inneren Baustein einer regressiven äußeren Selbstgenese dar. 31 In den besprochenen Kindheitsautobiografien wird die Frage nach dem Selbstbild, nach Identität und Wahrheit darüber verhandelt, dass die sich aufdrängende poetische Bildlichkeit innerhalb eines „dokumentarischen“, d. h. auch „wahrhaft“ intendierten Schreibens normative Ereignisse in „individuelle“ übersetzt und der poetische Spracherwerb zum Topos einer neuen Wirklichkeit aus der Erinnerung wird, der das existentielle Moment der (Selbst-)Verwandlung über die kindliche Wahrnehmung etabliert. Die Re31 Giorgio Agamben versteht die Kindheit in ihrer Exposition zwischen Erfahrung und Sprache als „Differenz von Sprache und Sprachlosigkeit“ – und somit als ein „Jenseits“ (Agamben, 2004).

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flexion oder naive, noch unreflektierte kindliche Auffassung von Wirklichkeit erkennt jedes zeitgeschichtliche Erlebnis umgekehrt zugleich als ein „kritisches“, das nur mehr in subjektiver Schilderung als ein „wahres“ erzählt werden kann. Für Bruno Schulz ist die Rückwendung zur Kindheit eine notgedrungene, aber noch immer nicht die letzte Station auf der Suche nach der „Ursprache“, um die Zusammenhänge des auseinander gedrifteten Welt- und Lebenszusammenhangs am (eigenen) Schöpfungsgrund aufzuspüren und vermittelbar zu machen. Schulz’ Erzählmotive sind von mythologischen Grundelementen durchzogen, wo gleichsam eine „vergleichslose“ Metaphorologie 32 der (eigenen) Biografie mit den antiken Mythologien verschmilzt. Die Zimtläden vermitteln auf verkomplizierende Weise die Verbindungsfäden unterschiedlicher Wahrnehmungswelten von Raum und Zeit in seiner autobiografischen Prosa: „umgeben von andern Gestalten und Begebenheiten des Buches und von einer farbigen Landschaft umflutet, die in immer neuen Konfigurationen sein Treiben begleitet“ (Schulz, 2008b, 209). Mit der Landschaft und den Bildern, die sich als „dunkle, ahnungsvolle Atmosphäre“ um „jede Familiengeschichte zusammen rankt und es gleichsam mythisch wetterleuchtet“, erschließt sich dem Dichter ein „zweites Gesicht“ und eben die „tiefere Version der Geschichte“ seines Selbst (Schulz, 2008b, 206). Dass Schulz in einer Art persönlicher und privater Mythologie den Vater am Rand der irdischen und mythisch-jenseitigen Wirklichkeit ohnmächtig und hoffnungsvoll „oszillieren“ lässt, „rührt“ 32 Die Metapher ist hier als Narrativ zu verstehen, als Erzählung eines Wortes oder eines Begriffs: Ausdehnung eines Monosems, was zugleich dem Begriff bzw. Wort seine „Universalität“, Schulz’ Urbedeutung, über die Verästelung der Bedeutung zurückgibt. Mit der Zeit gedacht, ergibt sich daraus die schulzsche Grundbeziehung zwischen Metaphorik und Mythologie. Im Angesicht des Holocausts und der Lagerliteratur bespricht Edward Young seinerseits die Metapher als Potenzial zur Vermittlung komplexer Sachverhalte. Er setzt sich gegen ein Metapherverständnis ein, das die Trope als einfachen Vergleich oder Erkenntnismodell abtut; die Metapher ist kein Ausweichen vor der Realität, sondern Teil von ihr (Young, 1992, 149–151).

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nicht nur am „Wesen der Dinge“, sondern auch am „Kern des Weltgeheimnisses“, am „geheimen Knoten des Weltzusammenhangs“, wo der „häretische Demiurgos“ mit „frewlerischer Hand“ am „Welträtsel nestelt und fingert“ (Schulz, 2008b, 207): Hier ist der Autor zugleich das „Kind“ in der doppeldeutig gesetzten „Geschichte“ von Ich und Welt. Die Dinge, an die zwar in ihrer Krypsis nie ganz heranzukommen ist, erstehen in einer sagenumwobenen, gleichsam privatmythischen Landschaft neu zum Leben. Schulz schrieb im Nachwort zu seinem Manuskript Die Zimtläden: Ich glaube, daß die Verrationalisierung des Sehens von Dingen in einem Kunstwerk einer Demaskierung der Schauspieler gleichkommt und das Ende des Spiels, die Verarmung der Problematik eines Werkes bedeutet. Nicht deshalb, weil die Kunst ein Logogriph mit verstecktem Schlüssel ist, die Philosophie dagegen derselbe Logogriph, nur gelöst. Der Unterschied sitzt tiefer. Im Kunstwerk wurde noch nicht die Nabelschnur zerrissen, die es mit der Gesamtheit unserer Problematik verbindet, dort kreist noch das Blut des Geheimnisses, die Enden der Gefäße wandern in die uns umkreisende Nacht und kehren von dort voll dunklen Fluidums zurück (Schulz, 1992b, 391).

Schulz be- und ergreift in seiner extravaganten Metaphorologie nicht nur den Zusammenhalt der Dinge untereinander, der Wahrnehmung und der Ich-Konstitution über die Phantastik; er verweist gleichermaßen auf den Mythos, an dem die Dekonstruktion der Eindeutigkeit als Monokel durch die scheiternde Mimesis Einzug hält; zudem verspricht er eine poetische Bildlichkeit, über die Neues aufscheint.33 Der autobiografische Text als Kunstwerk, in dessen Blut noch „das Geheimnis kreist“, steht derselben Kritik einer Wissenschaftssprache gegenüber, wie sie auch Rosenkranz in seiner späteren Kindheit verlautet. Mit einer Sprache, die Schulz aus der vermeintlich „reinen“ Naturwissenschaft destilliert und mit der Poesie verschmelzen lässt, 34 gelingt ihm eine Sprache, die, wie der Mythos selbst, weder vergleicht noch substituiert, sondern den Zwischenraum von Sprache und Sprachlosigkeit benennt. Sprache als Sprache erscheint dabei in 33 Vgl. Schulz’ Erzählung „Die geniale Epoche“, in: Das Sanatorium zur Sanduhr. Hanser, 2011. 34 Vgl. hierzu auch: „Die Mythisierung der Wirklichkeit“, in: Die Zimtläden. Hanser, 2008.

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ihrer erbarmungslosen Uneindeutigkeit. Eine Uneindeutigkeit allerdings, die nach der Kenntnis ihrer Lektüre umso erkenntnisreicher wird. Schulz’ Begriff des „Mythologischen“ knüpft insgesamt also weniger an eine kulturhistorische Dimension an, als vielmehr an eine überindividuelle und dennoch „private Mythologie“ auf dem „Boden des Authentischen“: Hier glaubt der Verfasser sich dem antiken Lebensgefühl nahe, er glaubt aus dem heidnischen Lebensempfinden heraus gestaltet, phantasiert und gesponnen zu haben, wie ja für den antiken Menschen die Genealogie des eigenen Stammes schon hinter der zweiten oder dritten ascendenten Generation ins Mythische sich verlor, der nach rückwärts gewandte Blick die Geschichte der Familie sich in Mythologie auflösen sah. Was in diesem Buche jedoch geboten wird, ist keine irgendwie kulturhistorisch festgelegte, geschichtlich gemünzte Mythologie. Die Elemente dieses mythologischen Idioms entspringen jenem Dämmerreich der frühen Kindheitsphantasien, den Ahnungen, Ängsten, Antizipationen jener Lebensfrühe, die die eigentliche Wiege des mythischen Denkens bildet. Es galt, diesen mythischen Nebel zu einer zusammenhängenden und sinnvollen Sagenwelt zu verdichten, ihn zu einer Art persönlicher und privater Mythologie ausreifen zu lassen, ohne dabei den Boden des Authentischen zu verlieren (Schulz, 2008b, 206–207).

Im „Dämmerreich“ der eigenen „Kindheitsphantasien“ beschreibt Schulz ein frühes Ich in der Biografie seines Vaters. Die Beziehungen und Bezugspersonen der frühen Kindheit gehen von einer Wahrnehmung am Gegenüber aus, wobei das Ich allmählich selbst zum Gegenüber wird und aus diesem und für dieses sprechen lernt. Ein „nicht verrationalisiertes Sehen“ und die Rückwärtsgewandtheit ins „antike Lebensgefühl“ bringen jene Wahrnehmung zustande, die eine individuelle, aber der „Gesamtheit“ verpflichtete Mythologie einer poetischen Autobiografie bereitstellen. Ein Sehen, das die Akteure des Lebens maskiert, ist Voraussetzung, um erkenntnismäßig tiefer zu gehen: dahin, wo die Zusammenhänge des lebendigen Spiels sowie in der Geschichte erst selbst nachvollziehbar werden. Dieses Sehen in der Verschränkung der Wirklichkeitsebenen erhält so Wahrheitsanspruch. Louis Begley wendet sich in Lügen in Zeiten des Krieges seiner Kindheit ebenfalls in der Befragung des Mythos zu. Nachdem ihm die „entmythisier-

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te“ Erinnerung an den Krieg nur mehr über Vergleiche und historische Stoffe aneignenbar scheint, bemerkt er die Unzulänglichkeit der „Metapher“ für eine „Krankheit“, die viel tiefer geht als jeder Vergleich benennen kann. In dritter Person leitet er seinen eigenen Kindheitsroman ein: … auch sein Erinnerungsvermögen ist ihm erhalten geblieben. Er bewundert die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal literarisch ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, am Leben geblieben, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er. Er achtet darauf, die Metapher nicht zu nahe an sich heranzulassen. […] Seine Erinnerungsbilder sind Stoff für Alpträme, mit Mythen haben sie nichts gemein. […] Er ist ein Voyeur des Bösen geworden, starrt gebannt auf die grauenhaften Szenen, die vor seinem inneren Auge abrollen; manchmal weiß er nicht, welchen Part er darin spielt. Mußte das Kind, das er einmal war, sich so entwickeln, ist das der Preis für seine Weise des Überlebens? Für Catull empfindet er eine Affinität anderer Art, die aufblitzt wie ein Leuchtfeuer über schwarzem Wasser. Er malt sich die Kindheit des Dichters aus […] Er [der Dichter] möchte nur selbst gesunden, die quälende Krankheit abschütteln, die ihm alle Freude vergällt hat. Ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum … Diese Zeilen haben unseren Mann jahrelang verfolgt, er meint Catulls Krankheit bis auf den Grund zu kennen, auch er wollte nichts anderes mehr, bloß noch gesunden, um jeden Preis. Nur trifft auch diese Metapher nicht. Seine [des Autors] Krankheit geht tiefer als die des Dichters. […] Der Mann mit den traurigen Augen ist überzeugt, daß er für alle Zeiten verändert ist, wie ein geprügelter Hund, und daß kein Gott ihn heilen kann […] Trotzdem, es hilft ihm, das Gedicht wieder und wieder zu sagen. […] Er denkt an die Geschichte des Kindes, aus dem so ein Mann geworden ist. Maciek soll das Kind heißen, wie der kleine Maciek in dem alten Lied, der feine Kerl, der unermüdlich immer weiter tanzt, solange die Musik spielt (Begley, 1994, 7–10).

Begley, der, anders als Schulz, den Abbruch der eigenen Geschichte überlebt hat, distanziert sich von seinem Ich erst über die „Schuldfrage“ des Überlebens. In der Benennung des Ich mit dem Namen aus dem „Lied“, welches der Mann für sich wiederholend spricht, wandelt sich gemächlich die Vorstellung vom Selbst und wird erzählbar. Die Er-Form im Praetext der Er-

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zählung und die Notwendigkeit der Erfindung 35 am Ort der eigenen Identitätsversicherung erinnert an Sempruns Erzählen gegen den Tod in Buchenwald. Die „Geschichte des Kindes“ in der Benennung einer „anderen“ Figur, die unablässig weitertanzt, bringt den verstummten Erzähler zum Erzählen (zur Sprache) zurück. Erst sind die eigenen Erinnerungsbilder verwirrend und haben mit Mythen nichts zu tun. Die dritte Person Singular wendet den Blick notgedrungen von außen nach innen. „Er“ findet andere Vorbilder wie Catull und erkennt in der Gegenüberstellung dessen erst die unermessliche Tiefe des Einschnitts in seiner eigenen Erfahrung. Kein verkürzter Vergleich als Metapher hilft aus, nur das Wiederholen des Gedichts. Was für ein Kind aber ist es, welches dieser Erfahrung vorausgeht? Das Kind mit anderem Namen, jenem aus dem ewigen alten Lied, das er wiedererkennt als „er selbst“. Die Suche nach Befriedigung über Ebenbilder aus den Mythen führt das Autor-Ich, das „Ich als Er“, auf der Suche nach einer passenden, möglichen Sprache zum Kind, wo die „Wiederholung“ (die Wiedergeburt?) und dabei auch eine Rückkehr der erinnerten Wirklichkeit wieder möglich wird. Das Wiederholen des Gedichts und die Musik sind die flüchtigen Haltepunkte der schwebenden Dauer des Lebendigen: flüchtige Formen, die erst in der Rede ihren „Inhalt“ und Sinn erhalten. Die Diskrepanz zwischen einer nicht erinnerbaren, da unvergleichlichen Vergangenheit und einer zur Verlebendigung drängenden Wirklichkeit aus Erinnerungsfragmenten disputiert Aharon Appelfeld „zwischen Erinnerung und Phantasie“ (Appelfeld, 2007). Die Notwendigkeit, zur Kindheit zurückzukehren, um die Erinnerung an den Krieg zu „domestizieren“ oder überhaupt erträglich und vermittelbar zu machen, schildert Appelfeld im Vorwort seiner Geschichte eines Lebens36 . Ich war in den Kriegsjahren ein Kind. Dieses Kind wurde erwachsen, und alles, was ihm widerfuhr und mit ihm passierte, wirkte in seinen Jahren als Erwachsener weiter: der Verlust des Zuhauses, der Verlust der Sprache, Misstrauen, 35 Die Erfindung wird in ihrer Buchstäblichkeit zur Wiederfindung der eigenen Identität, wenn diese auch eine neue, andere – poetische – wird. 36 Der Titel mit dem unbestimmten Artikel eines Lebens deutet die Diskrepanz der eigenen Erfahrung zwischen Kollektiv und Individuum an.

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Angst, Redehemmung, Fremdheit. Aus diesen Empfindungen webe ich die Geschichte meines Lebens. Allein die richtigen Wörter machen einen literarischen Text aus, nicht dessen Thema (Appelfeld, 2007, 130).

Appelfeld schildert ohne verbindliche Chronologie. Die ersten „Erlebnisse“ in der Erinnerung sind auch die späteren: Sie sind nie abgebrochen und der Zusammenhang der Geschichte seines Lebens besteht aus dieser Fortwirkung der frühesten Erfahrungen eines Außerhalb-der-Welt-Seins. Der „Zusammenhang seiner Geschichte“ ist der Zusammenhang zwischen Leben und Tod – über die frühen Erlebnisse in der Zukunft. Die temporale Erzählperspektive wechselt mehrmals und damit auch der Fokus auf die vergangenen Bilder. Die Unmöglichkeit der Schilderung des Krieges zwingt Appelfeld erst, auf normative und zeitgeschichtliche Ereignisse auszuweichen, um sich diese im Anschluss über die phantastische Erzählweise subjektiv anzueignen – im „Rückblick“ auf die sinnliche Erfahrung, die über den Körper memorierbar wird: Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln […] Im Lauf der Jahre habe ich mehr als einmal versucht zurückzukehren, die Holzpritschen im Lager zu berühren, die dünne Suppe zu schmecken. Was bei diesen Berührungen herauskam, war ein Gewirr von Wörtern, ein misslungener Rhythmus, zu schwache oder übertriebene Bilder. Ein tiefes Erlebnis, das lernte ich schnell, lässt sich sehr leicht verfälschen. Auch diesmal werde ich jenes Feuer meiden (Appelfeld, 2007, 57).

Verzweifelte Versuche, „die kostbaren Kindheitserinnerungen mit dem neuen Leben in Zusammenhang zu bringen“ und „mein Ich zu bewahren, das etwas anderes sein sollte, als es sein konnte und sein wollte“, gründen letztlich in der Erinnerung an die Empfindung, die nicht zuerst in Sprache, sondern später über ein Bild zum richtigen Wort finden kann (Appelfeld, 2007, 122 f.). Ein Grund vielleicht dafür, dass die Verdichtung der Lyrik erstmals leichter fällt, und auch dafür, dass Rosenkranz seiner Unfähigkeit einer Schilderung seines Lebens die „Selbstbildnisse in Versen“ entgegenstellte. Die Rückkehr zur Kindheit ist kein Erzählen von der Vergangenheit. Das noch Erinnerbare ist die Beziehung (aus der Vergangenheit) zum Ich selbst. „Die Vergangenheit allein wäre ein schlechter Grundstoff für die Li-

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teratur. Literatur ist aktuelle und akute Gegenwart, nicht im journalistischen Sinne, sondern in ihrem Streben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewusstsein zusammenzuführen“ (Appelfeld, 2007, 130). Das nachträgliche Zusammenbinden von Erinnerungsfetzen wurde nicht nur zu einer „wahren Geschichte“, sondern zum rebellischen Akt wider die Ideologie, die der Erinnerung die Notwendigkeit des Vergessens aufdrückte: „Ideologen dulden keinen Pluralismus“, was hier aber aus dem schwarzweißen Schriftbild fast organisch herausgewachsen ist, stellt eine farbige Welt vor, die der Existenz neu zuträglich wird, das heißt, die Existenz überhaupt ermöglicht (Appelfeld, 2007, 120). Die Erinnerung meint das „Bekannte“, alte Bilder 37 und die „Ruhe“; die Phantasie ist ihr gegenüber mit „Flügeln“ ausgestattet und kann ins Unbekannte aufbrechen; an ihr haftet „Unruhe“, aber immer auch die „Zukunft“ (Appelfeld, 2007, 7–9). 38 Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken […] Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen […] Über den Zweiten Weltkrieg wurden damals vor allem Augenzeugenberichte geschrieben; dies galt als authentischer Ausdruck. Romane und Erzählungen wurden dagegen als etwas Fabriziertes angesehen. Ich konnte noch nicht einmal Zeuge sein, erinnerte mich nicht an die Namen von Menschen und Orten, nur an Dunkel, an Geräusche und Bewegungen. Erst später verstand ich, dass ebendies Rohmaterial die Essenz 39 der Literatur war, dass man aus ihm eine innere Geschichte, eine Art Legende formen konnte. Ich sage „innere“, denn damals wurden Chroniken hochgeachtet, als enthielten sie die Wahrheit. Der innere Ausdruck war noch nicht geboren. Meine Poetik entwickelte sich in den ersten Jahren meines Lebens; und wenn ich „in den ersten Jahren meines Lebens“ sage, meine ich damit alles, was ich im Elternhaus sah und aufnahm und während des langen

37 Wie auch Stendhal schrieb: „Ich sehe das wahre Gesicht der Dinge nicht, ich habe nur mein kindliches Gedächtnis. Ich sehe Bilder, ich entsinne mich ihrer Wirkung auf mein Herz, aber Ursachen und Zusammenhänge sind mir dunkel“. Rosenkranz schreibt diese Unergründbarkeit seinem nur „Bilder treibendem Geist“ zu. Vgl. Kapitel 9.3.4. 38 Dies erinnert an den modernen Engel, wie er oben über den Angelus Novus von Benjamin/Klee beschrieben wurde. 39 Diese „Essenz“ entspricht dem, was in der Rezeption von Rosenkranz und vom Dichter auch selbst immer wieder „Elementarpoesie“ genannt wurde.

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Krieges. Da festigte sich meine Einstellungen zu den Menschen, zur Kunst, zu den Gefühlen und zum Wort (Appelfeld, 2007, 111).

Als „eine Art Legende“, wie bei Mandelstam und Schalamow, entsteht aus dem alten Leben ein neues. 40 Die Poetik entsteht aus dem „Rohmaterial“ der Wahrnehmung selbst: über Randphänomene wie „Bewegungen“, „Dunkel, „Geräusche“ – es sind „Einstellungen“ oder Abmessungen des Blicks, die mit kindlicher Entdeckung der Welt einhergehen. Namen und Orte dagegen entgehen dem Gedächtnis. Ein „innerer Ausdruck“ als Zeugnis der Wahrheit besteht letztlich nur in jenen Erfahrungen der Kindheit, die Schulz und später Rosenkranz zur „Ursprache“ der Kindheit zurückfinden ließen. 41 Die elementaren Phänomene der Natur, wie das Rauschen des Wassers oder das Wehen des Windes bilden so auch den historisch-mythologischen „Urpunkt“ der Kindheit und den Beginn der eigenen Erinnerung über die sinnliche Wahrnehmung oder das „Gefühlsmäßige“ bei Rosenkranz. „Während des Krieges sprachen nicht Worte, sondern Gesicht und Hände“ (Appelfeld, 2007, 109): Das Lesen im Gesicht, die Beobachtung der Augen des Gegenübers wurden zur Überlebensstrategie; denn nur „die 40 Vgl. Schulz über die Entstehung von „Legenden“ als Werkzeuge der Verkleinerung und den „Einmarsch der Größe in die Schranken der Geschichte“. Mythologisierung der Wirklichkeit, wo „das Wesen der Größe in großen Antinomien zum Ausdruck“ kommt (Schulz, 1992b, 228). Der Überdimensionierung der erfahrenen und beschriebenen Wirklichkeit geht mit einer Zusammenführung von Wirklichkeiten oder Wirklichkeit und Phantasie einher, die keine Loslösung vom Detail meint, vielmehr eine Umfasstheit beschreibt, die über die Grenzen der Wahrnehmung transzendent wirkt und die Silhouetten der Dinge ineinander auflöst. Schulz verweist immer wieder auf eine „Allwirklichkeit“ und „Allwirksamkeit“, die bei Rosenkranz „Weltkorrespondenz“ oder „Allschau“ heißen. Vgl. Kapitel 9.3.2. 41 Appelfeld greift an einigen Stellen auf identische Motive und „Metaphern“ zurück wie Rosenkranz in Kindheit. Das einsame, in der Mitte und dennoch am Rand des historischen Treibens sich aufhaltende Kind wird zum scharfen, aber zugleich misstrauischen Beobachter von Gefahren wie menschlichen Häschern. Die sinnliche Wahrnehmung lässt am Ort der Gefahr – d. h. auch: am Ort der Erinnerung – Visionen frei, die der Metaphorik ihre Wirklichkeit und Wahrheit einschreiben (S. 70). Wahrnehmung von Menschen und Dingen bei Appelfeld hinsichtlich Rosenkranz, siehe S. 104.

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Sinne gaben die richtige Information“. Und was ins Gedächtnis einging war allem voran eine Empfindung der Entbehrung, des fundamentalen Verzichts. Aber gerade am Mangel und Schmerz, so lässt sich schließen, steigert sich die Selbstempfindung.

9.2 Fazit und Kommentar Wo Zeichenhaftes, Magisches und Märchenhaftes im Ursprünglichen der Kindheit kontextualisierbar und quasi immer auch „wahr“ wird, liegt das „Geheimnis“ des erinnernden Ich, dessen poetische Wiedergeburt im erinnerten Ich sogar auch über ein (auch späteres) Verstummen erzählbar wird. „Erzählungen des Holocausts setzen die Kindperspektive ein, um das Verstehen, respektive die Unmöglichkeit des Verstehens […] darzustellen“ 42 ; das Kind wird mit unwissenden Augen zum Mittler von Authentizität, aber auch zum Opfer der Geschichte, noch bevor es die Schuld kennengelernt hat. 43 „En recherchant, comme une sorte de mythe personel, le premier souvenir, l’expérience autobiographique se heurte à un universe morcelé et chaotique“ (Iuso, 2010, 108). Dieser „mythe personel“ oder ein chaotisches Ganzes, das gerade wegen seiner Unteilbarkeit für das autobiografische Schreiben nach der absoluten Zäsur bedeutend ist, findet da die Strategie der Erinnerung, wo die Erinnerung mit dem ersten Sinneseindruck zusammenfällt: Was aus der Kindheit erinnerbar bleibt, sind „les décors de mon enfance, les personnes qui l’entourérent; mes sentiments aussi, dont cependent je me garderai a priori de suivre l’évolution“ (Iuso, 2010, 103). Die 42 Metzler Lexikon literarischer Symbole, hrsg. v. Günter Butzer, Stuttgart, 2008. S. 181. 43 Das „Kind“ und die „Eule“ sind als vorausschauende, schelmische, unberechenbare Wesen, in denen sich zudem die paradoxe Symbolik verschließt oder ausdrückt, miteinander vergleichbar. An der Stelle sei auch auf den „blinden Seher“ Teiresias in der Ödipus-Sage hingewiesen: Er wird von der Hand eines Knaben geführt. Das Wesen der Unschuld als Form des Geistes wird mit dem Kind in die Moderne übertragen.

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Art visueller Zwischenzustände (Silhouetten, Konturen, Kontraste, Beziehungen und Analogismen zwischen Personen, Dingen und Sinneseindrücken) haben sich in der Wahrnehmung aller Autobiografen gezeigt. Zudem wurde bei allen über die Schilderung der eigenen Wahrnehmung und Empfindung der physische Körper zur Erinnerungstopografie: Eine Mnemotechnik, bei der die Erinnerungsbilder auf der eigenen Haut lokalisiert werden, weil auch der eigene Körper schließlich jener Gedächtnisraum ist, der, wie Semprun schrieb, noch vor jedem „Selbstverlust“ zerbricht.44 Wo die Wörter nicht ausreichen, um die Empfindungen zu schildern, und obsolet werden im Bezeugen der Wahrheit oder um das eigene Überleben zu sichern, greift die Kindheitserinnerung zu einer übergeordneten Referenz, die zuerst oder am beständigsten in der organischen Natur zu finden ist. 45 Wo ein maskierendes Sehen (Schulz) erst die wahre Erinnerung aufdeckt, zeigt sich im poetischen Text ein Umweg, der die Evidenzerfahrung entweder „durch den Himmel“ leitet, wie Ralf Simon bei Jean Paul festhält (Simon, 1994), oder aber zu einem privaten Mythos, den Matthias Huff in Bezug auf Rosenkranz als „Wendung nach unten“ bezeichnet,46 Rosenkranz selbst in Kindheit als ein „Emporwachsen nach unten“ (K198). Über diese „Transzendenzerfahrung“ verlangt nicht nur die Sprache eine andere 44 Der direkte Einsatz des Körpers wird über die hier vorgestellten Autoren mit der absoluten Lagererfahrung begründbar; in der Tat allerdings verdient dieser neue Gedanke eine genauere Behandlung, der im Rahmen dieser Untersuchung nur ansatzweise, über die phänomenologischen Begriffe „Leib“ und „Dauer“ nachgekommen wird. 45 Natur kann konventionell als Körper der Identität gesehen werden, wobei Pflanzen und Tiere als die einzig wahren Freunde figurieren (Smerilli, 2009). Hier zeigt sich auch eine Anknüpfung an die folkloristische Literatur und Autobiografie, die gerade bei Rosenkranz und Appelfeld, aber auch bei anderen Autoren derselben Zeit und Region vorkommen; z. B. an der häufig eingebundenen „direkten Rede“, die Asadowski als typischen Griff zur Verlebendigung in der Folkloreliteratur begreift, siehe hierzu: (Burckhardt-Seebass, 1995) und Renata Makarskas Studie zur „Hucul’scyna“: (Makarska, 2010). 46 „Die Wendung nach unten und zurück wird zum Überlebensmedium für den Dichter und seine Dichtung gleichermassen, Moses Rosenkranz wird zum Sänger der verloren liegenden Dörfer, stellt seine Dörfer auch gerade als verlorene einer Welt entgegen, die an der Abschaffung von Tod, Vergänglichkeit und dem Abseits arbeitet“. Siehe Kapitel 9.3.4 und 9.3.5.

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Lesart, 47 in der poetisch immer weiter ausgreifenden „Nacherzählung“ einer referentiellen Mythologie kommt es annähernd zu einem emanzipier47 Diese Fußnote ist eine Frage, die den Rahmen der Untersuchung sprengt, aber auch fundamental aus ihr hervorgeht. In einer Umgebung, die nicht per se maskiert ist, sondern als Masken erscheinen lässt, was real ist, lässt die Sprache, wie mit Edward Young (Fn. 422) bereits argumentiert wurde, eine „Metapher“ als Vergleich oder Substitution nicht mehr zu; das heißt, dass „Vergleichswörter“ oder -bilder als „Verhältniswörter“ verstanden werden müssen: als Zeichen der Differenz, in Abmessung der Wahrnehmung, d. h. zwischen Objekt und Betrachter, zwischen Ich und Welt. Den Figurenbeschreibungen kommen so ganz andere oder neue Lebens- und Wirkungs- sowie Erfahrungsräume zu, wie sie auch bei Sinjawskij/Terz zu beobachten sind; am Beispiel des „Gesichts“, der Hände, der Augen und des Blicks aber bei allen hier besprochenen Autoren. Es wird sich bei Rosenkranz zudem auch zeigen, dass damit die Doppelbödigkeit der Literatur gegeben ist: eine permanente Doppelgesichtigkeit, die schließlich nicht mehr auseinanderzuhalten, nicht mehr eindeutig ist. Das Vexier oder ephemere Dazwischen „ist […] eine Ordnung, ‚in der die Erkenntnis Figuren der sichtbaren Welt vereinigt‘“ (Lüdeking, 2006, 108). Dies setzt aber ein von der Retina befreites Denken voraus: „Ein Beispiel für ein Denken, das ‚sichtbare Figuren‘ dergestalt in Beziehung setzt, daß das ‚Mysterium evoziert‘ wird, ist das Denken, ‚das eine nächtliche Landschaft und einen sonnigen Himmel vereint‘“, Magritte in: (Lüdeking, 2006, 108). Eine Ver-Innerlichung des erinnernden Ich, die Bewahrung des Selbst in der Hinwendung des Blicks nach innen, wie Appelfeld es beschreibt. Es handelt es sich um die „verborgenen Zusammenhänge“ (Schulz), die alle diese Autobiografen aufgrund der Geschichte zu binden gezwungen waren, und damit auch eine unverweigerbare Tendenz des Dokuments und Zeugnisses hin zum sogenannten „Roman“. (Episch nicht gleichzusetzen mit Prosa: Ausführlichkeit vs. Wort- und Bildknappheit.) Zur Metapher bzw. der Substituierbarkeit des Eigennamens, des Ich durch den Anderen: „Mein-t“ die Bio-grafie ein Anderer, so fällt im Betreten der Erzählung der Vergleich des Ich bzw. des Anderen mit seinem Alter Ego weg – und damit auch die Metapher: Die Metapher wird zu einer „neuen Begrifflichkeit von Wirklichkeit“ angesichts des Abgrunds. Vgl. (Steiner, 2009, 201). Anbetracht einer Welt und Wahrnehmung im Rahmen des Lagers, wo jede Vergleichbarkeit und Beispielhaftigkeit unmöglich wird, kann es hypothetisch auch keine Geltung der Metapher mehr geben. Wo endet dann aber die gesamte Diskussion um Identität, Ich und Anderer? Diese Frage soll im Anschluss an Paul de Man hier unbeantwortet bleiben. Jedes Gedenken ist darauf verwiesen, dem zu Gedenkenden einen Eigennamen zu geben, da der Name im Gegensatz zum Tod unsterblich ist“ (Sepp, 2008, 87). Nach Derrida in Mémoire – Für Paul de Man nimmt das Gedächtnis immer auch den Tod vorweg: „Wenn wir jeman-

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ten Ich, das seinen Namen verloren oder abgeworfen hat und existentiell nach einem neuen verlangt. 48 Hier geht die Selbstdistanzierung, die für die Prosa unabdingbar ist, in eine (neue) „Benennung“ und Sprache über. Denn wenn auch gerade Namen nicht erinnerbar sind (Appelfeld) und für eine identifikatorische Erinnerung auch nur störend sind (Schalamow, Begley), ist ein neuer Name als kurze Formel der Identität existentiell.49

9.2.1 Eine Autopoetik aus der Latenz Eine „mysteriöse Distanz“ nennt es Pierre Brunel, die sich gerade im Spiel mit der Narration einstellt und dabei die Autobiografie immer näher an den Roman heranrückt:50 den zu seinen Lebzeiten seinen Namen rufen oder nennen, wissen wir, daß er bereits zu seinen Lebzeiten damit beginnt, sich von ihm zu lösen, indem er jedes Mal […] seinen Tod aussagt und vorträgt“ (Penthes Mnemographie, S. 93.). „Was vom Subjekt bleibt, ist sein Name, der als ein solches auswendiges Zeichen gleichzeitig dem allgemeinen System der Sprache zugehört und somit die Innerlichkeit des Ich subvertiert […] Das autobiografische Wort ist dasjenige, was jedesmal die Position des Restes einnimmt und auf diese Weise Zeugnis ablegen kann“ (Sepp, 2008, 87). 48 Wie das Subjekt bereits im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zum Typus verkommen bzw. karikaturesk geworden ist, schildert neben Joseph Roth auch Józef Wittlin in seinem fulminanten Roman Das Salz der Erde (1935) anhand der huzulischen Randfigur Peter Niewiadomski. 49 Der Name ist existentiell und uneindeutig zugleich. Für die Identität ist er nie hinreichend genug. Das „reine“ Gedächtnis dient zudem auch keiner befriedigenden Zeugenaussage des Dichters mehr: „On se souvient que certains déportés, à peine revenus des camps, évoquaient l’impossibilité physique de témoigner, l’incommensurabilité des mots et de l’exprérience vécue“ (Régnier, 2008, 35). Die Wahrheit der eigenen Identität steckt, wie sich auch bei Marek Edelman zeigt, gerade in der Unzulänglichkeit des Beweismaterials: Es gibt kein verbindliches Datum der Geburt, des Namens oder auch der Umstände mehr (Edelman, 2010). Zum Zeugnisbegriff in der postmodernen Geschichtswissenschaft siehe: Herta Nagel-Docekal (Hrsg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Atlanta, 1997. 50 Pierre Brunel fundiert die Ausgangslage für jede Autobiografie zwischen den beiden Polen „reine Fiktion“ vs. „reine Autobiografie“ und sucht die unendlich vie-

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effacer des frontières de l’imagination, qu’on se perde innocemment dans ce domaine incertain où l’on passe de la vue à la pensée, de l’insomnie au rêve, du témoignage à la fable, de la mémoire au mensonge. On fait ainsi entrer la vie, sa vie, c’est-à-dire l’oubliable, dans un nouveau système de références, un roman si vous voulez, c’est-à-dire qu’on la fait passer dans l’inoubliable (Brunel, 2008, 20).

Das eigene Leben geht in ein neues System von Referenzen ein – das meint das Vergessen – und wird dahingehend zum autobiografischen Roman. 51 Das heißt, der Roman spielt im Unvergesslichen –, mit den Requisiten, die auf der neuen Bühne noch übrig geblieben sind: nicht in der erinnernden Wahrnehmung an das, was per se abhandenzukommen drohte (Identität, die Namen der Dinge usw.), sondern an das, was blieb: ein Dazwischen, die Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Menschen und zwischen dem Menschen und den Dingen sowie ein „unsichtbar Wahrnehmbares“, wie es die „Gefühle“ darstellen. Aufgrund der unmöglichen Mimesis in der Autobiografie kommt es zur Etablierung einer neuen Sprache, welche die Authentizität an der Textoberfläche immer schon verunmöglicht hat, aber auch den Betrug von sich wirft. 52 Eine „triumphierende Fiktion“ liege der zeitgenössischen Autobiografie zugrunde, meint Thomas Régnier, für das die Fiktion („l’autofiction“) allein fähig sei, die ganze Tiefe eines Erlebnisses lebendig wiederzugeben: „entendue comme ‚aventure‘ sans cesse renouvelée et perpétuellement mouvante“ (Régnier, 2008, 33). Über der permanenten Bewegung

len Formen im Dazwischen begrifflich zu fassen. Er setzt den Roman mit dem „autobiografischen Roman“ gleich, indem er für beide das Vergessen als Basis des eigenen Lebens setzt, das im Rahmen der Narration über das Unvergessliche Einzug erhält. Brunel nennt die Überbrückung der Gedächtnislücken über Erinnerungen anderer oder auch jener Fiktion, welche die Tendenz zum Roman in einem „trompe l’oeil“-Effekt in der Autobiografie bekräftigt. Dieses „Lügen“ ist ein wahres Lügen, wobei es um das Maß der Realität in der Irrealität geht, welches den Grad der Wahrheit festlegt. Die Grenzen der Imagination verwischen. 51 Iuso verweist an dieser Stelle auf den Begriff des „Autoporträts“, was zu Rosenkranz’ Vorliebe für das „Porträt“ passt (Iuso, 2010). 52 Dieses Prinzip – als Stilprinzip der Sprache – hat mit Rousseaus „Selbst-Bekenntnissen“ seinen Anfang genommen.

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und Erneuerung des Erlebnisses liegt die eigentliche „Wirklichkeit“ oder „Wahrheit“, die zum Ausdruck drängt, weder in der Wirklichkeitsreferenz noch in der Fiktion – sondern im Dazwischen, wo das Fremdwerden des Ich vor sich selbst und somit auch die Selbstdistanzierung beginnt. Die Distanz zum eigenen Ich, wie sie Brunel ausführt, bringt für die „Überlebenserinnerungen“ einen Fundamentalumschlag der Ich- und Identitäts-Problematik. Im Kontext des autobiografischen Romans steht bei Brunel Jorge Semprun, der seine Erinnerungen immer dann „erhellt“, wenn es den Erzählfluss, der nicht „linear“ ist, zu „intensivieren“ gilt, im Grunde also Bewegung in die Gefangenschaft der Erinnerung zu bringen. Das „Leben“ selbst, das eigene „Noch-am-Leben-Sein“, hat im Erlebnis sowie in der immer neu aufkommenden Erinnerung an dasselbe die Selbstverständlichkeit hinter sich gelassen. Das Lebendigsein und damit das eigene Dasein wird dahingehend infrage gestellt, als dieses Sich-selbst-Entfremden auch einen Namen braucht. Semprun betreibt in seinem autobiografischen Schreibprozess nach Brunel Autofiktion und macht diese selbst zur notwendigen Kritik an der Autobiografie als Gattung, indem er zu seinem gebrochenen Lebens- und Erzählfluss noch einen fremden Verfassernamen hinzufügen muss („Fédérico Sanchenz“), um glaubwürdig zu sein. Daraus schließt Brunel eine Unterscheidung zwischen „fremdem Pseudonym“, Ich und „offengelegtem Pseudonym“ mit der Anlage zur dritten Form einer Biografie. 53 Denn, so Fritz Breithaupt: „Je mehr sich die Individuen verichen, desto weniger sind auch fiktionale Charaktere für andere zugänglich, verstehbar, erfühlbar“ (Breithaupt, 2009, 40). Die Lagererfahrung als biografischer Bruch, Gedächtnis- oder Selbstverlust drängt nicht nur zur Selbstbeschreibung mit dem Ziel, das Leben im Schreiben zurückzugewinnen; die Leerstellen und Abbrüche der Erinnerungsfähigkeit stellen vor allem ein umfassendes Reflexionsreservoir bereit, poetische Bilder und narrative Zugänge anzutreiben und die (metaphorische) Sprache auf eine referenzlose Weise zu authentifizieren.

53 Im „Dazwischen“: zwischen Ich und Anderer, der Figur eines Dazwischens bzw. einer Grenzfigur. Vgl. hier auch Alfred Anderschs „Anamnese, déjà-vu, Erinnerung“ in: Die Blindheit des Kunstwerks“, Diogenes, Zürich, 1972.

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In Anbetracht dessen, dass weder der Begriff der „Autobiografie“, des „autobiografischen Dokuments“, der „Autofiktion“ noch des „autobiografischen Romans“ für Rosenkranz’ Kindheit zutreffend genug scheinen, hilft vorerst der Begriff des „Autopoetischen“. Dieser Begriff lässt nicht nur den Spielraum offen, am Ende der Untersuchung einen gemeinsamen Raum zwischen Lyrik und Prosa für das „Selbstbild“ zu markieren; er lässt genauso auch die unterschiedlichen Theorieansätze zu, die sich, wie dargestellt, nirgends gänzlich widersprechen –, vielmehr unterschiedliche Standpunkte beleuchten oder aber in ihrer jeweiligen Erörterung nicht weit genug vordringen (Paul de Man vs. Lejeune).54 Das Erzählen von den Kriegen hat sich auch in Rosenkranz’ Erinnerungen an mancher Stelle in sein Gegenteil verquert; die Sprachlosigkeit ist den historischen Tatsachen aber auch angemessener. Das autobiografische Frag54 Luhmanns Systemtheorie ist an dieser Stelle trotz ihrer Referenzialität bedenkenswert, in der soziale Systeme ausschließlich auf Kommunikation beruhen (nicht aus Subjekten, Akteuren, Individuen oder Ähnlichem) und autopoietisch operieren. Darunter ist zu verstehen, dass die Systeme sich in einem ständigen, nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess quasi aus sich selbst heraus erschaffen. Die Systeme produzieren und reproduzieren demnach sich selbst. Luhmann definiert soziale Systeme seit der Übertragung des Autopoiesis-Begriffs auf seine Theorie in den frühen 1980er Jahren (in der Rezeption auch als Luhmanns „autopoietische Wende“ betrachtet) nicht mehr als „offen“ (das heißt im direkten Austausch mit der Umwelt), sondern als „autopoietisch geschlossen“ oder „operativ geschlossen“. Die Wahrnehmung der Umwelt durch ein System ist daher laut Luhmann immer selektiv wie die Erinnerungsbilder bei Bergson und der Wahrnehmungsbegriff bei Merleau-Ponty. Ein System kann seine spezifische Wahrnehmungsweise der Umwelt nicht ändern, ohne seine spezifische Identität zu verlieren. Die „Geschlossenheit“ des Systems schließt im hier definierten autopoetischen System des autobiografischen Fragments den Begriff der Wahrheit und des Wahrhaftigen gleichermaßen mit ein. Damit ist eine Subjektivität über ein Allgemeines (Objektives) kurzzuschließen, auf dem die neue Referenzialität, die hier abgeleitet wird, baut. Der Ukrainist Stefan Simonek deutet auch auf das Feld pluraler Kräfte von Derrida und Deleuze hin (Simonek, 2000, 9): Dabei figuriert Mannigfaltigkeit als Gesetz des Feldes und Klausel der Unabschließbarkeit. Simonek übersetzt obiges auch in soziale Parameter wie die „Pluralität der Biografien“. Werner Nell geht komparatistisch über einen systemtheoretischen Ansatz der latenten bzw. subversiven „Offenheit“ geschlossener Räume nach und nimmt dabei besonders das Moment der „Phantasie“ in den Fokus (Nell, 2009).

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ment Kindheit wird nun entlang phänomenologischer Randphänomene, eines Dazwischens, untersucht, aus dessen Leere oder der Krypta des Gefühls womöglich auch die autopoetische Figur als „Bild“, wie es Ralf Simon definiert, aufsteigt.

9.3 Am Ende vom Anfang: Kindheit. Fragment einer Autobiographie In seinem Licht taucht das Bild auf, aus dem Staub zum zitternden Dasein gerufen, mit der Natur um die Prägnanz wetteifernd, also um die Fähigkeit, im Bewusstsein Wurzel zu schlagen und weiterzuleben, ebenso lange wie wirkliche Personen und Ereignisse, oder sogar noch länger … Abram Terz, Eine Stimme im Chor, S. 47.

Das autobiografische Fragment Kindheit von Moses Rosenkranz liegt in drei Fassungen vor, die zwischen 1958 und 1982 entstanden sind. Die hier untersuchte Version bezieht sich auf die erste, die noch in Bukarest unmittelbar nach Rosenkranz’ Freilassung entstanden ist. 55 Die Herausgeber des 2003 bei Rimbaud erschienen ersten Teils der Autobiografie halten in ihrer editorischen Notiz fest: Alle Fassungen, jedoch vor allem die erste, zeichnen sich durch wortgewaltige, bildliche oder parabelhafte Darstellung von menschlich, bildungsmäßig und dichterisch bedeutenden Momenten der Kindheit aus, die Moses Rosenkranz in einer Gegend erlebte, die von einmaliger Vielfalt der Völkerschaften, also auch der Charaktere, sowie von unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und -vorstellungen geprägt wurde (Rosenkranz, 2003, 226).

Moses Rosenkranz ist auch nach seiner Befreiung 1957 nie mehr an die Orte seiner Kindheit zurückgekehrt. Was der Czernowitzer Autobiografin Margit Bartfeld-Feller mit einer späteren Rückkehr in die Bukowina über ein zwischen Jetzt und Damals komparatives Erinnerungsvermögen erzählerisch ge55 Ein eingehender Vergleich der drei Fassungen konnte für diese Untersuchung leider nicht vorgenommen werden. Für die Fragestellung der vorliegenden Dissertation hat eine Untersuchung der ersten Version, zusammen mit dem zweiten Teil Jugend bereits ausreichend Material geliefert. Der Einbezug der zwei anderen Fragmente muss einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben.

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lingt, 56 harrt bei Rosenkranz einer Sprache, die nur mehr aus dem Gedächtnis nachklingt. Die „bedeutenden Momente der Kindheit“ müssen über die biografische Zäsur hinweg über einen ausschließlich inneren und damit gleichsam referenzlosen Erinnerungszusammenhang erschrieben werden. Die absolute Zäsur wird zum Bedeutungskriterium der autopoetischen „Kindheit“ und federführend für eine Figur der Prosopopöiie am Abgrund, wenn Matthias Huff schreibt: „Dies sind Erinnerungen geschrieben im Nichts, in einem außergewöhnlichen Raum-Zeitvakuum. Sie lassen nicht nur für den Leser eine Welt auferstehen – mit den Erinnerungen erschafft sich der 54-jährige Moses Rosenkranz 1958 in Bukarest seine Geschichte und damit auch sich selbst neu“ (Rosenkranz, 2003, 230). In dieser Zeit wohnte der Dichter bei seiner Tochter Marianna 57 und seinen Enkelkindern. Möglicherweise auch durch diese angeregt, beschließt er 1958 „Kindergeschichten“ zu schreiben. 58 In einem Raum-Zeitvakuum versetzt er sich in einen ebenso grenzenlosen Erfahrungs-Zeit-Raum der eigenen Kindheit, fühlt sich bei bester Gesundheit und ist dabei, sein Fotoporträt aus der Kindheit mit Bildern von Rübner in einer Collage zu vereinen. 59 Die „wichtigsten Lebensvorkommnisse“ formuliert Rosenkranz zum Zeitpunkt der Niederschrift von Kindheit als Erläuterung seines lyrischen Schaffens in den „Prinzipien eines Vorwortes“ von 1987. George Gut¸u wies diesen Notizen ein „autobiographisches Konzept“ zu, „das Moses Rosenkranz im Kontext seiner Gedichte deutlich machen wollte“ (Rosenkranz, 2003, 228). 1) Als 3-jähriger von den auf die Liebe der Eltern eifersüchtigen Geschwistern in eine Feuerprobe geworfen, von der ältesten Schwester [Duza] 60 doch noch gerettet. 56 Bartfeller gelingt es als eine der einzigen, nach ihrer Verbannung und nach ihrem Exil in Israel als Besucherin nach Czernowitz zurückzukehren. Die Erinnerung an ihre Lebenszeit in der Bukowina nimmt sie über architektonische Schauplätze der Architektur vor und schreibt dabei die chronologische Differenz zwischen einst und damals hervor. 57 In der AR-Korrespondenz „Bim“ genannt. 58 AR 25087, Reel 1, n635. 59 AR 25087, Reel 3, n1285. Siehe Anhang. 60 In Kindheit wird die „älteste Tochter“ „Pepi“ genannt. Auch nach (Czara-Rosen-

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1a) 2) 3) 4)

Erster Weltkrieg („Nie wieder will ich so was sehen“ als 10-jähriger gesagt). Das Erlebnis der Stadt Prag 1917/18. Straßburg 1926. Rumänien. Land und Volk. (Anläßlich der oblig. Militärdienstzeit kennengelernt). 5) Suceava (Sperber, Jetty, Annis „Wächterturm“ [,] damit ich Die Tafeln schreiben kann). 6) Der Zweite Weltkrieg (Ghetto, Gefängnis, Arbeitslager, Mariannes Gefängnis) 7) Der sozialistische Staat, der diesen Band an die Öffentlichkeit bringt. Charakter, wie sichtbar: positiv. Großzügig, aber stolz und voller Trotz (als Zähigkeit und Festhalten am Beschlossenen). Asketisch und übergesund (keinmal krank gewesen). Unempfindlich gegen eigene, sehr empfindlich gegen fremde Leiden. Heiter, obwohl dauernd vom Unglück verfolgt und immer in pekuniären Nöten. Leider in der Tat sehr eingebildet und scharfzüngig gegen alles Bürgerliche. (Glaubt, daß jeder ihn als das erkennen und anerkennen muß, als wer er sich selber kennt.) Sehr einsam und der Kunst verschworen, obwohl mehr die Wirklichkeit als das Musische genießend – usw. (Rosenkranz, 1995, 198).

Der erste Teil des Prosafragments geht nur auf Punkt 1), 1a) und 2) ein. Der dritte Punkt greift bereits auf den Zeitraum des unedierten Manuskripts Jugend von 1982 („2. Kap.“) aus. Rosenkranz Kindheit ist in einer weitgehend linearen und ungebrochen Chronologie, ohne Einteilungen oder Kapitel in „epischer Breite“ verfasst (Rosenkranz, 2003, 228). Folgen die Erinnerungen doch grundsätzlich den bereits verdichteten Erlebnissen in der Lyrik, so interessiert hier gerade die „epische Breite“, welche poetisch ausgreifend die Erinnerungsbilder authentifiziert und autorisiert. Rosenkranz spricht selbst von einer „Einbildung“ seines erwachsenen Ich, das bereits in der Kindheit gegen die späteren „Leiden unempfindlich“ geworden sei. Familiäre wie auch allgemeine historische Ereignisse werden in der Kindheit vor allem durch sinnlich gespeicherte Erinnerungseindrücke in Prosa überführt. Ein strukturell dichtes und sprachlich nicht weniger verdichtetes Werk, aus dem aber auch nur kranz, 2009) handelt es sich womöglich um die spätere Dichterin Dusza CzaraRosenkranz.

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schwer zwischen figuralen, semantischen oder syntaktischen Ebenen unterschieden werden kann. Die Komplexität von Ich- und Dingbezug für eine problematische und gleichsam „notwendige“ Fixierung von Identität und Individualität spiegelt sich in der engen Verflechtung des poetischen Bedeutungsfelds. Solche verdichtete Zusammenhänge machen letztlich die Grundlage der Fragmentstruktur aus. Es zeigen sich in derselben Verdichtung referentielle Leerstellen, über die entweder ein späteres Verstummen formuliert oder aber mit so genannten Negativformen eine Silhouette des erwachsenen Ich angedeutet wird. Negativfiguren oder -formen, in denen sich letztlich die Wirklichkeitsreferenzen immer auch in ihr Gegenteil verkehrt, führen paradoxe „Analogismen“ ein, wie sie hier anhand der Motive Geburt/Leben oder Sterben/Tod näher untersucht werden. Das Fragment Kindheit beginnt bei der Geburt 1904 und endet nach dem Ersten Weltkrieg 1919. Ein solches Kontinuum wird durch seine Begrenzpunkte „Anfang“ und „Ende“ aber immer auch in Frage gestellt (Guntermann, 1991, 179): Der bei Rosenkranz zeitgeschichtlich und kritisch ausgeführte Geburtspunkt steht dem offenen Ende des Fragments gegenüber, das in der historisch bedingten Intensivierung und Steigerung der Erlebnisse nicht mehr adäquat erfassbar ist. Die „Kindheit“ endet mit dem Untergang der habsburgischen Bukowina und deren Einverleibung ins rumänische Großreich: Am Familientisch musste einem „flachsblonden russischen Photographen und einem schwarzen rumänischen Journalisten“ (K218) platz gemacht werden. Und „nun war es zu Ende damit“; „die Zeit kam, wo wir uns hungrig vom Tisch erhoben“: Eine neue „Zeit“ bricht an, die nicht mehr Teil der Erzählung ist, aber im Verstummen weiterspricht. Wo ein späteres Verstummen bereits in der Kindheit angekündigt wird, versucht die phänomenologische Lektüre den Erinnerungsort im Text aufzudecken.

9.3.1 Geburt Der erste Teil untersucht die Schilderung des Geburtserlebnisses als das erste Erlebnis überhaupt – auch oder gerade weil dieses vom Autobiografen nicht

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erinnerbar ist. 61 Mehrere Geburtsereignisse gehen aus dem Text hervor, welche immer auch eine Verschiebung der Lage des Ich in der Welt bedeuten. Die Kindheit orientiert sich aber quasi auch an einem Grenzerlebnis, welches für die Fortsetzung der Kindheit ausschlaggebend wird: in der permanenten Gleichzeitigkeit von Leben und Tod, Geburt und Sterben. Im engen Familienkreis, wo sich die Kindheitserlebnisse hauptsächlich abspielen, tragen die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen sowohl zur Integration als auch zur Ausgrenzung des Protagonisten bei. Die sinnliche Wahrnehmung wird bei diesen antagonistischen Erfahrungswerten bedeutsam, wobei die erfahrene Wirklichkeit des Ich bewusst oder unbewusst gefiltert, verstellt oder quasi von der Rückseite her durchschaut wird. Eine Art „Zwischenblick“ stellt sich ein, der neue, sagen wir existentielle Bewegungsräume öffnet: in Schrift-Bildern, in Träumen, Prophezeiungen oder Visionen, nicht zuletzt aber über die Vorstellungskraft des Poetischen. Als ich im vierten Jahre des Jahrhunderts zur Welt kam, stand meine Mutter im zweiunddreißigsten Lebensjahr. Der Vater war um zehn Jahre älter. Ich war deren siebentes Kind, das vierte der männlichen Reihe. Meine Eltern wohnten damals auf einer dem Dorfe vorgelagerten Wiese am Pruth. Ihr Haus befand sich an der von Wien bis an die russische Grenze gezogenen Kaiserstraße und barg unter einem Dach die Wohnung, den Viehstall und eine Gaststube mit Ausschank alkoholischer Getränke (K5).

Moses Rosenkranz beginnt seine Kindheit mit der Einordnung seiner Geburt ins 20. Jahrhundert. Das Geburtsjahr verknüpft er mir dem Lebensjahr der Mutter, wobei der Vater, frei von Possessivpronomen, nur im Vergleich mit der Mutter, ein Gesicht bekommt. Die Priorität der Mutter folgt auch in der nächstfolgenden Beschreibung der Herkunft der Eltern bzw. des eigenen Stammbaums. Während die Mutter den „Lenden des geistigen Ehepaars Faibisch und Rifka Hefter entstammte“, gehörte der Vater „einem Geschlecht zur Synagoge zurückgekehrter Frankisten an“. 62 Der mütterli61 Anna Iuso weist darauf hin, dass allgemein erst das dritte Lebensjahr erinnert werden kann (Iuso, 2010, 103). Bei Rosenkranz fällt in dieses Lebensjahr der Sturz in die Feuergrube; diesem vorgängig schildert er seine Lage in der Welt, die dieses Grenzereignis herbeiführen musste. 62 Die religiös-mystische Bewegung der Frankisten geht auf den 1726 in Galizien

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che und selbstironische Großvater genoss den „Ruf eines Sokrates der jüdischen Gasse“, während seine „rundäugige Ehefrau“ „zwischen den Zahlenkolonnen eines riesigen Kontokorrentbuches […] hebräische Gedichte“ aufsetzte. Die, wie sich später zeigt, geistig wie auch leiblich empfundene Nähe zur Mutter steht der eher unbekannt bleibenden Familie des Vaters sowie diesem selbst gegenüber. 63 Über die Verwandtschaft und Familie formiert sich auf textueller Ebene eine Linie, auf der sich das Ich mit seinen Geschwistern und deren Geschlecht („das siebente Kind der männlichen Reihe“) einordnet, im Vor- und Nachher aber auch zugleich von ihnen abgrenzt: „Meine älteren Geschwister und auch die zwei nach mir geborenen Brüder wurden ausnahmslos von der Mutter selbst gestillt“, nur „ich wurde dieses Glückes nicht teilhaftig“. Es wird von einem Ich berichtet, das „die ersten Lebensjahre als die eines Engels“ wahrgenommen hat (K6). Die Autobiografie setzt so mit der eigenen Geburt ein, die syntaktisch in den Nebensatz verdrängt wird. Die Hauptsätze sind den Eltern vorbehalten, die in auffälliger Distanz zum Ich stehen: nicht „wir wohnten …“, nicht „unser Haus …“, sondern: „Meine Eltern wohnten …“, „ihr Haus …“. Das Erzähler-Ich schildert aus der Distanz: Über diese Randlinie zeigt sich die Beziehung des Ich zu seinem soziohistorischen Umfeld als eine „am Rand“. Die Beschreibung des Hauses, wo Familie, Vieh und Gäste unter einem Dach lebten, wird über die Topografie seiner Randlage beschrieben: an einer „dem Dorfe vorgelagerten Wiese“ in Richtung russische Grenze.

geborenen Jakob Frank zurück, der sich vom Kabbalisten zum umstrittenen Reformer des Judentums entwickelte. Im Glauben an die Menschwerdung Gottes sah sich Frank als letzte Verkörperung des Messias und verdiente sich mit dieser Mission vor allem im polnischen Galizien eine große Anhängerschaft. 63 In der AR-Korrespondenz äußerst sich Rosenkranz 1957 immer wieder über seine Liebe und auch Ähnlichkeit zur Mutter. Dabei wird die „Mutter“ aus religiöser Dimension vorstellig, die vor allem jüdisch geprägt ist. Auch zahlreiche Gedichte widmete Rosenkranz den „Müttern“, jenem menschlichen Wesen, welches das Leben über die Liebe weitergibt, oder auch in der das „ungeborene Kind“ fortlebt (Gedicht „Die armen Mütter“, in Gemalte Fensterscheiben, S. 31).

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Sturz in die Feuergrube In das dritte Lebensjahr reißt der Tod des um ein Jahr älteren Bruders. Dieses Ereignis „verdunkelte“ den „Eindruck meiner Strahlung“ (K6f ). Unmittelbar darauf folgt ein weiteres kritisches Ereignis, das die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod auch für spätere Ereignisse anführt: An die „Verdunkelung“ durch das Ableben des Bruders schließt der Eifersuchtsakt der Geschwister an einem Herbstabend, der mit dem Sturz des Dreijährigen in die Feuergrube endet. Es war im siebten Jahre des Jahrhunderts und dem dritten meines Daseins. Es war spät im Sommer und spät am Tage, auf das Licht senkten sich schon Herbst und Abend. Den Pflaumenbäumen war ihre süße Last abgenommen und über zwei Feuerlöchern zwischen ihnen in großen Kupferkesseln zu Marmelade verkocht worden. Wir Kinder umstanden die brodelnden Fruchtmassen in den bauchigen Gefäßen. Als dieselben im Sonnenuntergang an durchgezogenen Holzstangen ins Hausinnere getragen wurden, knieten wir uns am Rande des größeren der Löcher hin, in dessen Tiefe das Schauspiel des ersterbenden Feuers unsere Blicke hinabzog. Ich war der jüngste in der kleinen Versammlung und nur im Hemde. Mir schien das rote zuckende Element unten als ein lebendiges und ich warf ihm vom Reisig unter meinen nackten Füßen, um es zu ernähren. ‚Wenn man dich so hinunterwürfe‘, soll mein zweitältester Bruder, der sechsjährige Arnold, gesagt haben, worauf ich durch einen Stoß von hinten in die Grube fiel […] Nachdem es nach meiner Ankunft dort unten im Loche dunkel geworden und still geblieben sein soll, sollen die Übeltäter und ihre untätigen Zuschauerinnen von einem gewaltigen Erschrecken vom Orte weg und hinter die Bäume gefegt worden sein. Sie sind erst eine geraume Weile danach […] als Rettungskolonne zurückgekehrt, um den Verunglückten zu bergen. Sie sollen mich stumm und reglos, aber atmend, in glimmendem Hemd und Lockenhaar aus der Asche genommen, in ein feuchtes Leintuch gewickelt und auf dem gestampften Erdboden im elterlichen Schlafzimmer unter einem der Messingbetten versteckt haben (K8).

Diese Erlebensphase endet mit der Erfahrung des Geschwistertodes und schließlich, in gesteigerter Form, mit dem eigenen Todeserlebnis, das sich an einem „Abend“ im „Herbst“ ereignete: „Es war spät im Sommer und spät am Tage, auf das Licht senkten sich schon Herbst und Abend“. Das Geschehen wird in lyrisch anmutender Rhythmisierung in die Verdunke-

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lung des natürlichen Zyklus gebettet. Diese „natürliche“ Beschreibung, ausgehend vom Tod des Bruders hin zum eigenen Genesen nach dem Sturz, ordnet das Ich nicht mehr linear in sein Umfeld ein, sondern buchstäblich in den Umkreis seiner selbst erfahrenen Welt – durch das Feuer: vom Rand der Feuergrube wird der Dreijährige aus dem Kreis in die Grube geworfen, wo das „lebendige Element“ zuckte und mit Reisig genährt wurde. Zugleich ist dieses „Abstoßen“ auch ein nachmaliges „Aufnehmen“, indem der Protagonist als Opfer anschließend mit verstärkter Aufmerksamkeit und Schonung entschädigt wird. Der vor allem visuellen Wahrnehmung des kindlichen Ich kommt im Anschluss nicht nur eine intensivierte, sondern auch verstärkt subjektive Motivation zu. Das Feuer, dessen „Schauspiel […] unsere Blicke hinabzog“ 64 , hat im Erlebnis einen lebendigen „Eindruck“ hinterlassen. Ein regionalspezifisch „normatives Ereignis“ wird durch die phänomenologisch verdichtete Schilderung zu einem kritisch individualisierenden, wobei das Ich nicht nur tragisch und glücklich zugleich durch das „lebendige Element“ hindurchgeht, sondern erst dadurch auch platziert, initiationsmäßig integriert. Die Bedeutung des Letzteren ergibt sich aus der Verordnung des Geschehens im Zeitverhältnis zum gesamten „Jahrhundert“. Es wird in „lebhafter“ unmittelbarer Rede erzählt. Dennoch sind es die Erinnerungen der anderen, denn „ich selbst habe kein Gedächtnis der Frist vom Augenblick des Sturzes auf das Reisigfeuer bis zur ersten Alkohol- und Sauermilchpackung in den gesegneten Händen der Mutter“ (K7f ). Nicht nur wird das Ich als „Verunglückter“ aus der Distanz der dritten Person geschildert; das Verhalten und Treiben der „anderen“ wird in spielerischer Dramaturgie und kindlicher Bildsprache („Rettungskolonne“, „Mir schien das rote zuckende Element unten als ein lebendiges und ich warf ihm vom Reisig unter meinen nackten Füßen, um es zu ernähren“) in direkter Rede geschildert. „Die Übeltäter und ihre untätigen Zuschauerinnen“ wirken verfremdet. Mit „Lockenhaar“ und „nur im Hemde“ trägt er wundersam genesene Körper lediglich „unscheinbare Spuren von Flammenküssen“ „aus

64 Der Begriff des „Schauspiels“ wird an späterer Stelle wieder relevant, wo der Wirklichkeit als Schau-Spiel weitere Bedeutung erwächst.

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der Asche“ hervor. Und „als der erste Schnee fiel, war ich geheilt“ – daraufhin folgt die „Geburt meines Bruders Samuel“ (K8). Während der Genesung erfährt die Wahrnehmung in der physischen Reglosigkeit eine Intensivierung und Schärfung; offenbar hat das Erlebnis des Feuers nicht nur die Sinne verändert, sondern auch das sinnliche Verhältnis zwischen Ich und Welt neu bemessen: „Ich hatte alle meine Liebeskräfte um mein inneres Wesen gesammelt, um mich von dort aus nachdrücklich gegen die anlagernden Übel zu behaupten“ (K16). Auch eine Sensibilisierung des Gehörs findet statt, wobei sich über die Wahrnehmung der Sprache mit geschlossenen Augen ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit bemerkbar macht: Ein Rückzug nach Innen, aber mit höchster Aufmerksamkeit gegen die Bedrohung von Außen. Unvergessliche Bilder vom Angesicht der sorgenvollen Cousine sowie eines „umgekehrten herbstlichen Meers“, „darüber die schwebenden Bilder der Wolken und Wandervögeldreiecke“ prägen sich dem Daliegenden dauerhaft ein: eine Hingebung zwischen Himmel und Erde. Es ist die „erste Landschaft“, von der das Ich auch später nie mehr losgekommen ist (K128). Ich hatte und suchte damals sowenig Merkmale für meine Aufenthalte im Raum als für die Zeit. In der Frist meiner Genesung, nach dem Feuerloch, als Cousine Relly mich über die Hutweide von Berhomet fuhr, hatten sich mir jene Wiese, nebst dem einzigen Baum auf ihr, einer Weide, und irgendwann einer Wolke darüber, eingeprägt. Das war in den Räumen, durch die ich kam, jahrelang mein einziger Anhaltspunkt, neben dem ich außer Gewässern keinen zweiten wahrnehmen mochte (K23).

Während einzig die „Gewässer“ eine neue Einstellung der Umgebung motivierten, blieb diese abstrakte Komposition mit einem einzigen Baum auf der Wiese als äußeres Bild der Umgebung einzig bleibender Ich-Gefährte. Explizit wie implizit werden im Anschluss auch „Menschen“, „Tiere“ und Hell-Dunkel-Effekte für die Erinnerung der „wichtigsten Lebensvorkommnisse“ bedeutend.

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Augen und Blicke Die Landschaft zeigt sich nach dem Sturz in die Feuergrube in ganz neuer Ansicht; an Bedeutung gewinnen dabei die Beziehungen zu einzelnen Personen. Was mancherorts karikaturesk und ironisch wirkt, wird andernorts von einer kindlichen Sehschwäche bestimmt und jeder Linienführung entzogen; die visuelle Wahrnehmung geht einher mit der geistigen, aber auch körperlichen Erfahrung des Ich. Cousine Relly, die „rosig, flachsblond und blauäugig“, „schmal, lang“ und „hochbeinig einen Schwanenhals trug wie ein Blütenstengel das knospende Köpfchen“ „war es, die den auf Räder gesetzten Wäschekorb, worin ich genesend auf dem Rücken lag, über die Hutweide stieß“ (K8). Die Beschreibung des Anderen steht für die Erinnerung als solche; das äußere, fremde Aussehen prägt sich beim Ich um so stärker ein. Der mosaische Religionslehrer, der das großelterliche Hause wiederum „im Herbst“ des Jahres 1909 täglich aufsuchte, „war ein Goliath an Wuchs und versammelte in einem Kellergewölbe um drei Zwergtische auf ebensolchen Bänken, buchstäblich zu seinen Füßen, dreißig Zöglinge unseres Alters“ (K17). „Hochgestiefelt in schwarzem Kaftan“ stand er, wie selbst aus dem Märchen herausgetreten, zwischen den Tischen, „sein Kopf auf dem langen Halse war so klein, daß ich in der herrschenden Dämmerung dessen Vorhandensein dort oben nur an dem knisternden roten Apostelbart erkannte, den er sich als trocknende Flamme sehr oft um das schwitzende Angesicht schlug“. Der Religionslehrer ähnelt so sehr einer Märchenfigur, dass die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit obsolet wird. Der „hocherzählende Mund“ löst den Zweifel an der „Wahrheit“ quasi selbst aus: Wo zwischen äußerem Erscheinen des Erzählers und dem „Inhalt“ der Erzählung die Differenz schwindet, fällt im Text selbst die hier ironisch reflektierte Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit weg. Dieser Mann nun berichtete uns von dem gewaltigen Richterkönig Simson im Lande Juda an der Grenze der Philister. Träumte dieser Held, auf den Rücken liegend, in den Sternenhimmel, so konnte unter seinen hochgezogenen Knien ein Panzerreiter hindurchziehen, ohne die aufgepflanzte Pike zu senken. Wer durfte angesichts jenes hocherzählenden Mundes die Wahrheit dieser Mähr bezweifeln? Äußerte jemand Bedenken an seinen Aufstellungen, so schrie er

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halbgöttlich auf und fahndete mit blinden Händen herunter und umher nach dem Schuldigen unter uns […] (K17).

Die „halbgöttlichen Schreie“ wie die „blinden Hände“ sind jener erinnerten Vorstellung abgeschaut, welche die erzählten Geschichten des Lehrers, die eigene Erfahrung des Ich und sein Bild der Erinnerung verbinden. Das Verhältnis von Ich und Lehrer wird in den Proportionen wiedergegeben: Die Perspektive des kleinwüchsigen Jungen am „Zwergtisch“ lässt in der Ansicht von unten nach oben den Goliath anwachsen. Und mit der Körpergröße aus der übersteigerten Perspektive erwächst die Kritik an der vorgehaltenen „großen Wahrheit“, die dabei nicht nur dem erzählten Ich, vor allem auch dem Leser als zweifelhaft ins Auge fallen muss. Rosenkranz bedient sich so der bildhaften Sprache, dass das kindliche Auge zugleich das Gegenüber durchschaut. Auf diese Weise beugt sich auch die Großmutter auf ihrem Drehstuhl hinter einem Bethauspult über ihre Folianten in „ihrer schlanken kerzengeraden Figur“: Sie trug stets „ein hochgeschlossenes Seidenkleid, dessen schwarzer Glanz vergebens mit dem der Haarkrone wetteiferte, die, ins Blaue schimmernd, dem schmalen Antlitz, mit dem aufgeworfenen Mund unter der kleinen Adlernase, zu schwer schien“ (K12). Die „scharfe Beobachterin“ und „Kennerin ihrer Sippe und Existenzverhältnisse“, deren „eng stehende dunkle Augen immer nur unbewaffnet funkelten“, wird in canettischer Maskerade eines Adlers verdichtet. Mit solchen Vor-Bildern zeichnet Rosenkranz nicht nur Charaktere; in der Beschreibung des Äußeren und vor allem in der Wahrnehmung der Augen am Gegenüber wird immer auch das existentielle Beziehungsgeflecht zwischen den Personen beschrieben. Dem kränklichen Bruder Arnold stand „das Feuer des Lebens“ (K15) so nur noch in den Augen. Vor dem immer schwächer werdenden Knaben, 65 der den jüngeren Edmund einst in die Feuergrube stieß, steht letzterer als mitleidiger „Zeuge“ da. Der Jüngling hatte auf der durch die letzte Evakuierung völlig verödete Kalahura tagelang ganz einsam gelebt, und ich fragte mich mit Schaudern, in welchem Gemütszustand er besonders die Nächte dort zugebracht haben mag, als 65 Rosenkranz erkennt seinen Bruder in „Picassos Knabenbild“, das Anna Rübner ihm zugeschickt hat. Vgl. Kapitel 7.2.

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ich erfuhr, daß die Gegend von Deserteuren unsicher gemacht wurde, die sich in nationale Befreierhorden zusammenschlossen […] Doch las ich aus der Blässe unter seinen wie von einem Riß klaffenden Blicken die unvergängliche Kunde überstandenen Grauens, und suchte zu ergründen, weshalb unter uns allen gerade er immer nur Furchtbares zu erdulden hatte. In meiner Beschränkung konnte ich damals die Schicksale der Eltern, der anderen Geschwister, geschweige denn die der Welt, nicht sehen, denn sie standen mir ferner (K155).

Den Augen des Bruders ist der Tod eingeschrieben: „Arnold schien innerlich den Kampf nicht aufgenommen zu haben und suchte wie einer, dem hier bloß eine kurze Frist gegönnt ist, vom Leben soviel zu erhaschen, als er nur immer fassen konnte“. „Mitleid“, „Liebe“ oder die „Huld einer Umwelt“ setzen das Ich dem ständigen Zwiespalt von Fremd- und Eigenperspektive aus. Dem „Leidensbruder“ wurde die ersehnte Liebe nicht zuteil, anders dem Ich, das seiner Gesellschaft dagegen mit Gleichgültigkeit begegnete. Die im Diminutiv gefassten „Flämmchen“ in Arnolds schwachem Blick vermitteln den letzten Rest an Lebensenergie. Das Ich selbst wiederum scheint von den „Flammenküssen“ fürs Leben gesegnet. „Selbst Großmutter zündete in ihren Schleieraugen lächelnde Flämmchen an, sobald sie meiner ansichtig wurde“ (K155). Seit dem Sturz in die Feuergrube aber steht das Ich skeptisch, missmutig jeder Ansicht von außen gegenüber: „Mich beschämte diese Freundlichkeit, denn ich konnte nur schal zurücklächeln. […] Ich konnte nicht der Huld einer Umwelt trauen, die mir Kälte in die Adern und Nacht in die Augen und Blei in die Ohren gegossen hatte“. Die Wahrnehmung und Beobachtung des anderen wirkt auch hier so sehr auf das Ich, dass sich in diesem das Mitleid für den Bruder zur Selbstlosigkeit steigert: Ich war dumm genug, mich dieses Mißtrauens vor ihr zu genieren, doch nicht so töricht, es um ihre zweifelhafte Lust an mir in den Wind zu schlagen. Hier ist festzustellen, daß ich all das weder bewußt noch un- und unterbewußt vornahm, sondern daß es mit mir geschah, wie mein Wachstum, das übrigens damals halt machte, um, angesichts der Angriffe, das Vorhandene zu befestigen. Der Sechsjährige konnte an der Höhe Arnolds, der bloß um drei Jahre älter war, fast doppelt gemessen werden: So wenig wollte ich in einer Welt emporwachsen, die sich dem Knirps schon beklemmend auf den Kopf legte. Ich wünschte mir sogar zurückzuwachsen und bei Beibehaltung meiner geistigen Dimension nicht mehr Luft zu verdrängen als etwa eine Fliege im Ruhezustand (K16f ).

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Um den Übeln der Wirklichkeit zu trotzen, bleibt nur ein physisches Zurückwachsen, um so wenig Luft wie möglich zu verdrängen. Die äußere Kleinheit wird durch innere Größe kompensiert. Im Abwägen und Vermessen von Innen und Außen scheint aber auch eine andere Instanz auf, die in der späteren „geisterhaften Weltkorrespondenz“ noch wichtig sein wird: „Hier ist festzustellen, daß ich all das weder bewußt noch un- und unterbewußt vornahm, sondern daß es mit mir geschah, wie mein Wachstum, das übrigens damals halt machte, um, angesichts der Angriffe, das Vorhandene zu befestigen“. Wie Arnolds bedürftiger Blick, in dem sich das Ich negativ spiegelt und reflexiv wiederfindet, so zeigt sich im Mitleid überhaupt erst das eigene Leiden des Selbst. Der Umweg der Selbsterkenntnis über den Anderen ist eine Distanznahme; sie ist aber auch die phänomenologische Spur der Wahrnehmung, die erst darüber sichtbar und erzählbar wird. Im Umweg der Selbstbetrachtung stellt sich ein Erzählen über sich selbst ein. Bruder Arnold, die Großmutter und der Religionslehrer stellen gegenüber dem Ich „Negativformen“ in doppeltem Sinne dar: einerseits stehen sie dafür, was das Ich selbst nicht darstellt: die Silhouette einer Leerstelle, das Nichtsichtbare, die Latenz; andererseits reflektiert im Positiv des Anderen auch immer die Negation des Lebendigen: Die Rückseite des eigenen Überlebens zeigt das Sterben des Bruders, eine Art Rückwärtsgeburt des Ich, das im physiologischen Zurückwachsen an geistiger Substanz hinzugewinnt. Das passive Mitleiden korrespondiert mit dem aktiven Beobachten, wobei das Ich selbst zum aktiven Mitleidenden wird. Passiv wird erfahrbar, was aktiv der Wahrnehmung immer schon vorausgegangen ist: der eigene Körper, dessen Wachstum nur (passiv) hingenommen werden kann, wird zum Opfer, indem sein Wachstum kraft aktivierter Wahrnehmung aussetzt. Die Sinneskraft verdreht die Referenzen und eine genaue Unterscheidung von Aktiv und Passiv ist letztlich kaum möglich. Die Manipulation des eigenen Körpers über die Wahrnehmung des Anderen ist nicht nur eine Kommunikation zwischen Innen und Außen, sondern wesentlich auch zwischen Eigenem und Fremdem. Das Ich versucht, seine Position innerhalb der Familie in Selbst-Deprivation zu festigen oder über die Erkenntnis des Sonderdaseins die Integration zu versuchen.

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Negativformen Das erste „Erlebnis der Schönheit“ in der polnischen Privatschule verweist auf eine weitere Verbindung zur Großmutter mit ihren „eng stehenden“ dunklen Augen, die eine ästhetische Erkenntnis im Bild der „Eule“ verdichten. […] Mir scheint, als hätte ich bis heute nichts Schöneres geschaut als jene gottgeschaffene aufrecht oval stehende Vase in weichem Gold, mit Schleieraugen. Ich meine die Schleiereule, die ich damals sah und deren Bild den Geschmack meiner Seele bestimmte (K14).

Die Schleiereule steht für die „Einheit von Formstrenge, Geheimnis und Ruhe“ (K14). Die „Schleieraugen“ in Bezug zur Großmutter deuten auf die spätere Verkörperung genau dieser Ideale in der eigenen Lyrik hin. 66 Die Schleiereule als erstes Erlebnis des Schönen prägt eines der einzigen positiven Schulerlebnisse in Rosenkranz’ Kindheit. Zugleich zeigt sich darin aber auch das vergebliche Bemühen um anschauliche Erkenntnis: „Aus innerer Kraft“ schärft das kindliche Ich seine unzureichenden Blicke, „um die rasch einander folgenden Zeichen auf dem schwarzen Viereck [an der Tafel] zu unterscheiden: es war vergebens“ (K14). Die Schleiereule, die hier der Schilderung des Schulerlebnisses vorausgeht, vereinigt negative wie positive Empfindungsmomente, indem der „Schleier“ der Eule im Folgebericht auf die kindliche Sehschwäche zurückverweist. Gerade durch diesen Filter des Sehens keimt die Beziehung zur Großmutter, die später auch den Schlüssel zur Poesie bereitstellt. Erst später (1911) versteht und hört Edmund „wie durch ein Wunder“ die Erklärungen der Lehrerin, wenn auch ohne zu erkennen, was auf der Tafel geschrieben steht: „So bekam ich im Geiste gewissermaßen erläuternde Texte zu schauen, in denen für mich bloß weiße Flächen ausgespart waren, wo meine Mitschüler in deutlichen Bildern und Zeichen sich des 66 Dass die „Schleieraugen“ auch an späteren Stellen im Text nur zur Charakterisierung weiblicher Personen dienen, verweist auf die ideale Verkörperung der Weiblichkeit hin anhand der „aufrecht oval stehenden Vase“. Dieser Kontext erinnert an die Erwähnung einer mit Wasser gefüllten Vase in den Briefen an Anna Rübner und Lilly Pusch. Vgl. Kapitel 7.2.

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mündlich kommentierten gegenständlichen Wesens der Unterrichtsstunde erfreuen mochten“ (K32). Die Erkenntnis ist hier kein rein geistiges Wahrnehmen, sondern eines in Beziehung von inneren Bildern und äußeren. Auch bekommt das „Negativbild“ anhand der „ausgesparten weißen Flächen“ zusätzliche Bedeutung: Das direkt (An-)Geschaute vermittelt seine Botschaft erst im Ergänzen der Leerstellen. Das heißt auch, dass nicht die Referenz, der Text und der am Wort haftende Sinn erschlossen werden, sondern das Lesen vielmehr im Erschließen einer Silhouette vor sich geht und dabei eine figurale, fiktive Ganzheit zum möglichen Verständnis führt. „Verschleierung“ des Blicks und „Erkennen“ werden hier quasi gleichgesetzt.67 Neben die unzureichenden Augen treten die zugespitzten Ohren, welche fortan empfänglich sind für ein „anderes“ Leben in den Träumen. „Der Geschmack der Seele“, der sich im Bild von der (Schleier-)Eule verdichtet, führt zum „Wunder leuchtender Farben“ und von da zum Erlebnis „tönender Säulen“ im Wahrnehmen hebräischer „Klangreihen“. An diesen Gegenständen des Schönen lässt sich die Differenz von Sichtbarem und Unsichtbarem ablesen, welche mit der Eule als Symbol der Weisheit, ein Tier, das in der Dunkelheit sieht und am Tag schläft, bereits eine Andeutung erfahren hat. Im „Bild des Zeugnisses“ erfahren diese Negativformen oder Zwischenräume der Erkenntnis nun eine weitere Zuspitzung. „Am Ausklang des Unterrichtsjahres“ malte der „feuerbärtige“ Rabbi … […] unter struppigen Brauen, auf grüne Blätter in Rot, Gold und Silber um Löwenköpfe und Leuchter sich schlingende Randverzierungen, zwischen denen er danach für jeden von uns, in hebräischen Schriftornamenten, schwarz und rot, das Zeugnis über unsere Leistungen aufsetzte. Auch mein Zeugnis war ein Kunstwerk der Anerkennung meines Könnens […]. Da ich es nahe ans Gesicht halten konnte, genoß ich davon zum ersten Mal das Wunder leuchtender Farben, die ich bei allen anderen bloß aus der Ferne sichtbaren Erscheinungen gedämpft und matt sah (K18).

Die Farben täuschen letztlich über den wahren Inhalt hinweg. Aber die selbst „ausschraffierten Nachbildungen“ erscheinen „stümperhaft“, „weil ihnen die Umrißkonturen fehlten“. Dem Rabbi „missfielen auch meine far67 Vgl. hierzu das Gedicht „Der Augen Blick“ am Schluss, Kapitel 10.4.

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bigen Kompositionen: Sie waren ihm zu matt, zu flächig und wiederum nicht abgegrenzt. Ich fühlte, dass meine Blätter nicht ganz so tadelnswert waren, und erbat das Urteil des Klassenvorstandes“. Doch damit war es „‚wie mit deinem Deutsch‘, lächelte mein Haar nicht unzufrieden“. „Wie kam in dich, kleiner Kerl, soviel unbändige Kunstnatur? Was ist dein Vater?“ „Landwirt“ „Deutsch-Ruthene, was?“ „Juden-Österreicher“. „Österreicher sind wir alle. Also Jude. Und Mutter?“ „Dasselbe.“ „Sonderbar. Bist du ihnen ähnlich?“ „Dem mütterlichen Großvater.“ „Mütterlicher Großvater“, wiederholte er mehrere Male, und freute sich am Worte (K115).

Seine Sonderrolle wird Edmund nicht mehr nur über die eigene Wahrnehmung bewusst; die familiäre Herkunft, welche die „unbändige Kunstnatur“ infrage stellt und sogar zu begründen hilft, wird ausschlaggebend dafür, dass dank des „mütterlichen Großvaters“, der in der jüdischen Tradition hohes Ansehen genießt, die Grundbewertung letztlich ausreichte. Das Zeugnisbild des feuerbärtigen Rabbi wird zur Aufbewahrung im Kontokorrentbuch der Großmutter versteckt. Während es Arnold mit einem Reißnagel an die Wand hing, ohne dass ihm reuig war, dass „Pilze die weißen Leuchter in den Löwenklauen beschlugen“. „Tief in den Nächten“ nahm Edmund dagegen sein „Kunstwerk“ hervor, um sich unbemerkt in den „leuchtenden Anblick“ zu vertiefen. Erst als eines Nachts das Blatt zwischen den Blättern nicht mehr auffindbar war, „verfingen sich meine unzureichenden Blicke in den strengen Kolonnen ebenfalls hebräischer Schriftornamentik, die, von arabischen Zahlen flankiert, als tönende Säulen auf den geräumigen Blättern standen“ (K18f ). Doch „mehr als dem bildhaften Zeugnis trauerte ich den kurz genossenen Klangreihen nach, die heute noch als große Musik mein Gedächtnis erfüllen“. Nicht das „Zeugnisbild“, sondern die flüchtigen Klangreihen haben sich auf Dauer im Gedächtnis verfangen. Anders schaute ich seither die Großmutter. Im nüchternen Spalier der zahlenhaft treu verbliebenen Hüter eines eitlen Weltganzes ließ sie mit ausführender Hand die klangtragenden Heerscharen des Geistes aufziehen. Es war der Triumph des Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit. So mächtig also war jene strenge Greisin mit dem großen Buch. Ihr würdiges Gleichnis wäre nur die geisterhafte Eule. Als ich die poetische Dame erschauen lernte und zu ahnen begann, daß die Gesittungsgrenze, das All umfassend, als Liebe unter-

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schiedslos alle Besonderheiten umarmen mag, bereute ich mein kindlichrichtendes Gefühl. Das geschah aber erst viel später, als sie in dem Geist aufgegangen war, den sie als Besonderheit kalligraphierend zu beschwören pflegte, und ich unvermerkt den von ihr vorgezeichneten Pfad beschritten hatte. Wochen nachdem ich es vermißte, sah ich mein Zeugnis als Deckel auf einer Milchrinne wieder. Ich fühlte einen Stich im Herzen, überließ es jedoch seinem Schicksal. Nach diesem Vorfall konnte kein Zeugnis mehr meine Gefühle fesseln (K19).

Die musikalische Wirkung der Sprache auf den Geist, die stärker war als die durch Konturen und Unterscheidbarkeit bestimmte Zeichenlektüre, positiviert das Bild der Großmutter im Sinne der geisterhaften Eule. Die „Erkenntnis“, „daß die Gesittungsgrenze, das All umfassend, als Liebe unterschiedslos alle Besonderheiten umarmen mag“, half schließlich über die Zerstörung des Zeugnisses hinweg, das als Deckel der Milchrinne seinen materiellen Wert längst eingebüßt hatte. Nicht das Zeugnis selbst, das in seinem Darstellungswert sowieso nicht der wahren Leistung entsprechen konnte, als vielmehr die lebendige und ephemere Wirkungskraft der gesprochenen oder gesungenen Schrift veränderte die Wahr-nehmung und das Erkennen wahrer sprachlicher Werte. Das Zeugnis bzw. dessen Bild ist so nur der Anlass für eine viel bedeutendere Kraft von Sprache und Bild, was bisher mit „Schönheit“ gleichgesetzt wurde – ebenso von Musik und der Mündlichkeit als Ausdruck (ver-)lebendigter Sprache. Die Beziehung zur Großmutter, die mit diesem Erlebnis der Schönheit und über die Sprache zum Inbegriff allumfänglicher „Liebe“ wird, verspricht als solche allein dauerhafte Wirksamkeit. In der Erkenntnis hebräischer Klangreihen als tönende Säulen liegt letztlich auch das Geheimnis des poetischen Geistes, in dem die Großmutter als geisterhafte Eule die Trümmer der Vergänglichkeit überdauert. Die „strenge Greisin“ entpuppt sich an dieser Stelle nicht nur als „Hüter eines eitlen Weltganzen“, sondern nimmt auch prägenden Einfluss auf die Entwicklung des Ich, das „erst viel später“, als „sie in dem Geist aufgegangen war, den sie als Besonderheit kalligraphierend zu beschwören pflegte“, „unvermerkt“ selbst „den von ihr vorgezeichneten Pfad beschritten hatte“. An diesem Ort der Vergeistigung im Tod beginnt für den Protagonisten ein neuer „Pfad“ des Lebens. Das „Fest des Geistes im Buch“ steht einem „Fest des Geistes im Leben“ gegenüber, wie es der mütterliche Großvater seinem

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Enkel als „Ebenbild“ gegenüber darstellte. Der „Geist“ ist so der Kern eines Lebendigen, das entweder als Buch oder im Leben selbst unterschiedliche Verkörperungen annehmen kann. Die Zeugnisepisode steht in der Kindheit in Zusammenhang mit der Reflexion der eigenen Entwicklungsgeschichte und so auch mit einem Bildungsbegriff, welcher die Schulbildung abspricht: Der „Bildungs- und Erkenntnisweg“ des Ich vollzieht sich am Bildrand, am Rand der Systeme, auf Abwegen der Gesellschaft, soziologisch aber auch immer in einem Dazwischen, weil Ränder und Konturen, Trennungen und Abgrenzungen vom Ich als solche nicht wahrgenommen, in seiner „All-Schau“ nicht erkannt werden können.68 Aufenthalt im Dazwischen In einer „gefühlsmäßigen“ Entwicklung des Sehens seit der Genesungsphase nach dem Feuersturz nimmt die Wahrnehmung der Wirklichkeit einerseits ihren Umweg durch die geistige Innerlichkeit, andererseits in einer äußeren Kompensation „des Unzureichenden“, wobei sich im Bereich der Wahrnehmungsgrenzen so genannte Zwischenbilder einstellen; zwischen Innen und Außen, Wahrheit und Erfindung erfolgt keine verbindliche Differenzierung mehr. Daran wird allmählich jener poetische Mehrwert ablesbar, der in der Entwicklung der Kindheit letztlich als selbstschöpferisches Potenzial aus diesem noch zu definierenden Dazwischen erwächst. Träume werden daher im Erzählen aus der Kindheit wesentlich. In ihnen vermischen sich nicht nur die Zeitebenen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft); auch Entbehrungen und Wünsche, Sichtbares oder Unsichtbares und allem voran Wirkliches und Unwirkliches, die in Opposition Sinn erzeugen. Rosenkranz, der in seiner Erinnerung als Kind berichtet, wie er sich die „Traumbilder von der Berhometer Wiese“ in Prag ausgemalt habe, ohne die „Stadt und die Schauseite der Häuser“ sehen zu können, benutzt seine Traumerlebnisse und -schilderungen zur Selbstverortung einerseits zwischen diesen inneren und äußeren Erfahrungsräumen; andererseits aber auch, um 68 Daraus hervor geht ein weiteres „Negativbild“ – jenes der Schule. Vgl. folgendes Kapitel.

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sich gegen die Übel der Zeit zu rüsten: „Ich schloß die Augen und bohrte mich ins Stroh zurück“, denn die „Schau-Seiten“ wurden ihm vorenthalten. Aber […] ich begriff auch nicht die Figuren des Lebens. Wenn ich morgens, vom Sonnenaufgang auf meinem Gesicht geweckt, vors Haus eilte, erstand der neue Tag vor mir als ein Tafelberg der Musik und ich empfand die figürlichen Bewegungen der Pflanzen, Tiere und Menschen an der Wand des Lichtes nicht anders als die Zeichen der Notenschrift am Pultblatt, von dem Lehrer Frunza, nach einem Blick auf seine Handuhr, das Spiel für die Geige unter seinem Kinn abzulesen pflegte.

In den Träumen, wo sich differente Wirklichkeiten vermischen, lösen sich Haupt- und Nebenhandlung in Zusammenhängen neu auf. Die „All umfassende“ Wahrnehmung der Großmutter kehrt nun beim Protagonisten wieder: In einem meiner Schlafträume schaute ich damals eine goldene Taschenuhr, die bei meiner Berührung zu klingen begann. „Das ist die Zeit!“, verkündigte eine Stimme, „sie lebt nur, wenn du sie zum Tönen bringst.“ Ich ergriff das goldene Ding, und da es plötzlich tausend behaarte Geisterhände erhaschen wollten, verbarg ich es im Mund, den ich fest verschloß. Doch begann es dort unter ohrenbetäubenden Akkorden zu wachsen und drückte mir auf die Luftwege. Ein Schrei riss meinen Kiefer auseinander, und nur erwachend hatte ich mich vor dem Ersticken gerettet. Dennoch suchte ich die Uhr. Im Banne des Traumes fuhr ich mit meinen Händen unter die warmen Leiber und in die offenen Münder meiner Nachtgefährten im Bankbett, die mein Traumruf schon aus dem Schlaf geweckt hatte. Mit hypnotischer Verbissenheit durchstöberte ich unser Lager, die Küche und das ganze Haus nach dem goldenen Traumfund. Mir war, ich hätte ein Organ verloren, ohne das ich nicht leben würde. Es stand mir bloß nicht fest, ob nun das Herz, der Magen oder das Geschlecht fehlte. Natürlich gebrach mir’s an keinem dieser Bestandteile, aber ich hielt sie für Täuschung und wirklich war nur die Uhr-Zeit, die ich zum Klingen bringen sollte, damit sie lebe: ich hatte sie jedoch ausgespien, um Luft zu bekommen: Wär ich doch lieber erstickt (K34).

Die „figürlichen Bewegungen der Pflanzen, Tiere und Menschen an der Wand des Lichtes“ wie die „Zeichen der Notenschrift“ steigern nach der Erfahrung der tönenden Klangreihen das Erlebnis der Wirklichkeit in den Träumen. Die zu verlebendigende Uhr als „tönende Zeit“ wächst golem-

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artig im Mund des Kindes bis zu dem Punkt, an dem die Lebendigkeit des Objekts das Leben des Träumers gefährdet. Nicht aber der Traum-Gegenstand, sondern der Körper des Träumenden wird nach dem Erlebnis als Täuschung empfunden. Das einzig Wirkliche, nämlich die Uhr-Zeit, kann nur im Selbstverlust zum Tönen bzw. zum Leben erweckt werden. Die Verlebendigung des Toten fordert ein lebendiges Opfer. Die Wirklichkeitsebenen sind hier verkehrt, wo der Traum das ersehnte Leben nur vorstellt, der Körper aber wider den Geist den Traum vom Leben beendet und anstelle der Phantasie zum Atmen in die Wirklichkeit zurückfindet. Die geschilderte „Wirklichkeit“ ist hier keine „tönende“ Zeit. Ein zweites Zurücksinken in die Verbrennungsphase führt aber auch zu einer zusätzlichen Läuterung des Ich in horizontaler Lage der Anschauung: Das war in den folgenden Tagen mein Zustand. Ich verirrte mich vom Schulweg, um auf den Feldern zu suchen, und fiel in die Stummheit meiner Verbrennungsphase zurück. Die Lippen drehten sich mir, wie unbehaglich liegende Würmer, fest aufeinander nach innen, und ich konnte sie kaum selbst zur Nahrungsaufnahme teilen. Meine Geschwister gingen mir aus dem Weg […] Mutter musterte mich im geschäftigen Kreislauf zwischen ihren Obliegenheiten, wo ich ihr im Wege stand, mit besorgter Ironie: zu Pepi hörte ich sie einmal sagen: „Laß ihn bloß; es wird ihm schon vorübergehen.“ Das tat es denn auch. Und zwar recht bald. Doch nur unter dem Hereinklingen eines folgenden Traumes, der mich wie ein Lichtstrom durchzog und die Lebenslandschaft meiner Seele bildete. Ich lag unter dem Strohdach unseres Hauses und schaute alles, was oben darauf vor sich ging (K34f ).

Der Traum von der tönenden Uhr hält dermaßen Einzug ins Leben, dass das Ich die Wirklichkeit im Zustand der Verbrennungsphase neu erlebt. Die Stummheit ist ein vollständiger Rückzug nach Innen und eine weitere Abkehr von der sozialen Umgebung. Der schlafende Zustand intendiert wie beim Sturz in die Feuergrube eine Distanzerfahrung der eigenen Umwelt gegenüber, um danach um so mehr in die Welt zurückzufinden. Das Ausdem-Weg-Gehen markiert einen erkenntnisreichen Um-Weg über einen neuerlichen Traum, der seinerseits in die reale Wirklichkeit zurückleitet. „Wie ein Lichtstrom“ durchzog es ihn und bildete „die Lebenslandschaft meiner Seele“: „Unter dem Strohdach unseres Hauses“ liegend schaute „ich alles, was oben darauf vor sich ging“: in passiver Liegeposition und wieder

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von unten her findet das Kind den Rückweg in die Realität, wenn auch nicht im „Erwachen“, sondern im „Schlaftraum“ verharrend, der ihm die Wirklichkeit quasi aus dem Jenseits erschließt. Dort stand in seinem Nest in einer morgendlichen Ostersonne Meister Storch im Kreise der Seinen. Indem er, auf einem Beine stehend, den Schnabel weit offen hielt, strich er über dessen unteren Kiefer, mit Hilfe des freien Fußes, einen Fidelbogen und sang dazu. Ich wunderte mich und war erfreut über die Möglichkeit des Wunders, denn ich fühlte, daß auch ich schon treffen würde, was dem Klappervogel gelang. Ich erhob mich, um mich an einem Seil, das herunterhing, zum Nest emporzuschwingen. Aber als ich, die Entfernung messend, hinaufsah, stand oben schon der Zigeuner Bogdan im Kreise seiner Kapelle, und alle musizierten und sangen, wie sie es lebhaft und entzückend bei den Geburten, Hochzeiten und Begräbnissen der Gutsbesitzer zu tun pflegten. Da mein begehrlicher Blick seine Hände lähmte, entfiel dem Kapellmeister die Geige, die ich sogleich mit Schrecken an meinem Schlüßelbein fühlte. „Mach’s besser“, sprach das Instrument mit Rellys belegter Stimme. Aber rings um mich stand in mehreren Gestalten, wie zum Tanz bei den Händen sich haltend, der mütterliche Großvater. „Mit dem Armbein, mein Ebenbild. Einer muß es ja machen. Wir wollen auch einmal tanzen.“ Als ich gehorchte, war es ein Feuer, das unter meinem Gesicht emporschlug. Ich öffnete bloß, ohne mich zu rühren, die Augen und sah über mir, von Arnold gehalten, einen Glasballon, der feurig in der Frühsonne glänzte. Ich lag unbedeckt und gefesselt im Hof vor dem Hause, ausgesetzt den Blicken der Mädchen, die sich in wildem Reigen um meine bloßgestellte Figur bewegten. Sie hatten mich steinern schlafenden mit vereinten Kräften in diese Lage gebracht, um fröhlich das Osterfest zu eröffnen. Sofern das noch möglich war, erfuhr die Wirkung dieses Traumes eine Vertiefung in mir, als Arnold kurz danach eine Geige ins Haus brachte und Lehrer Frunza ihm auf sein Drängen darauf Unterricht zu erteilen begann (K35f ).

Der Traum wird „wirklich“, nachdem das Ich die „Möglichkeit des Wunders“ im Kreis des Zigeuners Bogdan erprobt hat. Edmund fällt über den „begehrlichen Blick“, der die Entfernung vermessen und die Hände des Musikers gelähmt hat, das Instrument zu. Und ohne die Ereignisse des Lebens zu differenzieren oder zu bewerten, belebt das sprechende Instrument „Geburten, Hochzeiten, Begräbnisse“. Die direkte Rede aus dem Traumgeschehen unterstreicht die Unmittelbarkeit; Edmund bleibt der Realität

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abgewandt, bis ihn ein „Feuer“ unter dem Gesicht aus dem Traum weckt. Wie nach dem Sturz in die Feuergrube, liegt das Kind auch jetzt unbedeckt dem Himmel zugewandt und umringt von seinen Geschwistern, die es einem Opfer gleich im Rahmen des Osterfests in Szene gesetzt haben. Licht und Luft sind die eindeutigsten „Merkmale im Raum“, die Rosenkranz hier erinnert: sei es in den Zwischenräumen von Schrift und Schrifthintergrund, wo sich die Buchstaben als ausgesparte weiße Flächen präsentierten, im Feuer oder in den Träumen sowie in der Phantasie: Zwischenräume, welche für die Selbstpositionierung in der Wirklichkeit doch bestimmend sind. Darüber stellt sich eine „Traumerlebnistradition von Können und Wissen“ ein (K53): 69 eine „Kunst des Wissens“, welche die Erkenntnislücken aus der Schule sowie diejenigen aus dem Felde ergänzte. Dennoch sehnte ich mich nach einer Kunst und einem Wissen, von denen indes weder in unserer Dorfschule noch auf dem Felde etwas verlautete. Dieses Verlangen hatte damals schon Tradition in mir. Es reichte durch Arnolds so hart abgebrochene Musikanfänge, den Traum von der Kapelle auf dem Dach, den von der tönenden Uhr, Pepis Märchen und Mörikes Gedicht, Großvaters Gespräche und Großmutters unverstandene Rhythmen, das Zeugnisbild und die heiligen Mären des Judenschulgoliaths und die Eule im Glasschrank bis hinunter zur Berhomether Wiese, mit der Weide und der schimmernden Wolke darüber, also elf wahrnehmbare, und wer weiß wieviel unsichtbare Quellen, zu einem Urborn, den ich damals schon als vor meiner Geburt wirkend ahnte (K44). 69 Rosenkranz verweist in der AR-Korrespondenz vor wie nach 1957 auf das abwechselnde Bedürfnis nach Licht und Dunkelheit. Mehr Licht wurde ihm vor allem nach 1957 bedeutend, und daher rühren auch die Bemühungen um ein „grünes Zimmer“, um eine mit Wasser gefüllte Vase usw. Geiser verweist in seinem Beitrag zu populären Autobiografien auf den Aspekt der mangelnden Beleuchtung bei der Konsumption von Lesestoffen und die mit dem Mangel an Licht einhergehenden Verarbeitungsformen von Literatur. Diese seien zum Teil semiliterarischen Charakters, bestehen „also im Erzählen von Gelesenem, zum Teil aber auch in aufgenommenen literarischen Bildern und Geschichten. Diese Art der Projektion einmal gelesener Inhalte auf eine innere Leinwand als privates Lichtspiel hat im düsteren Leben vieler Autobiographinnen eine eminent wichtige, ja mitunter lebenswichtige Rolle gespielt“, Geiser, in: (Burckhardt-Seebass, 1995, 250).

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Aus dem passiven Sehen geht letztlich ein aktives Schauen hervor, das sich nicht nur unter der Haut ausrichtet, sondern auch über unterschiedliche Wahrnehmungsorgane vermittelt wird. „Damals senkte sich der Kern für die ernsteren Dinge in meinem Verstande, in meine Seele. Sie sollten an nichts gebunden sein, was Vater oder sonstwer zerbrechen konnte“ (K37). Ein innerer Zusammenhang, der bereits „vor meiner Geburt“ „Tradition“ hatte, erinnert hier ans „Loslösen von allem Fixierten“, wie es über die Korrespondenz verhandelt wurde. Die Träume als eine Erfahrungswelt, die nicht nur eng an die wirkliche gebunden ist, sondern sich in die Wirklichkeit einmischt und die Grenzen der Wahrnehmung verwischt, sind ein Ausdruck dafür, wie sich die Erfahrung der äußeren Wirklichkeit im Ich weiter entwickelt und zu Strategien greift, um sich vor einer falschen Wahrheit genauso wie vor echter Täuschung in Schutz zu nehmen. Meine Seele, unzureichend bedient von meinen kleinen tiefstehenden Augen, entwickelte gefühlsmäßige Fähigkeiten des Sehens. Aus allen Poren meiner Haut begriff ich schauend die Dinge, erreichte die fernsten und drang zu den verborgensten hin. Ich schien mir unter der Haut aus tausend Augen bestehend, die nicht bloß das Äußere der Erscheinungen und Taten, sondern auch deren Wesen in ihre Nerven sogen und einer Mitte zuleiteten, die sie auf geistigem Spiegel zur Schau stellte. Diese Optik der Seele gab es mir auch an die Hand, die werdende Gestalt schon im unbestimmbaren Keim, das verhängte Geschehen schon in den Anzeichen zu erkennen. Ich habe hier nicht das Fernund Hellsehen im Auge, auch nicht die telepathische noch auch die magnetische Empfindsamkeit. Das Phänomen ließe sich eher im Begriff eines Allbewußtseins zusammenfassen. So empfand ich es damals, in meinem neunten Lebensjahr, als die Symptome hervortraten. Nur innerlich, versteht sich, in Form einer geisterhaften Weltkorrespondenz. Nach außen war ich indessen wieder bloß ein wenig höher und stämmiger geworden, im übrigen aber mit den weitabstehenden Ohren und dem scharfkonturierten „Kußmäulchen“ „der Engel“ geblieben, der, seinem edleren älteren Bruder diametral entgegengesetzt, nach außen gehorsamte und spielte, um innerlich trotzig und eigenwillig zu leben (K42).

In „geisterhafter Weltkorrespondenz“ und dennoch in Abkehr von der Welt, um im Innern „eigenwillig zu leben“, emanzipiert sich der Geist über eine Optik der Seele, in der „die werdende Gestalt schon im unbestimmbaren Keim, das verhängte Geschehen schon in den Anzeichen“ erkannt wird.

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Verkörperte Poesie Wie anfänglich die Großmutter bei der Erfahrung der Schrift wird beim Erzählen deutscher Märchen Schwester Pepi zur „verkörperten Poesie“ (K32). Ihre Märchenerzählungen sind Ausdruck und „Unterkunft der Realität in der Phantasie“. Pepi schilderte „nur aus der Wirklichkeit, die sie erfahren hatte, und zog mit ihren von Humor und Ironie gespeisten Sätzen, worin die genauen Worte wie Ziegel saßen, Schauseiten des Lebens auf, hinter denen das Ohr immer die ewige Landschaft und den Geist der Sieben Tage rauschen hörte“ (K112). In Pepis Erzählungen ist letztlich das angelegt, was sich das kindliche Ich für seine eigene Dichtung vornimmt: nämlich eine ewige Landschaft, in der noch der Geist der sieben Schöpfungstage nachklingt. In den Märchen der Gebrüder Grimm, „nach Sinn und Maß meines damaligen Durchdringungswillens“ (K156), sowie mit Ludwig Uhland genoß „ich das Glück lückenlosen Verständnisses in der Sprache“: Hier schien „mir die Landschaft und meine Lage in ihr wie eine Welle im Fluß zu schwingen“ (K157). „Geradezu aufgelöst fühlte ich mich in den Gestalten und Erfüllungen ihrer Wünsche, die bis auf den Hauch akkurat der Welt meines Gemüts entsprachen, das sich dieselbe inmitten einer unmöglich derben Umgebung als eine Zuflucht erschaffen hatte“ (K157). Lesen wird zu einem „Schauen und Schaffen“ (K217), wobei das Wortmaterial in einen organischen Leseakt aufgeht und der Text zu einer Landschaft wird, in der das Ich nicht nur „Zuflucht“ findet, sondern sich geradezu haptisch-aktiv durch den Text bewegt. ‚Das Märchen‘ …, das begriff ich, hier trat mein Geist auf festen Grund … ‚vom Gockel …‘ er begann zu gleiten, mein Grund; ich war auf Geröll getreten, doch wie es so rollte und kollerte, klang es wie Krähen, wie Hahnenschrei …‚ vielleicht ein Hahn‘, dachte ich, und fuhr fort: ‚… Hinkel …‘ Hinkel, Hinkel … ich wurde nicht klug daraus, und trug mich kleinmütig und buchstabierend weiter auf diesem rätselhaften Gedichtbaum, denn die Lettern waren so kunstvoll, dass man wohl Künstler sein musste, um sich in ihnen auszukennen: ich erhoffte, vom folgenden Wort die Einsicht in seine unübersehbaren Vorgänger zu bekommen. Das war einer meiner Erfahrungsschätze bei den Wanderungen durch die Texte meines deutschen Lesebuches […] (K133f ).

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Das Lesen wird zu einem phänomenologischen Akt subjektiver Weltschöpfung, indem Hören und Sehen, Sprechen und Sich-selbst-Vernehmen unzertrennlich in die Erzählung eingehen. Wie in der Beschreibung des Bruders kommt es hier zu einer Identifikation mit dem Gegenstand der Lektüre. Zugleich weist dieser ein Klang- und Sprachbild auf, das gleich einer Melodie die Wortfolge und deren Sinneinheit in Übereinstimmung bindet. Während der Grund rollt und kollert, „klang es wie Krähen …“, und die tönende Sprache trägt den Leser quasi heilsam mit sich fort. In jenem beschränkte ich mich auf das langsame und eindringliche Lesen unserer Klassiker, in diesem auf eigene Übungen in allen Formen der Gattung. In beiden suchte ich klar, bündig und wahrhaftig: dort zu verstehen, hier auszudrücken. Die Ergebnisse unterwarf ich prüfenden Belastungen: indem ich die des Lesens aufschrieb und mit den Texten verglich, und die der eigenen Erzeugung studierte und gegen die Absichten hielt. In beiden Fällen duldete ich eher das Unzureichende, das ergänzt werden konnte, als das Übersteigende, das mich Verfälschung dünkte. Um die sprach- und literaturwissenschaftlichen Kategorien des Gewachsenen kümmerte ich mich nicht: ich wollte die Gestalt, nicht ihr Skelett; den Garten, nicht die Botanik; ich wollte schauen und schaffen, nicht enträtseln und konstruieren (K217).

Rosenkranz stellt sich als Empiriker dar, der nach der Erkenntnis einer Gesamtgestalt sucht: „Klar, bündig und wahrhaftig“ musste sein, was einer Ergänzung bedurfte, als dass es der Übersteigung entsprach. Wie wenig das direkt Geschaute zur poetischen Wahrnehmung diente, so wenig halfen auch „Kategorien“ zur Formulierung des Gewachsenen. Die Wahrnehmungsvorgänge wirken transzendent, indem sie gerade auch aus der Beeinträchtigung der Sehkraft ein ornamentales Muster in- und übereinander gleitender Bilder vorstellen. Ausgehend von einer akribischen Beobachtungsgabe, die für das Bestehen der Welt als Kind unerlässlich war und mit der alles schnell und mehrdeutig erfassbar wurde, was das Umfeld bedrohte, überschreitet die gesamte Wahrnehmung den Brennpunkt des Sichtbaren bei Weitem. Historische Begebenheiten formieren sich im Gedächtnis zu assoziativen, einfacheren oder verkleinerten „Figuren des Lebens“: 70 Über die Verkleinerung wird das Geschaute greifbar und rückführ70 Vergleichsadjektive und eine kontrastive Syntax gleichen visuelle Größenunter-

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bar in die subjektiv kodierte Kindheit. Die Vergrößerung und Erhöhung von Kleinem wiederum ermöglicht eine adäquate Verordnung in einem Ganzen, wo letztlich gar die Position des Ich aufscheint.71 An dieser Übersetzung der Erinnerungsbilder zeigt sich aber auch, wie die Unüberschaubarkeit der erfahrenen Welt, die fremde Macht der äußeren Wirklichkeit sowie die Rückbesinnung in die frühe Kindheit habhaft und aneigenbar wird.

9.3.2 Fazit und Kommentar Die einzelnen Motive, die hier als erste am autobiografischen Fragment untersucht worden sind, haben sich als wiederkehrende Konstituenten der Textstruktur sowie der Kindheitschronologie erwiesen: Ausgehend vom Sturz in die Feuergrube hat sich das Feuer in der Doppelbedeutung von Leben und Tod im Blick der Anderen immer neu als Vermessungszeichen des Lebendigen erwiesen. Die Ausbildung einer „Optik der Seele“, welche die „geisterhafte Weltkorrespondenz“ zu sehen und damit zu erkennen lernt, ist letztlich gleichbedeutend mit der Ich-Bildung, deren Entwicklung von der poetischen Erfahrung und Wahrnehmung der Welt wesentlich abhängig ist. Die Tendenz der Wirklichkeitserfahrung in die poetische Vergeistigung und damit einhergehend auch ein physisches Zurückwachsen wird nun im Folgenden über das Bild der Eule, über Hell-Dunkel-Effekte schiede semantisch an: Die Kamine des im Talkessel sichtbaren Dorfs wirken wie „aufgestellte Scheite“, während der flüchtige Schlittenzug über die verschneiten Waldkarpaten aussieht „wie Flosse, die zum Himmel fahren“. „In einem Winkel des unregelmäßigen Raumes stand, wie ein Spielzeughaus in einem Riesenkinderzimmer, die Hütte, in der unsere Flucht zu geborgener Ruhe kommen sollte“ (K64). 71 Bruno Schulz formuliert diese Rückschlüsse in Bezug auf die (Welt-)Geschichte. Auch Georg Drozdowski oder Gregor von Rezzori schrieben ihre Bukowiner Kindheitserinnerung in nicht minder schalkhaften Bildern von Figuren und ihrem gänzlich überraschenden Zusammenfinden über den historischen Tatsachen, vgl. (von Rezzori, 1989). Die habsburgischen Ambitionen und der Glaube eines Volkes in ein fern ab von seinen eigenen Realitäten konstruiertes System boten die Anlagen fürs Groteske und Komische.

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oder Negativformen sowie über Träume oder ein Ich, das sich als Opfer und/ oder Engel darstellt, mit den Ergebnissen des Theorieteils verbunden. Eine „all-umfassende“ Überlebensstrategie oder ein Akt poetischer Verlebendigung lässt sich im Text über die Antipoden von Geburt/Leben und Sterben/Tod ablesen und an einer Verwischung der Grenzen differenter Wirklichkeitsebenen erörtern. Das Ich wird aus einer Negativ-Abbildung in kritischen Schlüsselereignissen zu einer neuen Wahrnehmung geführt, woraus sich sein Positiv herausbildet, das sich über die poetische Spracherfahrung einstellt und letztlich auch ein mögliches Selbstbild ergibt. Anhand der Personenbeschreibungen und der dabei betonten Reflexion der Blicke zeigt sich die Erinnerung an die Kindheit als ein versuchtes Verstehen individueller wie objektiver Wahr-nehmung.72 Im permanenten Abmessen eigener und fremder Blicke sowie im Vergleichen und Erkennen übergreifender Analogismen (Ich/Andere, Tier/Mensch, Leben/Tod, Wirklichkeit/ Traum) über den Begriff einer „Weltkorrespondenz“ positioniert sich das Ich zwischen Innen und Außen, eigener und fremder Wirklichkeit neu. Das letzte Unterkapitel „Verkörperten Poesie“ zeigt eine letzte Stufe permanenter Selbstpositionierung in einer Welt, deren äußere Übel zunehmend positiviert werden müssen, um individuelle Schutzmechanismen einüben zu können und so die individuellen Wahrnehmungskräfte zu steigern. Diese unabschließbare kreisende Annäherung ist Voraussetzung fürs (Über-)Leben: ständiges Abgleichen der eigenen Position im Kreis der Anderen, gegen die Übel von außen. Wo sich die Intensität des Selbsterlebens steigert und der eigene Schmerz im Mitleiden für den Anderen ignoriert wird, tritt das Element des (bedrohten) Lebens als Feuer auf: Wenn das Ich dem Tod gegenübersteht, der Tod also im Gegenüber aufscheint, dessen Lebenskräfte das Ich durchschaut und zu bemessen lernt. Über die Erfahrung der Poesie rettet es sich zunächst in die „Realität der Phantasie“. Das Mitleid, das für die Integration und Entwicklung des Ich hier primär wirkt und welches quasi durch das „Feuer“ (in den Augen des Bruders) 72 „Ich bemerkte es damals nicht, doch sehe ich, rückblickend, dass der Leutnant und seine Frau ihren Beruf als Erforscher der Gegend auch an mir ausübten. Mir war die Neugierde in Bezug auf meine Person immer zuwider“ (K81).

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spricht, sieht Schopenhauer als Fundament der Moral: „Das Leiden, welches [der Mensch] an Anderen sieht, geht ihn fast so nahe an, wie sein eigenes: er sucht daher das Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen, versagt sich Genüsse, übernimmt Entbehrungen, um fremde Leiden zu mildern […] Sich, sein Selbst, seinen Willen erkennt er in jedem Wesen, folglich auch in dem Leidenden“ (Schopenhauer, 2005, 53). Nach Schopenhauer ist das wahre Selbst nicht bloß in der Erscheinung, der eigenen Person, sondern „in allem, was lebt“; so ist „alles“, worauf das menschliche Leben basiert, „Liebe“ – also „Mitleid“ (Schopenhauer, 2005, 55). Das Mitleid allein regt den Menschen an, Gutes zu tun, „überwindet das Prinzip der Individuation und ruft die Identifikation mit dem Anderen hervor. […] Es bedarf dazu keiner abstrakten, sondern nur der anschauenden Erkenntnis. Ja, Mitleid ist mit dem Menschsein so gleichursprünglich“, dass es ein Urphänomen genannt wird, die Liebe, welche die Welt zu umfassen vermag (Schopenhauer, 2006, 154). „[…] dass ihm [dem Gerechten] andere nicht bloße nicht Larven sind, deren Wesen von dem seinigen ganz verschieden ist; sondern durch seine Handlungsweise zeigt er an, daß er sein eigenes Wesen, nämlich den Willen zum Leben als Ding an sich, auch in der fremden, ihm bloß als Vorstellung gegebenen Erscheinung wiedererkennt, also sich selbst in jeder wiederfindet, bis auf einen gewissen Grad, nämlich den des Nicht-Unrechtthuns, d. h. Nichtverletzens. In eben diesem Grade nun durchschaut er das principium individuationis, den Schleier der Maja: er setzt sofern das Wesen außer sich dem eigenen gleich: er verletzt es nicht.“ Mitleid und Ähnlichkeit gehören nach Fritz Breithaupt zusammen (Breithaupt, 2009, 49); es ist „die Furcht, uns könnte durch Ähnlichkeit mit dem anderen dessen Schicksal zuteil werden, wir könnten selbst leiden“. Bei Lessing definiert er das Mitleid als Band der Gemeinschaft (Breithaupt, 2009, 57), was insofern auf Rosenkranz zutrifft, als dieser Lessings Laokoon kannte (K167), darüber gar eine „Gefühlsverbundenheit“ entwickelte und selbst weniger die „Gemeinschaft“, als um so mehr die „Beziehung“ und „Liebe“ in den Vordergrund stellte. Die Ähnlichkeit verlangt nach einer Bühne, um gesehen zu werden, denn sie ist verstellt oder entsteht erst durch ästhetische Illusion. Das Ich wird so zum Feind der Gleichheitsempfindung (Breithaupt, 2009, 58). Breithaupt räumt aber auch ein, dass die auf Lessing aufbauenden Autoren wie Hölderlin, Schiller, Goethe und

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Kleist, die ausnahmslos alle zum Sympathiekreis von Rosenkranz gehörten, die Wahrnehmung einer „Ähnlichkeit unter den Menschen von Anfang an bereits für einen Ausnahmefall“ hielten (Breithaupt, 2009, 63). Es liegt hier also der paradoxe Umstand vor, dass Ähnlichkeit insofern eine Voraussetzung für die Literatur ist, als diese endet, sobald das Ich da ist und sich gefunden hat. Ein poetischer Selbsteinhüllungsprozess beginnt mit dem Feuersturz, 73 der als erstes erinnerbares Erlebnis eine poetische, sprich läuternde Erfahrung darstellt. Das Ich ist da den Eindrücken der „ersten Landschaft“ erlegen: Das Bild der Landschaft schreibt sich in der Phase der Genesung dauerhaft ins Gedächtnis ein. Dieses Bild kehrt nach dem Traum von der „tönenden Uhr“ wieder, wobei die gesamte Lage des Ich auch hier dem ersten Erlebnis vom Feuersturz ähnelt: im Daliegen. Die liegende Position wandelt sich mit der Veränderung der Wahrnehmung zur Hingabe an Bild und Sprache. Peter von Matt hat „die lyrische Rede aus dem ausgestreckten Körper“ untersucht, wobei der Körper „die Vorbedingung der Verlautung und also auch der Erfahrung“ meint (von Matt, 1994, 81); für das „redende Subjekt des Gedichts“ ist die „höchste Form von Dasein […] die reglose Ekstase“: „Die Grundbewegung ist dabei das Sinken, wie immer bei den liegenden Dichtern, der langsame Fall aus der Welt des aufrechten Ganges, aus den dort geltenden Ordnungen, aus der dort geltenden Wirklichkeit – ein langsamer Fall hin zu einer andern Erfahrung von Raum und Zeit […] und die Linearität wird zum Kreis gebogen“ (von Matt, 1994, 82–83). 74 Die „Linearität“ der Selbstpositionierung am Beginn der Kindheit wird 73 Die Feuer, die im Herbst auch das aktuelle ukrainische Landschaftsbild prägen, erwähnt auch Appelfeld. Die verdorrten Stauden werden abgesengt oder auch das Gras großflächig abgebrannt. Alfred Margul-Sperber schreibt 1930 im Czernowitzer Morgenblatt über die zahlreichen Feuerbräuche der Landbevölkerung. Diese standen nicht zuletzt mit abergläubischen Vorstellungen in Verbindung (z. B. 21. August: Fest des Feuergottes). 74 Darüber müsste weiter nachgedacht werden, z. B.: Wie die gebogene Linearität mit der „Fiktion“ von Wirklichkeit zusammenhängt. Mögliche Ansätze böten Bruno Schulz, in: (Schulz, 1992a), (Schulz, 2008a); György Konrád über Perspektive und Erinnerung, in: Der dritte Blick. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001.

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auch bei Rosenkranz „zum Kreis gebogen“: da, wo die zu Beginn betonte Randlage und die eigene Position in der „Geschwisterfolge“ über das Erlebnis des Feuersturzes hinaus zu einer aus-grenzenden Einmittung 75 führt. Was hier mit dem Sturz in die Feuergrube als zweite Geburt (in der Poesie) angedeutet wird, lässt sich mit Peter von Matt als „Rückwärtsgeburt“ deuten, die bei den Dichtern der Moderne „einen verstärkt mythischen Akzent“ erhält (von Matt, 1994, 84). Ein mythischer Akzent haftet dem „lockenhaarigen“, schutzlos, nur mit einem Hemd bekleidetem Ich an, was einem „Wunder“ gleichkommt, wenn es ohne größere „Wunden“ dem Feuer entkommt. 76 Nach dem Traumerlebnis mit der tönenden Uhr wacht das Ich gefesselt an jenem Ort auf, wo die Vorbereitungen zum „Osterfest“ laufen: eine unfreiwillige Opferhaltung, die mit dem besonderen Ereignis des Osterfestes als „Wiedergewinn der erlebten Bewegtheit“ zu verstehen ist: eine Auferstehung aus den Traumbildern gleichermaßen, die schließlich doch Wirklichkeit bedeuten. Von Matt liest auch da eine „vorgeburtliche Existenz“ (von Matt, 1994, 84), wo Rosenkranz in seiner Erinnerung der Kindheit die wichtigen Erfahrungen oder „die werdende Gestalt schon im unbestimmbaren Keim“, „das verhängte Geschehen schon in den Anzeichen“ (K42) zu erkennen glaubte. Das Anhalten körperlichen Wachstums oder konsequenter noch: Das Fallen ist in Rosenkranz’ Kindheitsschilderung immer mit einer Transzendenzerfahrung verbunden, aus der ein poetisches Aufwachen, quasi eine Wiedergeburt hervorgeht. In der poetischen Wiedergabe, und nicht zuletzt über das Mitleid, über die Trennungen von Ich/Anderem, Mensch/Ding, Vergangenheit/Gegenwart in die Auflösung getrieben. Geburt und Tod sind für die Erinnerung bzw. Erinnerbarkeit immer ein Unzulängliches, das „ergänzt“ werden muss, um für sich selbst erkennbar, d. h. auch sichtbar zu werden. Ergänzt wird das unzulängliche Sehen durch eine „Optik der Seele“, die aus „tausend Augen unter der Haut“ besteht. Wie am Beispiel der Groß-

75 „Aus-grenzung“ wird hier wie später „Ent-leerung“ über die doppelte Negierung des Begriffs wortwörtlich verstanden: In der Aus-grenzung schwindet die Grenze; in der Ent-leerung kommt es zugleich zu einer Anreicherung der Leere, d. h. zu ihrem Verschwinden. 76 „Wunder“ und „Wunden“ stehen in Kindheit auffallend nebeneinander.

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mutter und am Rabbi gezeigt wurde, führt die Beschreibung der Personen über eine figurative Erfassung ihres Äußeren, das zugleich deren Charakter sprechen lässt: assoziativ mit dem Adler oder der „Eule“ ist die Großmutter zur Ausgangsfigur „poetischer Verkörperung“ geworden, indem das „erste Erlebnis des Schönen“ über die „Schleieraugen“ auch die Wahrnehmung poetischer Sprache in den hebräischen Schriftzeichen erlaubte. Die Eule, wiederum in Assoziation mit der Großmutter, kann in der Dunkelheit sehen und verfügt über prophetische Fähigkeiten. 77 Als Tier, das aus bewegungsloser Position heraus das Unheil im Voraus erblickt, wird sie letztlich für das (Über-)Leben am Abgrund bedeutend. Bei Jorge Semprun wird die Schleiereule ebenfalls zur Maskerade des Ich, um sich dabei des Am-LebenBleibens zu versichern: „[…] Dennoch hatte ich eher zu lachen, bevor diese drei Offiziere erschienen. In der Sonne herumzutollen und tierische Schreie auszustoßen – Schleiereule? Wie sieht eine Schleiereule aus? –, im Buchenwald von einem Baum zum andern zu laufen. Kurz, es tat mir sehr gut, am Leben zu sein“ (Semprun, 1995, 15). Im intuitiven Sehen, das die äußere Gestalt nicht nur durchschaut oder das Innere des Gegenübers zum Vorschein bringt, sondern andere Lebewesen eben assoziativ verknüpft, werden auf textueller Oberfläche die existentiellen Zusammenhänge subjektiver Wirklichkeit greifbar. Über die Erkenntnis „geisterhafter Weltkorrespondenz“ drückt sich in der Ich-Figur so eine (selbst-)schöpferische Kraft aus. Bruno Schulz’ „Demiurgos“ ähnelt Rosenkranz’ Ich da, wo die mythische Wahrnehmung eine Zurichtung der Wirklichkeit motiviert und dabei eine Belebung der Dinge (tönende Uhr) kein „Kunstgriff“, sondern ein konkre77 Eulen sehen in der Dunkelheit und gelten daher als Symbol der Weisheit (Metzler, Symbol-Lexikon, 2008): Bei Äsop zieht das kluge, vorausschauende Tier den Spott auf sich, statt gehört zu werden. Bei Lessing übt die Eule der Minerva Kritik an der sozialen Situation der Gelehrten. An die gesellschaftskritische Bedeutung der Romantik erinnert Rosenkranz immer wieder da, wo er (sowohl in der ARKorrespondenz als auch in der Lyrik) die „Philister“ als auch eitle Gelehrte darstellt. Die Eule figuriert als Symbol des Unheils bis in Moderne: über ihr bewegungsloses Sitzen in Schlupfwinkeln und einem schauerlichen Rufen. Im Volksglaube sind ihre Bedeutungen ebenfalls kontrovers, grundsätzlich steht die Eule in Abgrenzung zur Schleiereule allerdings als Dämonin und Hexe, als Symbol der Einöde und Einsamkeit; die Schleiereule dagegen für die Weisheit, da sie blind ist am Tag und sehend in der Nacht.

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ter Zugriff auf die Welt quasi von der Rückseite her: wo im Traum (von der lebendigen Uhr) nicht die Wirklichkeit gespiegelt, sondern der Wirklichkeit sogar vorgegriffen wird. Leider gelingt dem Ich die Belebung der Zeit nicht, weil es vom Körper in die tonlose Wirklichkeit zurückgerufen wird. Die Uhr wächst im Rachen des Träumers lebensbedrohlich an; um die Zeit zum Klingen zu bringen, müsste der eigene Körper fallen gelassen werden. Die Abhängigkeit von Körper und Geist aber daher bereut und auf die Rückkehr in die Realität mit Stummheit reagiert. Vom Standpunkt der Erinnerung aus (1958) versucht Rosenkranz auch in seiner Lyrik die Zeit zum Klingen zu bringen und die Wirklichkeit „für die Ewigkeit“ zu überdauern. Mit der zum Klingen bringenden Uhrzeit wird die Schöpferkraft eines Ich angedeutet, die an die Figur des Golem erinnert: 78 So gehört denn auch das Erlebnis mit der „tönenden Uhr“ zu den „elf sichtbaren, und wer weiß wieviel unsichtbaren Quellen“ (K45), die das Ich als Urborn bereits vor seiner Geburt wirksam erfasste: nach kabbalistischer Zahlensymbolik steht die Zahl Elf in Zusammenhang mit der Erschaffung eines Golem: „Um einen Golem zu schaffen, muß man Kombinationen aus den ersten 11 Buchstaben des hebräischen Alphabets benutzen; um ihn wieder in eine leblose Masse zu verwandeln, benutze man Buchstabenkombinationen beginnend mit der zweiten Hälfte des Alphabets“ (Goodman-Thau, 1999b, 97). In der jüdischen Mystik ist die Schöpfung des Menschen eine „doppelte“, wobei die „Kreativität Ausdruck dessen ist, was der Mensch von seinem Schöpfer bekommt, aber auch dessen, was ihn zum Schöpfer macht.“ (Goodman-Thau, 1999a, 86). „Als Schöpfer hat der Mensch […] teil an 78 In Anlehnung an Bruno Schulz’ „Demiurgos“ kann hier die kabbalistische Vorstellung des menschlichen Schöpfungswillen miteinbezogen werden, wobei gerade in Galizien der Chassidismus entstanden ist. Christoph Daxelmüller erörtert weiterführend das Verhältnis zwischen Kabbala, Kabbalistik und Volksliteratur: Er geht der Frage nach, ob in den Genres der Volksliteratur, die in die Zeit der Romantik fällt, kabbalistische Spuren auffindbar sind (Daxelmüller, 1999, 236). Rosenkranz’ Bekenntnis zum Aberglauben legitimisiert an dieser Stelle einen solchen Exkurs. „Am Anfang steht nicht das Wort, sondern der Widerspruch: Die Volksliteratur – oder präziser in der Terminologie der Zeit: die Märchen, Sagen, Lieder, Rätsel und auch die Bräuche des Volkes – wurden von den Romantikern entdeckt, die zugleich national und antijüdisch waren“ (S. 238).

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der Schöpfung des Schöpfers, an der Gestaltung der Materie. Für die Schöpfung des Menschen bedeutet dies, daß der Mensch teil hat an seiner eigenen Schöpfung. So könnte man sagen, daß die Schöpfung eines Golems zu tun hat mit dem schöpferischen Drang des Menschen in seiner Urform, sie drückt seine eigene Schöpfung aus. Daraus folgt die Konkurrenz des Menschen zu seinem Schöpfer“ (Goodman-Thau, 1999a, 86). Notwendig muss das Ich aus seinem Traum erwachen, will es sein Weiterleben bestehen und die intuitive Wahrnehmung anhand der Wirklichkeit überprüfen und weiter üben. Das übermäßige Anwachsen golemartig lebendiger Zeit droht, den Körper seines Schöpfers, das träumende Ich, zu zersprengen. Kehren wir zu den phänomenologischen Negativformen zurück. Im negativ reflektierten Selbstbild genauso wie im Mitleid zeigt sich das eigene Sein im Anderen immer auch als ein Nicht-Sein: als ein Opfer, das den eigenen Schmerz quasi nur im Selbstverlust überwindet. Zu einem (goleminischen) Mitschöpfer seines poetischen Selbst wird das Ich also auch im Empfinden von Mitleid oder Schmerz. Der existentielle Mangel, andere Defizite (unzureichendes Sehen und Verstehen) wie auch Schmerz (kritische Ereignisse, soziales und historisches Umfeld), die alle samt ein „Abwesendes“ vorstellen, verstärken die Intensität des (positiven) Selbsterlebens, welches durch die Position des „Daliegens“ bereits angeleitet ist. Der Schmerz ist das „mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik“ (Fuchs, 2008, 319). „Im Unterschied zu anderen Emotionen stumpft Schmerz nicht ab, im Gegenteil. Der Leib sensibilisiert sich und versucht sich daher zu schützen […] All dies betont grundsätzlich die Abgrenzung von der Umwelt […] er trägt so entscheidend bei zur Entwicklung und Differenzierung des Körperschemas in der frühen ‚Kindheit‘, zur Abgrenzung von Leib und Nicht-Leib, Selbst und Nicht-Selbst. Schmerz ist ein wesentliches principium individuationis, und damit ein Teil der Geschichte des Selbst“ (Fuchs, 2008, 320); somit sind „Gewissen, Gedächtnis und Schmerz [sind] in der Geschichte des Individuums auch eng miteinander verknüpft“ (Fuchs, 2008, 323). Das Subjekt aber ist sowohl beim Schmerzempfinden als auch beim empfänglichen Daliegen dem, was aktiv von außen auf seine Physis einwirkt, physisch passiv zugewandt.79 Je tiefer die physische Opferposition 79 Interessant ist hier die identifikatorische „Fremderfahrung“. Der von außen ein-

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reicht oder je mehr sich das Ich über das Mitleid für den Anderen negiert, desto stärker tritt sein Selbsterleben im Innern hervor. Fuchs nimmt das Moment des Schmerzes als einen Punkt, an dem der Leib angeheftet ist und zum Stillstand gelangt, „dem wir weder im Raum noch in der Zeit entkommen können“ (Fuchs, 2008, 320). „Der Einbruch dieser unentrinnbaren Negativität“ erzeugt aber auch „ein Bewusstsein purer Gegenwart, ein elementares Ich-Hier-Jetzt“. Schmerz bedeutet so nicht nur „Einengung“, sondern auch „äußerste Intensität des Selbsterlebens und damit, paradoxerweise, zugleich äußerste Lebendigkeit“. Dieser Zustand der Wahrnehmung deutet also immer einen Stillstand, ein Währendes, an – und bei Rosenkranz im Besonderen: ein Anhalten des Wachstums, um das Vorhandene im Innern zu festigen. Erfahrungen des Schmerzes – sei es im Mitleid, im Traum oder durch den Sturz in die Feuergrube (Schmerzempfinden) – sind also Grenzphänomene, die nicht nur eine Strategie des Aus-der-Welt-Fallens bedeuten, sondern auch eine Hebung des Selbsterlebens veranlassen, bis hin zur poetischen Selbst-Schöpfung oder Wiedereinordnung im Weltganzen. 80 „Ein langsamer Fall hin zu einer andern Erfahrung von Raum und Zeit“ (von Matt) zeichnet die Figur einer „Rückwärtsgeburt“, aus der das erinnerte Ich zur poetischen Erfahrung (Sprache) gelangt. Das Bild vom Selbst oder die poetische Selbst-Schöpfung hat sich quasi selbst gegeben: „Da es mit mir geschah“; die Formel „Du sollst dir kein Bildnis machen“ bleibt auch hier inhärent. Und wie die Erfassung der Wirklichkeit so ist auch das Erkennen des Selbst primär eine Sache der Wahrnehmung; erst in der seherischen Selbsterkenntnis, im Wahrnehmungsakt selbst, liegt das schöpferische Moment: das erinnerte, poetische Ich, das also im Grunde immer schon da war, in einer Welt, die über verschiedene Wirklichkeits- bzw. Wahrnehmungsebenen hinaus besteht. Bei Merleau-Ponty gibt sich das „Bild, als Bild, […]

dringende Schmerz bzw. das Fremde am Eigenen steigert die Selbstwahrnehmung. 80 Wollte man an dieser Stelle der Grenzphänomene auf Diltheys Erlebnis-Begriff zurückkommen, wäre anhand dessen integrativer „Schlummerbilder“ ein Vergleich möglich (Dilthey, 1887, 401–404).

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sich selbst, und nicht wir sind es, die die Macht oder die Freiheiten hätten, es erscheinen zu lassen“ (Simon, 2009, 101). 81 Diese Argumentationslinie erklärt denn auch Rosenkranz Vorzug des „Gewachsenen“: die poetische Arbeit wird für ihn zu einer Arbeit des Sehens, zu einer Formulierung quasi mit dem Selbst, aber selbst gewachsener Bilder im Lauf der Erinnerung. Die Optik der Seele, die aus den existentiellen Grundbedingungen der Kindheit resultiert und als Vermittlungsinstanz zwischen Innen und Außen die Wirklichkeit zu begreifen lernt, wird nach dem Sturz zur religiösen Frage nach dem eigenen Menschsein bzw. seinem Erscheinen als „Engel“ zwischen Realität und Phantasie, zwischen Oben und Unten, als körperlose geistige Figur. Diese horizontale Vermittlungsfigur zwischen Ich/Anderem kann auch als tragische, fremdbestimmte (Hin-)Wendung zur Vertikalen betrachtet werden: ein Hinunter, um höher hinauf zu gelangen, wie es bereits an den biografischen Entwürfen des Nachlasses festgehalten werden konnte: ein Selbstbild aus dem Verlust, ein Positiv aus der doppelten Negation des Fallens.

9.3.3 „Ich und meine Zeit“, „ein Mensch in dieser Zeit“ Der Beginn des Ersten Weltkrieges ist das einschneidende Erlebnis in der Kindheit von Moses Rosenkranz. „Ich und meine Zeit“ (K121) 82 deutet dabei die signifikante Doppelspur an, die das Ich mit seiner sinnlichen Durchdringung der Wirklichkeit dem historisch-referentiellen Lauf der 81 Merleau-Ponty verweist hier auf das „Moment“ der Bildeinstellung, -fokussierung, in der die Proportionen in der Ansicht bzw. Wahrnehmung ausgeglichen werden. Ein Bild, das sich selbst gibt, meint auch vom künstlerischen Standpunkt her das Optimum jenes schöpferischen Prozesses, der sich letztlich in einem einzigen Moment aus der Beziehung der einzelnen Komponenten ergibt – eben einstellt. Die Erscheinung des Bildes ist so kein Auftauchen des Bildes; sondern ein abstraktes Moment des Verhältnisses, welches das Bild ‚als Bild‘ wahrnehmen lässt. Das Bild ergibt sich so im Wechsel der Annäherungen über eine Akkumulation von Einstellungen selbst. Es kann als solches da sein, ohne erkannt zu werden. 82 „Ein Mensch in dieser Zeit“: zweites Kapitel des autobiografischen Manuskripts Jugend: Versuch über mich.

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Zeit entgegenstellt. „Lese- und Verstehensübungen“ anhand literarischer und poetischer Ersterfahrungen schärfen die Wahrnehmung des Heranwachsenden. Den „Geist“ erkennt das Ich nicht mehr nur als Ergänzung oder Rückzugsort einer rationalen mechanischen Wirklichkeit; im „Spiel“ und in der „Parodie“ bildet sich aus Reaktion, Anpassung und Umgestaltung ein Ganzes, welches das „Ich und meine Zeit“ miteinander versöhnt. Auf narrativer und struktureller Ebene der zeithistorischen Ereignisse wird das Fragment Kindheit von einer Doppelspur individueller Erfahrung durchzogen. „Ich und meine Zeit“ ist dabei als eine Grundkonstellation zu verstehen, um welche die Frage nach dem Ich und seinem Schreiben kreist. Eine „Doppelspur“ markiert zugleich die signifikanten Abwege des erzählten Ich auf der zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Schiene, auf der es seine Individualität in der poetischen Sprach-Erfahrung ausbildet. 83 Der Ich-Welt- bzw. Ich-Andere-Bezug wird über eigene Schreibversuche sowie über die Erfahrung mit klassischer Literatur gespannt, was für das Ich erst eine Verinnerlichung als bewusste Abkehr vom äußeren Geschehen bedeutet. Ein zentrales Motiv wird die Auseinandersetzung mit dem „richtigen“ Eigennamen sowie des Geburtsdatums, welches nicht mehr eindeutig aus den Dokumenten hervorgeht. Eine an manchen Stellen personifizierte oder gar anthropomorphe „Doppelgesichtigkeit“ der Zeit (K82) verweist einerseits auf die stete Dualität von Fiktion und Wirklichkeit, „Lüge“ und „Wahrheit“, wobei sich die Erfahrung der „Realität in der Phantasie“ zum Schlüsselmoment steigert. Die visuelle und akustische Wahrnehmung erweist sich andererseits als notwendige Lesart von Wirklichkeit und Wahrheit, von der letztlich ein selbstbestimmtes Heranwachsen und Bestehen in der Welt abhängt. Während die äußeren Bedrohungen zu überleben versucht werden, wird die Wahr-nehmung der Außenwelt über den subjektiven Blick gebrochen und dieser mit „Lügen“ bestraft. Die zu Beginn empirische Wirklichkeitserfassung nach dem Sturz in die Feuergrube tritt nun hinter die durch (sprachliche und literarische) Bildung bestimmte Kritik an sich

83 Erlebnisse und Erfahrungen, die in Literatur eingehen, sind nach Llorgas an „Auflehnung gegen das wirkliche Leben, gegen die Welt, wie sie ist“, gebunden (Llosa, 2004, 24).

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selbst und der Wirklichkeit zurück. Einem Spiel des Geistes wird so das Feld bereitet. Jedermann begann seinem Horizont entsprechende Wunder und Zeichen wahrzunehmen, und im Tabakrauch der Kneipe und des Gastzimmers, wo ich abends aufwarten musste, regte sich zwischen den weinroten Gesichtern die ganze welthistorische Halluzinationsfauna ungeheuerlicher Kriegsvorboten, von dem kreuzschuppigen Schlangenkomet, mit der Schlange im Krokodilrachen, bis zu den Rinder verschlingenden Rindern, die nicht Jahre, sondern Kaiser bedeuteten. Was war dagegen mein Gesicht von der Schlacht auf dem Czortoriahügel? Was aber das ganze Dunstknäuel dieser Gespinste aus Vorgefühl gegen die handgreiflichen Steine in unseren nächtlichen Stuben, geschleudert von denselben Händen, die Vaters Becher auf unser Gedeihen erklingen ließen? (K50).

Die „welthistorische Halluzinationsfauna“ im „Dunstknäuel in unseren nächtlichen Stuben“84 , die traumatischen Bilder der Zeitgeschichte spiegeln sich in den „Gesichtern“, die das eigene Vorgefühl vom Krieg geradezu harmlos erscheinen lassen. Dass es aber wiederum die gleichen Hände waren, welche Steine in die Stube warfen und „auf unser Gedeihen“ anstießen, hinterließ letztlich doch ein bittereres Bild der Realität. In der Unergründlichkeit dieses Wirklichkeitsbildes oder in der Unklarheit der politischen Verhältnisse, die Rosenkranz hier über das „Dunstknäuel“ des „Gastzimmers“ schildert, versteckt sich die eigentliche Misere. Diese Bedrohung vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwingt die Familie zur Flucht über die Berge. Die Existenz ist in ein solches Bedrängnis geraten, dass alle Sinne zur Erfassung der Lage mobilisiert und geprüft werden müssen. Was war? Es erwachte eine Unruhe in mir. Und daß ich plötzlich Geräusche in der Luft hörte: gegen einander schlagende Waffen und erzenes Donnern darüber, war wohl eine Gehörtäuschung aus innen. Nichts dergleichen verlautete weit und breit; nicht einmal andeutungsweise. Die Flur, mit den geometrischbunten Feldern zwischen grünen Rainen und hellgrauen Straßen, drehte sich mit ihren Hügeln und Häusern wie eh und je unter den Strahlen der Sonne, gegen die wir bei der Arbeit noch breite Ränder über die Brauen gezogen, um unsere wasserblauen Augen zu schützen. Nichts deutete darauf hin, daß ich 84 Diese Stelle erinnert an Bruno Schulz’ bedrohliches Hineinwachsen der Außenwelt ins Innere des Hauses in den Zimtläden.

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berechtigt war, vor dem Czortoria-Wald Männer in blauen Anzügen, mit weißen Degen in den Händen, hinaufstürmende Reiter in zottigen Pelzmützen (obwohl es Sommer war) von der Anhöhe stoßen zu sehen. Aber ich hörte und schaute es und blieb mit meinem Geheimnis allein, denn ich konnte seiner Wirklichkeit nicht trauen und fürchtete, verlacht zu werden (K46).

Wiederum „erwacht“ eine Unruhe in blinder Vorahnung. Der Blick in die Landschaft wird über einen drehenden Fokus anvisiert, in dem sich Flut und Häuser verweben. Das „Geheimnis“ über die „Gehörtäuschung aus innen“ bestand aber nur gegen außen und gegenüber den Anderen. Wo das Ich den eigenen Sinnen nicht (ver)trauen will oder kann, wird umgekehrt Misstrauen von außen da geltend gemacht, wo es sich gerade um „objektive“ Tatsachen handelt. Dass in dieser Umwelt objektiver Uneindeutigkeit auch das Selbstverständnis des Eigennamens infrage gestellt wird, ist quasi die logische Folge davon. Die wiederum nicht eindeutige jüdische Identität wird unter den Bedingungen der Zeit von außen her radikalisiert und der Eigenname vom „Geografie- und Naturkundelehrer“ dem Subjekt entzogen: Diese „antisemitische Gestalt“, die „mir sein rundliches Gesicht unter die Augen“ hielt, zweifelte an der Echtheit des säkularen Namens „Edmund“ und hielt dem Jungen vor, als „feiges Tier“ „ein menschliches Antlitz“ angenommen zu haben (K116f ). Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, als „mich vor allem der Anblick menschlicher Angesichter“ lockte (K114). Die „Augen“ des wohlgesinnten Professor Haar aber blieben auch nach der neunwöchigen Schulzeit ein unvergessliches „Augenpaar“ mit einem „schmerzlichen Glanz“, der nicht sobald wiederkehrte (K118). „Mein Gesicht“, das eben noch unter positiven Vorzeichen aus dem Angesicht der Zeit hervorgestochen ist, wird nun durch Misstrauen und Täuschung seiner menschlichen Daseinsberechtigung, das heißt seines legitimen Eigennamens beraubt. Auf Eisenbahnreisen in demolierten Waggons wird „Munju“85 , wie er von der Familie mit Diminutiv genannt wurde, zunehmend ins „Geschehen der aufgebrochenen Zeit“ getragen: Er kommt ins deutschsprachige Gymnasium in Bielitz an der schlesischen Grenze. Die Erinnerung ans „bunte Völkertreiben“ hält nicht nur die Beobachtung fest, wie sich die Toten85 Slav.: Diminutiv von Edmund.

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schaufler „auf dem Grabe der alten Ordnung“ „in die grauen Gesichter fuhren“; die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der Zeit führt auch zu einer Neubewertung der eigenen Aus-Bildung. Während Munju verschmutzt von der Zugfahrt die Schule betreten muss, beginnt die Ankunft zu Hause mit Waschen und Freizeit. Hier steigert sich die Hinwendung zum „lebendigen Spiel“ angesichts der bedrohten Umstände immer mehr zu Ungunsten der Schule, wo die Gefahr drohte, in der „toten Sprache“ zu versinken (K115). Strategien im Umgang bzw.Umgehen der historischen Tatsachen werden für die Bewahrung des Selbst, vor allem für das Überleben, unerlässlich. Und das „tönende Kaleidoskop des kochenden Lebens“ schien dafür der beste Ort. Ich hörte da Gespräche von heimkehrenden Frontkämpfern und Kriegsgefangenen; von uns verlassenden Auswanderern; von ukrainischen Freischärlern und polnischen Legionären, von Grenzschmugglern, Schiebern und Lebensmittelhamstern; von Flüchtlingen aus Rußland und Ungarn; von vertriebenen Gutsbesitzern und Revolutionären in Ketten; von Zöllnern und Gendarmen; von Priestern und politischen Agitatoren. Dieser Personenzug war ein tönendes Kaleidoskop des kochenden Lebens um mich. Was ich heraushörte, war das Chaos auf dem Grabe der alten Ordnung, um deren Erbe sich die Totenschaufler in die grauen Gesichter fuhren (K162f ).

In der kaleidoskopischen Erinnerung dreht sich auch hier ein immer neues Bild fragmentierter Wirklichkeit, und „was ich heraushörte, war das Chaos“ – die Eindeutigkeit des Uneindeutigen letztlich als Phänomen der Zeit. Eine weitere Evakuierung erfolgt am 22. November: „Wie in Pepis Märchen, wenn der Drachen um die achtzehn Jungfrauen und Jünglinge kam“, erreichten die Brüder das „goldene“ Prag. „Märchenstädte“ pflegten „so auszusehen“: „Paläste und Dome standen ganz in schwarzem Flor“ (K119), König Franz Joseph ist gestorben. Die Zeichen der Zeit stehen unter dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie, deren Monarch aber auch nichts anderes tat, „als diesen morschen Goldsessel unter sich auf den Wogen der Zeit zu behaupten“ und der selbst auf einem „Möbelstück“ saß, „dessen hölzerne Arme und Beine die seinen geworden waren“ (K119). Die Doppelmonarchie wird in der märchenhaften, übertönten bzw. verdichteten Wiedergabe Prags zu einer doppelten Monarchie: Die zeitgeschichtliche Schilderung geht vom kindlichen Blick aus und verbindet die „reale“ Sicht

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mit den Eindrücken aus den Märchen, wie sie dem Ich von Schwester Pepi beim „Walken“ in der Küche erzählt wurden. Im Prager Konvikt muss das Ich deutsche Aufsätze zum Ableben des Kaisers verfassen. Die Schilderung hatte aber ohne „meinen Kren“ zu erfolgen und führte zu einer „Variante im herrschenden Ton“ des „gottseligen Kaisers“ (K120). Mehr noch aber als die doppelte Wirklichkeit in Wahrnehmung und Ausdruck der Zeit werden beim Zusammenbruch der Doppelmonarchie auch die fundamentalsten Selbstreferenzen – Eigenname und Geburtsdatum – verwechselt und schließlich neu erfunden: Ich hatte indessen in Erfahrung gebracht, daß derselbe als auch mein Geburtsdatum durchaus nicht feststanden. Die diesbezüglichen Angaben, die zum ersten Mal in der Berbeschtier Volksschule schriftlich aufgesetzt wurden, entsprangen einer Phantasievereinigung des alten Oberlehrers derselben, Kuschiruk, und meiner Schwester Pepi. Sie erfanden auf Grund meines Zeugnisses von der Stanislauer Privatschule, wo man sich mit einem häuslichen Rufnamen und den von mir akkumulierten Jahren begnügt hatte, wobei man den Anfang des letzten, das ich kaum erst angetreten, bis an sein Ende verlängerte, und sechs schrieb, um mich an der vorgeschriebenen Altersgrenze zu haben. Mein Name aber lautete dort Munju. Der biedere Schuldirektor wagte es nicht, dem Doppeladler seines Eingangsbuches, der auf jedem seiner Köpfe ein „K“ trug, ein so ungenaues Ei unterzulegen. Also zählte er und Pepi mit ihm: 1909, wann ich nach dem Stanislauer Dokument sechs Jahre alt war; 1909–6, 1908–5, 1907–4, 1906–3, 1905–2, 1904–1. Nachdem sie das Jahr erwischt hatten, konnte meine beflügelte Schwester den greisen Beamten unschwer davon überzeugen, daß der Sohn des loyalen Österreichers an keinem anderen als Kaisers Geburtstag geboren sein konnte. „Gewiß“, soll der Treue gemurmelt haben, „gewiß, das leuchtet ein. Aber akkurat mit dem Kaiser?“ Er war für einen kleinen Anstand. Kamen doch selbst die Generalfeldmarschälle im Maria-Theresia-Orden immer ein wenig hinter dem Herrscher. Pepi war davon nicht erbaut, willigte aber ein, daß ich zwei Tage nach Seiner apostolischen Majestät erscheinen sollte. So wurde ich im September 1910 am 20. August 1904 geboren. Nun war ich im Staate und mußte auch einen staatsgültigen Namen haben. Munju besagte nichts. Wer heißt Munju? „Er wird doch nicht aus der Luft gegriffen worden sein, Herr Oberlehrer.“ „Aber in die Luft, Panjeschka, in die Luft; hören Sie doch selbst: Munju!“ „Hier, Herr Direktor!“ „Ahi, na tebe, du Däumling; wie du mich erschrocken hast! – Nun sag aber schnell, wie du heißt.“ „Wie Sie mich gerufen haben, dort in unserer geknechteten Haliczina.“ „Mundek“ „Aha! – Jetzt geh aber wieder hinaus, und lausch mir nicht vor dem

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Fenster.“ „Und wenn Sie mich wieder brauchen?“ „Ich ruf dich schon noch.“ „So muß ich unterm Fenster stehen.“ „Unter dem Mundek, Fräulein, steckt unverkennbar der Sigmund.“ „Was fällt Ihnen ein? Der heißt Sigi.“ „Ist mir entfallen, daß Ihr Herr Bruder … Jedenfalls ist die zweite Silbe Mund. Wir müssen ihr bloß noch eine erste vorhängen.“ „Liedermund.“ „Das macht alles schon drei Silben und klingt auch nicht. Wie gefällt Ihnen Goldmund, Fräulein?“ „Mein Bruder soll nicht Gold im Munde führen.“ „Goldplomben sind die Mode.“ „Gesunde Zähnen sind schöner, wenn sie rein sind. Was meinen Sie zu Reinmund?“ „Dann lieber schon Reimmund, was auch Dichter bedeutet. Das muß Ihnen gefallen.“ „Man kann doch nicht Dichter heißen.“ „Sie haben recht. Dann eben Eduard.“ „Er heißt aber Munju oder Mundek; der Stamm ist Mun, den müssen wir behalten.“ „Edmunju.“ „Edmunde …“ „Nicht weiter, Fräulein. Wiederholen Sie.“ „Edmund …“ „Das ist es! Edmund. Wir schreiben es ins Register.“ So waren mir Name und Geburtstag verhängt worden, gegen die ich nun Einspruch erhob (K121–22).

Erst in Prag, in seinem „dreizehnten“ Lebensjahr, wird auf diesen Einspruch eine Suchaktion gestartet, wobei der Vater nach „Zeugen“ sucht, die sich an die Geburt Munjus „erinnern“ konnten. Diesem gemäß wurde die Geburt am 25. Juli 1904 festgehalten und beglaubigt. „Erst in der bewegten Pause zwischen den zwei Weltkriegen entdeckte ich selbst auf einer Stammliste […] die Ureinschrift meiner Geburt und fand auch meinen in aller Form, nicht aufgrund eines Zettels, sondern vor gewichtigen, vom Wein der Beschneidungsfeier noch duftenden Zeugen, fertig ausgestellten Geburtsschein […]“. Der richtige Name lautete diesem Ur-Dokument und dem väterlichen Großvater gemäß „Moses“ und sein Geburtstag war bereits am 20. Juni. Der „bestechungslüsterne Geburtenschreiber“ hat den Geburtsschein nicht nur unterschlagen; vielmehr muss er geahnt haben, „daß wir nichts füreinander waren: ich und meine Zeit“. 86 Die Anspielung auf „Reinmund“ und die „gesunden Zähne“ erinnert hier trotz der poetischen Umspielung an den Umstand, dass Rosenkranz 1955 ohne Zähne nach Rumänien zurückkehrte. Als Folge von Skorbut 86 In der Korrespondenz an Rübner tauchen immer wieder Irrtümer über den eigenen Geburtstag auf; Rosenkranz bezeichnet die Juni- und Juli-Daten als „Fehler des Matrikelamtes“. Hier macht er seinen Geburtstag am 20. August fest. Vgl. Kapitel 7.1.

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musste er sich infolge, während er an diesem Fragment schrieb, zuerst in Rumänien, später in Süddeutschland neue Zähne einsetzen lassen. Mit dem Geist gegen die Verbildung Die humoristische Darstellung über den „Zufall“ seiner bezeugbaren Identität markiert den Ausgangspunkt einer neuen Identität mit Namen „Moses“ 87 . Unter dem Vorzeichen, „daß wir nichts füreinander waren: ich und meine Zeit“, machen sich in der Erfahrung mit Literatur nur „Daseinsbewegungen“ (K148–149) einer eigenen Wirklichkeit erkenntlich (K123): an einem Ort, wo Geist und Materie, Fiktion und Wirklichkeit zwar in Konfrontation geraten, sich aber ebenso bis zur Undifferenzierbarkeit verbinden. „Die Autorität, die mich nötigte, mich der Verbildung durch die Schule zu entziehen, war der Geist. Aber ich würde lügen, wenn ich erzählte, daß ich mich damals schon aus Verantwortungsbewußtsein vor ihm gegen jene Anstalt erhob. Es geschah, weil er mich zwang“ (K200). Zu einer „dritten Referenz“ zwischen „Ich und meiner Zeit“ wird hier die freie Autorität des Geistes, die sich „zur Darstellung des Lebens“ des „parodistischen Spiels“ bedient. Am Kasperle hatte ich geschaut, dass der Geist zur Darstellung des Lebens sich der Technik und Mechanik bedient. Durch sie gelingen ihm die dämonischkarikaturhaften Gestaltungen, die das Lebensschicksal mit allen seinen Wandlungen tragen, wie das Wasser die Luft, mit ihren Stürmen und Stillen. Aber weit umfassender als an den Puppen aus Holz, Draht und Verkleidung offenbart sich das parodistische Spiel des Geistes an den Figuren des Märchens, wo das Arrangement schon so verfeinert ist, daß es wie Natur anmutet, und die Gebilde wie aus erster Hand den Plan der Darbietungen betreten (K159).

Der Geist erscheint in naturähnlicher „Gestalt“ und ist somit „wahr“. Von diesen „Gestaltungen“, die nicht zuletzt als (menschliche) Karikaturen aus dem Text treten, wird das „Lebensschicksal“ bestimmt. Das parodistische 87 Hans Bergel schreibt im Nachwort des Gedichtbandes Bukowina unter damals noch eigener Redaktion von Rosenkranz: „Bis zum zwölften Lebensjahr hieß er Edmund, nahm dann aus Protest gegen antisemitische Ausschreitungen eines Lehrers gegen einen jüdischen Mitschüler den Vornamen Moses an“ (K165).

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Spiel des Geistes belebt „den Plan der Darbietungen“ wie „aus erster Hand“. „Umfassender“ nur noch, bis es schließlich „wie Natur anmutet“, gelingt es den „Figuren des Märchens“. Das „parodistische Spiel des Geistes“ oder „die vollkommenste Parodie der Schöpfung“ (K159) offenbaren aber auch, „daß unsere Wirklichkeit sich, im Vergleich zur Phantasie des Märchens, stellenweise wie eine ungesalzene Parodie ausnimmt“ (K160). Die visuelle Erkenntnis solcher „Gestaltungen“ ist jene Offenbarung des Geistes, der sich das Ich nun existentiell bedient. Die Beziehung zu Büchern und Menschen führt nicht direkt zur Erkenntnis, sondern bedeutet erst ihre Grundlage. Vor ihr muss sich das Ich zugleich vor der Wirklichkeit in Acht nehmen. Die Wirklichkeit tritt im Bann der Literatur und Sprache geradezu neu vor Augen; nach dem erschauten Verständnis der Mechanik des Geistes wird die Literatur selbst zum Spielfeld der Wirklichkeit, der so nicht mehr nur im aktiven Schauen, sondern auch pragmatisch oder strategisch begegnet wird. Nicht nur die Begegnung mit der Literatur verändert das Leben des Ich; die Freundschaft mit Paul eröffnet über die Literatur zudem einen neuen Zugang zum Bildungsmilieu, in dem „ich […] meinen Freund in so erhabene Gestalten und Farben durch den Zauberschleier [schaute], den mein Herz um ihn wob, daß ich es nicht wagte, ihn zu durchbrechen, um die reizende Erscheinung mit den Händen zu fassen“ (K164). Das kindliche, zu Beginn noch unkritische Eintauchen in die Literatur wird von einer erwachsenen Kindwelt begleitet, die Paul als adoleszentes Kind spiegelt; eine weitere parallele, aber auch gegenläufige Entwicklung, welche die Befreiung vom sprachlichen „Notballast der Kindheit“ veranlasst: Um in dieser unversehens eingeschlagenen Doppelrichtung ohne Umkehr hurtig vorwärts zu kommen, befreite ich mich vor allem von dem polyglottischen Notballast meiner Kindheit und rodete in meinem Gedächtnis das Ruthenische, Polnische, Jüdische, Hebräische und Tschechische aus, was mich nicht Schweiß kostete, denn sie hatten dort nicht innig und bloß auf kleinen Flächen Wurzel gefaßt. Doch störten sie mich in meinen Bemühungen um das reine Wachstum des Deutschen in mir (K165).

„Um hoch zu kommen wie die Bäume“ und nicht „wie die Moose“ war Paul „die glückliche Fügung“ und die Eröffnung eines „Weges ins Unendliche“; und hier beginnt auch der Abweg von der historischen Zeitachse, wenn

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„lebhafter als alles“ „die blaue Heiterkeit der Homerischen Epen im drahtigen Stil von Johann Voß“ diesen Weg vorzeichnete; eine Sprache, die aus der Tiefe zugleich hinauf führt und „von der dinglichen Geladenheit der Visionen wie eine Telefonleitung zittert“ (K175). Der Loslösung vom kindlichen Notballast geht einher mit ersten Schreibversuchen, die das Ich allerdings vorerst noch für sich behält, versteckt oder schließlich verwirft. Paul ist es letztlich auch, der seine Dichtung nicht nur indirekt motiviert, sondern auch direkt und provokativ an die Öffentlichkeit drängt. Paul entdeckte eines Tages doch eines meiner langen Geschäftsbücher, worin ich im Gewande pedanter Schönschrift in Vers und Prosa, in strengen Strophen und freien Rhythmen, Essays und Erzählungen, meine Wortbataillone exerzierte. Dort befand sich unter anderem auch, in jambischen Fünfhebern mit kreuzweise männlichen und weiblichen Reimen, mein Klagegesang um das zerstörte Kaiserreich. Ich hatte es als ermordete Mutter dargestellt, deren verwaiste Kinder in die Sklaverei verschleppt werden (K168).

An dieser Stelle verweist Rosenkranz geradezu visionär auf jene Zeit, die auf die Kindheit folgt. Mit der Eröffnung der eigenen Dichtung durch Freund Paul ging eine verstärkte Selbstkritik einher, die eine bestimmte Distanz zum Ich forderte. Auch die Liebe zu Relly war ein solcher Versuch des Selbstausdrucks, der zugleich zurück nach innen führte: Die Relly gewidmeten 30 deutschen Gedichte sollten erst nach Edmunds Tod gefunden werden; aber auch seine Vorliebe für Schopenhauer, Nietzsche, Forel, Goethe, Lichtenberg oder Hauptmann konnte Relly nicht teilen, so dass sie schließlich „selbst die Bücher in den Keller brachte“ (K201–2). Zum fünfzehnten Geburtstag schenkte ihm Paul eine „Anthropologie“ unter dem Titel „Der Mensch“ (K179): „von einem, wie mir schien, sprachgewaltigen Dr. Zimmermann, in dessen, wie ich schon damals fühlte, ganz unwissenschaftlichen Darbietungen meine Phantasie wie eine Kuh im Kleefeld schwelgte“. Edmund „stellte für das Völkerleben die Lebensnormen der Menschen als Persönlichkeiten und Individualitäten auf“ und: „Ich muß vorausschicken, daß ich mit meinen wörtlichen Bemühungen schon damals den Fluß der Zeit, mit allem, was er trägt, durch den Geist zu lenken bestrebt war“

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(K179). Den „Fluß der Zeit“ durch den Geist zu lenken, musste am gescheiterten Liebesversuch mit Relly zur Skepsis an der Sprache führen. Ein in den Fließ-text aufgenommenes Gedicht über die Nachwirkung des Ersten Weltkriegs kreist denn auch um die Frage der Macht der (lyrischen) Sprache. „Nun bist du“, ließ ich mir die Seele sagen, „Nun bist du fünfzehn Jahre alt geworden! / Des Daseins Jugendhälfte ist verbraucht. / Die Welt fährt fort, zu brennen und zu morden: / Du hast in Tinte Federn bloß getaucht.“ // „Was konnt ich anders tun, gestrenge Seele, / wenn du den Geist mir aufgegeben hast, / daß er in mir die Worte sich vermähle – / Und sendetest die Träume noch zu Gast.“ // „Vertändelt aber hast du nur die Sendung: / Geist kommt in deinen Händen nicht zum Wort; / in kalter Verse klirrender Vollendung / durch erzne Reine sein Elan verdorrt.“ // „So soll ich ihn gesetzlos walten lassen, / das Wort ergreifend, wie der Mob den Stock, / zu wüten in den edlen Sprachgelassen, / so wie im Blumenhaus der Ziegenbock?“ […] (K179).

Im Verhältnis zwischen Ich und seiner Zeit stellt sich die Selbstkritik hier über einen inneren Dialog ein, in dem sich das Ich von der historischen Zeit wider den „Bankrott der Wahrheit“ oder die „Lehre der Lüge“ (K181) distanziert. Aus der Optik der Seele ist ein Geist erwachsen, der sich aber in der strengen Form der Lyrik nicht behaupten oder adäquat ausdrücken kann. Auch hier bleibt die letzte Frage nach der Wahrheit offen, wobei sich das Ich in seiner Kritik am „Mob“ mit seinem „Stock“ gegenüber der Seele verteidigt. Zu einem weiteren Gedicht motiviert der unerwartete Tod des Vaters. Dieses formuliert nun ein individuelles Gedenken des Toten im Rhythmus des Vaterunsers. „[…] nur Arnold kannte den alten hebräischen Text; wir anderen sahen ihm auf die formenden Lippen und nötigten unsere Mäuler dasselbe zu machen. Ich sagte innerlich jedoch die Worte, die ich beim ersten Anblick des verlassenen Leibs aufgestellt und in den folgenden zwei Tagen zu einem festen Text verbunden hatte. Er suchte zu lindern, was sich mir von diesem Tode zur Qual für mein ganzes Leben eingebrannt hat: Daß Vater beim Abscheiden nicht Abschied nehmen konnte. „Vater im Jenseits“, sprach ich in Gedanken, während die Lippen denen Arnolds nachahmten, „Vater im jenseits: Denn nun bist du drüben. / Dein Scheiden schmerzt, weil ohne Abschied du, / von deinem einzigen Gute hier, den Lieben, / verziehen mußtest, wie man sagt: zur Ruh. // Da hilft kein Trost: Nicht uns, im Fleisch noch steckend, / und auch nicht dir, der

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schon im Reinen schwebt; / vielleicht: Vergessen, diese Wund bedeckend, / bis Wiedersehn es von der tiefen hebt. // Auf Wiedersehen, ohne Abschiedstränen: / Wie gut, daß du, nicht scheidend, uns entschlüpft! / So müssen wir uns nach einander sehnen, / bis uns der Schöpfer wiederum verknüpft.“ (K188)

Die Suche und das Wiederfinden der eigenen Sprache entgegen der Zeit führt „hinunter“ und hinauf: Die unmittelbare Erfahrung mit der Wirklichkeit und der historischen Zeit ist letztlich eine Abkehr in der Hinwendung. Hier zeigt sich wie bereits an früherer Stelle die Loslösung von allem Fixierten und somit von der „Wirklichkeitsreferenz“: Da, wo die „Wahrheit“ zur Lüge verkommt, ihre Nachahmung der Realität im Gedicht zur „klirrenden Vollendung“ „kalter Verse“, muss im vitalen „Elan“ ein Rhythmus der Sprache gefunden werden, der die geradezu visionäre Erfahrung eines Fiktiven („Träume“, Märchen, Literatur) mit der Beobachtung der Welt und des Menschen im „Geist“ zu einem „Ganzen“ verbindet.

9.3.4 Fazit und Kommentar Das chronologische, referentielle Zeitgeschehen ist in der Autobiografie „aufgebrochen“, wo die Wirklichkeit durch die „Parodie des Geistes“ (Ironie, personale Karikierung oder Personifikation des Dinglichen) aufgelöst wird und wo sich auch das Erzähler-Ich im Text vom erinnerten Geschehen deutlich absetzt. Wo die Erzählung der Wirklichkeit quasi mit dem „Salz“ der Parodie beginnt, entsteht auch die rhetorische „Doppelspur“ im Moment des Zusammenbruchs der „Doppel“-Monarchie. Das Geschehen ähnelt zunehmend einem Märchen, und wie beim Zeugnisbild verlieren auch hier die Dokumente und Fakten ihre Verbindlichkeit: Der Name sowie das Geburtsdatum werden als zwei unglaubwürdig gewordene Erzählmomente selbst in eine „Erzählung“ überführt. Die Namensänderung bzw. die Bestätigung der Geburtsurkunde sind ein weiterer Schritt in die Eigenständigkeit und Emanzipation des Ich. Als neue Geburt bewirken die beiden Ereignisse auch auf textueller Ebene den Anfang poetischer Schreibweise, eine narrative Ausdehnung oder Mythologisierung des historischen Erinnerungsmoments, wobei die Negativerfahrung der Schule in die Positiverfahrung autonomen Lernens gewendet wird. Sowohl die Beziehung zu Schwester

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Pepi als auch zu Freund Paul erweist sich in visueller (Lesen, Lektüre, Märchenbücher) als auch akustischer (mündliche Nacherzählung der Märchen, Einüben der eigenen Gedichte) Erfahrung als eine Konfrontation mit dem Anderen bzw. mit einer neuen Referenz der eigenen Wahrheitserfassung über die Wahrnehmung. Der Dialog mit dem „Anderen“ sowie in einer anderen, da poetischen „Wirklichkeit“ ermöglicht ein neues In- oder ZurWelt-Sein, dem explizit „am Ort des Aufbruchs“ (1958) Bedeutung zukommt. Dennoch aber widersetzt sich Rosenkranz’ Begriff des „Geistes“ aufgrund „konkreter Erfahrung“ dem „Intellekt“. Der Hunger und die Sehnsucht nach geistiger Nahrung bildet nur mehr die Basis für eine Kritik an den „verblassten Buchstaben“ (Örkény, 2010, 126). Wo dagegen der „Garten“ anstelle der „Botanik“ und „die Gestalt“ anstelle des „Skeletts“ den Weg zur Erkenntnis weisen, wird übers Auge der „Schleiereule“ immer eine Silhouette jenes Wirklichen erkennbar, das zugleich das Wesentliche des Erlebnisses andeutet. Einer der ersten Autoren, die über die eigenen Erfahrungen im sowjetischen Gulag autobiografisch-poetisch berichtet haben, war der Ungar István Örkény. Er berichtet vom „Lagervolk“, wie theatralische „Vorstellungen“ angesetzt wurden, um unter „Treibhausbedingungen“ die „Geburt“ eines neuen Kulturlebens bzw. „Mikrokosmos’“ zu ermöglichen – wo „mit dem Gefühl, in der abendlichen Finsternis eine Fackel hochgehalten [wurde], die Fackel des Geistes“ (Örkény, 2010, 144). Um das Leben und die Wirklichkeit der Menschen (im Lager) zu begreifen, „sollten wir nicht das Gerüst, sondern das Lebewesen als Ganzes ins Auge fassen, den Organismus […]“ (Örkény, 2010, 95). Wo zu einer „Optik der Seele“ das „Spiel des Geistes“ hinzutritt, führt die Suche nach dem Wesentlichen kritisch durch die Literatur. Rosenkranz’ Geist widersetzt sich so dem reinen „Intellekt“, indem er im Spiel zwischen Empirie und poetischer Fiktion die „Mechanik“ der Wirklichkeit zu durchschauen sucht. In der Mechanik der Märchenfiguren zeigt sich die Parodie des Geistes deutlicher, dessen „Spiel“ lebendiger ist als die „ungesalzene“ Wirklichkeit in der Referenz. Der Geist bedient sich der Täuschung der Sinne und wird durch diese angeregt. Am Beispiel der Schrift und (poetischen) Phantasie wird die kindliche Sehschwäche zum Instrument, das die Buchstaben zu Sinneinheiten

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verbindet oder Figuren und Bewegungen aus den Zeichen evoziert: Diese letztlich toten Dinge und Zeichen werden im Leseakt verlebendigt, das heißt: Sie treten in „Erscheinung“, wie auch die „Lebensnormen der Menschen“ personifiziert oder die Menschen figurativ zu einem poetischen Bild karikiert werden, an dem sich die inneren wie äußeren Wesensmerkmale und Eigenheiten in der Trope vereinen. Das zeitgeschichtliche Erlebnis der Kindheit ist daher auch immer weniger das „wichtigste Lebensvorkommnis“: zunehmend meint das „Erlebnis“ die Erfahrung der „Doppelrichtung“, das Erkennen einer Doppelbödigkeit von Wirklichkeit und Wahrheit. Aus diesem Dazwischen – im Verhältnis von Ich-und-Welt – geht auch der poetische Mehrwert hervor, der das positive Erzählen aus der Kindheit meint. Die Erlebnisfrage ist somit eine poetische Frage der Erinnerung, zu er auch Phantasie und Fiktion gehören. 88 Die Erfahrung der Schrift ist in Rosenkranz’ Kindheit immer neuartig, eine Dimension, die tiefer geht; die Suche nach Harmonie zwischen Ich und Welt bleibt aber im Dialog zwischen Lektüre und erinnerter Wirklichkeit bzw. in der Wirklichkeitsauffassung gefangen. Rosenkranz’ geistige Erkenntnissuche bleibt dabei aber auf der Seite der Wirklichkeit.89 Seine 88 Vgl. hierzu György Konrád über Erinnerung, Kindheit und Phantasie, in: (Konrád, 2001, 135 f.). Lévinas zitiert Jean Wahl poésie, pensée, perception: „Zunächst die Vorstellung des Abgetrenntseins. Daraus wurde die Vorstellung des Vollständigen, Allumfassenden. Das Nichtumfasste ist Umfassendes geworden“. Müssen wir so nicht zum ursprünglichen Sinn zurückkehren? fragt Lévinas, beinahe in Bruno Schulz’ Duktus über die Poesie als „absolutes Geheimnis“. Wahl sucht ein solches „Absolutes“ in der Intensität des Gefühlten, der Leidenschaft, der Poesie (Lévinas, 1988). 89 Rosenkranz zielt dabei nicht auf eine Transzendenz wie Buber/Lévinas, der die „Erkenntnis, bis hinein in den spinozistischen Monismus“, als „Ausbruch aus der gelebten Erfahrung“ beschreibt. Kontemplation, Visualität, Optik bedeuteten das Zurückgreifen auf ideale Vorstellungen“ (Lévinas, 1991, 16). Insofern geht Rosenkranz in die entgegengesetzte Richtung von Merleau-Pontys: „Das Bündnis“, das auf der puren Koexistenz des Ich mit dem absoluten Du beruht, „auf dem ‚mit‘, auf der Transzendenz durch und durch!“ Das Wort ist das „Zwischen“ par excellence, die Sprache hält es nach Buber im Sprechenden nicht aus und

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„ontologische“ bzw. „ursprüngliche“ oder „elementare“ Sicht auf die Dinge bezieht ihre Bedeutung nicht aus einer „irreduziblen Transzendenz“ (Buber), sondern aus dem „Salz“ der Parodie der Wirklichkeit; dieses „Salz“ referiert bei Rosenkranz nicht an erster Stelle auf die Sprache im Dialog, sondern auf die Bilder, derer sich die Sprache bedient: im „Ergänzen des Unzulänglichen“, das eine Silhouette meint, die im Abgleichen innerer mit äußeren Erfahrungen der Wirklichkeit entsteht.90 Rosenkranz’ Begriff des Geistes führt in der Verkörperung oder Anthropomorphisierung der allwissenden Eule hinters Licht und somit in die Dunkelheit, bleibt als solche aber auch in der Welt. Und hier hält gleichsam die Phänomenologie Bergsons und Merleau-Pontys Einzug, wo ein „Höher hinaus“ mit Rosenkranz an den Begriff der „Intuition“ grenzt, der sich auch bei Bergson auf der Seite des Geistes gegenüber dem Intellekt findet. 91 muss sich bewegen – sich des Hörenden bemächtigen. Der Dialog ist dabei nicht die Synthese, sondern seine Entwicklung der Beziehung zwischen den Dialogpartnern. Buber beschreibt die Du-Beziehung durch Sprache als Transzendenz. 90 In diesem Sinne betrachtet auch Gabriel Marcel die Sprache anders als Buber mit bergsonschem Vorbehalt unter Einbezug der Körperlichkeit: dass die Sprache der Wahrheit des inneren Lebens unangemessen sei, während die „Ich-Du-Beziehung als Unmittelbarkeit der Mit-Gegenwärtigkeit, unterhalb der Ebene der Wörtlichkeit, des Dialogs, erlebt“ werde. Der eigene Körper ist für Gabriel so „eine unobjektivierbare gelebte Teilhabe“ und „wesentlicher Vermittler“, dennoch aber auf „keine formale oder dialektische Vermittlung“ zurückzuführen: die absolute und ursprüngliche Vermittlung des Seins: „Wir sind also dem Sein verhaftet und alles Seiende verweist auf unseren Körper“ (Lévinas, 1991, 19). 91 Wo Rosenkranz auf die Bedeutung des „Gartens“ anstelle der „Botanik“ verweist, sucht auch Bergson nach einer Intuition im metaphysischen Begriff (Bergson, 1916, 40 f.): „Unser Geist, der stete Stützpunkte sucht, hat im gewöhnlichen Lauf des Lebens zur hauptsächlichen Funktion, sich Zustände und Dinge vorzustellen. Er nimmt dann und wann gleichsam momentane Ansichten von der ungeteilten Beweglichkeit des Wirklichen auf. So erhält er Wahrnehmungen und Ideen […]“. Auch Schopenhauer wandte sich letztlich von einer intellektualen Anschauung ab: „Wirklich liegt alle Wahrheit und Weisheit zuletzt in der Anschauung […] diese eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht etwas Abstraktes“ (Gut¸u, 2004, 94 f.) und verweist nicht zuletzt auf die Mystik in der ästhetischen Betrachtung, die ein „notwendiger Teil in der menschlichen Erfahrung“ sei (Jain, 1989, 168): Die mystische Erkenntnis lebt von „innen her“, sie meint ein unmittelbares Innewerden in „Welt als Wille und Vorstellung“; aber auch Nietzsche spricht da

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Lévinas nennt diesen metaphysischen Begriff Bergsons 92 eine Beziehung „à Dieu“, wo das Ich gerade über die Lektüre des Anderen die „Eigenheit seines Wesens“ erkennt (Lévinas, 1988, 11). 93 Eine geistige Intuition, die zwar ebenfalls prophetisch wirkt, bleibt bei Rosenkranz aber „intuitiv“ auf das Leben, auf das Wahrnehmen von Personen und so auch auf das Menschsein gerichtet. Eine höhere oder dritte Instanz, die es von außen „mit mir geschehen ließ“, meint daher nur insofern eine Beziehung „à Dieu“, als eine gottähnliche Instanz nicht außerhalb, sondern zwischen Ich und Anderem, in der Wahrnehmung als Intuition zu einem persönlichen Glaubensbekenntnis wird. 94 Die bereits in den biografischen Entwürfen angesprochene Religiosität von Rosenkranz lässt sich an diesem Punkt fundamentaler bedenken: „ich bin nicht gläubig, aber abergläubig“ steht weniger dem institutionellen Gottesbekenntnis gegenüber, als dass sich „Glauben“ vielmehr wörtlich verstehen lässt und ein individuelles geistiges Erkenntnisstreben mit der, durch die Sinne in Erfahrung gebrachte Empirie, verbindet, welche den „Geist“ über die Wahrnehmung der Wirklichkeit, das heißt auch im Dialog mit ihr und den anderen – nämlich der Menschen –, begreift. Blindes „Glauben“ in von einer „höheren Anschauung“ – einer „mystischen Intuition“, „Unmittelbarkeit und Ganzheit der Erfahrung, deren Unaussprechlichkeit über die Grenzen des diskursiven Denkens hinausgeht“ (Jain, 1989, 168). 92 Über die Verbundenheit der beiden Philosophen siehe (Rölli, 2004, 189). 93 Zu einem Bezug zwischen Lévinas und Paul de Man: „Diese außerordentliche Struktur der inspirierten Texte der Heiligen Schriften ist auch dadurch bemerkenswert, daß sie ihren Leser angehen, nicht in dem allgemeinen guten Menschenverstand seiner Offenheit für „Informationen“, sondern in der unnachahmlichen – und logisch nicht auszumachenden – Einzigartigkeit seiner Person und in der Eigenheit seines Wesens“ (Lévinas, 1996, 11). Somit kommt dem Ich bei der Lektüre fremder Texte die nichtaustauschbare Identität zu, die der Autobiograf als Schriftsteller notwendig in seiner Biografie zu finden bzw. zu erschreiben versucht. 94 Die Intuition als genuin „unfassbares“ Phänomen schließt „Glauben“ in gewisser Weise immer schon ein. Im Verständnis eines „gefühlsmäßigen Sehens“ wird der (göttliche) Erkenntnisweg über weitere Funktionen bzw. über Umwege ausgedehnt. Die sprachliche Unzulänglichkeit zur Benennung des Geheimnisses führt zur Theorie der Metapher, in der sich das Wort, der Begriff, wie bei Schulz ausdehnt und in eine Narration führt, die mit dem „Glauben“ über die Unbegreiflichkeit letztlich eins wird.

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Anbetracht der von Rosenkranz erfahrenen „Wirklichkeit“ hätte für ihn selbst eine Negation der persönlichen Wirklichkeitserfahrung bedeutet.95

9.3.5 „Abriss“ der Kindheit: Ein Fragment? Was vorangehend über die Entwicklung und Aus-Bildung des Selbst in Bezug auf Wahrnehmung und Dichtung genannt wurde, wird im Folgenden an der Gesamtstruktur des Textes befragt: Das offene Ende des „Fragments“ steht einer poetischen „Ergänzung des Unzureichenden“ gegenüber. Hier interessiert, wie Rosenkranz seine Erlebnisse der Kindheit letztlich bindet und beendet. An Anfang der Kindheit lässt sich vom geografischen, soziologischen als auch familiären Rand her eine Einmittung des Protagonisten beobachten, die immer zugleich ein Ausgrenzen meint; das Ich wird sich in dieser dialektischen, aber auch stets antithetischen Entwicklung in seiner Eigenheit 96 erst selbst bewusst. Am Ende der Kindheit zeigt sich, dass der Protagonist im (Um-)Kreis, in den er einerseits schicksalshaft gefallen, andererseits auch bewusst hineingefunden hat, entlang der Peripherie voranschreitet und sein 95 Nietzsche, konkreter aber noch Tolstojs Glaubenssätze stimmen da mit Rosenkranz überein, wo sich die religiöse Hinwendung von einer kulturellen, personifizierten monotheistischen Figur löst, um gerade im Menschen überhaupt erkannt zu werden und den gesamten Glauben auf die Erfahrung der Wirklichkeit zu beziehen. Das erklärt auch den „Aberglauben“, der als solcher der gelebten Wirklichkeit näher ist als die institutionalisierte Religion der Kirche, auch dann, wenn Rosenkranz seine eigene „Esoterik“ in der Korrespondenz negativ bewertete. Ein Bekenntnis zum „Aber-Glauben“ ist als „Rebellion“ zu verstehen gegen übergeordnete, auch politische Machtstrukturen. Zu Tolstojs Glaubensbekenntnis siehe das 1901 erschienene Werk Die Beichte. Darin zeigen sich weitere Parallelen zu Rosenkranz’ Kindheit, wobei beide von einer linearen Entwicklung ihrer „wahren“ Person absehen, in dem die Beobachtung eines körperlichen äußeren Zurückwachsens oder Wachstumsstopp erst zur inneren geistigen Verfestigung geführt hat; oder auch das Mitleiden mit dem eigenen Bruder die Beziehungen der Personen in der eigenen Umgebung als Wirklichkeitserfahrung diente. Vgl. (Tolstoj, 1990, 17–30). 96 Der Begriff der „Individualität“ wird hier nicht verwendet, da er in einer weiteren Erörterung des grundlegenden „Menschseins“ zu kategorial wirkt.

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eigenes Hineingeworfensein, das meint: seinen „Fall“ in jeder Hinsicht des Wortes, (neu) reflektiert. Zweiundvierzig Tage hindurch zog ich meine immer enger werdenden Kreise um die verhaßte Anstalt. Das energisch dem Herbst und Winter zuschreitende Jahr verdrängte mich mit Regengüssen, Nebel und Stürmen aus der Wald- und Wiesensphäre und trieb mich täglich tiefer in die Stadt zurück […] Eine Zeitlang lungerte ich im Wartesaal des Bahnhofs umher und gedachte der Schultage in Bielitz, weil ich auch dort im Bahnhof zu sitzen pflegte. Aber wie ruhigen Gewissens, anders als hier. Wie anders als dieser, der einer Kaschemme glich, hatte auch jener Wartesaal ausgesehen. Er war spiegelblank und luftig, wie zu einem Fest geordnet standen die Tische und Stühle in ihm. Ich konnte dort meine Schulaufgaben machen. Hier lagen auf den unsauberen Fliesen Menschenköpfe wie schmutzige Steine; die Körper konnte ich nicht unterscheiden, denn sie bildeten eine dichte Masse. Aber jenes war …, erinnerte ich mich traurig; und das, das war die Gesetzlosigkeit mit dem Freiheitsanspruch, das Heiduckentum mit der Entwicklungslust, der Urwald mit der symbolischen Schultasche. Das war nun auch ich. Wie war ich tief gefallen! (K199).

Die enttäuschte Selbstvergegenwärtigung inmitten der ununterscheidbaren „Masse“ im Wartesaal des Czernowitzer Bahnhofs findet auch diesmal in einem dem „Herbst und Winter zuschreitenden Jahr“ statt. Wie der Anblick der bloßen Masse ein angenehmes Warten als vergangen erklärt, so geht nun auch die Täuschung des Geistes einher: in der allgemeinen „Entwicklungslust mit der symbolischen Schultasche“. „Das war nun auch ich“ steht zweideutig 97 dafür, dass das gesellschaftlich zwar selbst nie höher gestandene Ich dennoch in diese Niederungen „fallen“ konnte. Das Erstaunen über das „Kollektiv“ deutet an, wie die „schmutzigen Steine“ geistig bisher immerhin jenem Bild unterlegen waren, dem das Ich auf seinen Rundgängen näher zu kommen suchte. Obgleich sich in diesem Abschnitt das Ich kollektiv im Kreis bewegt, bleibt der Erzähler-Blick von außen aufs Ganze bewahrt: Die metaphorische Beschreibung der menschlichen Masse geht von der Distanz aus. Wo das Einkreisen ein Sich-Entfernen von der Schulpflicht meint, wird es gerade in dieser Art Selbst-Verwirklichung wieder von sich selbst entfremdet,

97 Der Satz erhält je nach Betonung eine Sinnveränderung: auch ich oder: auch ich?

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in dem es einer fremd gewordenen Wirklichkeit im Fall der Zeit („im Herbst“) begegnet. Immer dichter und wiederum paradox, und für das Ich letztlich auch undurchschaubar, wirken die Anschauungen und Beobachtungen auf den Schulgängen: „Der Himmel in der Tiefe“ spiegelt sich nicht nur reicher, sondern über den Umweg durch die Tiefe lenkt er den Blick letztlich hinauf, wo „Fische durch die Wolken“ fliegen. Im klaren Wasserauge studierte ich den Himmel in der Tiefe. Hier war er reicher: da flogen auch Fischlein durch die Wolken. So verstrich die dritte Stunde. Von elf bis zwölf wanderte ich durch die Dreiglaubensstadt der Toten: Die Totenäcker der drei Landesbekenntnisse bildete einen einzigen großen Friedhof. Hier hatte ich alle Sinne voll zu tun: Ich studierte die Architektur der Denkmäler; die äußere und innere Form und den Sinn der Inschriften, die Namen und Daten der Beerdigten und die Ehrungen an Kerzen, Blumen und Kuchen, die ihnen dargebracht wurden. Imposant war mir, wenn die Frist zwischen Geburt und Sterbedatum eine recht lange war. Da schien mir zwischen den beiden Ziffern ein breiter Strom zu gehen. Wenn sich dazwischen bei Männern weniger als fünf Jahrzehnte spannten, verdroß es mich, und ich sah kaum hin. Bei Kinder und Frauen verweilte ich länger, aber in Schmerzen […] (K197).

Unmittelbar auf diese Himmelsschau folgt die Beschreibung der „Totenäcker“, wo die Sinne im Studium einer „inneren und äußeren Form“, der „Namen“ und „Inschriften“, weiter herausgefordert sind. Im Zwischenraum von Geburt und Sterbedatum erscheint so jener „breite Strom“, der das Leben meint. Wie in der Lyrik formuliert hier Rosenkranz die „Zeit“ als „Strom“. 98 Die „lange Frist“ scheint hier angesichts der erinnerten Gegenwart fast unglaubwürdig und um so imposanter, je enger der Kreis der äußeren Bedrohung sich schließt. Die Tendenz „nach unten“ meint aber wie das Streben eines „Baumes“ entgegen der Niederungen der „Moose“ ein Tiefergehen, um schließlich noch „höher hinauf“ zu kommen: ein „nach unten Emporsteigen“. Dies 98 „Eine einzige Dauer“, schreibt Bergson, „die alles mit sich reißt, einen Fluß ohne Grund, ohne Ufer, der ohne angebbare Kraft in einer nicht zu bestimmenden Richtung fließt, zerschlagen durch Intuition“ (Bergson, 1916, 38). Vgl. Kapitel 10.

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zeigt nochmals das Verhalten gegenüber dem Bruder Arnold am Ende des Fragments: Ich gehorsamte unbewußt, die Verantwortung in den Tiefen tragend, aus denen die Verachtung der Arnold’schen Gewissenhaftigkeit nach unten emporstieg. Ich schämte mich dieser unhumanen Arroganz, konnte sie jedoch nicht abstellen, und war bemüht, sie durch Gutmütigkeit zu verschleiern. In meinem Wesen fühlte ich mich nur zur Verantwortung nach oben, nicht auch zu der nach unten gehalten, die die Ebenen der Niederungen betraf, wo in meinen Augen alles lag, was das Leben nur als stofflich-nervöse Erfüllung begriff; nun auch meine Familie (K201).

Der „Geist“ als Retter vor dem „Stofflich-Nervösen“ bleibt nicht mehr länger unangefochten; vielmehr wird er in Anbetracht des eigenen Überlebens immer wieder infrage gestellt. Auch im Manuskript Jugend kommt Rosenkranz auf die in der Kindheit geschilderten Errettungen aus dem Feuer zu sprechen. Da war Pepi, die mich der Feuergrube im Obstgarten entrissen hatte, was ich glaubhaft von Mutter hörte, als ich über sie wegen ihrer Raffaktion nach Vaters Tod ein abfälliges Wort murmelte. Da war Rifke, die Muttermutter, die zornige Eule, deren magischer Beschwörungsdienst mich wohl vor der Besessenheit durch den über mich setzenden Büffel bewahrt hat. Da war der Prager Feuerwehrle, der mich aus dem brennenden Konvikt getragen hat. Da war der unbekannte Matrose, der mich weggewinkt hat vor der Lüsternheit seines Kapitäns. Da war Mutter selbst, deren Schrei mich aus dem schwelenden Feuer unter meinem Schlaf und um den Schopenhauer geweckt hat. Da war gerade soeben der Stifter meines warmen Wohlbehagens in seinen Pelzen. Waren sie alle nicht körperlich fassbare Bote, die unmöglich mein nur Bilder und Bedenken treibender Geist gesendet, geschweige denn erschaffen haben konnte? (Rosenkranz, 1983, 75).

Personen oder Tiere holen immer wieder das gefährdete Kind aus seiner Vereinzelung und Versunkenheit sowie aus dem Feuer zurück, das hier dreimal genannt wird. Der Zweifel am „Bilder und Bedenken treibenden Geist“ entspringt den „körperlich fassbaren Boten“, welche quasi zwischen Geist und Realität stehen. In steter Bedrängnis und in der Einschränkung von Außen macht sein Wert sich erst in seiner Konkretisierung und Wirklichkeitsverpflichtung bemerkbar. Der Zweifel an der Wiederholung des Wun-

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ders befragt die physische Präsenz einer solchen dritten Instanz, die es „geschehen ließ“: z. B. wenn die Eule mit ihrem „magischen Beschwörungsdienst“ das Ich vor der Besessenheit des Büffels rettet. Letztlich bleibt es aber immer der Tod, der diese Erlebnisse in ihrer Schilderung verbindet. Mit dieser Erinnerung an die eigenen Wunder endet im Jahr 1919 die Kindheit. Sie „bricht“ „ab“ mit dem Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie, wobei auch der Kreis der geschützten Privatheit aufbricht: Nun war es zu Ende damit, und die uns verdrängten waren zwei junge Leute […] Sie nahmen bei uns auch Kost und bekamen die besten Schüsseln bei Tisch. Von mir ließen sie sich deutsche Liebesbriefe an mannbare Nachbarinnen schreiben. Dafür erzählten sie mir von den Ländern, aus denen sie kamen (K 219).

Das Fragment Kindheit orientiert sich so grundsätzlich an der politischen, das heißt zeitgeschichtlichen Epoche; dies trifft im großen und ganzen auch auf das nachfolgende Fragment Jugend, das mit der Exklamation „Es brennt. Ich unterbreche. komm FLAMME!“ abbricht. Ein solches Abreißen der Form verweist aber auch darüber hinaus und damit auf ein Ganzes, wo auf eine Zukunft in der Latenz des poetischen Textes hingedeutet wird: wo das erinnernde, schreibende Ich im Text sein Weiterleben formuliert. „Das Fragment zu denken, dies bedeutet die Anstrengung, sich ein Verschwinden vorzustellen, das einen Rest zurückgelassen hat, es bewahrt diesen Rest aber auch in sich auf als letzte und zuweilen einzige Spur einer verlorenen Totalität, die dank dessen, was sich von ihr erhalten hat, wiederhergestellt werden könnte; deshalb enthält das Fragment die Möglichkeit der Erneuerung des Ganzen“ (Rosolato, 1984, 77). Der Konjunktiv, der die Möglichkeit der Wiederherstellung ausdrückt, ist hier allerdings symptomatisch zu verstehen, denn im Sinne der romantischen Auffassung impliziert das Geflecht der fragmentalen Erinnerungsmotive keine Rückkehr zu einer einstigen Ganzheit, sondern meint den Text als Geflecht in seiner neuen und zugleich ersten, als solchen ursprünglichen Form. Aber auch ein „fragmentarisches Universum“, das in den einzelnen Elementen nicht das Bruchstück einer Totalität sieht, sondern „ein Geflecht“, „das die Nahtstellen sichtbar lässt“, trifft auf die Kindheit nur bedingt zu (Lindemann,

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2000, 13). Denn die unzergliederte Form der Textstruktur verweist eher auf eine bewusste Strukturlosigkeit, die sich als programmatische Lebendigkeit ineinanderverwachsener Erinnerungsmotive darstellt und darin „eine ihm eigentümliche partielle Form“ bewahrt, die „auch auf eine Kraft des Zerfalls oder auf die Wirkung einer zerstörerischen Kraft“ hinweist (Rosolato, 1984, 79). In Kindheit wird diese zerstörische (oder auch negative) Kraft nicht nur als Auslöser einer schöpferischen (positiven) Kraft geschildert, sondern am Ende des Fragments auch mit einem Ausblick in die Welt (mit „fremden Ländern“) bzw. in der Jugend mit „Flamme komm!“ als Kraft der Lebendigkeit interpretierbar. Nicht was im „Erlebnis“ geschildert wird, sondern als sinnliches Erleben zwischen Subjekt und Objekt „mehr ahnend als blickhaft“ stattfindet, objektiviert am (offenen) Ende das „Fragment einer Kindheit“, stellt es formal in einen Lebens-Zusammenhang („breiter Strom“ zwischen Geburt und Tod), für den diese „All-schau“ der Kindheitserinnerung als Weltkorrespondenz das alles entscheidende Fundament des Über-Lebens darstellt: Das „Fragment“ in der Intention einer Ganzheit. Das Kind erlernt für das, was ihm droht, aber im Text selbst und somit auch nicht (mehr) in der Kindheit beschrieben wird, eine Sprache der Beobachtung und ein Erkennen von Zwischenräumen, das nicht mehr täuscht: weder eine ausschließlich innere, noch rein empirische Beobachtung; sondern eine aus dem Dazwischen (über dem Abgrund [?]). Das Fremdwerden der Dinge, das Bewusstwerden selbst unsichtbarer, verborgener Zusammenhänge und das geradezu sensitive Frühwarnsystem vor Gefahren finden in den „Träumen“ und in der „Phantasie“ Grund und Ort des (späteren) Überlebens. Mit Einbezug von Rosenkranz’ Erinnerungs- und Schreibort um 1958 schildert hierzu István Örkény aus der Erfahrung eines sowjetischen Arbeitslagers, wie die „Vergangenheit“ „in Träumen“ den „neuen Menschen“ im Lager wiederfindet, ihn zugleich neu positionierte über der Gegenwart, die sich unter dem Willen des Lebens der Zukunft ausrichtete (Örkény, 2010, 138). Diese Wahrnehmung unter „Mobilisierung der Phantasie“ (Örkény, 2010, 57) fügt sich über die Erkenntnis des Dazwischens in Rosenkranz’ Kindheit selbst zu einer (tropischen) Erscheinung, die sich über den tiefsten aller Gräben erhebt: im

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„Über“-Leben jenseits der Vorstellbarkeit, der Glaubwürdigkeit oder eindeutigen „Referenzialität“ – und somit ein Leben auch über der „Wahrheit“ und/oder der „Lüge“. 99 Mehr noch als das, was Gut¸u für die „erzählte Zeit“ in ihrer „epischen Breite“ festhält (Rosenkranz, 2003, 228), ist dieses Fragment einer Kindheit „lebendig, farbenprächtig, vielsagend und somit nacherlebbar“: Das Todeserlebnis als (Über-)Leben, das immer wieder initiierte Leben innerhalb der Ich-Entwicklung, die fällt und steigt zugleich, wird in der narrativen Ausdehnung vergegenwärtigt, verlebendigt. Die Verwandlung fragmentarischer Erlebensmomente in eine Erzählung meint daher nicht nur ein geistiges Überleben, sondern auch ein Bewahren des Selbst, indem dieses die Geschichte und damit „seine“ Zeit sich selbst neu erzählt. „Echtheit und Unmittelbarkeit“ als „Merkmale dieser Rekonstruktion von Zeit und Ort“ werden in der Beobachtung von Rosenkranz’ Phänomenologie einerseits konkret und historisch greifbar, als poetisches Bild aber andererseits nie fixiert und bleiben somit dauerhaft lebendig. Die „Konturschärfe“, die Gut¸u für die epische Form der verdichteten lyrischen Erlebnisse im Nachwort der Kindheit nennt, wird in der Feinanalyse des einzelnen poetischen Bildes infrage gestellt oder gar obsolet. Die Erzählung gewordene Wahrnehmung der erlebten Kindheit, wobei sich als Gegenstand der Erinnerung eine Strategie des Überlebens einstellt, ermöglicht anhand des narrativen Potenzials aber auch eine variabel distanzierte Perspektive auf die Ich-Figur, wobei wiederum sowohl unterschiedliche Selbstbilder in der sprach-poetischen Fokussierung angesprochen werden (Mündlichkeit, direkte personale Ich-Form; auktoriale Erzählhaltung), als auch ein Selbstbild überhaupt erst etabliert wird.

99 Wie Sinjawskij so hält auch Örkény fest: „Ihre Vergangenheit hat sich fundamental verändert, der Weinberg in Esztergom ist jetzt eine Zauberburg und die Fleckerlsuppe von damals ein üppiges, fröhliches Schlachtfest“ (Örkény, 2010, 57).

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In der Betrachtung des Selbstbildes von Moses Rosenkranz in Korrespondenz, Lyrik und autobiografischer Prosa nimmt die absolute Zäsur durch den sowjetischen Gulag eine zentrale Rolle ein. Als letzter und stärkster biografischer Abbruch, quasi als Kondensat der Abbrüche, geht sie aus der Betrachtung des lyrischen Frühwerks sowie der Prosa-Fragmente hervor. Im Überschreiben der Abbrüche, der Ent-Leerung (das meint Anreicherung) und Zeitlosigkeit, werden Lyrik und Prosa zu allgegenwärtigen Figuren eines Kreises: wo am tiefsten Punkt das Ich immer wieder neu zur Anschauung und Selbstbetrachtung ansetzt. An diesem tiefsten Punkt kehrt das poetische Ich im Kreis der Natur und immer „im Herbst“ als der „poetischen Saison“ zurück. 1 Im „Refrain der Epoche“, wie es István Örkény nannte (Örkény, 2010, 136), hebt auch Rosenkranz’ „Stimme im Chor“ neu zu jenem Lied an, das sich vom sterbenden Abgrund erhebt und den „breiten Strom“ zwischen Leben und Tod in einem raum-zeitlichen Darüber der Poesie darstellt. Die aufsteigende Tendenz im Gesamtwerk von Rosenkranz orientiert sich am Lebendigen, das über die Rückschau in die Kindheit ein Verlebendigen des Unbelebten (Dinge, Schrift usw.) meint. Die Suche nach einem „Währenden“, welches mit der Selbstreflexion einhergeht, hat sich so in einem „Lied von der Zeit“, auf den Trümmern der Vergänglichkeit, vom Fixierten und Sichtbaren, gelöst. In der Natur (Fluss, Gras usw.), in der Dichtung und im Mythos oder einem „nur Bilder treibenden Geist“ hat sich diese Beständigkeit als eine stets bewegte, vitale, aber vor allem bindungsfähige erwiesen. 2 Grundsätzlich kann für alle drei Teile dieser Untersuchung festgehalten werden, dass Schreiben ab 1958 für Rosenkranz zu einer Beschäftigung 1 2

In einem Brief an Rübner aus Suceava, 5. 5. 1936. AR 25087, Reel 1, n83. Renata Makarska stellt die Natur, die Dichtung und den Mythos als dauernde, konzeptualitätsbildende Elemente der Kulturlandschaft „Hucul’scyna“ vor (Makarska, 2010).

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mit sich selbst wurde, bei der das äußere Leben zunehmend inkorporiert und ver-innerlicht wurde. Von den tagebuchartigen Briefen bis hin zur autobiografischen Prosa zeigt sich diese Verinnerlichung als Vergeistigung in einem Selbstbild, das über eine poetische Rückwärtsgeburt aus der Tiefe (des biografischen Abgrunds) eine vitalistische „Renaissance“ ermöglicht. Das „Kind“ und die „Kindheit“, das „Schöne“ und die „Beziehung“ zum Menschen gehören zu den vitalen Kräften, die aus den „Ruinen“ und der Leere des Gedächtnisses ein positives Ab-Bild zum Fortleben bereitstellen. Eine Akkumulation historischer Zeit und somit von allem Erlebten, was Rosenkranz in der Korrespondenz mit „Übervollsein“ bezeichnet, zeigt sich sowohl im Umschreiben und Umbauen der Gedichte als auch in der Autobiografie, wo sich die Intensität ähnlicher „Lebensmomente“ letztlich zu narrativen Bildern verselbständigt. Die poetische Rückschau auf die BioGrafie nach dem Gulag wird also da für den Dichter zukunftsbedeutend, wo inhaltlich oder formal eine letzte „Ganzheit“, ein letztmögliches „Schönes“ imaginierbar bleibt. Neben den oben genannten Begriffen eines „Währenden“, wiederholen sich in allen drei Teilen der Untersuchung weitere Motive und Bilder, die mit Bergsons Begriff der „Dauer“ argumentierbar werden: die „Eule“, der „Engel“, das „Feuer“ – Bilder, die in die Uneindeutigkeit führen, sprich Zweideutigkeit mit sich führen und zwischen Licht und Dunkel, Diesseits und Jenseits stehen. Nicht allein aber die Schnittflächen, wo die Vergangenheit die Gegenwart einholt und ihre Zukunft andeutet, sondern auch jene neue Figur aus der „fortwährenden Geburt“ erscheint im poetischen Selbstbild als ein Ganzes individueller „Kontinuität“. Ein solches Selbst aus der permanenten Rückschau scheint für Rosenkranz im Sinne eines „all-schauenden“, sprich totalen Sinnes – wie es auf Merleau-Pontys „Leib“ zutrifft – intendiert gewesen zu sein. „Eine einzige Dauer“, schreibt Bergson, „die alles mit sich reißt, einen Fluß ohne Grund, ohne Ufer, der ohne angebbare Kraft in einer nicht zu bestimmenden Richtung fließt, zerschlagen durch Intuition“ (Bergson, 1916, 38). Die Zerschlagung „durch Intuition“ wird in der Endfigur (Kapitel 10.4) zur poetischen Schaltstelle, wie sie am Anfang dieser Untersuchung (Kapitel 3) als Voraussetzung genannt wurde. Abschließend und zusammenführend wird die Phänomenologie an der

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Grenze vor dem Hintergrund der biografischen, poetischen Identität „am Ort des Aufbruchs“ sowie im Umgang mit der eigenen Zeit neu befragt.

10.1 Korrespondenz Die Korrespondenz hat noch vor der Untersuchung weiterer biografischer Entwürfe bei Rosenkranz einen Vitalismus ans Licht gebracht, der im Ordnen und Anordnen von Gegenständen und Gedichten bestand – allem voran im Verlebendigen von Dinglichem und Zeichenhaftem. Eine solche schöpferische Formung als Hand-lung, wie es die Reflexion des Schreibakts zeigte, lässt sich als ein Kontinuitätsbildungsprozess verstehen, der Rosenkranz ab 1957 immer neu in die eigene Kindheit zurückführte. Die positiven Bilder der Erinnerung sowie die Ansammlung „schöner“ Kunstdrucke bekräftigt eine „innere Kontinuität“ entgegen des biografischen Zurückfallens unmittelbar nach 1957. Über die eigene Ins-Bild-Stellung wird eine Ästhetik der Existenz vollzogen, in der das „Schöne“ immer auch Ausdruck von „Einheit“ und Ungebrochenheit (Kontinuität) darstellt. Die Daseinsreste werden in einem anderen, eben poetischen Zeit-Raum neu gebunden, wodurch das Ich selbst in einen neuen (Ich-Welt-)Zusammenhang tritt. Anna Rübner nimmt in diesem poetischen Schaffen eine bedeutende Rolle ein: Aus ihrer Abwesenheit hat sich Rosenkranz seine eigene Anwesenheit erschrieben, aus der „überdauernden“ Beziehung zu ihr die existentiell notwendigen Brückenelemente für seine Dichtung destilliert, die er ihrem kritischen Auge vorlegte; und als weibliche Muse, was mit der späteren Verehrung der leiblichen „Mutter“ einhergeht, „verkörperte“ sie den Ort seines „vitalen“, schöpferischen Aufbruchs. Immer deutlicher verweisen die späteren Briefe aber auch auf die belastende Anwesenheit des permanent Abwesenden, das sich gerade im phänomenalen Medium der Fotografie zeigt. Die Suche nach einer versichernden inneren Kontinuität, aber auch nach einer objektiven Bezeugung der eigenen Identität und damit der „wahren Erfahrung“, führt Rosenkranz zur Hinwendung und Betrachtung des eigenen Gegenübers in der Kindheit: in eine nur plurale, vieldeutige Identität, sondern auch zu immer neuen Widersprüchen. Rosenkranz’ unmittelbare Vergangenheit hat die

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(Schreib-)Gegenwart um 1957 immer neu eingeholt. Die ewig kreisende Rückversicherung und Selbstbespiegelung in den Briefen und in biografischen Entwürfen machte deutlich, wie Rosenkranz neue Referenzen und Beziehungsebenen aufsuchte, die sich ihrerseits von einer bezeugbaren Identität zunehmend abheben. Die Wahrnehmung der eigenen Identität wird daher zuletzt in eine zeugnislose Selbstvergewisserung gezwungen. Eine durch die frühe Vergangenheit (Kindheit) zugerichtete Gegenwart war nach 1957 Rosenkranz’ einzige Voraussetzung für ein Weiterleben. Die Selbstwahrnehmung ist dabei aufgrund der fremden wie eigenen Selbsttäuschung weder eine „reine Wahrnehmung“ noch eine von der Vergangenheit ausschließlich distanzierte oder am Scheib- und Erinnerungsort konstruierte: Eine „wahre Erfahrung“ setzt eine innere Kontinuität voraus, die im Anordnen und Setzen äußerer Beziehungen zwischen einzelnen Elementen nicht künstlich wiederhergestellt werden kann. Die Kontinuität, wie sie Bergson versteht, ist im Begriff der Dauer aufgehoben. Im Verlauf der biografischen Selbstbeschreibungsversuche haben sich denn auch unterschiedliche Modi eines Ineinanders von Vergangenheit und Gegenwart manifestiert. Rosenkranz’ Briefe an Anna Rübner zeigen so die Bedingungen für ein neues Leben über die distanzierte „Objektivierung“ und zugleich „Fokussierung“ der eigenen Lebensumstände. Und wenn dabei eine Vielzahl von Standpunkten und Perspektiven eingenommen wurden, so womöglich weniger, um eine letzte Uneindeutigkeit festzustellen, sondern um in der Vielzahl der Standpunkte erst jenes Bild zu erkennen, wofür nach MerleauPonty auch die Sprache zuletzt eine einzige „Wahl“ kennt. An die Wörter, die wir brauchen und die an uns gerichtet sind, denken wir nicht mehr, als wir an die Hand denken, die wir drücken: diese ist für uns nicht ein Paket aus Fleisch und Knochen, sie ist nichts weiter als die Gegenwart des Anderen. Es gibt […] eine einzigartige Bedeutung der Sprache: sie ist umso evidenter, je mehr wir uns auf sie verlassen, und je weniger wir an sie denken, um so mehr verliert sie ihre Vieldeutigkeit; sie sträubt sich gegen jeden direkten Zugriff, aber sie ist willig gegenüber dem Zauber der Sprache, sie ist immer da, wenn man sich auf sie verläßt, um die Bedeutung heraufzubeschwören, aber sie ist auch immer ein wenig anderswo als dort, wo wir sie erfasst zu haben glauben (Merleau-Ponty, 1984a, 133).

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Die Hand als Geste der Zuwendung zum Anderen, als Apostrophe, formuliert Merleau-Ponty hier fast paradigmatisch in Bezug auf Rosenkranz. Der „Verlust der Vieldeutigkeit“ kann als ästhetische Selbstpositionierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. Zukunft verstanden werden: Über dem permanenten Verknoten der eigenen Biografie taucht letztlich die Silhouette einer vereinigenden Form auf. In dem Sinne ist dieses (ein-)geschriebene, in der Sprache aufscheinende Ich auch immer zugleich „anderswo“: und daher nur in mehrfacher Einkreisung fassbar. Rosenkranz’ biografisches Abarbeiten in der Lyrik, aber auch im Von- und Über-sichSchreiben intendiert diese endlos voranschreitende Annäherung. Bei Rosenkranz zeigt sich der Mehrfachzugang quasi per se, in der Korrespondenz gar polyperspektivisch an der Motivierung der Synästhesie (Sehen [Form, Bild, Einrichtung], Hören [Stimme über den Buchstaben, „Maschinderl“, Gedichte], Tasten [über die Handschrift]) und nicht zuletzt über die Trilogie von „Gesicht, Hand und Schrift“. Das „wahre“ Selbstbild dieses/seines anderen, „polyphonen“ und positiven Ich bemüht Rosenkranz in allen seinen biografischen Schriften und in den Briefen, beklagt aber zugleich seine Einsamkeit in den „monologen Gesprächen mit Dir [Rübner]“ sowie die unzulängliche Glaubwürdigkeit seiner Identität vor einer potentiellen Leserschaft. Nicht mehr das eigentliche Ich wird in der späten Korrespondenz (1963) als positiv („gesünder denn je“) erkannt, sondern das (negative) Erlebnis wendet sich in ein geistiges Dis-positiv („Lebensproben“). Das erinnernde Ich tritt dabei vor dem erinnerten aus der Kindheit zurück, oder: Es wird eingeholt vom kindlichen Ich, welches es als erinnerndes der Zukunft ausrichtet. Das erinnerte Ich, wie es über die Kindheitserinnerung und an den Fotografien sichtbar wird, deterritorialisiert sich dabei immer mehr und dezentralisiert sich in der Erinnerung zu einer Figur am Rand, deren Mitte sich zunehmend ins Innere zurückzieht. Das vitalistische Moment, das aus Rosenkranz’ Leseproben aus dem Werk eines Verschollenen quasi von unten her, d. h. aus einem mythologisch Ephemeren, emporgewachsen ist, zeigt sich insofern vereinbar mit Bergsons lebendiger „Dauer“, als Rosenkranz über die in die Gegenwart voranschreitende Vergangenheit in Richtung Gegenwart eine Urverbindung zum Naturgegebenen als Kontinuität mitein-

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schließt, die er mit dem historischen Mythos zu fassen versuchte. Die „dunkle“ Vergangenheit, aus der der Mythos stammt, kann nach Rosenkranz nur mehr von der „Eule“ wahrgenommen werden. Was sich dagegen im „Moment der Dauer“ in die Gegenwart rettet, ist ein Neues, ein anderes Ich, das sich so mit allen Widersprüchen und Bildern der Erinnerung in die lichte Dauer ein- bzw. überschreibt. Wo ein nur mehr „monologes Gespräch mit Dir“ 3 das eigene Sprechen reflektiert oder wo die Sprache als Sprache bedeutend wird, ist sie nicht nur eine neue Referenz: Sie wird Gegenstand und Apostrophe – und somit die Anwesenheit (Gegenwart) per se. Die einstige Suche nach innerer Kontinuität im Gegenüber oder im anwesend Abwesenden wird also, je mehr die Gegenwart von der Vergangenheit eingeholt wird, zu einer poetischen Kontinuität, die frei ist von allem „Fixierten“ – und letztlich als ein neuer „Leib“ von seiner Referentialität.

10.2 Lyrik Im lyrischen Werk wurde ein Blick auf das einzelne Gedicht geworfen sowie auf den Zusammenhang der Gedichte innerhalb der Sammlung, um deren Neuordnung Rosenkranz nach seiner Rückkehr aus dem Gulag bemüht war. Eine erstrebte „Kontinuität“ muss hier sowohl in Bezug auf die einzelnen Gedichte als auch bezüglich der Gedichtbände (Auswahl und Ordnung) als ein Ganzes betrachtet werden. Trotz der Fülle und Diversität der einzelnen Gedichte lässt sich der Bedeutungsgehalt von Tod, Krieg und persönlichem Schicksal des lyrischen Ich als Element „innerer Kontinuität“ nahezu in allen Gedichtbänden beschreiben: eine Kontinuität, die Bergson „Erscheinung“ oder „Schöpfungsmasse aus dem Althergebrachten“ nennt. Gedichte vor wie nach 1958 berufen sich auf das „Lied“, in dem das Erlebnis, die „wahre Erfahrung“ bzw. das Ich wie im Kontext des „rumänischen Volksliedes“ überdauern kann: Nicht selten steigt das Feuer oder die „Flamme“ als belebendes, Licht bringendes Element auf. Die Erinnerung an ein Ursprüngliches, das sich in unterschiedlichen lyrischen Bildern und arche3

5. 2. 1963, AR 25087, M722, 2/I, Reel 2.

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typischen Motiven zeigt, entzündet dabei einen Mythos oder mystische Vorstellungen, die den erfahrbaren Raum- und Zeitrahmen sprengen. Das lyrische „Lied“ am Ende, in dessen Melodie und Rhythmus als Kern des Wesentlichen überdauert, was sich der Sichtbarkeit entzogen hat, referiert immer auch auf die Form des Gedichts selbst, die Rosenkranz als ein Lebendiges „im Rahmen“ beschrieben hat. Zwischen Inhalt und Form und somit auch der gesamten Ordnungsstruktur der Gedichtbände tut sich aber auch eine Diskrepanz auf, die mit dem intendiert Liedhaften nicht aufzugehen scheint. Rosenkranz’ Wunsch nach 1958, sich von seinen Gedichten und allem Fixierten loszulösen, scheint denn auch die Grenze der Lyrik gerade in diesem festen Rahmen zu treffen, wo der lebendige Inhalt nicht befreit werden kann. Zwar im Rhythmus „einer marschierenden Truppe“, aber geschützt gegen außen umgibt die Form hauptsächlich „Selbstbildnisse in Versen“, welche den Tod erinnern. „Verlebendigend“ scheinen also die verdichteten Ereignisse in ihrer Form auch trotz ihrer „inneren“ Kontinuität nicht. Neben den bleibenden konstitutiven Elementen wie Tod, Krieg und Identität(-sverlust) stehen die Liebe oder auch Beziehungen, welche die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Diesseits und Jenseits durchdringen. Ein „Milieu für Seele und Körper“, das die „Dauer“ im bergsonschen Sinne bereitstellt, ist intendiert, wo es fast nur mehr um ein neues Ordnen der lyrischen Erlebnisse geht. Im Gedicht „Der ewige Dichter“ wurden die Zeiten und Räume verdichtet, bis die Bilder (Phänomene) in einer verschleierten, uneindeutigen Gestalt am Horizont aufgingen. Hier wurde Raum und Materie wie auch die lineare Zeit gesprengt: Die Zeit im Begriff der Dauer erfährt eine „Sprengung“. In der Metaphorologie weiter gedacht: Der Begriff erhält in der Metapher seine Ausdehnung, wodurch die Biografie in eine Narration überführt werden kann, die wie der Mythos kein Ende mehr kennt und daher Fragment bleibt. In Bezug auf die Gesamtstruktur der Gedichtbände, der Ordnungsstruktur, heißt dies: Wenn auch die zyklisch biografische Form geschlossen und für den Dichter selbst ein Gefangensein in der eigenen Erinnerung meint, so kann in der Fortsetzung der Prosa erst ein positiv dauernder, ephemerer „Leib“ vorgestellt werden: nämlich aus der Fülle der Sammlungen selbst, aus der auch der Dichter im Sich-Selber-Le-

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sen und Wiederlesen eine „Kontinuität“ bemerkt, die zugleich das neue „Sehen“ und Wahrnehmen als Voraussetzung benötigt – und jene Sinnesveränderung, die aus der Zäsur entspringt. Dieses andere Sehen, aus dem beispielsweise das Kreisen um sich selbst bzw. der „Kreis“ als Metafigur der eigenen Wirklichkeit auftaucht und diese Seinsform wiederum innerhalb eines natürlichen Zyklus’ verstehbar macht, ist mit der diltheyschen „Melodie“ vergleichbar, die erst in der Pluralität des biografischen Umkreisens aufscheint. Die Intuition meiner Dauer ist das Erlernen einer allgemeinen Weise des Sehens, das Prinzip einer Art von Bergsonscher ‚Reduktion‘, die alle Dinge su specie durationis erneut betrachtet – auch das, was man Subjekt und Objekt nennt, sogar das, was als Raum bezeichnet wird: Denn man sieht bereits, wie sich ein Innenraum abzeichnet, eine Ausdehnung, welche die Welt ist, in der Achilles läuft. Es gibt Seinsformen oder Strukturen wie die Melodie (Bergson sagt: Organisationen), die nichts als eine bestimmte Art des Dauerns sind. Die Dauer ist nicht nur Veränderung, Werden, Bewegung, sie ist das Sein, im lebendigen und aktiven Sinne des Wortes. Die Zeit wird nicht an die Stelle des Seins gesetzt, sie wird als ein entstehendes Sein verstanden, und es ist nun das gesamte Sein, das man von der Seite der Zeit aus angehen muß (Merleau-Ponty, 2007a, 268 f.).

Merleau-Ponty fasst mit Bergson eine neue Philosophie des „ich kann“ anstelle des aufklärerischen „ich denke“: „ein Selbst-sein, dessen Zusammenhalt auch eine Trennung ist“ (Merleau-Ponty, 2007a, 268) und letztlich im Selbstbild, das sich in seiner Abwesenheit oder Negation zeigt, das aus der biografischen Pluralität aufscheint als ein geistiges Unfixierbares. Wenn aus dem anderen, quasi phänomenalen und sogar prophetischen Sehen ein Selbstbild entsteht, ist dieses also objektiviert im Begriff des Leibes, der ein Selbst über die Wahrnehmung des Anderen bezieht, ohne zugleich eine Synthese beider Komponenten darzustellen. Für Rosenkranz meint dies, dass die Fähigkeit eines solchen Sehens im lyrischen Schaffen immer auch auf eine Möglichkeit schließt, die physisch wirkende Vergangenheit als Ganzes in der lyrischen Sammlung hinter sich zu lassen, mit dem Selbstbehalt jenes Selbstbildes allerdings, das eine andere Gestalt oder sprachliche Form annimmt, indem der Bedeutungsgehalt der vergangenen biografischen Erlebnisse nicht ein grundsätzlich anderer wird, sondern der-

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selbe, aber über die Wahrnehmung verwandelt. In dem Sinne wird hier Bergsons Dauer als Nachzug der Vergangenheit in der Gegenwart oder Merleau-Pontys Aufscheinen des Leibes zu einem Lied bzw. als Melodie vorstellbar, wo die Selbstdistanzierung bzw. „Ent-Ichung“ für die kreative Selbstwahrnehmung unerlässlich wird. 4 Dass Rosenkranz sich selbst von seiner lyrischen Vergangenheit zeitweilig vehement lösen wollte, hat mit eben dieser Selbstdistanzierung zu tun, die zwar notwendig für das „Selbstbild“ ist, immer aber eine „Verfremdung“ bleibt. Von einem lyrischen Selbstbild kann also nur noch insofern die Rede sein, als es ein stetes Dialogisches und Unsichtbares meint: Eine Erscheinung, die Rosenkranz an dieser Stelle womöglich mit dem Begriff des „Wesens“ und der „allumfassenden“ „Weltkorrespondenz“ formuliert hätte. Der Ort dieses Dazwischens, der immer eine „Grenze“ ist und zugleich über sich als Differenz hinausweist, entzieht sich letztlich auch einem eindeutigen Bild in der Sprache: nämlich im „unentzifferbaren Spiel des Zweideutigen“, wie es Foucault 1963 bezeichnete (Foucault, 1963, 352). Merleau-Ponty nennt es ein „Sedimentieren“, wo aus der Phänomenologie der Sprache aus dem Vollzug der Nachvollzug über das Denken bei Weitem hinausgeht (Merleau-Ponty, 2007b, 129). Hier setzt aber auch Haverkamp an, der die Einbildungskraft der Sprache als ein Nachtragen begreift, welches Vorherliegendes mit Rücksicht auf Darstellbarkeit zu erschließen erlaubt und wo das Ich sich als ein lyrisches individualisiere (Haverkamp, 1988, 348). Wo Haverkamp eine „Mimikry der Introjektion“ als Verlebendigung am toten Objekt, am Verlust des Ich, formuliert, kommt es bei Merleau-Ponty zu einer Bedeutungsintention als leibliche Präsenz, die ihrerseits „neues Leben einzuhauchen“ ermöglicht, ohne als solche bereits im Vorausgegangenen enthalten gewesen zu sein. Der Dichter ist gespalten – oder „Zuschauer“ und „Spieler“ zugleich, wie es Schalamow in Über Prosa genannt hat. „Das Ich des Dichters tritt zurück. Eine Lyrik 4

Auf Bergsons Evolution créatrice kann in dieser Untersuchung leider nur mehr verwiesen werden. Eine in diesem Kontext ebenso zu berücksichtigende Forschungsarbeit wäre die von Matthias C. Roggo: James und Whitehead. Evolution und die Rückkehr zur Tradition. Diss. 2009, Philosophische Fakultät Bern. Ich danke dem Autor für die Einsicht in sein noch unveröffentlichtes Typoskript und bedaure, dass ich nicht früher davon Kenntnis hatte.

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der anderen tut sich auf. Ich möchte von einer Entichung der Lyrik reden. Die alte Lyrik sei im Gegensatz zu Epos und Drama subjektive Dichtung, scheint zu wanken“, schreibt Oskar Walzel in Leben, Erleben und Dichten von 1912 (Burdorf, 1997, 190). Und Merleau-Ponty formuliert es einmal mehr über den Begriff der „Intuition“: Es findet sich, daß mein Blick an manchen Schauspielen – nämlich den anderen menschlichen Körper und, im weiteren Sinne, auch den animalischen – hängenbleibt, daß er von ihnen umgarnt wird. Ich werde von ihnen beansprucht, obwohl ich sie selbst beanspruchen wollte, und ich sehe, wie sich im Raum eine Gestalt abzeichnet, welche die Möglichkeit meines eigenen Körpers weckt und zusammenruft, als handele es sich um meine eigenen Gesten oder Verhaltensweisen. Alles geschieht, als seien die Funktionen der Intentionalität und des intentionalen Objekts auf paradoxe Weise ausgetauscht worden. Das Schauspiel lädt mich ein, sein ädaquater Zuschauer zu werden, als würde mit einem Mal ein anderer Geist als der meinige meinen Leib bewohnen, oder vielmehr, als wäre mein Geist dort hingezogen worden und wanderte nun aus in jenes Schauspiel, das er selbst sich gerade darbot. Ich bin gepackt von einem zweiten, außer mir seienden Ich-Selbst, ich nehme den Anderen wahr (Merleau-Ponty, 2007b, 132).

Das physiologische Auge kann sich dabei (in der Lyrik von Rosenkranz) schließen bzw. ist in seinem lyrischen Ich von inneren „Würmern zerfressen“ und blind; der nach innen gekehrte Blick geht so direkt und neu vom Objekt aus oder über die Reflexion des Wahrgenommenen beim Sich-Selber-Lesen: „L’idée d’une percéption qui se fait dans les choses, dans les choses, dans les images“ (Caeymaex, 2004, 421). Merleau-Ponty spricht von einer intentionalen Überschreitung, die den Anderen hervorbringt. Das Subjekt aber, das die intentionale Überschreitung und somit die Entgrenzung begeht, kann dies nur vollbringen, sofern es situiert ist: „Die Erfahrung des Anderen ist genau in dem Maße möglich, in dem die Situation Teil des Cogito ist“ (Merleau-Ponty, 2007b, 133). Die Selbstbild-„Referenz“ ist somit nicht das reale, sprich erinnerte biografische Erlebnis, sondern der aus der Verdichtung aufscheinende präsente „Leib“ der biografisch lyrischen Einkreisung und phänomenalen, bewegten „Bildwirkung“, sprich einer Inkorporierung des Ich an einem unerreichbaren, utopischen Ort im Forminneren des lyrischen Lieds. Eine „Tragö-

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die“ schließlich, die eine neue Gegenüberstellung erfährt im ordnenden und schreibenden Wiedererinnern bzw. in diesem Ausdehnen der Zeit, wo aber die „wahre Trauer“ (Haverkamp) nur noch mimetisch im lyrischen Text vorhanden und somit auch unbefriedigend ist. […] und wenn der gelungene Ausdruck das freisetzt, was im Sein seit jeher gefangen war, in der Dichte der personalen und interpersonalen Zeit eine innere Kommunikation bildet, durch die unsere Gegenwart zur Wahrheit über alle anderen erkennenden Ereignisse wird. Es ist ein Keil, den wir in die Gegenwart treiben, ein Markstein, der bezeugt, daß in diesem Moment etwas stattgefunden hat, das vom Sein immer schon erwartet wurde oder das es seit jeher sagen wollte, und das niemals aufhören wird – es sei denn, es hört auf, wahr zu sein […] (Merleau-Ponty, 2007b, 134 f.).

In Rosenkranz’ lyrischer Sprache heißt es am 23. 11. 1961, wo bloß „die alten Texte […] mir […] das Wesen der Visionen festhalten [sollten]“, denn „in diesen versuche ich ihre Gestaltung“: Wir träumen uns und unsre Seelenblicke Verbinden die im Raum geschieden stehn Den Pfeilern gleichend einer Hängebrücke Die wir auf Ufern großer Ströme sehn. Keins kann zum andern aber zwischen ihnen Klingt breit der Fluß und schwingt gespannt der Pfad Die Schiffen Fuhren sowie Füßen dienen Auf denen Festes schnell dem Festen naht. Wir sind getrennt doch eint uns ein Begehren Das zwischen uns den seligen Traum erstreckt Und unsre Herzen gehen in großen Heeren Tief zu einander bis der Tag uns weckt.

Die biografische Erfahrung wird zum Erlebnis der Erinnerung selbst – und in der Lyrik zu einem Erlebnis geformt, das eine positive Umformung in der Prosa aufdrängt. In der „Intention“, als inkarnierte Referentialität, und der so verstandenen Reflexion des eigenen Lebens besteht jener Vitalismus, der in der Prosa als poetische Präsenz letztlich auch formal aufgehen kann/ könnte.

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10.3 Autobiografische Prosa Aus den Quellen wurde deutlich, dass die Prosa auf den verdichteten Momenten der Lyrik aufbaut, die Rosenkranz um 1957 immer wieder umarbeitet und neu ordnet. Die Kindheit wird über die Erinnerung als Bio-Grafie nach dem Abgrund neu präsent. Weder die Fülle der Erlebnisse, noch das Erlebnis selbst ist an diesem präsentischen Charakter beteiligt; vielmehr ist es die Intensität der Erlebnisse, die Empfindungsmäßigkeit der Erinnerung. Die Prosa lotet in der Narration der Motive oder Erinnerungsmomente den Rahmen der Selbstbiografie aus. Die ersten und auch kritischen Erlebnisse der Kindheit, z. B. die Geburt und der Sturz in die Feuergrube, sind bei Rosenkranz immer auch die letzten, am Rand zwischen Leben und Tod; der Sturz in die Feuergrube, aus der der Körper nur mit Flammenküssen hervorging, erinnert so an die Rückkehr aus dem Gulag, wo sich Rosenkranz „gesünder denn je“ fühlt. Das erinnerte Ich positioniert sich über seinen Körper bzw. seine Empfindungskraft poetisch in der Welt. Mit einer „All umfassenden“ „Optik der Seele“ ist dem Dichter offensichtlich auch das Überleben des Gulags, schließlich das Überleben des Überlebens durch die poetische Verinnerlichung gelungen. In einem „Dämmerreich der frühen Kindheitsphantasien“ (Schulz, 2008b, 206) scheint nicht nur der Ursprung der Kunst und Sprache zu liegen, sondern der Ort einer poetischen Bildlichkeit, die dem Lebendigen den alles bestimmenden Vorzug vor dem Tod gibt. Der Dichter schafft sich in Erinnerung an die Kindheit erneut eine Distanz zum Erwachsenenleben und somit im Umweg der Erinnerung auch zu sich selbst. Genuin ist das Kind den „letzten“ Urphänomenen, der Sinnhaftigkeit sowie des Welt- und Sprachzusammenhangs näher und kehrt es zur eigenen Sprache und Wahrnehmung zurück, die es entweder verloren hat oder zu vergessen gezwungen war. Die hier unter der autobiografischen Prosa platzierten Ausführungen sind ausführlicher als die vorangegangenen. Sie greifen aber auch auf die Schlussgedanken aus Korrespondenz und Lyrik, welche im „Schluss“-Kapitel durch ein gemeinsames Nadelöhr geführt werden.

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10.3.1 Strategie des Blicks: „Fallen“ und „Feuer“ Das Erlebnis des Feuers erinnert Rosenkranz im ganzen Werk immer neu: als Schmelzpunkt von Leben und Tod. Der Sturz in die Feuergrube ist so nur ein paradigmatisches „Grenzerlebnis“, das die Sinne neu ausrichtet und neue Sinnbezüge für das Ich zu gegebener Wirklichkeit bereitstellt. Dabei wird eine nachfolgende Wandlung der Wahrnehmung geschildert, die jede spätere Landschaft über diese „erste“ der Hutwiese erfahrbar macht. Der Körper im Stillstand ist der Welt ausgeliefert und schaut so nur den Himmel. Die horizontale Lage des bewegungslosen Körpers ist Voraussetzung dafür, „das Vorhandene“ im Vorangegangenen, „Vorhandenen“ bzw. im Innern zu „festigen“. Wenn Rosenkranz in der Kindheit seine Verbindung zur Wirklichkeit und damit die Wahrnehmung erinnert, meint er letztlich im herderschen Sinne ein „Schauen“, das sich nachträglich – am Ort der Erinnerungstätigkeit – als subjektive Strategie des Überlebens herausstellt. Ohne die „Optik der Seele“, die „im unbestimmbaren Keim, das verhängte Geschehen schon in den Anzeichen zu erkennen“ vermochte, hätte das Ich die „Existenz im Fadenkreuz der Zielfernrohre“ (von Matt, 1994, 33) wohl nicht bestanden. Das Schauen allein übernimmt den Rettungsakt des Ich – kongruent mit der Tatsache, dass das Schreiben und Memorieren der einzig geistige Rettungsakt des Individuums in einer Epoche systematischer Entmenschlichung und absoluter Entindividualisierung darstellt. Ein existentielles, physisches Schauen als unmittelbarstes Gewahrwerden der Umwelt ist die einzige Möglichkeit, zwischen Ich und Welt eine Verbindung wider das „Aus-der-Welt-Gefallenseins“ aufzunehmen bzw. zu bewahren. Die Wahrnehmung ist eine induktive Zuleitung der Reize nach innen. Die „Optik der Seele“, die Nietzsche eine Optik des Leibes nennen würde, nimmt metaphorisch die Empfindungen ins „Auge der Hand“, um die Wirklichkeit „im Schauen“ zu begreifen. Der eigene Körper wird dabei zum Ort der Theorie, die Poesie ist. Wie Peter von Matt bei Elias Canetti feststellt, „beobachtet“ auch Rosenkranz „um sein Leben. Aber nicht, um einen Fluchtweg zu finden oder einen Schlupfwinkel zu entdecken, sondern weil er die Existenz im Fadenkreuz [in der „Mitte“ des Fokus’ also] der Zielfernrohre bestehen wollte“ (von Matt, 1994, 33). Das zum physischen Stillstand gedrängte und ver-

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urteilte Ich führt aus der Mittelposition eine „Selbststeigerung“ (Bergson) durch über die Ausrichtung des Blicks von innen her, eine Reaktion gleichsam, die das Auge unter die Haut setzt und sich ausdehnt auf der Körperoberfläche. Erwin Straus nennt Wahrnehmung ein „In-die-Mitte-gestelltsein“, wobei das „Prinzip der natürlichen Einheit“ auf der Synästhesie der Sinne basiert. Diese führen einzelne Mittlerfunktionen aus, die nach Straus nicht erkennbar oder messbar, dennoch aber unentbehrlich sind für eine vollumfängliche bzw. „All umfassende“ Aufnahme der (subjektiven) Welt („Weltkorrespondenz“). Das „innere Wesen“ (K16), das aus der Bündelung der Sinne zu einem unabhängigen „Organ“ wird, bleibt weiterhin an den Körper gebunden; es vermag dessen Wachstum auszusetzen, um sich im Innern auszubilden. Es führt soweit, dass die Kleinwüchsigkeit des kindlichen Ich in ein positives Verhältnis zum „geistigen“ Wachstum tritt. Diese im Innern entfaltete Wahrnehmungsweise strebt nach physischer Unabhängigkeit, wo die Ausdehnung des eigenen Körpers hinderlich ist. Der eigene Körper, einerseits empfänglich für die Außenwelt über die „tausend Augen“ unter der Haut, wird andererseits vom inneren Wachstum separiert. Hand, Augen und Ohren – nach Straus die aufgrund von Grenzerlebnissen sich verändernden Wesensmerkmale des Menschen –, werden bei Rosenkranz, nach dem Erlebnis des Feuers, im Innern neu ausgerichtet und konditioniert gegen die Übel der Umwelt. Die Augen als physiologisches Organ sind nicht nur unzulänglich, weil sie „tief stehen“, sondern weil sie für die Erfassung der Wirklichkeit nicht ausreichen. Rosenkranz schöpft aus der kindlichen Sehschwäche eine „Sinnverknüpfung“, die seiner Biografie über eine subjektive Phänomenologie den Weg in die (ungewisse) Zukunft öffnet und darin sein Überleben sichern kann. Die verwandelte Anschauung der Welt nach dem Sturz ins Feuer lässt sich im Werk nicht zuletzt über die mannigfachen Augen- und Flammenmetaphern nachweisen, die in der „Wiederholung“ die Erinnerung im Bild des Gedächtnisses verselbständigen, also von der Referenz bei jeder wiederholten ähnlichen Erfahrung zunehmend abkoppeln. Die Wahrnehmung nach dem Feuerereignis ist daher immer schon durch die aus der Tiefe geholten Erinnerungsbilder mitkonstruiert und meint kein Sehen, sondern ein Schauen unter den Bedingungen der Erfahrung. Das „Auge“ wird selbst

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zur Metapher (körperabhängiger) Wahrnehmung und dehnt sich auf weitere Organe aus, nimmt seine Position zuweilen sogar an den „Fingerspitzen“ ein, um statt mit „blinden Händen“ alles Be-greifbare ausreichend zu erfassen. Die Veränderung der Wahrnehmung („Auge“) nach dem Erlebnis im Feuer lässt sich nach Straus’ Ableitung konkreter Empfindungseindrücke auf allgemeine und existentielle Grundphänome in Erfahrung bzw. Erinnerung an eine Letztunterscheidung von Leben und Tod sehen. Was in Straus’ Beispiel die Wahrnehmung von „Blut“ auslöst, ist in unserem Fall das Feuer – ein Erkenntnissymbol von Licht und Leben einerseits, von Tod und Unausweichlichkeit andererseits: „Das Feuer des Lebens in den großen hellen Augen“ der Großmutter (K13), aber auch „die unruhigen Flämmchen“ in den tiefen Augen des kranken Bruders (K24) beschreiben letztlich das autobiografische Selbstbild. Die „Phänomenologie an der Grenze“ hört da auf, wo sich Rosenkranz von der „stofflich-nervösen Masse“ hin zu einer mystischen von der Wirklichkeitsreferenz ansatzweise löst und die drei Phänomenologen auf eine „metaphysische“ Ebene des Formulierbaren hindeuten. Die Lyrikbände, mehr noch aber die Prosa, scheinen diese „Sphäre unmaterialisierter Geistigkeit“ (K11) in jeweils unterschiedlich zirkulärer Annäherung zu beschreiben, in der Prosa gerade auch über die Latenz eines Nichtsichtbaren.

10.3.2 Phantastische Grenze der Phänomenologie Die Suche nach dem Selbstbild über die Begriffe „Dauer“ und „Leib“ lässt sich in Erinnerung an die Kindheit am deutlichsten an den sinnlich erfahrenen Zwischenräumen und an der sich darin oszillierenden visionären Bildlichkeit als individuelle Strategie des Blicks beobachten. Die Unsicherheit, die sich im Sehen ergibt, hat für das sich entwickelnde Kind eine Selbstsicherheit im Schauen erbracht: Da, wo sich die Trennungen und Konturen vor dem Auge auflösen, hält die Lebendigkeit über die Bewegung des Bildes und die Unstetigkeit einer möglichen Referenzebene Einzug. Aus der konturlosen Lektüre der Welt entwickelt sich ein Sehen, das „prophetisch“ über die Ränder von Raum und Zeit hinausgeht. Was Rosenkranz

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über die Erinnerung an die eigene Kindheit „wahrnimmt“, richtet die erzählte Gegenwart im Sinne Bergsons für ein Zukünftiges aus. Rosenkranz’ „gefühlsmäßige Fähigkeit des Sehens“ deutet so Bergsons Begriff der „Intention“ an: „Es gibt eine Realität zum wenigsten, die wir alle von innen, durch Intuition und nicht durch bloße Analyse ergreifen. Es ist unsere eigene Person in ihrem Verlauf durch die Zeit. Es ist unser Ich, das dauert“ (Bergson, 1916, 5 f.), da Geist und Körper in Raum und Zeit dialogisieren. Aus der anderen und „inneren Realität“, die aus der intuitiven Dauer resultiert, kommt es zu einem fortlaufenden Leben der Erinnerung, die Rosenkranz mit der Kindheit nicht nur neu ansetzt, sondern gleichsam am Ende einen Anfang beschließt. Die innere Dauer ist das fortlaufende Leben einer Erinnerung, welche die Vergangenheit in die Gegenwart fortsetzt, mag die Gegenwart das unaufhörlich wachsende Bild der Vergangenheit deutlich enthalten, oder mag sie vielmehr durch ihre fortwährenden Qualitätswandel von der immer schwerer werdenden Last zeugen, die wir hinter uns her schleppen und die in dem Maße zunimmt, in dem wir altern. Ohne dies Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart gäbe es keine Dauer, sondern nur Augenblicksexistenz (Bergson, 1916, 28).

Das Ich hängt nach Bergson wesentlich von der Vergangenheit ab; diese allerdings bleibt im Fortdauern nicht dieselbe: Sie ändert sich und wächst an mit der Differenz zwischen Jetzt und Damals. Die Erinnerung der Vergangenheit ist bei Rosenkranz kumulativ von Ereignissen des Todes durchzogen; die einzelnen Erlebnisse erfahren aber im Erzählen (Prosa) selbst eine Konnotation der Verlebendigung: Das Kind, das den Tod als solchen noch nicht kennt, erfährt, mit Schopenhauer gesprochen, das „wahre Selbst in allem, was lebt“. In dem Sinne hängen auch die beiden Begriffe „Leben“ und „Dauer“, die Bergson nie absolut setzt, quasi ontologisch zusammen. Allein die „Intuition“ steht für ein absolutes In-der-Welt-Sein, wenn Bergson diesen Begriff auch mit jenem der „Dauer“ und des „Geistigen“ vergleicht. Im Geistigen überdauert das Ich, und so setzt nach Bergson hier die Ewigkeit des Lebens in der Kontinuität, d. h. im bindenden Element, im „In-Beziehung-Setzen“ schlechthin an. 5 Im (persönlichen) Bedürfnis, 5

Bergson schreibt 1916 in seiner Einführung in die Metaphysik, dass diese im Gegensatz zur analytischen (trennenden) Wissenschaft ohne Symbole auskomme:

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das (eigene) Wesen zu erkennen, verlangt es nach einer „Metaphysik“, welche den Gegenstand durchdringt, ihn über eine Nulldistanz ohne äußere Fixpunkte („Relation“, Referenzen) erkennt. Nur in diesem ewigen Bestreben, was die „Dauer“ als Struktur bildhafter Erinnerung bei Rosenkranz meint, kann das Ich das Absolute, Vollkommene und die Unendlichkeit erreichen. Hierhin verordnet Bergson letztlich die Erkenntnis des Wesens bzw. des Wesentlichen im Begriff der Intuition. Rosenkranz geschildertes Erkenntnisstreben verlief über eine Selbstpositionierung, die sich über die Wahrnehmung als ein Mitleid dem Anderen so eng wie möglich anzunähern versuchte und seine eigene Schmerzgrenze ausdehnte. Eine letzte Rettung vor dem vor allem physischen Selbstverlust vollzog sich über eine „geisterhafte Weltkorrespondenz“, welche die Intuition als Optik der Seele in dem Sinne voraussetzte. Bergsons Verständnis des Geistigen in Raum und Zeit erinnert an Rosenkranz’ „Garten anstelle der Botanik“ und an die „Gestalt anstelle des Skeletts“; aber auch ans „Feuer“ als poetischer Schmelzpunkt von Leben und Tod und somit der Auflösung der Differenz und Grenze. Ein „Ganzes“ meint keine Totalität aus Einzelteilen; vielmehr sind alle Fragmentteile gleich ihrer Gesamtgestalt souverän lebendig: über den Koordinaten bzw. Bezugspunkten hebt sich das Dritte in „Gestalt“, „Gebilde“, „Leib“, „Schlummerbild“, „Dauer“ oder letztlich auch als „Aura“ 6 oszillierend ab. Nehmen wir Bergsons „Fragmente“ als die Erinnerungsmomente in Rosenkranz’ „Kindheit“, so zeigt sich über die narrative Darstellung bzw. poetische Eigendynamik deutlich eine „Lebendigkeit“ oder Bewegung, die ent-

6

„das bedeutet, daß die Analyse immer mit dem Unbeweglichen arbeitet, während die Intuition sich in die Beweglichkeit oder – was auf dasselbe herauskommt – in die Dauer versetzt“ (Bergson, 1916, 29). Es kann hier nicht von identischen, aber von ähnlichen Konvergenzen der Begriffe ausgegangen werden. Dabei wäre gerade Benjamins schillernder „Aura“-Begriff in Bezug auf Leib und Dauer bzw. das „poetische Bild“ eine Untersuchung wert. Bergson hierzu: „[…] die so definierte Philosophie besteht nicht darin, zwischen den Begriffen zu wählen und Partei für eine Schule zu ergreifen, sondern darin, eine Intuition, die einzig ist, zu suchen, von der man zu den verschiedenen Begriffen gleich gut wieder hinabsteigen kann, weil man sich über die Scheidung der Schulen gestellt hat“ (Bergson, 1916, 23).

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weder assoziativ in der Verschränkung gleichzeitiger Bilder (z. B. Großmutter, Eule) oder in direkter Rede von selbst nicht erinnerbaren Situationen (Geschwister nach dem Sturz in die Feuergrube) abläuft. Die Erkenntnis des Geistes wird so letztlich der stabilisierende, wenn auch zeugenlose Faktor Rosenkranz’ Selbstbildes. Wesentlich für ihre (begriffliche) Darstellung ist, dass dieses Ganze nicht aus sichtbaren Nahtstellen besteht, wie es Karlheinz Lüdeking beim romantischen Fragment festhält (Lüdeking, 2006), sondern sich die Grenzen, Ränder und Kontraste des Sichtbaren verwischen im „lebendigen“ Oszillieren zwischen Jetzt und Damals, Hier und Dort. Die erinnerten „Reste“ werden in der Wahrnehmung, im Sehen und Schauen, verbunden und in einen „Sinn“-Zusammenhang gestellt, wenn dieser auch erst als nachträglicher Erkenntnisgewinn der erinnerten Kindheit, quasi als erkenntnishaftes Schauen, verstanden werden kann. Die „Kraft“ und eine „sublime Existenz“, die quasi wahrer ist als die Wahrheit und aus dieser dialogischen, narrativen Bewegung erwächst, lässt sich als jenes Dritte über dem Abgrund begreifen, das Vor- und Nachher bindet. Nehmen wir das dauerhafte und immer sich ändernde Bild des „Feuers“ oder der „Flämmchen“ in Rosenkranz’ Kindheit: Das Bild lässt sich in der „Verzweigung“ seiner Bedeutungen als überbrückendes „Element“ verstehen, das sowohl zwischen Ich und Anderem die Intensität des Lebens teilt (die „Flämmchen in den Augen“). Es grenzt aber zugleich ans Ende des Lebens oder hinterfragt dessen Grenze insofern, als dass Feuer für das Ich immer auch eine Gefahr beim Bestehen der Wirklichkeit meint: Diese droht vom Feuer unaufhaltsam verzehrt zu werden. Das Feuer wärmt die „unterkühlte Existenz“ da auf, 7 wo es sie zugleich verzehrt. Das Feuer, der Herbst oder auch die Eule, die genuin da aufscheint, wo Feuer und (Augen-)Licht fehlen, verweisen einerseits auf die Bedeutung des sinnlich erinnerbaren „Erlebnisses“ an sich; andererseits intensivieren sie die Wahr-Nehmung und motivieren so offensichtlich die Spracherfahrung des Kindes. Das Feuer und seine Flämmchen eröffnen oder halten den Dialog

7

Vgl. Kafka: „Die Suche nach einem Feuer, mit dem ich den kalten Raum unserer Welt erwärmen müßte“ (Wagenbach, 2001, 35).

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aufrecht, wo er abzubrechen droht: nämlich im Herbst, als ‚Saison des Vergehens‘ sowie über dem offenen Ende des Fragments beim Zusammenbruch der Monarchie. Das zwischen Hier und Da, Jetzt und Damals eingeschlossene Ich befindet sich stets im Zwiespalt von Erkenntnisgewinn und Erkenntnisunfähigkeit: auf der einen Seite das schon annähernd übermächtige Schauen, auf der anderen Seite die Blindheit gegenüber Kontrasten und Grenzen – letztlich einer Unfähigkeit zur (Selbst-)Analyse im bergsonschen Sinne. Die „Kindheit“ als solche gewinnt aber gerade an dieser Stelle an Aussagekraft: Wenn Hier und Da, Jetzt und Damals, als bewegliche Opponenten den „Stillstand“ einer bis zuletzt bewegten „Dauer“ erzeugen, so drängt sich die „Kindheit“ als Schöpfungsort des Ich und seiner „fortwährenden Geburt“ auf; und es kommt schließlich zu einer Geschichte der Entwicklung oder des „Werdens“ (Bewegung) als (überdauernde) Selbsterschreibung, wie sie für Rosenkranz’ Kindheitsfragment formuliert werden kann. Für das autobiografische Selbstbild scheint letztlich weniger die Suche nach dem wahren Ich bedeutend als vielmehr die Annäherung an das erinnerte Leben der Kindheit. Rosenkranz’ Fokus auf die „gefühlsmäßige Wahrnehmung“ scheint den Versuch anzudeuten, innere und äußere Bilder, frühere und spätere Ereignisse im steten Aus- oder Abgleichen dem wahren und letzten, d. h. dauernden Verhältnis anzunähern. Auch für Merleau-Ponty gibt es unendlich viele Perspektiven und Ansichten auf den Gegenstand; es gibt aber auch stets nur eine einzige, die der Vorstellung des Künstlers von einer Vollendung entspricht: nämlich die, welche der Wirklichkeit weniger mit Ähnlichkeit zur Referenz begegnet, als dass sie in ihrer Eigenartigkeit aus allen anderen heraustritt. Es ist ein permanentes Fragen und Oszillieren zwischen den möglichen Antworten, die in der Welt als Phänomene gegeben sind und ihren Ausdruck fordern. Der Ausdruck ist der „Leib“, der von Merleau-Ponty – im uneigentlichen Sinn – als „Verkörperung“ der Welterfahrung (bzw. als rosenkranzsche „Weltkorrespondenz“) verstanden wird: Aber es ist nicht so, daß der Romanschreiber sich ausdrückt, indem er auswählt, sei es nun durch das, was er ausläßt, oder durch das, was er erwähnt. Denn selbst für ihn geht es nicht um eine Wahl. Indem er den Rhythmus seines eigenen Zornes und seiner Sensibilität Andern gegenüber abhorcht, verleiht er

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ihnen plötzlich einen imaginären Leib, der lebendiger ist als sein eigener Leib (…) (Merleau-Ponty 1984b, 107).

Merleau-Ponty überspringt die nähere Bestimmung des Grabens zwischen erinnerter Vergangenheit und Jetztzeit. Er weicht einer erklärenden Umschreibung aber nicht aus, wenn er – selbst am Abgrund verharrend – den „Rhythmus“ des Übersprungs jenen Dialog nennt, aus dem eine dritte Instanz in neuer „Referenz“ zur Identität hervorgeht; für die Erkenntnis der Welt und somit einer Überwindung der hermeneutischen Differenz zur Ausoder „Einbildung“ des Ich, wie es Rosenkranz nannte, besteht „… die so definierte Philosophie nicht darin, zwischen den Begriffen zu wählen […], sondern darin, eine Intuition, die einzig ist, zu suchen“ (Bergson, 1916, 23). Im Kontext der Lagerliteratur heißt es, die unablässig sich anpassende Differenz der Erinnerungskoordinaten (Jetzt-Damals, Geburt-Tod) bei Bergson wie Merleau-Ponty über einen absoluten, aber auch äußerst existentiellen „Graben“ zu schlagen. Wo ein solcher Graben in objektiver Beschreibung letztlich nur die subjektive Leere von Begrifflichkeit führt, kann eine wissenschaftliche Untersuchung („Analyse“) und Trennung nur mehr über ein metaphysisches Vokabular im Sinne Bergsons erfolgen. Letztlich aber scheiden sich auch die poetischen „Geister“ von Semprun, Schalamow, Sinjawskij u. a., wenn diese weder formal noch inhaltlich einem gemeinsamen Konzept folgen. Verbindlich zeigten sich vielmehr verwandte poetische Bilder und die Bedeutung einer „Ur-“Sprache, welche in der Narration die Sprachlosigkeit überwindet. Zu diesen Bildern gehören die „Eule“, das „Feuer“, aber auch so genannte Transgressionsräume wie Träume oder Visionen, die Erkenntnis von Angesicht zu Angesicht, und damit letztlich auch jener „Ort“ des menschlichen Körpers, wo die Beziehung zur Welt und zum eigenen Menschsein stattfindet: über das Auge, im Blick. Die Wendung zur Selbstbeschreibung (über den anderen) sowie die Rückwärtsgewandtheit – sei es zum (privaten) Mythos oder in die Kindheit generell –, die Unschärfe und das Ineinander unterschiedlicher Bilder sowie die Auflösung von Grenzen und Konturen wie zwischen Leben und Tod, finden sich so wiederum im Begriff einer positiven dritten Referenz, einer Gestalt der Bewegung. Der existentielle Drang zur Selbstbeschreibung, wie es der Primärkontext gezeigt hat, wird über diese phänomenologische Er-

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innerungstheorie zu einer Wendung nach vorn und damit in ein Zukünftiges gewendet, das in Bergsons späten metaphysischen Schriften nicht die physische, zeitliche Zukunft meint, sondern einen Rückschritt, aus dem ein Fortschritt erfolgt – oder, wie es Rosenkranz formulieren würde, in die Tiefe, um höher hinauszukommen: in einem Emporsteigen nach unten. Die Autobiografie ist eine Gattung definitiver Unschärfe, als sie das Geheimnis ihrer immanenten Poetizität nie lüftet, aber um so mehr ihre Subjektivität einfordert, indem sie diese selbst in ihr versteckt hält. 8 Die „Einheit von Formstrenge, Geheimnis und Ruhe“ im Bild der Eule und der Schönheit meint so mehr als nur ein autobiografisches Moment: Die poetische Wiedergabe des Erlebnisses als Autobiografie hat einerseits in der Rückbesinnung des ästhetischen Moments seine „Motivation“, andererseits besteht das „Schöne“ und die poetische Wahr-Nehmung mit „Schleieraugen“ selbst nur im Dunkeln, im Geheimnis der Krypta. Nicht in einer Quasi-Totalität des Fragments, sondern in der „Unschärfe“ ist das Ganzsein als poetisches Bild präsent: in der Vereinigung bzw. Einverleibung, wo Haverkamp von „Inkorporierung“ spricht, von Hier und Da, Jetzt und Damals lösen sich die Ränder der Unterscheidbarkeit und entsteht jene Ganzheit, die auch mit Merleau-Ponty und Bergson „ästhetisch“ genannt werden kann: eine Ästhetik, die referenzlos und zeitlos ist, wie auch Sinjawskij oder Schulz gefordert haben. Die Fiktionsdebatte löst sich mit Rosenkranz’ poetischem Sprachbild im „Primat der Wahrnehmung“ auf (Merleau-Ponty, 1946) – eine Erfahrung, die sich ihm „mehr ahnend als blickhaft“ sowohl „aufgedrängt“ hat, als sie es auch mit ihm bloß „geschehen ließ“: Bilder (der Erinnerung) und „Visionen“ sind, mit Merleau-Ponty gesprochen, „in der Welt“: Sie geben sich selbst, oder: werden nicht erfunden, sondern gefunden – in der Strategie des Blicks; einer Wahrnehmung, die bei Rosenkranz mit „tausend Augen unter der Haut“ funktioniert. Oder mit Rimbaud gesprochen, den Rosenkranz schätzte: „Der Dichter macht sich zum Seher durch eine langdauernde unerhörte und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. Alle Formen der Liebe und des Leidens, des Wahnsinns; er durchforsche sich selbst, 8

Vgl. (Haverkamp, 1988).

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er schöpfe alle Gifte seines Wesens aus und bewahre nur ihre Quintessenz für sich […]“ (Rimbaud, 1976, 396).

10.4 Überleben im Dazwischen: Die Figur des Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit Die Grundfrage, die sich Moses Rosenkranz in Korrespondenz, Lyrik und Autobiografie immer neu gestellt hat, ist eine Suche nach dem Leben und Menschsein. Die Sehnsucht und Frage nach dem Lebendigen angesichts der Erfahrungen vom Tod zeigen sich in einer Sorge um sich selbst in der Korrespondenz, im Suchen nach einer endgültigen Form der eigenen Biografie in der Lyrik sowie im Wiederschreiben des Lebens über die Kindheit in der Autobiografie. Überall oszilliert der poetische Prozess zwischen Inhalt und Form: in der Einrichtung des Ich in der Welt, konkret in der Wahrnehmung zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Innen und Außen: Erinnerung und poetischem Ausdruck. Entweder textimmanent (Prosa) oder formal (vor allem Lyrik) bot Schreiben Rosenkranz die Möglichkeit zum Rückzug, manifestierte sich aber zugleich immer auch als Ausdruck des Vergangenen und somit des gelebten Lebens, das er narrativ ausdehnte, letztlich nur mehr in der Narration über das Leben fortsetzte. Das unablässige Abarbeiten an der eigenen Biografie wird in der Prosa – oder hier immerhin am deutlichsten – in ein Spiel des Geistes getrieben: in ein Spiel, in dem der Geist gewahrt, wo er aber auch notwendig fürs Über-Leben angeregt wird. Eine Prosa […], die unsere perspektivische Sicht auf die Dinge vermittelt und ihnen Konturen verleiht, bringt eine Diskussion über die Dinge zustande, die es nicht dabei bleiben läßt, sondern selbst zum Fragen anregt und eine Aneignung ermöglicht. Das Unersetzliche am Kunstwerk, das, was aus ihm weit mehr macht als eine Gelegenheit zum Vergnügen, nämlich ein Organ des Geistes, zu dem sich eine Analogie in jedem philosophischen oder politischen Denken finden läßt, sofern es produktiv ist – dieses Unersetzliche liegt darin, daß es weit mehr enthält als Ideen, es enthält eine Ideenmatrix; es liefert uns Sinnbilder, deren Sinn wir nie endgültig ausschöpfen werden; und gerade weil es sich und uns in einer Welt einrichtet, deren Schlüssel wir nicht besitzen, lehrt es uns

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zu sehen und gibt uns zu denken, so wie kein analytisches Werk es je fertigbrächte, denn die Analyse kann an ihrem Gegenstand immer nur das auslegen, was wir in ihn hineingelegt haben“ (Merleau-Ponty, 1984b, 109)

… oder erinnern, was wir gesehen haben. Die Frage nach dem Ich ist auch bei Rosenkranz immer eine Frage nach dem „Wesen“ und somit einer Referenz, die ephemer, körperlos, aber zugleich ans Geheimnis gebunden bleibt. Eine dritte Referenz zwischen Wahrheit und Fiktion ist so letztlich im „Währenden auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ zu finden – im mythologischen „Feuer“ als poetische Quelle und als ein Ein-hauchen des Lebens selbst. Diese Referenz(-ebene) zeigte sich in der Korrespondenz am Beispiel des „Maschinderls“, welches hörbar und scheinbar selbständig, objektiv die Abwesenheit zwischen Schreiber und Empfängerin aufhob, die Leere überwand und das Dingliche, die Schrift „verlebendigte“; sie zeigte sich in der Lyrik am „Lied über dem Abgrund“, wobei die Sprache ephemer und „für die Ewigkeit“ das Erlebnis berichtet; in der Kindheit an der „geisterhaften Weltkorrespondenz“, welche alles Kommende bereits im unsichtbaren Keim zu erahnen wusste. Die Verdichtung der Wahrnehmung in der poetischen Sprache ist in allen drei Teilen eine Figur, die sich im Dialog mit der eigenen Umgebung als direkte Referenz von der Welt loszulösen intendierte. Das „Währende“, das als Ziel der Wahrheitssuche und letztlich als ein Ich aufscheinen sollte, wird zu einem Bild, dem sich das erinnernde Ich nur annähern kann, wenn es vor sich selbst zurücktritt: Im Vergleich und Abgleichen mit Ebenbildern oder dem Anderen, von der unmittelbaren Vergangenheit und der absoluten Zäsur (Lyrik) als auch von der ferner liegenden Vergangenheit (Prosa). Die Dynamik der Verdichtung pendelt zwischen Erinnerungsort und erinnertem Erlebnis, zwischen Vergangenheit und Zukunft, wobei ein Zukünftiges immer die Intention der Gegenwart meint, die von der Vergangenheit eingeholt wird. Wo sich die beiden Gattungen Lyrik und Prosa in ihren Differenzen treffen, markiert das symbolische „Kreuz“ der Verdichtung die Lemniskate 9 des „Währenden“ (Abb. 11).

9

In dieser Idee stand auch bereits die Eule auf dem Apollontempel in Delphi, wo unter dem Symbol der endlosen Lemniskate auf die Differenz zwischen Mensch und seinem Schöpfer aufmerksam gemacht wurde (Schopenhauer, 2006, 7–8).

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Die „Selbstbildnisse in Versen“ zeigen eine Verdichtung des Erlebnisses also am Punkt der absoluten Zäsur. Der „Abriss“ der Biografie über dem Abgrund wird zum Zirkelschluss, wobei am immer wiederkehrenden negativen Punkt des negativen biografischen Erlebnisses („Feuer“, Katharsis) der „élan vital“ (Bergson) einer intendierten positiven Verlebendigung erfolgt. Aus dem ver-innerlichten Erlebnis der Gefangenschaft im eigenen Abgrund (Erinnerung) kommt es über die sich verdoppelnde Negation zur Ästhetisierung des biografischen Leerlaufs: zu einer Ent-Leerung als kreative Anreicherung. Das verdichtete und formal geschlossene Erlebnis der Lyrik wendet sich ins poetische Positiv. Durch Wiederlesen und Übersetzen der primär lyrischen Erlebnisse in Prosa ersteht beim Dichter aus der Vielheit eine dialogische Selbstfigur der „Dauer“, die nicht eindeutig ist, aber lebendig. Das erinnernde, gefallene Ich erfährt nach der Zäsur durchs poetische Nadelöhr seine „Selbststeigerung“ (Bergson), was hier in der Figur (Abb. 11) des Spiralpunkts angedeutet wird. Stellt man sich die Spirale in der Fläche nach oben eindrehend vor, entspricht sie jenem „Gedächtnis“-Begriff, den Rosenkranz in Bezug auf das rumänische Volkslied als „Lichtspirale“ formuliert hat (Kapitel 8.6) – und dies im Augenblick der daraus resultierenden Dauer. Über diese poetische Schaltstelle formiert sich das Selbstbild im gesamten Werk von Rosenkranz: Hier findet im Fadenkreuz der Intuition die Verdichtung, aber vor allem die Verwandlung des Ich statt; aus ihr tritt der Dichter als „Kreis(s)ender“ bzw. als „Kind“ in die Prosa über. Das „Kreuz“ dieser Durchgangserfahrung trägt das poetische (Prosa-)Ich aber weiter: Es ist die Prägung des Dazwischens, des Uneindeutigen, welches sich im paradoxen Wesen der Eule, des Engels zwischen Diesseits und Jenseits, im Feuer als Schmelzpunkt von Leben und Tod und in der stets wiederkehrenden Zahl 13 manifestiert. Dass Rosenkranz sein autobiografisches Fragment so nicht mehr über die Zeit der Jugend hinaus fortsetzen, sprich beenden konnte, mag an diesen poetischen Umständen der „Kindheit“ liegen: In ihr allein liegt die poetisch vitalistische und somit für ihn am Erinnerungsort auch existentielle „Selbstverjüngung“ und „Rückwärtsgeburt“ verborgen. Und es lässt sich an der Stelle sogar jene zu Beginn der Untersuchung befragte Gattungsdifferenz erklären, welche hier mit Haverkamps Inkorporation lyrischer Subjektivität ins „Geheimnis“ des poetischen Texts weitergedacht wurde. Die poetische Schaltstelle über dem Abgrund versteht sich

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Abbildung 11: „Das Währende auf den Trümmern der Vergänglichkeit“. Adaption von Grafik 3, Seite 51.

also als jener geheimnisvolle und u-topische Ort, an dem das tote, lyrische Ich im kreativen Akt einer Mimikry der Introjektion in die Prosa inkorporiert wird. Die Rückwendung in die Kindheit ist ein Über-setzen über die Vergangenheit hinweg, die negativ in der Lyrik zirkulierte. Die ferner zurückliegende Vergangenheit setzt sich über eine „zweite Geburt“ fort, wie sie an der Positivierung der Kindheitserlebnisse ablesbar wurde: In der physischen Unzulänglichkeit manifestiert sich eine geistige und sinnliche Präferenz von Wahrheit und Wirklichkeitserfassung.

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Die Prosa weist damit konzeptuell, aber auch strukturell über die Beschränkung des Formalen hinaus: Die „Verlebendigung“ der poetischen Prosa ist eine Entgrenzung des physischen Selbst. Die Selbstdistanzierung ist immer auch eine Distanzierung von der eigenen vergangenen Zeit. Die „Vergangenheit“ existiert nicht mehr, sie bleibt „im Dunkeln“ oder wird zur Dauer, die ihrerseits eine Zukunft motiviert. So hebt sich letztlich auch der Pfeil in die Vergangenheit durch den gleichzeitigen Pfeil in die Zukunft auf und löst sich von der linearen in eine absolute Zeit: Dies markiert auch die Wendung der Figur aus der Horizontalen in die Vertikale, und erinnert ans messianische Zeitalter Benjamins, der, nehmen wir die kabbalistische Deutung hinzu, auch in Schulz’ Mythopoesie zu finden ist. Die „Idee“ oder das Selbstbild als ein „Währendes“ bedeutet also ein Wesen des Dazwischens: Ein mit dem Rücken der Zukunft entgegen eilendes Wesen, in dessen Blick die fortwährend sich anhäufenden „Trümmer der Vergänglichkeit“ die Gegenwart einholen. Das Symboltier der Eule wiederum, das die drei Teile der Untersuchung quasi durch-geistert, steht für diese mythische, ewig währende Mahnung zur Selbsterkenntnis, welche letztlich weniger auf eine personale Individualität zielt, als dass sie das eigene Menschsein seinem Ich zu versichern sucht und in der Dunkelhaft der Latenz das Sehen lehrt. Aus der ganzheitlichen Sorge um sich selbst folgt die „Ästhetik der Existenz“, die sich in der Biografie prozessual öffnet, in ihrer permanenten Formsuche der Bio-Grafie als ein Verschluss (Kreis) in der Lyrik abzeichnet. Die „Ästhetik der Existenz“ intendiert darüber eine Anschauung, welche die ästhetische Kontemplation zwar mit bedeutet, aber auch die „Objektivierung“ des Selbst gegenüber dem Anderen als notwendige Distanzstrategie einführt. In der gegenwärtigen (Korrespondenz, Lyrik) als auch erinnernden Anschauung (Lyrik, Prosa-Autobiografie) wird eine Bildwirkung und poetische Bildwirklichkeit im poetischen Prozess bedeutend, welche aus einer dinglichen oder unbelebten Welt über die Phantasie eine bewegte, in sich konturlose Figur der Prosopopöiie zeichnet. Die historische „Renaissance“, die das Bildmaterial der LBI-Korrespondenz veranschaulicht, erhält in der Poetisierung der eigenen Biografie als Wiedergeburt einen konzeptuellen subjektiven Mehrwert.

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Die Figur der Prosopopöie ließ sich in ihren groben Zügen mit Bergsons und Merleau-Pontys Phänomenologie darstellen: über eine Metaphysik letztlich, die auch Schopenhauer nicht negiert hätte – eine Metaphysik, welche sich eingesteht, nicht über die Grenzen der erfahrbaren Welt hinausgehen zu können und somit im „Gefühlsmäßigen“ von Rosenkranz empirisch bleibt; eine Metaphysik aber auch, die Raum und Zeit als ein Kontinuum auffasst, welches die Fragmente der Erinnerung (-sbilder) in einem „organischen“ Ganzen begreift und die Grenzen der erfahrbaren Wirklichkeit zu überdauern intendiert. Das gesamte poetische Werk von Moses Rosenkranz zeigt sich vor diesem Hintergrund ebenso zukunftsorientiert oder gar „modern“ als auch rückwärtsgewandt. Die Bedeutung eines „Alles zurück“, wie es Örkény in der Beschreibung des Lagervolks resümierte (Örkény, 2010, 135), erweist sich im „Licht“ der europäischen Lagerliteratur und am dunklen „Grund“ der letzten Wahrheitsfindung des Menschen weder als „traditionell“ noch als „avantgardistisch“. Vielleicht ist, wenn auch letztlich nicht konsequent für das gesamte Werk, immerhin der poetische Anspruch von Rosenkranz im Bild der bergsonschen „Dauer“ und im „Leib“ Merleau-Pontys als ein „Überleben im Dazwischen“ greifbar und als solches vermittelbar. Die Phänomenologie an der Grenze wird hier zur Prosopopoiie am Abgrund. Der Augen Blick Ich habe ihm ins Aug geschaut und meinem Auge nicht getraut was ich in seinem Aug erblickt im Nu hats meines zugedrückt Es war zu spät ich schau seitdem was ich in seinem Aug gesehn er ist schon lang davon befreit mein Aug blieb unverschließbar weit (Aus dem Manuskript: Moros Das Lied davon, Seite 101.)

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11 Anstelle einer Einordnung

Am Ende einer ersten Gesamtuntersuchung des poetischen Werks von Moses Rosenkranz bieten sich anstelle einer abschließenden Verordnung des Dichters weiterführende Fragestellungen aus dem Untersuchungsprozess an.

11.1 Methodenkritik Die „Phänomenologie an der Grenze“ hat hier einen Bildbegriff der Erinnerung hervorgebracht, wie er sich über eine poetische Bildkritik differenzieren lässt. Bergsons Begriff der „Dauer“ und Merleau-Pontys „Leib“ eröffnen am poetischen Text eine Vielzahl von Fragestellungen, die eine terminologische Kontextualisierung oder Einkreisung nötig machen. Die zwar hinreichende, aber nicht erschöpfende methodische Anlage der vorliegenden Arbeit muss über Bergson und Merleau-Ponty selbst der Kritik unterzogen werden; Rosenkranz kann der immanenten Theorie am Ende nicht nachkommen. So stellte sich anhand der Untersuchung von Rosenkranz’ Poesie und Prosa immer wieder die Frage, inwieweit sich auch andere Ansätze zum Fortführen einer Phänomenologie an der Grenze eignen. Der Begriff der „Aura“ von Walter Benjamin drängte so immer wieder zum Vergleich mit Bergsons „Dauer“ oder auch Merleau-Pontys „Leib“. In weiterer Hinsicht sind Rosenkranz’ Begriffe vom „Wesen“ oder auch des „Daseins“ als eine „Existenz im Zeitspalt von Geburt und Tod“ zu befragen (Huch, 2002, 14). Wofür steht das „Wesen“? Was für eine Figur steckt hinter den „Bildern vom Wesen“? Letztlich stellt sich die Frage nach einer Grenzfigur 1 oder einer Figur der Entgrenzung, die das „dichterische Bild“ als „seelisches Geschehen“ plötzlich hervortreten und wahrnehmen lässt. 2 Diese Diskus1 2

Hingewiesen sei hier auf: Patricia Purtschert: Grenzfiguren. Kultur, Geschlecht und Subjekt bei Hegel und Nietzsche. Campus, Frankfurt a. M. 2006. Gaston Bachelard, in: (Huch, 2002, 11).

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Methodenkritik

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sion führt entweder zu religiösen Grundfragen und/oder einer modernen Mystik, 3 die Rosenkranz gerade auch als Tolstoj-Leser beschäftigt haben müssen – oder aber zum poetischen Text als ein Ganzes per se, das rein semiotisch eine Darstellung der schwebenden Grenzfigur als Selbstbild nie erbringen kann. Ist diese, von Paul de Man als „Trope“ bezeichnete Figur der Erinnerung mit dem ephemeren „Bild der Ferne“ von Benjamin vergleichbar? Am Punkt, wo der Schreiber gleich dem Leser, als der er sich selbst liest, an der eigenen Erscheinung im poetischen Text interessiert ist, kann die Prosopopöie an den Begriff der poetischen Schöpferfigur eines Golem oder auch eine „Rückwärtsgeburt“ (Peter von Matt) anschließen. Alle Begriffe verweisen auf das künstlerische Schöpfungspotential, das sich in der Sprache narrativ und somit auch phänomenal einstellt – wo der Erzähler aber sowohl an die semiotischen Grenzen als auch an die Entgrenztheit seines Selbstbildes stößt. Für eine weiterführende Studie zu Rosenkranz’ Poetik wäre interessant, die (kreative) „Schöpfung“ in Lyrik und Autobiografie zu vertiefen und dabei die Bedeutung der Sprachmagie aus der Kabbalistik weiter zu erörtern, die mit der Golemlegende einhergeht. Weiter müsste die Frage nach dem Volkslied in einer aktualisierten Terminologie erfolgen. Das „Lied“ als solches nimmt im gesamten poetischen Schaffen von Rosenkranz eine eminente Rolle ein, und die Lyrik als Sprache der „Rhythmik“ hat für die Mnemonik, aber auch politische, historische Reflexion (z. B. mit Nietzsches Bild vom Menschen) – was sich gerade auch im Kontext der Kriegs- und Lagerliteratur im 20. Jahrhundert gezeigt hat –, eine neue Bedeutung erfahren: den „Hintersinn von Rebellion“. Diesen vom Vorwurf eines retardierten „Traditionalismus’“ zu befreien, stellt der künftigen Forschung eine Aufgabe. Auch hier dürfte es sich in Bezug auf das „ephemere Bild“ gesprochener Sprache und ein „Dauerhaftes über dem Abgrund“ lohnen, die historische, aber auch poetische Dimension des so genannten „Volksliedes“ (z. B. mit Herder) im Zusammenhang mit Rosenkranz’ Beschäftigung mit der rumänischen Dichtung weiter zu vertiefen. Dabei müsste der „Mioritza“ als Lied der rumänischen Volkspoesie, in dem der Tod nicht nur besungen wird, sondern geradezu „irdisch“ über3

Z. B. mit Dorothee Sölle (Sölle, 1997).

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dauert und transzendiert, ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Rosenkranz’ immer wieder verwendeter Begriff der „Liebe“ verweist in diesem Zusammenhang denn auch auf den rumänischen Begriff „dor“, wie er nur unzureichend mit „Sehnsucht“ (nach einem Höheren) ins Deutsche übersetzbar ist; eine „Sehnsucht“, die Rosenkranz am Schreiben hielt, gerade weil sie symptomatisch die beiden Reiche des Diesseits und Jenseits verbindet. Wenn sich Rosenkranz auch „keiner Vorbilder bewusst“ gewesen sein mag, so wäre es für eine weitere Annäherung an sein Werk dennoch hilfreich, Vor- und/oder Mitdenker seiner poetischen Selbstbilder genauer zu untersuchen. Die AR-Korrespondenz des Leo Baeck Institutes liefert hierfür, wie auch für vieles andere mehr, reiches Quellenmaterial. Abgesehen davon allerdings wäre eine Rosenkranz-Lektüre unter aktualisiertem Fokus auf Schopenhauer dieser Dissertation zweifellos anzuschließen. Was das Thema der „Moral“ und der Lebensauffassung darstellt, deutet jeder Verweis auf Schopenhauer immer auch auf Tolstojs Spätwerk und dessen Rousseau-Rezeption hin. 4 Auch andere Dichter, welche Rosenkranz in der Korrespondenz an Rübner nennt und zum Teil kommentiert, könnten zu einer spannenden weiteren Untersuchung beitragen. Dazu gehören: Johannes R. Becher, Albert Camus, Johann Wolfgang Goethe, Gottfried Herder, Friedrich Heer, Thomas Mann, Friedrich Nietzsche, Arthur Rimbaud, Arthur Schopenhauer. Rosenkranz’ Lektüre von Lessings „Laokoon“, an der er die „Richtlinie“ seiner Entwicklung verdankt (K167), verweist dabei auch immer auf die verlebendigende Kraft im poetischen bzw. künstlerischen Bild: Lessings Erörterungen Wie die Alten den Tod gebildet dürften für eine solche Beschäftigung genügend Ansätze bieten. Man müsste Rosenkranz’ Rezeption dieser Autoren prüfen und ein Gemeinsames finden im Umgang mit dem „Erlebnis“ bzw. den historischen Ereignissen: inwiefern diese in einer gemeinsamen Theorie über sich selbst hinausweisen und die Sprache beim „Aufenthalt in der Hölle“ (Rimbaud) selbst sprechen lassen,

4

Rosenkranz hat sich in den 1960er Jahren mit den autobiografischen Schriften Rousseaus beschäftigt.

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wie es Foucault in seinem Aufsatz „Die Sprache, unendlich“ 1963 beschrieben hat. Was die Untersuchung der Prosa betrifft, verspricht ein komparatistischer Ansatz zur galizischen, polnischen Mythopoesie weitere Anknüpfungspunkte (Makarska, Kaszynski). Rosenkranz’ virtuose poetische Bildlichkeit motiviert einen komparatistischen Blick auf die Volksliteratur der Westukraine (Bukowina, Transkarpatien, Galizien), wobei sich vermutlich auch weitere Motive, wie sie oben festgehalten wurden, vertiefen lassen. Die in der Untersuchung immer wieder hervorgehobene Bedeutung des Menschen und des Menschlichen ließe sich als „Typengeschichte“ befragen, und dies konkret anhand Rosenkranz’ immer wieder verwendetem Begriff des „Porträts“ sowie der „Persönlichkeit“: Rosenkranz verweist dabei auf parawissenschaftliche Erkenntnisse und deutet letztlich auf ein „Wesen“ des Individuellen. Reinhart Herzog sieht an der Stelle für eine Geschichte der Physiognomie eindeutige Bezüge zur systemischen Mnemotechnik und fragt nach einer Semiotik der Physiognomie (Herzog, 1991, 165). Eine differenzierte Untersuchung der Personenbeschreibungen in Rosenkranz’ Prosa wäre also gerade hier interessant, wo auch nach einem System von Referenzebenen auf der Suche nach dem „individuum ineffabile“ gefragt wird. Der Kontext der europäischen Lagerliteratur hat hierbei auch gezeigt, dass hinter der Beschreibung des Gesichts des Anderen nicht nur ein Moment der Selbstvergegenwärtigung wirksam wird, sondern immer auch ein „Hintersinn von Rebellion“ gegen die gesellschaftliche Zwangsnivellierung. Letzten Endes findet sich in der Empirie dieses Wesenhaften in den Versen immer auch eine Objektivierung und Distanzierung des Entsetzens durch Sprache.

11.2 Komparatistischer Zusatz aus kunsthistorischer Sicht Die phänomenologische Untersuchung hat mit den vier Grafiken (Abb. 1, 2, 3 und 11) nicht nur darauf hin gedeutet, dass Visualisierungen für das Verständnis von Moses Rosenkranz’ poetischer Erinnerungsfigur unabdingbar sind; sondern auch, dass seine Poetik über Mechanismen der Gleichzeitigkeit funktioniert, die leichter im Medium des Bildes als im Medium

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der Schrift vermittelbar sind. Nicht allein deswegen allerdings scheint ein gewagter Ansatz aus kunst- und bildtheoretischer Sicht hier angebracht. Was die Beschäftigung mit dem Selbstbild in unterschiedlichen, aber auch zyklisch wiederkehrenden und gleichmotivischen Versuchen darstellte, schafft eine spannende Parallele zum Maler Balthazar Klossowski de Rola, genannt Balthus. 5 Die malerische Verdichtung der eigenen Kindheit, des Ich im Bild sowie eine bewusste „Traditionalität“, welche nicht einen Blick in die vergangene Kunstgeschichte bedeutet, sondern eine Hinwendung zur Gegenwart über die Vergangenheit: ein „anderes Erzählen“, das Balthus aus seiner privaten Zurückgezogenheit nur verschwiegen der Öffentlichkeit zugänglich machte (Bachmann, 1992, 9): Eine Phänomenologie von der Rückseite her, wobei die Realität aus der Imagination resultiert und sich dem Märchen, den Fabeln und Mythen nicht abwendet, sondern eine Intensivierung des Realen dadurch erst anstrebt. Balthus’ eigene „Rückwärtsgewandtheit“ bzw. Traditionalität (der Maltechnik sowie der Motive) entsprach bereits in den 1930er Jahren einer „Moderne“, welche sich der Renaissance hinsichtlich eines „Ewigkeitsanspruchs“ in der Kunst verpflichtet fühlte, ohne dabei aber die Vergangenheit als solche wiederzubeleben; „eine Malerei“ vielmehr, „die über die Retina hinaus geht“, wie Néret schreibt, und dabei die Wirklichkeit in ihrer Derbheit und Abgründigkeit von der Hinterseite her mit Phantasie beleuchtet (Néret, 2006, 8). Rosenkranz als Dichter und Balthus als Maler verbindet dieselbe Sympathie zu Künstlern und Autoren wie: Toulouse-Lautrec oder Albert Camus. Die gemeinsame Konzentration auf Lichtsituationen und Ränder, Kontraste und Form legt bei beiden den Begriff einer Phänomenologie an der Grenze nahe. Balthus und Rosenkranz haben das Mystische und Mythische nicht außerhalb der Wirklichkeit gesucht bzw. betrachtet, sondern als lebendiges Teil in ihr. Der „Engel“, den Balthus schließlich all seinen Porträts einschrieb, steht nicht zuletzt auch bei Rosenkranz für ein „SelbstBildnis“, das keinem biografischen oder referentiellen (Ab-)Bild nachkommt, sondern als ein imaginäres Reales und letztlich geistiges Vor-Bild, das dem künstlerischen Ausdruck vorsteht und aus der unsichtbaren, zeug5

Geboren 1908 in Paris, gestorben 2001 in Rossinière, Schweiz.

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nislosen Wirklichkeit in das andere Sein des Werks übergeht: als lebendig flackerndes Bindeglied zwischen Oben und Unten, Innen und Außen, Diesseits und Jenseits. Dabei haben sowohl Balthus als auch Rosenkranz ein Plädoyer gesetzt für das Verstehen der Welt und eines Ich in der Welt nicht über Schaffen und Schöpfen „neuer Bilder“, sondern im Sehen und Erkennen der Bilder, die sich selbst geben, gegeben haben. Mit Balthus, so eine fortführende Fragestellung, lässt sich Rosenkranz nicht mehr (nur) über die Literaturwissenschaft und -geschichte verstehen, sondern mit einem poetischen Bildbegriff auch über einen neuen kunstgeschichtlichen Zugang, indem dem Dichter ein bildender Künstler so zur Seite gestellt wird, dass der eine poetische Vorstellungen malerisch ausdrückt, wie sie der andere sprachlich verdichtet: in matten Farbtönen, mangels Konturen und Ränder „zwischen Himmel und Erde“ 6 . Nicht zuletzt sind denn auch beide Künstler lange Zeit „unbehandelt, aber auch unverhandelt“ geblieben. 7

6

7

Als Landschaft ohne Ränder zwischen Himmel und Erde zeigt sich das Coverbild (Ausschnitt) dieses Bandes, das Oleg Ljubkiwskij 2007 nach einer Wanderung auf den biografischen Spuren von Moses Rosenkranz in den Karpaten geschaffen hat. Nach wie vor gibt es wenig Literatur über den polnisch-französisch-schweizerischen Maler, der zwei Jahre vor Rosenkranz in ebenfalls größter Zurückgezogenheit starb. Néret zitiert Antonìn Artaud über Balthus in einem Zeitungsartikel von 1934; nach dieser Rezeption habe es keine „zutreffende Definition“ mehr gegeben, welche „die Einzigartigkeit und seine Modernität“ treffender gekennzeichnet habe (Néret, 2006, 7 f.). Für den Hinweis auf Balthus danke ich Aleksander A. Karolëv. Er hat mich im Zusammenhang mit Rosenkranz bis kurz vor seinem Tod immer wieder neu auf diesen Maler aufmerksam gemacht.

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12 Anhang

Das Lied über dem Abgrund Wenn unserm Dunkel Frühe naht, Die [sic.] Frühe, morgenrotumrankt, merken wir: auf einem dünnen Schwebepfad, der über einem Abgrund schwankt, schreiten wir. Und wenn die Sonne ihren Speer, uns nahe, in den Abgrund stößt, merken wir: dort unten wogt ein bittres Heer Untiere, bis auf Blut entblößt – schreiten wir! O schreiten wir der Lockung nach, in Nächten hat sie uns geführt, merken wir: wir, ohne sie, sind arm und schwach wir könnten stürzen, sein verirrt – schreiten wir! (Aus: Leben in Versen, S. 123.)

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Der Mensch (für Stefan Nenit¸escu) O daß die Erde sich ganz An den Menschen verbraucht; Bäume verloren den Glanz, Tiere sind untergetaucht. Hoffte sie alle durch ihn, Ihren aufrechten Quell, Schöner ans Leben zu ziehn. Scholle, Rinde und Fell? O, wie allein auf der Flur! Unerlöst durch sein Herz Klaget die ganze Natur; O, wie er lächelt vor Schmerz. (Aus: Gemalte Fensterscheiben, S. 57. Im Band Die Tafeln und Gedichte ist die Interpunktion verändert.)

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Die Blutfuge Ob Bach von Blut! auf gelbe Bernsteintasten ergießend sich aus offnen Fingerstummen so muß ein Herz zu seinem Grabe hasten durch starkes feierliches Orgelsummen So muß ein junges Leben Partituren erfülln mit seinem vollen Herzensschlag beseelt ertönt durch rote Abendfluren was stumm im Staube welker Blätter lag Was laut im Feuer keuscher Jünglingsglieder gerauscht verebbt und geht gemacht zur Neige am Sterbenden vergehn mit ihm die Lieder ein Celloruf und eine letzte Geige Tot auf den Tasten ruhn die Fingerstummen die Seele zittert in den Pfeifen nach durch hohles Grabes tiefes Orgelbrummen tropft wieder Jesu Blut: O Bach von Blut! (Aus: Bukowina, S. 76. [1942/47])

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Ein Vorwort Bücher sind wie Handelsschiffe, bringen immer reiche Fracht, Duft von liebem, fernem Riffe, manchmal Dinge, neu erdacht irgendwo im Osten, Westen, oder längstvergessnes Gut, das wir gern zu unserm Besten nehmen frisch in Brauch und Hut. Dieses Buch, ein kleiner Schoner, führt nicht seltne, teure Last, bringt dem deutschen Sprachbewohner oft geübten Klang und Glast; nur Gedichte: Rhythmus, Reime, Stimmung, Bild, Gefühle zart, alles, was ein Schwärmer leime, trägt mein Schifflein wohlbewahrt. Und so bringt es Herzenssachen: Schönheit, Lieb und Glauben, auch Leben aller Art, die machen bunt zur Asche seinen Bauch; jeden Vers beseelt ein Wesen, jedes Lied des Lebens Hall: dem, der es nur recht mag lesen, tönt im Kleinsten rein das All! Dichter haben eigne Blicke: unsre Erd im Sandkorn kreist; wichtiger als Staatsgeschicke ist uns stets, wie etwas heisst: Namen, sie sind Zauber, Runen, was du nennst, das ist gebannt: so gewinnst du Baum und Brunnen, schirmst vor Seuchen [sic.] Vieh und Land. Menschheit gilt nicht, nur der Eine, Einzelmensch, ihm wird genützt; gänzlich ist allein das Kleine,

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ihm wer dient, das Ganze stützt. Nicht den Jahresschritt der Zeiten hören wir in unserm Traum, Lichtsekunden, sie begleiten wir mit Spannung durch den Raum. Nun herbei! schon liegen Planken, doch nicht fester als das Schiff: Farben, Töne und Gedanken, Worte! Worte! – euer Griff fasst nur Luft, allein im Busen fühlt ihr deutlich eine Welt, die die herzlichste der Musen euch im Flug vors Auge hält. (Untitled Collection of Poems, 1930. AR 25087, 2/35, Reel 3, Blatt 185 f.)

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Lebenslauf Ohne Hörner ohne Pranken ohne reißendes Gebiß ging ich für mich in Gedanken nur des Tods am End gewiß Konnt es lange nicht erreichen der Erlöser säumte lang unterdeß in meine Weichen mancher arge Hauer drang Daß ich blieb auf meiner Richtung halfen Bisse rechts und links und die Stirn geneigt in Dichtung in Gedanken fürder gings (Aus: Im Untergang II, S. 7.)

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Selbstschau Ich wollte niemals. Immer litt ich nur. Nie kämpfte ich, denn alles war nur Denken. Schön war es den bedachten Schritt zu lenken Auf eine ew’ge unsichtbare Spur Und doch zu bleiben auf der Flur, Wo sich zum Kranz mit biegsamen Gelenken Des Lebens edle Triebe reich verschränken, Im Blühen preisend dich Natur, Die du auch mich bewahrst in deinem Kreis Und nicht hinausträgst (weil ihn ganz zu fühlen, Zu überschauen, mir die Parze lieh), Daß ich in dir noch stehe wie ein Reis, Ein wenig höher, als die Brüder spielen, Ein wenig seitwärts, und doch ganz wie sie. (Aus: Gemalte Fensterscheiben, S. 45.)

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Zurück am Orte des Aufbruchs Es gähnt dich Schweigen an Ist das der Platz auf dem mein Dorf gestanden wo ist der Wald der es umfangen hielt der Hügel wo um den sich Pfade wanden und wo der Teich mit dem der Mond gespielt Wo ist die Kirche die mit ihrem Dache die keinen Dächer rings zu schirmen schien und wo der Gutshof der darüber wachte daß auf der Flur im Kreis die Saaten blühn Wo sind die Herzen die im Dorf geschlagen im Takte mit den hundert Uhren drin die Schultern wo die krumm ihr Kreuz getragen und in der Demut zäh den Eigensinn Wo sind die Freunde unverfälschter Stunden die Rösser und die Hunde niemals zag die Bienen sind die Tauben auch verschwunden mich staunt daß Sonne hier noch scheinen mag Doch was soll ich auf der verbrannten Stätte und leben wir nach diesem Strafgericht und nehmen wo die Kraft die mich errette vorm Fluche GOTT zu trotzen1 ins Gesicht (Aus: Bukowina, S. 116, [1956].)

1

In der Version von 1944 hieß es statt „zu trotzen“: „zu speien“.

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13 Literatur

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Literatur

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Literatur

387

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388

Literatur

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Literatur

389

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Schifferle (21117) / p. 390 / 19.9

390

Literatur

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Literatur

391

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392

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14 Abbildungsverzeichnis

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Biografische und werkbiografische Struktur . . . . . . . . . . 50 Poetische Erinnerungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Phänomenologische Identitätsfigur und poetisches Selbstbild . 51 Moses Rosenkranz und Anna Rübner . . . . . . . . . . . . . 87 Porträtaufnahme Moses Rosenkranz . . . . . . . . . . . . . . 104 Bildrückseite, Beschriftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kinderbildnis:Moses Rosenkranz und Anna Rübner . . . . . . 107 Passbilder und Rückseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 110–111 Brief an Anna Rübner von 1961 . . . . . . . . . . . . . . 118–119 Blatt 9 aus „Leseproben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 „Das Währende auf den Trümmern der Vergänglichkeit“ . . . . 363

Reihe Jüdische Moderne Herausgegeben von Alfred Bodenheimer, Jacques Picard, Monik a Rüthers und Daniel Wildmann

Eine Auswahl

Bd. 12  | Caspar Battegay Das andere Blut

Bd. 8  | Alexandra Binnenkade,

Gemeinschaft im deutsch-

Ekaterina Emeliantseva,

jüdischen Schreiben 1830–1930

Svjatoslav Pacholkiv

2011. 329 S. Gb.  | ISBN 978-3-412-20634-5

Vertraut und fremd zugleich Jüdisch-christliche Nachbar-

Bd. 13  | Katerina Čapková,

schaften in Warschau – ­Lengnau

Michal Frankl

– Lemberg

Unsichere Zuflucht

Mit einem Geleitwort von ­H eiko

Die Tschechoslowakei und ihre

Haumann.

Flüchtlinge aus NS-Deutschland

2009. X, 216 S. 3 s/w-Abb. Gb.

und Österreich 1933–1938

ISBN 978-3-412-20177-7

Aus dem Tschechischen übersetzt von Kristina Kallert

Bd. 9  | Beatrix Borchard,

2012. 327 S. 41 s/w-Abb. Gb.

Heidy Zimmermann (Hg.)

ISBN 978-3-412-20925-4

Musikwelten – Lebenswelten Jüdische Identitätssuche in der

Bd. 14  | Stefanie Mahrer

deutschen Musikkultur

Handwerk der Moderne

2009. 406 S. 26 s/w-Abb und 10 s/w-

Jüdische Uhrmacher und Uhren-

Abb. auf 8 Taf. Gb.

unternehmer im Neuenburger

ISBN 978-3-412-20254-5

Jura 1800–1914

Bd. 10  |  Wulff Bickenbach

14 farb. Abb. auf 8 Taf. Gb.

Gerechtigkeit für Paul Grüninger

ISBN 978-3-412-20935-3

2012. 280 S. 14 s/w-Abb. und

Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers

Bd. 15  | Marlen Oehler

(1938–1998)

Brunnschweiler

Mit einem Geleitwort von

Schweizer Judentümer

Jacques Picard.

Identitätsbilder und Geschichten

2009. 363 S. Mit 22 s/w-Abb. Gb.

des Selbst in der schweizerisch-

ISBN 978-3-412-20334-4

jüdischen Presse der 1930er Jahre

Bd. 11  | Andrea Heuser

2013. 428 S. 1 farb. und 5 s/w-Abb. Gb.

Vom Anderen zum Gegenüber

ISBN 978-3-412-21043-4

„Jüdischkeit“ in der deutschen Gegenwartsliteratur

TT094

2011. 396 S. Gb.  | ISBN 978-3-412-20569-0

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Lebenswelten osteuropäischer Juden Herausgegeben von Heiko Haumann, Julia Richers und Monica Rüthers

Eine Auswahl

Bd. 11  | Louise Hecht Ein jüdischer Aufklärer

Bd. 4  | Susanne Marten-Finnis,

in Böhmen

Heather Valencia

Der Pädagoge und Reformer

Sprachinseln

Peter Beer (1758–1838)

Jiddische Publizistik in London,

2008. 403 S. 5 s/w-Abb. Br.

Wilna und Berlin 1880–1930

ISBN 978-3-412-14706-8

1999. 144 S. 5 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-02998-2

Bd. 12  |  Julia Richers Jüdisches Budapest

Bd. 7  |  Heiko Haumann (Hg.)

Kulturelle Topographien e ­ iner

Luftmenschen und

Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert

rebellische Töchter

2009. 424 S. 27 s/w-Abb. Br.

Zum Wandel ostjüdischer

ISBN 978-3-412-20471-6

Lebenswelten im 19. Jahrhundert 2003. 337 S. 1 Farb. u. 1 s/w Abb. Br.

Bd. 13  |  Jan Arend

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Jüdische Lebens­g eschichten aus der Sowjetunion

Bd. 8  |  Peter Haber

Erzählungen von Entfremdung

Die Anfänge des Zionismus in

und Rückbesinnung

Ungarn (1897–1904)

2011. 177 S. 18 s/w-Abb. Br.

2001. 196 S. 10 s/w-Abb. Br.

ISBN 978-3-412-20802-8

ISBN 978-3-412-10001-8 Bd. 14  |  Judith Schifferle Bd. 9  |  Frank M. Schuster

Überleben im Dazwischen

Zwischen allen Fronten

Zu den poetischen Selbstbildern

Osteuropäische Juden während

im Werk von Moses Rosenkranz

des Ersten Welt­k rieges (1914–1919)

(1904–2003)

2004. 562 S. 16 s/w-Abb. Br.

2013. 393 S. 13 s/w-Abb. Br.

ISBN 978-3-412-13704-5

ISBN 978-3-412-21117-2

Bd. 10  |  Peter Haber

Bd. 15  | Sandra Studer

Zwischen jüdischer

Erinnerungen an das

Tradition und Wissenschaft

jüdische Vilne

Der ungarische Orientalist

Literarische Bilder von Chaim

Ignác Goldziher (1850–1921)

Grade und Abraham Karpinovitsh

2006. 265 S. Br.  | ISBN 978-3-412-32505-3

2013. Ca. 368 S. Ca. 17 s/w-Abb. Br.

ST550

ISBN 978-3-412-21118-9

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STEFFEN HÖHNE, KLAUS JOHANN, MIREK NĚMEC (HG.)

JOHANNES URZIDIL (1896–1970) EIN „HINTERNATIONALER“ SCHRIFTSTELLER ZWISCHEN BÖHMEN UND NEW YORK (INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT, BAND 4)

Leben und Werk des Prager deutschen Schriftstellers Johannes Urzidil (18961970) stehen im Mittelpunkt dieses Bandes. Er nimmt dessen vielfältiges Werk in den Blick, das in seiner böhmischen Heimat wie im New Yorker Exil entstand und beide Hemisphären behandelt. Die Beiträge beleuchten Urzidils Bedeutung nicht nur als Erzähler und Lyriker, sondern auch als politischer Zeitungs – und Rundfunkjournalist, als Verfasser von kunst-, kultur-, literatur – und landesgeschichtlichen Essays und Monographien sowie als Übersetzer aus dem Tschechischen und Englischen. Damit will der Band diesen bedeutenden Mittler zwischen Deutschen und Tschechen, Christen und Juden, Europa und Amerika wieder stärker im kulturellen Gedächtnis verankern. 2013. 597 S. 24 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20917-9

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